Wahlen in Brasilien – der Kampf geht in eine neue Etappe

Markus Lehner, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Seit fast einem Jahrzehnt befindet sich die brasilianische Wirtschaft in der Krise. Das einstige „Schwellenland“ wird von Stagnation, Inflation und Arbeitslosigkeit gebeutelt. Weit über die offiziellen Zahlen hinaus sind über 50 Millionen Brasilianer:innen ohne Arbeit, weitere mehr als 30 Millionen prekär beschäftigt – für einen großen Teil der brasilianischen Bevölkerung ist das tägliche Überleben damit zur Hölle geworden.

Diese Situation hat sich durch den teilweisen Zusammenbruch des Gesundheitssystems während der Pandemie noch verschärft. Nicht nur, dass über 700.000 Menschen im Gefolge von Corona gestorben sind, haben sich durch die praktisch nicht vorhandene Pandemiepolitik die Arbeitsausfälle so gehäuft, dass auch wirtschaftlich ein schwerer Einbruch erfolgte. Zu dieser ökonomischen, sozialen und gesundheitspolitischen Krise kommt die Verschärfung der ökologischen, die neben der wahnwitzigen Abholzung im Amazonas-Regenwald auch vermehrt zu durch den Klimawandel bedingten Katastrophen führt. Die soziale Spaltung in Brasilien betrifft auch verstärkt Indigene, Nicht-Weiße, Frauen und LGTBIAQ+-Menschen, die nicht erst seit der Bolsonaro-Regierung unter verstärkten Angriffen auf ihre Rechte leiden.

Politische Dauerkrise

Zu dieser Gemengelage gesellt sich seit dem Sturz der letzten PT-Regierung (Partido dos Trabalhadores; Partei der Arbeiter:innen) die politische Krise. Das mit dem „Übergang“ von der Militärdiktatur in den 1980er Jahren geschaffene politische System funktioniert nur durch ein komplexes Geflecht an politischen Parteien, die über mehr oder weniger offene Korruption mit den unterschiedlichen Kapitalgruppen verbunden sind. Über diese Form der „Kooperation“ wird ihre Unterstützung für Regierungen vermittelt.

Während des Wirtschaftsaufschwungs der frühen 2000er Jahre war die PT unter Lula in der Lage, für eine gewisse Zeit die Arbeiter:innenklasse in dieses System einzubinden und somit die sozialen, ökologischen und politischen Konflikte zu kanalisieren. Weil sie im Gegensatz zu den meisten offen bürgerlichen Parteien über eine Massenorganisation verfügte, war sie unter Kontrolle einer reformistischen Führung sogar eine gewisse Stabilitätsgarantin für den brasilianischen Kapitalismus.

Mit Beginn der Krise zwischen 2012 und 2015 setzte die Bourgeoisie jedoch zunehmend auf den Bruch mit der PT und eine neoliberale Radikalkur. Der Putsch gegen Dilma ermöglichte unter Temer „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen (weitgehende Informalisierung der Arbeitsverträge), Austrocknung der öffentlichen Haushalte (Verankerung von Schuldenbremsen in der Verfassung) und eine Beschleunigung von Privatisierungen. Die Unbeliebtheit Temers und die wachsende Protestbewegung drohten, 2018 die PT wieder an die Macht zu bringen – worauf die Bourgeoisie auf die Karte des Rechtspopulismus in Gestalt des bis dahin unbedeutenden Rechtsaußen Jair Bolsonaro setzte.

Bolsonaro und die Bourgeoisie

Auch wenn die Ideologie Bolsonaros und seine Rhetorik Anklänge an den Faschismus aufweisen, so hatte er bei der Wahl keine Massenbewegung und faschistische Milizen in einer Zahl hinter sich, die notwendig gewesen wäre, um tatsächlich ein faschistisches Regime zu errichten. Auch wenn Kräfte im bewaffneten Staatsapparat seine rechte Politik unterstützen und auch in der Regierung die Zahl der Militärs anstieg, so wurde doch in Brasilien keine faschistische Diktatur errichtet, die die Arbeiter:innenbewegung insgesamt zerschlägt und atomisiert, auch wenn die wachsende Zahl an repressiven Aktionen und politischen Morden nicht verharmlost werden darf.

Die Regierung Bolsonaro war zudem durch große Widersprüche zwischen den verschiedenen bürgerlichen Kräften geprägt, die dieses Regime unterstützen. Der Rechtsaußen war nie in der Lage, diese divergierenden Interessen und Machtzentren zu einer einheitlichen Politik zu formen. Das Ergebnis war ein absurdes Chaos von halbherzigen Maßnahmen, die ihren Gipfel in der völlig wirren Coronapolitik fanden. Es ist kein Wunder, dass auch große Teile der Bourgeoisie inzwischen Bolsonaro nicht mehr als Präsidenten haben wollen. Im Vorlauf zur Präsidentenwahl kam es bei einschlägigen Meetings von Unternehmer:innen und Vertreter:innen der US-Administration zu eindeutigen Stellungnahmen gegen eine erneute Präsidentschaft Bolsonaros, die zunächst in der Suche nach einem/r „dritten“ Kandidat:in mündeten. Als dies scheiterte, kam die PT wieder ins Spiel.

Nach dem Dilma-Putsch wurde versucht, die PT auszugrenzen, wenn nicht gar zu zerschlagen. Zentral dabei waren der Prozess und die Inhaftierung von Lula. Als wenn die Korruption nicht im Zentrum des politischen Systems des Kapitalismus in Brasilien stünde, wurden die PT und allen voran Lula zu ihrem Zentrum erklärt und ihr dafür stellvertretend der Prozess gemacht („Lava Jato“-Prozesse, benannt nach der sog. Autowaschaffäre). Doch die PT überlebte und blieb sogar Kern von Protesten gegen die Temer-Reformen und ihre Fortsetzung unter Bolsonaro.

PT, Lula und Alckmin

Die PT und der von ihr geführte Gewerkschaftsdachverband CUT erwiesen sich auch als wichtig, um die wachsenden Massenproteste zu kanalisieren und wieder in Richtung Alternativen bei Wahlen zu lenken. Die Angst vor weiteren Protesten und die Unzufriedenheit mit Bolsonaro führten die Bourgeoisie wohl dazu, die PT wieder als Teil der Lösung ihrer Probleme zu sehen. Plötzlich wurde „entdeckt“, dass bei den Prozessen gegen Lula Unregelmäßigkeiten passiert waren. Das oberste Gericht annullierte seine Verurteilung und stellte seine vollen politischen Rechte wieder her.

Lula begann danach, sofort die Karte des „Anti-Bolsonaro“ zu spielen. Unter dem Motto, dass es vor allem darauf ankomme, eine weitere Präsidentschaft Bolsonaros zu verhindern, sollte es oberstes Ziel der PT und ihrer Unterstützer:innen sein, nicht auf die Straße zu gehen, sondern ein „breites Bündnis“ für die kommende Präsidentschaftswahl zu schmieden. Für dieses fand sich denn auch einer der wichtigsten Vertreter der brasilianischen Bourgeiosie, Geraldo Alckmin, als „running mate“ für die Kandidatur zur Präsidentschaft (für die nun die Liste Lula-Alckmin von der PT unterstützt wird).

Alckmin ist nicht nur einer der prominentesten Politiker der wichtigsten Partei der brasilianischen Bourgeoisie, der PSDB (auch wenn er formell für die Wahl zu einer kleineren bürgerlichen Partei übergetreten ist). Er war für diese nicht nur 2006 Präsidentschaftskandidat gegen Lula, sondern auch langjähriger Gouverneur der wichtigsten Region Brasiliens, Sao Paulo. In Sao Paulo unterdrückte er nicht nur auf brutale Weise Streiks (wie den großen Lehrerstreik) und Demonstrationen (wie die gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr), er war auch Mitverantwortlicher für das „Pinheirinho-Massaker“ bei der Zwangsräumung einer der größten Favelas in der Region. Alckmin ist nicht nur als Wirtschaftsliberaler bekannt, er bringt auch eine entsprechende Koalition von Parteien (oder besser gesagt Abgeordneten) in das „breite Bündnis“ ein, die letztlich bei einer Regierung Lula-Alckmin die wesentlichen politischen Linien vorgeben werden (d. h. ohne die die PT nicht die Spur einer Mehrheit im Kongress haben würde). Zudem verkörpert Alckmin als Vizepräsident wieder die Möglichkeit, im Ernstfall den Dilma-Putsch diesmal gegen Lula durchzuführen.

Polarisierung und Putschgefahr

Die Wahl ist klar zwischen Lula/Alckmin und Bolsonaro polarisiert. Andere Kandidat:innen werden es nicht in den zweiten Wahlgang schaffen, sollte Lula nicht sowieso schon im ersten Wahlgang gewinnen. Natürlich stellt eine zweite Amtszeit von Bolsonaro eine große Bedrohung dar, da er inzwischen beachtliches repressives Potenzial angesammelt hat. Er hat seine Stellung im Staatsapparat und gegenüber den bewaffneten Organen genutzt, um nicht nur dort seine Anhängerschaft auszubauen, sondern auch große bewaffnete Unterstützerorganisationen aufzubauen (von pensionierten Militärpolizist:innen, über Jägervereine, bis zu Biker:innen und bewaffneten Milizen der Agrobosse). Ein Sieg Bolsonaros würde daher sicherlich eine Steigerung der Repression bedeuten.

Für den wahrscheinlichen Fall einer Wahlniederlage wird jetzt von immer abenteuerlicheren Putschdrohungen aus dem Bolsonaro-Lager berichtet. Ein solcher Putsch wäre angesichts der mangelnden Unterstützung durch große Teile der Bourgeoisie und der US-Administration zwar tatsächlich reines Abenteurertum – ist aber deswegen nicht ausgeschlossen. Gegen diese rechte Gefahr muss die Arbeiter:innenklasse ihre Einheitsfront aufbauen und sie mit ihren Mitteln bekämpfen (inklusive dem Aufbau von Selbstverteidigungskräften und eigenen Milizen). Sollte es tatsächlich zu einem Putsch und einer folgenden Repressionswelle kommen, müsste sofort eine Massenbewegung bis hin zum Generalstreik diesen sofort zu Fall bringen. Es wäre hier fahrlässig, auf die „demokratischen“ Teile in Armee, Parteien, Gerichten und Staatsapparat zu setzen (wie jetzt in den verschiedenen offenen Briefen suggeriert wird). Die Gefahr eines solchen halbfaschistischen Putsches könnte nur durch entschlossene Massenaktion gestoppt werden. Diese würde zugleich die Allianz von PT und CUT mit der Bourgeoise massiv unter Druck bringen, weil Alckmin ganz sicher keine bewaffneten Selbstverteidigungseinheiten der Arbeiter:innenklasse auf der Straße sehen will.

Volksfront und Wahltaktik

Eine Lula/Alckmin-Regierung dagegen würde tatsächlich eine Fortsetzung der Temer’schen „Reformen“ bedeuten. Auch wenn Lula eine Revision der Arbeitsmarkt- und Haushaltsdekrete verspricht, ist angesichts seines Bündnisses klar, dass dies höchstens Kosmetik bleiben wird. Dies betrifft auch die Fortsetzung der Privatisierungspolitik und lässt angesichts der Haushaltslage auch keine wesentliche Verbesserung der Sozialleistungen für die Millionen von notleidenden Brasilianer:innen erwarten. Angesichts der zu erwartenden weiteren Verschlimmerung der wirtschaftlichen und ökologischen Krise wird somit die Enttäuschung über die nächste Lula-Präsidentschaft sehr schnell einsetzen.

Mit Lula als Präsident werden zugleich die PT und die CUT wachsende Massenproteste noch weiter zurückzuhalten versuchen. Wenn es dann der Linken nicht gelingt, eine alternative Führung zu PT/PCdoB aufzubauen, wird der Massenunmut notwendigerweise wiederum den rechtsextremen Rattenfänger:innen in die Hände spielen (ob mit Bolsonaro, seinen Söhnen oder welchem Clown auch immer an der Spitze).

Wie Trotzki schon an Hand der Volksfront in Frankreich in den 1930er Jahren nachgewiesen hat, stellen diese und ihr Elektoralismus samt bürgerlicher Koalitionspolitik die beste Vorbereitung für die nächste Welle der rechten Mobilisierung bis hin zum Faschismus dar. Für Volksfronten als solche kann es daher niemals auch nur eine kritische Wahlunterstützung geben. Das trifft aber wie in Frankreich in den 1930er Jahren natürlich nicht für die Kandidat:innen der reformistischen Parteien in der Volksfront zu, sofern deren Wahl möglich ist, ohne die offen bürgerlichen gleich mitzuwählen. Revolutionär:innen können daher nicht für die Liste Lula/Alckmin bei den Präsidentschaftswahlen stimmen, weil diese nur im Paket ankreuzbar ist. Eine Stimme für Lula/Alckmin kommt daher unwillkürlich nicht nur einer für Lula, sondern auch für den bürgerlichen Kandidaten, also die gesamte bürgerliche Koalition, gleich.

Anders verhält es sich mit einzelne Kandidat:innen der PT, aber auch der mit ihr verbündeten PCdoB oder der PSOL für Sitze im Kongress. Für die Wahl dieser Kandidat:innen fordern wir ihre Wähler:innen jedoch auf, sie zum Bruch mit der bürgerlichen Koalition, zum Widerstand gegen die neoliberale Regierungspolitik unter welcher Führung auch immer und zur Unterstützung der Massenproteste gegen Krise und rechte Gefahr zu zwingen. Wir fordern von PT, PCdoB, PSOL und CUT, eine Minderheitsregierung gestützt auf die Mobilisierung ihrer Anhänger:innen zu bilden.

Brasilianische Linke

Die brasilianische Linke hat eine intensive Auseinandersetzung mit der Kandidatur Lulas hinter sich. Ausgehend von den Kampagnen zu seiner Befreiung haben sich nach seiner Entlassung bald Initiativen zu „Lula Presidente“ gebildet, die das mit Massenprotesten und einer reinen PT-Kandidatur verbinden wollten (z. B. so die PCO). Tatsächlich war dies auch geeignet, um dann gegen die sich abzeichnende Lula/Alckmin-Liste Widerstand in der PT und den anderen Parteien (insbesondere der PSOL) zu entfalten. Dieser fand tatsächlich breite Resonanz, wurde jedoch letztlich durch die undemokratischen Manöver von Parteiapparat und Lula selbst umgangen und kaltgestellt.

In der PSOL trat deren bekannteste Führungsfigur, Guilherme Boulos (ihr letzter Präsidentschaftskandidat und Kandidat als Gouverneur für Sao Paulo), sofort mit Begeisterung für die Unterstützung der Lula/Alckmin-Koalition ein. Doch in der Partei gab es beträchtlichen Widerstand, der auch in der Frage der Aufstellung einer eigenen Kandidatur kumulierte. So argumentierte eine der 25 Tendenzen innerhalb der PSOL, die „Esquerda Marxista“ (in der die Sektion der IMT aktiv ist), dass es gegen die Volksfront notwendig sei, im ersten Wahlgang eine/n eigene/n Kandidat:in aufzustellen – um dann im zweiten Wahlgang notwendigerweise gegen Bolsonaro für Lula/Alckmin, also auch für den offen bürgerlichen Kanidaten, zu stimmen. Die MAIS (aus der PSTU 2016 wegen deren Weigerung, gegen den Temer-Putsch zu mobilisieren, ausgeschlossen und heute eine PSOL-Tendenz) argumentierte dagegen, dass die Massenmobilisierungen zu schwach seien, und daher Lula/Alckmin zu wählen, zur Abwehr der faschistischen Gefahr nötig wäre. Letztlich wurde der Disput undemokratisch auf einer dazu eigentlich nicht legitimierten „Delegiertensitzung“ mit 35:25 Stimmen für die Lula-Unterstützung entschieden.

Als „linke Alternative“ zu Lula/Alckmin kandidiert jetzt vor allem (wie immer) die PSTU im Zusammenhang des „Revolutionär Sozialistischen Pols“. Die Kandidatinnen für die Liste (darunter mit Raquel Temembé die einzige indigene Vizepräsidentschaftskandidatin) haben im brasilianischen Wahlsystem keine Chance. Parteien, die nicht im Kongress vertreten sind, verfügen außerdem über keinen Zugang zu Medien und TV-Debatten. PCB und PU werden auch unter einem Prozent der Stimmen bleiben. Doch sind diese Parteien nicht nur ungenügend in der Klasse verankert (auch wenn die PSTU eine Rolle in den Gewerkschaften spielt), sie sind auch gegenüber den großen Illusionen der Massen in Lula und PT blind.

Dabei spielt die PT auch aufgrund ihrer Rolle in der CUT eine entscheidende Rolle in der Organisierung und Kanalisierung aller klassenbasierten Proteste in Brasilien. Damit werden bestimmte Teile der PT natürlich auch bei Protesten gegen eine Lula/Alckmin-Regierung dabei sein. Es kann daher nicht nur darum gehen, eine eigenständige, neue Partei aufzubauen (oder wie die PSTU sich als solche zu präsentieren), sondern man muss auch Taktiken entwickeln, die Massen von ihrer bisherigen Führung zu brechen. Daher ist es ein Fehler, solche schlecht verankerten Eigenkandidaturen (auf letztlich linksreformistischen Programmen) auch noch mit einer sektiererischen Position gegenüber der Wahl einzelner PT/TCdoB/PSOL-Kandidat:innen für die Kongresswahlen zu verbinden. Dies trifft auch auf die MRT (brasilianische Sektion der FT) zu, die zwar eine richtige Kritik an der Lula/Alckmin-Liste (und auch an der falschen „Faschismus“-Analyse eines großen Teils der linken Lula-Untersützer:innen) übt, aber als Wahlposition nur die Option der Unterstützung der PSTU sieht – und natürlich der Vorbereitung der Kämpfe nach der Wahl. Die MRT-Vision der Verbindung aller gegenüber Lula kritischen Kräfte von MRT, PSTU, PCB, PU ist in diesem Zusammenhang nicht nur unrealistisch, sondern verkennt auch, dass beträchtliche Teile der Aktivist:innen und Avantgardeelemente, die jetzt mit Bauchschmerzen Lula wählen, entscheidend sein werden für den Kampf um den Aufbau der Protestbewegung nach der Wahl.

Letzteres mussten wir auch in der Diskussion mit unserer eigenen Sektion erkennen. Auch wenn wir programmatisch bezüglich der zentralen Forderungen eines revolutionären Aktionsprogramms mit ihr vollkommen übereinstimmen, gibt es taktische Differenzen. Nachdem der Kampf gegen die Unterstützung der Lula/Alckmin-Liste in der PT und PSOL verloren war, stellte sie fest, dass ein überwältigender Teil der Arbeiter:innenavantgarde und der Vertreter:innen sozial Unterdrückter nunmehr trotz aller Bedenken zur Wahl von Lula/Alckmin entschlossen ist, um Bolsonaro zu verhindern. Hinzu kommt, dass in der polarisierten Situation die Gefahr eines „faschistischen Putsches“ in der Linken (vor allem durch die PT) so überzeichnet wird, dass alle, die nicht für Lula/Alckmin stimmen wollen, sofort als indirekte Unterstützer:innen von Bolsonaro gebrandmarkt werden.

So richtig die Erkenntnis ist, dass die aktuelle Polarisierung massenhafte Illusionen in die PT befördert hat und diese große Teile der Klasse wie der Avantgarde organisiert, so begingen unsere Genoss:innen den Fehler, für eine kritische Unterstützung von Lula-Alckmin einzutreten, auch wenn sie gleichzeitig vor dem sicheren Verrat einer solchen Regierung warnen und zum Kampf dagegen aufrufen. Aus den oben genannten Gründen halten wir eine kritische Wahlunterstützung für eine Volksfront für einen schweren taktischen Fehler. Nachdem sich diese Differenz nicht lösen ließ, legte die Liga Socialista ihre Mitgliedschaft in der Liga für die Fünfte Internationale als Sektion nieder. Wir hoffen allerdings, dass sich im Zuge der Auseinandersetzungen nach der Wahl diese Differenzen wieder lösen lassen, und wir unterhalten weiter geschwisterliche Beziehungen zu den Genoss:innen. Ungeachtet dieser Differenz unterstützen wir sie jedoch im Kampf gegen rechts und die schweren Auswirkungen der Krisen in Brasilien. Wir rufen dazu auf, den Kampf der brasilianischen Arbeiter:innen und Unterdrückten gegen Verelendung und faschistische Gewalt weltweit vor und nach der Wahl zu unterstützen.




80 Jahre Stalingrad: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 1

Leo Drais, Infomail 1196, 25. August 2022

Der Abend des 23. August 1942 gilt als der Beginn der Schlacht um Stalingrad. Deutsche Truppenverbände stießen nördlich der Stadt bei Rynok an die Wolga vor. Ein Bombenangriff der Luftwaffe mit über 600 Flugzeugen tötete Tausende, die nicht aus der Stadt evakuiert worden waren.

Die Schlacht wurde zum Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges, vielleicht nicht unbedingt militärisch, jedoch unbedingt psychologisch. Goebbels sah sich nach der Niederlage zur Ausrufung des „totalen Krieges“ gezwungen. In den von den Deutschen besetzten Gebieten keimte die Hoffnung auf Befreiung.

Die Wehrmacht wurde in Stalingrad eingekesselt, nachdem sie selbst die Stadt umzingelt und die Rote Armee fast daraus verdrängt hatte. Die Armee Hitlers erfror und verhungerte im russischen Winter bei – 30 Grad. Entsetzungsversuche scheiterten. Ende Januar 1943 ging der deutsche Generalfeldmarschall Paulus mit den völlig erledigten Resten der sechsten Armee in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Gerade mal 6.000 sollten aus ihr zurückkehren.

Ab Stalingrad war die Rote Armee die initiative Kraft im Krieg an der Ostfront. Zwei Jahre später fiel Berlin.

Ukrainekrieg und Neuschreibung der Geschichte

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine versuchen gewisse Rechte und Konservative, noch stärker geschichtsrevisionistisch das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee aus der deutschen Erinnerung zu tilgen. Eine Entfernung des sowjetischen Ehrenmals auf der Straße des 17. Juni in Berlin wurde ins Spiel gebracht, die Sowjetunion mit dem russischen Imperialismus Putins gleichgesetzt.

Umso wichtiger ist es, die Geschichte zu verteidigen!

Mit der Sowjetunion kämpfte nicht eine imperialistische Macht gegen eine andere – Deutschland – sondern ein Arbeiter:innenstaat, der sich gegen den Hitlerfaschismus verteidigte, die „chemisch destillierte Essenz des deutschen Imperialismus“, wie Trotzki schrieb.

Letzterer analysierte zugleich auch, dass sich der stalinistische und der faschistische Staat zwar der Form nach ähneln, nicht jedoch in ihrem Inhalt.

Für beide Staatsformen hat sich der Begriff des Totalitarismus durchgesetzt, eine Organisation der Diktatur, die bis in die letzten Ecken der Gesellschaft ihre Fühler ausgestreckt hat, allgegenwärtig ist, einen riesigen Teil der Bevölkerung selbst in ihren Apparat einbindet, um eine umfassende Überwachung und Unterdrückung zu verwirklichen. Dieser Umstand macht es heute so leicht, die Sowjetunion und den Putinismus in eins zu setzen, als Ausdrücke eines antidemokratischen, großrussischen Chauvinismus, wobei es natürlich auch Putin selbst ist, der sich positiv auf die Macht der Sowjetunion bezieht um den eigenen Imperialismus propagandistisch zu verkleiden.

Das ist Erbschleicherei.

Denn der entscheidende Unterschied zwischen der Sowjetunion und dem Drittem Reich ist der, dass beide Staaten unterschiedliche Systeme des Eigentums und der Produktion vertraten und verteidigten. Der NS-Staat war der Inbegriff des kriselnden Kapitalismus, der wild um sich schlug, um nicht in der Konkurrenz unterzugehen. Nicht umsonst heißt es vom Imperialismus, dass er das höchste Stadium des Kapitalismus darstellt.

In dieser Betrachtung der Geschichte stellte die Sowjetunion einen Fortschritt dar, einen Ort, wo das Kapital nicht mehr Produktion und Gesellschaft bestimmte. Das ist der Grund, warum die Verteidigung der Sowjetunion wichtig und richtig war – trotz der Deformation durch die Bürokratie, die selbst eine Agentin des Imperialismus auf Weltebene darstellte, fleißig mit Hitler, Großbritannien und den USA paktierte, gegen die Interessen der Arbeiter:innenklasse.

„Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts

Geschichtsschreibung ist immer relativ zur Wahrheit.

Und die bürgerliche Geschichtsschreibung kann nicht anders, als sich selbst immer als den letzten Schluss der Menschheit darzustellen, sei es in bürgerlichen Demokratien oder Diktaturen – das Ende der Geschichte sei erreicht.

Dargestellt wird die Geschichte dabei als die großer Männer, die nach Belieben die Erzählung der Welt bestimmt haben, die aufgetaucht sind und ein Land wie ein Rattenfänger in den Abgrund gestürzt oder es zu glorreichen Siegen gegen fremde Invasor:innen  geführt haben.

In etwa so erscheinen Hitler und Stalin in den Schulbüchern.

Dabei sind die, die Krieg führen, nicht die „großen Männer“, sondern wesentlich die einfache Bevölkerung.

Einer, der dieser Bevölkerung ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist Wassili Semjonowitsch Grossman. Sein Werk wird als das „Krieg und Frieden“ des zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt. Doch während Tolstoi seinen ebenfalls monumentalen Roman viele Jahrzehnte nach den Napoleonischen Kriegen schrieb und sie selbst nie erlebt hatte, war Grossman als wehruntauglicher Kriegsberichterstatter selbst über 1.000 Tage an der Front gewesen.

Sein Werk besteht aus einer Dilogie. „Stalingrad“ erzählt die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft im Krieg vom Überfall der Deutschen bis in den Herbst 1942. Der zweite Teil „Leben und Schicksal“ greift hier den Faden wieder auf, entwickelt die Figuren des ersten Teils weiter.

Dabei bauen die beiden Romane auf ihren insgesamt 2.300 Seiten nicht einfach aufeinander auf.

Sie erzählen selbst Grossmans Geschichte und Wandel. Während „Stalingrad“ unter dem Titel „Für eine gerechte Sache“ sehr beschnitten und zensiert noch unter Stalin erschien und eine entsprechende Konformität mit dem Regime ausdrückt, stellt „Leben und Schicksal“ eine Abrechnung nicht nur mit dem Faschismus, sondern auch mit dem Stalinismus dar, die auch der angeblichen Entstalinisierung und Tauwetterperiode unter Chruschtschow zu scharf war. „Leben und Schicksal“ wurde beschlagnahmt, eine Kopie jedoch in den Westen geschmuggelt, wo es posthum nach dem Tod Grossmans veröffentlicht wurde.

Stalingrad auf 1.200 Seiten

Trotzdem ist auch „Stalingrad“ alles andere als ein stumpfes Propagandawerk des Stalinismus – zumal in seiner erst letztes Jahr im Deutschen vollständig erschienenen Fassung. Die Kritik erfolgt hier oft subtil, zwischen den Zeilen. Es ist ein Roman, der sich in einem Spannungsfeld bewegt: „Was darf und kann ich schreiben, was muss, was will ich schreiben?“

Der „große Stalin“ kommt, ganz im Gegensatz zu Schulbüchern, kaum in „Stalingrad“ vor. Das stilistisch im sozialistischen Realismus gehaltene Buch stellt uns die sowjetische Bevölkerung in ihrer Breite vor, belegt, dass der Krieg vor allem ihrer war, dass sie ihn führte, litt und kämpfte. Grossman zeigt uns auch die, die es nicht in die Geschichtsbücher schaffen: Arbeiter:innen, Bäuer:innenfamilien, einfache Soldat:innen.

Dabei beschränkt er sich nicht einfach auf das Geschehen an der Front. Anhand der fiktiven, weit  verästelten Familie Schaposchnikow erfahren wir vom Alltag, von Normalität und Gesprächen abseits des Krieges, von der Arbeit, der Liebe und ihren Irrungen, den Sorgen einer Familie um den Sohn an der Front, der Evakuierung und den Diskussionen über den Krieg.

Wir kommen mit in Fabriken, ins Elektrizitätswerk „Stalgres“ südlich Stalingrads, in Forschungseinrichtungen und Bergwerke am Ural, dahin, wo die wirtschaftliche Stärke im  Krieg zum Tragen kommt – letztlich die entscheidende Größe, anhand derer Trotzki schon zu Beginn des Krieges prognostizierte, dass Deutschland ihn verlieren wird.

Ganz ohne Zahlen zeigt Grossman die Überlegenheit selbst der bürokratisierten Planwirtschaft, ihrer Fähigkeit, in kürzester Zeit ganze Fabriken an den Ural zu verlegen, weg von der Front. Völlig zu Recht betont eine Figur, dass auf dem Gebiet der Wirtschaft schon Siege errungen wurden, obwohl sich die Wehrmacht immer noch und scheinbar unaufhaltsam Richtung Osten bewegte.

Und natürlich wäre das Werk Grossmans unvollständig, wenn er nicht auch den Blick auf die Offizier:rinnen und Kommissar:innen der Roten Armee, auf Bürokrat:innen und Bezirksvorsitzende werfen würde. Der Apparat ist allgegenwärtig, erfährt in „Stalingrad“ mehr Glorifizierung als Kritik.

Andererseits erzählt Grossman von Bildern des Krieges, die der Stalinismus gern verschwiegen hat. Von Läusen und Diebstahl, von Entkulakisierten, die auf die Deutschen warten, vom Pessimismus und der fast schon routinierten Selbstverständlichkeit, mit der sich die Rote Armee immer weiter zurückzog, bis an die Wolga. Erst Stalingrad brachte ein Bewusstsein dafür, dass der Faschismus besiegt werden kann.

Kollektives Schicksal im Einzelnen

Grossmans Figuren verkörpern nicht diese plumpe Einfachheit, die sonst dem sozialistischen Realismus anhaftet. Sie sind komplex und ambivalent, sie tragen das kollektive, massenhafte Schicksal der sowjetischen Bevölkerung in sich selbst aus.

Aus unterschiedlichen persönlichen Blickwinkeln erleben wir das erste Bombardement, wie die Familie Schaposchnikow zerstreut wird, erfahren vom Hadern und der Hingabe Einzelner ihrem Schicksal gegenüber. Wir lernen einen Soldaten kennen in seinen Sehnsüchten, seinen Erinnerungen an die Familie, von der er aufbrach, seinen Wünschen und seinem Pflichtgefühl, und dann fällt er, mit allen seinen Kampfgenossen.

Nichts von den charakterlosen, redundanten und kitsch-banalen Soldatenschicksalen aus billigen TV-Dokus ist hier zu finden. Bei Grossmann werden sie vielmehr ganz nah und lebendig.

Dafür projiziert Grossman die Innenwelten der Menschen oft fantastisch und expressiv in die Natur Südrusslands, auf die Wolga, die Steppe, den Himmel, der den Feuerschein des brennenden Stalingrads reflektiert.

Wir erleben das Spannungsfeld zwischen dem Krieg, der Massen mit sich zieht, über das Leben einer ganzen Bevölkerung bestimmt und dem, was das für die Einzelnen, aus denen diese Masse besteht, bedeutet, für Gedanken, Handlungen und ihr Bewusstsein. Die allermeisten Menschen handeln aus ihren unmittelbaren, eigenen Erfahrungen heraus.

Die Überzeugung von der Notwendigkeit, gegen den Faschismus zu kämpfen, finden die Figuren, fanden die Menschen in der Sowjetunion von sich aus. Die Motive waren jedoch unterschiedliche: von der Überzeugung sozialistischer Überlegenheit bis zur Vaterlandsverteidigung – immerhin war ja auch die offizielle Bezeichnung des Krieges der „große, vaterländische“.

Offenes Ende

Der Roman endet nicht mit dem sowjetischen Sieg an der Wolga, sondern mitten in der Schlacht, an dem Punkt, wo der deutsche Vormarsch zum Stillstand kommt.

Auch wenn „Stalingrad“ nur subtil in seiner Kritik ist, ist es trotzdem unbedingt lesenswert und weit davon entfernt, ein Propagandawerk zu sein. Gerade für Revolutionär:innen und Marxist:innen, die sich mit Trotzkis Analysen der UdSSR auskennen, kann es nur bereichernd sein. Es verleiht dem sonst trockenen Geschichtsbewusstsein Lebendigkeit und einen tiefen Einblick in die Breite der sowjetischen Gesellschaft zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Einen Blick, der hilfreich ist, in einer Zeit, wo imperialistische Kriegspropaganda auf allen Seiten Konjunktur hat.

Und endlich ist „Stalingrad“ auch deshalb lesenswert, weil es mit seinem offenen Ende auf den zweiten Teil „Leben und Schicksal“ vorbereitet – eine Abrechnung einerseits, mit verkürzten Schlüssen andererseits.

Demnächst: Stalingrad, Faschismus und Stalinismus: Wassili Grossmans Epos über die Sowjetunion im Krieg, Teil 2




24 Monate nach den Morden in Hanau: Kein Vergessen!

Martin Suchanek, Neue Internationale 262, Februar 2022

Die rassistischen Morde von Hanau jähren sich am 19. Februar. Vor zwei Jahren wurden Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Paun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoglu bei Anschlägen durch einen Akt faschistischer Barbarei brutal aus dem Leben gerissen.

Faschistischer Anschlag

Der Todesschütze von Hanau war darauf aus, möglichst viele migrantische Menschen zu töten. Über seine Motive besteht kein Zweifel. Seine Bekennerschreiben und Videos lesen sich wie Manifeste neofaschistischer und völkischer Barbarei, sind Aufrufe zum Pogrom, zur Vernichtung „bestimmter Völker“! War sein Hass auch mit obskuren Verschwörungstheorien verbunden, so richtete er sich vor allem gegen MigrantInnen. Tobias R., der Killer von Hanau, erinnert unmittelbar an den Attentäter von Christchurch oder an den norwegischen Massenmörder Breivik.

Der Anschlag reiht sich in eine ganze Serie erschreckender rassistischer Morde und Anschläge der letzten 30 Jahre ein. Seit 1990 sind über 200 Menschen Opfer rechter, rassistischer und faschistischer Gewalt geworden, einschließlich immer offener antisemitischer Anschläge wie in Halle.

Die Zunahme rechter Anschläge wie die Bildung terroristischer Gruppierungen, Zellen und Netzwerke stellen den zugespitzten Ausdruck eines Rechtsrucks dar, dessen Erscheinungsformen den Aufstieg der AfD, aber auch faschistischer Organisationen wie der „Identitären Bewegung“, klandestiner Terroreinheiten sowie irrationalistischer Bewegungen wie der QuerdenkerInnen umfassen.

Wut, Trauer, Widerstand

Wie viele andere AntirassistInnen und AntifaschistInnen rufen wir zur Teilnahme an den Demonstrationen und Aktionen zum Gedenken den Mord von Hanau auf. Wir wollen damit den Familien, den Angehörigen und FreundInnen der Getöteten unsere Anteilnahme zeigen, sie in ihrem Schmerz, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung nicht alleine lassen. Wir wollen ein Zeichen der Solidarität mit allen Opfern rassistischer und faschistischer Anschläge, Angriffe und Morde setzen, ein Zeichen der Solidarität mit allen Abgeschobenen, mit den Opfern der mörderischen EU-Grenzpolitik sowie allen Formen staatlicher und institutioneller rassistischer Gewalt, Diskriminierung und Unterdrückung.

Damit aus Wut und Trauer, Zorn und Angst Widerstand gegen den rassistischen Terror und Rechtsextremismus wird, müssen wir uns bemühen, die Ursachen, die sozialen Wurzeln der barbarischen Morde zu verstehen.

Rassistischer Wahn

Die faschistischen, neofaschistischen, aber auch zahlreiche rechtspopulistische Organisationen stellen ein irrationales völkisches Wahngebilde zunehmend ins Zentrum  ihrer Ideologie, eine Mischung aus Verschwörungstheorie, Rassismus, Antisemitismus und allen möglichen Formen reaktionären Gedankenguts wie z. B. des Antifeminismus, Leugnung des Klimawandels oder der Gefahr durch das Corona-Virus. So bizarr und wirklichkeitsfremd, ja die Realität auf den Kopf stellend diese Ergüsse auch wirken (und sind), knüpfen sie doch an die Vorstellungswelt eines viel breiteren rechten Spektrums an, das bis tief in bürgerliche und kleinbürgerlich-reaktionäre Schichten  reicht (und auch unter politisch rückständigen ArbeiterInnen Gehör findet).

Der individuelle Terrorismus auf Seiten der Rechten signalisiert daher auch einen grundsätzlichen Stimmungsumschwung unter weiten Teilen des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten. Das drückt sich auch in der Herkunft etlicher AttentäterInnen aus.

Viele entpuppten sich als Menschen mit klassischen kleinbürgerlichen Karrieren, häufig auch im Polizei- und Sicherheitsapparat. Über alle biographischen Besonderheiten hinweg verdeutlicht die Gemeinsamkeit der sozialen Herkunft, dass sich die gegenwärtige Krise im KleinbürgerInnentum, in den Mittelschichten ideologisch nicht nur als Angst vor Deklassierung, sondern auch als zunehmendes Misstrauen und Ablehnung gegenüber der traditionellen bürgerlichen Führung und dem Staat manifestiert. Es bedarf eines rechten Aufstandes, einer Pseudorevolution, der angelichen Entlarvung von „Verschwörungen”, eines Pogroms an den „fremden Rassen“ und „VolksverräterInnen“, was im terroristischen Akt an möglichst vielen schon exemplarisch vorgeführt wird.

Wie bekämpfen?

Wie der Mord am Regierungspräsidenten Lübcke gezeigt hat, kann sich der rechte Terrorismus auch gegen RepräsentantInnen des bürgerlichen Staates richten. Die Masse seiner Opfer findet er jedoch – und darin gleicht er dem Terror faschistischer Massenbewegungen – unter MigrantInnen, rassistisch Unterdrückten, linken AktivistInnen oder dem Subproletariat (z. B. Obdachlose), also den Lohnabhängigen und Menschen, die Rassismus und Faschismus entgegentreten wollen.

Die Erfahrung zeigt jedoch auch, dass wir uns dabei – wie im Kampf gegen den Faschismus insgesamt – nicht auf den bürgerlichen Staat und seine Polizei verlassen können. Die Forderung nach verschärfter Repression und Überwachung geht daher nicht nur ins Leere, sondern letztlich in eine falsche Richtung, weil sie einem bürgerlichen, repressiven, rassistischen Staatsapparat mehr Machtmittel in die Hand gibt, die in der Regel gegen uns eingesetzt werden.

Zweitens können aber auch der Selbstschutz, der Aufbau von Selbstverteidigungseinheiten, antifaschistische Recherche – so wichtig sie im Einzelnen wohl sind – gegen klandestine Terrorzellen oder Individuen nur begrenzt Schutz bieten.

Schwerpunkt

Das Hauptgewicht des Kampfes muss daher auf dem gegen die gesellschaftlichen Wurzeln liegen, und zwar nicht nur, indem der Kapitalismus als Ursache von Faschismus, zunehmender Reaktion, Rechtsruck, Krise identifiziert und benannt wird. Es kommt vor allem darauf an, dass die ArbeiterInnenklasse als jene soziale Kraft in Erscheinung tritt, die einen fortschrittlichen Ausweg aus der aktuellen gesellschaftlichen Krise zu weisen vermag. Der Zustrom zur AfD, die Mobilisierungskraft von Corona-LeugnerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen, also der gesellschaftliche Rechtsruck und Irrationalismus, stellen keine unvermeidliche, automatische Reaktion auf eine Krisensituation dar.

Dass der Rechtspopulismus zu einer Massenkraft geworden ist und in seinem Schlepptau auch faschistische Organisationen und Terrorismus verstärkt ihr Unwesen treiben, resultiert auch, ja vor allem daher, dass sich die reformistische ArbeiterInnenbewegung nicht als antikapitalistische Kraft, sondern als bessere Systemverwalterin zu profilieren versucht. SPD und DGB-Gewerkschaften tragen auf Bundesebene die Ampel-Koalition und üben den Schulterschluss mit dem Kapital. Die Linkspartei, wie immer hoffnungsfroh, setzt auf die „Einheit der DemokratInnen“ (bis hin zu CDU und FDP, wenn es gegen die AfD geht).

Faschismus, Rassismus und Rechtspopulismus können geschlagen werden. Aber dazu braucht es einen politischen Kurswechsel, ein Programm, eine Strategie, die die Mobilisierung gegen diese Kräfte als Teil des Klassenkampfes versteht. Nur so kann dem Rechtsruck sein Nährboden entzogen werden. Nicht Einheit über alle Klassengrenzen hinweg, sondern Einheit der ArbeiterInnenbewegung, der Linken, der MigrantInnen gegen rechten Terror, Populismus und Rechtsruck ist das Gebot der Stunde.




ImpfgegnerInnen: Von wegen körperliches Selbstbestimmungsrecht!

Leo Drais, Neue Internationale 2022, Februar 2022

Ende Januar 2022 liegt die Impfquote der gegen Corona durchgeimpften Menschen in Deutschland bei ungefähr 73 %. Mehr als 25 % der impftauglichen Bevölkerung und über 3 Millionen der über Sechzigjährigen – Menschen mit erhöhtem Risiko, schwer an Covid zu erkranken – sind ungeimpft. Ein bedeutender Teil der nicht geimpften Erwachsenen sind bewusst Ungeimpfte – nach rund einem Jahr Impfkampagne fehlt es zwar noch immer an Information für Teile der Bevölkerung, aber das trifft auf die Mehrzahl der ImpfgnerInnen nicht zu. Sie haben sich entschieden, obwohl die Gesundheitsrisiken bei einer Impfung nachweislich gering sind.

Das drückt sich auch in Zahlen aus. Laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind bis November 2021 in der Bundesrepublik 123.347.849 Corona-Impfungen verabreicht worden. In 0,16 Prozent der Fälle wurden relevante Nebenwirkungen gemeldet, in gerade mal 0,02 Prozent (26.196) der Fälle schwerwiegende. In 78 Einzelfällen spricht das PEI davon, dass Menschen wahrscheinlich ursächlich an einer Impfreaktion verstorben sind. Natürlich ist das tragisch, für Einzelne gilt Statistik nicht. Vom Standpunkt der gesamten Gesellschaft aus betrachtet, wo definitiv Tausenden das Leben durch eine Impfung gerettet wurde, gleicht sich das Risiko jedoch mehr als aus. Schließlich war der Großteil der IntensivpatientInnen in den letzten Monaten ungeimpft. Abertausende Impftote sind also ein hysterisch erlogener Fake.

Im Folgenden wollen wir uns nicht mit einer möglichen Impfpflicht, wohl aber mit dem Argument auseinandersetzen, dass diese gegen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper verstoße und daher ganz grundsätzlich abzulehnen sei.

Kollektiver Schutz oder individuelle Entscheidung?

Impfungen werden dabei zwar als ein Mittel des individuellen Gesundheitsschutzes, der „freien Entscheidung“ anerkannt, dass sie jedoch ein gesellschaftlich-allgemeines Ziel verfolgen, nämlich den Gesundheitsschutz insgesamt zu erhöhen, fällt bei dem „grundsätzlichen“ Beharren auf das Selbstbestimmungsrecht unter den Tisch.

Dabei ist die Sache recht einfach. Eine Bevölkerung impft sich gegen ein gefährliches (tödliches) Virus. Sie nimmt dabei unvermeidlich auch das Risiko in Kauf, dass Einzelne einen Impfschaden erleiden. Im Kapitalismus, einer Gesellschaft, die sich in der verallgemeinerten Konkurrenz verwirklicht, beginnen hier aber auch schon die Probleme.

Ideeller Gesamtkapitalist

Erstens, weil es in der Politik der BRD von Beginn an darum ging, nicht für den bestmöglichen Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu sorgen, sondern darum, das Infektionsgeschehen irgendwie in eine Bahn zu  bugsieren, die dem deutschen Finanzkapital möglichst erträglich ist und gewissem politischen Kalkül folgt. Die bürgerliche Politik richtet sich nach dem individuellen Interesse einer Klasse. Das setzt sich auch beim Impfschutz fort.

Die Motivation jedes kapitalistischen Staates ist dabei nicht zuerst, bald wieder ein kulturelles Leben zu ermöglichen (das steht vielleicht an zweiter Stelle), sondern den Unternehmen arbeitsfähige Arbeitskräfte bereitzustellen. Impfungen bilden dabei für das Kapital im Vergleich zu hohen Zahlen schwerer Erkrankungen und des Ausfalls von Arbeitskräften sogar relativ kostengünstige Formen der Gesundheitsvorsorge, z. B. verglichen mit dem Ausbau von Krankenhäusern.

Die Tatsache, dass auch der Staat als ideeller Gesamtkapitalist und das Gesamtkapital an einer verfügbaren, also auch arbeitsfähigen ArbeiterInnenklasse interessiert sind, heißt freilich keineswegs, dass die einzelnen Kapitale oder selbst der Staat immer konkret in der Lage oder willig sind, das zu organisieren. Schließlich ist jede Form der Gesundheitsvorsorge vom Standpunkt einzelner Kapitale auch ein Abzug vom (möglichen) Profit, erscheint als überschüssige Kosten, die am besten einzusparen sind – wie man ja auch am Kaputtsparen der Krankenhäuser oder am Impfnationalismus sehen kann.

Die Tatsache, dass das Kapital gesunde Arbeitskräfte, also solche die auch einen Gebrauchswert haben, benötigt, heißt freilich nicht, dass der ArbeiterInnenklasse selbst die eigene Gesundheit egal sein kann oder ist. Genauso wie die Lohnabhängigen ein Interesse am Arbeitsschutz haben, obwohl dieser auch bedeutet, dass der Produktionsprozess reibungsloser ablaufen kann und die Arbeitskraft als Ware erhalten bleibt, hat die ArbeiterInnenklasse ein kollektives Interesse an möglichst wirksamen Maßnahmen. Auf die Bekämpfung einer Pandemie bezogen, schließt das einen Ausbau der medizinischen Versorgung, massive Neueinstellungen ebenso ein wie einen effektiven Impfschutz. Obwohl dieser (wie jede Form der Gesundheitsvorsorge) unter wirtschaftsorientierten Prämisse stattfindet, heißt das daher nicht, dass Impfungen an sich abzulehnen sind.

KleinbürgerInnentum

Zweitens stößt der Kollektivgedanke im Kapitalismus sowieso schnell an Grenzen, weil sich im Wettbewerb erst mal jede/r selbst am nächsten ist und somit zum Individualismus getrieben wird.  Besonders betroffen ist davon das KleinbürgerInnentum, das mit seiner kleinen eigenständigen Existenz zwischen ArbeiterInnenklasse und Kapital glaubt, es wäre seines eigenen Glückes Schmied. Pandemie und Krise sind diesem Glück nun in die Quere gekommen, eben auch, weil sowohl Merkel als auch Scholz darum bemüht waren, Lufthansa und Co. die Lasten der Krise zu nehmen und sie der breiten Bevölkerung aufzuladen. FriseurInnen und Restaurants mussten zurückstecken und schließen, als VW und die anderen Großkapitale in der Krise gestützt und geschützt wurden.

Dementsprechend war und ist das KleinbürgerInnentum die Speerspitze nicht nur der Coronaleugnung, sondern auch ihrer logischen Fortsetzung – der ImpfgegnerInnenschaft -, welche zudem bis ins tiefste rechte Lager reichen. Blind wäre es natürlich, das nur so zu sehen. Jahrzehntelange Niederlagen im Klassenkampf, reformistische Vormachtstellung und serviles, eigennütziges Nachlaufen der Gewerkschaftsführungen, LINKEN und SPD hinter den Bossen (gerade in der Pandemie) haben das Klassenbewusstsein von bedeutenden Teilen der ArbeiterInnenklasse erodiert, zersetzt und diese für Wirrwarr und Geschwurbel empfänglicher gemacht.

Wissenschaft, Irrationalismus und Psyche

Natürlich ist nicht jede/r ImpfgegnerIn ein/e CoronaleugnerIn. Das Spektrum ist fließend und ein sehr breites – von schulterzuckender Gleichgültigkeit („Wird schon nicht so schlimm sein“) über chronischen Wissenschaftsskeptizismus („Ob der Impfstoff wirklich sicher ist und was bringt?“) bis hin zu bizarren, panischen Verschwörungstheorien („Impfen bewirkt Massensterben!“), wobei insbesondere jene antisemitischen VerkleistererInnen gefährlich und überaus ekelhaft sind, die sich einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ ans Revers heften, was nichts anderes als eine Verharmlosung der Shoah ist.

Während der Bundestagsdebatte am 26. Januar demonstrierten etwa 2.000 gegen die Impfpflicht, jede Woche finden Dutzende solcher Demos im gesamten Land statt. Vereint werden die „SpaziergängerInnen“ durch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Irrationalismus, was stets wissenschaftsfeindlich und auf bestimmte Weise realitätsverneinend geraten muss.

Denn grob gesagt hat das vereinzelte Individuum zwei Möglichkeiten, mit der Pandemie und der Krise psychisch fertig zu werden: Entweder es erkennt die Realität mit ihren Widersprüchen an und hält diese aus, z. B. indem es einsieht, dass Impfungen schützen, obwohl sie von der verfluchten Regierung und dem Robert-Koch-Institut, die einem den Laden mehrmals dichtgemacht haben, empfohlen werden. Zur Anerkennung der Realität gehört dabei auch festzustellen, dass Wissenschaft und Medizin sich zwar ebenfalls den kapitalistischen Erfordernissen der Herrschenden unterordnen (oder wie bei BioNtech selbst zu Profiteurinnen der Pandemie werden), sie aber trotzdem wirksame Impfstoffe hervorgebracht haben.

Die andere Möglichkeit ist, dass das Individuum vor dieser schlechten, widersprüchlichen Realität zu entfliehen trachtet.

Im Kopf findet eine Realitätsanpassung statt, die sich offener ImpfgegnerInnenschaft ausdrückt. Das Problem ist, dass gerade die aktive ImpfgegnerInnenschaft wie auch die sich in Verschwörungstheorien und Leugnung ergehende Realitätsverzerrung mit unbewussten Affekten gefüttert wird. Sie ist kein Ergebnis aus logisch-rationalem, bewusstem Denken. Das psychische Ich wehrt sich gegen eine Wirklichkeit, die es nicht aushält, indem die Welt so gemalt wird, dass sie gefällt. Das kann auch zur Folge haben, sie im Unbewussten so weit zu verwandeln, bis die Impfung nichts mehr bringe, extrem gefährlich oder einfach zum Werkzeug verborgener Mächte und der Herrschenden geworden sei, um angeblich  die Bevölkerung zu dezimieren. Bloße Aufklärung hilft hier kaum. Im Psychischen übersetzt sich die natürliche und gesellschaftliche Totalität, die dem einzelnen Menschen selbst nur verschleiert gegenübertritt, in Gedanken und Handeln.

Verknüpfung

Die kapitalistische Realität selbst bringt den Irrationalismus ständig hervor. Einerseits verfolgt das Kapital seine Zwecke auf sehr berechnende, rationale Art, indem die Produktivität immer mehr gesteigert wird. Doch diese Steigerung im einzelnen Produktionsorganismus oder der bürokratischen Rationalität des Staatsapparates entspricht, dass diese Art Vermehrung des Reichtums keinem allgemeinen, gesellschaftlich vernünftigen Zweck, sondern dem bornierten Heißhunger nach Mehrwert, dem Kampf um maximalen Profit folgt. Der Irrationalismus wird also nicht von CoronaleugnerInnen in eine ansonsten vernünftige Mitte der Gesellschaft getragen, vielmehr trägt ihn schon der kapitalistische Normalzustand, der normale Fortgang der Akkumulation in sich.

In Krisen verbindet sich offen rechte, aggressive Ideologie z. B. mit einer Leugnung der Klimakrise oder einer Kritik an einer völlig inkonsequenten, kaum überschaubaren und direkt irrwitzigen Coronapolitik (die behauptet, mit der Impfpflicht alleine wäre der Pandemie ein Ende zu machen). Die irrationale Wirklichkeit, sie muss sich auch in einem falschen Bewusstsein fortsetzen, wo die Welt scheinbar wieder erklärbar wird: Wenn es Corona erst gar nicht gibt, was braucht es dann die Impfung? Oder umgekehrt: Wenn die Impfung so gefährlich ist, ist sie abzulehnen dann nicht ein rationaler Schutz der Allgemeinheit?

Absolutes Recht und Freiheit?

Es ist wichtig, auf den Unterschied zwischen ImpfgegnerInnen und ImpfpflichtgegnerInnen hinzuweisen. Während die Ersteren auch stets die Letzteren sind, gilt das umgekehrt nicht. Viele lehnen die Impfung nicht ab, argumentieren aber, dass die Impfpflicht einen diktatorischen Eingriff in das körperliche Selbstbestimmungsrecht ausübe.

Dabei ist das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper nicht erst seit der Impfpflichtdebatte gefährdet, sondern für die allermeisten sowieso schon eine Fiktion und das nicht einfach, da nie gefragt werden konnte, ob wir geboren werden wollen oder nicht.

Wie war das denn nochmal mit dem Recht, das eigene Leben beenden zu lassen? Strafbar! Da ist der Mensch hierzulande zum Leben verdammt. Er wird Jahre und Tage durchs Leben geschleift, er soll arbeiten (auf dem gelben Zettel heißt es ja auch „arbeitsunfähig“ und nicht „krank“) oder Kliniken und Pflegeheimen die Kasse füllen. Aber Achtung! Wenn er doch mal kommt, der dritte Weltenbrand, dreht sich das Spiel um. Das sonst so heilige Leben muss wieder geopfert werden für die Nation und den deutschen Imperialismus.

Darüber hinaus: Für die ArbeiterInnenklasse ist es im Kapitalismus das tägliche Spiel, erzwungen die eigene Arbeitskraft zu verkaufen und dem Kapital zur Verfügung zu stellen, ergo für eine bestimmte Zeit nicht über den eigenen Körper und das, was er leisten kann (denken und werken), zu bestimmen.

Und schließlich ist, von der anderen Seite her angeschaut, das Recht und die Freiheit, sich nicht impfen lassen zu dürfen, das Recht und die Freiheit, andere gefährden zu dürfen. Denn obwohl keine Impfung vor einer Infektion mit Corona schützen kann – was auch nie behauptet wurde! –  (der einzige, 100-prozentige Schutz davor, Viren einzuatmen, ist, nicht mehr zu atmen, oder die absolute Isolation), ist ein Mensch mit Impfung weniger lange und stark für andere gefährlich, einfach weil dieser selbst in der Regel nur einen Bruchteil der Viren Ungeimpfter reproduziert.

Ein absolutes Recht auf individuelle Selbstbestimmung führt, wenn es bis zur letzten Konsequenz weitergedacht wird, stets zu reaktionären Ergebnissen, denn es muss das Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung aller anderen negieren – nur ich zähle! So wie AbtreibungsgegnerInnen das ungeborene Leben für absolut setzen, und koste es der Mutter das Leben, setzen viele aktive ImpfgegnerInnen das Recht auf ihre eigene körperliche Unversehrtheit für absolut, wobei sie nicht nur andere, sondern ironischer Weise auch sich selbst potentiell gefährden.

Die besseren Ergebnisse

Solange eine kapitalistisch bedingte Pandemierealität herrscht, wird es beides geben – den offiziellen, demokratischen Irrationalismus im Parlament und seinen wilder werdenden, übersteigerten Konterpart auf der Straße. Wie ein alternativer, rationaler Umgang mit Corona und dessen Auswirkungen aussehen kann, haben wir in anderen Ausgaben und auf unserer Homepage schon mehrfach erläutert. Wir erwähnen bloß nochmal, dass die Impfung alleine nicht das Allheilmittel der Pandemiebekämpfung ist, aber ein integraler Teil deren.

Gegen Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit oder Realitätsverneinung in den Köpfen wird keine Impfpflicht ankommen, auch wenn sie vielleicht dem Körper unterhalb dieser Köpfe zu besserem Schutz verhilft. Dem Irrationalismus den weitgehendsten Garaus zu machen, wird nur möglich sein, wenn es eine Kraft gibt, die eine rationale Antwort auf die Krise und Krisenpolitik der Regierungen gibt. Mittels Kampfs um ein Programm, das nicht die Masse der Bevölkerung – die ArbeiterInnenklasse, Unterdrückte und niedriges KleinbürgerInnentum – für die Kosten der Coronamisere knechtet, sondern glaubwürdig die besseren Ergebnisse in ihrem Interesse liefert, kann der Einfluss des Irrationalen gebrochen werden.

Eigenständige Klassenpolitik

Die Voraussetzung dafür, dass es so eine alternative Kraft überhaupt geben kann, ist, dass linke AktivistInnen, kämpferische GewerkschafterInnen, unzufriedene LINKE und SPDlerInnen mit dem Reformismus und einer Regierung, die selbst nur die irrationale Wirklichkeit des Kapitalismus verteidigen, brechen muss. Sie selbst müssen sich zu einer solchen Kraft aufbauen oder mindestens den Startschuss dazu abfeuern. Das Treiben mancher Linker, den spazierenden Irrungen und Wirrungen nachzulaufen und sie für den Keim einer fortschrittlichen, alternativen Antikrisenkraft zu halten, ist demgegenüber – brandgefährlich.




Ihre Freiheit ist eine Lüge

ArbeiterInnenmacht-Rede zum AfD-Gegenprotest in Herrenberg, Infomail 1176, 25. Januar 2022

Hallo GenossInnen,

wie wir wissen, schießen die Infektionszahlen in diesen Tagen wieder mal in die Höhe und scheinbar geht auch einigen Leuten dabei im Kopf die Sicherung durch. Zu der Omikron-Welle kommt jetzt zu allem Unglück noch eine Spaziergangswelle von Verwirrten, die mit hohlen Freiheitsphrasen um sich schmeißen.

Für diese Leute ist die Verweigerung des Maskentragens und der Impfung der letzte Hort der Freiheit. Sie halten sich nicht an den Infektionsschutz und denken, das sei ein Widerstandsakt. Die AfD fühlt sich berufen, diesen SpinnerInnen eine Stimme zu geben.

Die AfD fordert Freiheit für das egoistische Individuum. Die ganz reale Unfreiheit – der Lohnabhängigen, von rassistisch Unterdrückten, von Frauen oder LGBTQ-Personen – verteidigt sie als Gesetz der Natur.

Wir wollen diesen reaktionären Haufen nicht mehr sehen!

Der gemeinsame Nenner der sogenannten SpaziergängerInnen ist Wissenschaftsleugnung und Ablehnung des Infektionsschutzes. Unsoziales, gemeingefährliches und egoistisches Verhalten wird zur Protestkultur einer Bewegung der vermeintlich Fitten, die denken, Corona könne ihnen nichts anhaben.

Woher kommt dieser absurde Möchtegernprotest?

Den Nährboden für diese reaktionäre Bewegung haben die Regierungen mit ihrer gescheiterten Pandemiepolitik selbst bereitet. Deren Ziel war nie der Schutz von Leben und Gesundheit, sondern, die kapitalistische Profitmaschine am Laufen zu halten. Es gilt als Erfolg, dass schwerkranke PatientInnen einen Beatmungsplatz bekommen. Dass sie an einer vermeidbaren schweren Krankheit leiden, wird als unvermeidbarer Kollateralschaden verbucht, damit die kapitalistische Wirtschaft weiterlaufen kann.

Das ist menschenverachtende Politik im Interesse des Kapitals!

Letzten Sommer wurde das baldige Ende der Pandemie angekündigt und es wurden daher auch keine Vorbereitungen für die vierte Welle getroffen. Mittlerweile ist das faktische Ziel der Bundesregierung die Durchseuchung der gesamten Bevölkerung. Karl Lauterbach, unser ach so toller Gesundheitsminister, dem seit jeher ein auf Profiterwirtschaftung getrimmtes Gesundheitswesen wichtiger ist als Menschenleben und der maßgeblich die Einführung der DRGs vorangetrieben hat als „Berater“ der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, rechnet selbst mit mehreren hunderttausend Neuinfektionen pro Tag und trägt das vor, als wäre es die Wettervorhersage!

Die Regierung versucht, die Durchseuchungspolitik zu verschleiern, und stellt sie so dar, als stünde sie im Einklang mit der Wissenschaft. Das ist sie natürlich nicht. ExpertInnen warnen davor, Ungeimpfte egal welchen Alters einer Infektion mit der Omikron-Variante auszusetzen. Auch zweifach Geimpfte tragen ein Erkrankungsrisiko. Solange die Hälfte der Bevölkerung keine dritte Impfung erhalten hat und sogar 3 Millionen (!) Über-60-Jährige ungeimpft sind, ist das Laufenlassen der Pandemie zynisch. Diese Politik nimmt den Tod von Tausenden in Kauf und Long Covid für Millionen, und sie macht die Entstehung neuer Virusvarianten wahrscheinlich.

Dabei gäbe es eine Alternative: Konsequenter Infektionsschutz, der keine Rücksicht auf Profitinteressen nimmt, Aussetzung von Tätigkeiten mit hohem Infektionsrisiko, systematische Umsetzung, Kontrolle und Verbesserung der Maßnahmen in allen Betrieben, Schulen und Unis.

Einen solidarischen Umgang mit der Pandemie müssen wir erkämpfen – gegen Regierung und Kapital!

Die Politik hat die Gefahr durch Corona systematisch verharmlost und die Verantwortung für den Gesundheitsschutz dem Individuum übertragen. Die Rechten denken diese Politik konsequent zu Ende und verbinden sie mit Verschwörungstheorien und Wissenschaftsleugnung.

Diesen Verschwörungsglauben können wir nicht mit Aufklärung besiegen.

Wir müssen den Rechten die Straße nehmen!

Wir müssen ihnen aber auch eine progressive Antwort auf Pandemie und Krise entgegensetzen, damit klar wird, wie systemkonform ihr lächerlicher Protest eigentlich ist!

Das heißt, wir müssen den Kampf gegen rechts verbinden mit dem für eine solidarische Pandemievorsorge, gegen Entlassungen und Schließungen von Krankenhäusern, für mehr Personal in den Kliniken, für mehr Gehalt für alle Beschäftigten!

Außerdem ist es unerlässlich, dass wir für die Freigabe der Impfstoffpatente weltweit eintreten, damit diese global produziert und verteilt werden können. Gerade in den halbkolonialen Ländern, die formal unabhängig, aber ökonomisch von den imperialistischen Zentren wie beispielsweise Deutschland abhängig sind, ist es von enormer Bedeutung, dass die Bevölkerung Zugang zu kostenlosen Impfungen erhält, da man dadurch weitere Mutationen des Virus eindämmen kann und es nicht weiter zu fatalen Varianten kommt, deren Folgen nicht abzuschätzen sind.

Gegen den rechten Spuk hilft nur die Mobilisierung der organisierten ArbeiterInnenklasse, die für eine rationale Lösung der Pandemie kämpft – also mit antikapitalistischer Politik gegen die Auswüchse kapitalistischer Krise und Pandemiepolitik!

In diesem Sinne, lasst uns den Kampf gegen AfD und Pandemie gemeinsam führen!




Italien: FaschistInnen lassen ihren Corona-Ärger an den Gewerkschaften aus

KD Tait, Infomail 1168, 4. November 2021

Am Samstag, dem 16. Oktober, nahmen Zehntausende an einer antifaschistischen Demonstration in Rom teil, zu der der Gewerkschaftsbund CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro; Italienischer Allgemeiner Bund der Arbeit) aufgerufen hatte, um auf einen faschistischen Angriff gegen den Sitz der Gewerkschaft in der vorangegangenen Woche zu reagieren.

Am 9. Oktober hatten Tausende Menschen an einer Demonstration gegen den sogenannten Grünen Pass teilgenommen, der als Nachweis einer Corona-Impfung, eines negativen Tests oder einer kürzlich erfolgten Genesung dient.

Giuliano Castellino, der Stellvertretende Vorsitzende der rechtsextremen Partei Forza Nuova (Neue Kraft) und ihr Anführer in Rom, hatte diesen Angriff von der Bühne einer Kundgebung auf der römischen Piazza del Popolo (Platz des Volkes) aus angezettelt:

„Wisst ihr, wer zugelassen hat, dass der Grüne Pass Gesetz wurde und dass Millionen unserer Landsleute damit erpresst werden und von Arbeitslosigkeit bedroht sind? Sie haben bestimmte Namen: CGIL, CISL (Confederazione italiana sindacati lavoratori; Italienischer Gewerkschaftsbund) und UIL (Unione Italiana del Lavoro; Italienische Arbeitsunion). Wisst ihr, was freie BürgerInnen tun? Sie belagern die CGIL … Lasst uns gehen und alles holen, was uns gehört.“

In einer absichtlichen Nachahmung des Aufstands am Kapitol in Washington marschierten die DemonstrantInnen zum italienischen Parlament. Nachdem die Polizei ihren Versuch einzudringen zurückgeschlagen hatte, griff der von FaschistInnen angeführte Mob die Büros der CGIL an. Obwohl ein führender Politiker den Angriff im Zentrum Roms angekündigt hatte, erlaubte die Polizei den RandaliererInnen, das Gebäude zu zerstören.

PolitikerInnen der italienischen Regierungsparteien verurteilten den Angriff. Die FührerInnen der Demokratischen Partei und der Fünf-Sterne-Bewegung forderten sogar die Auflösung der Forza Nuova. Die ArbeiterInnen können jedoch nicht auf die kapitalistischen Parteien vertrauen, die in einer Koalition mit der Lega (Nord) von Matteo Salvini regieren.

Senator Salvini, der die Koalition unterstützt hat, aber nicht Teil der Regierung ist, hat seine AnhängerInnen gegen eben jene Corona-Maßnahmen aufgehetzt, für die die Abgeordneten seiner Partei gestimmt haben.

Der Grüne Pass

Hintergrund dieser Demonstrationen ist die Entscheidung der Regierung, den Grünen Pass, der bereits für den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und einigen Arbeitsplätzen erforderlich war, am 15. Oktober für alle Arbeitenden verbindlich zu machen. Diejenigen, die sich weigern, müssen Tests in Höhe von insgesamt 180 Euro pro Monat zahlen – weit über 10 Prozent des Durchschnittslohns. Wer gegen die Vorschriften verstößt, muss mit einer unbezahlten Freistellung und Geldstrafen von bis zu 1.500 Euro rechnen.

Die meisten ItalienerInnen unterstützen das Corona-Zertifikat, und bisher wurde die Antiimpfbewegung von populistischen und rechtsextremen Organisationen dominiert, die  die Bosse von kleinen und mittleren Unternehmen mobilisierten, deren Profite durch die Kosten der Corona-Beschränkungen bedroht sind. Die antifaschistische Demonstration, zu der die CGIL aufgerufen hatte, die das verpflichtende Corona-Zertifikat befürwortet, war zahlenmäßig zehnmal größer als die Antiimpfkundgebung.

Die Ausweitung des Passes auf alle ArbeiterInnen löste jedoch Streiks und Blockaden an Häfen im ganzen Land aus, organisiert von Basisgewerkschaften wie Cobas (Comitato di Base Scuola) oder USB (Unitaria di Base; Basiseinheit) und anderen syndikalistischen „Basiskomitees“, die von der Regierung kostenlose Tests für alle ArbeiterInnen fordern.

Die Regierung sagt, die Einführung des Passes würde „die Sicherheit am Arbeitsplatz erhöhen und die Impfkampagne stärken“. Dieselbe Regierung weigerte sich aber, einen Lockdown zu verhängen, bis Streiks zu einer Schließung der Betriebe führten, nachdem Tausende gestorben waren. Sie beendete den ersten Lockdown zu früh, wodurch eine zweite tödliche Welle ausgelöst wurde. Ihr neu entdecktes Engagement für die Sicherheit am Arbeitsplatz ist sowohl zynisch als auch willkürlich.

Der eigentliche Grund ist eher prosaisch. Da die Erntezeit bevorsteht und die Weihnachtsvorbereitungen in vollem Gange sind, wollen Italiens Bosse unbedingt einen weiteren Lockdown vermeiden.

Italien hat eine der höchsten Impfraten der Welt: 80 Prozent der über 12-Jährigen sind vollständig geimpft, aber es gibt immer noch fast 2,5 Millionen ungeimpfte ArbeiterInnen. Die Impfablehnung ist bei älteren Lohnabhängigen und MigrantInnen am höchsten. Außerdem verweigert die EU bisher dem russischen Sputnik-Impfstoff die Zulassung bzw. Anerkennung.

Eine möglichst hohe Impfquote in der ganzen Welt ist wünschenswert, aber SozialistInnen sollten sich in dieser Situation gegen eine Impfpflicht aussprechen, die kontraproduktiv und potenziell diskriminierend ist. Die Gewerkschaften sollten sich für eine massive Ausweitung der öffentlichen Gesundheits- und Informationskampagne unter Kontrolle durch die ArbeiterInnen einsetzen, die ihre Sicherheit über den Profit stellt. Dies wäre weitaus wirksamer.

Kapitalistisches Krisenmanagement

Die Reaktion der KapitalistInnen auf die Pandemie war in allen Ländern von der Sicherung ihrer Profite geleitet. Statt rascher und massiver Investitionen in die Gesundheitsfürsorge, die Sicherheit am Arbeitsplatz, die Aufklärung über Impfstoffe und die öffentliche Beschaffung und Verteilung der Vakzine nach einem internationalen Plan zur Ausrottung des Virus haben sich die Bosse und ihre Regierungen für eine Rückkehr zur „Normalität“ eingesetzt, d. h. für die ununterbrochene Anhäufung privater Profite.

Der Grüne Pass wird die Impfkampagne durch einfache kapitalistische Logik „verstärken“: Lass’ dich impfen (und arbeite) oder verhungere! Die Pandemie ist also eine Klassenfrage.

Wir sagen: Niemand ist sicher, solange nicht alle sicher sind. Dem Kampf für „Zero Covid“ liegt eine politische Frage zugrunde. Es geht darum, ob die gesellschaftlichen Ressourcen für die Produktion von Profiten oder für die Rettung von Leben durch eine weltweite Kampagne zur Eliminierung des Virus eingesetzt werden sollen.

Deshalb fordern wir:

  • Abschaffung von Patenten der Impfstoffe und von Geschäftsgeheimnissen  – Enteignung von Big Pharma und privater Gesundheitsversorgung.
  • Massive Ausweitung der Impfstoffproduktion und kostenlose Verteilung an den globalen Süden.
  • Gegen verpflichtende Impfungen – für kostenlose Tests, die durch die Besteuerung der Reichen finanziert werden – für ein Vetorecht der ArbeiterInnen gegen unsichere Arbeitsbedingungen.
  • Volle Entlohnung und Arbeitsplatzgarantie für alle ArbeiterInnen, die krank oder in Quarantäne sind – oder diejenigen, die den Grünen Pass ablehnen.



EU-Grenzen: Nein zur rassistischen Mobilmachung!

Robert Teller, Neue Internationale 260, November 2021

Die rassistische EU-Grenzpolitik geht über Leichen. An der belarussisch-polnischen Grenze hat dies zuletzt am 21. Oktober ein Todesopfer gefordert. Der 19-jährige Syrer ist das achte Opfer entlang dieser Grenze im laufenden Jahr.

Dutzende Menschen sind derzeit unter lebensgefährlichen Bedingungen entlang des Grenzverlaufs gefangen, weil ihnen sowohl von polnischen als auch belarussischen Sicherheitskräften verwehrt wird, sich im jeweiligen Staatsgebiet zu bewegen. Die polnische Seite verhindert die Versorgung dieser Menschen mit lebensnotwendigen Gütern, vom belarussischen Militär werden sie laut Berichten bestenfalls notdürftig versorgt. Auf polnischer Seite gilt seit dem 2. September im Grenzgebiet der Ausnahmezustand. Das Militär wurde entsandt, der Einsatz soll von 2500 auf 10000 SoldatInnen aufgestockt werden. Hilfsorganisationen und JournalistInnen haben keinen legalen Zutritt. Die Auswirkungen der menschenverachtenden Abschottung sollen so vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden. Gleichzeitig bauen Polen, Lettland und Litauen an einer Grenzbefestigung entlang der belarussischen Grenze mit kräftiger Unterstützung durch die EU, darunter auch Deutschland.

EU und Polen einmal einig

Amnesty International berichtete am 20. Oktober, dass eine Gruppe von 17 AfghanInnen seit etwa zwei Monaten an der Grenze gestrandet ist, nachdem sie im August von polnischem Territorium aus zur Grenze deportiert wurden. Eine Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs ordnete bereits am 25. August an, dieser und einer weiteren Gruppe irakischer Flüchtlinge Lebensmittel und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, doch die Entscheidung wird von der Regierung missachtet. Die angeordneten und systematisch praktizierten Rücktransporte (Pushbacks) sind ohnehin nach internationalem und europäischem Recht illegal, auch wenn sie mit einer im Oktober durch das Parlament erfolgten Gesetzesänderung nun legitimiert werden sollen. Doch diese offenkundigen Rechtsbrüche spielen keine Rolle in dem Konflikt mit den EU-Institutionen, die der polnischen Regierung vorwerfen, mit ihrer Justizreform „europäische Werte“ zu missachten.

Obwohl die EU von tiefen Konflikten durchzogen ist, herrscht vielmehr Einigkeit in der rassistischen Abschottungspolitik gegenüber allen Menschen, die hierher wollen, aber nicht dürfen. Dass gegen die „Bedrohung“ durch ein paar tausend flüchtende Menschen jedes Mittel recht ist, darüber besteht unter den europäischen PartnerInnen kaum ein Zweifel. Eine gemeinsame Mission ist in jedem Fall die „Sicherung der Außengrenzen“, die „Abwehr“ flüchtender Menschen an den Grenzen durch Einsatz menschenverachtender und tödlicher Gewalt. Florian Hahn, Europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärt dazu: „Die Grenze zu Belarus muss so schnell wie möglich befestigt, sicher und undurchlässig gemacht werden. Vor allem dürfen wir Warschau mit diesem Problem jetzt nicht allein lassen.“ In einer gemeinsamen Erklärung fordern 12 Regierungen (osteuropäische EU-Mitglieder, Österreich und Dänemark) den Bau einer von der EU finanzierten Grenzbarriere.

Grenzkontrollen und Rechte

Wer es doch in die EU schaffen sollte, ist längst nicht sicher. Auch an der deutsch-polnischen Grenze sind mittlerweile Einheiten der Bundespolizei im Einsatz, um all jene zurückzuschicken, die es soweit geschafft haben. Im bürgerlichen Mainstream angekommen ist auch die völkische Metapher der „Flüchtlingsinvasion“, wenn etwa Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) von „hybrider Kriegsführung“ spricht. Diese Rhetorik ist eine Einladung für FaschistInnen wie den „Dritten Weg“, die die Sache gerne selbst in die Hand nehmen.

Zugleich liefert die Kriegsrhetorik einen Vorwand für den Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegenüber Russland und für weitere Sanktionen gegen das belarussische Regime. Dass sich letzteres nicht bedingungslos der Forderung der EU fügt, im Sinne einer vorgelagerten EU-Flüchtlingsabwehr Menschen gar nicht erst ins eigene Land zu lassen, gilt bereits als Kriegsakt. Als vorbildliches Gegenbeispiel sei etwa das Partnerland Libyen genannt, mit seinem effektiven Flüchtlingsabschreckungspotential wie Folterlagern oder einer schießwütigen Küstenwache, die auf Frontex-Befehle hört.

Natürlich handelt auch das belarussische Regime aus einem rassistischen Kalkül heraus. Die Hauptschuldigen sind aber die Regierungen der EU. Dass nun vermehrt Menschen über Belarus den Weg in die EU suchen, ist überhaupt erst das Resultat einer brutalen Abschreckungspolitik, die die Fluchtrouten über die Balkanländer und über das Mittelmeer gefährlich und für viele Flüchtende unpassierbar gemacht hat.

Offene Grenzen!

Die Offensive des staatlichen Rassismus in Europa erfordert Widerstand. Ebenso müssen wir rechten und faschistischen Banden entgegentreten, die als “Grenzschutz” ihr Unwesen treiben. Dies wird umso dringender, wenn sich eine neue Ampelregierung daran machen wird, den deutschen Führungsanspruch in der Festung Europa zu erneuern.

Die ArbeiterInnenbewegung, alle linke und antirassistischen Kräfte müssen organisiert gegen diese Politik auftreten. Das erfordert einerseits gegen die faschistischen und rechte Gruppierungen vorzugehen, noch dringender und wichtig ist es jedoch, dem staatlichen Rassismus entgegenzutreten.

Notwendig ist eine europaweite Bewegung, die für volle Bewegungsfreiheit nach und in Europa kämpft, für offene Grenzen und gleiche Rechte unabhängig von Herkunft und Staatsangehörigkeit – und die dies verbindet mit der Verteidigung sozialer Errungenschaften der europäischen ArbeiterInnenklasse gegen das Kapital, um den Kampf gegen Rassismus über die organisierte Linke hinaus zu verankern.




Brasilien: Rechte Gefahr und die Aufgaben der Linken

Carlos Uchoa Magrini, Assíria Conti, Liga Socialista, Neue Internationale 259, Oktober 2021

Am 7. September, dem nationalen Unabhängigkeitstag Brasiliens, rief der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro seine AnhängerInnen auf die Straße. Hunderttausende marschierten in 15 oder mehr Städten, darunter Massendemonstrationen von Zehntausenden. Allein in Sao Paulo sollen es 100.000 gewesen sein.

Auch wenn die Zahl der TeilnehmerInnen im Vergleich zu früheren Demonstrationen zurückgegangen sein mag, ist sie immer noch alarmierend. In Brasilia und Sao Paulo waren sie den GegendemonstrantInnen zahlenmäßig deutlich überlegen. Noch wichtiger ist die stärkere Radikalisierung und Veränderung von Bolsonaro und seinen AnhängerInnen. Auf der extremen Rechten marschierten Angehörige der Armee und der Militärpolizei in Uniform und mit Waffen.

Bolsonaro und seine Regierung sind vielen Bedrohungen ausgesetzt: einer schweren Wirtschaftskrise, einer Pandemie, die 580.000 Menschen das Leben gekostet hat, Korruptionsvorwürfen, sinkender Unterstützung in den Umfragen und sogar Teilen der herrschenden Elite, die sich von ihm distanzieren. Dennoch werden er und seine UnterstützerInnen nicht einfach von der Bildfläche verschwinden, selbst wenn sie die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr verlieren oder er vom Obersten Gerichtshof abgesetzt werden sollte.

Klar ist, dass sie zu einer reaktionären kleinbürgerlichen Bewegung faschistischer Prägung zusammenwachsen, die eng mit paramilitärischen Kräften und Teilen des Repressionsapparates sowohl in der Armee als auch insbesondere in der 500.000 Köpfe starken Militärpolizei verbunden ist.

Während sich Teile der herrschenden Klasse und der traditionellen bürgerlichen Parteien von Bolsonaro distanziert haben, will der Kern der Bourgeoisie nicht riskieren, ihn zu stürzen, und Teile unterstützen ihn sogar weiterhin, da er verspricht, die sozialen und wirtschaftlichen Ziele des parlamentarischen Putsches von 2016 zu verwirklichen, mit dem Dilma Rousseff (ArbeiterInnenpartei PT) aus dem PräsidentInnenamt entfernt wurde. Um einzuordnen, was heute auf dem Spiel steht, muss man die seitherigen politischen Entwicklungen verstehen.

Die Entwicklung der faschistischen Bedrohung

Obwohl Rousseff durch ihren Vizepräsidenten Michel Temer von der Partei Brasilianische Demokratische Bewegung (MDB) ersetzt wurde, der den Putsch inszeniert hatte, hatte dieser eine unerwartete Konsequenz für die wichtigsten Parteien der Bourgeoisie, die MDB und die Sozialdemokratische Partei (PSDB), die in Misskredit gerieten. Dies wurde bei den anschließenden Wahlen sowohl für das PräsidentInnenamt als auch für BürgermeisterInnen und GouverneurInnen deutlich.

Die chaotische Atmosphäre rund um den Putsch schuf ernsthafte Probleme für das bürgerlich-demokratische System, da die politischen Parteien von der Bevölkerung in Frage gestellt wurden. Das wachsende Misstrauen gegenüber den bürgerlichen Institutionen fand seinen Ausdruck in Bolsonaro. In seinen demagogischen Reden, die von rassistischen Vorurteilen und Hass gegen die korrupte politische Elite geprägt waren, prangerte er die gesamte „alte Politik“ an und behauptete, dass er sich nicht auf Kompromisse mit dem Kongress einlassen würde.

Was seine UnterstützerInnen am meisten ermutigte, war seine Behauptung, gegen Korruption und öffentliche Bedienstete zu kämpfen, die seiner Meinung nach hohe Gehälter bezogen und AnhängerInnen der PT und der KommunistInnen waren.

Während er also die Linke angriff, entfernte er sich gleichzeitig von der traditionellen Rechten, stellte sich über alle anderen und präsentierte sich als Lösung für das Land. Mit dieser Kombination aus Hass und Radikalität stieg Bolsonaro in den Umfragen in die Höhe und gewann mit der Unterstützung fundamentalistischer, neupfingstlich-evangelikaler Gruppen, des Militärs, der MilizionärInnen und der GroßgrundbesitzerInnen weitere SympathisantInnen.

In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2018 lief das Rennen zwischen Haddad von der PT und Bolsonaro. Lula, der der natürliche Kandidat der PT gewesen wäre, wurde durch eine Entscheidung des Obersten Bundesgerichts aus dem Wettlauf genommen. Die PSDB und die MDB erkannten, dass die einzige Möglichkeit, die Ziele des Staatsstreichs von 2016 aufrechtzuerhalten, darin bestand, die Kandidatur von Bolsonaro zu unterstützen und so die Rückkehr der PT an die Macht zu verhindern. In einem knappen Wahlkampf mit vielen ungültigen und leeren Stimmzetteln gewann Bolsonaro die Wahlen 2018 und brachte viele neue ParlamentarierInnen von kleinen rechten Parteien in den Kongress, die bereit waren, ihre Stimmen zu verkaufen.

Nach seiner Machtübernahme trieb Bolsonaro seine Hasspolitik gegen soziale Bewegungen, Linke, BeamtInnen und LehrerInnen voran, zusätzlich zu Angriffen gegen Frauen, LGBT+, Schwarze und Indigene. Als er von den Liberalen angeklagt wurde, vor allem durch die bürgerliche Presse und das Fernsehen, antwortete er mit Angriffen auf die Medien, indem er versuchte, sie mit der Linken in Verbindung zu bringen und seine SympathisantInnen aufrief, zu seiner Unterstützung aktiv zu werden.

Wichtige Positionen in der Regierung und im Staatsapparat wurden schnell mit Militärs besetzt, von denen es heute mehr als 6.000 gibt, auch in den oberen Rängen. Wir können also sagen, dass wir es mit einem zivil-militärischen bonapartistischen Regime zu tun haben. Darüber hinaus hat Bolsonaro, der bereits einen starken Rückhalt bei den Milizen verzeichnete, auch seinen Einfluss auf die Polizei (Militär, Zivil- und Bundespolizei) verstärkt. Er entlastete den Chef der Bundespolizei und verhinderte weitere Ermittlungen wegen angeblicher Korruption durch seine Söhne, indem er eine Person seiner Wahl einsetzte.

Mit der wachsenden Unterstützung durch die bewaffneten Sektoren begann Bolsonaro, den Kongress und den Obersten Gerichtshof anzugreifen, wenn diese Entscheidungen fällten, die seinen Interessen zuwiderliefen. Dank seines finanziellen Einflusses auf Abgeordnete und SenatorInnen gelang es ihm, seine Verbündeten in den Vorsitz der Abgeordnetenkammer und des Senats zu wählen. Zu diesem Zweck schloss er Vereinbarungen mit den Parteien des „Zentrums“, die bereit sind, sich zu verkaufen, indem er entgegen seinen Wahlversprechen Gelder freigab und ihnen Posten in der Regierung anbot.

So handelte Bolsonaro einen Waffenstillstand mit dem Kongress aus und verstärkte die Angriffe auf den Obersten Gerichtshof, indem er ständig damit drohte, ihn zu schließen, und sogar ein Amtsenthebungsverfahren gegen seine Mitglieder beantragte. Seine AnhängerInnen übernahmen die Idee, den Gerichtshof zu schließen, und behaupteten, seine RichterInnen seien KommunistInnen und gegen das Land.

Die Demonstrationen am 7. September dieses Jahres waren ein weiterer Höhepunkt seiner Kampagne. Während der Aktion in Brasilia sagte Bolsonaro in seiner Rede an die Menge, er werde sich nicht an Urteile des Richters am Obersten Bundesgerichtshof, Alexandre de Moraes, halten, und machte damit deutlich, dass er den Richter, das Gericht und die Bundesverfassung völlig missachtet.

Daraufhin begannen die traditionellen Parteien der Bourgeoisie, auf Bolsonaros Attacken zu reagieren. Während der Präsident des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira, angesichts der Angriffe Bolsonaros einen Rückzieher machte, distanzierte sich der Senatspräsident, Rodrigo Pacheco, öffentlich von Bolsonaro. Zwei Mitglieder des Obersten Gerichtshofs, Luiz Fux und Luis Roberto Barroso, verurteilten Bolsonaros Anschläge auf das Gericht und die Bundesverfassung, ohne jedoch etwas gegen ihn zu unternehmen.

LkW-FahrerInnen, die Bolsonaro unterstützen, versuchten, ihre Aktionen nach dem 7. September fortzusetzen. Nach Angaben von G1 (Nachrichtenportal Globo) wurden am 9. September in mindestens 16 Bundesstaaten Autobahnen blockiert, wobei nur Kleinwagen, Einsatzfahrzeuge und verderbliche Lebensmittel passieren durften. Am folgenden Tag gab es weiterhin Straßenblockaden in Bahia, Mato Grosso, Pará und Rondônia sowie Demonstrationen in Rio Grande do Sul, Mato Grosso do Sul und Paraná.

Krise

Diese Aktionen sind danach abgeklungen, aber die wirtschaftliche, soziale und politische Krise wird weitergehen und sich sogar noch verschärfen.

Es gab mehr als 580.000 Todesfälle durch Covid-19, und die Impfkampagne hat nur etwas mehr als 30 Prozent der Bevölkerung erreicht. Als wäre das nicht genug, hat Bolsonaro das Impfstoffbudget für 2022 im Vergleich zu 2021 um 85 Prozent gekürzt.

Trotz all dieser Probleme garantiert Bolsonaro den BänkerInnen, GroßunternehmerInnen, der Agrarindustrie und den LandbesitzerInnen immer noch immense Profite. Deshalb bleibt er an der Regierung, obwohl mehr als 150 Anträge auf Amtsenthebung beim Präsidenten der Abgeordnetenkammer eingereicht wurden.

Bolsonaro positioniert sich zunehmend als „großer Führer“, der keiner institutionellen Macht gehorcht und bereit ist, den Putsch zu vertiefen, selbst wenn dies eine gewaltsame militärische Intervention erfordert, indem er die Streitkräfte an die Regierung bringt und die paramilitärische Polizei und Milizen auf der Straße agieren lässt. Es besteht also die eindeutige Gefahr, dass sein nächster Schritt ein Staatsstreich sein wird, der diesmal eindeutig faschistisch ist und auf einer bewaffneten Massenmobilisierung und der Zerstörung der verfassungsmäßigen, parlamentarischen und gerichtlichen Institutionen beruht.

Es ist die anhaltende Krise des Landes, die politische Lähmung zwischen seinen verschiedenen Institutionen und den verschiedenen Klassenkräften, die die soziale Grundlage für den Zusammenhalt der UnterstützerInnen Bolsonaros in einer Bewegung wütender KleinbürgerInnen zusammen mit Teilen der Streitkräfte bildet. Es ist diese Krise und Lähmung, die das KleinbürgerInnentum und sogar rückständige, rassistische Teile der ArbeiterInnenklasse nach rechts treibt. Ironischerweise sind es das Chaos und die Instabilität, die drohenden militarisierten Aufmärsche, die Bolsonaro selbst schürt, die die Spannungen im Land vertiefen und die Forderung nach einem „starken Mann“ aufkommen lassen, der die volle diktatorische Macht übernimmt. Dies würde es Bolsonaro ermöglichen, die verbliebenen defensiven Hochburgen der ArbeiterInnenbewegung, die Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien, innerhalb des krisengeschüttelten brasilianischen Kapitalismus zu zerstören.

Volksfront

Wie reagieren die ArbeiterInnenklasse und ihre führenden Organisationen auf die Radikalisierung der Konterrevolution, auf die reale Gefahr, dass sich eine faschistische Bewegung weiterentwickelt und im Bündnis mit Teilen der Militär- und Polizeikräfte sogar die Macht übernimmt?

Die PT, die größte linke Partei des Landes und der wichtigste Bezugspunkt für die ArbeiterInnenklasse, bemüht sich um den Aufbau einer „breiten Front“. Dazu gehören auch die Parteien der Rechten, die den Putsch von 2016 geplant und die Kandidatur von Bolsonaro unterstützt haben, um zu verhindern, dass die PT an die Spitze des Landes zurückkehrt. Dies zeigt sich sowohl in den Bemühungen von Lula, ihrem wichtigsten Vorsitzenden, der mit den „alten Bossen“ der traditionellen Rechten spricht, als auch in den Ankündigungen vieler anderer ParteiführerInnen.

Diese breite Front ist nichts anderes als die historische Volksfront, wie wir sie in Spanien und Frankreich in den 1930er Jahren und in Chile in den 1970er Jahren gesehen haben, die immer zur Niederlage der ArbeiterInnenklasse geführt hat. Lula und die anderen PT-FührerInnen sollten das sehr gut wissen. Es war ein solches Bündnis, das die Partei weiter nach rechts trieb, mehrere ihrer FührerInnen ins Gefängnis brachte und seinen Höhepunkt im Putsch von 2016 und der ungerechten Inhaftierung von Lula selbst fand.

Die Strategie, ein Bündnis mit dem „Anti-Bolsonaro“-Teil der herrschenden Klasse zu suchen, wurde von der PT entwickelt, aber auch von der Kommunistischen Partei (PCdoB) und kürzlich durch eine Erklärung von Guilherme Boulos von der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) unterstützt. Glücklicherweise haben sich Sektoren der PT, der PCdoB und der PSOL bereits gegen diese Volksfront ausgesprochen. Dabei handelt es sich um wichtige Teile, die sowohl die FührerInnen als auch die Basis dieser Parteien umfassen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die PCdoB im Begriff ist, mit der Sozialistischen Partei Brasiliens (PSB) zu fusionieren, einer „sozialistischen“ Partei, die schon vor langer Zeit zu einer der Rechten wurde, um eine neue, sicherlich größere und weiter rechts stehende Partei zu gründen. Ein Zusammenschluss zwischen diesen beiden Parteien wurde sogar als „Bewegung 65“ bezeichnet.

Historisch gesehen erwies sich die Volksfront als verhängnisvoll für die ArbeiterInnenklasse. Sie hat nicht nur ihre Forderungen nicht erfüllt, sondern war in vielen Fällen ein Vorspiel für die Machtübernahme durch die FaschistInnen. Da die Volksfront nur möglich ist, wenn die Organisationen der ArbeiterInnenklasse die Interessen ihrer Klasse und des fortschrittlichen KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten der Gesellschaft denen der Bourgeoisie unterordnen, ist sie notwendigerweise enttäuschend, desorientierend und frustrierend für die ArbeiterInnen. Sie drängt auch das KleinbürgerInnentum von der ArbeiterInnenklasse weg und hin zu reaktionären rechtspopulistischen oder sogar faschistischen Kräften, die sich als die „radikalere“ Lösung der Krise präsentieren.

Der Kampf gegen den Faschismus ist untrennbar mit dem gegen den Kapitalismus verbunden. Die faschistische Bedrohung entsteht gegenwärtig, wie auch in der Vergangenheit, aus der schweren Krise des Kapitalismus und der bürgerlich-parlamentarischen Herrschaftsformen. Auf der Grundlage verzweifelter Teile der Mittelschichten versucht die faschistische Herrschaft, die Krise durch die Vernichtung jeglichen Widerstands der ArbeiterInnenklasse oder anderer Unterdrückter gegen die Programme zur Rettung der Interessen des Großkapitals zu lösen. Die Volksfront mag wie eine kurzfristige Lösung gegen die drohende faschistische Machtübernahme aussehen, aber da sie nicht in der Lage ist, die Krisensituation entweder zugunsten der ArbeiterInnenklasse und Mittelschichten oder im langfristigen Interesse der KapitalistInnen zu lösen, kann sie nur eine höchst instabile und vorübergehende sein. Die zugrundeliegende Krise muss in eine dieser beiden Richtungen gelöst werden. Da die Volksfront ein Hindernis für die volle Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse darstellt, ist sie ein Vorteil für die Bourgeoisie, die den nächsten faschistischen Angriff vorbereiten kann, sobald die Volksfront die ArbeiterInnen desillusioniert und den faschistischen Mob radikalisiert hat.

Neben dieser Haupttendenz zur „breiten Front“ gibt es die kleineren linken Organisationen Brasilianische Kommunistische Partei (PCB), Partei der ArbeiterInnensache (PCO) und die Vereinigte Sozialistische ArbeiterInnenpartei (PSTU), die sich gänzlich gegen die Volksfront aussprechen. Die PCB und die PSTU nehmen jedoch eine sektiererische Position in den ArbeiterInnenkämpfen ein und weigern sich, die PT in eine Einheitsfront einzubeziehen oder sich taktisch mit ihr zu verbinden. Das Gleiche gilt für die Wahlen: eine politische Position, die der ArbeiterInnenklasse nichts bringt und der PT-Führung die Freiheit lässt, Bündnisse mit dem rechten Flügel zu suchen, was es dieser erleichtert, ihre Kontrolle über die Masse der organisierten ArbeiterInnenklasse fortzusetzen.

Positionierung der linken Seite

In der gegenwärtigen Situation, in der wir eine große Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse brauchen, um einem Vormarsch des Faschismus entgegenzutreten, haben die wichtigsten Parteien der brasilianischen Linken und die zentralen Gewerkschaften in der ersten Phase der Pandemie die politische und gewerkschaftliche Aktivität weitgehend eingestellt.

Infolgedessen bleiben GewerkschafterInnen und Linke passiv, während die ArbeiterInnenklasse weiterarbeitete und die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel nutzte. Dieser Fehler erschwerte es ihr, sich zu mobilisieren, um den Angriffen der Regierungen und UnternehmerInnen während der Pandemie zu begegnen. Viele Gewerkschaften schlossen sogar ihre Zentralen für lange Zeit.

Darüber hinaus unterschätzen große Teile der Linken, während sie die ganze Zeit den verrückten und faschistischen Charakter von Bolsonaro und seinen UnterstützerInnen anprangern, die Gefahr einer neuen Qualität des Kampfes um die Macht, d. h. dass Bolsonaro, seine faschistischen SympathisantInnen mit Spitzenpositionen im bewaffneten Apparat des bürgerlichen Staates nun wirklich auf eine Machtübernahme zusteuern. Die Linke sollte sich nicht über die Gefahr täuschen, aber sie sollte auch nicht alles als verloren betrachten, da die Zahl der Bolsonaristas auf den Straßen am 7. September nicht allzu groß war und es Teile der Bourgeoisie gibt, die jetzt direkter gegen ihn sind. Eine kraftvolle und vereinte Aktion der ArbeiterInnenklasse auf den Straßen und in den Betrieben kann seine Bewegung immer noch besiegen und zerstreuen.

Aber die schwache Reaktion der Linken auf diese unglaubliche Provokation wird die FaschistInnen ermutigen und sie glauben lassen, dass sie bei der Errichtung ihrer Diktatur nicht auf viel Widerstand seitens der legalistischen Linken und der traditionellen Parteien der Rechten stoßen werden. Im Gegenteil, wir müssen die Alarmglocken läuten. Die ArbeiterInnenklasse, ihre Parteien, die Gewerkschaften und die Basisorganisationen müssen einen Kampf vorbereiten, der den Faschismus wirklich schlagen kann, wenn er angreift. Dazu gehören die stärksten Waffen des Proletariats, vom Generalstreik bis zum bewaffneten Widerstand.

Die Führungen der Linken und Gewerkschaftsbewegung beginnen langsam und verspätet, Mobilisierungen zu fördern. Um diesen Prozess zu beschleunigen, ist eine direkte Aktion der Führungen und der Basis notwendig. Dazu ist ein einheitliches, national definiertes Ziel erforderlich. Die CUT und die PT, die größten Organisationen der ArbeiterInnenklasse im Land, haben die Pflicht, den Generalstreik als konkretes Ziel zu definieren. Dazu müssen die PT-Führungen, einschließlich Lula, aufhören, Bündnisse mit dem rechten Flügel einzugehen, und sich an die Arbeiterklasse wenden. Wir müssen die nationale Führung der CUT auffordern, zum Generalstreik aufzurufen und Selbstverteidigungseinheiten zu organisieren, wenn die rechten BolsonaristInnen putschartig die Macht übernehmen wollen. Dieser Kampf erfordert den Bruch mit allen bürgerlichen Parteien und Bündnissen. Stattdessen muss man eine Einheitsfront der Arbeiterklasse und aller unterdrückten Schichten der Gesellschaft, der PT, der CUT, aller anderen Gewerkschaften und Linken, der Landlosenbewegung (MST) und Obdachlosenbewegung (MTST), der Frauen-, LGBTIAQ- und StudentInnenbewegung fördern.

Um eine solche Front aufzubauen, muss man den Kampf gegen die kapitalistische Krise, die Pandemie und den Aufstieg der Rechten vereinen.

Aktionsprogramm für Brasilien

Der Putsch von 2016 und der Aufstieg von Bolsonaro haben das Land ins Chaos gestürzt. Mehr als 580.000 Tote durch Covid-19; die Arbeitslosigkeit liegt bei über 20 %, wenn man die Arbeitslosen (14,6 %) und die Entlassenen (5,7 %) berücksichtigt; die Lebensmittelpreise sind auf den Märkten in die Höhe geschnellt; Metzgereien beginnen bereits, Knochen zu verkaufen, als Alternative für diejenigen, die kein Fleisch mehr kaufen können; Treibstoff hat exorbitante Preise erreicht, und viele verwenden bereits Holz- und Alkoholöfen, um Kochgas zu ersetzen.

Die wirtschaftliche, gesundheitliche und politische Krise hat viele Arbeitslose hervorgebracht, die auf das Überleben angewiesen sind und einen völlig ungeregelten Arbeitsplatz gefunden haben. Das sind die Fastfood-LieferantInnen, die mehr als 10 Stunden am Tag arbeiten, ohne festen Lohn, ohne bezahlte Ruhezeiten, ohne Sozialversicherung, ohne Urlaub, und da sie keine/n ChefIn haben, sind sie am Ende ihre eigenen HenkerInnen.

Eine Volksfront wird keine Lösungen für die ArbeiterInnenklasse bringen. Ihre Hauptrolle wird darin bestehen, die Rechnung für die Krise wieder einmal auf den Rücken der Lohnabhängigen zu begleichen und dafür zu sorgen, dass die Investitionen in den privaten Sektoren ihre Profite in Krisenzeiten garantieren.

Außerdem können wir nicht auf institutionelle Lösungen warten, die vom Obersten Bundesgerichtshof oder dem Kongress kommen. Unser einziger und wahrer Ausweg ist der Kampf gegen den Aufstieg der Rechten, die Vorbereitung des nächsten Putsches und die sozialökonomischen Angriffe. Es ist klar, dass dies im Sturz der Regierung Bolsonaro gipfeln muss, wobei sich die Frage der politischen Macht und die Schaffung einer Regierung der Arbeiterklasse stellt.

Um dies zu erreichen, brauchen wir eine Einheitsfront der gesamten Linken, die alle Parteien der Linken (PT, PCdoB, PSOL, PCB, PCO und PSTU) sowie die sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen einbezieht. Der Aufbau dieser Einheit kann nicht auf künstliche Weise erfolgen, nur als eine Zusammensetzung der Kräfte für den Wahlkampf. Diese Einheit muss sich auf die Hauptforderungen zur Beendigung der Krise stützen, auf ein Notprogramm, das die unmittelbaren Forderungen der Arbeiterklasse und der verarmten Massen erfüllt.

Eine solche Regierung, die sich aus der PT, der PSOl, dem CUT (größter Gewerkschaftsverband) und anderen linken und gewerkschaftlichen Organisationen zusammensetzt, muss sich auf Kampforgane stützen, auf Widerstandskomitees in Stadtvierteln, an Arbeitsplätzen, Schulen und Universitäten. Diese sollten die Grundlage für die Aktionen der linken Front und ein Schritt zum Aufbau von ArbeiterInnen- und BäuerInnenräten sein.

Eine solche Regierung kann nur als Ergebnis des Kampfes zustande kommen, nicht als rein parlamentarische Kombination. Sie wird zwar noch nicht die Regierung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft darstellen, aber kann ein Schritt in diese Richtung sein. Fordert deshalb von den bestehenden Organisationen der ArbeiterInnenklasse, diesen Kampf voranzutreiben, mit aller Volksfrontpolitik zu brechen und für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung zu kämpfen. Wir werden eine solche Bewegung gegen jeden Angriff von rechts, der herrschenden Klasse und des Imperialismus unterstützen. Gleichzeitig müssen wir für ein echtes Programm von Übergangsforderungen kämpfen, die umgesetzt werden müssen, um den Kampf zur Schaffung eines ArbeiterInnen- und BäuerInnenstaates auf der Grundlage einer demokratischen Planwirtschaft voranzutreiben.

Um einen vereinten Kampf der ArbeiterInnen zu organisieren, schlagen wir die folgenden Forderungen für einen Notfallplan vor, um die Bedürfnisse der ArbeiterInnen und Unterdrückten zu befriedigen!

Aufhebung aller reaktionären Gesetze seit dem Putsch!

Aufhebung der Arbeitsreform und aller Gesetze, die die Rechte der ArbeiterInnen seit dem Staatsstreich von 2016 angreifen.

Aufhebung aller Gesetze und Gerichtsentscheidungen, die das Outsourcing legalisiert und reguliert haben.

Aufhebung der Sozialversicherungsreformen der Regierung Bolsonaro sowie der Regierungen Lula und FHC (Fernando Henrique Cardoso).

Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit für alle

Kostenlose, hochwertige öffentliche Gesundheitsversorgung für alle. Ausbau und Stärkung des Sistema Unica de Saude (Gesundheitssystem), Erhöhung der Investitionen in die öffentliche Gesundheit. Enteignung aller Gesundheitseinrichtungen des privaten Sektors und Abschaffung der Gesundheitspläne.

Kostenlose Impfung gegen Covid für alle! Volle Entschädigung für alle in Quarantäne, oder wenn Arbeitsplätze geschlossen werden müssen, um die Pandemie einzudämmen.

Kostenlose, hochwertige, öffentliche Bildung für alle. Enteignung aller Privatschulen und verstärkte Investitionen in die Bildung.

Verbot der Arbeit für Kinder unter 16 Jahren. Der Platz eines Kindes ist in der Schule!

Für einen von den Gewerkschaften beschlossenen und an die Inflation gekoppelten Mindestlohn! Anhebung der Arbeitslosenunterstützung und der Renten auf das Niveau des Mindestlohns.

Vollbeschäftigung und Löhne für alle

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für alle Lohnabhängigen, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Altersgruppe oder Herkunftsland.

Verkürzung der Arbeitszeit auf 36 Stunden pro Woche, wodurch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden und den ArbeiterInnen mehr Ruhe- und Freizeit zur Verfügung stehen.

Keine prekären Jobs mehr! Jede/r Lohnabhängige  hat das Recht auf bezahlte und geregelte Arbeit!

Für ein Programm sozial und ökologisch nützlicher öffentlicher Arbeiten, finanziert durch die Besteuerung der Reichen und unter Kontrolle der ArbeiterInnenbewegung.

Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und sexuell Unterdrückten!

Gleicher Lohn für Frauen und Unterdrückte in allen Bereichen der Wirtschaft!

Verteidigung des Rechts auf Abtreibung! Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper.

Sozialisierung der Hausarbeit – kostenlose Kinderbetreuung, Kindergärten für alle.

Bau von Frauen- und LGBT-Flüchtlingsunterkünften, um Opfern von Gewalt Schutz zu bieten.

Selbstverteidigungstraining für Frauen gegen häusliche und öffentliche Gewalt.

Rassismus bekämpfen, indigene Völker verteidigen!

Gleicher Lohn und uneingeschränkter Zugang zu Sozialleistungen, Bildung und Gesundheit für alle!

Polizei und staatliche Kräfte raus aus den Gemeinden der Unterdrückten und indigenen Bevölkerung!

Recht indigener Gemeinschaften auf ihr Land.

Selbstverteidigung organisiert von den Gemeinden und der ArbeiterInnenbewegung, gegen rassistische Angriffe und Mord.

Agrarreform jetzt!

Enteignung aller großen Ländereien und landwirtschaftlichen Betriebe. Gründung von Kolchosen und Genossenschaften kleiner ländlicher ErzeugerInnen, die Anspruch auf Kredite des Staates haben.

Erlass aller Schulden der ländlichen KleinerzeugerInnen und sofortige Beendigung der Vollstreckungsverfahren für diese Schulden.

Wirksamer Schutz aller Wälder und der einheimischen Bevölkerung. Enteignung aller verbrannten Flächen. Revitalisierung aller Flüsse und Wälder.

Für einen Plan zur Bekämpfung der Umweltkatastrophe!

Petrobras (größter Energiekonzern) muss zu 100 % in staatlichen Besitz genommen und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt werden.

Plan zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen! Investitionen in die Entwicklungsforschung zur Erzeugung sauberer Energie.

Lasst die KapitalistInnen und die Reichen zahlen!

Steuern auf große Vermögen und Gewinne.

Enteignung aller Schlüsselunternehmen und derjenigen, die Massenentlassungen vornehmen und die Rechte der Lohnabhängigen missachten. Verstaatlichung, ohne Entschädigung und unter ArbeiterInnenkontrolle.

Wiederverstaatlichung von privatisierten Unternehmen ohne jegliche Entschädigung.

Finanzielle Anreize durch die Bundesregierung für alle verstaatlichten Unternehmen, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen.

Notfallplan

Enteignet die Großbanken, die Finanzinstitute, die großen Monopole in Industrie, Handel und Gewerbe sowie den Großgrundbesitz und die Agrarindustrie!

Für einen Notfallplan zur Bekämpfung der Pandemie, der Armut und des Hungers und zur Erneuerung der Gesellschaft entsprechend den Bedürfnissen der Menschen und der ökologischen Nachhaltigkeit.

Die ArbeiterInnen müssen einen solchen Plan kontrollieren!

Für eine einheitliche verfassungsgebende Versammlung! Für eine sozialistische Republik!

Nieder mit der Präsidentschaft und allen undemokratischen Institutionen des Staates.

Für eine verfassunggebende Versammlung. Ihre zu wählenden Mitglieder sollen von betrieblichen und lokalen Versammlungen und Räten der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen einberufen und kontrolliert werden.

Für das Ende der Polizei! Die Polizei ist nichts anderes als eine bewaffnete Armee zur Verteidigung des Privateigentums der KapitalistInnen. Für die ArbeiterInnen bedeutet sie Repression und Angst. Die Aktionen, insbesondere der Militärpolizei, in den Armenvierteln zeigen genau deren Charakter: Eine gewalttätige, rassistische Polizei, die die BewohnerInnen dieser Viertel, insbesondere die Schwarzen, hinrichtet.

Bildung von ArbeiterInnen- und antifaschistischen Milizen, organisiert aus Gruppen von ArbeiterInnen, bewaffnet und ausgebildet, um die ArbeiterInnenklasse zu verteidigen.

Kämpft für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, basierend auf Aktionsräten und einer ArbeiterInnenmiliz!

Gegen Faschismus! Für eine gleichheitliche, gerechte und demokratische Gesellschaft: eine sozialistische Gesellschaft.

Für die Internationalisierung der Revolution! Für eine ArbeiterInnen- und BauernInnenrepublik als Teil der vereinigten sozialistischen Staaten Lateinamerikas!




Querdenken 711: Rechte, Polizei und Gegenproteste

Robert Teller, Neue Internationale 255, Mai 2021

Mitten in der dritten Welle stand auch „Querdenken“ wieder in den Startlöchern: Am 20. März in Kassel und am 3. April in Stuttgart waren jeweils an die 20.000 auf den Straßen – bewacht von einer Polizei, die sich nicht imstande sah, Auflagen zum Infektionsschutz auf den Demos durchzusetzen. Die Stuttgarter Polizei erklärte sich bereits im Voraus einfach für unzuständig. Der Versuch, Masken- und Abstandsregeln durchzusetzen, würde in der Praxis zu noch höheren Infektionsrisiken führen. Daher würde man lieber mündlich an die TeilnehmerInnen appellieren – so hieß es in den Tagen vor dem 3. April -, und eine Auflösung der Demo sei nicht ohne Gewalt möglich. Scheinbar ist Gewaltanwendung so gar nicht Sache der Polizei – jedenfalls nicht bei der „bürgerlichen Mitte“, die sich bei „Querdenken“ versammelt. Der Stuttgarter Ordnungsbürgermeister Clemens Maier erklärte, dass aus seiner Sicht die Coronaverordnung ein Verbot der „Querdenken“-Demo nicht ermöglicht.

Der Staat lobt sich selbst

Nach der Demo erklärte Maier, man habe „das Beste draus gemacht“. Die Pressemitteilung der Stuttgarter Polizei konkretisiert, was damit gemeint sein könnte: „Insgesamt ist es durch den Polizeieinsatz gelungen, eine solche große Anzahl von Versammlungsteilnehmern ohne große Störungen von Gegendemonstrationen über mehrere Kilometer bis auf den Cannstatter Wasen zu lenken“. „Gelungen“ ist dies dadurch, dass die Polizei gegenüber den GegendemonstrantInnen eine weit weniger wohlwollende Haltung einnahm als gegenüber den Rechten. Zwei Gegendemonstrationen wurden einfach vorsorglich in ausreichender Entfernung zu den Rechten eingekesselt, noch bevor sich überhaupt Möglichkeiten ergeben hätten, die „QuerdenkerInnen“ zu stören. So konnte der Karneval der Empörten mit Aluhüten, Love & Peace und Reichsbürgerfahnen (aber ohne Masken) quer durch die ganze Stadt bis zum Cannstatter Wasen gelangen.

Die bemerkenswerte Passivität der Staatsmacht löste aber erheblichen öffentlichen Druck aus, diese Haltung zu ändern. So stieß Clemens Maier dann doch auf den einschlägigen § 11 der Coronaverordnung, und die Querdenken-Demos für den 17. April wurden prompt verboten. Auch in anderen Städten wurden Verbote verhängt. Das änderte allerdings nichts daran, dass die Polizei in Stuttgart ihre Hauptaufgabe weiterhin darin sah, die (genehmigten) Gegenproteste vom Zentrum fernzuhalten, wo die QuerdenkerInnen trotz Verbots teils ihren „Protest“ abhielten, überwiegend aber mangels besserer Ideen ziellos durch die Stadt bummelten oder Polonaise tanzten.

Die Gegenproteste waren in Stuttgart zwar sichtbar, ein Erfolg waren sie aber offensichtlich nicht. Am 3. April wirkte die Stuttgarter Linke unvorbereitet, und der Protest beschränkte sich hauptsächlich auf das Antifaspektrum der Region, dem eine übergroße Masse an rechten SpinnerInnen und ein noch immer großes Aufgebot an Bullen gegenüberstand.

Unterschied

Stuttgart bildet in dieser Hinsicht auch keine Ausnahme. Bei großen „Querdenken“-Mobilisierungen seit dem vergangenen Frühjahr waren linke Gegenproteste praktisch immer in der Unterzahl. Die Rechten sind in der Lage, mit ihrer Mischung aus zum Freiheitskampf hochstilisierter Rücksichtslosigkeit, demagogischem Aufgreifen wirklicher Existenzangst, Corona-Leugnung, Verschwörungstheorien und Irrationalismus Massen vor allem aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten, aber auch aus der ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren. Und dieser Mobilisierungserfolg scheint die für antifaschistische Proteste der Vergangenheit gewohnten Verhältnisse auf den Kopf zu stellen.

Beim Protest gegen offene Nazis oder gegen die AfD stellt sich nämlich meist ein „Konsens der Vernünftigen“ gegen die rechte Minderheit ein. Mit diesem Konsens kommt es zum Schulterschluss von linken Antifas bis hin zu „aufrechten DemokratInnen“, praktisch zu einer ganz großen Koalition für Demokratie und Grundgesetz. In der Praxis setzt diese Situation – so problematisch ihr klassenübergreifender Charakter auch ist – dem Handeln der Staatsmacht gewisse Grenzen und verbannt den rechten Zoo in sein Hamburger Gittergehege. In Stuttgart hat sich gezeigt, dass sich der breite demokratische, „antifaschistische Konsens“ im Angesicht einer derartigen kleinbürgerlichen Massenmobilisierung in Luft auflöst. Was bleibt, ist der gesellschaftliche Konsens zum Abstandhalten und Maske Tragen, aber der reicht nicht für eine Massenmobilisierung gegen rechts.

Trotz der öffentlichen Empörung über diese Missachtung des Infektionsschutzes hat sich der Rechtsstaat zunächst auf ihre Seite geschlagen und den QuerdenkerInnen Auftrieb gegeben. Auch das mittlerweile halbherzige Eingreifen gegen die Aufmärsche wird ihnen kaum nachhaltig schaden, sondern vielmehr ihr Narrativ der Merkeldiktatur bestätigen. Es hilft an dieser Stelle auch nichts, nach einem harten Eingreifen der Polizei gegen die Rechten zu rufen. Im Gegenteil, wie die Gegenproteste in Stuttgart gezeigt haben, nutzt die Staatsmacht ebendiese Mittel vor allem gegen Linke – und das werden die Bullen auch weiter tun. Der Handschlag eines Beamten mit einem Ordner von „Querdenken“ am 3. April verdeutlicht das nur zu symbolisch.

Kräfteverhältnis

Diesem Kräfteverhältnis zugrunde liegt auch ein politisches Problem der deutschen Linken. Die Rechten mobilisieren mit einer reaktionären Kritik an der Regierung. Auch wenn in dieser Bewegung zahlreiche Nazis wie ReichsbürgerInnen und andere extrem rechte Kräfte marschieren und Einfluss gewinnen, so handelt es sich bei „Querdenken“ und anderen (noch) nicht um eine faschistische, sondern um eine rechtspopulistische Bewegung. Ihre Einheit und Kraft bezieht sie daraus, dass sie sich als Volksbewegung von unten gegen die Elite ausgibt. Hinter sozialdemagogischen Parolen versucht sie, eine klassenübergreifende Einheit von kleinen und großen Unternehmern sowie von deren Beschäftigten herzustellen, die allesamt nicht in erster Linie unter den Auswirkungen des Kapitalismus und der Pandemie, sondern unter einer imaginierten Lockdowndiktatur Merkels zu leiden hätten.

Da der Rechtspopulismus auch wirkliche soziale Folgen der kapitalistischen Krisen- und Pandemiepolitik aufgreift und pseudoradikale Lösungen anbietet, zieht er gesellschaftliche Verzweiflung an und formt sie zu einer reaktionären kleinbürgerlichen Bewegung, deren kleinster realer Nenner der Ruf nach „Öffnung“ aller Wirtschaftssektoren darstellt, also eigentlich eine Politik im Interesse des Kapitals. „Querdenken“ denkt konsequent und insofern geradlinig zu Ende, was es bedeutet, wenn gesagt wird, dass wir „mit dem Virus leben müssen“.

Blockaden und Proteste gegen die Aufmärsche von „Querdenken“ und Co. müssen zweifellos weiter einen Teil des Widerstandes gegen den Aufstieg der Rechten bilden. Aber dies wird nicht reichen. Vielmehr muss der kleinbürgerlichen Demagogie auf dem Feld des Klassenkampfes der Boden entzogen werden. Daher müssen wir den Kampf gegen rechts verbinden mit dem gegen die Krisenabwälzung, gegen die gescheiterte Pandemiebekämpfung und dafür, dass das Kapital die Kosten für die Krise selbst bezahlen muss.




Brasilien – ein Pulverfass

Liga Socialista (Brasilien), Neue Internationale 255, Mai 2021

Was wir heute in Brasilien erleben, ist die Fortsetzung des Putsches von 2016, der die Präsidentin Dilma (ArbeiterInnenpartei; PT) stürzte. Es war nicht nur ein Putsch gegen die PT-Regierung, sondern ein gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse gerichteter. Gleich nach seinem Amtsantritt versuchte Temer (Brasilianische Demokratische Bewegung; MDB), eine Rentenreform zu verabschieden, aber die Mobilisierung des Volkes stoppte ihn. Temer schaffte es jedoch mit List, die Arbeitsreform durchzusetzen.

Nachwehen des kalten Putsches von 2016

Bei den Wahlen 2018 wurde Lula ohne Beweise verurteilt und rechtswidrig verhaftet. Der STF (Oberster Bundesgerichtshof) gewährte damals keinen Habeas Corpus (Freilassung aus widerrechtlicher Haft) und verbot Lula die Teilnahme am Wahlkampf. Die wichtigsten Parteien der Bourgeoisie wurden bei den Wahlen besiegt und ihr Hauptkandidat, Alckmin (Sozialdemokratische Partei Brasiliens; PSDB), scheiterte vor der zweiten Runde, die zwischen dem Neofaschisten Bolsonaro und dem Kandidaten der ArbeiterInnenpartei, Haddad, ausgefochten wurde. In diesem Moment schloss sich die Bourgeoisie mit ihrem Hass auf die PT der Kampagne von Bolsonaro an, der am Ende gewann.

Aus all diesen Gründen haben wir heute in Brasilien eine Regierung, die die Wissenschaft leugnet, die BeamtInnen zu großen FeindInnen der Nation erklärt, die öffentliche Versammlungen und die Nichtverwendung von Masken fördert. Für Bolsonaro ist Covid nur eine „kleine Grippe“.

Damit hat Brasilien jetzt über 320.000 Covid-Tote erreicht und heute den Rekord von 3.869 Toten pro Tag gebrochen. Das medizinische System bricht in vielen Teilen des Landes zusammen, vor allem in Bezug auf die Intensivstationen, aber auch die pharmazeutische Grundversorgung.

Lula rehabilitiert

Der STF entschied nun in einem außergewöhnlichen Urteil zum „lava jato“-Prozess („Autowäsche“; milliardenschwerer Korruptionsskandal), dass die Gerichtsbarkeit von Curitiba (Bundesstrafgericht, dessen Staatsanwaltschaft Verstöße gegen Rechtshilfeabkommen und illegale Zusammenarbeit mit dem FBI vorgeworfen werden) nicht über die Kompetenz verfügt, in den Fällen gegen Lula zu urteilen. Kurz darauf erließ eine weitere außergewöhnliche und umstrittene Entscheidung des STF, dass Richter Sergio Moro im Verfahren gegen Lula befangen war, und hob damit das Verfahren gegen Lula im „lava jato“ auf.

Mit dieser Entscheidung rehabilitiert der STF die politischen Rechte Lulas. Die Linke erhielt unerwartet Auftrieb, Lula hielt mehrere öffentliche Reden, und die PT-AnhängerInnen schöpften wieder Hoffnung und sehen nun die Möglichkeit einer Kandidatur Lulas im Jahr 2022. Auf der anderen Seite wandte sich ein Teil der Bourgeoisie gegen Bolsonaro und veröffentlichte ein Dokument gegen ihn, das von BänkerInnen, Geschäftsleuten und renommierten ÖkonomInnen unterzeichnet wurde. Diese Gruppe wendet sich an den Kongress und bewirkt, dass der Centrão (der große Sumpf der Mitteparteien im Kongress, die für jede Mehrheit im aktuellen Parlament gewonnen werden müssen), der bis dahin die Regierung unterstützt hatte, beginnt, sich zurückzuziehen.

Bolsonaros politischer Amoklauf

Bolsonaro, in totaler Verwirrung angesichts der Bedrohung durch eine Lula-Kandidatur und unter dem Druck seiner Basis, beginnt, nach allen Seiten zu schießen. Er droht damit, den Belagerungszustand über das Land zu verhängen und ruft die Streitkräfte zur Unterstützung an, droht sogar mit der Schließung von STF und Kongress. Aber er war überrascht, als die Streitkräfte klarstellten, dass sie die Bundesverfassung verteidigen und sich niemals an einer Handlung beteiligten, die diese negieren oder zu einer totalitären Regierung führen würde.

Angesichts dessen kam es zu einem Meutereiversuch der Bolsonaro nahe stehenden Militärpolizei im Bundesstaat Bahia, der von der PT regiert wird. Der Aufstandsversuch, der sich auf andere Bundesstaaten ausweiten sollte, wurde frühzeitig entlarvt und die Polizistkräfte zogen sich zurück. Dies war eine Aktion, die von Abgeordneten aus Bolsonaros Basis gefördert wurde, um GouverneurInnen anzugreifen, die eine Corona-Sperre verhängt haben.

In den Querelen innerhalb der Regierung entband Bolsonaro den Verteidigungsminister Fernando Azevedo von seinem Amt, der mit den Worten abtrat, er wolle „nicht wiederholen, was er im Mai letzten Jahres erlebt hat“, als Bolsonaristas (Bolsonaros AnhängerInnen) auf die Straße gingen, ein militärisches Eingreifen forderten und den STF angriffen.

Der Armeekommandant Edson Pujol wurde ebenfalls entlassen bzw. reichte seinen Rücktritt ein. Die Streitkräfte hatten ein Treffen und zogen alle ihre Kader aus der Regierung zurück. Es ist eine sehr komplizierte Situation mit verschiedenen Interpretationen. Für einige AnalystInnen stellt sie ein Manöver des Centrão dar, um mehr Posten in der Regierung zu erhalten. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Streitkräfte den Sturz von Bolsonaro planen, damit sein Vizepräsident, Ex-General Mourão, die Präsidentschaft übernimmt. Aber in dieser Situation könnte es eine Reaktion von Bolsonaristas geben, hauptsächlich von der Militärpolizei, die zwar Bundesstaatenpolizei ist, sich aber in ganz Brasilien als Anhängerin Bolsonaros zeigt.

Krise mit ungewissem Ausgang

Alles kann passieren, von einer neuen Vereinbarung zwischen den Kräften, die die Regierung Bolsonaro bilden, bis hin zu einer Meuterei der Polizei und einer Konfrontation zwischen Polizei und Streitkräften. Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass sich die Armut im Land ausbreitet und die Grundversorgung mit Lebensmitteln in immer mehr Regionen nicht mehr funktioniert. Die Reaktion derjenigen, die von der Krise betroffen sind, kann jeden Moment erfolgen.

Einige wissenschaftliche Untersuchungen berichten, dass es etwa 15 Millionen BrasilianerInnen gibt, die am schwerwiegenden Problem der Fehl- und Unterernährung leiden. In mehreren Großstädten bilden sich riesige Schlangen vor den Stellen, an denen kostenlose Mahlzeiten ausgegeben werden, denn die meisten Armen können mit den kleinen Rationen der Nothilfe nicht überleben.

Da die Linke jedoch keine Richtung vorgibt, schließen sich womöglich viele der Armen  Rechtspopulismus und sogar Faschismus an, die sie davon überzeugen, dass die Wirtschaftskrise im Land von den „KommunistInnen“ (einschließlich rechter GouverneurInnen!) und „Petistas“ (Mitglieder und AnhängerInnen der PT) verursacht wird, die die Menschen an der Arbeit hindern – wegen der „hysterischen Maßnahmen“ (Lockdown) zur Abwehr der Pandemie.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Brasilien ein Pulverfass ist, und es kann sein, dass Bolsonaro selbst die Lunte anzündet. In Streitkräfte und Centrão darf es keine Illusionen geben. Wenn sich die Krise noch weiter zuspitzt, könnte die Bourgeoisie zu irgendeiner Form des Ausnahmezustands oder einer anderen autoritären Form der Krisenpolitik greifen einschließlich eines Putsches der faschistischen Kräfte um Bolsonaro (z. B. in der Militärpolizei und den Milizen). Darauf muss die Linke vorbereitet sein und demokratische Grundrechte verteidigen.

Perspektive

Es muss eine Einheitsfront aufgebaut werden, um einem solchen autoritären Versuch entgegenzutreten und ihn mit einem Generalstreik unter Kontrolle der einfachen Mitglieder der Gewerkschaften und der Organisationen der arbeitenden Armen in den Städten und auf dem Land zu beantworten. Gleichzeitig muss der Kampf gegen die Pandemie und die schwere Wirtschaftskrise kombiniert werden, indem den Bolsonaristas und den korrupten Kräften in Gestalt der bürgerlichen GouverneurInnen die Kontrolle über die Antikrisen- und Antipandemie-Maßnahmen entzogen wird.

Ein solidarischer Lockdown von nicht lebensnotwendigen Teilen der Wirtschaft muss mit der Übernahme der Kontrolle über die Lebensmittelversorgung der Armen und Arbeitslosen und einem Notfallplan für das kollabierende Gesundheitssystem kombiniert werden. Nicht „Lula 2022“, sondern der Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die die Kontrolle über ein solches Programm übernimmt, ist der Ausweg aus der Pulverfass-Situation!