Super Mario als Retter des italienischen Kapitalismus?

Aventina Holzer/Martin Suchanek, Infomail 1149, 10. Mai 2021

Die Konzentrationsregierung unter dem Premierminister und ehemaligen EZB-Chef Draghi erscheint als letzter Ausweg, um einen Kollaps des italienischen Kapitalismus zu verhindern, das Land aus der Krise zu führen und die EU zu retten.

Seit Jahren ist Italien das Sorgenkind Europas gewesen. Eine stetig steigende  Staatsverschuldung, Rückgang der industriellen Produktion, Verschuldung der Unternehmen und privaten Haushalte plagen das Land. Pandemie und Krise haben diese Lage noch einmal dramatisch verschärft. Das Gesundheitssystem brach faktisch zusammen: 122.470 Menschen verstarben bis zum 8. Mai 2021.

Die Staatsverschuldung betrug Ende 2020 rund 160 % des BIP (Bruttoinlandsprodukt), das Haushaltdefizit 8,8 % der Wirtschaftsleistung. Die Wachstumsraten dümpeln seit 2008 am unteren Ende der EU-Staaten. Im letzten Jahr schrumpfte das BIP um 8,9 %. Mit dem Einbruch verschärften sich auch die historisch gewachsenen, strukturellen Unterschiede zwischen dem Norden und Süden des Landes.

Doch im Unterschied zu Griechenland, dem in der letzten Krise von der EU, der EZB und dem IWF, der sog. Troika, ein beispielloses Kürzungsprogramm aufgezwungen wurde, um im Interesse des deutschen und westlichen Finanzkapitals ein Exempel zu statuieren, ist das imperialistische Italien für die EU zu groß und zu bedeutsam, um einen Totalzusammenbruch zu riskieren. Schon die Regierung Conte setzte auf EU-Gelder, um das Land zu sanieren, nachdem diese und der deutsche Imperialismus ihre Finanzpolitik verändert hatten und eine „Gemeinschaftsverschuldung“ möglich machten, um den Kollaps strategisch wichtiger Staaten zu verhindern. Ob dies gelingt, bleibt dennoch abzuwarten angesichts der Tiefe der Krise, der zentrifugalen Tendenzen in der EU selbst, aber auch angesichts der politischen Verwerfungen und des möglichen Widerstandes der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten, denen die Kosten der Krise aufgedrückt werden sollen.

Zusammenbruch der Regierung Conte

Wie fragil das politische System des Landes ist, verdeutlichte der Rücktritt des ehemaligen Premierministers Conte zu Beginn des Jahres. Die Regierungskrise wurde durch Matteo Renzi, selbst ehemaliger Ministerpräsident Italiens, ausgelöst. Dieser war bis September 2019 noch Mitglied der Partito Democratico (Demokratische Partei) , die aus einem Zusammenschluss der einstigen Sozialdemokratie mit einem Flügel der ChristdemokratInnen hervorging. Zu diesem Zeitpunkt gründete er seine eigene Partei, Italia Viva (Lebendiges Italien). Er und seine Partei kündigten am 13. Jänner die Zusammenarbeit in der Regierung Conte II auf, die daraufhin zerbrach. Die zwei Ministerinnen, die Italia Viva stellte, Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova und Familienministerin Elena Bonetti, sowie der Staatssekretär im Außenministerium, Ivan Scalfarotto, verließen die Regierung.

Bruchpunkte wurden versucht, an der Person Contes festzumachen, lagen aber um einiges tiefer. Hauptauslöser scheinen die Kredite zu sein, die Italien durch die Wirtschaftskrise bringen sollen. Über 200 Mrd. Euro werden als Hilfszahlungen aus dem Post-Covid-19-Wiederaufbaufonds von der EU bereitgestellt und sollen an kritischen Punkten investiert werden. Renzi fordert, dass die Gelder aus dem ESM (dem „Europäischen Stabilitätsmechanismus“, der als Rettungsschirm der EU dient und eine eigene politische Instanz darstellt) bezogen werden und griff zeitgleich die Pläne für den Einsatz der Hilfsgelder an. Ihm zufolge wären die vorgeschlagenen Maßnahmen nur „handouts“, also „Almosen“, gewesen und keine nachhaltige Investition. Die MoVimento Cinque Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung), welche auch an der Regierung beteiligt ist, stellte sich stark gegen die Forderung, auf Gelder des ESM angewiesen zu sein, mit Hinblick darauf, dass eine potenzielle Auferlegung von Austeritätsmaßnahmen durch diese Institution im Zusammenhang mit den Krediten schwer zu stemmen wäre. Obwohl versucht wurde, Renzis Einsprüche in die neuen Pläne zu inkludieren, sprengte er die Koalition.

Die restliche Koalitionsregierung, bestehend aus dem populistischen MoVimento Cinque Stelle (C5S) und der Partito Democratico, stand danach vor einem Dilemma. Alle involvierten Parteien wollten vorgezogene Wahlen vermeiden, da die Umfragen sehr schlechte Ergebnisse für die Koalitionspartnerinnen und fast über 50 % der Stimmen für das rechte Lager (Forza Italia – die 2. Partei gleichen Namens, 2013 gegründet –, Fratelli d’Italia und Lega, vormals Lega Nord) prognostizierten. Giuseppe Conte hatte also zwei Optionen: Entweder er würde sich im Parlament einem Vertrauensvotum stellen (was mit den 18 fehlenden Stimmen der Italia-Viva-Abgeordneten keine klare Mehrheit für ihn bedeuten könnte) oder er müsste in der Hoffnung zurücktreten, von Staatspräsident Sergio Mattarella erneut mit der Regierungsbildung beauftragt zu werden. Er entschied sich für die erste Variante und wurde am 19. Jänner mit 156 Stimmen bei 140 Gegenstimmen und 16 Enthaltungen bestätigt.

Conte (der übrigens parteilos ist) gelang es allerdings nicht, genug Unterstützung bei den Parteien zu finden, um eine Mehrheit zu stellen und war am 26. Jänner schließlich gezwungen zurückzutreten. Neue Gespräche um eine Regierungsbildung scheiterten allerdings auch. Staatspräsident Mattarella war nun in der Position, entweder Neuwahlen auszurufen oder eine andere Führungsfigur zur Regierungsbildung einzusetzen.

Alle für Draghi

Bestellt wurde schließlich der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi, dem zugetraut wurde, die Parteien hinter einer „sinnvollen“ Verwendung der Hilfsgelder zu einen. Am 13. Februar, nach erfolgreichen Gesprächen mit fast allen Parteien des italienischen Parlaments und einer Sicherung der Mehrheit, wurde Draghi als Ministerpräsident angelobt und bestellte eine neue Regierung, teils aus alten Mitgliedern, teils aus vorher nicht politisch involvierten ExpertInnen. Die Regierung der nationalen Einheit versucht nun vor allem, die politischen Differenzen der M5S, der PD, der Lega, Forza Italia und Italia Viva zu überbrücken, und argumentiert, dass die Grabenkämpfe in einer Situation der Krise keinen Platz mehr hätten. Wie Draghi in seiner ersten Rede als Ministerpräsident betonte: „Heute ist Einheit keine Entscheidung, sondern eine Pflicht.“ 535 Abgeordnete stimmten für den neuen Ministerpräsidenten bei 56 Gegenstimmen und 6 Enthaltungen.

Die Regierung der nationalen Einheit umfasst also faktisch alle im Parlament und Senat vertretenen Kräfte. Sie stützt sich außerdem auf die Unternehmerverbände und die stillschweigende Duldung der großen Gewerkschaftszentralen. Von demokratischer Kontrolle der Regierung durch die parlamentarischen Institutionen kann natürlich keine Rede sein. Alle Parteien teilen sich mehr oder weniger schiedlich die Posten im Kabinett, um so bei der Rettung des Landes zumindest ihren Schnitt zu machen.

Draghi selbst verkörpert die Gesamtinteressen des italienischen (und europäischen) Großkapitals und der Finanzwelt wie kaum ein anderer. Jahrelang führte er die italienische Zentralbank, später die EZB und prägte dabei die Finanzpolitik der EU maßgeblich.

Er präsidiert über der Konzentrationsregierung aller Parteien, weil das Land tatsächlich in einer historischen Krise feststeckt und die bürgerlichen Parteien selbst mit dem parlamentarischen und „demokratischen“ Schacher nicht mehr weiterkommen, sich bloß von Regierungskrise zu Regierungskrise hangeln. Daher präsentiert sich der Regierungschef, obwohl sein Kabinett von allen etablierten Parteien gestützt wird, als über diesen stehend. Das drückt sich auch darin aus, dass neben VertreterInnen der Regierungsparteien auch zahlreiche „unabhängige“ ExpertInnen ins Kabinett berufen wurden. Draghi inszeniert sich selbst als Regierungschef, der scheinbar über den fraktionellen Kämpfen steht.

Einmal mehr zeigt sich die innere Logik einer Konzentrationsregierung, die vorgibt, alle gegensätzlichen Kräfte, alle Klassen und Schichten der Bevölkerung zu einen. Sie bedarf einer scheinbar über allen Interessengruppen stehenden Führungsfigur, eines „integren Experten“, den vermeintlich nur das Wohl aller interessieren würde.

Dieser Mechanismus stärkt unvermeidlich die bonapartistischen, autoritären Elemente, die in jedem bürgerlichen Staat immer schon vorhanden sind und dann gebraucht werden, wenn sich die herrschende Klasse die normalen parlamentarischen Intrigen und Rochaden nicht mehr leisten kann. Regierungskrise, wechselnde Koalitionen gehörten schließlich über Jahrzehnte zum politischen System Italiens. Wie der Zusammenbruch der Regierung Conte II im Januar zeigte, bedrohen diese nun das gesamte Gefüge. Daher bedarf es vom Standpunkt der herrschenden Klasse der autoritär geführten Regierung unter Draghi.

Draghi und sein Programm

In dieser Situation eine undemokratische Regierung einzusetzen, die nicht von der Bevölkerung klar bestätigt wurde, kann selbstverständlich keine Lösung im Interesse der Massen darstellen. Draghi wird viel zugetraut – von den Herrschenden. Ihm wird als Zentralbankpräsident die Rettung des Euro über die Nachwirkungen der Krise 2008 hinweg angerechnet. Sein Ausspruch „whatever it takes“, also „was auch immer es braucht“, um den Euro zu retten, ist eigentlich eine gute Umschreibung für seinen klassenpolitischen Zugang.

Der ehemaliger Goldman-Sachs-Mitarbeiter war nicht nur in diesem Fall in mehrere Vorwürfe von korruptem Verhalten verstrickt. Draghi ist ganz klar ein Vertreter der herrschenden Klasse und hat kaum Skrupel, sich gegen die Interessen und vor allem die Gesundheit der Bevölkerung durchzusetzen. Sein primäres Ziel besteht darin, die Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen. Draghi nimmt hier die Rolle des ideellen Gesamtkapitalisten wahr. Er agiert nicht für eine besondere Kapitalfraktion, sondern soll vor allem Umstände schaffen, die zu einer Erholung der Wirtschaft führen und längerfristig die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit des italienischen Imperialismus sichern sollen.

Ende April legte er einen Wiederaufbauplan (Nationaler Plan für Aufschwung und Resilienz) vor, der von der bürgerlichen Presse nicht nur in Italien gefeiert wurde. Im italienischen Abgeordnetenhaus und im Senat wurde er mit übergroßen Mehrheiten durchgewunken, die EU-Kommission segnete ihn ohne Einwände ab.

Der Plan sieht Finanzhilfen aus Brüssel in der Höhe von 221 Mrd. Euro bis 2026 vor und weitere Milliarden, die auf den Finanzmärkten aufgenommen werden sollen. Diese sollen die Wirtschaft ankurbeln, Digitalisierung, Energiewende, Infrastrukturprojekte und Modernisierung vorantreiben. Diese Milliardensummen sollen durch staatliche Aufträge und weitere Investitionsanreize für das private Kapital finanziert werden.

Der Plan verspricht aber auch Milliardenausgaben für Bildung (Kitas und Schulen), Wohnungsbau und soziale Leistungen. Dies präsentiert Draghi geschickt als Dienst an den Massen. Der Hauptgrund für diese Verbesserungen nach Jahrzehnten der Kürzungen dürfte aber darin bestehen, dass die Einsparungen in den Bildungs- und Sozialsystemen auch zu einem Mangel an ausreichend qualifizierten ArbeiterInnen in sog. Zukunftsindustrien geführt haben. Schließlich dienen solche sozialen Versprechungen auch, um die Regierung Draghi als einen Neuanfang zu präsentieren nach Jahren der Austerität, der politischen Instabilität, der Korruption und des Parteienstreits.

Zugleich ist aber auch klar, dass die ökonomische Krise im Land mit massiven Angriffen auf die Lohnabhängigen und Unterdrückten eingehen wird. Über 100.000 Menschen haben ihr Leben in der Pandemie eingebüßt – und die Katastrophe ist längst nicht überwunden. Hunderttausende haben schon ihre Arbeitsplätze verloren – und allein im industriellen Bereich drohen 2021 weitere 500.000 Menschen entlassen zu werden.

Der Ende 2020 vorgelegte Bericht des italienischen Sozial- und Wirtschaftsforschungsinstituts Censis zeichnet ein düsteres Bild der sozialen Lage im Land, vor allem was die Ärmsten der Armen betrifft. So konnten sich Ende letzten Jahres 5 Millionen ItalienerInnen kein vollwertiges Mittagessen leisten. Das monatlich verfügbare Einkommen der ärmsten Familien sank von 900 Euro Ende 2019 im Laufe eines Jahres auf 600 Euro. Für insgesamt 22,3 Millionen Menschen, also mehr als ein Drittel der Bevölkerung, verschlechterte sich das Familieneinkommen deutlich.

Angesichts dieser Entwicklungen fallen die sozialen Versprechungen Draghis weiter viel zu dürftig aus. Von einer Besteuerung der Reichen und Gewinne, von Lohn- und Einkommenserhöhungen findet sich in seinem Programm nichts.

Proteste

Die Proteste gegen gegen die Regierung und ihre Politik kommen aber bisher vor allem aus dem rechten und ultrarechten Lager. Ähnlich wie auch in Deutschland und Österreich ist die stark kleinbürgerlich und rechtsradikal geprägte Antilockdown-Bewegung zusammengefasst unter #IoApro (dt.: ich öffne bzw. werde öffnen), die sich stark gegen die Lockdownbestimmungen stellt und dabei zum Großteil Kleinkapitalinteressen abdeckt. Am 12. April eskalierte in Rom eine Demonstration, die im Vorhinein untersagt wurde. Trotzdem reisten um die 130 Autobusse mit DemonstrantInnen extra an. Die Demonstration, die auch mit FaschistInnen von CasaPound, ImpfgegnerInnen und CoronaleugnerInnen durchsetzt war, lieferte sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Am Abend wurde trotzdem eine Delegation der DemonstrantInnen vom Wirtschaftsminister empfangen, um ihre Forderungen vorzubringen.

Eine ähnliche Szene trug sich auch in Mailand zu, wo am 10. November 300 Jugendliche zum Mitwirken an einem Musikvideo von Rapper Neima Ezza gegen die Ausgangssperren verstießen und mit exzessiver Polizeigewalt aufgehalten wurden. Das Stadtviertel San Siro, in dem sich die Straßenschlacht zutrug, ist ein armes und es ist kein Zufall, dass hier bei 300 Jugendlichen die Polizei mit Tränengas eingreifen „musste“ und bei den „besorgten BürgerInnen“ am Montag eine Delegation der Protestierenden empfing.

Die Frustration über die anhaltenden Lockdownbestimmungen ist nachvollziehbar. Es braucht aber keinen Coronaskeptizismus, sondern Pandemiebekämpfung, die an der richtigen Stelle ansetzt, am Arbeitsplatz. Nicht-essenzielle Arbeit, bezahlt zu pausieren, würde in der Pandemiebekämpfung weitaus mehr bringen als seit einem Jahr andauernde Ausgangssperren und zeitgleich auch viel weniger Nährboden für rechte Kräfte, CoronaleugnerInnen und Ähnliches lassen. Es ist aber bezeichnend für die Ausrichtung der neuen Regierung, dass Rechte mit Samthandschuhen angefasst und zum Wirtschaftsminister vorgelassen werden, während der Staat gegen linke Proteste und kämpfende ArbeiterInnen vorgeht.

Arbeitskämpfe

Die Gewerkschaften setzen hingegen, wie in vielen anderen Ländern, auf SozialpartnerInnenschaft und Gespräche mit der Regierung statt auf Mobilisierung für eine Pandemiebekämpfung im Interesse der ArbeiterInnenklasse und Forderungen, um Löhne und Arbeitsplätze zu verteidigen und eine soziale Sicherung für alle durchzusetzen.

Daher sind die Kämpfe bisher eher sektoral. Einen wichtigen Ansatzpunkt stellt dabei der Streik bei Amazon dar, der im März stattfand. Diese Proteste reihten sich in eine weltweite Aktion gegen das berühmt-berüchtigte Monopol ein. Unter #makeamazonpay gab es international rund um Ostern breite Proteste. Doch die bremsende Rolle der Gewerkschaftsführungen zeigte sich auch hier. Ihre Forderungen und ihre Taktik blieben verhalten, obwohl sich 75 % der Belegschaft an den Aktionen beteiligten.

KommunistInnen und klassenkämpferische ArbeiterInnen müssen bei aller Kritik an der SozialpartnerInnenschaft und angesichts der Schwäche und Zersplitterung der historischen Organisationen der ArbeiterInnenklasse klare Forderungen an die Gewerkschaften richten.

Notwendig ist erstens ein Bruch mit der Politik der SozialpartnerInnenschaft und dem Hoffen auf Unterstützung durch Regierungen. Die linkeren Basisgewerkschaften wie Cobas können als wichtige, vorwärtstreibende Kraft wirken, die für eine kämpferische Politik einstehen. So rief die Basisgewerkschaft CUB (Confederazione Unitaria di Base; Einheitlicher Dachverband der Basis) im Oktober 2020 zu einem Generalstreik gegen die Sparmaßnahmen der damaligen Regierung Conte auf, dem einige Zehntausend ArbeiterInnen folgten. Dies verdeutlich sowohl das Kampfpotential wie auch die Schwierigkeit, die Masse Lohnabhängigen, sowohl der Unorganisierten wie der Mitglieder der großen Gewerkschaftsföderationen, der „Einheitsgewerkschaft“ CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro; Allgemeiner Dachverband der Arbeit – offiziell über 5 Millionen Mitglieder), dem christlich-sozialen Dachverband CISL (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori; Italienischer Dachverband der ArbeiterInnengewerkschaften – offiziell rund 4,5 Millionen Mitglieder) und UIL (Unione Italiana del Lavoro; Italienische Union der Arbeit – offiziell über 2 Millionen), mit in den Kampf zu ziehen.

Nach eigenen, schöngerechneten Angaben vereinen die drei dennoch um die 10 Millionen Lohnabhängige. Also eine gewaltige Macht, wenn sie diese nützen würden. Doch die Gewerkschaftsführungen setzen auf SozialpartnerInnenschaft und Draghi greift das auf und bietet Konsultationen und Spitzengespräche an.

Derweil setzt seine Regierung auf eine Welle direkter Angriffe. So wurde seit dem 31. März der Entlassungsstopp, der für etliche Sektoren während der Pandemie eingeführt wurde, schrittweise gelockert. Ebenso werden die Kündigungsschutzmaßnahmen auf Drängen der Industrie weiter geschliffen – mit dem zynischen Argument, dass nach bereinigenden Entlassungen vermehrt Neueinstellungen erfolgen könnten.

Um gegen diese Angriffe zu kämpfen, braucht es eine reale Kampfeinheit. Die Forderung nach dem Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft wird nicht reichen. Es braucht betriebliche Kampforgane, Aktionskomitees, die diesen Druck ausüben können und den Aufbau einer gewerkschaftsübergreifenden klassenkämpferischen Basisbewegung, die gegen die Bürokratie und für eine Restrukturierung der Gewerkschaften auf der Basis von ArbeiterInnendemokratie und Klassenkampf eintritt. Dazu ist es notwendig, ein Aktionsprogramm gegen die Krise in den Betrieben, aber auch in den Stadtteilen zu vertreten, das sich gegen Entlassungen und Kürzungen, soziale Not, Rassismus und Polizeigewalt richtet und sich für eine effektive Pandemiebekämpfung starkmacht.

Doch die italienische ArbeiterInnenklasse und die Linke leiden nicht nur an der Strategie der Gewerkschaftsapparate. Die Politik der Klassenzusammenarbeit, wie sie von den Führungen der ArbeiterInnenbewegung und insbesondere auch von dem ehemaligen Hoffnungsträger der europäischen Linken, Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung), betrieben wurde, führte ins politische Desaster. Sie markiert eine strategische Niederlage der italienischen ArbeiterInnenklasse, von der sie sich bis heute nicht erholt hat und in deren Folge in zahlreiche linke Kleinparteien, zumeist reformistischen oder linkspopulistischen Charakters, zentristische Gruppierungen oder linkssyndikalistische Projekte zersplittert ist.

Zur Überwindung der Führungskrise der Klasse braucht es zweierlei: erstens den Aufbau einer Bewegung gegen Pandemie und Krise, die in den Betrieben und Gewerkschaften verankert ist, gegen die Angriffe der Regierung kämpft, die Umsetzung der sozialen Versprechungen einfordert und ein eigenes Aktionsprogramm formuliert, einen Notplan gegen Arbeitslosigkeit, Armut, Entlassungen und für ausreichende Gesundheitsversorgung, der von den Reichen finanziert wird.

Zweitens braucht es eine politische Organisation, eine neue revolutionäre ArbeiterInnenpartei, die den Kapitalismus nicht an der Regierung mitverwaltet (wie einst Rifondazione Comunista), sondern den Kampf gegen die Kosten der Krise mit dem für eine andere, sozialistische Gesellschaftsordnung verbindet. Alle antikapitalistischen und klassenkämpferischen Kräfte der radikalen wie der Gewerkschaftslinken – darunter auch die radikaleren, kleinen Gruppierungen – sind gefordert, sich an der Diskussion und Bildung einer solchen Organisation zu beteiligen. RevolutionärInnen müssten diesen Prozess nicht nur mit vorantreiben, sondern auch von Beginn an für eine konsequente revolutionäre Ausrichtung, für ein revolutionäres Programm eintreten.




Konflikt um EU-Budget: Haus ohne Halt

Jürgen Roth, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Nach wochenlangem Streit mit Polen und Ungarn konnte die deutsche Ratspräsidentschaft die nächste drohende Katastrophe der EU gerade noch einmal vermeiden. Am Donnerstag, den 10. Dezember 2020, einigte sich der Europäischer-Rats-Gipfel, das Treffen der europäischen Staats- und Regierungsspitzen, auf einen Kompromiss.

Der Haushalt mit mehrjährigem Finanzrahmen für die Jahre 2021 – 2027 steht. Sein Volumen beträgt ca. 1,1 Billionen Euro. Zusätzlich wurden ca. 750 Milliarden Euro für Corona-Hilfen bewilligt, die besser als Umstrukturierungsfonds für erhöhte „grüne und digitale“ Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bezeichnet werden sollten. In der Frage des Rechtsstaatsmechanismus‘ hatte die deutsche Präsidentschaft des EU-MinisterInnenrats einen für die beiden Visegrád-Staaten akzeptablen Kompromiss durchgesetzt.

Rechtsstaatlichkeit

Polen und Ungarn wird bekanntlich seit langem vorgeworfen, Einfluss auf Justiz und Medien auszuüben und Minderheiten zu wenig Schutz zu gewähren. Der Kompromiss sieht vor, das neue Verfahren zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit durch eine Zusatzerklärung zu ergänzen. Darin sind die Möglichkeiten festgelegt, sich gegen die Anwendung der Regelung zu wehren, z. B. durch eine Überprüfung seitens des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Außerdem soll die Feststellung eines Verstoßes erst dann zur Kürzung von Finanzhilfen führen können, wenn klar nachgewiesen wird, dass die Verletzung negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Geldern hat. Überdies müssen sich bei Streitfragen die Staats- und RegierungschefInnen, also der Europäische Rat (ER), mit dem Thema beschäftigen.

Bei einer Ablehnung des Kompromisses hätte der EU ab Januar nur ein Nothaushalt zur Verfügung gestanden und das Corona-Konjunkturprogramm ohne die beiden „Außenseiter“ organisiert werden müssen, auf das wirtschaftlich stark leidende Länder, die gleichzeitig ein Schuldenproblem haben, wie z. B. Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Belgien, angewiesen sind.

Bezüglich des von Polen und Ungarn als „Sieg“ gefeierten Kompromisses entbrannte vor dem Gipfelbeschluss ein Zwist quer durch alle EU-Parteien und -Länder. Die KompromisslerInnen argumentierten teils auf der Linie des deutschen Ratspräsidialvorschlags, teils schlugen sie ein Ausklammern und eine Verlegung auf zwischenstaatliche Abkommen vor, die sich außerhalb des EU-Verfassungsrahmen bilden sollten. Vorbilder dafür sind die Eurogruppe und die Finanzmarktrettungsschirme.

Das gegnerische Lager setzte auf Härte gegenüber den beiden osteuropäischen Ländern. Für die Annahme der Rechtsstaatsklauseln im Europäischen Rat hätte eine qualifizierte Mehrheit genügt, die als sicher galt. Für Haushalt und Corona-Paket war allerdings Einstimmigkeit erforderlich und Polen und Ungarn hätten deren Beschluss durch ihr Veto verhindern können.

Die dramatische Einschränkung bürgerlich bürgerlich-demokratischer Rechte in den beiden osteuropäischen Ländern darf freilich nicht über die doppelte Heuchelei der restlichen EU hinwegtäuschen. Lediglich das EU-Parlament (EP) ist vom Volk gewählt, doch ist sein Einfluss auf die Gesetzgebung marginal. Alle übrigen Institutionen sind Bestandteile eines supranationalen Apparatgebildes, das zudem noch vom Wohlwollen der Regierungen der Mitgliedsstaaten abhängt -und zwar vor allem von jenen der dominierenden imperialistischen Mächte in der EU. Zudem bewegen sich nicht nur Ungarn und Polen, sondern faktisch alle Staaten und Institutionen auf eine Stärkung autoritärer polizeilicher Verfolgungs- und Überwachungsorgane zu oder führen, wie Frankreich, rassistische, anti-muslimische Gesetze ein. Von Menschenrechten ist an den Außengrenzen erst recht nichts zu spüren.

Zweitens geht es beim Konflikt um etwas ganz anderes als die bürgerliche Demokratie, nämlich um ein Aufbrechen des inneren Zusammenhalts, wie es sich schon im Brexit äußerte. Auf diesen widersprüchlichen Integrations- und Auseinanderentwicklungsprozess gehen wir weiter unten ein, indem wir seine Ursachen im Lichte der Entwicklung seit der Großen Krise 2007/2008 skizzieren. Zuvor wollen wir aber knapp die aktuelle ökonomische Lage skizzieren, die ihrerseits die Situation der EU vor dem Hindergrund der globalen Wirtschaftskrise verschärft.

COVID-19: Stress für die Wirtschafts- und Währungsunion

Die Herbstprognose der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erwartet für die EU bis Ende 2021 ein Schrumpfen des BIP von 3 – 5 % im Vergleich zu Ende 2019, für Großbritannien sogar 6,4 % – unter der Voraussetzung wirksamen Impfschutzes! Angesichts der infolge von SARS-CoV-2 galoppierenden Staats-, Haushalts- und Firmenverschuldung steigt die Gefahr eines Finanzkollapses historischen Ausmaßes.

Nach einer Erholung im 3. Quartal 2020 aufgrund von Lockerungsmaßnahmen erwartet die EU-Kommission jetzt für die Eurozone einen Wirtschaftseinbruch von 7,8 % für das Gesamtjahr 2020, für 2021 ein Wachstum von 4,2 % und für 2022 von 3 % (EU-Wirtschaft insgesamt: -7,4 %, + 4,1 %, + 3 %). Sowohl die Eurozone wie das Gebiet der Gemeinschaft werden Ende 2022 den Stand vor Pandemieausbruch nicht erreicht haben.

Zwar konnte der Anstieg der Arbeitslosenquote insbes. durch Kurzarbeitsregelungen gedämpft werden, doch rechnet die Kommission mit weiterem Anstieg nach Auslaufen der Soforthilfemaßnahmen ab 2021: Für die Eurozone bzw. die EU lauten die Zahlen und Prognosen für 2019 7,5 % bzw. 6,7 %, 2020: 8,3 % bzw. 7,7 %, 2021: 9,4 % bzw. 8,6 %, 2022 8,9 % bzw. 8,0 %. Das gesamtstaatliche Defizit wird in der Eurozone aufgrund von steigenden Sozialausgaben und sinkenden Steuereinnahmen gegenüber 2019 massiv steigen. Damals betrug der Anteil an der Neuverschuldung am addierten Bruttoinlandsprodukt nur 0,6 %. 2020 soll die Neuverschuldung 8,8 % des BIP betragen, 2021 6,4 % und 2022 4,7 %. Die Gesamtschuldenquote im Eurogebiet soll gegenüber 85,9 % im Jahr 2019, 2020 auf 101,7 %, 2021 auf 102,3 % und 2022 auf 102,6 % steigen.

Das „Corona-Hilfspaket“ …

390 des 750 Mrd. Euro schweren Hilfspaketes sind als nicht rückzahlbare zusätzliche Finanzmittel in einem Programm geplant, das sich Next Generation EU (NGEU) nennt. Dafür soll sich die EU erstmals langfristig bis 2058 verschulden. Vorher bestand ihr Haushalt allein aus Zuweisungen der Mitgliedsstaaten. Neben Kreditaufnahme ist auch die Einführung eigener europäischer Steuern gedacht (auf Plastik und CO2).

Eine genauere Betrachtung zeigt, dass das Ziel der Finanzhilfen jedoch kaum in der direkten Krisenbekämpfung liegen kann, sondern in erster Linie die internationale Wettbewerbsfähigkeit auf dem zunehmend umkämpften Weltmarkt mittelfristig stärken soll. 2021 und 2022 dürfte gerade einmal ein Fünftel der Mittel fließen. 218,75 Mrd. Euro, das sind 70 % der insgesamt für diesen Zweck eingeplanten Gelder von 312,5 Mrd., sollen für die beiden Jahre nicht für die Bewältigung der Krisenfolgen, sondern zur Milderung der strukturellen Probleme der EU-Länder auf dem Arbeitsmarkt verwendet werden und bemessen sich an deren Arbeitslosenquoten zwischen 2015 und 2019, also Jahre vor der Corona-Krise. Die zeitliche Verteilung zwischen 2021 und 2026 ist intransparent. Zsolt Darvas vom Think Tank Bruegel schätzt, dass 2021 10 % und 2022 13 % ausgezahlt werden sollen.

Der Bedarf für direkte krisenbezogene Maßnahmen ist offensichtlich auch begrenzt. So haben 17 EU-Staaten im Rahmen des SURE-Programms 90 Mrd. Euro für die Unterstützung von Kurzarbeitsregelungen beantragt. Gleichzeitig blieben 240 Mrd. zinsgünstige Darlehen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM für solche Maßregeln insbes. im Gesundheitswesen bislang unangetastet, obwohl der Verzicht auf umfassende „Reform“auflagen bei deren Inanspruchnahme beteuert wurde. Angesichts der Erfahrungen in der Eurokrise vor 6 Jahren finanzieren sich viele EU-Länder lieber zu Niedrigzinsen auf dem Kapitalmarkt, als diesen womöglich doch vergifteten Köder zu schlucken.

… und die Zukunft der Währungsunion

In den letzten Jahren hat sich die Rolle der Europäischen Zentralbank EZB deutlich verändert. Die Grenzen zwischen Notenbank und Geschäftsbank, die sie ursprünglich strikt befolgen sollte, muss sie immer weniger einhalten. So kann sie faule Staats- und Bankenpapiere kaufen und gleichzeitig die Leitzinsen niedrig halten. Diese Politik des lockeren Geldes (Quantitative Easing; QE) wird zudem flankiert von der Tatsache, dass der Euro zum ersten Mal seit Februar 2013 im Oktober 2020 den US-Dollar als internationales Zahlungsmittel wieder überholt hat. Im Finanzierungsgeschäft bleibt dessen Rolle allerdings ungebrochen. Laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) entfielen bis Juli 2020 mehr als die Hälfte aller internationalen grenzübergreifenden Kreditgeschäfte auf den Dollar.

Aber was passiert, wenn die Gesundheits-Krise und deren ökonomische Folgen länger als geschätzt andauern, sei es weil zu spät, zu wenig und zu unwirksam geimpft wird? Was geschieht, wenn die nicht durch die Pandemie bedingten wirtschaftlichen, strukturellen Ursachen mit Firmen- und Bankenzusammenbrüchen durchschlagen? Wird die EZB QE durchhalten können, wenn der privatkapitalistische Wirtschaftssektor nicht wieder auf eigenen Füßen steht, nachdem die Regierungssubventionen wegfallen? Schon jetzt steht das Ausmaß der Gesamtverschuldung, darunter auch die der Unternehmen, laut Institute of International Finance (IIF) im Vergleich zum BIP weltweit auf einem nie dagewesenen Hoch und machte in diesem Jahr einen Rekordsprung von 320 (2019) auf 365 %. Die OECD rechnet damit, dass 30 % der Unternehmen diese Stunde der Wahrheit nicht überleben werden. Banken werden mit Verweigerung des Kredits untereinander reagieren sowie auf eine Erhöhung ihrer Einkommensquelle, der Zinsen, drängen müssen, wollen sie nicht in diesen Strudel geraten. Deren Erhöhung verteuert auch die Staatsanleihen und damit die Gefahr staatlicher Zahlungsunfähigkeit. Dieses weltwirtschaftliche Damoklesschwert schwebt natürlich auch über der EU.

Robuster oder krisenanfälliger?

Covid-19 treibt auch Europa auseinander. Vielerorts sind die gemessenen Infektionszahlen, allerdings auf Basis breiterer Tests, höher als im April. Die aussagekräftigere Zahl der Toten ist sogar in der BRD mittlerweile deutlich höher. Wirtschaftlich betroffen ist insbesondere die für die Süd- und Südostländer so wichtige Tourismusbranche. Und insbesondere Frankreich, Italien und Spanien leiden unter einem viel schlimmeren Wirtschaftseinbruch als z. B. Deutschland. Zudem belaufen sich die Staatsschulden dieser 3 Länder auf mehr als zusammengerechnet 6 Bio. Euro bei einer Wirtschaftsleistung, die gerade anderthalbmal so groß wie die der BRD ausfällt.

Um die Frage der Krisenanfälligkeit beantworten zu können, betrachten wir die Entwicklung der EU seit der letzten Krise. Anders als herkömmliche Interpretationen der Eurokrise gehen wir nicht davon aus, dass die Zahlungsbilanzungleichgewichte in erster Linie durch zu hohe Löhne in den Defizitländern (neoliberale Lesart) bzw. zu niedrige in den Gläubigerstaaten (die neokeynesianische) verursacht wurden.

Dahinter steht vielmehr eine nur zum Teil durch die Lohnentwicklung bestimmte ungleiche internationale Arbeitsteilung. Eine übergeordnete bzw. dominante Position in dieser ergibt sich aus der Kapazität einiger weniger Produktionssysteme, komplexer Produktionsmittel, insbes. solche zur eigenständigen Herstellung anderer Produktionsmittel (Maschinenbau, Elektrotechnik, chemische Industrie). Als Ergebnis musste die südeuropäische Peripherie einen erheblichen Bedeutungsverlust hinnehmen, während sich zentrale imperialistische Ökonomien wie Deutschland gerade auf eine entwickeltere und produktivere Leistung in diesen zentralen Sektoren stützen.

Strukturreformen

Seit 2008 kam es neben dem Fokus auf Haushaltskonsolidierung, die mittlerweile eine Art Verfassungsrang einnimmt zu einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu einer merklichen Erweiterung der EU-Kompetenzen auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik. Kern ist das Europäische Semester (ES), welches die Koordination und Überwachung der nationalen Wirtschafts-, Fiskal-, Arbeits- und Sozialpolitiken gewährleisten soll. Damit sollen übrigens auch in die Lohnentwicklung mit Sanktionen eingegriffen werden, falls dass ein Referenzwert von 9 % Steigerung in 3 Jahren überschritten wird. Das ES ist neben der Troika aus EZB, IWF und EU-Kommission sowie dem ESM ein dritter Krisenbewältigungsmechanismus.

Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt führten schon bisher zu einer Schwächung der Rolle der Gewerkschaften, Abnahme der Tarifbindung, Verbetrieblichung der Lohnentwicklung, Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse und unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung. Trotz des Aufschwungs in den meisten EU-Ländern nach der letzten Krise und steigender Beschäftigung kam es zu einer Verlangsamung des Lohnwachstums. Hierbei stieg die Zahl atypischer Beschäftigung und Leiharbeit ab 2010 bzw. 2014 wieder an.

Die verheerenden Auswirkungen waren in den Ländern am größten, die Kredite aus dem Rettungsschirm ziehen mussten. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte der südeuropäischen Länder sanken infolge des austeritätspolitisch induzierten Rückgangs der Importe, der selbst aus dem Rückgang der effektiven Kaufkraft resultierte. Dies hat offenkundig nichts mit einer Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsposition zu tun. Die wachsenden Exporte aus der Peripherie dürfen nicht als Abbau tiefer Ungleichgewichte interpretiert werden. Vielmehr spricht der Einbruch der Industrieproduktion für eine weitere Erosion ihrer Produktionsstrukturen. Ganz anders dagegen die Entwicklung z. B. in Deutschland und Österreich. Diese Polarisierung innerhalb der europäischen Arbeitsteilung führte zu einer Abnahme der Bedeutung Südeuropas als Absatzmarkt für deutsche Exporte. Die BRD fährt seit 2012 einen größeren Außenhandelsüberschuss gegenüber dem Rest der Welt, v. a. den sog. Schwellenländern, als gegenüber der Eurozone ein.

Ökonomische Verschiebung

Der zweite Faktor, der die aktuelle Position Merkels und der Bundesrepublik im Haushaltskonflikt erklärt, ist die gegenläufige Entwicklung in den Visegrád-Ländern (Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn). Die Industrieproduktion entwickelte sich dort noch geschwinder als in Deutschland und Österreich und stieg um mehr als ein Drittel gegenüber dem Vorkrisenniveau. Auch der Anteil der Bereiche Maschinen- und Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Chemie nahm zu von 57 auf 59,6 %, am deutlichsten in der Slowakei. Mit Ausnahme Polens wurden diese Volkswirtschaften allerdings immer tiefer in das deutsche Produktionssystem integriert, zu verlängerten Werkbänken.

Politisch bedeutet dies eine relative Schwächung Südeuropas und folglich eine wachsende Asymmetrie in der für den bisherigen Integrationsprozess konstitutiven Achse Berlin – Paris und eine Gewichtsverlagerung von Süden nach Osten. Zugleich erleben wir in Osteuropa einen widersprüchlichen Prozess. Die wachsende ökonomische Dominanz des deutschen Kapitals geht mit politischen Konflikten Deutschlands (und der EU) mit den Regierungen dieser Staaten einher, die sich aus verschiedenen Quellen – nicht zuletzt auch – dem Agieren imperialistischer Konkurrenz speist. Andererseits setzt die wachsende ökonomische Abhängigkeit der Region der Zuspitzung des Konflikts Grenzen und erklärt auch das größere Interesse Deutschlands an Kompromissen selbst mit den polnischen und ungarischen Regierungen.

Italien: neues Zentrum der Widersprüche?

Italien nimmt in der Hierarchie der innereuropäischen Arbeitsteilung eine Zwischenposition zwischen Deutschland und der Peripherie in Süd- und Osteuropa ein. Seit den Umbrüchen der 1990er Jahre und dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht haben sich die Konkurrenzbedingungen gravierend geändert. Mit Wegfall der Abwertungsmöglichkeiten durch die Einführung des Euro geriet die italienische Industrie aufgrund ihres Spezialisierungsprofils unter verstärkten Kostensenkungsdruck. Hatte das Land einst ein außergewöhnlich hohes Niveau industrieller Beschäftigung ähnlich der BRD aufrechterhalten können, scheint sich ein Trend zur teilweisen Deindustrialisierung durchzusetzen.

Es ist also zu erwarten, dass Italien zum Herd eines künftigen Schwelbrands in der EU werden wird. Die aktuelle EU-Haushaltspolitik der Großen Koalition in der BRD und ihre vergleichsweise versöhnlerische Haltung gegenüber Polen und Ungarn reflektieren auch eine Veränderung der Ökonomie des Kontinents. Die explosive Vertiefung der Krise in Italien würden die EU und ihre Führungsmacht vor noch größere Herausforderungen stellen.

Düstere Aussichten

Obwohl die Haushaltskrise letztlich in einem vom deutschen Imperialismus vermittelten Kompromiss endete, verdeutlichte das Gezerre, das innerhalb der führenden Kreise der EU und innerhalb ihrer dominierenden Mächte, allen von in Deutschland, auch ein Konflikt über die zukünftige Europa-Strategie stattfindet. Sollen „abweichende“ kleinere Staaten oder Staatengruppen weiter taktisch eingebunden werden oder sollen die EU und die Eurozone zu einem zentralisierten, ökonomisch und politische einheitlicheren Staatenblock unter deutscher bzw. deutsch-französischer Führung geschmiedet werden.

Zugleich droht das größer gewordene wirtschaftliche Gefälle zwischen Norden und Süden in der EU den Zusammenhalt der Union weiter zu unterminieren. In Anbetracht einer herannahenden Krise in einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmaß ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Länder wie Österreich, die Niederlande, Finnland und Schweden, aber auch Teile des BRD-Kapitals solidarisch die Krisenlasten mit den kränkelnden Volkswirtschaften teilen. Der deutsche und der französische Imperialismus stehen somit vor schwer unlösbaren Herausforderungen angesichts der globalen Krise und der Konkurrenz durch China und die USA.

Der französische Imperialismus unter Macron versucht sich als als Vorreiter europäischer „Eigenständigkeit“ zu präsentieren. Angesichts der Schwächen der französischen Wirtschaft und der inneren politischen Krisen Frankreichs verbrauchen sich die meisten seiner Initiativen fast so schnell, wie sie in die Welt gesetzt wurden. Der deutsche Imperialismus setzt mit Merkel und von der Leyen zumindest der Form nach auf Ausgleich und Kompromiss – doch die Zeit läuft ihnen angesichts einer krisengeschüttelten Europäischen Union und  immer tieferer Widersprüche davon.

Härtere Gangart

Die Drohungen gegenüber Ungarn und Polen im Haushaltsstreit signalisierten, dass auch die Führung der EU-Kommission und Teile des deutschen Imperialismus erwägen, eine härtere Gangart gegenüber „abweichenden“ Mitgliedern der EU einzuschlagen. Im Haushaltsstreit hätte er mit einer „kompromisslosen“ Haltung letztlich aber mehr verloren und gewonnen. Die Dauer und Härte des Konflikts zeigen freilich, welche weit größeren uns noch bevorstehen, wenn die gegenwärtige Krise entscheidende Volkswirtschaften der EU – wie z. B. Italien – an den Rand des Bankrotts treiben sollte.




Die EU – das nächste Corona-Opfer?

Markus Lehner, Neue Internationale 246, Mai 2020

Seit Beginn der Corona-Krise schien es so, als seien die EU-Regularien nur noch Schall und Rauch: Grenzschließungen, Verschuldung für Rettungspakete, Unternehmensstützungen, Beschaffung von medizinischen Gütern und Schutzkleidung etc. – alles wurde rein nach Gutdünken der einzelnen Staaten durchgeführt, ohne die EU-Institutionen auch nur zu fragen, und oft in Konkurrenz zueinander. Dies trifft allerdings nicht zu auf eine Einrichtung mit Adresse in Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB).

Widersprüche und Gemeinsamkeiten

Als im März neben dem Zusammenbruch der Gesundheitssysteme auch der allgemeine Finanzcrash drohte, griff die EZB in Kooperation mit der US-Zentralbank durch Billionen schwere Stützungskäufe von Staats- und Unternehmensanleihen sofort ein. Schneller noch als in der Euro-Krise von 2010-12 verhinderte die EZB so die Ausweitung der Krise zu einem Währungs- und Finanzdesaster im Euroraum. Was immer die politischen Maßnahmen derzeit an Auseinanderdriften in Europa anzeigen – die gemeinsame Währungspolitik (auch die Nicht-Euro-Länder der EU sind praktisch an die EZB gefesselt) und ihre Wirkungsweise in der Krise weisen auf das Weiterbestehen des Zwangs zum Zusammenwirken hin.

Diese Widersprüchlichkeit kommt nicht zuletzt in dem immer heftiger werdenden Gerangel um die Bewältigung der kommenden Wirtschaftskrise im EU-Raum zum Ausdruck. Allein in der Euro-Zone wird dieses Jahr mit einem Einbruch von über 10 % des BIP gegenüber dem Vorjahr gerechnet. So unterschiedlich die Länder auch betroffen sind – man denke nur an die katastrophale Lage in Spanien und Italien mit monatelangem Lockdown -, so sehr trifft der wirtschaftliche Einbruch alle EU-Staaten. Was Absatzmärkte, Produktionsketten, Dienstleistungen, Investitionsbewegungen betrifft, sind auch die großen „nordischen“ Kapitale stark von einem Wiederanlaufen aller EU-Ökonomien abhängig.

Italien gehört neben Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden zu den Ländern mit den größten Vermögen und Kapitalen in der EU. Insbesondere Norditalien ist Endpunkt vieler Produktionsketten und Sitz großer Dienstleistungs- und Bankenkonzerne. Letzteres gilt auch für Spanien. Beide Länder wiesen schon vor der Krise enorme Verschuldungsprobleme auf. Italien allein sitzt auf einem Schuldenberg von 2,5 Billionen Euro mit einer 135 %-Staatsverschuldungsquote gemessen am BIP. Auch Spanien steht mit 97 % am oberen Ende der Verschuldung. Das Stocken der Produktion in den Zentren und das Ausbleiben von Geldflüssen von ArbeitsmigrantInnen trifft aber auch die osteuropäischen EU-Ökonomien schwer, wie auch viele andere Länder den enormen Rückgang des Tourismus (wahrscheinlich für das ganze Jahr) fühlen werden (z. B. Griechenland). Während alle diese Länder gerade ihre Corona-Sonderpolitik betreiben, rufen sie gleichzeitig nach den ökonomischen Rettungsringen der EU. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Nationalstaaten, internationale Kooperation und Imperialismus

Friedrich Engels bemerkte in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (MEW 19, S. 189-228), dass die Widersprüche von vergesellschaftender Tendenz und privater Aneignung (die sich auch in einer immer stärker werdenden Konzentration und Internationalisierung der Kapitale ausdrücken) speziell in Krisenzeiten dem kapitalistischen Staat eine spezielle Rolle zuteilen: „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten“ (MEW 19, S. 222) und agiert so als „ideeller Gesamtkapitalist“.

Längst ist das Kapital der ursprünglichen Form dieses ideellen Gesamtkapitalisten, der Form des Nationalstaates, entwachsen. Gleichzeitig hat es sich aufgrund der ungleichen ökonomischen Entwicklung als unmöglich erwiesen, über die Nationalstaaten hinausgehende staatliche Vereinigungen hervorzubringen, die über Teilaspekte und -kompromisse hinausgehen. In der Ära des Monopol- und Finanzkapitals ist die einzige übernationale Form der Regelung der gemeinsamen weltweiten „allgemeinen äußeren Bedingungen“ der Imperialismus: die weltweite Dominanz einiger großer Kapital- und Militärmächte, die mal mehr miteinander kooperieren, mal mehr gegeneinander konkurrieren.

In der Globalisierungsperiode ist die Konkurrenz zwischen den großen Kapitalen um Marktanteile und politische Kontrolle über wichtige Regionen enorm angestiegen – nicht zuletzt aufgrund des Auftretens neuer Mächte wie China und Russland, aber auch durch die Risse in der US-Hegemonie. Das EU-Projekt ist gerade in dieser Situation als Bündnis großer europäischer Kapitalinteressen entstanden, die ansonsten in der Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenz unterzugehen drohten. Die EU-Verträge dienten der Schaffung eines geschützten Wirtschaftsraumes, der einheitliche Handels- und Investitionsbedingungen, insbesondere für die großen Kapitale schaffen sollte. Insofern ist die EU ein Bündnis imperialistischer Staaten, das auch seine eigene halbkoloniale Peripherie teilweise mit einbezieht. Mit den „Freizügigkeitsregelungen“ und der gemeinsamen Währungspolitik wurden dabei inzwischen tatsächlich die Profitabilitätsbedingungen stark angeglichen. Die Verflechtungen der Märkte für Waren und Dienstleistungen wie auch der Produktionsprozesse sind daher so weit gediehen, dass selbst Britannien mit all seinen Sonderwegen mit dem Brexit enorme Probleme mit der Entflechtung hat.

Zerstrittenheit über die Krisenlasten

Andererseits gehört zum EU-Kompromiss, dass die wichtigen Einzelstaaten auf einer Eigenständigkeit in wichtigen Politikfeldern bestanden: nicht nur in der Sicherheits-, sondern auch in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Nicht nur in internationalen Konflikten oder in der Migrationsfrage ist die EU daher zutiefst handlungsunfähig und zerstritten. Insbesondere in wirtschaftlichen Krisenzeiten bricht der Widerspruch von gemeinsamem Wirtschafts- und Währungsraum auf der einen Seite und der Frage von Haushaltspolitik und Schuldenmanagement auf der anderen Seite mit großer Schärfe aus. Schon in der letzten Euro-Krise mussten sich hochverschuldete Euro-Länder zu immer schlechteren Zinsen und Kreditbedingungen refinanzieren, während die „Nordländer“ das Geld auf den Kapitalmärkten quasi nachgeschmissen bekamen. Schon damals wurde der Vorschlag gemeinsamer europäischer Anleihen als Ausgleichsmechanismus dafür abgelehnt.

Die FinanzministerInnen Deutschlands, der Niederlande und anderer „Sparländer“ gerierten sich als KämpferInnen gegen eine „Transferunion“, in der angeblich „reformunwillige“ Südländer (insbesondere Griechenland) von den Ländern mit „ordentlicher Finanzpolitik“ ausgehalten würden. Wie heute auch waren aber die Südländer nicht selbstverschuldet in die Krise geraten. Die Finanzmarktderegulierungen (auch der EU) hatten ihnen in der Finanzkrise eine Bankenkrise beschert, an der auch die großen „Nord“-Kapitale stark beteiligt waren. Die schließlich beschlossenen „Rettungspakete“ waren dann eine Transformation dieser Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise, an der diese Länder bis heute leiden. Denn der Hauptmechanismus, der ESM („Europäischer Stabilisierungsmechanismus“) verband die Refinanzierung dieser Schulden mit enormen Auflagen, was Einsparungen, Steuerpolitik, „Rentenreformen“ und Ausverkauf von bisher geschützten Bereichen betraf.

Es ist daher kein Wunder, dass mit der jetzigen schweren Krise der Streit um Euroanleihen, umbenannt in „Coronabonds“, neu ausgebrochen ist. Unter Führung von Frankreich wurde diesmal der Konflikt mit den Sparmeisterländern mit harten Bandagen geführt. Immerhin geht es nicht nur um einen ökonomischen Konflikt. Inzwischen sitzen den meisten Regierungen euroskeptische PopulistInnen im Nacken, die jede Gelegenheit von „Diktaten aus Brüssel“ dazu nutzen, ihre Art von Pseudo-Opposition zu betreiben. Insbesondere in Italien war Salvini, als er noch in der Regierung war, ein Meister darin, sich als Anti-Brüssel-Held zu inszenieren – womit er mit dem Gewicht der italienischen Ökonomie weitaus mehr Aussichten hatte als die Tsipras-Regierung mit Griechenland zuvor. Die jetzige Regierung Conte steht angesichts der Schwere der Krise und der harschen Reaktion der Nordländer nun unter dem Druck einer starken EU-Ablehnung in der Bevölkerung, die Salvini wieder an die Regierung bringen könnte. Macron und die französische Bourgeoisie brauchen nach dem Brexit Länder wie Italien und Spanien unbedingt als Gegengewicht zur deutschen Vorherrschaft – und streben sowieso eine weitergehende Fiskalunion an.

Auch die wackelige niederländische Regierung unter dem „liberalen“ Premier Rutte steht unter starkem Druck der eurokritischen RechtspopulistInnen vor den Wahlen nächstes Jahr. Als Führungskraft der „Hansegruppe“ (nordeuropäische Länder, die sich als „liberale“ MusterschülerInnen sehen) fiel es daher Anfang April dem niederländischen Finanzminister Hoekstra zu, den Gegenspieler zu Macron/Conte/Sánchez zu spielen. Nach der Telefonkonferenz vom 9. April, auf der Hoekstra 36 Stunden lang jegliche Form von Eurobonds ablehnte, verkündeten einige EU-PolitikerInnen schon das mögliche Ende der EU. Portugals Ministerpräsident erwog sogar den Ausschluss der Niederlande aus der Euro-Gruppe.

Zwei Lager vor dem Hintergrund einer neuen Euro-Krise

Dabei waren die realen Positionen scheinbar gar nicht so weit auseinander. Die Notfallfonds der Europäischen Investitionsbank (EIB) für angeschlagene Unternehmen von 200 Milliarden und der EU-Kommission von 100 Milliarden für KurzarbeiterInnengeld („Sure“) waren unumstritten. Es ging letztlich darum, dass sich alle Staaten bis zu 2 % ihres BIP für ihre unmittelbaren Finanznöte in der Corona-Krise über den ESM ausleihen können sollten. Hoekstra wollte dem nur zustimmen, wenn damit auch die altbekannten Auflagen des ESM, was „Reformpolitik“ betrifft, unterschrieben würden – also die Haushaltspolitik der betroffenen Länder praktisch unter Kontrolle der EU-SparkommissarInnen gestellt würde.

Angesichts der Situation in Italien konnte dies nur als ungeheure Provokation aufgefasst werden, die den Gipfel insgesamt zum Platzen brachte. Dies führte die EU damit tatsächlich an den Rand einer schweren Krise. Für was wäre sie noch zu gebrauchen, wenn sie nicht eines ihrer zentralen Mitglieder vor dem finanziellen und politischen Kollaps bewahren kann, andererseits aber das rechts-autoritäre Orbán-Regime problemlos weiterfinanziert wird, weil es sich an die finanzpolitischen Regeln hält?

Damit kam es am 23. April zu einer weiteren „Entscheidungsschlacht“ per Videoschaltung. Als typischer weiterer EU-Kompromiss erschien nunmehr eine Art europäischer Marshallplan, ein Corona-Wiederaufbauprogramm finanziert aus dem EU-Haushalt. Da es sich dabei um ein Programm in der Größenordnung von 1 bis 1,5 Billionen Euro handelt, ist das natürlich nichts, was direkt aus dem Haushalt finanziert, – sondern nur über Kapitalaufnahme auf „den Märkten“ aufgebracht werden kann. Natürlich handelt es sich daher (wie schon bei den Maßnahmen der EZB) eigentlich wieder um eine Form der Gemeinschaftsschulden, nur, dass anders als bei den Eurobonds nicht die Einzelstaaten, sondern die EU als Ganzes in die Haftung ginge. Ironischerweise würde so die EU tatsächlich ein großer Player auf dem Gebiet der Fiskalpolitik werden (bisher ist die Agrarpolitik der größte Haushaltsbereich).

Damit ist klar, dass der alte Konflikt in neuer Form auftreten musste: um die Bedingungen des Zugangs zum Wiederaufbaufonds. Angesichts der schon vor der Krise verzweifelten Schuldenlage verlangt die Macron/Conte/Sánchez-Front, dass die Mittel als Zuwendungen („Investitionen“) fließen, während Hoekstra/Scholz darauf bestehen, dass es um Kredite (also weitere Verschuldung) geht. Auch diesbezüglich waren die Fronten so verhärtet, dass es weiterhin keine Einigung gibt. Nunmehr soll die EU-Kommission einen Kompromiss mit einem Mix aus Investitionen und Krediten finden.

Schreckgespenst EU-Kapitalismus …

Die Lösung der Zwickmühle zwischen Verschuldung, Rettung von Betrieben und langfristiger Neuausrichtung von Industrien ist natürlich schwer, wenn man von der „Unantastbarkeit“ des Privateigentums ausgeht – dieses also nur durch den Bankrott enteignet. Für SozialistInnen ist die Antwort einfacher: Streichung aller Schulden, EU-weite Verstaatlichung maroder Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle und Entwicklung eines Planes zur sozial und ökologisch gerechten Umgestaltung der europäischen Industrien.

Angesichts der Dimension der zu erwartenden Krise ist diese Verschärfung der Widersprüche in der EU eine Vorbereitung auf Heftigeres. Einerseits wirken die ökonomischen Zwänge zum Erhalt der Wirtschafts- und Währungsunion weiterhin dahin, dass das EU-Schiff durch immer neue Kompromisse auf stürmischer See zusammengeflickt wird. Dabei kann die EU während der Krise sogar zu weiteren Schritten Richtung Fiskalunion stolpern. Genauso möglich ist aber auch, dass sich der politische Streit und der weitere Aufstieg des Anti-EU-Populismus zu einer Zerfallskrise der EU aufschaukeln.

Für SozialistInnen ist klar, dass die EU insgesamt ein imperialistisches Projekt vor allem im Interesse der großen EU-Kapitale ist. Auch die jetzigen „Rettungspakete“ werden aus den Kapitalzuflüssen nicht zuletzt auch aufgrund der Weltmarktstellung der EU und des Euro finanziert. Leidtragende gerade in Krisenzeiten sind damit vor allem halbkoloniale Regionen – und denjenigen, die dann logischerweise aufgrund der angerichteten Situation zur Flucht gezwungen sind, wird dann auch noch das „demokratische“ EU-Grenzregime der „Festung Europa“ entgegengehalten. Diese EU verteidigen wir in keiner Weise – sie muss überwunden werden!

Andererseits ist die Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit ein Rückschritt und keine Alternative. Die erreichte Europäisierung der Produktivkraftentwicklung, die übernationalen Verbindungen auf vielen Ebenen, die kulturellen Vereinigungstendenzen – all das sind auch tatsächliche Fortschritte, die nicht auf dem Altar von Nationalismus, Protektionismus und wahrscheinlich auch neuem Militarismus geopfert werden sollten. Daher muss die kriselnde EU nicht durch ein Weniger, sondern durch ein Mehr an Europa ersetzt werden – etwas wozu die europäischen Bourgeoisien mit ihrer kleinlichen Krämerpolitik nicht in der Lage sind.

… oder Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa?

Trotzki fasste dies schon nach dem Ersten Weltkrieg so zusammen: „Eine mehr oder weniger vollständige wirtschaftliche Vereinigung Europas von oben durch eine Übereinkunft der kapitalistischen Regierungen ist eine Utopie. Weiter als zu Teilkompromissen und zu halben Maßnahmen kann auf diesem Wege die Sache niemals gedeihen. Umso mehr wird eine wirtschaftliche Vereinigung Europas, welche sowohl für die Produzenten als auch die Konsumenten und für die kulturelle Entwicklung überhaupt von großem Vorteil wäre, zu einer revolutionären Aufgabe des europäischen Proletariats in seinem Kampf gegen den imperialistischen Protektionismus und dessen Werkzeug, den Militarismus“ (Trotzki, Friedensprogramm). Die Vereinigten Staaten von Europa werden also erst als ein sozialistisches Projekt Wirklichkeit werden!




Die Krise der Europäischen Union

Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 1: Einleitung, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Auf ihrem Sondergipfel in Lissabon im März
2000 verpflichteten sich die Staats- und RegierungschefInnen der Europäischen
Union auf Initiative ihrer dominierenden Mächte Deutschland und Frankreich,
„Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Zwei Jahrzehnte später ist die Europäische
Union stattdessen das „schwächste Glied“ in der imperialistischen Weltordnung
geworden. Tatsächlich wäre „Unordnung“ ein besserer Begriff für eine Welt
rivalisierender Mächte, die in Handelskriege, neue kalte und heiße Kriege
verwickelt sind und die sich weigern, irgendetwas Ernsthaftes zur Verhinderung
einer Klimakatastrophe und globaler Konflikte zu tun. Innerhalb der Union
selbst sind offene Kämpfe um die Art und Zukunft ihrer Verfasstheit
ausgebrochen, einschließlich des Versuchs der drittgrößten Volkswirtschaft
auszutreten.

Nur die ArbeiterInnenklasse, die soziale
Kraft, die heute weltweit größer ist als je zuvor, kann die drohenden
gesellschaftlichen, politischen, militärischen und ökologischen Katastrophen
stoppen – durch eine revolutionäre Machteroberung und einen sozialistischen
Produktionsplan. Doch die Führungen ihrer Massenorganisationen, der politischen
wie gewerkschaftlichen, haben sich wiederholt als unfähig erwiesen, sich diesen
Aufgaben überhaupt zu stellen, geschweige sie zu erfüllen.

Mit der Einführung des Euro um die
Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 sollte der schon damals
größte Markt der Welt zu einem gemeinsamen europäischen Kapitalblock werden.
Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische und militärische
Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer Herrschaft. Seine
führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig, dass sie zu den USA
aufschließen und sie weltweit herausfordern wollten.

Sie verabschiedeten eine Reihe von
Maßnahmen zur wirtschaftlichen Vereinheitlichung der EU:

  • die vollständige Umsetzung einer europaweiten, neoliberalen Agenda, die es den großen Monopolen ermöglichen sollte, alles zu übernehmen, was noch nicht privatisiert und kommerzialisiert worden war;
  • mehr „Reformen“ auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen durchzuführen, d. h. ein Programm zum Abbau der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, zur Erhöhung der Ausbeutung und zur Verringerung der Leistungen der Sozialversicherung und der „Lohnnebenkosten“, wodurch die Arbeitskraft sowohl in den wichtigsten imperialistischen Ländern als auch in den schwächeren halbkolonialen Staaten Ost- und Südeuropas massiv verbilligt werden sollte;
  • weitere Expansion der EU und der Eurozone unter der direkten Führung Deutschlands und der anderen führenden imerialistischen Mächte  mit dem Ziel, neu eintretende Länder zu einem halb-kolonialen Raum unter ihrer direkten Kontrolle zu machen.
  • das gesamte europäische Finanzsystem und die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten einer stärkeren Kontrolle durch die Europäische Zentralbank (EZB) durch Europa-Abkommen und europäische Institutionen unterzuordnen, die ihrerseits von den großen und wettbewerbsfähigsten Mächten des Kontinents dominiert werden;
  • die Schaffung von „europäischen Champions“, also  großen Monopolen, die über die bestehenden nationalen Kapitalstrukturen hinausgehen und so Banken, Industrie- und Dienstleistungskonzerne bilden, die mit US-amerikanischen,  japanischen und chinesischen WettbewerberInnen konkurrieren können;
  • die Vereinheitlichung der europäischen Forschung und Entwicklung sowie der Bildungssysteme im Sinne des Ziels, den größten „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu schaffen;
  • die Vereinheitlichung der Sicherheitsorgane, die Bildung europäischer Kampfverbände und verschiedene Schritte zur Bildung einer europäischen Armee;   
  • Ausweitung des freien Finanz-, Waren- und Arbeitskräfteverkehrs innerhalb der EU bei gleichzeitiger Versiegelung ihrer Grenzen durch gemeinsame Abkommen (Schengen, Dublin,…), um die so genannte Festung Europa zu schaffen.

All dies erforderte eine ideologische
Rechtfertigung wie die Schaffung eines Raums der „Demokratie“ und des
„Friedens“, des Fortschritts, des sozialen Wohlstands, der Menschenrechte und
in jüngster Zeit der weltweiten Führungsrolle bei der Bewältigung der
Umweltkrise.

Diese Ansprüche waren immer falsch. Vom
Vertrag von Rom bis zu den heutigen rassistischen Grenzkontrollen waren die EU
und ihre Vorgängerinnen stets Projekte der großen imperialistischen Mächte des
Kontinents, zunächst in enger Zusammenarbeit mit den USA, später aber in einem
zunehmend  konkurrenzorientierten
Verhältnis.

In den 1990er Jahren und sogar Anfang der
2000er Jahre war die EU eindeutig auf dem Vormarsch. Der Sieg des Westens im
Kalten Krieg öffnete Osteuropa für das europäische Großkapital, wobei der
deutsche Imperialismus eine Vorreiterrolle spielte. Die Wiedervereinigung
machte ihn zur mit Abstand stärksten Macht des Kontinents, weit vor seinen
französischen, britischen oder italienischen Partnern und Rivalen.

Der Aufstieg der EU war von der Allianz des
deutschen und französischen Imperialismus vorangetrieben worden, verkörpert in
der engen Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, dann
zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Sie verkörperten auch eine
europaweite Koalition zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen, um das
europäische Projekt voranzutreiben.




Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 2, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Das 21. Jahrhundert hat jedoch die tiefen
Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von Anfang an verkörperte, an die
Oberfläche gebracht. Millionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, ja
sogar große Teile der „Mittelschicht“, sind von der Politik der Europäischen
Kommission, der EZB, der Staats- und RegierungschefInnen und der
SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte enttäuscht worden.

Um die Jahrhundertwende, als die
FührerInnen der Welt eine Ära der Globalisierung bejubelten, wurde die
neoliberale Politik als unverzichtbarer Bestandteil dieser angeblich neuen
Weltordnung angesehen. Die Europäische Union erlebte eine Hinwendung zu dem,
was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt. Die Großmächte und die
EU-Institutionen haben den Weg der „Reformen des freien Marktes“ eingeschlagen.
Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines „sozialen Europas“, das
wohlhabend, „demokratisch“ und „humanitär“ sei, als schamlose Lügen offenbar.

Die Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren
Schwerpunkten Sparpolitik, „Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit
markierte nicht nur einen deutlichen Wandel in der Politik der EU, sondern auch
eine Ablehnung von „Wohlfahrtsstaat“ und Keynesianismus durch alle europäischen
Bourgeoisien. Nicht nur konservative Parteien, sondern auch Labour- und
sozialdemokratische Parteien passten sich an den Neoliberalismus an. Ohne
Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“-Politik wäre die
Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder zumindest auf
viel mehr Widerstand und Schwierigkeiten gestoßen.

Die führenden Mächte und die Europäische
Kommission wollten nicht nur die Lissabon-Agenda, sondern auch eine neoliberale
Verfassung für die Europäische Union durchsetzen. Dies stieß jedoch auf
massiven Widerstand in der Bevölkerung und wurde in Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden abgelehnt.

Die Antwort der europäischen Regierungen
und Institutionen war aufschlussreich. Nachdem die von ihnen vorgeschlagene Verfassung
abgelehnt worden war, führten sie sie in Form eines „Vertrages“ ein. Dadurch
wurde das Demokratiedefizit der EU für Millionen deutlich. Es wurde auch
deutlich, dass es soziale, ökologische und andere Defizite gibt, die hinter
diesem Mangel an europäischer Demokratie stehen. Es bestätigte sich, dass die
herrschenden Klassen den europäischen Kontinent weder auf demokratische,
geschweige denn „soziale“ Weise vereinen können noch wollen. Ja, sie sind
bereit, den „Willen des Volkes“ völlig zu ignorieren.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche
Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege. Die europäischen Regierungen
haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie Syrien oder Libyen bombardieren
oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder anderen afrikanischen Staaten
intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine einmischen sollten. Sie
konsultierten ihre Bevölkerung auch nicht, ob sie neue europäische
Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO unterstützen und
Truppenaufmärsche an den Grenzen Russlands durchführen und damit einen neuen
Kalten Krieg beginnen sollten.

Das letzte Jahrzehnt hat die
Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist,
deutlich gemacht.

Wirtschaftlich ist sie weit hinter den USA
und China zurückgeblieben. Gleichzeitig haben die neoliberale Agenda und die
insbesondere vom deutschen Imperialismus der EU auferlegte Anti-Krisenpolitik
die Ungleichheit und Ungleichmäßigkeit innerhalb der Union selbst verstärkt.
Nach der großen Rezession haben Deutschland und andere wettbewerbsfähigere
Länder die Kosten der Krise auf die schwächeren europäischen Volkswirtschaften
abgewälzt. Die Institutionen der Eurozone ließen im Namen der
Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig verarmen. Sie verhängten
eine wüste Sparpolitik gegen Griechenland und andere Staaten, was deren
Erholung weitgehend verhinderte und sie noch anfälliger macht, falls eine neue
globale Rezession eintritt. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen
hohen Preis, weil sie die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der
Eurozone verstärkten.

Militärisch und geopolitisch bleibt die EU
ein Zwerg, der nicht in der Lage ist, eine Rolle zu spielen, die ihn als
ebenbürtig  gegenüber den USA,
China oder Russland ausweisen würde. Die Versuche der europäischen Mächte, dies
zu überwinden, sind alle halbherzig und spiegeln oft eher ihre Spannungen
untereinander als eine klare Politik wider. Als die EU versuchte, eine
Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in der Ukraine zu spielen, konnte sie
nicht verhindern, dass die USA sie in einen neuen Kalten Krieg hineinziehen
konnten und damit die Pläne Deutschlands für engere Wirtschaftsbeziehungen zu
Russland und darüberhinaus zu China zunichte machten.

Als Antwort darauf begann Putin, unbotmäßige
EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme populistische Bewegungen auf dem
ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig verschärfte die aggressive
„America-First“-Politik der Trump-Administration nicht nur die Spannungen
zwischen der EU und den USA bezüglich der Handels-, Militär- und
internationalen Politik, sondern auch innerhalb der EU und sogar innerhalb der
herrschenden Klassen derer Großmächte. Die EU entwickelt sich damit zu einem
potenziellen Schauplatz, auf dem externe Mächte einige Mitgliedstaaten
gegeneinander ausspielen können. Italien hat unter seiner rechtspopulistischen
Regierung gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs eingegriffen
und ein Abkommen mit China zu seiner „Neuen Seidenstraße“ (one belt, one road)
geschlossen, das von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte Flüchtlingskrise machte die
Spannungen noch deutlicher. Einwanderung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind
zu einem Mittel geworden, um Massenkräfte von desillusionierten
kleinbürgerlichen oder sogar von rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse
zu sammeln, die verarmt sind oder die Armut fürchten. Der Aufstieg des
Nationalismus und der EU-feindlichen Teile der Bourgeoisie und des
KleinbürgerInnentums spiegelt diese wachsenden Spannungen und inneren
Widersprüche wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch
eine Föderation von Nationalstaaten, jeder mit seinen konkurrierenden
Interessen.

Kein Wunder also, dass dies zur Bildung von
EU-feindlichen, rechtspopulistischen und 
rassistischen Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die
versuchen, sich als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch
dominierten EU zu präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald
kleinbürgerliche Kräfte die Szene betreten, kann und wird diese Krise
irrationale Formen annehmen, die extremsten derzeit in Großbritannien, wo das
ganze Land in einem Brexit festsitzt, den die Mehrheit der Bevölkerung und die
Mehrheit der beiden großen Klassen eigentlich nicht will.




Der Charakter der EU und die Ursachen der aktuellen Krise

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 4, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Die EU befindet sich in einer historischen Krise. Großbritannien hat sich entschieden, die EU zu verlassen, auch wenn der Brexit noch verschoben werden könnte. Der Brexit würde nicht nur bedeuten, dass die EU ihre drittgrößte Volkswirtschaft und eine Nuklearmacht verliert, sondern dürfte auch viele der verbleibenden Industrien des Vereinigten Königreichs selbst zerstören, insbesondere angesichts einer Konjunkturabschwächung und einer neuen sich abzeichnenden Rezession.

Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 und die
„Schuldenkrise“ 2010/2011 haben die kapitalistischen Widersprüche in der EU
verstärkt und verschärft. Mit massiven Finanzmitteln wurden das Europäische
Finanzaufsichtssystem, das ESFS, und der Europäische Stabilitätsmechanismus,
ESM, eingerichtet, um Banken, Finanzinstitute und die Aktienmärkte in Gang zu
halten. Dies führte zu einem Anstieg der Staatsverschuldung und zur Auferlegung
von Sparprogrammen für große Teile Europas.

Das neoliberale Dogma des Sparens und
Kürzens wurde den Haushalten der verschiedenen Staaten aufgedrückt, die
sogenannte „schwarze Null“ (ein Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen)
wurde zum Hauptziel der EU-Institutionen. Die wirtschaftlich schwächeren Staaten
der EU, deren Wirtschaft größtenteils durch Neuverschuldung expandiert war,
wurden damit ökonomisch ruiniert, während die wirtschaftlich stärkeren Staaten
relativ stabil blieben oder sich sogar stärken konnten.

Das deutsche Industriekapital konnte seine
Vormachtstellung innerhalb der EU ausbauen, seine Produktionsketten und
Marktmacht konsolidieren und die Konkurrenz aus anderen EU-Staaten schwächen.
Insbesondere in den Bereichen Maschinenbau, Automobilindustrie, Elektronik,
Chemie und Energie konnte die Marktmacht ausgebaut werden, während die
Konkurrenz aus Frankreich, Großbritannien und Italien an Boden verlor.

Der mit Deutschland wirtschaftlich
verbundene Block, d. h. Österreich, Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei
sowie teilweise Skandinavien und Benelux, konnte die Krise im Bereich der
Industrieproduktion schneller überwinden und die Werke in Osteuropa sogar
ausbauen. In Südeuropa, aber auch in Frankreich und Großbritannien kamen die
Industriemonopole unter Druck. Aufgrund des Brexit begannen ausländische
InvestorInnen, die Produktion für den europäischen Markt in die 27 EU-Staaten
zu verlagern, was massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Großbritanniens
haben könnte.

So führte die Krise sowohl zu einer
weiteren Kapitalkonzentration als auch zu einer neoliberalen Offensive gegen
den öffentlichen Sektor sowohl in Bezug auf Beschäftigung als auch auf
Dienstleistungen, vor allem auf Kosten der ArbeiterInnenklasse und der
lohnabhängigen Mittelschichten. Diese Krisenergebnisse waren kein „Zufall“,
sondern vom gemeinsamen Binnenmarkt und vom Währungsraum vorprogrammiert. Neben
den Kreditprogrammen für die Banken, Börsen und Staatsanleihen wurde eine
europäische Schuldenbremse eingeführt ebenso wie verschiedene Mechanismen zur
Vertiefung der neoliberalen Politik auf dem Kontinent, sei es im Kampf gegen
Gewerkschaftsorganisierung, Tarifverträge, Rechte oder für den weiteren Abbau
von Arbeitsschutz und Rentenansprüchen.

Während eine solche Politik weiterhin auf
dem Rücken der LohnempfängerInnen und der südeuropäischen Volkswirtschaften
durchgesetzt wird, gibt es auch viele Risse innerhalb der bürgerlichen Klassen
und ihrer angeschlossenen kleinbürgerlichen Schichten, die ebenfalls Teil des
imperialistischen Projekts der EU sind. Die verhängten Maßnahmen konnten die
Ursachen der globalen kapitalistischen Krise, die zu Finanzkrise und Rezession
führte, nicht aufheben. Das globale Kapital ist nach wie vor von einer
Kapital-Überakkumulation und sinkenden Gewinnmargen betroffen. Die Politik der
USA und der EU, der Aufstieg Chinas als imperialistische Macht sowie die
expandierenden halbkolonialen Volkswirtschaften (vor allem Indien) führen dazu,
dass die Probleme der Überakkumulation in der nächsten Rezession noch stärker
zum Tragen kommen werden. Die Finanzblase ist in jeder Beziehung größer als die
vor 2008, und der Industriesektor hat nicht die notwendige Zerstörung von
Sachkapital erfahren. Gleichzeitig sind die Reserven zur Bewältigung der
nächsten Rezession begrenzter, mit bereits niedrigen Zinssätzen und massiven
Schulden im staatlichen und privaten Sektor.

Schließlich sind die Chancen für eine
koordinierte Reaktion der Großmächte wie 2009/2010 gering. Die nächste
Rezession wird vor dem Hintergrund eines verschärften Kampfes um die
Neuaufteilung der Welt ausbrechen. Die großen kapitalistischen Mächte werden
zwar weiterhin darauf abzielen, einen Zusammenbruch des Welthandels und des
Finanzgeschäfts zu verhindern, gleichzeitig aber darauf, ihre KonkurrentInnen
mit den Kosten der Rezession zu belasten.

Vor diesem Hintergrund werden nicht nur die
EU, sondern auch deren einzelne Volkswirtschaften massiv unter Druck geraten.
Die EU und die nationalen Regierungen werden vor der Wahl stehen, ob sie ihren
US-amerikanischen und chinesischen KonkurrentInnen eine gemeinsame Antwort
erteilen oder die Kosten der Krisen auf die halbkolonialen oder auch
schwächeren imperialistischen Volkswirtschaften abladen wollen. Auch die
bereits angespannten deutsch-französischen Beziehungen werden auf die Probe
gestellt werden.

Der Charakter der Europäischen Union als
Block von Nationalstaaten und nicht als Bundesstaat wird sich bemerkbar machen.
Dies spiegelt sich in der Tatsache wider, dass sich in der Bourgeoisie wenig
„europäisches Bewusstsein“ entwickelt hat. Das Großkapital und die Finanzhäuser
werden nach wie vor von den in den dominierenden Ländern verwurzelten Monopolen
dominiert. „Europäisches“ Kapital ist eigentlich deutsches, französisches,
italienisches oder sonstiges Kapital, das noch immer in den jeweiligen
Volkswirtschaften verwurzelt ist.

Die Kapitale der schwächeren
kapitalistischen Staaten, vor allem Ost- und Südeuropas, unterliegen dem
dominanten imperialistischen Kapital, das sich während der Krise erweitert und
gestärkt hat. Teile der britischen und italienischen Bourgeoisie suchen nun
nach Auswegen auf nationaler Ebene. Italien will seinen Status als
imperialistische Macht behaupten, steht aber unter dem Druck seiner
GläubigerInnen. Der ständige Wettbewerb mit dem deutschen Imperialismus hat
nicht zu einer „Annäherung“, geschweige denn zu einer Abschwächung der inneren
Spannungen geführt, wie es sich der französische Imperialismus erhofft hatte.
Vielmehr ist das genaue Gegenteil eingetreten: Im Kapitalismus überwiegt
der/die stärkste MarktteilnehmerIn und wirtschaftliche Ungleichgewichte werden
reproduziert und sogar verstärkt.

Die kommende Wirtschaftskrise wird die EU
und die Eurozone auf den Prüfstand stellen. Was das Projekt der Vereinigung
Europas betrifft, so gibt es mehrere mögliche Szenarien. Wenn die EU in konkurrierende
Blöcke mit jeweils „eigenen“ Sonderwirtschaftszonen zerfällt, würde die
deutsch-französische Führung sicherlich zerbrechen. Andererseits dürfte ein
kleiner „Kerneuropa“-Block um Deutschland oder gar Deutschland-Frankreich
weiterhin große Teile Europas wirtschaftlich dominieren, wenn auch in anderer
Form. Im schlimmsten Fall könnten die EU in zahlreiche „unabhängige“ Staaten
implodieren, die bereits geschaffenen Wirtschaftsbeziehungen sich auflösen und
dies zum völligen Zerfall der Produktivkräfte führen und damit eine Form der
Balkanisierung des gesamten Kontinents heraufbeschwören.

Schließlich kann auch eine Form der
Vereinigung unter deutsch-französischer Führung nicht völlig ausgeschlossen
werden, aber dies könnte nur eine vollständige politische Unterordnung der
anderen EU-Staaten, insbesondere der wirtschaftlich schwächeren, bedeuten. Sie
könnte nur durch wirtschaftliche Gewalt und politischen Zwang zustande kommen
und wäre daher eine „Vereinigung“, die früher oder später zu Spannungen, Konflikten
und Auseinanderfallen führen würde.

Die europäische Wirtschaft und das soziale
Leben haben sich zwar stärker europaweit verzahnt und integriert, so dass die
Freizügigkeit der Menschen auf dem gesamten Kontinent möglich werden konnte und
als Folge davon die nationale Engstirnigkeit sich bis zu einem gewissen Grad
verringert hat, insbesondere bei den jungen Menschen und denjenigen, die in
international organisierten Dienstleistungen und Industrien tätig sind. Aber
die kapitalistischen Klassen waren nicht in der Lage, den Kontinent zu
vereinheitlichen, da dies auch die Überwindung seiner ungleichen Entwicklung
und die Anhebung der sozialen und wirtschaftlichen Standards auf das höchste
Niveau erfordern würde. Das ist auf kapitalistischer Ebene unmöglich, ebenso
wie es für die imperialistischen Bourgeoisien aus Deutschland, Frankreich und
die schwächeren Mächte unmöglich ist, den Kontinent organisch zu entwickeln.
Für sie ist die Vereinigung Europas nur dann sinnvoll, wenn sie auf der
Dominanz ihres Kapitals beruht, auf der Fortsetzung der Ausbeutung
halbkolonialer Räume durch Integration dieser in ihre Produktions- und
Vermarktungssysteme. Während die deutsche und die französische herrschende
Klasse sich vielleicht darauf einigen könnten, die schwächeren Teile des
Kontinents unter sich aufzuteilen, streben dennoch beide
KapitalistInnenklassen, beide imperialistischen Staaten danach, der dominante
Teil in dieser Beziehung zu sein – ein Widerspruch, der nicht auf der Grundlage
des kapitalistischen Systems überwunden werden kann.

Darüber hinaus versuchen die
HauptkonkurrentInnen der EU bereits, diese Krise zu nutzen und in sie
einzugreifen. Die USA unter Trump wollen die EU als eine Reihe von einzelnen
Handels- und IndustriepartnerInnen behandeln und so zerlegen. China strebt den
Zugang zur EU an und nutzt die Bedeutung seines Marktes für das europäische
Kapital im Kampf mit den USA. Russland will auch eingreifen, wenn auch mit dem
bescheideneren Ziel, Wirtschaftssanktionen und eine politische Isolierung durch
die USA und einige EU-Staaten zu überwinden. Selbst schwächere imperialistische
Mächte außerhalb der EU suchen Zugang zu ihren Märkten. Schließlich versuchen
nicht nur Staaten, sondern auch einige Teile der globalen Rechten, wie z. B.
die Alt-Right aus den USA, sich in die Krise Europas einzumischen.

Die aktuellen Spannungen und inneren
Widersprüche drücken sich darin aus, dass die EU an einer Reihe von Fronten
nicht vorankommt. Ihre Struktur und Verfassung spottet nicht nur selbst
bürgerlichen Formen der Demokratie. Der Verbleib entscheidender Kompetenzen bei
den nationalen Regierungen hat auch zu inneren Blockaden, Verzögerung von
„Reformprojekten“ und einer Reihe halbherziger Entscheidungen geführt. Die
vermeintlichen „Lösungen“ für diese Probleme haben selbst zu einer Abschaffung
der demokratischen Kontrolle, vor allem im Finanz- und Wirtschaftsbereich, oder
zu „Ausnahmen“ von den EU-Vorschriften geführt, die die Verhandlungsmacht der
verschiedenen Staaten widerspiegeln.

Je größer die Krise der Institution, je
geringer ihre Legitimität in der Bevölkerung, desto mehr „ermuntert“ dies einen
reaktionären Antieuropäismus der populistischen oder gar faschistischen
Rechten. Die Salvinis, Orbáns, Straches der Welt, obwohl sie alle AnhängerInnen
ihres nationalen Kapitals und der Interessen ausländischer InvestorInnen sind,
nutzen die wirkliche arbeiterInnenfeindliche und antisoziale Politik der EU
oder der Großmächte aus einem erzreaktionären, nationalistischen und
rassistischen Blickwinkel.

Andererseits stellen die liberalen, grünen,
proeuropäischen Konservativen sowie die Mehrheit der Sozialdemokratie und der
Gewerkschaften die derzeitige EU und ihre Reform als eine ultimative Leistung
dar. Sie bezeichnen alle, die die EU ablehnen, als neoliberal, undemokratisch, rassistisch
oder imperialistisch und als „antieuropäisch“.

Beide Lager versuchen, die Massen für ihre
eigenen Zwecke zu täuschen, aber für die europäischen KapitalistInnenenklassen
steht der entscheidende Moment bevor. Sie brauchen eine „Reform“ der EU, um
ihre inneren Blockaden zu überwinden, um eine politische und militärische
Vereinigung von oben herbeizuführen und die EU zu einer echten Konkurrentin
gegenüber den USA oder China zu machen. Oder sie müssen sich für eine andere
Strategie entscheiden.

Diese könnte in einer untergeordneten
„Partnerschaft“ mit einer der stärkeren Mächte bestehen und darin, die Rolle
einer „Juniorpartnerin“ in der Weltpolitik zu spielen, wenn die EU weiter
stagniert. Natürlich könnte es eine „privilegierte Partnerschaft“ mit den USA
geben ebenso wie enge Beziehungen zu einem expandierenden China oder eine
engere Zusammenarbeit mit Japan. Gleichzeitig wird die anhaltende Krise auch zu
„Blöcken“ innerhalb der EU führen, sei es um eine dominante europäische Macht
wie Deutschland herum oder um andere imperialistische Mächte herum, wie den
USA. Nichts ist sicher außer der Tatsache, dass sich die Dinge nicht mehr so
wie bisher hinziehen können. Europa ist bereits in einer tiefen Krisenphase und
diese wird sich fortsetzen und verschärfen.




Perspektive: Euro-Krise und Euro-Austritt

Susanne Kühn, Neue Internationale 181, Juli/August 2013

Die permanente Krise der EU und der Euro-Zone wirft in fast allen europäischen Ländern die Frage nach dem Austritt aus Euro oder EU auf. Das gilt auch für die Linke. In Griechenland ist das fast zur Standfrage jedes Radikalen geworden. In Deutschland liebäugeln Lafontaine und Wagenknecht damit.

Diese Frage wird in den nächsten Jahren noch stärker ins Zentrum politischer Debatten treten, je mehr sich die Krise der EU vertieft. Schon jetzt vertritt ein größer werdender Teil der politischen Linken die Parole eines Austritts von Ländern wie Griechenland aus der Euro-Zone.

Die reformistische Linke, die stalinistische KKE oder linke Keynesianer wie Costas Lapavitsas von Syriza versprechen, dass eine Rückkehr zur Drachme die Grundlagen für eine „eigenständige“ nationale Wirtschaftspolitik und eine prosperierende Nationalökonomie auf Basis eines keynesianischen Programms oder einer nicht näher definierten „Volksmacht“ (KKE) legen könne. Lapavitsas erkennt dabei immerhin an, dass eine Währungsreform in Griechenland zu einer massiven Abwertung der neuen Währung und damit auch der verbliebenen Geldvermögen der Massen führen würde. Aber nach eine gewissen „Umstellungsphase“ könne wieder eine ausgewogene Entwicklung der nationalen Wirtschaft erreicht werden. Dieses Programm ist utopisch und gegen die Arbeiterklasse gerichtet.

Warum? Die kapitalistische Krise kann nicht auf Basis einer „unabhängigen“ nationalen – und weiter kapitalistischen – Ökonomie gelöst werden. Der Weltmarkt und das imperialistische Weltsystem sind eine Realität, die der jeweiligen Volkswirtschaft ihren Platz im Rahmen internationaler Arbeitsteilung und Hierarchie zuweist – unabhängig davon, ob sie eine eigene Währung hat oder nicht.

Auch wenn revolutionäre MarxistInnen das Recht auf nationale Selbstbestimmung verteidigen (und damit auch das Recht jedes Landes, aus der EU auszutreten), wäre es andererseits ein politisch gefährliches, ja schädliches Zugeständnis an jeden Nationalismus zu suggerieren, dass die sozialen Interessen der Arbeiterklasse u.a. nicht-ausbeutender Klassen in einem „unabhängigen“ Nationalstaat besser aufgehoben wären.

Die nationalstaatliche Ordnung des globalen Kapitalismus ist vielmehr eine Fessel, eine Schranke für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte, eine Quelle der Krise und nicht ihrer Lösung.

Die Vereinheitlichung der EU, die Einführung des Euro sind auch eine Antwort auf reale Entwicklungstendenzen der Produktivkräfte, wenn auch unter der Herrschaft des Finanzkapitals und der Regierungen Deutschlands, Frankreichs u.a. „führender“ EU-Staaten.

Doch die aktuelle Krise der EU, das immer stärkere Auseinanderdriften der EU und des Euro-Raums sind notwendige, keinesfalls zufällige Auswirkungen der Tatsache, dass die imperialistische Bourgeoisie Europa in ihrem Interesse zu „einen“ versucht – damit allerdings eher das Gegenteil dessen erreicht.

Die Herrschaft dieser Bourgeoisie ist somit selbst zu einem Hindernis für die Überwindung der europäischen Krise geworden, für eine Lösung der großen Probleme des Kontinents, für die Überwindung der nationalen Schranken und sozialen Ungleichheit.

Wie aber sollen nun RevolutionärInnen, wie soll die Arbeiterklasse reagieren?

Indem sie selbst die Parole der Rückkehr zu einem „eigenen“ nationalen Staat, zu einer „eigenen“ Währung aufstellt? Das wäre in der Tat ein Schritt zurück hinter den erreichten Stand der Internationalisierung der Produktivkräfte, es wäre eine reaktionäre Losung.

Die Losung muss vielmehr sein: „Keine Opfer für EU oder Euro!“ Das bedeutet: Nein zu allen Spardiktaten, allen Auflagen usw. Zweifellos könnte eine solche Politik – auch   wenn sich eine bürgerliche Regierung weigern würde, den Diktaten der EU zu folgen – zu einem Rauswurf eines Landes aus der Euro-Zone führen. Die deutschen und französischen Imperialisten würden dann wahrscheinlich ein Exempel statuieren wollen.

In diesem Fall müsste die Arbeiterbewegung in Europa gegen den Rauswurf des Landes ankämpfen und stattdessen die Streichung aller Sparprogramme, die Streichung der Schulden usw. fordern.

Die Antwort von RevolutionärInnen auf die imperialistische Einigung ist nämlich grundsätzlich nicht die Rückkehr zu unabhängigen Nationalstaaten mit eigener Währung etc., sondern die Vereinigung Europas durch die Arbeiterklasse, der Kampf für die Vereinigten sozialistischen Staaten Europas. Auf diesem Weg ist der Austritt irgendeines Landes aus der Eurozone kein wie immer gearteter unvermeidlicher Punkt. Im Gegenteil: im Kampf für eine revolutionäre Vereinigung Europas wäre das vielmehr ein Rückschritt.

Leo Trotzki hat sich in seinem „Friedensprogamm“ von 1916/17 hypothetisch mit dem Fall einer imperialistischen Einigung Europas und der Politik des Proletariats für diesen Fall befasst:

„Nehmen wir einmal für einen Augenblick an, dass es der deutsche Imperialismus schafft, eine zwangsweise halbe Union Europas tatsächlich zu verwirklichen, wie der preußische Militarismus in der Vergangenheit die halbe Union von Deutschland geschafft hat. Was wäre dann die zentrale Parole des europäischen Proletariats? Wäre es die Auflösung des Zwangsbündnisses und die Rückkehr aller Völker unter die Obhut isolierter Nationalstaaten? Oder wohl die Wiederherstellung der Zollgrenzen, der ‚nationalen‘ Geldsysteme, der ‚nationalen‘ Sozialgesetzgebung und so weiter? Sicher nichts davon. Das Programm der revolutionären europäischen Bewegung wäre dann die Zerstörung der antidemokratischen Zwangsform des Bündnisses, bei der völligen Beibehaltung und Erweiterung seiner Basis in Form der völligen Aufhebung der Zölle, der Vereinigung der Gesetzgebung und vor allem der Arbeitsgesetze etc. Mit anderen Worten, die Parole der Vereinigten Staaten Europas ‚ohne Zölle, ohne ständige Heere‘ würde unter diesen Bedingungen die vereinigende und leitende Parole der europäischen Revolution.“

Arbeiterregierung

Diese strategische Linie muss natürlich ergänzt werden durch die Parole der Arbeiterregierung resp. der Arbeiter- und Bauernregierung als einer Übergangsform zur Herrschaft der Arbeiterklasse, zur Diktatur des Proletariats.

Doch selbst für eine Arbeiterregierung – sollte sie z.B. in Griechenland entstehen – wäre der Austritt aus dem Euro keine strategische Option. Vielmehr ginge es um den engeren Zusammenschluss mit der Arbeiterklasse auf dem ganzen Kontinent und die Ausweitung der europäischen Revolution. Ein unmittelbares zentrales Ziel wäre es z.B., der europäischen Bourgeoisie die Kontrolle über die Zentralbank streitig zu machen, die entschädigungslose Verstaatlichung der europäischen Banken unter Kontrolle der ArbeiterInnen, der Gewerkschaften und lohnabhängigen BankkundInnen zu fordern.

Natürlich kann der Austritt aus der Euro-Zone für einen Arbeiterstaat notwendig werden. Das hängt jedoch vom Entwicklungstempo des Klassenkampfes auf dem Kontinent selbst ab. Die Errichtung einer Arbeiterregierung in nur einem Staat hätte unvermeidlich massive Auswirkungen für ganz Europa, insbesondere für die EU und die Eurozone.

Die Auffassung, dass eine Arbeiterregierung – womöglich noch in jedem europäischen Land (auch in Deutschland?!) – in jedem Fall aus dem Euro aussteigen müsse, verlässt letztlich den Boden des Internationalismus. Für eine solche Position ist die Revolution in Europa bestenfalls die Summe nationaler Revolution – nicht umgekehrt Teil einer größeren europäischen Bewegung.