Ampel-Koalition und das 9-Euro-Ticket: Verkehrswende geht anders!

Leo Drais, Neue Internationale 267, September 2022

„Ich lade alle ein, das mit einem Lächeln zu machen, Freude daran zu empfinden.“ Volker Wissing, Bundesverkehrsminister (FDP) bewirbt Ende Mai 2022 das 9-Euro-Ticket. Die Freude sollte natürlich nur von kurzer Dauer sein. Mit dem 1. September wird eine der wenigen Erleichterungen, die die Ampelkoalition einführte, auch wieder kassiert.

Und der Sommer offenbarte auch die Probleme. Aktivist:innen gegen den G7-Gipfel treffen im Juni nach elfeinhalbstündiger 9-Euro-Ticket-Fahrt mit dem Regio im bayrischen Oberau ein und steigen in den Schienenersatzverkehr um. Die letzten Kilometer bis Garmisch-Partenkirchen sind seit dem 3. Juni gesperrt. RE-D 59458 entgleiste, fünf Menschen starben, Ursache: horizontale Brüche in den Betonschwellen, Herstellerfehler, das Gleis trug den Zug nicht mehr.

Und irgendwie drängt sich der Unfall als Sinnbild für den deutschen Nahverkehr auf, den das 9-Euro-Ticket häufig über die Belastungsgrenze trieb, wie ein Gleis, das aufgibt. Oder der einfach nicht vorhanden ist, auch wie ein Gleis, das aufgibt.

Millionenfach verkauft

Während die Deutsche Bahn den Sommer damit verbrachte, 200.000 Schwellen im gesamten Netz auf Risse zu überprüfen, und noch Monate für ihren Austausch benötigen wird, wurde das 9-Euro-Ticket im Schnitt sehr gut angenommen. 38 Millionen Mal wurde es im Juni und Juli verkauft.

Es zeigt: Das Bedürfnis nach einem günstigen Nahverkehr ist da.

Neben seinem Preis bestach das Ticket zudem durch seine Einfachheit: ein Fahrschein, deutschlandweit gültig, anstatt sich durch den Tarifdschungel tausender Verkehrsverbände wühlen zu müssen.

Bei einer tiefer gehenden Betrachtung muss der Erfolg des Tickets jedoch auch ein wenig relativiert werden. So war es anlassbezogen für die meisten Menschen eher eine Möglichkeit für Tagesausflüge und Freizeitfahrten. In der täglichen Massenbewegung des Berufsverkehrs sind weniger Menschen vom Auto auf Bus und Bahn umgestiegen.

Zweitens sagen die Verkaufszahlen nur bedingt etwas über die Nutzung aus. Schon für eine einfache Fahrt mit dem Regio vom Frankfurter Flughafen nach Kassel lohnte sich das Ticket, selbst wenn es danach für den Rest des Monats ungenutzt im Geldbeutel zwischen Kassenzetteln und Tankquittungen unterging. Das spricht einerseits zwar für es als kostengünstiges Angebot, relativiert aber den langfristigen Umsteigeeffekt vom privaten zum öffentlichen Verkehr.

Drittens ist das Ticket selbst natürlich günstig gewesen, aber das heißt nicht, dass wir wirklich so wenig fürs Fahren mit dem ÖPNV bezahlt haben. Es war Teil des „Energieentlastungspakets“ der Ampelregierung, was auch den Wegfall der Spritsteuer beinhaltet hat. Die Kosten dafür tragen wir – vermittelt über Steuern oder die Inflation und nicht etwa Energie- oder Autokonzerne, indem sie ihre Gewinne für eine Verkehrswende abgeben müssten.

Appetizer für die Verkehrswende?

Deutschland ist ewig weit weg von einer anderen, nachhaltigen, sinnvollen Mobilität.

Für die breite Bevölkerung auf dem Land war das Ticket faktisch nicht nutzbar, einfach, weil es keinen Nahverkehr gibt. Zwei Schulbusse am Tag zählen nicht, erst recht, wenn sie in den Ferien durch Anruftaxen ersetzt werden, die teilweise 24 Stunden vorher bestellt werden müssen.

Dem Regionalexpress an die Ostsee, der wegen Überfüllung von der Bundespolizei in Berlin-Gesundbrunnen eine Stunde lang geräumt wird, steht der verlorene Mensch am Busschild in Sachsen-Anhalt gegenüber, dem in der Mittagseinsamkeit der Wüstenwind durch die Haare streift.

Gewerkschaften wie die EVG hatten schon Wochen vor der Einführung des Tickets vor einer Überlastung der Züge und der Kolleg:innen im ÖPNV gewarnt – nicht ohne einen eigenen Schluss Borniertheit. So haderte GDL-Chef Weselsky damit, dass ein sehr günstiger oder sogar kostenloser Nahverkehr auch bedeute, dass die Transportleistung selbst nichts wert sei. Mit derselben Logik könnte man auch gegen kostenlose Kitas und Schulen argumentieren.

Nun aber zu den berechtigten kritischen Stimmen aus den Gewerkschaften.

Weil das Ticket von Anfang an nur für drei Monate angelegt war, hat natürlich niemand die Absicht gehabt, mehr Personal einzustellen, mehr Züge und Busse zu kaufen, Strecken auszubauen, und dabei blieb es. Lokführer:innen und Zugbegleiter:innen sehnen sich das Ende des Sommers herbei. Und sie misstrauen verständlicherweise auch allen Versprechungen, dass mehr Nutzer:innen zu mehr Personal führen würden.

Es riecht nach verbranntem Stroh, und das ausnahmsweise mal nicht wegen Flächenbränden auf ausgetrockneten Feldern, zwischen denen ein leerer Bus allein von Dorf zu Dorf zieht. Wer auf ihn wartet, hat Hoffnung, heißt es.

Die aber ist bei der Ampelregierung vergebens. Alle ihre Parteien schließen die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets aus. Bei einem Finanz- und einem Autominister von der FDP war das von Anfang an klar. Schließlich verursache eine Verlängerung des Tickets Mehrkosten von 14 Milliarden Euro (wo kam eigentlich nochmal das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr her?).

Für sie hat das Ticket nur Argumente gegen einen langfristig günstigen, geschweige denn kostenlosen Nahverkehr gebracht.

Die SPD hat sich drei Monate lang ein bisschen sozial verkaufen können, und damit ist‘s auch gut. Oder wie sagte Scholz? „Das 9-Euro-Ticket ist eine der besten Ideen, die wir je hatten.“ Na, wer solche Ansprüche hat …

Und auch die grünen Geschwister der FDP hatten etwas von dem Ticket. Immerhin galt es ihnen ja schon als die gefühlte halbe Verkehrswende. Jetzt aber kommt der Herbst, die Sommerferien sind vorbei. Es geht um den deutschen Imperialismus in der Welt. Da ist halt kein Platz für eine Verkehrswende. Immerhin ist das Rückgrat deutscher Exportstärke immer noch – das Auto!

Die echte Verkehrswende

Verschiedene Nachfolgeangebote werden derzeit ins Spiel gebracht. Die Grünen wollen ein 29/49-Euro-Ticket – einmal regional, einmal bundesweit. Verschiedene Verkehrsverbünde prüfen ihre eigenen Nachfolgeangebote. NRW hat schon eins beschlossen.

Der kurzen deutschen Einigkeit folgt der föderale Flickenteppich eines in der Kleinstaaterei hängen gebliebenen Tarifsystems, wo ja keine Buslinie zu viel über die Grenze des Nachbarlandkreises führen darf.

Führen wir einfach mal alles zusammen: den Kampf gegen Krise und Inflation, den gegen die Klimakatastrophe und den für die Verkehrswende.

Aus diesem Kontext heraus macht nur eine schnellstmögliche Einführung eines kostenlosen Nahverkehrs Sinn, wobei schnellstmöglich am besten sofort wäre.

Es braucht zugleich jedoch ein Ausbauprogramm, um überhaupt einen tragfähigen Nahverkehr für alle bereitzustellen. Beschäftigte und Nutzer:innen sollten dabei auch über einen konkreten Ausbauplan bestimmen: Wo lohnt sich ein Gleisanschluss, wo reicht ein Bus? Wie drängen wir den Autoverkehr zurück und verwandeln die Straße in einen Raum des Lebens und der Begegnung zurück? Und macht es nicht Sinn, langfristig die Stadt-Land-Unterschiede aufzuheben, zum Beispiel in einer Clusteranordnung von Arbeits- und Lebensräumen?

Entscheidend ist: Es braucht eine demokratische Kontrolle und Planung durch Transportarbeiter:innen, Gewerkschaften, Pendler:innen sowie die große Masse der Nutzer:innen in Verkehrsplanungskomitees.

Bleibt die Frage der Finanzierung. Das Defizit im 9-Euro-Ticket bezahlen wir selbst. Das bringt uns zum zweiten entscheidenden Punkt: der Enteignung und Verstaatlichung der Verkehrsindustrie unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten. Anders wird die Macht von VW, Daimler und BMW und ihres speichelleckenden Verkehrsministeriums nicht zu zerstören sein. Es gibt Milliardengewinne im Verkehrs- und Energiemarkt, bei weitem genug, um damit eine Verkehrswende zu verwirklichen. Sie müssen massiv besteuert werden.

Aber, das heilige eigene Auto?

Ja, von diesem gilt es, sich wohl zu trennen. Aber das heißt nicht, einfach Lebensqualität zu verlieren (wobei die im Stau kaum vorhanden sein kann). Denn es geht darum, die Verkehrswende mit einem Programm zu verbinden, das für eine drastische Arbeitszeitverkürzung eintritt. Beschäftigte, die heute Autos bauen, können morgen mit weniger Gesamtarbeitszeit und Materialaufwand dringend benötigte Fahrzeuge für den Personennahverkehr bauen. Beschäftigte, die heute Fahrscheinkontrollen durchführen oder Tickets für den Personennahverkehr verkaufen, könnten morgen einen qualitativ hochwertigen Service an Bahnhöfen bieten. Verbunden mit Neueinstellungen könnte eine effektive Entlastung der Beschäftigten und eine massive Arbeitszeitverkürzung erfolgen.

Wer mehr Zeit zu leben hat, hat auch weniger Sorge, sie im Verkehr zu verlieren. Klar heißt es jetzt wieder: unrealistisch. Falsch! Richtig ist, dass es zwar keine Garantie dafür gibt, dass so ein Programm jemals verwirklicht wird. Realitätstauglich ist es allemal. Wirklich unrealistisch ist, dass die Ampel, eine dem deutschen Kapitalismus verpflichtete Regierung, jemals die Verkehrswende herbeiführt.




Nein zur Zerschlagung der Bahn – Schiene statt Gewinnmaschine!

Leo Drais, Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe ArbeiterInnenmacht, 16. November 2021

Es gibt unter uns EisenbahnerInnen ziemlich viele, für die das mit den Zügen nicht einfach nur ein Job ist. Wir kennen das Potential, das eine funktionierende Eisenbahn hätte. Wir merken, wie gut das System aus Fahrzeugen, Infrastruktur und uns Beschäftigten ineinandergreifen könnte und welche Möglichkeiten der Schienenverkehr an sich böte.

Wir merken das, weil wir in unserer täglichen Arbeit (oft) das Gegenteil erleben. Störungen, Verspätungen, Ausfälle bekommen nicht nur Reisende und KundInnen nach außen mit, sondern vor allem auch wir. Für uns heißt das: liegengebliebene Züge, Regelwerkswidersprüche, Fremdeinwirkung, Langsamfahrstellen, Rotausleuchtung, PZB-Ausfall, fehlende Bremshundertstel usw. usf. Und wir leiden da mit. Selbst dann noch, wenn längst Zynismus oder Resignation eingesetzt haben. Weil es Stress und einen späteren Feierabend bedeutet, die kaputte Weiche zu bearbeiten oder Umleitungen zu fahren. Und weil wir, die wir auf Loks, in Stellwerken und Betriebszentralen, in Werkstätten und in den Gleisen mit dem Mangelhaften arbeiten müssen, Bahnbetrieb eigentlich können – es liegt zum Wenigsten an uns, dass die Bahn in Deutschland ist, wie sie ist.

DB AG und Staat

Denn an der DB AG und der bundesdeutschen Verkehrspolitik gibt es so gut wie nichts zu feiern. Seit der Bahnreform 1994 ist das Netz verstümmelt, das Land abgehängt, der Service verkümmert, Bahngelände verscherbelt. In Stuttgart und andernorts sind Milliarden für Sinnlosigkeiten verbrannt worden. Zugleich – so die Verkehrswende auf Deutsch – wurden 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen gebaut.

Und natürlich wollen wir nicht vergessen, wie tausende KollegInnen gegangen wurden oder gingen und ewig kein Nachwuchs kam oder um wie viel sich unsere Arbeitsbedingungen verschlechterten.

Nein, an diesem hochverschuldeten Konstrukt DB AG mit einer aufgeblähten Führungsebene, die uns schwer auf den Schultern lastet, gibt es nicht viel zu verteidigen. Sie ist ein eigener Verschiebebahnhof – von Geldern. Regio, Cargo und Fernverkehr zahlen Trassengebühren an den Netzbereich. Steuergelder und Subventionen landen in Auslandsgeschäften. Am Ende findet sich alles in derselben schöngerechneten Bilanz wieder. Die AG trimmte die Eisenbahn – ganz nach dem Willen des Eigners Bund – auf einen Börsenkurs, dem nur die Krise von 2008 zuvorkam. Sie beantwortet die Krise im Gütergeschäft mit dem Abbau von Gleisanschlüssen, das Ausbleiben von Fahrgästen mit Streckenschließungen. Sie versteht unter der Verkehrswende Fahrpreiserhöhungen und, den Fernverkehr 40 Meter tief unter Frankfurt zu vergraben –, als ob ein S21 nicht schon zu viel wäre.

Staat und Verkehrsministerium machten bei diesem Spiel immer freudig mit – wenn mal ausnahmsweise nicht gerade die Autoindustrie hofiert wurde. Die Staatsinvestitionen in die Schiene betragen in der BRD nur etwa ein Fünftel im Vergleich zur Schweiz. Mit Milliarden soll aber das E-Auto vorangebracht werden. Naiv zu glauben, eine Trennung von Netz und Betrieb würde die Bahn verbessern! Das hieße auch zu glauben, dass das nächste Verkehrsministerium keine speichelleckende Lakaiin der Autokonzerne mehr sei.

Zerschlagung und Wettbewerb

Die Monopolkommission – diese personifizierte ideelle Gesamtkapitalistin, die so tut, als ob hinter der jetzt schon bestehenden bunten Eisenbahnlandschaft keine (Staats-)Monopole stünden, sowie Grüne und FDP schlagen aber genau das vor: Trennt die DB, treibt das Messer zwischen Rad und Schiene, zwischen Infrastruktur und Betrieb! Bahnreform 2.0.

Die Motivation der Baerbock- und Lindner-Truppe mag verschieden ausfallen, die konkrete Ausarbeitung ist noch lange nicht klar, aber die zwei groben Ideen scheinen aber durch: Die kostenintensive, aufwendige Infrastruktur mit riesigem Investitionsstau bleibt (vorläufig) in Staatshand. Was draußen fährt, wird noch mehr dem Wettbewerb ausgeliefert.

Übersetzt bedeutet das nicht nur bei der Verkehrswende, weitere Jahre mit stümperhaften Umstrukturierungen zu verbringen und tausende Jobs zu streichen und sie woanders (unter vielleicht schlechteren Bedingungen) hin zu verfrachten, es heißt auch, dass die Qualität auf der Schiene nicht besser wird – eher im Gegenteil. Wettbewerb heißt immer, möglichst günstig zu fahren, um die Konkurrenz zu schlagen, was wiederum sparen heißt … Und wo bietet sich das am besten an, wo sich doch mit dem Zugbetrieb sowieso kaum was verdienen lässt? Bei Mensch und Material! Auch verlagert sich der viel erwähnte DB-Wasserkopf damit nur. Denn jedes einzelne Unternehmen hat seinen eigenen! Im Vergleich zum DB-Riesen vielleicht nur im Modellbahnformat, aber ziehen wir hunderte kleine Chefetagen zusammen, haben wir wieder – einen Riesen, den Fahrgäste und SteuerzahlerInnen finanzieren.

SPD, EVG und GDL

Dass die SPD und die eng mit ihr verbundene EVG (in der der Autor dieses Textes Mitglied ist) die Zerschlagung ablehnen, ist erst mal richtig. Eine Aufspaltung bedeutet, die Belegschaft zu spalten,  unsere Kampfbedingungen zu schwächen, die neoliberale Klinge erneut an unsere Arbeitsbedingungen zu legen!

Aber EVG und SPD stellen sich zugleich auch hinter eine Konzernspitze, die das Trauerspiel Deutsche Eisenbahn seit bald 30 Jahren zu verantworten hat. Und das überrascht ja auch nicht. Die EVG-Führung und ihre VorgängerInnen sind selbst eng mit der AG verwachsen, nicken alles ab und haben überhaupt, was mit der Bahn seit den Neunzigern passiert ist, mitgetragen.

Genauso wenig überrascht, dass die GDL die grün-gelben Pläne unterstützen wird, erhofft sich ihre Führung doch, vom Aufbrechen der DB und damit der EVG zu profitieren. Zugleich sind viele ihrer Mitglieder ebenso gegen die Zerschlagung. Sie sollten einfordern, dass ihre Führung um Claus Weselsky mit der rückschrittlichen, bahnzerstörenden Position bricht und mit allen Bahn-Beschäftigten gegen die Zerschlagung kämpft.

Die Trennung von Netz und Betrieb gehört deshalb abgelehnt, weil sie die DB-Misere vertieft.

Alle, die sich gegen eine Zerschlagung stellen und dabei aber auch kein Deutsche-Bahn-weiter-so wollen, sollten sich weder auf die SPD noch auf Hommel, Borchert und Co. verlassen. Eine rote Linie kann  schließlich auch mal ganz schnell ihre Farbe wechseln. Wir müssen SPD und Linkspartei auffordern, dass sie die DB-Zerschlagung kategorisch ablehnen! Von der GDL fordern wir einen Kurswechsel. Die DGB-Gewerkschaften sollen zu Solidaritätsdemonstrationen und -streiks aufrufen, denn die drohende Zerschlagung der Bahn betrifft alle Lohnabhängigen. EVG sowie Betriebsräte müssen gewerkschafts- und betriebsübergreifende Versammlungen organisieren, auf denen der Angriff diskutiert und unsere Abwehr besprochen wird – inklusive des Streiks gegen die Zerschlagung!

In den kommenden Auseinandersetzungen können wir uns letztlich nur auf uns selbst und unsere Kampfkraft verlassen. Lasst uns daher auf Belegschaftsversammlungen Aktionskomitees wählen, um den Kampf zu organisieren! Nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand!

Anhang: Verkehrswende = EINE Eisenbahn

Wer eine gut funktionierende Bahn will und die Verkehrswende ernst meint, sollte für EINE einzige staatliche Bahn einstehen. Das heißt auch, alle Privatisierungen der letzten drei Jahrzehnte zurückzunehmen und die sogenannten Privatbahnen zu enteignen sowie die Länderbahnen in eine bundesdeutsche zu überführen. Nur so werden Schnittstellen weniger, Kommunikation einfacher und vor allem: die Bahn dem zermürbenden Wettbewerb entzogen.

Statt einer Zerschlagung braucht es einen Investitions- und Ausbauplan für die Schiene – und zwar finanziert durch massive Besteuerung der Konzerne und AktionärInnen, die mit einer klimaschädlichen Verkehrsweise Milliarden Gewinne gemacht haben: Oberleitung statt E-Auto, Flächenbahn statt Flächenautobahn, kostenloser Nahverkehr statt Pkw-Kaufprämien, Daseinsversorgung Schiene statt Gewinnmaschine!

Allein, dass es eine Staatsbahn gibt, ist natürlich kein Garant für einen funktionierende, breit ausgebauten Schienenverkehr mit guten Arbeitsbedingungen – siehe DB und ihre beiden Vorgängerinnen. Die drohende Zerschlagung bietet da auch eine Chance zur Diskussion, nämlich darüber: Wer kontrolliert eigentlich die Bahn und überhaupt die Verkehrswende? DB-Wasserkopf, Autokonzerne und Verkehrsministerium? Oder wäre es vielleicht eine Alternative, dass die Bahnbeschäftigten direkt und demokratisch zusammen mit anderen VerkehrsarbeiterInnen und Fahrgästen in Komitees darüber entscheiden und wachen, wie die Verkehrswende schnellstmöglich vorankommt? Wir brauchen keine Konzernspitze und keinen neuen Andi Scheuer dafür. Wir haben das Fachwissen und die Kenntnis darüber, wie Eisenbahn gut funktionieren kann als Teil eines nachhaltigen, integralen Verkehrssystems.

Klingt erst mal utopisch, aber wir können schon heute anfangen, solch eine Selbstorganisation aufzubauen, indem wir Aktionskomitees wählen, auch den politischen Streik als Kampfmittel diskutieren und verwirklichen! Wir sagen: Uns gibt‘s nicht für Profite, uns gibt‘s fürs Fahren!




Bilanz der GDL-Streiks: Claus & Klaus und die Deutsche Bahn

Leo Drais, Infomail 1163, 21. September 2021

Nach einer Monate dauernden Tarifrunde und drei Streiks haben sich die Deutsche Bahn AG (DB) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL, Mitglied im Beamtenbund dbb) auf einen Tarifabschluss geeinigt. Die roten und weißen Züge fahren wieder artig unpünktlich durch das Land, alles wieder wie gewohnt auf den Gleisen.

Hinter den Kulissen ist derweil noch keine Ruhe eingekehrt. Die DGB-Konkurrenz der GDL – die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) – hat angekündigt, den Abschluss der GDL zu prüfen. Sie will alle jene Vorzüge gegenüber dem eigenen Tarifvertrag in selbigen übertragen haben.

Ebenfalls noch nicht ausgemacht ist, wo der GDL-Abschluss gilt. Die DB will das Tarifeinheitsgesetz (TEG) anwenden, sprich je Betrieb gilt nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten  Gewerkschaft. Eben das gilt es unter Umständen noch herauszufinden: In welchen der über 300 DB-Unternehmen verfügt die GDL über die Mehrheit und in welchen die EVG; im Zweifel entscheiden NotarIn und Gericht. Offen ist dabei auch, nach welchen Kriterien entschieden werden soll, wer die stärkste Gewerkschaft im einzelnen Betrieb darstellt, ob dazu die Zahl der Mitglieder oder jene der Betriebsräte hergezogen werden soll.

Ein Sieg – oder nicht?

Verschiedene bürgerliche Medien bescheinigten der GDL einen Sieg auf ganzer Linie: Mitgliederzuwachs, ein Tarifabschluss nach Wünschen der Gewerkschaft, Ausbau der Position gegenüber der EVG. Schauen wir auf die harten Fakten. 38.000 Mitglieder hat die GDL nun insgesamt, ein Plus von 4.000 gegenüber dem Januar, das sich sehen lassen kann. Etwa die Hälfte ihrer Mitglieder ist bei der DB beschäftigt.

Das sind zwar immer noch weit weniger Mitglieder, als die EVG hat, die in vielen Unternehmen wie im Infrastrukturbereich DB Netze sicher nach wie vor dominiert. Aber angesichts des hohen Durchschnittsalters ihrer Mitgliedschaft (in der Mitgliederzeitung werden als Termine überwiegend SeniorInnentreffen beworben) und des hohen Organisationsgrads der GDL insbesondere unter dem Zugpersonal (TriebfahrzeugführerInnen, Zugbegleitdienst) relativiert sich das Ganze. Aber vor allem ist die GDL die Gewerkschaft, die man kennt, die als Organisation wahrgenommen wird, die das mit dem Streiken und dem Arbeitskampf noch ernst nimmt – und deren Streiks naturgemäß auffallen und wehtun und in diesem Sinne konnte sie sicher ihren Einfluss ausweiten. Sie hat nicht nur diesen Ruf zweifellos ausgebaut, sondern mit dem Streik auch das Selbstvertrauen der Beschäftigten massiv gesteigert.

Dazu trug sicher auch bei, dass sie sich selbst durch einstweilige Verfügungen seitens des Staatskonzerns nicht zurückdrängen ließ. Zwei arbeitsgerichtliche Instanzen bewerteten den dritten Streik als rechtens im Sinne des Grundgesetzes. Nicht angewandt, aber seitens der DB auch nicht juristisch ausgetestet, wurde die Verwendung des TEG gegen den Arbeitskampf. Zumindest in den GDL-Minderheitsbetrieben (die ja wie gesagt nicht sicher festgestellt sind) wäre es vorstellbar gewesen, dass die DB diesen Zug versucht. Dass das TEG in diesem Sinne nicht angewandt wurde, stellt einen gewissen politischen Teilsieg der GDL dar, auch wenn diese den gar nicht beabsichtigte – sie erkennt genauso wie die EVG das TEG als geltendes Recht an und wurde nicht müde, das zu betonen.

Bemerkenswert ist im Vergleich zu früheren Streikmaßnahmen der GDL auch, dass das Medienecho weniger stark gegen sie gerichtet war. Natürlich hetzte die BILD auch diesmal, von ihr ist anderes nicht zu erwarten. Auffallend war aber beispielsweise ein Tagesschauartikel, der das wiederholte Anprangern der Bonuszahlungen für das DB-Management durch die GDL untersuchte – und mehr oder minder feststellte, dass die GDL hier wohl zu Recht Kritik am Vorsitzenden Richard Lutz und den übrigen Vorstandsmitgliedern übt.

Dafür ist der eigentliche Tarifabschluss wiederum ein doch eher bittersüßes Bonbon. Hier das Ergebnis im Einzelnen: Es wurden zwei Coronaprämien (Dezember 2021 600 Euro / 400 Euro je nach Einkommensgruppe, März 2022 400 Euro) sowie eine zweistufige Gehaltserhöhung vereinbart. Ab Dezember 2021 sollten die Einkommen um 1,5 % steigen, womit lediglich formal für 2021 eine Nullrunde abgewandt wurde. Im März 2023 soll eine weitere Erhöhung um 1,8 % folgen. Die Laufzeit des Vertrages beträgt insgesamt 32 Monate, die Betriebsrente ist gesichert – für die EisenbahnerInnen der Gegenwart, die sie dann auch mit in den Ruhestand nehmen werden. Der Nachwuchs wird freundlich auf den Rentenfonds der DEVK-Versicherung verwiesen, für ihn wurde die Altersvorsorge faktisch aufgeweicht.

Im Vergleich mit den Ursprungsforderungen dieser Tarifrunde ist von den + 4,8 %, rückwirkendem Inkrafttreten und den 1300 Euro Coronaprämie 2021 also einiges gefallen. Das erste Mal wurde bereits vor jedem Streik zurückgesteckt, ab Frühsommer wurde nunmehr der Abschluss des öffentlichen Dienstes gefordert. Nach dem dritten Streik und einigen Tagen Geheimdiplomatie kam dann das oben Beschriebene heraus, mit einer Laufzeit bis 31. Oktober 2023.

Insgesamt handelt es sich also um ein widersprüchliches Resultat. Das Ergebnis übertrifft jenes der EVG, was vor allem auf die Coronaprämie zurückzuführen ist. Einen Inflationsausgleich – das eigentlich absolute Minimalmaß aus reiner Entgeltsicht – bewirkt dieser Abschluss nicht, es bleibt ein Reallohnverlust trotz dreier Streiks.

Dennoch stellt es für die GDL und ihre Mitglieder einen Teilerfolg dar, weil letztere erstens ihre Gewerkschaft im Kampf um die Existenz behaupten und stärken und konnten und zweitens zeigten, dass ein Arbeitskampf in Kernsektoren der deutschen Wirtschaft durchgehalten werden kann, ja durchaus auf Sympathie anderer Lohnabhängiger stößt.

EVG-Reaktion

So weit dazu. Und die EVG? Sie meldete sich in den vergangenen Tagen und protzte: „Diesen Tarifkonflikt beenden wir!“ Mit letzterem Kommentar bezog sie sich auf eine Klausel in ihrem Tarifvertrag, der es ihr erlaubt nachzuverhandeln, wenn eine andere Gewerkschaft mehr rausholt. DB-Personalvorstand Seiler versprach angesichts dessen ein schnelles „Nachsteuern“ – sprich: wo die EVG weniger rausgeholt hat, wird wohl zur GDL angeglichen.

2020 hatte sich die EVG kampflos der DB gebeugt und eine Nullrunde unterschrieben – zugunsten eines fragwürdigen Kündigungsschutzes, denn der Fahrplan wurde fast nicht ausgedünnt weiter befolgt und mitten in der Pandemie wurde weiter eingestellt, was angesichts der Überalterung der EisenbahnerInnen immer noch in unzureichendem Maß passiert. Nun behauptet die EVG, dass mit dem von ihr ausgehandelten Kündigungsschutz überhaupt erst die Grundlage für den Kampf der GDL geschaffen worden wäre, was natürlich an jeder Realität vorbeigeht.

Die EVG präsentierte nun einen Chart, wo sie darstellt, dass sie die besseren Tarifverträge mache. Sie verwies darauf, dass innerhalb der Laufzeit des EVG-Vertrages (bis Februar 2023) dieselbe Entgelterhöhung von 1,5 % anstehe und die zweite Stufe der GDL (+ 1,8 %) mit einer längeren Laufzeit verknüpft sei. Frohen Mutes wird verkündet: Während die GDL noch Friedenspflicht hat, werde die EVG neue Themen vorbringen und mehr herausholen – ergo: Die EVG verspricht, mehr rauszuholen, die GDL hat bereits sicher 1,8 % mehr. Dass die EVG 2023 mehr ereichen will, hören wir gern. Allein, uns fehlt der Glaube, darauf noch zu vertrauen. Zur Zeit sind diese Versprechen, für die es natürlich keine Sicherheit gibt, nur schöne Worte, eine stoische Selbstbeschönigung, die den katastrophalen Abschluss von 2020 überdecken soll. In dem Chart ist auch eine Coronaprämie vermerkt, von der EVGlerInnen bisher nichts wussten. Es liegt nahe, dass die EVG bereits damit rechnet, ebenfalls die Prämie der GDL zu bekommen, immerhin sind die Termine identisch mit denen der GDL-Coronaprämie.

Wir halten fest, dass die EVG 2020 ohne Kampf, ja ohne überhaupt ihre Mitglieder einzubeziehen, einen Abschluss getätigt hat, der eine Nullrunde 2020/21 ohne weiteres hinnahm und auch keine Coronaprämie enthielt. Jetzt, da die GDL nachgelegt hat, ruft die EVG „Auch haben wollen!“ Ja, warum hast du es dann nicht gleich gefordert oder den Kampf der GDL unterstützt, anstatt Stimmung gegen sie zu machen, werter EVG-Vorstand?

Wer kämpft hier eigentlich gegen wen?

Zwei Figuren des Kampfes haben wir bisher noch nicht namentlich erwähnt, wir widmen ihnen den folgenden Abschnitt. Sie heißen Klaus-Dieter Hommel (EVG) und Claus Weselsky (GDL) und sind nicht mit dem trauten Schlagerpaar Klaus und Klaus vom plattdeutschen Strand zu verwechseln.

Auf den ersten Blick scheint es, als könnten die beiden Gewerkschaftsvorsitzenden in ihrer Rollenausübung kaum verschiedener sein.

Der eine, der Weselsky-Claus, haut auf den Putz, ist rhetorisch gewandt, bezeichnet das DB-Management als „Nieten in Nadelstreifen“ und hat eine Gewerkschaftsbasis, die hinter ihm steht, die bei seinen Reden lautstark applaudiert. Er ist ein Eisenbahner und einer von ihnen geblieben, einer, der sicher ist im Umgang mit dem Werkzeugkasten des Populismus für „den kleinen Mann“, den er immer wieder hervorhebt, dem der DB-Vorstand in die Tasche greift (was ja auch stimmt). Man kann sicher davon ausgehen, dass er seit spätestens 2014 einer der bekanntesten Gewerkschaftsführer Deutschlands ist, was angesichts der DGB-Schnarchnasen-Konkurrenz auch keine wirkliche Herausforderung darstellt.

Zu letzterer gehört der Hommel-Klaus. Er lebt seine intime Sozialpartnerschaft mit dem DB-Konzern offen aus, sein Interview beim Journalisten und Podcaster Tilo Jung, Gründer und Moderator des Interview-Formats Jung & Naiv, hörte sich fast wie eine Bewerbung um den Vorstand an. Seiner Meinung nach trage die Gewerkschaft dafür Verantwortung, dass es dem Unternehmen gut geht, daher die Nullrunde 2021. Auch er beherrscht sein Handwerk, ist biegsam. Er hatte kein Problem damit, gegen den Streik der GDL zu polemisieren und hinterher die Errungenschaften für sich einzufordern und so zu tun, als hätte die EVG sie erkämpft. Da kann man natürlich verstehen, warum Claus auf Klaus sauer ist und kommentiert, dass die GDL Millionen für den Streik ausgebe und dann die EVG das Ergebnis nachgetragen bekomme.

Das passierte bereits in der Vergangenheit so und nicht von ungefähr. Der Deutschen Bahn ist die sanft kriecherische EVG-Führung natürlich lieber als „Gegnerin“ als die lautstark streikende GDL. Also bekommt die EVG die Abschlussvorteile der GDL, um letztere möglichst kleiner zu halten als die EVG. Das TEG grüßt auch hier aus dem Hintergrund, aber auch schon vor jenem gewerkschaftsfeindlichen Gesetz galt diese Logik.

Und doch haben Claus und Klaus mehr gemeinsam, als ihnen wahrscheinlich lieb ist, und das entspringt eben ihrer gemeinsamen Stellung als Vorsitzende ihrer Gewerkschaft. Beide begreifen Gewerkschaften grundsätzlich als Sozialpartnerinnen des Kapitals, trotz aller Unterschiede im konkreten Umgang. Die GDL kritisiert zwar das Tarifeinheitsgesetz, aber letztlich beugt auch sie sich diesem und sämtlichen Gesetzen, die Arbeitskämpfe reglementieren und sanktionieren.

Und, am wichtigsten, beide sind in ihrer sozialen Stellung Teil der ArbeiterInnenbürokratie. In ihrer Position kontrollieren sie die EisenbahnarbeiterInnen. Sie können zu mehr oder weniger dampfablassenden Streiks aufrufen und sie von oben herab auch wieder beenden. Sie führen vermittelt über Tarifkommissionen Geheimverhandlungen mit dem Konzern und präsentieren hinterher freimütig das Ergebnis. Sie sind in ihrer Position, in ihrer sozialen Stellung abhängig von der Stärke ihrer Gewerkschaft. Die Spaltung der EisenbahnerInnen in zwei Organisationen ist nicht nur Grundlage ihrer Konkurrenz, sondern auch ihres jeweiligen eigenen Apparates. Daher hegen beide kein Interesse an der Überwindung der für die EisenbahnerInnen insgesamt schädlichen Spaltung, sondern sie erneuern diese täglich.

Auch wenn sich der Ton unterscheidet: Inhaltlich ist die Kritik am jeweils anderen sehr nah beieinander. Beispiel – wer hat‘s gesagt: „Man muss sehen, in welchem Zustand sich der Bahn-Konzern aktuell befindet. […] In einer solchen Phase zu streiken, halte ich für schwierig.“ So der Kommentar von Claus Weselsky zum dreistündigen Witz-EVG-Streik 2018. Hätte auch umgekehrt sein können.

Politisch stehen sowohl Claus Weselsky (CDU) als auch Klaus-Dieter Hommel (SPD) für einen Kurs, der nicht dazu führen wird, in Deutschland ein funktionierendes Eisenbahnsystem zu entwickeln, das den Erfordernissen einer wirklichen Verkehrswende gerecht werden kann. Während Weselsky für mehr Konkurrenz und die Trennung von Infrastruktur und Zugleistungen wirbt (wovon die GDL mit Schwerpunkt auf Eisenbahnverkehrsunternehmen bei Anwendung des TEG profitieren würde), spricht sich Hommel richtigerweise dagegen aus, aber er deckt damit zugleich den Staatskonzern, der Tausende Kilometer Gleise hat abbauen lassen.

Auf ewig gespalten?

Für die breite Mehrheit der EisenbahnerInnen stellt sich die Sache mit den beiden Claus/Klaus-Gewerkschaften so dar, dass die Wahl besteht zwischen einer GDL mit vergleichsweise kleinem Apparat und kämpferischen Streiks und einem anziehenden Führer, die aber mitunter keine Mehrheit in meinem Betrieb hat, oder einer EVG, die ein träge aufgeblähter Riesenapparat und enger mit dem DB-Vorstand verbandelt ist, aber in vielen Betrieben und insbesondere in der Infrastruktur deutlich größer ist. Daneben gibt es die große Anzahl derer, die unorganisiert sind.

Die Existenz zweier Gewerkschaften und die damit verbundene Spaltung werden von wenigen KollegInnen wirklich kritisiert, geschweige denn zu überwinden versucht. Claus und Klaus wollen das aufgrund besagter privilegierter Stellung wie gesagt sowieso nicht.

Dabei wäre das Ziel nicht nur einer Eisenbahn-, sondern einer Transportgewerkschaft nicht nur ein wünschenswertes oder ein schöner Traum, sondern auch nötig und sinnvoll für kommende Kämpfe.

Das betrifft allein schon die Tarifrunden. Auch wenn der GDL-Abschluss besser als jener der EVG ist, so bleiben beide unter der Inflationsrate. Warum hätte sich bei einem gemeinsamen Vorgehen nicht mehr rausholen lassen? Dass die Verbesserungen der GDL nun auf die EVG übertragen werden sollen und wohl auch recht problemlos werden, resultiert natürlich aus deren Vorstandsnähe. Man kann auch verstehen, dass der Weselsky-Claus und auch viele GDL-Streikende drüber wütend sind, dass sie wochenlang kämpfen mussten, während die EVGlerInnen nun die von ihnen rausgeholten Verbesserungen einfach mitnehmen.

Dennoch ist es eine falsche, ja objektiv die Spaltung vertiefende Reaktion, sich darüber zu mokieren, dass alle Beschäftigten diese Verbesserungen erhalten.

Erst recht abstrus sind die großsprecherischen Worte von Hommel-Klaus, dass die EVG 2023 – also in eineinhalb Jahren (!) – endlich ernst machen würde mit einem harten Tarifkampf und diesen, gewissermaßen aus der Poleposition anzetteln würde, während die GDL noch in der Friedenspflicht verharrt.

Beide Beispiele zeigen, dass Claus und Klaus überhaupt keine Überlegung in Richtung auf gemeinsame, koordinierte Tarifkämpfe und Aktionen gegen den Bahnvorstand und die drohenden Umstrukturierungen verschwenden. Die Mitglieder beider Gewerkschaften sollten dieses Spiel nicht mitmachen, das für Tarifkämpfe wenig bis nichts taugt, bei verkehrspolitischen Auseinandersetzungen aber fatal zu werden droht. Vordergründig scheint es für Tarifkämpfe besser zu sein, wenigstens eine Gewerkschaft zu haben, die kämpfen will. Aber durch die Spaltung kann nie die volle Kampfkraft entfaltet werden. Bei verkehrspolitischen Auseinandersetzungen droht diese aber fatal zu werden.

Daher sollten klassenkämpferische GewerkschafterInnen für gemeinsame Tarifrunden, eine gemeinsame Festlegung der Forderungen, gemeinsame, von der Basis gewählte Tarifkommissionen und Streikleitungen eintreten, um so die EisenbahnerInnen praktisch, von unten zusammenzuführen.

Politische Angriffe und klassenkämpferische Einheit

Eine solche klassenkämpferische Einheit wird nicht nur für weitere Tarifrunden nötig. Allein schon wegen der Umstrukturierungen im Verkehrswesen, die auf die eine oder andere Weise  kommen werden: In Berlin steht die Zerschlagung der S-Bahn an, die nächste Regierung zerlegt möglicherweise die DB, das heutige Flugzeug-, PkW- und LkW-Aufkommen ist angesichts der Klimakrise für die Menschheit nicht zukunftsfähig. Dies wird zuvorderst auf dem Rücken der Beschäftigten passieren und mit dem Ausspielen der Beschäftigten unterschiedlicher Verkehrsunternehmen gegeneinander einhergehen. Es bräuchte also eigentlich eine Gewerkschaft, die den gesamten Bereich abdeckt und über ein politisches Programm zum Umbau des Sektors im Interesse der Beschäftigten und der gesamten Gesellschaft verfügt.

Aber auch aus der einfachen Sicht tariflicher Kämpfe stellt sich nach dem GDL-Streik doch mindestens die Frage: Hätten alle EisenbahnerInnen zusammen nicht mehr erreichen, nicht wenigstens die Inflation ausgleichen können? Und warum bestimmt stets die Gewerkschaftsführung, wann und wie viel gestreikt wird? Warum führt sie danach Geheimverhandlungen mit der DB so ganz ohne direkte Kontrolle derer, die den Streik verwirklichen? Und allgemein gesprochen: Warum werden Kämpfe nicht verbunden? Dass in Berlin GDL-KollegInnen beim Krankenhausstreik vorbeischauten, ging ja von der Basis aus, nicht von der Führung.

Gewerkschaften sind heute so, weil sie den Eigeninteressen und Positionen ihrer Führung mehr oder weniger direkt untergeordnet sind. Das zu ändern, das zumindest anzufangen zu diskutieren, sollten alle kämpferischen KollegInnen tun.

Es sollte die Frage von alternativen Betriebsgruppen bis hin zu gewerkschaftlicher Opposition diskutiert werden. Sie sollten in Kämpfen die Forderung nach direkter, demokratischer Kontrolle der Streikmaßnahmen (viele GDLerInnen wollten einen unbefristeten Streik), Verhandlungen und Abschlüsse aufwerfen. Eine solche Basisopposition sollte von Beginn an gewerkschaftsübergreifend organisiert sein, aus  GDLlerInnen und EVGlerInnen bestehen. Letztlich sollte eine demokratische, klassenkämpferische Reorganisation der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungskette angestrebt werden, wozu auch die KollegInnen von Flughäfen, U-Bahnen, Taxi-, Busunternehmen und LkW-Speditionen einbezogen werden.

Wer kontrolliert?

Abschließend: Es gibt weit mehr Themen als die Klassiker Lohn und Arbeitszeit, auch wenn sie immer mitschwingen, die die Arbeitsqualität beeinflussen und Unzufriedenheit erzeugen, die aber von Gewerkschaften wie Betriebsräten kaum und höchstens allgemein verklausuliert angesprochen werden. Vor allem die Qualität der Arbeit ist ein tägliches Ärgernis. EisenbahnerInnen wollen sicher und pünktlich fahren, ganz deckungsgleich mit dem Interesse der Fahrgäste, aber die Art und Weise, wie Bund, DB und andere private Schienenkonzerne die Eisenbahn – letztlich unter Einbeziehung von GDL und EVG – missgestalten, sabotiert unser tägliches Bemühen. Es sorgt für längere Fahrzeiten auf der Lok oder stressige Schichten auf Stellwerken, auf den Gleisen und in den Werkstätten.

Umgekehrt heißt das: Die Art und Weise, wie Verkehr, wie Bahnbetrieb stattfinden muss, sollte weder Politik, noch Konzernen und Gewerkschaftsbürokratien überlassen werden. Es sollte von den KollegInnen, die Verkehr machen, die das ganze Zugfahren ermöglichen, nicht nur diskutiert, sondern auch demokratisch geplant und kontrolliert werden. Immerhin machen wir Eisenbahn, und nicht die Teppichetagen, wie der Weselsky-Claus sagen würde. Tja, Eisenbahn machst du, werter Claus, aber auch schon lange nicht mehr und der häufige Verkehr mit der Teppichetage hat unverkennbar auch dich geprägt. Dahingehend seid ihr am Ende des Tages Brüder im Geiste, Claus und Klaus – ebenso wie das Schlagerduo von der Nordseeküste.




Nach dem Streik ist vor dem Streik – der Kampf der GDL geht weiter

Martin Suchanek, Infomail 1158, 13. August 2021

Der 48-stündige Streik der EisenbahnerInnen verdeutlicht eines. Die GDL und ihre Mitglieder sind kampfbereit und -fähig. Die Urabstimmung, an der rund 70 % der GDL-Mitglieder teilnahmen, erbrachte ein klares Votum: 95 % für den Streik. Dementsprechend wurde er auch von den Mitgliedern der Gewerkschaft befolgt.

Mit dem befristeten Streik legten die Beschäftigten rund 60 % des Regionalverkehrs der Deutschen Bahn und 75 % des Fernverkehrs lahm. Auch im Güterverkehr kam es zu massiven Ausfällen, auch wenn das Management versuchte, den Ausfall von Lieferungen durch Umstellen auf eigenen LKW-Transport (DB-Schenker) und durch andere Frachtunternehmen abzufedern.

Der Streik machte auch deutlich, dass die GdL dabei ist, von einer berufsständischen LokführerInnengewerkschaft zu einer Organisation zu werden, die alle Beschäftigtengruppen bei der DB AG umfasst. So folgten nicht „nur“ LokführerInnen dem Streikbeschluss, sondern auch Beschäftigte im Infrastrukturbereich des Unternehmens, darunter 6 Stellwerken und Teilen einzelner Werkstätten und Verwaltungen. Auch unter den ZugbegleiterInnen konnte die GDL ihre Mitgliederzahlen ausbauen.

Hetze vom Kapital

Wie nicht weiter verwunderlich brandmarken Kapital und Kabinett, bürgerliche Presse und allerlei „ExpertInnen“ den GDL-Streik als Anschlag auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, als Gefahr für die Erholung der deutschen Wirtschaft und sogar als Gefährdung der Gesundheit. Schließlich würden Fahrgäste in den wenigen fahrenden Zügen nur eng gedrängt Platz finden – und das in Coronazeiten. Manche HetzerInnen sprechen auch schon davon, dass während einer Pandemie am besten überhaupt nicht gestreikt werden dürfe.

Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Laschet positioniert sich ausnahmsweise klar und deutlich – gegen die GDL. Der Streik verstoße „gegen alle Regeln der Verhältnismäßigkeit“. Die Gewerkschaft nehme „Millionen in Haftung.“

Die AfD lässt zwar Verständnis für die GDL durchblicken – den Streik solle sie aber gefälligst verschieben.

Auch FPD, Grüne, SPD stellen sich gegen den Streik. Die Linkspartei verteidigt zwar das Streikrecht, zu einer bedingungslosen Unterstützung des Streiks mag sie sich aber auch nicht durchringen, da sich die GDL-Führung gegenüber der DGB-Gewerkschaft EVG unsolidarisch verhalte.

Schärfere Töne schlägt die DB AG selbst an. Deren Personalvorstand Seiler bezeichnete den Streikbeschluss als „Attacke auf unser Land“ – nicht nur auf die DB AG. „Völlig überzogen und völlig unangemessen“ wäre der Arbeitskampf gewesen. Außerdem hätte die GDL den Streik total kurzfristig angekündigt, so dass das arme Unternehmen überraschend getroffen worden wäre, das zudem ein tolles Angebot vorgelegt hätte.

Die Offerte der Bahn

Die Offerte der DB AG sieht eine stufenweise Lohnerhöhung von 3,2 % vor – mit einer Laufzeit von 40 Monaten (bis zum 30. Juni 2024). In diesem Jahr wäre eine Nullrunde vorgesehen, Zum 1. Januar 2022 soll eine erste Erhöhung um 1,5 % erfolgen, am 1. März 2023 sollen die Entgelte um weitere 1,7 % angehoben werden.

Faktisch bedeutet das Angebot einer Nullrunde für 2021 angesichts steigender Preise und Inflationsrate einen Reallohnverlust für die gesamte Laufzeit.

Dass die GDL und Tausende ihrer Mitglieder diese Offerte als Affront abgewiesen haben, spricht für und nicht gegen sie. Dass die größere DGB-Gewerkschaft bei der Bahn, die EVG, ein ähnliches Angebot im Austausch für Kündigungsschutz annahm (angesichts des Personalmangels stehen im betrieblichen Bereich sowieso keine betriebsbedingten Kündigungen an), stellt ihr ein vernichtendes Urteil aus. Nicht zu kämpfen bereit, immer am Puls des Bahnvorstandes verkauft die EVG-Bürokratie seit Jahren die Beschäftigten bei der Bahn AG. Nun wirft sie der GDL aggressives Abwerben von Mitgliedern vor – und stellt sich gegen den Arbeitskampf der KollegInnen! Ein solches Verhalten läuft faktisch auf Streikbruch hinaus und die Unterstützung der Unternehmensführung gegen die KollegInnen. Es ist ein gewerkschaftliches No-Go. Was immer man von der GDL sonst auch halten mag, ihre tariflichen Forderungen sind legitim. Ihr Recht auf Streik muss von allen kämpferischen GewerkschafterInnen ohne Wenn und Aber verteidigt werden. Ansonsten verkommt jede, für sich auch noch so berechtigte Kritik an der GDL zu einem bloßen Vorwand, den KollegInnen in den Rücken zu fallen, sich faktisch auf die Seite des Kapitals zu stellen.

Und die GDL?

Die GDL oder genauer deren Vorstand ist sicher kein gewerkschaftspolitisches Vorzeigeprojekt. Jahrzehntelang war sie eigentlich die willfährigere Standesgewerkschaft. Bis heute ist sie Teil des berufsständisch-reaktionären Beamtenbundes, der trotz allem noch immer deutlich rechts vom DGB steht. Die GDL-Spitze tritt reaktionären, vor allem rassistischen oder sexistischen Einstellungen und Verhaltensweisen in den eigenen Reihen kaum entgegen, sie toleriert sie vielmehr. Auch GDL-Chef Weselsky, seit Jahren CDU-Mitglied, fiel in der Vergangenheit mit behindertenfeindlichen Sprüchen, mit Opportunismus gegenüber der AfD und Populismus auf. Zudem lehnt die GDL den immer mehr um sich greifenden Wettbewerb und Privatisierungen auf der Schiene nicht grundsätzlich ab, sondern will diese allenfalls „gerecht“ ausgestaltet wissen (wobei sie sich darin kaum von der EVG abhebt).

Anders als die BürokratInnen in den Vorstandsetagen der DGB-Gewerkschaften, die oft aus Verwaltungen kommen und akademische Berufe erlernt haben, gibt Weselsky den polternden Funktionär und Vertreter der Beschäftigten, der sich für seine Leute einsetzt – und das mit einer gewissen Glaubwürdigkeit. Den Lokführer, den Bahner muss er nicht spielen. Er fuhr selbst Züge. Auch wenn er seit gut drei Jahrzehnten freigestellter Funktionär der GDL ist, spricht er den KollegInnen aus dem Herzen, ist er „einer von ihnen“ geblieben.

Natürlich sollte niemand die Radikalität der GDL-Spitze übertreiben. So wenig kompromissbereit, wie der Bahn AG tut, ist sie natürlich nicht.

Die ursprüngliche Tarifforderung, die unter anderem eine Gehaltserhöhung von 4,8 % und eine Corona-Prämie von 1300 Euro vorsah, zog die GDL selbst zurück. Sie orientierte ihre Forderungen bei den letzten Verhandlungen am Abschluss im öffentlichen Dienst 2021: 3,2 % Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von 32 Monaten und eine einmalige Corona-Prämie von 600 Euro. Außerdem sollte ein erster Schritt der Lohnerhöhung schon für 2021 gelten, also keine Nullrunde in diesem Jahr stattfinden. Die Bahn AG wies diese schon reduzierten Forderungen zurück – und auch die EVG erklärte sie als „überzogen“. Schließlich hatte sie schon einen schlechteren Vertrag abgeschlossen und fürchtet, weiter Mitglieder an die GDL zu verlieren, falls diese erfolgreich sein sollte.

Warum wird der Kampf so heftig geführt?

Dass die GDL den Tarifkampf so heftig führt, hat zwei wesentliche Ursachen. Erstens stellt der Streik eine Reaktion auf den Druck aus der Basis dar, aus der eigenen Mitgliedschaft. Wer diese einfache Tatsache nicht akzeptieren will, musste nur an Versammlungen der Streikenden teilnehmen. Empörung und Kampfbereitschaft lagen dabei förmlich in der Luft.

Zum anderen fürchtete die GDL zu Recht, durch das Gesetz der sog. Tarifeinheit bei der DB AG an die Wand gedrückt zu werden. Dieses sieht vor, dass in jedem Betrieb nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft ein Recht auf Abschluss eines Tarifvertrags hat und auch entsprechend nur diese das Streikrecht wahrnehmen darf. Das Gesetz wurde, so erklärte die schwarz-rote Bundesregierung 2015, kurz nach dem letzten landesweiten GDL-Streik, offen, notwendig, damit kleine Spartengewerkschaften das Land nicht mehr lahmlegen könnten. Die sog. Tarifeinheit kommt also einer Einschränkung des Streikrechts gleich – und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wichtige DGB-Gewerkschaften, allen voran die IG Metall und die EVG, diese unterstützten, ja regelrecht forderten, weil sie sich davon die Sicherung ihrer Stellung in zentralen Betrieben und die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz erhofften. Neben den Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD stimmte damals auch die FDP mehrheitlich für das Gesetz, Grüne und Linkspartei lehnten es ab.

Seine Umsetzung wurde bei der Bahn über mehrere Jahre gestreckt, nun soll es kommen. Erschwert wird dabei die rechtliche Lage ironischer Weise durch die neoliberalen Bahnreformen und Umstrukturierungen des Unternehmens selbst.

Da dieses in viele Betriebsteile und Teilunternehmen untergliedert ist, gibt es natürlich auch Bereiche, wo die GDL über eine Mehrheit verfügt. In den meisten Fällen ist zwar (noch) die EVG die Mehrheitsgewerkschaft, in etlichen sind die Verhältnisse aber umstritten. Das heißt, ein Arbeitskampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen inkludiert nicht nur eine Konkurrenz zwischen beiden Gewerkschaften bei der Bahn, er steht immer auch auf der Kippe zur Illegalisierung, und es sind letztlich immer die bürgerlichen Gerichte, die im Streitfall entscheiden, welche Gewerkschaft tariffähig und damit streikfähig ist.

Daher geht es bei dem aktuellen Arbeitskampf um mehr als „nur“ Löhne, Prämien und Arbeitsbedingungen. Hinter dem Konflikt tritt mehr oder weniger offen zutage, dass Bahnvorstand, Regierung und UnternehmerInnenverbände, sekundiert von der bürgerlichen Presse und vor allem den Boulevardblättern wie Bild mit dem GDL-Streik auch gleich das Streikrecht angreifen. Fatal ist in dieser Lage, dass die Führung der größeren Gewerkschaft, der EVG, die Seite des Vorstandes ergreift. Der GDL wirft sie unlautere Abwerbekampagnen vor und böswillige Angriffe auf EVG-Mitglieder bis hin zum Mobbing. Statt den Arbeitskampf zu unterstützen, hat die EVG sogar einen Telefonnotruf für Beschäftigte eingerichtet, die sich von Mitgliedern einer anderen Gewerkschaft „angemacht“ fühlen. Die GDL wiederum kämpft bei der Bahn um ihre Existenz. Wenn sie nicht mehr tariffähig – und damit nicht mehr streikfähig – sein sollte, wäre sie als gewerkschaftliche Vertretung erledigt. Natürlich kämpft sie dabei mit harten Bandagen, aber um ihre Existenz geht es tatsächlich.

Angriffe in den Betrieb getragen

Der reaktionäre Charakter des Tarifeinheitsgesetzes tritt hier offen zutage. Ein Angriff auf die gesamte ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung wird zur Zeit durchgezogen. Sollte die GDL verlieren, so würde das letztlich auch auf die Durchsetzung der Tarifeinheit bei der Bahn und die Demontage einer kleineren, in letzten Jahren kämpferischer gewordenen Gewerkschaft hinauslaufen.

Hoch problematisch für den Kampf ist freilich, dass es bislang der DB-Geschäftsführung und der bürgerlichen Politik gelungen ist, den Streik der GDL und den politischen Konflikt auch zu einer Konfrontation innerhalb der Belegschaft zu machen, diese effektiv zu spalten. Daran haben in den letzten Jahren sowohl die EVG-Bürokratie, aber auch die GDL-Führung tatkräftig mitgewirkt. Beiden geht es letztlich darum, vor allem ihren eigenen Laden, „ihre“ Gewerkschaft zu halten und zu profilieren – und dabei scheuen beide nicht vor Fakes und stetiger Demagogie gegen die andere Gewerkschaft zurück. Beide wollen mehr vom Trog der SozialpartnerInnenschaft und von den Pfründen der Mitbestimmung.

Aber anders als die EVG-Führung sieht sich die GDL zur Zeit aufgrund des Drucks von unten und aufgrund ihrer prekären Lage gezwungen, zum Streik zu greifen, um ihre Interessen durchzusetzen – und das macht sie, ob gewollt oder nicht, zum Staatsfeind, zum Konjunkturschädling und zur Spaßbremse für Urlaubsreisende.

Streikperspektive und GDL-Spitze

Der GDL-Vorstand hat mit dem Arbeitskampf eine Konfrontation begonnen, deren Gesamtdimension er selbst nur erahnt. Hinter der rein tariflichen, gewerkschaftlichen Auseinandersetzung um höhere Entgelte verbirgt sich eine größere politische Auseinandersetzung. Die GDL-Führung will aber den Kampf so führen, als wäre er letztlich nur eine ganz normale Tarifrunde. Das mag ihr bis zu einem gewissen Grad auch gelingen, da ihre Mitglieder über eine beachtliche Streikfähigkeit verfügen, also wirklich wirtschaftlichen Druck ausüben können. Doch es ist auch klar, dass die GDL-Spitze hofft, den Kampf nicht zu superweit treiben zu müssen. Der 48-stündige Streik war letztlich darauf berechnet, die Bahn AG zu einer Besserung des Angebots zu bewegen und somit die GDL als anerkannte Tarifpartnerin zumindest für die nächste Zukunft zu stärken. Dafür ist ihre Führung sicher noch zu weiteren Zugeständnissen bereit. Solange der Abschluss besser als jener der EVG ausfällt und das auch für die Beschäftigten leicht ersichtlich ist, kann die GDL-Führung einen Kompromiss als hart errungenen Erfolg verkaufen. Sicherlich kann dieser Taktik durch einen weiteren befristeten Streik noch einmal Nachdruck verliehen werden, wie ihn Wesselsky für die kommenden Woche angekündigt hat, sollte der die DB AG ihr Angebot nicht nachbesser.

Die Taktik hat jedoch eine Schwäche. Was passiert, wenn der Bahnvorstand nicht nachgibt, wenn er die Konfrontation sucht, wenn er von der GDL fordert, alle ihre Karten auf den Tisch zu legen?

Hier zeigen sich die Schwächen der rein gewerkschaftlichen Taktik. Da die GDL die Konfrontation im Grunde rein betrieblich begreift, kümmert sie die öffentliche Meinung nicht oder nur wenig. In einer bestimmten Hinsicht stellt das zwar auch eine Stärke dar – nämlich insofern sie sich von der Hetze der bürgerlichen Presse und von PolitikerInnen wenig beeindruckt zeigt.

Doch das darf uns gegenüber der enormen Schwäche dieser Politik nicht blind machen. Der GDL-Führung ist im Grund nämlich auch egal, was andere Lohnabhängige von ihrem Arbeitskampf denken. So gab es beim Streik (und auch bei früheren Streiks) keine Flugblätter, keine Öffentlichkeitsarbeit, um PendlerInnen und Reisende anzusprechen, um deren Verständnis und Solidarität zu werben und die Lügen und Halbwahrheiten der Boulevardblätter und der sog. Qualitätspresse zu kontern.

Auch gegenüber den Bahnbeschäftigten, die nicht bei der GDL sind, also insbesondere gegenüber den EVG-Mitgliedern, nimmt die GDL-Spitze eine politisch passive Haltung ein. Natürlich freut sich die kleinere Gewerkschaft über jeden Übertritt. Sie versucht aber überhaupt nicht, die Basismitglieder der EVG und kämpferische Mitglieder, die auch von Bürokratie und SozialpartnerInnenschaft die Schnauze voll haben, anzusprechen und so in die EVG zu wirken. Dazu müsste die GDL nämlich selbst eine Politik verfolgen, die darauf zielt, die Kampfeinheit aller Beschäftigten herzustellen, und nicht nur hoffen, dass sich ihr Apparat als attraktiver erweist als jener der EVG. Diese Politik hat jedoch dazu geführt, dass beide Bürokratien die eigenen Reihen recht dicht geschlossen halten konnten. Zahlreiche EVGlerInnen – auch an der Basis – hassen die GDL und die GDLerInnen die EVG. Das hilft den Spitzen der jeweiligen Gewerkschaft. Vor allem aber hilft es dem Bahnvorstand, der sich immer als verhandlungsbereit präsentiert und genüsslich die beiden Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Wie weiter?

Diese Beschränkungen und der rein gewerkschaftliche Charakter der Politik der GDL-Führung ändern freilich nichts daran, dass alle GewerkschafterInnen – auch alle EVG-Mitglieder – den Arbeitskampf unterstützen müssen! Kritik an Weselsky und Co. ist gut und wichtig – aber das darf nicht zum Vorwand werden, sie nicht zu unterstützen, wenn sie einen Schritt in die richtige Richtung machen. Ein Sieg der GDL wäre letztlich einer für alle EisenbahnerInnen, alle Lohnabhängigen, weil er zeigt, dass Verbesserungen möglich sind, wenn wir wirklich kämpfen.

Zugleich braucht es aber auch eine Politisierung des Arbeitskampfes, weil wir damit rechnen müssen, dass er sich früher oder später zu einem politischen Kampf entwickelt (oder in einem Kompromiss endet, der die entscheidende Konfrontation allenfalls aufschiebt).

Wir treten daher dafür ein, Nägel mit Köpfen zu machen. Die großartige Streikbeteiligung hat gezeigt, dass der Kampf geführt und länger gehalten werden kann. Zugleich muss er politisiert werden, in die Reihen der gesamten Belegschaft und ArbeiterInnenklasse getragen werden.

Das heißt für alle Kräfte der ArbeiterInnenbewegung, für die Mitglieder von Linkspartei und SPD, aber auch für die „radikale“ Linke oder die Umweltbewegung, dass sie diesen Arbeitskampf ohne Wenn und Aber unterstützen müssen. Damit ein Streik der GDLerInnen siegen kann, damit die Gewerkschaft in einer politischen Konfrontation erfolgreich sein kann, können und müssen wir auch die Initiative ergreifen und Solidaritätskomitees aufbauen, die die Bevölkerung aufklären und deutlich machen, dass eine Verbesserung der Einkommen und Arbeitsbedingungen der Beschäftigen auch in ihrem Interesse liegt und ein Ausgangspunkt für einen gemeinsame Kampf gegen Lohnraub, Flexibilisierung, Privatisierungen und prekäre Arbeitsbedingungen werden kann.

  • Unterstützt den Streik der GDL! Volle Mobilisierung und unbefristeter Streik für die Forderungen – keine weitere Rücknahmen und Zugeständnisse!
  • Kein Einsatz von BeamtInnen und anderen Beschäftigten als StreikbrecherInnen!
  • Regelmäßige Streikversammlungen zur Koordinierung, Ausweitung und demokratischen Kontrolle des Kampfes!
  • Aufbau von Solidaritätskomitees in allen Gewerkschaften und allen Städten! Unterstützung dieser Komitees durch Linkspartei und SPD-Gliederungen!
  • Nein zum Tarifeinheitsgesetz und allen Einschränkungen des Streikrechts!
  • Kursumkehr in allen DGB-Gewerkschaften und Unterstützung des GDL-Streiks! Aufbau einer Basis- und Solidaritätsbewegung, die dies erzwingt!

Am kommenden Dienstag, den 17.8., findet eine Kundgebung der GDL vor dem Bahntower am Potsdamer Platz / Berlin statt – unterstützt diese!




Tarifverhandlungen bei der DB AG: EVG ruft zu Warnstreik auf

Leo Drais, Infomail 1033, 9. Dezember 2018

Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) hat die seit rund 2 Monatenlaufenden Tarifverhandlungen mit der Deutschen Bahn AG abgebrochenund für den kommenden Montag (10. Dezember 2018) mit Warnstreiks gedroht. Der Staatskonzern hatte zuletzt drei Tage parallele Verhandlungen mit der EVG und der Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GdL) geführt. Wie kam es zu dem Abbruch?

Hintergrund und Forderungen

Dass nun ausgerechnet die EVG mit Warnstreiks droht, überrascht zunächst. Im letzten Jahrzehnt standen Streiks und massive Auseinandersetzungen meist nur in Verbindung mit der GdL, zuletzt 2015. Die GdL vertagte diesmal die Verhandlungen auf kommenden Dienstag, während die EVG den Warnstreik wählt. Das hat vermutlich mehrere Gründe.

Zunächst einmal erfüllt der Vorschlag der DB, vertreten durch Personalvorstand Martin Seiler (Bahnmanagement), nicht die Vorstellungen der Gewerkschaft. EVG und GdL fordern 7,5 % mehr Lohnüber die nächsten zwei Jahre, demgegenüber bietet der Konzern zwei Lohnerhöhungen von 2,6 % und 2,5 % über die nächsten 29 Monate. Laut der stellvertretenden EVG-Vorsitzenden Regina Rusch-Ziemba sinddas 1 % zu wenig (Frankfurter Rundschau). 2,6 % plus 2,5 % ergibtaber 5,1 % – scheinbar ist die EVG zu Abstrichen bereit. Daneben hat die EVG einen Forderungskatalog vorgelegt, der u. a. die Ausweitung des Wahlmodells (KollegInnen entscheiden, ob sie mehr Geldoder mehr Urlaub haben wollen), Bonuszahlungen, 150 Euro mehr für Azubis und Forderungen zur Digitalisierung beinhaltet.

Mit dem Warnstreik hat die EVG nichts zu verlieren. Möglich ist, dass die Bahn noch einen Schritt auf die Forderungen zugehen und dieser Vorschlag dann angenommen wird. Dadurch könnte die EVG-Bürokratie ihr Profil gegenüber der „Konkurrenz“ durch die GdL schärfen. Während die GdL (Vertretung für rund 36.000 MitarbeiterInnen, vor allem LokführerInnen und Zugbegleitdienst) in den letzten durch Streiks als kämpferisch wahrgenommen wurde, beschäftigte sich die EVG (Vertretung für rund 160.000 MitarbeiterInnen) vor allem damit, gegen die GdL zu hetzen. Die EVG wird unter der Belegschaft oft als verlängerter Arm des Vorstandes wahrgenommen, der die Folgen der Bahnreform, wenn auch wortkritisch, mitverwaltet. Damit haben die ArbeiterInnen durchaus Recht, denn wie jede ArbeiterInnenbürokratie dient auch die der EVG der Kontrolle und Befriedung des Proletariats. Gleichzeitig bedarf diese Befriedung aber nicht nur der Mitarbeit in der Konzernführung, der Belegschaft muss auch eine scheinbare Bereitschaft zum Kampf signalisiert werden, insbesondere wegen der„Konkurrenz“ zur GdL. Dies kann eine weitere Motivation hinter der aktuellen Streikankündigung sein.

Kampfperspektive

Um der Spaltung der EisenbahnerInnen zwischen GdL und EVG entgegenzuwirken und die Kontrolle über den Arbeitkampf in die Hände der ArbeiterInnen zu legen, müssen Vollversammlungen vor und besonders nach dem Warnstreik gefordert werden. Die GdL muss zur Beteiligung an diesen und an den Kampfmaßnahmen aufgefordert werden. Die KollegInnen müssen auf den Vollversammlungen selbst darüber abstimmen, welche Forderungen und Führung sie dem Arbeitskampf geben wollen. Es darf keine Verhandlungsergebnisse, keinen Abbruch und kein Aussetzen von Aktionen ohne vorherige Zustimmung der Belegschaft geben. Im Zuge dessen sollte zudem eine maximale Laufzeit des Tarifvertrages von 1 Jahr gefordert werden, da so die Friedenspflicht verkürzt und die Aktivität erhöht wird. Außerdem kann so schneller auf Preissteigerungen, Inflation etc. reagiert werden.

Die EVG wird nicht nur die bei DB Fernverkehr oder DB Regio beschäftigten Zugpersonale und InstandhalterInnen zum Streik aufrufen. Auch die FahrdienstleiterInnen und DisponentInnen der DB Netz AG werden mobilisiert, welche den Zugverkehr insgesamt steuern und deren Zustimmung für jede Fahrt erforderlich ist. Damit wird der Streik auch die Eisenbahnverkehrsunternehmen treffen, die nicht zur DB AG gehören. Dementsprechend erhöht sich dadurch der Druck auf den Konzern.

Der Warnstreik selbst wird nur über wenige Stunden andauern. Der Fahrplan wird dadurch jedoch noch bis zum nächsten Tag in Unordnung gebracht.

DerArbeitskampf der EisenbahnerInnen verdient Solidarität und Unterstützung. Ziel des Warnstreiks und potentieller Streiks muss sein, dass die Forderungen von GdL und EVG voll umgesetzt werden. Das heißt 7,5 % mehr Lohn und nicht 5,1 %! Wenn es zu Streiks kommt, werden Konzernspitze, bürgerliche PolitikerInnen sowie Springer-Presse und Co. sofort die betroffenen Fahrgäste gegen die Beschäftigten aufhetzen. Dem müssen sich die EVG, aber auch der DGB durch breite Aufklärung entgegenstellen. Kämpferische Mitglieder von Linkspartei und SPD müssen fordern, dass sich ihre Parteien mit den Streikenden solidarisieren und vor den Karren der UnternehmerInnenhetze spannen lassen. Aufklärung und Solidarisierung sind notwendig, um die Forderungen der Gewerkschaften zu verteidigen – nicht nur, weil sie wie allen anderen Lohnabhängigen von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen sind.

Der Beruf der BetriebseisenbahnerInnen ist auch mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden. Sie sollen und wollen Fahrgäste und Güter sicher und pünktlich transportieren – trotz eines massiven Personalmangels von über 5.000 Stellen (mit Überstunden, Schichtwechseln usw. als Folge), schadhafter Infrastruktur, Störungen und mangelhafter Fahrzeuge. Sie tragen neben den Reisenden in erster Linie die negativen Folgen der Bahnreform. Deswegen muss eine solche Aufklärung auch die Bahnreform anprangern und die entschädigungslose Rückverstaatlichung der gesamten Branche in Verbindung mit einer demokratischen ArbeiterInnenkontrolle fordern. (Siehe dazu: Deutsche Bahn – Unpünktlichkeit und Bahnreform)

Um dies zu erreichen, ist auch der Kampf für eine Neuorganisierung der Gewerkschaften EVG, GdL, verdi und Co. auf antibürokratischer, klassenkämpferischer, basisdemokratischer Grundlage erforderlich. Ziel muss eine Gewerkschaft Transport/Logistik sein, die auch LKW-FahrerInnen oder Amazon-Beschäftigte umfasst. Solch eine Gewerkschaft, kontrolliert von den Beschäftigten, könnte ein Garant gegen den Streikbruch sein und sich als Vorkämpferin für eine Neuorganisierung des Verkehrswesens nach einem gesamtgesellschaftlichen, demokratischen Plan erweisen, die auch gänzlich im Interesse der Fahrgäste wäre.




Deutsche Bahn: Unpünktlichkeit und Bahnreform

Leo Drais, Neue Internationale 234, Dezember 2018/Januar 2019

Am 1. Januar 2019 wird sich die Umsetzung der Bahnreform zum 25. Mal jähren. Zum Jahresbeginn 1994 wurde durch Inkrafttreten des Eisenbahnneuordnungsgesetzes aus der Deutschen Bundesbahn die Deutsche Bahn AG. Zu feiern gibt es dabei freilich nichts. Heute bestimmen vor allem Unpünktlichkeit, Ineffizienz und Unzuverlässigkeit das Bild der Eisenbahn – trotz neuer Fahrgastrekorde (11,5 Mrd. Fahrgäste 2017). Wie kommt es dazu?

Von der Behörde zur AG

Die parlamentarische Debatteum eine Reform der Deutschen Bundesbahn, welche nach dem Mauerfall auch die Deutsche Reichsbahn (DDR) aufgenommen hatte, begann 1989. Als Grund wurden mehrere Aspekte benannt:

  • Die Bundesbahn galt als ineffiziente, bürokratische Behörde, die unfähig sei, auf die „dynamischen Anforderungen des Marktes“, also die Konkurrenz durch Straßen- und Luftverkehr, angemessen zu reagieren. Der Anteil der Eisenbahn an der Verkehrsleistung fiel zwischen 1950 und 1990 im Güterverkehr von 56 auf 21 Prozent, im Personenverkehr von 36 auf 6 Prozent.

  • Weiterhin hatte die Staatsbahn zur Aufrechterhaltung eines funktionierenden Bahnbetriebs massiveSchulden angehäuft (1993: 66 Milliarden D-Mark), obwohl sie mit dem Aufstieg des Individualverkehrs seit den 1970er Jahren eine massive Stilllegung „unwirtschaftlicher“ Nebenbahnen betrieb. Trotzdem fuhren Bundesbahn und Reichsbahn 1993 einen Verlust von rund 16 Milliarden D-Mark (etwa 8,2 Milliarden Euro) ein. Demgegenüber wurde im Rahmen der Bahnreform vorgegeben, gewinnbringend oder zumindest selbstfinanzierend Eisenbahnverkehr zu betreiben. Als neoliberales Allheilmittel wurde auch hierfür der Wettbewerb angepriesen.

  • Die Bahnreform sollte Vorgaben der EU zur Schaffung eines europäischen Eisenbahnmarktes erfüllen. Dieser beinhaltete zwar auch fortschrittliche Projekte wie die langfristige Herstellung einer technischen Interoperabilität zwischen den unterschiedlichen Bahnsystemen, indem bspw. ein einheitlicher europäischer Zugfunk eingeführt wurde. Zugleich verschärften sie jedoch die neoliberale Öffnung der Eisenbahnen für die Märkte, so dass diese in erster Linie nicht zur Beförderung der Fahrgäste, sondern dem Einfahren von Profit dienen sollten.

Die Umsetzung dieser Motive erfolgte durch drei wesentliche Punkte. Erstens, die Umwandlung der vormaligen Staatsbahnen in die neue, privatwirtschaftlich ausgerichtete Deutsche Bahn AG, welche sich jedoch weiterhin ganz oder mehrheitlich (je nach Gesellschaft) im Besitz des Staates befindet. Die Schulden der Bundes- und Reichsbahn wurden dem neuen Unternehmen zwecks „Marktfähigkeit“ erlassen. Zweitens wurden die Netze unter dem Begriff „diskriminierungsfreier Netzzugang“ für private Transportunternehmen geöffnet. Das DB-Tochterunternehmen DB Netze muss also z. B. DB Cargo (Tochterunternehmen Güterverkehr) genauso behandeln wie alle anderen Unternehmen, die Güter auf der Schiene befördern wollen. Somit sind die Netze dem Privatkapital zum Befahren geöffnet worden. Drittens wurde die Finanzierung des Nahverkehrs auf der Schiene zur Aufgabe der Bundesländer erklärt, die seitdem die Erbringung der Verkehrsleistung ausschreiben und an den billigsten Anbieter vergeben.

Konkurrenz

Heute sagen selbst bürgerliche Medien (z. B. FAZ, Welt) und VertreterInnen (vor allem die Grünen), die die Bahnreform einst als Befreiung von einer Haushaltslast gefeiert hatten, dass diese gescheitert sei – was sogleich dazu führt, nach einer neuen Zerschlagung der DB und einer Bahnreform 2.0 zu rufen (Anton Hofreiter, Grüne). Zu groß sind die Ausfallquoten, Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit. Laut Stand November 2018 sind nur 20 % aller Fernverkehrszüge der DB ohne Mängel einsetzbar, die Pünktlichkeit liegt bei 71,8 %, an manchen Orten sogar beiunter 60 %. Das liegt weit unter den angepeilten 82 %, die ohnedies keinen Gipfel der Pünktlichkeit darstellen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind unmittelbar mit der Bahnreform und dem Kapitalismus verbunden.

Die neoliberale Auffassungder Verkehrsfrage ist, dass die verschiedenen Verkehrsträger (Straße, Schiene, Luft, Wasser) in Wettbewerb zueinander treten und daraus das bestmöglichste Angebot erwachse. Gleichzeitig sollen sich die Verkehrsträger bestmöglichergänzen. Dass die Beschwörung des freien Wettbewerbs noch nicht mal die neoliberalen InteressensvertreterInnen im Verkehrsministerium zufriedenstellt, zeigt sich an vermehrten, halbherzigen Eingriffen in eben diesen Wettbewerb seitens der Politik. So gründete z. B. der Verkehrsminister Scheuer (CSU) am 9. Oktober 2018 das Zukunftsbündnis Schiene mit Lobbygruppen aus der Bahnbranche.

Die kapitalistische Realitätverhält sich anders als die neoliberale Wunschvorstellung von einer durch Konkurrenz angetriebenen, gut funktionierenden Bahn. Die unterschiedlichen Verkehrsträger ergänzen sich unter den Vorzeichen des kapitalistischen Marktes allenfalls teilweise, z. B. im Containerverkehr Schiff-Eisenbahn-Lkw. In manchen Bereichen stehen sie fast gänzlich außer Konkurrenz, wie z. B. das Flugzeug im Interkontinentalverkehr. Das System Eisenbahn steht im Kapitalismus vor einem strukturellen Problem, was letztlich dazu führt, sich nur schwer gegen andere Verkehrsmittel behaupten zu können: Die Infrastruktur ist betrieblich die aufwendigste (finanzieller Nachteil gegenüber Auto und Flugzeug), es gibt kaum Haustüranbindungen (Nachteil gegenüber Auto) und auf den meisten Strecken ist der Zug zu langsam (Nachteil gegenüber Flugzeug). Zudem begünstigt der Staat den Flugverkehr (keine Mehrwertsteuer auf Auslandsflüge, vergleichsweise niedrige Kerosinsteuer). Der Straßenverkehr wird dank einer Autoindustrie als Kernelement des deutschen Kapitals bevorzugt. Die Konkurrenz wurde hier durch Liberalisierung des Fernbusmarktes und niedriger Lkw-Maut gestärkt. Soviel zur Konkurrenz zwischen den Verkehrswegen.

Wenn von der „Bahn“ gesprochen wird, so wird dieses Wort zumeist als Synonym für die DB AG verwendet. Tatsächlich führte die Bahnreform jedoch dazu, dass heute über 300 unterschiedliche Unternehmen Züge fahren lassen (darunter auch viele Tochtergesellschaften der DB AG). Doch auch die anderen Unternehmen sind oft Teil großer Monopole wie Netinera Deutschland GmbH (Tochter der italienischen Staatsbahn) oder Eigentum der Bundesländer. Es gibt dementsprechend auch eine massive Konkurrenz auf der Schiene selbst, die ihrerseits vor allem im Nahverkehr zu massiven Qualitätseinbußen geführt hat. Da die Bundesländer und Kommunen – ihrerseits getrieben von klammen Kassen und Schuldenbremse – den Betrieb an den billigsten Anbieter vergeben, versucht dieser, seinen Profit durch Einsparungen, also Kostenreduktion bei Personal, Wartung, Service etc. zu sichern. Sehr häufig sind die Wechsel der Nahverkehrsanbieter mitentsprechenden Startschwierigkeiten verbunden (Bsp: vlexx auf der Strecke Frankfurt-Saarbrücken, DB Hamburg-Sylt, NEB Berlin-Küstrin/ Kostrzyn, …).

Mehdorns Erbe

Alle oben genannten Konkurrenzfaktoren führen letztlich zum Niedergang des Systems Bahn. Einer, deres mit dem profitgerechten Zurechtstutzen der DB besonders ernst meinte, war Hartmut Mehdorn, Vorstandsvorsitzender der AG von 1999 bis 2009.

Das Erbringen von Verkehrsleistungen wirft im Vergleich zur industriellen Güterproduktiongenerell wenig Profit ab. Daher versuchte die DB AG, den Gewinn herbeizusparen. Auch wenn sie zum Großteil (noch) Staatseigentum ist, so ist sie zur„Eigenfinanzierung“ verpflichtet (heute wächst freilich wieder der Schuldenberg, bis 2023 wohl auf bis zu 25 Mrd. Euro). Um die „Bahn“ durch einen Börsengang finanzieren zu können, wurde sie unter dieser Zielsetzung börsenreif gespart. Die Gewinnerwartungen stiegen, die Zuverlässigkeit brach ein. Erst die Krise von 2008 setzte den Börsenbestrebungen ein jähes Ende. Nichtsdestotrotz wirken die Folgen bis heute nach:

  • Über 10 Jahre wurde kaum betriebliches Personal ausgebildet, MitarbeiterInnen wurden aus der Bahnherausgedrängt. Heute fehlen über 5.000 Fachkräfte allein im Bahnbetrieb selbst, ein Rückstand der aufgrund des hohen Durchschnittsalters kaum aufholbar ist.

  • Von 1994 bis 2006 wurde das Streckennetz der DB von 40.385 Kilometer auf 34.128 Kilometer verkleinert (vor allem im ländlichen Bereich) und wurden etwa 13.847 Kilometer Gleise sowie 58.616 Weichen und Kreuzungen abgebaut. Investitionen in den Erhalt der Infrastruktur sind unzureichend erfolgt. Der einzige wirklich große, aber dennoch unzureichende Ausbau findet seither im Schnellfahrnetz statt oder es wird massiv Geld in bahntechnische Unsinnigkeiten wie das Prestigeobjekt Stuttgart 21 gepumpt, das sogar der aktuelle Vorstand mittlerweile als Fehler bezeichnet.

  • Subventionen wurden und werden dazu verwendet, die DB AG zum Global Player aufzustellen, statt diese indas Netz hierzulande zu leiten: Regionalverkehr in England, Güterzüge in der Wüste und, um Deutschlands imperialistischen Platz auf der Welt zu vertreten, auch fleißige Mitarbeit bei Chinas „Neuer Seidenstraße“.

  • Zudem ist der Eisenbahnbetrieb in Deutschland ineffizient organisiert. So verschlingen die Vergabeverfahren im Regionalverkehr massive Ressourcen durch Gerichte und Ämter. Die Bundesnetzagentur und das Eisenbahnbundesamt stehen in ihrer Bürokratie in nichts der Bundesbahn nach. Das Schaffen unterschiedlicher Unternehmen innerhalb der DB erzeugt einen riesigen, sinnlosen Verschiebebahnhof von Mitteln innerhalb des Konzerns selbst – Mittel, die im Betrieb fehlen.

Proletariat und Verkehr

Die Aufzählung ließe sich gewiss noch fortsetzen, zeigt aber bereits, wo die grundlegenden Probleme der„Bahn“ heute ganz direkt herkommen. Dementsprechend braucht es anstelle von noch mehr Wettbewerb und Konkurrenz mehr Personal, Infrastruktur, Fahrzeuge und zwar deutlich besser ausgebildet bzw. gewartet als heute. Das aber ist unter den Vorzeichen eines kapitalistischen Staates und einer privatwirtschaftlichen, bürokratischen Ausrichtung trotz verstärkter Investitionen eine Aufgabe von Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, die zudem aufgrund der strukturellen Stellung der Bahn im deutschen Verkehrswesen nur zu weiteren Schulden führen wird. Auch eine Bahnreform 2.0, das Programm DB 2020 oder das Zukunftsbündnis Schiene werden wohl kaum zu durchschlagenden Erfolgen in puncto Zuverlässigkeit führen.

Eine dauerhafte Zuverlässigkeit im hiesigen Bahnsystem kann nur durch eine gesellschaftliche Neuorganisation des Verkehrssystems gewährleistet werden, die den Ressourcen verschwendenden und umweltzerstörerischen Individualverkehr (Personen wie Fracht) sowie Kurz- und Mittelstreckenflüge zurückdrängen und sicher eine Ausweitung des Bahnverkehrs vorantreiben würde.

Den Kampf um gute Betriebsqualität und damit auch um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zuführen, das wäre dringende Aufgabe der Gewerkschaften bei der Bahn und im Transportwesen. Doch die GdL und EVG führen diesen Kampf allenfalls durch Appelle an die Konzernspitze und die Politik. Aufgrund dieses bürokratisch festgefahrenen Verhaltens ergibt sich die strategische Notwendigkeit des Kampfes um eine Branchengewerkschaft Transport/Logistik, die die Beschäftigten der gesamten Branche und aller Verkehrswege und Anbieter umfassen muss. Sie muss nicht nur demokratisch vereinheitlicht aufgebaut sein, um die ganze Branche zu erfassen, sie braucht vor allem eine politische Neuausrichtung, eine klassenkämpferische Politik und klare politische, gesellschaftliche Zielsetzungen.

Das würde erstens dazu dienen, gegenseitigen Streikbruch zu verhindern, zweitens aber vor allem, einkoordiniertes, gemeinsames Vorgehen zu ermöglichen – in Deutschland, aber und vor allem auch europaweit. Solch eine Branchengewerkschaft müsste also auch international mit anderen Gewerkschaften vereint werden. Sie müsste für die entschädigungslose Rückverstaatlichung der gesamten Eisenbahn wie aller anderen privatisierten Transportunternehmen unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle eintreten. Diese ArbeiterInnenkontrolle kann dann in die Richtung eines gesellschaftlichen, nach einem demokratischen Plan organisiert Verkehrs weisen, in dem der Spruch „Pünktlich wie die Eisenbahn“ wieder ohne Ironie gilt.