AfD bekämpfen – aber wie?

Stefan Katzer, Infomail 1246, 23. Februar 2024

Seit Wochen gehen Menschen in ganz Deutschland auf die Straße, um gegen die AfD zu demonstrieren. Hunderttausende beteiligten sich an Kundgebungen in den großen Städten und auch in mittelgroßen und kleineren kam es zu Protesten. Die Teilnehmer:innen zeigen sich vielfach empört über die Deportationspläne, die auf einem Treffen zwischen Mitgliedern der AfD, der Werteunion und Vertreter:innen rechtsextremer Gruppierungen diskutiert und durch eine Recherche Anfang Januar bekanntwurden. Diese Pläne machen deutlich, was die AfD vorhat, sollte sie an die Regierung kommen. Sie stellt ohne jeden Zweifel eine reale Bedrohung dar, insbesondere für rassistisch unterdrückte Menschen. Sollte man sie deshalb verbieten? Diese Frage wird seitdem vermehrt diskutiert.

Bürgerlich-demokratische Heuchelei

Zunächst ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass sich die Lage rassistisch unterdrückter Menschen bereits unter der regierenden Ampel-Koalition dramatisch verschlechtert hat. Während die AfD aufgrund ihrer Rolle als Oppositionspartei bisher nur davon träumen kann, Menschen massenweise abzuschieben, hat die Bundesregierung bereits vor einigen Wochen eine Abschiebeoffensive angekündigt. In diesem Zusammenhang hat sie das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz verabschiedet und die Repression gegenüber Geflüchteten massiv verschärft. Der Entscheidung vorausgegangen war eine monatelange Debatte, in der sowohl die regierenden Ampel-Parteien als auch die oppositionelle CDU/CSU das „Problem“ der „illegalen“ Migration immer weiter aufbauschten und der AfD damit in die Karten spielten. Sowohl die Ampel-Parteien wie auch die oppositionelle Union haben dadurch dem Rechtsruck und weiteren Aufstieg der AfD den Boden bereitet.

Nun aber, da die AfD in einigen ostdeutschen Bundesländern laut Umfragen stärkste Kraft zu werden droht, reihen sich diese Heuchler:innen in die Anti-AfD-Proteste ein und versuchen zugleich, sie für ihre eigenen Zwecke zu vereinnahmen. Dementsprechend handelt es sich bei der Bewegung, die in den letzten Wochen auf der Straße war, um ein breites, klassenübergreifendes Bündnis, das von sehr unterschiedlichen politischen Kräften und gesellschaftlichen Schichten getragen wird. Die Frage, die dabei im Raum steht, ist die, wie die AfD wirksam bekämpft werden kann.

Verbieten oder bekämpfen?

Ein Vorschlag, der in letzter Zeit vermehrt diskutiert wird, ist der nach einem Verbot der Partei. Eine Online-Petition, die ein solches Verbot fordert, konnte bis zum jetzigen Zeitpunkt bereits hunderttausende Unterschriften sammeln. Die Befürworter:innen des Verbots beziehen sich dabei auf Artikel 21 des Grundgesetzes, wonach Parteien, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen, verfassungswidrig sind und daher verboten werden können.

Auch in linken Kreisen wird dieser Vorschlag vermehrt diskutiert. In der Zeitschrift „Analyse und Kritik“ argumentieren die Autor:innen des Artikels „Verboten faschistisch“, dass die Linke den Verbotsvorschlag aufgreifen und mit ihren eigenen Argumenten unterfüttern solle. Sie plädieren dafür, die Verbotsforderung gegenüber der AfD mit deren konkreter Politik zu begründen und nicht mit dem Hinweis darauf, dass diese „extremistisch“ sei. Dies ermögliche es der Linken, die Verbotsforderung gegenüber der AfD mit einer Kritik an anderen bürgerlichen Parteien und deren migrationsfeindlicher Politik zu verbinden und sich selbst aus der Schussbahn zu nehmen.

Es ist dabei keineswegs so, dass die Autor:innen das Verbot als Allheilmittel gegen Rechtsruck und Faschismus betrachten. Vielmehr begreifen sie es als eine Art Notwehrmaßnahme, um bestehende Handlungsspielräume für die eigene, linke Politik zu sichern. Laut den Autor:innen sei das Verbot der AfD derzeit „der einzige Vorschlag mit Hand und Fuß“ und daher unterstützenswert. Dem Einwand, dass sich eine solche Verbotsforderung auch gegen linke Organisationen richten könnte, messen sie gegenüber den Vorteilen eines Verbots weniger Gewicht bei.

Zwar sind auch die Autor:innen überzeugt, dass durch ein Verbot der AfD die rassistischen Einstellungen ihrer Anhänger:innen und Wähler:innen nicht einfach verschwinden würden, doch würde es „die politische Schlagkraft dieser Einstellungen durch parteipolitische Formierung, Sammlung und Finanzierung, einschränken.“

Von Böcken und Gärtnern: der bürgerliche Staat als antifaschistisches Bollwerk?

Allein: Bis zu einer Entscheidung über ein Verbot könnten Jahre vergehen. Es ist also keineswegs so, dass es, sollte es tatsächlich dazu kommen, kurzfristig den Aufstieg der Rechten stoppen könnte. Ein solches Verbot kann zudem nur vom Bundestag, dem Bundesrat oder der Bundesregierung beantragt werden. Die Entscheidungsbefugnis liegt dann beim Bundesverfassungsgericht. Der bürgerliche Staat wäre in dieser Strategie also der entscheidende Akteur, während die Bewegung gegen die AfD sich selbst in eine passive Rolle fügen würde. Der Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus würde dadurch an eine bürgerliche Institution delegiert, welche die gesellschaftlichen Bedingungen, die dem Aufstieg der Rechten zugrunde liegen, im Zweifelsfall mit Gewalt verteidigt.

Was eine solche Strategie zudem in Bezug auf die Dynamik der Bewegung bedeuten könnte, kann man am Beispiel des Volksentscheids in Berlin zur Frage der Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. beobachten. Dort wurde die Bewegung für die Enteignung großer Immobilienkonzerne, die zwischenzeitlich massive Proteste organisierte, letztlich durch den Senat ausgebremst, der eine Entscheidung immer weiter hinauszögerte und der Bewegung damit den Wind aus den Segeln nahm. Zur Enteignung kam es dann trotz erfolgreichen Volksentscheids letztlich nicht – und die Bewegung erlahmte, ohne ihr Ziel erreicht zu haben.

In Bezug auf das AfD-Verbot ergäben sich ähnliche Probleme. So ist es keinesfalls sicher, dass die AfD tatsächlich verboten würde, sollte es zu einem Verfahren gegen sie kommen. Zwar gibt es mit dem „Flügel“ um Björn Höcke eine einflussreiche Strömung innerhalb der Partei, die Verbindungen zu faschistischen Gruppierungen unterhält und auch vom sog. „Verfassungsschutz“ als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird. Doch ist die Partei als Ganze keineswegs faschistisch, wodurch ihr Verbot eher unwahrscheinlich erscheint.

Neben den geringen Erfolgsaussichten eines solchen Verbotsverfahrens und der Tatsache, dass sich Verbotsforderungen immer auch gegen linke Organisationen richten könnten, spricht vor allem dagegen, dass mit einem Verbot der Partei keineswegs die gesellschaftlichen Ursachen beseitigt würden, die den Aufstieg der AfD begünstigten. Ein erneuter Aufstieg der Rechten nach einem Verbot der Partei wäre wahrscheinlich, zumal die Krisen, die der Kapitalismus produziert, sich immer weiter zuspitzen. Dessen scheinen sich auch die Autor:innen des Artikels bewusst zu sein, wenn sie schreiben, dass ein Verbot der AfD der Linken lediglich eine Atempause verschaffen würde.

Über Ursachen und Strategien

Doch die entscheidende Frage, die sich daraus ergibt, stellen die Autor:innen erst gar nicht. Es ist die nach der strategischen Perspektive im Kampf gegen die AfD. Sie gilt es, zu diskutieren und praktisch zu beantworten. Hierfür muss man zuallererst die Ursachen ergründen, die den Aufstieg der AfD begünstigten.

Der Aufstieg der AfD und anderer rechter Kräfte steht in engem Zusammenhang mit der Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ja ist selbst Ausdruck dieser krisenhaften Entwicklung. Fallende Profitraten und die Überakkumulationskrise des Kapitals führen zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den einzelnen Kapitalen wie zwischen den nationalen Gesamtkapitalen, die ihre Rivalität auf internationaler Bühne vermehrt mit kriegerischen Mitteln austragen. Die Verschärfung der Konkurrenz und der neu entbrannte Kampf um die Neuaufteilung der Welt aber bilden den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen.

Die Rechten verleihen dabei dem Unbehagen kleinbürgerlicher Schichten, die durch die verstärkte Konkurrenz zunehmend an die Wand gedrückt werden, einen politischen Ausdruck, stehen aber auch insgesamt für eine andere Strategie von Teilen der Bourgeoisie, die weniger exportorientiert sind und stärker auf Protektionismus setzen. Angesichts des Fehlens einer revolutionären Alternative wirkt die Demagogie der Rechten zugleich anziehend auf Teile der Arbeiter:innenklasse, die aufgrund von Krise und Inflation ebenfalls immer stärker unter Druck gerät.

Begreift man den Aufstieg der Rechten aber als ein Krisenphänomen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, wird klar, dass der Kampf dagegen in eine Gesamtstrategie zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus eingebettet werden muss. Die Linke darf somit den Kampf gegen Rechtsruck und Faschismus nicht isoliert betrachten und danach ausrichten, was unmittelbar als machbar erscheint, sondern muss ihn als integralen Bestandteil des internationalen Klassenkampfes begreifen und ihn mit den Kämpfen gegen Aufrüstung, Krieg und Sozialabbau verbinden.

Es greift hingegen zu kurz, im Kampf gegen die AfD zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie aufzurufen und die „Einheit aller Demokrat:innen“ zu beschwören. Zwar ist es richtig, demokratische Rechte zu verteidigen, doch darf eine Bewegung gegen den Rechtsruck vor einer Kritik an der bürgerlichen Demokratie nicht zurückschrecken. Das führt nur dazu, dass sich die AfD auch weiterhin als einzige Opposition zu den „Systemparteien“ positionieren kann.

Staat, Rechte, Klassenkampf

Verbot und Einheit der Demokrat:innen erlauben es der AfD und anderen, offen faschistischen Gruppierungen nicht nur, sich als Pseudoopposition darzustellen. Sie bilden zugleich auch eine politische Reserve für die herrschende Klasse, sollten neben der staatlichen Repression auch andere Mittel notwendig werden, um gegen Streiks und andere Widerstandsformen der Arbeiter:innenklasse vorzugehen. Daher wird jedes Verbot logischerweise immer inkonsequent bleiben müssen – und die „Vernetzung“ von extremer Rechter, AfD und (ehemaligen) Teilen der Union, wie sie bei den Enthüllungen von Korrektiv auch deutlich wurde, zeigt, dass Querverbindungen von Staat (inklusive Repressionsorganen), faschistischen und rechtsradikalen Kräften sowie „Wertkonservativen“ längst schon bestehen. Die krisenhafte Entwicklung der Gesellschaft wird dies weiter befördern.

Zweitens würde ein Verbot der AfD und anderer Rechter unwillkürlich nicht nur Illusionen in die Rolle des bürgerlichen Staates stärken, es würde vor allem auch dessen Machtmittel vergrößern. Dies ließe sich nur vermeiden, wenn das Verbot nicht durch wachsende Befugnisse von Polizei, Geheimdiensten und anderen Behörden sowie durch den Ausbau des Personals unterfüttert würde. In diesem Fall würde es nur auf dem Papier bestehen, wäre faktisch eine Fiktion. Würde es wirklich umgesetzt, so würde es zu einer Stärkung des repressiven Staatsapparates führen müssen, dessen Mittel „natürlich“ auch gegen alle anderen „Gefährder:innen“ „der Demokratie“ verwendet werden würden. Es würde also unwillkürlich die Tendenz zum Autoritarismus, zur Einschränkung demokratischer Rechte, deren Ursache selbst in der Krise und imperialistischen Konkurrenz liegt, zusätzlich stärken und legitimieren.

Drittens versetzt es die Arbeiter:innenklasse und die rassistisch Unterdrückten in eine passive, rein abwartende Rolle, die durch die scheinbare und fiktive Einheit von Arbeiter:innenklasse und „demokratischer“ Bourgeoisie auch ideologisch untermauert wird. Die Verbotslosung (wie ein umgesetztes Verbot) stärkt letztlich das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates, also der herrschenden Klasse, auch wenn es sich auf den ersten Blick ausnahmsweise auch gegen rechts zu richten scheint.

In Wirklichkeit entwaffnet es die Arbeiter:innenklasse politisch-ideologisch und materiell bzw. verfestigt die bestehende ideelle Entwaffnung, indem die Gewerkschaften, linke Parteien und auch Teil der „radikalen“ Linken politisch hinter bürgerlichen Kräften hertraben (auch wenn diese bei den Demonstrant:innen nur eine Minderheit sind). In Wirklichkeit müssen Revolutionär:innen und alle klassenkämpferischen und internationalistischen Kräfte daran arbeiten, die klassenübergreifenden „Einheit der Demokrat:innen“ aufzubrechen. In der Verbotslosung bündelt sich gewissermaßen diese Einheit zu einem zentralen Ziel. Wenn die AfD und rechte Organisationen auch legal verboten werden können, wozu braucht es dann noch Selbstverteidigungsorgane der Unterdrückten und der Arbeiter:innenklasse? Wozu müssen faschistische Aufmärsche und Organisationen militant bekämpft werden, wenn der Staat sie ohnedies verbietet?

Arbeiter:inneneinheitsfront statt „Einheit der Demokrat:innen“

Statt die Einheit mit den selbsternannten „Demokrat:innen“ zu suchen, muss die radikale Linke für die Einheit der Arbeiter:innenklasse kämpfen. Hierzu muss sie Druck auf die reformistischen Organisationen ausüben und sich darum bemühen, die Gewerkschaft in den Kampf hineinzuziehen. Innerhalb dieser Bewegung muss die radikale Linke für Forderungen kämpfen, die auf die Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse zielen, AfD, Nazis und staatlichen Rassismus bekämpfen! Zugleich muss sie in der Bewegung dafür argumentieren, dass dieser Kampf mit dem zur Überwindung des Kapitalismus und für die Errichtung der revolutionären Rätemacht des Proletariats verbunden werden muss.

So sollte die Linke innerhalb dieser Bewegung für den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees eintreten, die von Migrant:innen, Flüchtlingen, Linken und Gewerkschaften getragen werden, anstatt sich an den bürgerlichen Staat zu wenden. Diese Selbstverteidigungsorgane sind mögliche Keimformen von zukünftigen Milizen der Arbeiter:innenklasse, Kampforgane nicht nur gegen die Rechten, sondern auch gegen jede Form der Repression. Ihre Propagierung und Errichtung stellt  eine Brücke zum Kampf um die Rätemacht dar, wenn wir den Faschismus nicht nur bekämpfen, sondern im globalen Maßstab tatsächlich besiegen wollen. Dies kann die Linke nur, wenn sie mit dem imperialistischen Weltsystem zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen für die autoritär-reaktionären Formierungen bekämpft, die derzeit in vielen Teilen der Welt auf dem Vormarsch sind. Kein bürgerlicher Staat der Welt kann uns diese Aufgabe abnehmen.

  • Nein zu allen rassistischen Gesetzen! Stopp aller Abschiebungen! Offene Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben!

  • Nein zu allen Überwachungsmaßnahmen und zur Kriminalisierung von Migrant:innen und politischen Flüchtlingen!

  • AfD und Nazis organisiert entgegentreten! Gegen rechte Übergriffe und Angriffe: Selbstschutz von Migrant:innen und Gewerkschaften aufbauen!

  • Gemeinsamer Kampf gegen die gesellschaftlichen Wurzeln von Faschismus und Rassismus! Gemeinsamer Kampf gegen Inflation, Niedriglohn, Armut und Wohnungsnot!



Redefreiheit und die Linke

Lukas Müller. Infomail 1236, 10. November 2023

Im Folgenden geben wir die einleitenden Thesen von Gen. Lukas Müller als Vertreter der Gruppe Arbeiter:innenmacht wieder, die er am 4. November bei einer Podiumsdiskussion in Leipzig vorgestellt hat.

1. These

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen nur auf einer rein formalen Ebene als etwas Neutrales (neutrales Recht, neutrale Freiheiten), sind aber Ausdruck eines bestimmten Klasseninteresses – dem der Kapitalist:innenklasse.

Sie drücken primär ihr Interesse aus und nicht das aller Klassen (also z. B. auch der Arbeiter:innenklasse, auch wenn es so erscheint, als würde das bürgerliche Recht die gemeinsamen Interessen der gesamten Gesellschaft wiedergeben.

Aber solche gemeinsamen Interessen der Gesellschaft, also aller Klassen, gibt es nicht

Denn: Über der kapitalistischen Produktionsweise als ökonomischer, materieller Basis der Gesellschaft erhebt sich deren ideologischer, rechtlicher, moralischer Überbau. Dieser ist also Ausdruck der ökonomischen Basis (Basis und Überbau bei Marx).

D. h., das bürgerliche Recht, die bürgerliche Freiheiten, die bürgerliche Moral usw. entsprechen der kapitalistischen Produktionsweise und reproduzieren diese auf politischer und ideologischer Ebene. Damit dienen sie in erster Linie der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie.

Freiheit des/r einen ist gleichzeitig die Unterdrückung des/r anderen (unternehmerische Freiheit). Die Freiheit der Kapitalist:innen, von ihrer ökonomischen (und damit auch politischen) Macht Gebrauch zu machen, zieht gleichzeitig und unausweichlich die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse nach sich. Es gibt also nicht DIE allgemeine Freiheit, sondern sie muss im Kontext von Klassen gesehen werden

Die Frage nach Freiheit ist die: „Für welche Klasse“?

Wir sind für die Freiheit der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten, aber gleichzeitig für die Unfreiheit der Kapitalist:innenklasse (ganz allgemein und plakativ gesprochen).

Jede Person hat das Recht, wählen zu gehen, Demonstrationen anzumelden, Parteien oder Zeitungen zu gründen usw. Aber durch ihre ökonomische Macht verfügt die Kapitalist:innenklasse über einen vielfach größeren Einfluss auf Staat und öffentliche Meinung. Sie ist durch unzählige Fäden mit dem Staat verbandelt, sodass sie dadurch auch zur politisch herrschenden Klasse wird, teils ganz direkt durch das Schreiben von Gesetzen, oft aber auf indirekt Art und Weise.

Letztlich ist in Artikel 14 GG auch das „Recht“ auf Privateigentum Erbschaft, also eine auf Privatbesitz an Produktionsmitteln fußende Gesellschaft, unveränderlich festgeschrieben (und damit der Kapitalismus).

Demokratische Rechte werden den unterdrückten Klassen oft nur deshalb (teilweise) gewährt, um sie ins bestehende System zu integrieren, zur Aussöhnung mit diesem und um der Kaschierung der ökonomischen und damit indirekt auch politischen Herrschaft der Kapitalist:innenklasse willen.

Was selbstverständlich nicht heißt, dass wir demokratische Rechte nicht gegen jeden staatlichen Angriff verteidigen würden! Dazu gleich mehr.

2. These  (damit eng zusammenhängend)

Das bürgerliche Recht und bürgerliche Freiheiten erscheinen auch nur auf einer rein formalen Ebene als für alle gleichermaßen gültig. Nur weil Rechte und Freiheiten formal für alle gleich existieren, heißt das noch lange nicht, dass Staat und Kapitalist:innenklasse diese von allen in gleichem Umfang in Anspruch nehmen lassen.

Das sieht man z. B. aktuell an der massiven Repression gegen Palästinasolidarität. In zahlreichen Städten wurden alle Demonstrationen und Kundgebungen, die in Solidarität mit Palästina stehen könnten, verboten. Hunderte Teilnehmer:innen wurden bundesweit festgenommen. An Berliner Schulen wurden das Tragen der Kufiya, Zeigen von Aufklebern und Stickern mit Aufschriften wie „Free Palestine“ verboten. Auf Demonstrationen, die stattgefunden haben, waren viele Parolen als angeblich „antisemitisch“ verboten, in Berlin z. B. die Parole „Stoppt das Morden, stoppt den Krieg“.  Palästinenser:innen, Araber:innen und Muslim:innen, die keine deutschen Pässe haben, droht die Abschiebung bei propalästinensischer Aktivität.

Palästinasolidarität ist nur ein Beispiel, man könnte viele weitere nennen:

Es gibt keine Neutralität der Richter:innen. Kapitalist:innen können Staranwält:innen bezahlen. Rechte von Geflüchteten (Menschenwürde) usw. usf. werden von diesen nicht vertreten, wenn sie staatlich eingeschränkt werden. Der Staat versucht also, die formal jedem/r garantierten Rechte nach Belieben gesetzlich einzuschränken oder setzt sich schlicht über seine eigenen Gesetze hinweg. Sie sind also mehr Schein als Sein.

Was wie gesagt nicht heißt, dass wir nicht auch formale (also gesetzliche) Rechte und Freiheiten gegen Angriffe verteidigen. Das halten wir sehr wohl für relevant und notwendig.

Unter den Bedingungen der Illegalität ist es selbstverständlich deutlich schwieriger für die Arbeiter:innenklasse, sich zu organisieren, als unter Bedingungen voller demokratischer Freiheiten.  Formale Freiheiten sind also keineswegs völlig irrelevant, weil eh nur das aktuelle Interesse der Kapitalist:innenklasse zählt. Wenn wir formal ein Recht haben, schafft das tendenziell günstigere Bedingungen, dieses auch praktisch durchzusetzen. Daher sind wir allgemein für größtmögliche demokratische Freiheiten.

Es geht aber darum, dass in der kapitalistischen Klassengesellschaft kein Automatismus existiert, welcher allen Menschen die praktische Inanspruchnahme von formalen Rechte und Freiheiten garantiert, zum einen durch ökonomische Macht und Zwänge,  zum anderen durch die Macht des Staates, Rechte einzuschränken, abzuschaffen und zu übergehen.

3. These

Bürgerliche Freiheiten (z. B. Meinungsfreiheit) und demokratische Recht sind für Arbeiter:innen- wie auch Kapitalist:innenklasse kein Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Sie dienen nämlich der Verteidigung ihrer objektiven Klasseninteressen. Sie haben somit keinen Wert an sich, sondern immer nur Bedeutung, wenn sie ihren Interessen  zu einer gegebene Zeit nutzen.

Daran bestimmt sich auch allgemein unser Verständnis von Recht und Moral oder, wann wir Rechte oder Einschränkungen verteidigen oder was wir selbst vornehmen: „Recht ist, was der proletarischen Klasse nützt“ (Lenin).

Im Eingangstext zur Veranstaltung wurde das Engagement von Marx, Engels und der II. Internationale fürs Recht auf freie Meinungsäußerung angesprochen. Dieses zu erkämpfen, war in der Tat eine wichtige Aufgabe der damaligen Zeit (und bis heute).

Aber Marx, Engels und die II. Internationale kämpften nicht für Recht auf freie Meinungsäußerung als Wert an sich, damit sich halt alle Menschen frei (freier) äußern können, sondern damit SIE und die internationale Arbeiter:innenklasse sich frei äußern und vor allem legal organisieren können mit dem Ziel, diese Freiheiten nutzen zu können, um die Zerschlagung des Kapitalismus und seiner bürgerlichen Staaten vorzubereiten.

Denn zu dieser Zeit gab es die Sozialistengesetze in Deutschland und ähnliche, teilweise noch schärfere Gesetze in anderen Ländern, welche Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen in den Untergrund, die Illegalität und zu Tauenden ins Gefängnis drängten.

Demokratische Rechte allgemein bilden für die Arbeiter:innenklasse eine Art Rahmen, in dem politisches Handeln möglich ist. Wenn diese in spezifischer Situation den Interessen der Arbeiter:innenklasse schaden, ist es legitim und notwendig, diese einzuschränken oder abzuschaffen.

Hitler wurde demokratisch an die Macht gewählt (gleichzeitig gestützt auf eine militante Massenbewegung auf der Straße). Haben Kommunist:innen deshalb die Wahl widerstandslos akzeptiert, aus Hochachtung vor der Demokratie als Selbstzweck? Nein!

Nennen wir als zweites Beispiel  das Verbot der anderen Sowjetparteien durch die Bolschewiki im Bürger:innenkrieg.

Demokratie hat für uns keinen Wert an sich, sondern nur einen, solange sie den Interessen der Arbeiter:innenklasse nützt, und umgekehrt gewährt die Kapitalist:innenklasse demokratische Rechte und Freiheiten nur, solange ihre eigene Klassenmacht dadurch nicht bedroht wird. Sobald sie ihre Interessen durch politische Bewegungen gefährdet sieht, wird sie deren demokratische Rechte übergehen, einschränken, abschaffen.

Das kann sogar darin gipfeln, dass Kapitalist:innen zur Sicherung ihrer ökonomischen Macht (also des Kapitalismus) nicht nur einzelne demokratische Rechte einschränken, sondern die faschistische Karte ziehen und damit grünes Licht geben zur Abschaffung der gesamten bürgerliche Demokratie. So geschehen bei Hitlers Treffen mit der deutschen Großindustrie kurz vor Machtergreifung und danach.

Die Frage von Recht, Freiheit und Demokratie ist schlicht die von Klassenkampf. Wir verteidigen das Demonstrationsrecht gegen staatliche Angriffe, schränken dieses zeitgleich aber selber aktiv für Faschist:innen ein, indem wir ihre Demonstrationen blockieren.

Wir verteidigen das Recht auf freie Meinungsäußerung („Propagandafreiheit“) gegen staatliche Angriffe, reißen Plakate und Sticker von Faschist:innen ab, werfen ihre Flyer, wo sie ausliegen, in den Müll.

So verhalten wir uns allerdings nicht gegenüber gewöhnlichen bürgerlichen Parteien wie CDU, FDP, Grünen oder bürgerlichen Arbeiter:innenparteien wie SPD und Linkspartei. Diese verbreiten zwar bürgerliche Ideologie und damit die der Kapitalist:innenklasse und müssen dementsprechend politisch bekämpft werden.

Allerdings unserer Meinung nach nicht durch Blockieren von Versammlungen oder Zerstören von Wahlplakaten.

1. Weil es gegen so große und mächtige Parteien ziemlich ineffektiv ist diese durch Sabotage bekämpfen zu wollen. Wir müssen vielmehr Arbeiter:innen, welche Illussionen in diese Parteien hegen, durch politisch-inhaltlichen Kampf von diesen lösen und für uns gewinnen;

2. weil von bürgerlichen Parteien keine so direkte physische Gefahr für linke und proletarische Aktivist:innen ausgeht, weil deren Ziel nicht in der Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung selbst besteht;

3. weil wir diesen Parteien, die ja auch z. T. an der Regierung sind, damit einen Vorwand liefern, umgekehrt uns zu sabotieren durch Gesetze, die unsere Rechte einschränken.

Es würde uns schwerfallen, diese demokratischen Rechte dann öffentlichkeitswirksam als politische Minderheit zu verteidigen, wenn wir sie der politischen Mehrheit selbst nicht zugestehen. Es wäre also taktisch einfach unklug und der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, während das Blockieren von Faschisten:innen und anderen Rechten leichter zu begründen ist, weil sie eine unmittelbare Gefahr für die Existenz von zumindest Teilen der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten (Migrant:innen, Geflüchtete) darstellen bzw. die Organisationen der Klasse zerschlagen wollen.

Wir tun das also nicht, weil wir die demokratischen Freiheit an sich so hoch schätzen, sondern wir uns nicht mit taktisch unklugem Verhalten selbst schaden wollen. Taktische Erwägungen sind allgemein von großer Relevanz im Klassenkampf.

Natürlich wird die Kapitalist:innenklasse so oder so unsere demokratischen Rechte einzuschränken versuchen, uns polizeilich und juristisch sabotieren, sobald sie uns als reale Gefahr wahrnimmt. Und da sind wir dann an dem Punkt, wo das Kräfteverhältnis und die öffentliche Stimmung entscheiden, wer sich durchsetzt.

4. These

Das Wahrnehmen bzw. Durchsetzen von Rechten und Freiheiten ist nicht in erster Linie eine juristische, sondern eine Frage des Kräfteverhältnisses.

Ob der Staat es schafft, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen, bspw. das Versammlungsrecht zu beschneiden, ist abhängig vom Ausmaß des Widerstands, den wir schaffen, auf der Straße, in Betrieben, an Unis und Schulen zu entfalten. Wenn sich die öffentliche Stimmung dermaßen gegen solche Gesetzesvorhaben dreht oder mit massiven Streiks dagegen zu rechnen ist, kann der Staat davor zurückschrecken und das Gesetz wieder zurücknehmen müssen.

Weiter ist es auch eine Frage des Kräfteverhältnisses, ob und inwieweit wir uns über bestehende Gesetze oder andere staatliche Einschränkungsversuche hinwegsetzen können. Formal mag eine Demonstration verboten sein, aber wenn dennoch Zigtausende kommen, können wir diese womöglich gegen die Einschränkungen durch die Staatsmacht durchsetzen.

Letztlich besteht unser Ziel darin, das Kräfteverhältnis so zu verschieben, dass die Arbeiter:innenklasse selber die Kontrolle darüber übernehmen kann, welche demokratischen Rechte es gibt, was gesagt und getan werden darf, um sie somit massiv auszuweiten. Das heißt, wir treten z. B. dafür ein, dass die Arbeiter:innen der großen Zeitungen, sozialen Medien usw. selber entscheiden, was erlaubt ist und was nicht. In diesem Sinne kann der Kampf für die Verteidigung demokratischer Rechte mit dem für Arbeiter:innenkontrolle und ein Programm von Übergangsforderungen verbunden werden.




Israel: Netanjahus Gesetz spaltet zionistisches Lager

Dave Stockton, Infomail 1229, 31. Juli 2023

Am 24. Juli gelang es Israels Premierminister Benjamin Netanjahu schließlich, seinen Gesetzentwurf durch die Knesset zu bringen, der die Befugnis des Obersten Gerichtshofs des Landes vereitelt, vom Parlament verabschiedete Gesetze aufzuheben, weil sie „unangemessen“ sind (d. h., weil sie „die Rechte anderer Bürger:innen verletzen“). Israel hat (wie Großbritannien!) kein einziges Verfassungsdokument, das einschränkt, was das Parlament erlassen kann, sondern nur eine Reihe von Grundgesetzen, die von der Knesset mit einfacher Mehrheit verabschiedet werden. Und dieser Gesetzentwurf ist nur die erste Tranche. Ein weiterer wurde bereits ausgearbeitet, der der Regierung weitreichende Befugnisse bei der Ernennung von Richter:innen einräumen soll.

Die Verabschiedung des Gesetzes wurde von riesigen Massendemonstrationen in Jerusalem, Tel Aviv(-Jaffa) und anderen Zentren begleitet, an denen sich schätzungsweise 600.000 Menschen beteiligten. Netanjahus Likud-Partei und die ihr nahestehenden rechtsextremen religiösen und siedlerorientierten Parteien sehen sich seit acht Monaten mit massiven Protesten und einem eintägigen Generalstreik im März konfrontiert, zu dem der Gewerkschaftsbund Histadrut aufgerufen hatte. Nun sieht sich Netanjahu mit einem weiteren angedrohten Streik und der Weigerung von etwa 10.000 Reservist:innen konfrontiert, sich zum Dienst in der Armee zu melden.

Staatskrise

Jair Lapid, der die Opposition in der Knesset anführt und Vorsitzender der säkularen Partei der bürgerlichen Mitte Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft) ist, erklärte, er werde den Obersten Gerichtshof auffordern, das Gesetz aufzuheben, da die Abstimmung „eine Übernahme der Macht über die israelische Mehrheit durch eine extreme Minderheit“ bedeute. Der rechtsextreme Minister für die Nationale Sicherheit Israels, Itamar Ben-Gvir, entgegnete, der Oberste Gerichtshof habe kein Recht, ein Grundgesetz zu streichen, und wenn er dies täte, käme dies einem Staatsstreich gleich. Sicherlich steht der zionistische Staat vor einer noch nie dagewesenen Krise, die eine große Kluft in der gesamten Gesellschaft widerspiegelt. Dies wird auch Israels Unterstützer:innen in den USA und der EU in eine heikle Lage bringen.

Warum hat sich die Likud-Koalition auf dieses noch nie dagewesene Abenteuer eingelassen? Sicherlich ist es für Netanjahu persönlich wichtig, die Befugnisse der Gerichte zu untergraben, da er mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist, die er abwehren möchte. Aber für seine rechten Koalitionspartner:innen ist es noch wichtiger, die Justiz zu zähmen. Sie hoffen, auf diese Weise jede Zurückhaltung der Gerichte bei der weiteren Beschlagnahmung palästinensischen Landes und der Ausweitung illegaler Siedlungen im Westjordanland zu unterbinden. Die israelische Bewegung Peace Now (Frieden jetzt) stellt fest, dass die Regierung allein seit Januar den Bau von 12.855 Siedler:innenwohnungen genehmigt hat.

Bereits 61 % des Westjordanlandes stehen unter direkter israelischer militärischer und ziviler Kontrolle, und die palästinensischen Städte und Dörfer sind in ein Archipel unzusammenhängender Gebiete aufgeteilt, die von festungsartigen Siedlungen schwer bewaffneter rechter Zionist:innen überragt werden. Dies macht einen palästinensischen Staat seit langem undurchführbar und die „Zweistaatenlösung“ der Osloer Abkommen zu einem zynischen Witz.

Die Siedler:innen und die extremen religiösen Parteien streben offen danach, die Zerstörung der palästinensischen Nation durch ethnische Säuberung so weit wie möglich zu vollenden. Dies als Apartheid zu bezeichnen, ist eigentlich eine Untertreibung. Und der Versuch, ein ganzes Volk zu vertreiben, ist ganz sicher ein rassistisches Projekt. Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der zusammen mit seinem Verbündeten Bezalel Smotrich das Bündnis „Jüdische Macht“ leitet, ist ein Anführer der rechtsextremen Siedler:innen im besetzten Westjordanland und hat an Demonstrationen teilgenommen, bei denen hauptsächlich „Tod den Araber:innen“ skandiert wurde.

Spaltung des zionistischen Blocks

Doch der Versuch der derzeitigen Regierung, jedes rechtliche Hindernis für dieses Projekt zu beseitigen, hat den zionistischen Block gespalten und die Einheit der israelischen Bevölkerung bedroht. Seit etwa einem Jahr ist die Mehrheit der jüdischen Bürger:innen des Landes aufgewacht und hat erkannt, dass Netanjahu und Ben-Gvir ihre eigenen demokratischen Rechte – oder besser gesagt Privilegien – bedrohen, da sie sich nicht gleichermaßen auf die Palästinenser:innen erstrecken. Dies hat zu den größten und am längsten andauernden Straßenprotesten in der Geschichte des Staates geführt. Für die meisten Bürger:innen Israels, die an einen europäischen und nordamerikanischen Lebensstandard und bürgerliche und soziale Freiheiten gewöhnt sind, ist die Aussicht auf Gesetze, die von religiösen Fanatiker:innen diktiert werden, kaum verlockend.

Tatsächlich zeigen Meinungsumfragen seit Februar, dass über 60 Prozent der Israelis das neue Gesetz ablehnen. In der Tat sieht ein großer Teil der 7 Millionen jüdischen Bürger:innen Israels den Obersten Gerichtshof als ihren letzten Schutz vor einer Koalitionsregierung, in der religiöse Parteien eine offen erklärte Agenda verfolgen, die die Bürger:innenrechte von säkularen Juden und Jüdinnen, Frauen und LGBTIA+-Personen verletzen und die Unterstützung des Landes durch westeuropäische und nordamerikanische Regierungen, eine wichtige wirtschaftliche Stütze des Siedler:innenstaates, entfremden würde.

Leider scheint es, dass nur wenige in den Reihen der Massenproteste gegen Netanjahus Gesetze die Wahrheit gegenüber den Palästinenser:innen erfassen oder anerkennen, dass diese Gesetze auch darauf abzielen, die vollständige Enteignung der ursprünglichen Bewohner:innen des Landes zu vollenden. Die palästinensischen Israelis, die ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen, waren bei den Protesten weitgehend abwesend, obwohl sie zu den am stärksten Betroffenen der rechtsextremen Regierungen mit ihren juristischen „Reformen“ gehören wird.

Antizionistische Demonstrant:innen

Nichtsdestotrotz marschierten bei den meisten Demonstrationen Blöcke von mutigen Besatzungsgegner:innen, darunter auch jüdische Antizionist:innen. Sie trugen Transparente mit der Aufschrift: „Es gibt keine Demokratie mit Apartheid“ und „Eine Nation, die eine andere Nation besetzt, wird niemals frei sein“. Die Weigerung der nationalen Organisator:innen, bei den Demos in Tel Aviv palästinensische Flaggen auf der Bühne zu zeigen, verdeutlicht jedoch die Grenzen ihrer Vorstellung von Demokratie oder davon, wer wirklich ein:e Bürger:in Israels ist.

Dann gibt es die absoluten Wälder von Isreal-Fahnen und das Singen der Nationalhymne, die von „der 2000 Jahre alten Sehnsucht der jüdischen Seele, eine freie Nation in unserem eigenen Land zu sein, dem Land von Zion und Jerusalem“ spricht. Kurzum, es handelt sich um überwältigend zionistische Märsche, deren Organisator:innen keinen Zusammenhang zwischen der Verteidigung ihrer eigenen demokratischen Rechte und dem Fehlen dieser Rechte bei 20 % ihrer Mitbürger:innen sehen.

Siedlungsbau und Vertreibung

Das andere zentrale Anliegen der Regierung ist eine massive Beschleunigung des Siedlungsbaus im Westjordanland. Ben-Gvir ist ein Anführer rechtsextremer Siedler:innen und hat an Demonstrationen in Jerusalem teilgenommen, bei denen vor allem „Tod den Araber:innen!“ skandiert wurde.

Aber die sieben Millionen Palästinenser:innen, die unter zionistischer Herrschaft leben, haben auch wenig Grund, hoffnungsvoll auf den Obersten Gerichtshof zu blicken. Im Jahr 2018 verabschiedete die Knesset ein weiteres „Grundgesetz“, das Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definiert. Seine Fürredner:innen machten klar, dass „nationale Rechte in Israel ausschließlich dem jüdischen Volk zustehen“. Gegen das Gesetz wurde Berufung eingelegt und nach langen Verzögerungen legte der Oberste Gerichtshof keinen Einspruch gegen diese unverschämt rassistische und antidemokratische Definition der Staatsbürger:innenschaft ein. Im Juli 2021 entschied er, dass das Gesetz verfassungsgemäß sei und den demokratischen Charakter des Staates nicht in Frage stellen würde.

Unter dieser Regierung führte Israel kürzlich einen zweitägigen Angriff auf das dicht besiedelte Flüchtlingslager außerhalb von Dschenin, in dem 14.000 Palästinenser:innen leben. Dabei kam es zu heftigen Kämpfen mit militanten Palästinenser:innen und zur vorsätzlichen und weitreichenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur, einschließlich Wasser- und Abwassersystemen, Telekommunikation, Strom und Gesundheitseinrichtungen. Mindestens 13 Palästinenser:innen wurden getötet und 100 verletzt. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung des Lagers war gezwungen zu fliehen. Es ist mit weiteren derartigen Gräueltaten zu rechnen.

Imperialistische Freunde

Joe Biden, wie alle US-Präsidenten seit Truman „ein überzeugter Freund Israels“, hat sich dennoch kritisch zu den neuen Gesetzen geäußert. Er und die große Mehrheit der Demokratischen Partei lehnen Netanjahus Justizreform ab, weil sie befürchten, dass sie zusammen mit der zunehmenden Vorherrschaft extremer fundamentalistischer Kräfte den Mythos zerstören wird, dass Israel „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ ist, und seine Nützlichkeit als regionaler Spalter und Disziplinierer der arabischen und muslimischen Staaten der Region gefährdet.

Trotz der derzeitigen Unruhen hat der US-Kongress mit überwältigender Mehrheit eine Resolution verabschiedet, in der erklärt wird, dass Israel „kein rassistischer oder Apartheidstaat“ ist. Die endgültige Abstimmung fiel mit 412 zu 9 Stimmen aus. Und das, obwohl Netanjahu mit seiner üblichen Offenheit erklärt hat: „Israel ist kein Staat für alle seine Bürger:innen … gemäß dem Nationalstaatsgesetz, das wir verabschiedet haben, ist Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes – und nur dessen.“ Wie die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem (Ebenbild) unmissverständlich erklärt hat, handelt es sich um ein einzigartiges „Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid.“

Trotz einer koordinierten Kampagne der israelischen Botschaften und der langjährigen Freund:innen Israels an der Spitze beider Parteien des politischen Establishments in den USA ergab eine Umfrage unter amerikanischen Juden und Jüdinnen aus dem Jahr 2021, dass 25 % der Befragten Israel nun als Apartheidstaat ansehen, und bei den unter 40-Jährigen stieg der Anteil auf 38 %.

Kein Wunder, dass die Freund:innen Israels besorgt sind, dass Netanjahu und seine Verbündeten den Anspruch des Staates, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, auf fatale Weise entlarven, und das zu einer Zeit, in der Biden versucht, sein neues Kalter-Krieg-Lager der Demokratie aufzubauen, um dem der Autokratie gegenüberzutreten. Dies ist umso mehr ein Grund, warum die Freund:innen der Palästinenser:innen in der ganzen Welt den Kampf für die Isolierung des rassistischen Siedlerstaates verstärken und gleichzeitig die mutigen Israelis unterstützen müssen, deren Verteidigung der demokratischen Rechte sich auch auf die der Palästinenser:innen erstreckt.

Dennoch stehen die Palästinenser:innen vor einem Dilemma. Die israelische Repression hat soziale Massenbewegungen und Mobilisierung immer schwieriger gemacht und junge Aktivist:innen zu individuellen Angriffen auf Siedler:innen oder israelische Zivilist:innen getrieben, die mit brutalen Repressalien beantwortet werden. Und die derzeitige Regierung würde auf das erste Anzeichen einer bewaffneten Intifada mit ziemlicher Sicherheit mit einem militärischen Angriff reagieren, um die Flüchtlingslager zu räumen und noch mehr Gebiete zu erobern.

Aber die Massenmobilisierung gegen Netanjahu bietet palästinensischen und antizionistischen Organisationen die Möglichkeit, gegen ihn und seine rassistischen Minister:innen zu mobilisieren, aber auch mit ihren eigenen demokratischen Slogans für gleiche Rechte und für ein Ende des Diebstahls palästinensischen Landes und palästinensischer Häuser, und zwar unter dem Motto „Getrennt marschieren, aber gemeinsam streiken“. In den Städten und Dörfern des Westjordanlandes, des Gazastreifens und in Jerusalem könnte sich eine Bewegung entwickeln, die nicht nur zum Sturz Netanjahus und zu einer historischen Krise des zionistischen Staates führen, sondern auch Israels „demokratische“ westliche Unterstützer:innen in die Enge treiben würde.

Dies stellt die Sozialist:innen in den westlichen imperialistischen Staaten und die Antiimperialist:innen in der halbkolonialen Welt vor die noch größere Aufgabe, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die fortgesetzte Unterstützung ihrer Regierungen für Israel zu bekämpfen. Dies wiederum wird die Unterstützung der israelischen Bevölkerung für die fortgesetzte Unterdrückung weiter spalten und kann den palästinensischen Massen den Weg zu einer Massenintifada öffnen. Das wird eine revolutionäre Wirkung auf die gesamte Region zeitigen.




AfD-Landrat in Sonneberg: das Desaster der „Einheit der Demokrat:innen“

Leo Drais, Infomail 1226, 29. Juni 2023

Zehn Jahre nach ihrer Gründung stellt die AfD zum ersten Mal einen Landrat. Im südthüringischen, historisch eigentlich fränkischen Sonneberg gewann Robert Sesselmann die Stichwahl gegen den bisherigen Amtsinhaber Jürgen Köpper (CDU) mit 52,8 Prozent. Der Sieg hat die bürgerliche Welt in einen kleinen Aufruhr versetzt, das mediale Echo erreichte sogar internationale Zeitungen.

Ampelkrise und Union

Dabei kommt der Wahlsieg der sogar vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften thüringischen AfD unter Goebbels-Nachahmer Höcke eigentlich für niemanden großartig überraschend daher. Er ist Ausdruck natürlich der lokalen, aber noch mehr der bundesweiten politischen Gemengelage, auf die die AfD sich dann auch abseits fast jeglicher kommunaler Themen von Anfang an populistisch gestützt hatte: „Themenbereiche, die jetzt konkret hier vor Ort sind, die interessieren die Leute nicht“ (Sesselmann).

Das Konzept hat gezogen und in diesem Sinne muss auch der Sieg der AfD verstanden werden, als Statement der überzeugten AfD-Wähler:innenschaft, das mehr in Richtung der Regierung zielt als auf Jürgen Köpper oder andere Lokalpolitiker:innen.

Selten war das Fressen für die AfD reichhaltiger, und es gibt keine linke Kraft, die es ihr streitig macht. Zwar ist das Thema Corona weitgehend durch, und auch wenn Sesselmann fleißig einen rassistischen Wahlkampf gefahren hat, dürfte es nicht das Thema Asyl und Migration gewesen sein, was entscheidend zum Erfolg der Rechten geführt hat.

Vielmehr ist dieser Erfolg dank der Krise der Ampelregierung und der Unfähigkeit der Union, daraus zu profitieren, zu verzeichnen. Das offenbart auch der Blick auf Sonntagsfragen zu verschiedenen Wahlen. In Thüringen würde die AfD stärkste Kraft werden, bundesweit misst sie sich mit der SPD um Platz zwei hinter der Union.

Im Ukrainekrieg ist die AfD neben Sahra Wagenknecht die einzige relevante politische Kraft, die sichtbar gegen die NATO-Unterstützung Selenskyjs auftritt. Gegen Aufrüstung hat sie natürlich auch nichts, aber sie will den deutschen Imperialismus lieber an der Seite Putins sehen, dann gibt es bestimmt auch wieder günstiges Gas. Feind:innen selbst der beschränkten bürgerlichen Demokratie unter sich!

Vor allem aber ist da das Thema Wirtschaftskrise und das von Habeck und Regierung in Arbeit befindliche Gebäudeenergiegesetz („Heizungsgesetz“), womit die AfD zur Zeit mobilisieren kann.

Während ihr Rassismus und ihre völlig irrationale Coronapolitik vor allem Affekte bedient und bediente, trifft ihre Opposition gegen die ohne nennenswerte soziale Abfederung geplante „Wärmewende“, die keine ist, die Sorgen tausender kleiner Hausbesitzer:innen auf den Kopf. Es ist doch alles was sie haben, das Kleinbürger:innentum und verbürgerlichte Teile der Arbeiter:innenklasse. Der Blick nach Sonneberg bestätigt diese Analyse bis zu einem gewissen Grad auch. Sonneberg ist keine abgehängte Region. Als Zentrum der Spielwarenindustrie hat die Stadt keine massive Deindustrialisierung wie viele andere Orte in der ehemaligen DDR durchgemacht.

Eine grundlegende Analyse geht den Kommentaren in bürgerlichen Medien oft ab. Wer wählt die AfD? Es ist vor allem eine Partei der Kleinbürger:innen, der Akademiker:innen und Mittelschichtler:innen. Das heißt nicht, dass sie nicht auch von Arbeiter:innen gewählt wird, aber ihr Programm und ihre sozialen Wurzeln sind kleinbürgerlichen Ursprungs.

Ängstliche Kleinexistenzen

Trotzdem ist die soziale Lage von gehobeneren Teilen der Arbeiter:innenklasse mit der großer Teile des Kleinbürger:innentum durchaus vergleichbar.

Beide, Kleinbürger:innen und Arbeiter:innenaristokratie, machen zusammen den größten Teil der Eigenheimbesitzenden in Deutschland aus bzw. derer, die sich bis an ihr Lebensende bei der Bank verschuldet haben, um so zu tun, als gehöre ihnen ein kleiner sicherer Hort auf der Welt, die brennt. Und weil sie brennt, wird das, was man sich hart erarbeitet hat, als bedroht wahrgenommen, wobei Corona, Krieg, Klimakrise (Für die der Mensch natürlich nichts kann, und gibt es sie überhaupt?) und Inflation diese Verlustängste bestätigen und befeuern.

Wenn die Finanzierung des eigenen Lebens mit scheinbarer Unabhängigkeit wie einem Haus (das einen dann an einen Ort bindet, von dem man nur mit der angeblichen Freiheit Auto wieder wegkommt) sowieso schon auf Kante genäht ist, dann kann so eine staatlich verordnete Wärmepumpe schon mal ein Schlag ins Kontor sein.

Die AfD findet hier einen nicht zu unterschätzenden Anknüpfungspunkt realer Sorgen. Weil eine rationale Opposition gegen Krise und Ampel fehlt, kann sie sich hier aufbauen. An tatsächlichen Mitschuldigen der Misere – Habeck, Baerbock, Scholz usw. – wird eine falsche Kritik geübt, eine die darauf hinausläuft, in Verteidigung des „hart arbeitenden kleinen Mannes“ eine wütende irrationale Sündenbocksuche zu betreiben, wo Ursachen und Wirkungen gegeneinander vertauscht oder geleugnet werden oder auf die eingetreten wird, die noch unter einem/r stehen.

Die Kritik am „Genderwahn“, der Hass auf Geflüchtete und Migrant:innen findet eine unheilvolle Zusammenkunft mit der einzigen sichtbaren Opposition im Bundestag gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf die Allgemeinheit. In dieser Lage wird die AfD für viele wählbarer, so wie es einst die NSDAP wurde. „Die machen wenigstens ihr Maul auf!“ „Die lassen nicht alles mit sich machen!“, wobei Weidel und Höcke auch der Vorteil zuteil wird, dass sie bisher in keiner Postion mit politischer Verantwortung saßen und daher bisher nicht zu den willigen Vollstrecker:innen des deutschen Kapitals wurden, das selbst bisher auch (noch) kein Interesse daran, äußert, auf sie zu setzen.

Sollten sie eines Tages in dieser Position sitzen (bequem und auskömmlich mit den Steuern des „kleinen Mannes“ bezahlt), so werden sie von den Peitschenhieben auf die, die sie wählten, mit Knüppelschlägen auf die ablenken, gegen die sie heute ihren Rassismus und Sexismus entfachen.

Robert Sesselmann sitzt in keiner solchen Position.

Er wird auf lokaler Ebene verwalten und „denen da oben“ die Schuld für alles geben können, was nicht läuft, und diese werden dazu genug Angriffsfläche bieten. Er wird einen fortgesetzten Wahlkampf für Björn oder Joseph Höcke-Goebbels fahren, nächstes Jahr sind Landtagswahlen in Thüringen.

Bauchlandung der Demokrat:innen

Was in Erfurt praktiziert wird, ist jedoch in Sonneberg gescheitert. Die „Einheit der Demokrat:innen“ ist auf dem Bauch gelandet. Im Erfurter Landtag hält die CDU de facto die Minderheitsregierung Ramelows aus. Um die nächsten Landtagswahlen steht es noch prekärer.

Für die CDU ist das in gewisser Weise alternativlos, was nicht heißt, dass sie Rot-Rot-Grün nicht auch fleißig von rechts unter Druck setzen kann. Bisher jedenfalls kann sich die Union noch kein Zusammengehen mit der AfD leisten, die in so vielen Punkten den Erfordernissen der deutschen Kapitalist:innen entgegensteht (Außenpolitik, „grüne“ Industrie …).

Für alle Linken und DIE LINKE ist eine „Einheit der Demokrat:innen“ jedoch nicht nur nicht alternativlos, sondern für sie und die Arbeiter:innenklasse (2023 in erster Linie politisch) tödlich. Die Mitverwaltung des Kapitalismus in Landesregierungen, die absolut unzureichenden Antworten auf die Krise mit dem Bestreben, vielleicht doch von SPD und Grünen auf Bundesebene zum Mitregieren eingeladen zu werden, die Unfähigkeit, eine konkrete Perspektive zu weisen und Kämpfe abseits des Parlamentarismus zu führen, bedeuten, dass die AfD kaum auf Konkurrenz trifft, wenn es um das Kanalisieren von Wut auf die Regierung geht.

Denn eigentlich liefert diese genug Vorwände, um als Linke zu wachsen. Beispiel „Heizungsgesetz“: Die Energiewende ist notwendig. Aber sie muss nicht durch die Arbeiter:innenklasse oder das Kleinbürger:innentum bezahlt werden. Statt das Land mit Millionen kleiner Privatwärmepumpen zu bestücken, sollte es pro Gemeinde ein zentrales E-Heizwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung geben, bezahlt durch die fossilen Profite von RWE und Co. Damit ließe sich dann auch auf lokaler Ebene gegen einen Robert Sesselmann kämpfen.

Mit einer „Einheit der Demokrat:innen“ ist so eine antikapitalistische Perspektive jedoch unmöglich. Die Politik von Ampel und CDU besteht ja gerade darin, ein realpolitisch-kapitalistisches Es-geht-nicht-anders zu fahren.

Statt einer Einheit der Demokrat:innen muss die Linke auf eine Einheitsfront der organisierten Arbeiter:innenklasse hinwirken – gegen die AfD, aber eben auch gegen die Regierung. Es ist der einzige Weg, der mittelfristig der rechten Gefahr wirklich etwas entgegenstellen kann. Versagt die Linke darin, so wird die letzte Landtagswahl in Thüringen nicht die einzige Wiederholung der Geschichte gewesen sein (siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/02/10/tragoedie-und-farce-in-thueringen/).

Versagt sie darin nicht, könnte aus so einer Einheitsfront eine Partei entstehen, die eine wirkliche Alternative formuliert, eine Alternative zum Kapitalismus, der zwangsläufig zu Höckes und Sesselmännern führen muss, wenn er nicht überwunden wird.




Die Türkei vor den Wahlen: ein Land vor neuen Entscheidungen?

Dilara Lorin, Infomail 1222, 5. Mai 2023

Am 14. Mai stehen nun die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei an. Und sie könnten auch zu einer Entscheidung über die Zukunft des Regimes Erdogan werden.

Zweifellos spekulierten der Präsident und die regierende Koalition um die AKP beim Ansetzen des Wahltermins auf eine zumindest vorübergehende Erholung der Wirtschaft. Doch die blieb aus. Im Gegenteil: Die hohe Inflationsrate sowie eine hohe Verschuldung, aber auch die Covid-19-Pandemie haben die Ökonomie stark beeinträchtigt.

Das verheerende Erdbeben vom 6. Februar hat noch einmal für ein großes Loch bei Hunderttausenden Menschen gesorgt, aber auch die miserable Politik im Interesse des Kapitals und der Günstlinge von Erdogan hat nicht nur tiefe Spuren hinterlassen, sondern auch die über Jahre andauernde Korruption dieses Regimes aufgezeigt. Diese Politik hat nicht nur Millionen in Armut gestürzt, sondern auch Tausenden Menschen das Leben gekostet.

Leidtragende sind vor allem die Arbeiter:innenklasse sowie die unterdrückten Minderheiten des Landes, denn sie müssen die Lasten der Wirtschaftskrise schultern. Aber selbst die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum zweifeln mittlerweile am Regime.

Erdogans Wahlantritt

Dabei zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan überhaupt ein weiteres Mal antreten darf, wie biegsam die türkische „Demokratie“ ist. Eigentlich darf ein Präsident gemäß der Verfassung nur zwei Amtszeiten regieren. Erdogan steht aber mittlerweile 20 Jahre an der Spitze des Staates. Wie ist das „legal“ möglich?

Mit dem Referendum 2018 wurde zugleich die bonapartistische Herrschaft, die er ausübt, verstärkt und per Plebiszit legitimiert. Die Abstimmung zog eine Verfassungsänderung nach sich, die es gestattet, dass der/die Staatspräsident:in gleichzeitig auch das Amt des/r Regierungschef:in ausübt. Das Referendum erlaubt es Erdogan außerdem, im Jahr 2023 ein weiteres Mal als Präsident zu kandidieren. So wurde per Plebiszit zwar festgelegt, dass man lediglich zwei Amtszeiten regieren darf – aber jene vor 2018 werden nicht mitgezählt.

Mit dem Vorverlegen der Wahl auf Mitte Mai kann Erdogan außerdem sogar bei der nächsten Wahl dafür plädieren, wieder kandidieren zu dürfen. Denn eigentlich darf man nur zwei Perioden als Präsident:in regieren, was bedeuten würde, dass die kommende Amtszeit seine letzte wäre. Aber Erdogan und die AKP können behaupten, dass dadurch, dass die Wahl aktuell vorgezogen wurde, die Zeit von 2018 bis 2023 nicht als komplette Amtszeit gilt.

Dennoch könnte es eng werden. Sollte kein/e Kandidat:in bei den Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang eine Mehrheit erhalten (was sehr durchaus wahrscheinlich ist), so soll zwei Wochen später eine Stichwahl abgehalten werden.

Bei den Parlamentswahlen werden 600 Abgeordnete für die Große Nationalversammlung der Türkei bestimmt. Diese Sitze werden auf die 81 Provinzen des Landes aufgeteilt, wobei jede durch eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten vertreten wird. Wie viele eine Provinz wiederum erhält, wird durch die Proportion zu ihrer Bevölkerungszahl festgelegt. Damit eine Partei ins Parlament einziehen kann, muss sie aber bei den Wahlen die undemokratische 10 %-Hürde überschreiten.

Wie sieht die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung aus?

Die Regierung wird aktuell durch eine Koalition aus AKP und MHP gebildet. Dabei ist das Regime der AKP schon in den letzten Jahren nicht nur durch Autoritarismus, Repression, regionale Machtambitionen und einen permanenten Krieg vor allem gegen die Kurd:innen im eigenen Land und in Rojava geprägt. Die AKP ist auch immer wieder von Konflikten zerrissen, infolge derer einige Abgeordnete und Mitglieder die Partei verließen.

Gleichzeitig findet eine weitere Stärkung des autoritären, bonapartistischen, auf die Person Erdogans zugeschnittenen Regimes auch innerhalb der AKP statt. Der Präsident wurde immer mehr zur einzigen führenden Figur entwickelt, um seine Kontrolle innerhalb der Partei weiter zu stärken. Kritiker:innen wurden in gleichem Zuge ausgeschlossen oder verließen die Reihen. Damit hält die Person Erdogan faktisch immer mehr Partei wie Regime zusammen. Daher ist die Verlängerung seiner Vorherrschaft nicht nur ein Zeichen seiner Stärke, sondern unfreiwillig auch der Schwäche eines auf einen mittlerweile recht kranken „starken Mann“ zugeschnittenen Regimes.

Nach den letzten Wahlen 2018 musste die AKP eine Koalition mit der MHP eingehen, weil sie alleine nicht die absolute Mehrheit gewinnen konnte. Die MHP ist eine extrem rechtsnationale Partei, die mit den faschistischen und militant organisierten Grauen Wölfen eng verbunden ist. Sie gelten wie andere protofaschistische und extrem reaktionäre Kräfte als Reserven eines bonapartistischen Regimes, das sich aber vor allem auf die Kontrolle des Staatsapparates, der Medien, eine Wahlmaschinerie, Teile des Kapitals, große Schichten des Kleinbürger:innentums, der konservativen Mittelschichten, aber selbst rückständige, nationalistische Schichten der Lohnabhängigen und Armen stützt. Chauvinismus, Nationalismus und die ideologische Wiederbelegung des „Osmanismus“, die eine regionale Führungsrolle begründen sollen, sind ebenso ein Bindeglied dieser Allianz wie Erdogan als übergroße Führungsfigur, die die Einheit durchaus heterogenerer Kräfte repräsentiert.

Doch große Teile der Bevölkerung wenden sich auch ab. Sie wollen dem AKP- und MHP-Regime nicht mehr folgen. Die Inflation sowie der stetige Fall der Lira drücken die Mittelschicht der Türkei, die unter den Anfangsjahren der AKP-Regierung noch aufblühte, immer mehr an den Rand. Sie steht zum Teil ablehnender als vorher zur Regierung. Das Erdbeben und die damit immer deutlicher werdenden Missstände, Vetternwirtschaft sowie Korruptionsskandale haben die Regierung weiter diskreditiert.

Wachsende Teile dieser Schichten setzen nun bei der kommenden Wahl ihre Hoffnung in Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP. In den Umfragen liegt sie oft nur einige Prozentpunkte hinter der AKP und hat im Vergleich zu den Wahlen von 2018 einen Gewinn von bis zu 5 % zu verzeichnen, wobei die AKP einen Verlust von ganzen 11,5 % erlitt. In den aktuellen Umfragen liegen je nach Meinungsforschungsinstitut der Regierungs- oder der Oppositionsblock vorne. In jedem Fall hat die CHP geführte Oppositionsallianz eine realistische Chance auf einen Wahlsieg bei den Präsidentschafts- wie Parlamentswahlen.

Die Sechser-Opposition

Die Unzufriedenheit mit dem AKP/MHP-Regime bildet auch den größten Pluspunkt der Opposition. Sie pocht darauf, dass alles besser werde, wenn Erdogan und die AKP nicht mehr an der Macht seien.

Inhaltlich und programmatisch hält sich die bürgerlich-nationalistische Oppositionsallianz allerdings bedeckt. Wie sie Inflation und Armut bekämpfen will, welche Politik sie gegenüber den unterdrückten Nationalitäten und von allem den Kurd:innen verfolgt, das lässt sie bestenfalls (!) offen. Ein Rückzug aus Syrien, eine Aufgabe der geopolitischen Ambitionen der Türkei sind natürlich auch unter der CHP nicht zu erwarten, wohl aber ist es eine zumindest verbale Verbesserung der Haltung zur NATO und zum Westen.

Um die Mehrheit der AKP und Erdogans zu brechen, hat die nationalistische CHP, die sich zwar „sozialdemokratisch“ nennt, jedoch immer eine offen bürgerliche Partei war, eine Allianz mit fünf anderen bürgerlichen Teilen der rechten bzw. extrem nationalistischen und islamistischen Oppositionsparteien gebildet – eine Allianz des Grauens, die in vielem fast schon ein Spiegelbild des AKP-MHP-Bündnisses darstellt. Dass sie von der Bevölkerung als mögliche Alternative und zumindest als kleineres Übel akzeptiert und wahrgenommen wird, zeigt deutlich, dass sich die Stimmung weit weniger stark auf Erdogan fixiert als im Jahr 2015/2016. Um wenigstens ihn loszuwerden, setzen viele – auch linke und progressive – Menschen ihre Hoffnungen auf sie. Angesichts von 20 Jahren AKP-Regime ist es sicher verständlich, dass viele Linke, Unterdrückte, Frauen und große Teile der LGBTIAQ-Community sehnsüchtig auf den Sturz eines Tyrannen hoffen. Und natürlich wollen auch alle klassenkämpferischen, ja alle demokratischen Kräfte ihn und die reaktionäre AKP fallen sehen. Aber ein Sieg der CHP-geführten Opposition wird keine echte Freiheit, Frieden oder eine Verbesserung für Unterdrückte und Lohnabhängige bringen.

Im Gegenteil: Sie würde letztlich das kapitalistische, autoritäre Regime nur unter anderen Vorzeichen weiterzuführen versuchen. Die kemalistische CHP tritt bei dieser Wahl mit einem Wahlbündnis an, welches insgesamt aus 6 Parteien besteht. Dieses Bündnis wird von den Medien auch „Altılı Masa“, Sechsertisch, genannt. Neben der CHP beteiligen sich daran İYİ Parti, Saadet Partisi, Demokratik Parti, Gelecek Partisi und die Demokrasi ve Atılım Partisi. Dabei traten vier der sechs Parteien schon 2018 als „Nationale Allianz“ an. Die İYİ-Partei, eine nationalistische Abspaltung von der MHP, ist in den letzten Jahren auf ca. 10 % bei den Wahlen gekommen und wird darum auch am Sechsertisch als zweitstärkste Kraft nach der CHP gesehen. Dass die HDP keinen Sitzplatz erhielt, liegt vor allem an der İYİ Parti, die extrem chauvinistisch ist und die Unterdrückung der HDP und andere kurdischer Organisationen als „terroristischer“ fordert. Die CHP und die anderen Parteien am „Sechsertisch“ folgten diesen Bedingungen ohne große Diskussion.

Die größten Konflikte in der instabilen Allianz gab es um die Frage des/r Spitzenkandidat:in und die Verteilung des zukünftigen Einflusses, sollten die Wahlen gewonnen werden. Wie kaum eine Regierung davor wird eine mögliche CHP-geführte von großen inneren Widersprüchen geprägt sein, wahrscheinlich von größeren als die aktuelle Regierung. Falls sie gewinnen sollte, werden früher oder später die unterschiedlichen Interessen von rechten, ultrakonservativen, nationalistischen, islamischen bis hin zu liberal-reformerischen Strömungen aufbrechen.

Keine Stimme für die CHP und Kılıçdaroğlu!

Auch wenn die CHP und der Sechsertisch vielen als geringeres Übel erscheinen mögen, so sollten ihnen Arbeiter:innen, Linke, unterdrückte Minderheiten, die Frauen- und Umweltbewegung kein Vertrauen schenken und keine Stimme geben.

In Wirklichkeit würde das nur eine kapitalistische Alternative zu Erdogan, eine alternative bürgerlich-nationalistische Koalition stärken, die in allen grundlegenden ökonomischen, geopolitischen und auch demokratischen Fragen letztlich der AKP näher steht als den Arbeiter:innen und Unterdrückten. Auch sie würde eine Wirtschaftspolitik im Interesse des türkischen Kapitals vertreten. Sie mag zwar –ähnlich wie Erdogan – ein paar Verbesserungen für die Armen versprechen, letztlich sollen aber die Massen über Preissteigerungen, Kürzungen, Angriffe auf Arbeits- und Gewerkschaftsrechte die Kosten der Krise zahlen, die sie mit einem Austeritätsprogramm und Privatisierung überwinden will. Eine Aufhebung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze lehnt die Opposition ab. Für die unterdrückten Minderheiten, allen voran für das kurdische Volk, wird es auch unter der CHP keine Selbstbestimmung geben, ja nicht einmal die politischen Gefangenen werden freikommen. Sie wird Rojava ebenso wie die PKK weiter bekämpfen. Sie wird weiter gegen Geflüchtete vorgehen. So verspricht sie, in den nächsten zwei Jahren einen Großteil aller Geflüchteten abzuschieben. Die türkische Armee wird weiter in Syrien ihr Unwesen treiben. Das Regime wird, ebenso wie Erdogan, gegen die Geflüchteten vorgehen und seine geostrategischen Interessen verfolgen.

Angesichts der tiefen Widersprüche am Sechsertisch, der Wirtschaftskrise und der vom Standpunkt der Herrschenden notwendigen Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse wird auch ein Präsident Kılıçdaroğlu auf jene bonapartischen Machtbefugnisse zurückgreifen, die Erdogan eingeführt hat. Auch seine Herrschaft wird sich auf den bestehenden Staats- und Militärapparat stützen müssen, was ein Übereinkommen mit den Leuten beinhaltet, die von der AKP an die Spitze der Institutionen gesetzt wurden.

Würde Erdogan eine Niederlage akzeptieren?

Dies wird umso wahrscheinlicher, als es keineswegs sicher ist, dass Erdogan und die AKP eine etwaige Wahlniederlage akzeptieren würden. Schon Trump und Bolsonaro brachten es fertig, von Wahlbetrug zu sprechen, als sie selbst an der Macht waren. Erdogan und die AKP verfügen zweifellos über weit stärkere Stützen in der türkischen Gesellschaft und Elite als Trump in den USA und Bolsonaro in Brasilien. Andererseits würde ein Putschversuch das Land weiter destabilisieren. Daher ist es auch fraglich, ob die AKP insgesamt, die MHP, das Militär einen Putsch inszenieren würden.

In jedem Fall besteht die Gefahr. So sprechen einige von der Ruhe vorm Sturm, wenn es um die AKP und Erdogan geht. Dieser scheint derzeit eher ruhiger in der Politik zu agieren, wenn man seine aktuelle Wahlpropaganda mit der vor den letzten 2 Wahlen vergleicht. Viele Menschen bezeichnen den Urnengang am 14. Mai als Schicksalswahl zwischen Demokratie und Autokratie.

Die Frage „Was kommt?“ teilt sich dabei in die Phase vor und nach der Wahl. Vor der Wahl ist noch immer ungeklärt, wie die bis zu 3,7 Millionen Menschen aus den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wählen können. Viele sind nicht in der Lage, ihre Dörfer zu verlassen, um in den Städten zu wählen, viele befinden sich außerhalb ihrer Heimatstädte und haben keine Ahnung, wie sie ihre Stimme nutzen können. Und auch die Wahlbehörde hat sich dazu bis dato nicht geäußert. Das Erdogan Wahlmanipulation und -betrug durchführt und weiter durchführen wird, ist kein Geheimnis. Beobachter:innen gehen davon aus, dass alleine im Referendum zur Verfassungsänderung bis zu 2 Millionen Stimmen gefälscht wurden.

Dass kurdische, linke Politiker:innen, kritische Journalist:innen mit Repression überschüttet werden, wundert auch nicht. Alleine bei der Eröffnung der Wahlbüros für die YSP (Yeşil Sol Parti; Grüne Linke Partei) wurden etliche Menschen, die sich in Solidarität mit ihr versammelt hatten, in mehreren Städten und Gemeinden festgenommen. Dass vor allem den Minderheiten erschwert wird, bei Wahlen anzutreten, konnten wir schon 2018 beobachten und dies scheint sich auch dieses Mal nicht zu bessern, sondern zu verschärfen.

Die Linke

Um ein durchaus mögliches Parteiverbot kurz vor den Wahlen zu umgehen, treten die Kandidat:innen der HDP diesmal in Form der Grünen Linkspartei (Yeşil Sol Parti; YSP) an. Zusammen mit anderen linken Parteien bildet sie das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“.

In diesem Rahmen stellt die HDP (Halkların Demokratik Partisi) für viele Linke, Gewerkschafter:innen, die LGBTIAQ-Community und Teile der kurdischen Minderheit die wichtigste Kraft dar. Die Repression gegenüber den Abgeordneten und Mitgliedern der Partei ist immens. Im Mai 2016 entzog die AKP-Regierung 138 Abgeordneten ihre Immunität. Die Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seither (!) in Untersuchungshaft und mit ihnen etliche weitere Abgeordnete.

Bei diesem schmutzigen Vorgehen spielte auch die CHP eine wichtige Schlüsselrolle, denn erst mit ihren Stimmen konnte die nötigen Zweidrittelmehrheit im Parlament erreicht und damit die Aufhebung der Immunität durchgesetzt werden. Nach den Kommunalwahlen 2019 setzte die Regierung 47 der 65 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ab und ihre eigenen Leute als Zwangsverwalter:innen ein. Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Şahin reichte am 17. März 2021 einen Verbotsantrag gegen die HDP beim Verfassungsgericht ein. Dass die HDP und ihre Strukturen systematisch angegriffen und immer wieder zerschlagen werden, ist nichts Neues und die Verhaftungs- sowie Verleumdungswellen haben in den letzten Jahren nicht nachgelassen. 

Die TIP, die türkische Arbeiter:innenpartei, stellt im Bündnis die zweitstärkste Kraft dar. Außerdem sind die EMEP (Partei der Arbeit), die EHP (Partei der Arbeiter:innenbewegung), SMF (Föderation der sozialistischen Räte) und die TÖP (Soziale Freiheitspartei) beteiligt. Außerdem rufen die meisten linken Gewerkschaften für die HDP bzw. die YSP bei den Parlamentswahlen auf.

Die sechs Parteien kandidieren auf einer gemeinsamen Liste bei der Wahl, aber alle Mitgliedsparteien können auch mit ihren eigenen Namen und Listen antreten. Dies wurde als Kompromiss durchgesetzt, da zuvor vor allem die TIP darauf bestand, sich mit eigenen Kandidatenlisten und eigenem Logo zur Wahl aufzustellen an den Orten, wo sie regionale Schwerpunkte hat.

Dass die TIP und die HDP auch Menschen aus der LGBTIAQ-Community sowie aus den unterschiedlichen Minderheiten des Landes als Kandidat:innen aufstellen lassen, stellt einen Fortschritt gegenüber den anderen Parteien dar. Das Nichtaufstellen eines/r Präsidentschaftskandidat:in seitens des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist ein großer Fehler und zeigt auch dessen politische Schwächen deutlich. Mehr oder weniger offen wird zumindest im zweiten Wahlgang für Kılıçdaroğlu aufgerufen.

Auch wenn sich die CHP auf einer Pressekonferenz unverbindlich dafür ausgesprochen hat, die Anliegen der HDP, die Frage der Kurd:innen usw. weiterzutragen, wissen wir aus der Geschichte, aber auch durch die Einschätzung des Sechsertisches, dass dies eine blanke Lüge ist.

Während der Wahl gibt es eigentlich drei bis vier Themen, bei welchen sich die Linke von den reaktionären und offen bürgerlichen Kräften für alle deutlich wahrnehmbar unterscheidet: die Frage der Geflüchteten in der Türkei, der Rechte der Kurd:innen und aller unterdrückten Minderheiten, die Aufarbeitung des Erdbebens und vpn dessen Folgen und, wie die wirtschaftliche Krise sowie die miserable Lage der Arbeiter:innenklasse verbessert werden können, ohne dies den Lohnabhängigen aufzuschultern. Und zum wiederholten Mal zeigt sich dabei die reaktionäre Ader der CHP. So stach in den letzten Jahren und Monaten immer brisanter hervor, wie ihre Abgeordneten im Parlament und in öffentlichen Reden gegen Geflüchtete hetzen.

Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ stellt zwar eine linke Bündniskandidatur, aber keine revolutionäre Kraft dar, die sich auf ein klares antikapitalistisches Programm der sozialistischen Revolution beruft. Es handelt sich vielmehr um eine Allianz mit einer kleinbürgerlich-nationalistischen Kraft, der HPD, die sich vor allem auf kurdische, Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, aber auch Kleinbürger:innen und kleine Unternehmer:innen stützt. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren mehr in Richtung Gewerkschaften entwickelt hat und z. B. über einen wichtigen Einfluss bzw. Verbindungen zur DISK verfügt, so ist sie keine bürgerliche Arbeiter:innenpartei, sondern eher ein Hybrid aus kleinbürgerlichem Nationalismus, Stalinismus, Populismus und Linksreformismus.

Die anderen Parteien in der Koalition sind durchweg reformistische Arbeiter:innenparteien, oft mit stalinistischer Ausrichtung oder solchen Wurzeln, die jedoch in einzelnen Regionen und Sektoren eine gewisse Verankerung in der Arbeiter:innenklasse aufweisen.

Bei den Parlamentswahlen rufen wir zur kritischen Unterstützung des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ auf.

Es handelt sich dabei um die einzige Kraft mit einer Massenunterstützung aus der Arbeiter:innenklasse und seitens der unterdrückten Kurd:innen, die eine fortschrittliche Alternative gegenüber beiden bürgerlich-reaktionären Blöcken aus AKP/MHP einerseits und CHP/Sechsertisch andererseits verkörpert.

Zugleich kritisieren wir jedoch das Programm des Wahlblocks. Auch wenn viele der sozialen und demokratischen Versprechungen selbst unterstützenswert sind wie, sich für die Arbeitenden, die Gewerkschaften, die demokratischen Rechte der Kurd:innen und anderer nationaler Minderheiten einzusetzen, so geht es über demokratisch-reformistische Reformversprechungen nicht hinaus. Allenfalls wird es mit dem Gedanken an eine sozialistischen Zukunft verknüpft, aber ohne die aktuellen Reformforderungen mit konkreten Übergangslosungen zu verbinden.

Zweitens verhält sich das Bündnis gegenüber der CHP, dem Sechsertisch und Kılıçdaroğlu opportunistisch. Ihre Politik wird nicht offen als bürgerlich und arbeiter:innenfeindlich kritisiert, sondern als kleineres Übel gegenüber Erdogan beschönigt. Damit unterlässt es, die Arbeiter:innen, die städtische Armut und die Unterdrückten auf die Angriffe einer möglichen CHP-geführten Regierung schon jetzt vorzubereiten und den Widerstand gegen jede kommende aufzubauen. Natürlich würde das auch einschließen, gegen einen möglichen Putschversuch Erdogans auf die Straße zu gehen, sollte er die Wahl verlieren. Aber es bedeutet vor allem auch, die Massen auf jede Form des Kampfes gegen die nächste Regierung vorzubereiten.

Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen für alle Unterdrückten, Arbeiter:innen und Armen, wenn die Liste über die 10 %-Hürde käme. Aber zugleich müssen Revolutionär:innen in der Türkei in diese Wahlen mit zwei zentralen Stoßrichtungen eingreifen. Erstens müssen sie von allen Kräfte des „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ fordern, eine Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen, der HPD, der Gewerkschaften, der Umwelt-, der Frauenbewegung gegen die Angriffe der nächsten Regierung aufzubauen. Das 10-jährige Jubiläum der Gezi-Proteste am 24. Mai könnte dazu einen wichtigen ersten Mobilisierungschwerpunkt bilden und damit auch soziale Sprengkraft entfalten.

Zweitens müssen Revolutionär:innen dafür eintreten, dass im Bündnis selbst offen die Frage diskutiert wird, welche Partei die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten in der Türkei brauchen. Eine wirkliche, revolutionären Arbeiter:innenpartei ist unserer Meinung nach nötig – und das erfordert, mit dem Schwanken zwischen linkem kleinbürgerlichen Nationalismus und „linken“ Parteiprojekten ohne klare klassenpolitische Ausrichtung ebenso zu brechen wie mit stalinistischen und linksreformistischen Traditionen.

Eine solche Partei kann entstehen, aber nur, wenn der gemeinsame Kampf verbunden wird mit einem politisch-programmatischen Bruch hin zu eine Arbeiter:innenpartei, das sich auf ein Program von Übergangsforderungen stützt, um die Lohnabhängigen und Unterdrückten zur sozialistischen Revolution zu führen. Dies ist keine Frage einer fernen Zukunft, sondern stellt sich im Klassenkampf. Die wirtschaftliche Lage lässt sich nicht mit einigen Reformen wieder geradebiegen. Dies kann alleine die Arbeiter:innenklasse, indem sie für die Enteignung der Betriebe und Konzerne unter ihrer Kontrolle, für ein Notprogramm für die Opfer der Erdbebenkatastrophe eintritt, dafür, die Wirtschaft gemäß einem demokratischen Plan im Interesse der Massen neu zu organisieren.

Drittens müssen wir die Möglichkeit ernst nehmen, dass Erdogan und die AKP entweder versuchen könnten, die Wahl offenkundig zu stehlen oder sich an der Macht zu halten, indem sie sich auf Wahlbetrug berufen. Obwohl die Arbeiterklasse und alle fortschrittlichen Kräfte keine Illusionen in die CHP-Opposition haben sollten, sollten sie sofort die Gewerkschaften, die fortschrittlichen Parteien, die Frauenbewegungen und die national Unterdrückten zu einem Generalstreik mobilisieren, um Erdogans Festhalten an der Macht zu stoppen. Sollte dieser haben, wäre Erdogans Unterdrückung wahrscheinlich noch schlimmer als nach dem gescheiterten Putsch vom 16. Juli 2016.

Aber das Ziel, ihn zu besiegen, sollte mehr als ein negatives sein. Die Bewegung sollte die Wahl einer souveränen verfassungsgebenden Versammlung fordern, um das gesamte bonapartistische System hinwegzufegen und die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiter, der städtischen und ländlichen Bevölkerung, der unterdrückten Nationalitäten, insbesondere des kurdischen Volkes, zu erfüllen.

Solche und andere grundlegende Maßnahmen können nicht mit dem bestehenden kapitalistischen Staatsapparat umgesetzt werden. Sie können nur durch eine Bewegung der Arbeiter:innen und Unterdrückten, durch landesweite Massenstreiks, durch Besetzungen der Betriebe, durch die Errichtung von Räten und Selbstverteidigungsorgane der Massen in allen Regionen durchgesetzt werden, durch eine Kraft, die den bonapartistischen, autoritären Staatsapparat hinwegfegen und eine Regierung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen stattdessen an die Macht bringen kann.




Stellungnahme: FFF schmeißt REVO raus – Sind Antikapitalismus und die Klimabewegung unvereinbar?

REVOLUTION, Revolutionär-kommunistische Jugendorganisation, zuerst veröffentlich auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1222, 4. Mai 2023

Die Katze ist aus dem Sack: Pünktlich zum Ersten Mai hat uns die Nachricht erreicht, dass nun tatsächlich ein Antrag durchgekommen ist, der eine Unvereinbarkeit von Fridays For Future (FFF) Deutschland mit REVO beschließen soll. Unser Name prangt nun im Hufeisen neben AFD, NPD, MLPD und dem III. Weg im offiziellen Strukturpapier. Dass hier linke und faschistische Gruppen so nebeneinander genannt werden, müsste schon für Empörung sorgen. Anfang April wurde auf bundesweiter Ebene von FFF entsprechender Antrag gestellt. Dieser ist so weit FFF-intern zu behandeln, weswegen wir nicht auf Details der Erklärung eingehen können. Wir möchten dennoch zumindest im Groben einige der Lügen und Vorwürfe hier einordnen, damit die Debatte einem breiteren Kreis von Aktivist:innen zugänglich wird.

Im Antrag werden wir als isolierte Organisation dargestellt, deren ausschließliche Politik ein parasitäres und hinterhältiges Unterwandern anderer linker Kräfte sei. Angeblich schrecken wir dabei so wenig vor Druckausübung bis hin zu unmittelbarer Gewalt zurück, dass allen Aktivisti angst und bange werden müsste. Untermalt wird dies mit dem Vorwurf, dass wir ein unkritisches Verhältnis zur DDR oder der RAF hätten. Für all diese Vorwürfe hätte ein fünfminütiger Besuch unserer Insta- oder Webseite ausgereicht, um sich eines Besseren belehren zu lassen. Man hätte dort beispielsweise gesehen, dass wir tatkräftig in der Umweltbewegung aktiv sind, aktionistische Basisarbeit an Schulen leisten, solidarisch in diversen Bündnissen mitwirken und himmelweit davon entfernt sind, mordlustige Monster zu sein. Und wenn wir schon bei der schlechten Informationslage sind: Die Gruppe Arbeiter:innenmacht wurde auch direkt als unsere „Dachorganisation“ ausgeschlossen, während wir in Wahrheit von dieser unabhängig sind.

Die politische Herkunft derjenigen, die uns hier als „Parasiten“ bezeichnen, hat dabei schon eine gewisse Ironie: Eine Führung, in welche Millionen Schüler:innen ihre Hoffnung gesetzt haben, welche aber gleichzeitig keine politischen Erfolge gegen die Regierung durchsetzen konnte und stattdessen mit den Grünen und den NGOs im Rücken ein paar ansehnliche Posten gefunden hat, sollte mit diesem Wort vorsichtiger umgehen gegenüber einer kleinen, aktivistischen Gruppe von Jugendlichen. Angesichts der immer größeren Dringlichkeit der Klimakatastrophe, der Mobilisierungsschwäche unserer Bewegung und der Antwort der Ampel-Regierung, die in Lützerath knochenbrechende Bullen auf uns los gehetzt hat und nun mehr und mehr Aktivist:innen einknastet (von LG z. B. ), wäre es rühmlicher, wenn die Führung der Bewegung eine allgemeine Debatte darüber anstieße, wie wir in die Offensive übergehen können, anstatt diejenigen, die es auf eigene Initiative versuchen, auszuschließen.

Im Konkreten beziehen sich die gegen uns erhobenen Vorwürfe zum allergrößten Teil auf angebliche Handlungen eines unserer Genoss:innen. Mensch hat sich 2019 als Schüler:in in FFF politisiert, sich davon wegradikalisiert und ist vor circa einem Jahr bei uns gelandet. Dennoch hat sich Mensch bis zum Schluss als Teil von FFF verstanden und noch schwindende Hoffnungen reingesteckt, dass auch die Bewegung die offensichtlichen Widersprüche erkennt, in denen sich eine bürgerliche Umweltbewegung befindet. Hierbei war Mensch unter anderem im linken Flügel von FFF aktiv und zwar weitestgehend eigenständig und unabgesprochen mit uns als REVO.

Erst recht haben wir den linken Flügel nicht geheim orchestriert. Dennoch wird uns genau dies vorgeworfen, wobei unerheblich ist, ob bestimmte Geschichten stattfanden, bevor besagte Person überhaupt bei uns war und welchen Anteil sie selbst daran geleistet hat. Wir werden dabei für ein Großteil der jüngeren linken Oppositionsarbeit verantwortlich gemacht, als könnte so etwas nicht auch spontan in FFF passieren.

Uns erscheint es so, als seien alle halbgaren Infos und Vorwürfe zusammengekratzt worden, die gefunden werden konnten, um unsere Positionen aus den Prozessen in FFF auszuschließen. Das andere sich an bestimmten Verhaltensweisen gestört haben, ist sicherlich nachvollziehbar. Aber dass für eine relativ kleine Orga direkt der große Hammer „Unvereinbarkeit“ rausgeholt wird, wirft schon Fragen auf.

Was ist der politische Hintergrund?

Millionen von Aktivisti haben sich der Bewegung angeschlossen, haben Gegenwind geerntet und viel Energie in die Bewegung gesteckt. Und was haben wir dafür bekommen? Lausige Klimapakete, folgenlose Konferenzen und eine Menge heißer Luft. Dies führte dazu, dass der Abstand zwischen unseren Aktionen größer und die Aktionen selbst kleiner wurden, sich viele von uns frustriert von der Bewegung zurückgezogen haben. Die Bewegung hat sich polarisiert in diejenigen, die für die Grünen im Bundestag sitzen, während wir uns wie viele andere von den Bullen aus dem Danni oder Lützi prügeln lassen.

In unserem Strategiepapier zur Krise der Klimabewegung haben wir ausführlich dargelegt, welche Schritte wir als nächstes gemeinsam gehen müssen, wenn wir die Bewegung retten und diesen Planeten erhalten wollen. Wir müssen die Basis unserer Bewegung erweitern. Es kann nicht sein, dass wir hauptsächlich aus Schülis und Studis bestehen. Wir müssen auf die Beschäftigten in den für das Klima relevanten strategischen Wirtschaftssektoren zugehen und uns zusammen organisieren. Inhaltlich müssen wir unsere Forderungen daran ausrichten, die Klimafrage mit der Sozialen Frage zu verbinden. Andernfalls werden die Rechten diese Lücke füllen und ihre Klimaleugnerei als Sozialpolitik verkaufen. Wir brauchen Klimaforderungen, die zugleich soziale Verbesserungen für alle mit sich bringen, statt Verbote, Entlassungen und Green Washing. Gleichzeitig müssen wir anfangen unsere Forderungen auch dort an die Leute zu bringen, wo wir uns tagtäglich aufhalten: in unseren Schulen, Unis und Betrieben. Vor Ort müssen wir Basiskomitees aufbauen, die kontinuierlich Arbeit zum Klimaproblem machen und diese mit den sozialen Problemen vor Ort verknüpfen.

Innerhalb von FFF rumort es und immer mehr Antikapitalist:innen fangen an, die Politik der Führung von FFF in Frage zu stellen. Als Organisation sind wir dabei ein leichtes Ziel, für diejenigen, die das verhindern wollen. Weil wir offen und unangepasst auftreten und dadurch vielleicht nicht zu den Allerbeliebtesten gehören, und darauf sind wir stolz.  Den verbliebenen linken Kräften innerhalb von FFF sollte klar sein: Wenn man mit solchen Vorwürfen durchkommt, erhöht das den Anpassungsdruck auf alle anderen antikapitalistischen Kräfte und schwächt deren Position massiv. Das sollte eben diese Kräfte zum Nachdenken anregen, welche Rolle FFF noch spielen kann. Es gibt eine große Kluft zwischen einigen Ortsgruppen und der Bundesorga und die politische Perspektivlosigkeit, dass man durch Appelle ein Einlenken der Regierung erreichen will, hat sich ein ums andere Mal gezeigt. Wir wollen FFF zugutehalten, dass sie die Klimakrise auf die Tagesordnung gesetzt haben. Aber zur Bewältigung brauchen wir kämpferische und antikapitalistische Antworten.

Wir schlagen vor, gemeinsam mit linken Kräften der Umweltbewegung eine antikapitalistische Klimakonferenz zu organisieren, um Forderungen und Aktionsformen zu entwickeln, die diese Antworten leisten. Die Wähl- und Abwählbarkeit ist hierbei zentral, um die Verselbstständigung von Führungspersonen zu verhindern und eine basisdemokratische Kontrolle von unten zu gewährleisten. Außerdem müssen wir dafür Sorge tragen, dass an diesen Debatten und Auseinandersetzungen sowohl Arbeiter:innen als auch marginalisierte Gruppen teilnehmen können und gehört werden. Der Charakter einer solchen Konferenz sollte darauf ausgerichtet sein, ein gemeinsames antikapitalistisches Klima-Aktionsprogramm zu verabschieden, in dem wir uns auf gemeinsame Forderungen und Aktionen einigen.

  • Der Widerstand gegen die Klimakrise geht also weiter und wir lassen uns nicht unterkriegen!

  • Kämpfen wir zusammen in den Schulen, Unis, Betrieben, Gruben, Wäldern und auf der Straße!

  • Falls ihr eure Solidarität zeigen wollt, könnt ihr den Beitrag gerne teilen!



Sudan: Krieg der Generäle erschüttert Illusion in friedlichen Übergang

Andy Young, Infomail 1221, 26. April 2023

Am 15. April griffen sich die regulären sudanesischen Streitkräfte (SAF) und die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) gegenseitig mit Luftangriffen, schwerem Beschuss und Feuergefechten in den Straßen der Hauptstadt Khartum sowie in anderen Städten und Regionen an.

Beide Seiten haben keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in den dicht besiedelten Gebieten genommen und sie in ihren Häusern eingeschlossen, so dass sie nicht in der Lage waren, sich Lebensmittel, Wasser oder medizinische Versorgung zu beschaffen. Innerhalb weniger Tage wurden Hunderte von Zivilist:innen getötet und die Straßen sind noch gefährlicher geworden, so dass eine Flucht vor den Kämpfen kaum mehr möglich ist. Anderswo, auch in Darfur, sollen Tausende Flüchtlinge die Grenzen des Landes überschreiten.

Die Kämpfe zeigen, wie zynisch die Behauptung des Militärs ist, einen „Übergang zur Demokratie“ zu vollziehen. In Wirklichkeit wurde die demokratische Revolution von 2019 mit dem Militärputsch vom 25. Oktober 2021 unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan von der SAF und Mohamed Hamdan Daglo von der RSF, auch bekannt als Hemetti, zu Ende gebracht. Beide vertreten Fraktionen, die die großen Goldreserven des Sudan sowie Öl und andere Mineralien ausbeuten. Jetzt haben sich diese Diebe zerstritten und lassen ihr Volk den Preis dafür zahlen.

Diese Entwicklung hat einmal mehr gezeigt, wenn während einer Massenrevolution des Volkes die Kontrolle der Generäle über die Armee nicht gebrochen wird und die einfachen Soldat:innen nicht zu den Aufständischen überlaufen, eine Konterrevolution folgt wie die Nacht auf den Tag. Nur wenn die Generäle sich in ihren internen Konflikten erschöpfen, die Soldat:innen sich gegen das Töten auflehnen und die Massen wieder auf die Straße gehen können, besteht Hoffnung, den revolutionären Vormarsch wieder aufzunehmen.

Aber dieses Mal dürfen sie nicht aufhören, bis sie mit ihren eigenen Widerstandskomitees, denen sich die Delegierten der Soldat:innen anschließen, die Macht übernommen haben. Nur eine siegreiche Revolution der Arbeiter:innen und Bäuer:innen kann den Völkern des Sudan dauerhaften Frieden, demokratische Rechte und soziale Entwicklung bringen und die Völker in allen umliegenden Regionen zur Nachahmung anregen.

Bürger:innenkrieg

Die sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter Burhan werden von seinem Verbündeten Ägypten ausgebildet und verfügen über schwerere Waffen, darunter Panzer und die Luftwaffe, die der RSF fehlen. Aber die 100.000 Personen starke RSF unter Hemetti ist kein Schwächling. Als Veteran:innen der Aufstandsbekämpfung und ethnischen Säuberung in Darfur und anderen Regionen haben bis zu vierzigtausend RSF-Soldat:innen im Jemen im Auftrag Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gekämpft.

Die VAE sind Hemettis Gönner und der Hauptabsatzmarkt für das Gold aus den von ihm kontrollierten Minen, was seine Familie zu einer der reichsten im Sudan macht. Dieser Reichtum hat seinen Streitkräften beträchtliche Unabhängigkeit von der SAF und dem sudanesischen Staat verschafft. Die Elite in Khartum mag die RSF als provinzielles „Gesindel“ betrachten, aber sie sind eine kampferprobte, gut ausgebildete und mit gepanzerten Fahrzeugen ausgestattete Truppe. Auch Hemettis Verbindungen zur mächtigen russischen Söldnergruppe Wagner, die gemeinsam die Minen im Sudan und in der Zentralafrikanischen Republik ausbeuten, können mehr Ausrüstung und Fachwissen, einschließlich Hubschraubern, liefern.

Hemetti, Sohn eines lokalen Häuptlings und Kamelhändlers, begann seine Karriere als Mitglied der um Ressourcen und Beute kämpfenden Stammesmilizen der „Dschandschawid“, die während des 2003 in Darfur ausgebrochenen Krieges in Erscheinung traten. Diese für ihre Grausamkeiten berüchtigten Milizen wurden 2013 von dem brutalen Diktator Omar (Umar) al-Baschir in der RSF organisiert und in die Hauptstadt und andere Großstädte gebracht, wo sie inzwischen Stützpunkte eingerichtet haben. Allein in Khartum sind 20 000 RSF-Kräfte stationiert. Al-Baschirs Ziel war es, sich vor Putschen des Militärs und einer wachsenden Opposition auch in Teilen der herrschenden Klasse zu schützen.

Doch Burhan und Hemetti wandten sich gemeinsam gegen al-Baschir und stürzten ihn im April 2019 in einem Präventivputsch, um eine Massenrevolution zu verhindern. Seitdem waren die RSF-Kräfte in einige der schlimmsten Angriffe auf die demokratische Volksbewegung verwickelt, darunter das Massaker vom 3. Juni 2019 in Khartum bei dem Versuch, die Revolution niederzuschlagen und die Militärherrschaft aufrechtzuerhalten, wobei mehr als hundert Demonstrant:innen getötet wurden.

Hemetti mag ein kriminelles Subjekt und Kriegsverbrecher sein, aber er ist nicht dumm. Sein erster Schachzug, der den Konflikt auslöste, war der Angriff auf Luftwaffenstützpunkte, wobei er sich auf Merowe konzentrierte und dabei zahlreiche ägyptische Truppen und Ausbilder:innen in seine Gewalt brachte. Burhan verfügt jedoch weiterhin über ausreichende Luftstreitkräfte, um Stützpunkte und Stellungen der RSF in Khartum, Omdurman und mehreren anderen Städten zu beschießen und zu bombardieren, und er hat die Kontrolle über einige Fernseh- und Radiosender, die neben Stützpunkten und Flughäfen ein Hauptziel der RSF-Revolte sind, aber auch die RSF verfügt über Kanäle für ihre Propaganda. Beide haben Verhandlungen ausgeschlossen, es ist ein Kampf auf Leben und Tod.

Regionale Hinterleute

Es gibt Berichte, dass die ägyptische Luftwaffe Burhan unterstützt und RSF-Depots angegriffen hat, während andere behaupten, dass Hemetti Waffen vom libyschen Armeechef Chalifa Hafta erhalten hat. Hemetti hat bereits Unterstützung von bewaffneten Oppositionsgruppen in den vom Krieg zerrissenen Gebieten Südkordofan (Dschanub Kurdufan) und Blauer Nil sowie im Osten gesucht, wo Milizen, die sich auf das Volk der Beja (Bedscha) stützen, Port Sudan (Bur Sudan) besetzt haben.

Die sudanesische Küste des Roten Meeres ist ein strategisch wichtiges Gebiet für ausländische Mächte, wobei die Genehmigung für einen russischen Marinestützpunkt seit 2019 in der Schwebe ist. Das nahegelegene Dschibuti, das an der Bab-al-Mandab-Straße liegt, die den Golf von Aden vom Roten Meer trennt, kontrolliert die Zufahrten zum Suezkanal. Daher beherbergt das Land einen chinesischen Marinestützpunkt, einen französischen Luftwaffenstützpunkt, einen italienischen und einen japanischen Stützpunkt. Und nicht zuletzt ist Camp Lemonnier die Heimat der „Vereinigten Kombinierten Eingreiftruppe am Horn von Afrika“ des U.S. Afrika-Kommandos, der einzigen ständigen U.S. Militärbasis in Afrika.

Wenn Hemetti sich erfolgreich verschanzt, könnte die Hilfe der USA, Großbritanniens, Chinas und Russlands sowie ihrer regionalen Verbündeten es den beiden Seiten ermöglichen, ihren Kampf fortzusetzen.

Hemetti appelliert jedoch an die Beendigung des Konflikts, die Wiederaufnahme des Übergangs, die Durchführung von Wahlen und an die unterdrückten Minderheiten in den Regionen. Dies könnte jedoch ein Zeichen dafür sein, dass die RSF in den Seilen hängt. Einige Kommentator:innen berichten, die SAF kontrolliere alle fünf Hauptstädte der Provinzen in Darfur, ein Gebiet, das die RSF eigentlich beherrschen sollte. Ein auf Al Jazeera (Al Dschasira) zitierter Analyst erklärte, die RSF habe keine Stützpunkte mehr, sondern nur noch Truppenteile „ohne Führung oder zentrales Kommando“.

Zweifellos würden Millionen einfacher Sudanes:innen jedes Ende der Kämpfe und des Leids begrüßen, aber ein Sieg von Burhan oder Hemetti, geschweige denn eine Annäherung zwischen ihnen, wird weder die demokratischen Rechte bringen, für die Arbeiter:innen, die Jugend und die Armen des Sudan seit 2019 kämpfen, noch eine Befreiung von der immer tieferen Armut, die durch Inflation, Schulden und vom Internationalen Währungsfonds erzwungene Sparmaßnahmen verursacht wird. Burhan klebt ebenso viel Blut an seinen Händen wie Hemetti und war für Baschirs Regime und dessen Völkermord ebenso wichtig, da er als Oberst des militärischen Geheimdienstes von 2003 bis 2005 die Angriffe der Armee und der Milizen in West-Darfur koordinierte.

Die demokratische Fiktion

Der Krieg zwischen Burhans SAF und Hemettis RSF ist nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen zwei „starken Männern“, sondern die bittere Frucht der unvollendeten Revolution von 2019. Nachdem Massenkämpfe und Streiks die SAF-Soldat:innen zu beeinflussen begannen, wurde im August ein Kompromiss geschlossen, dem zufolge Burhan und Hemetti als Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender einen „Souveränitätsrat“ beaufsichtigen, der zur Hälfte aus Militärs und zur Hälfte aus Zivilist:innen besteht, sowie den dreijährigen „Übergang“ zur Demokratie bis 2022.

Diese Strategie, die von den liberalen und reformistischen Führer:innen der Kräfte für Freiheit und Wandel und ihren US-amerikanischen und britischen Unterstützer:innen vorangetrieben wird, hat sich für die arbeitenden Menschen im Sudan als eine sehr blutige Sackgasse erwiesen. Was viele Arbeiter:innen, die 2019 kämpften, im August 2019 widerwillig als Notwendigkeit akzeptierten, um Blutvergießen zu vermeiden, hat das Militär und die Sicherheitsdienste intakt gehalten und die wiederholte Tötung von Demonstrant:innen nicht nur durch die RSF-Truppen, sondern auch Polizei und SAF ermöglicht.

Im September 2021 erklärte der Außenminister der Übergangsregierung, Mariam Sadiq al-Mahdi (Sadiq Abd ar-Rahman) von der Umma-Partei, dummerweise, dass der Sudan mit seinem gemeinsamen militärisch-zivilen Übergang „putschsicher“ geworden sei. Weniger als einen Monat später stürzte Burhan mit Hemettis Unterstützung die Zivilregierung, bevor er einen neuen „Übergangs“-Rat mit handverlesenen, loyalen Zivilpolitiker:innen ernannte und sogar den Premierminister und UN-Wirtschaftsexperten Abdalla Hamdok zur Rückkehr bewegen konnte, bis ihn Massenproteste im Januar 2022 zum Rücktritt zwangen.

Laut Sara Abdelgalil, einer Sprecherin der Sudanesischen Berufsvereinigung (SPA) im Jahr 2022, hat es „keine Reform der Justiz und keine Reform des Sicherheitssektors“ gegeben. Die Gerichte haben mehrere islamistische Führer freigesprochen, darunter auch den ehemaligen Vorsitzenden der Nationalen Kongresspartei (NCP), Ibrahim Ghandour, der den Staatsstreich von 2021 vorhersehbar als „Korrektiv“ unterstützte. Seit dem Putsch hat Burhan Schlüsselpositionen mit alten Baschir-Anhängern besetzt, vom Außenminister über den Gouverneur der Zentralbank bis hin zu den Ministern für Arbeit, Handel und Kabinettsangelegenheiten. Entscheidend ist, dass der Direktor des allgemeinen Nachrichtendienstes und der Leiter des Justizwesens beide aus der Baschir-Ära stammen und direkt für die Rehabilitierung der Figuren des alten Regimes oder die Unterdrückung von Aktivist:innen der Demokratiebewegung verantwortlich sind. Der Korruptionsuntersuchungsausschuss wurde kalt gestellt und neben diesen hochkarätigen Ernennungen wurden Hunderte von Beamt:innen aus der NCP-Ära, die wegen Korruption aus dem Amt entfernt worden waren, wieder eingesetzt. Die Sudan-Wissenschaftlerin Willow Berridge wies auf ein offenes „Iftar“ (Ramadan-Essen) hin, das von NCP-Führer:innen kurz vor dem Staatsstreich in dem Bezirk Kobar, in dem Baschir inhaftiert ist, veranstaltet wurde.

Hemetti hat jede politische Karte ausprobiert, um seine Position zu stärken, einschließlich des Vorwurfs, Burhan bringe die Islamisten zurück. Doch schließlich hat die alte Baschir-Hierarchie nichts übrig für diese verräterischen Dschandschawid. Unter dem Druck der „Viererbande“ aus den USA, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den Saudis stimmte Burhan am 5. Dezember 2022 einem anderen Plan für einen Übergang zu, einem „Rahmenabkommen“, das den Übergang noch weiter in die Zukunft verschob. Da dieser Plan jedoch eine frühzeitige Verschmelzung der RSF mit den Streitkräften vorsieht, wodurch Hemetti seine unabhängige Machtbasis verlieren könnte, von der aus er die Wirtschaft ausplündern kann, war nach Ablauf der Frist am 11. April eine große Auseinandersetzung unvermeidlich.

Permanente Revolution

Die Gewerkschaften und Widerstandskomitees, die die Revolution 2019 mobilisiert haben, wurden während des Putsches gezwungen, sich in Hilfsorganisationen zu verwandeln, die die Menschen mit Nahrungsmitteln und medizinischer Hilfe versorgen und die Zivilbevölkerung schützen. Wenn dies möglich ist, sollten sie sich mit den einfachen Soldat:innen verbrüdern und, wo immer möglich, politische Proteste organisieren, um Nahrung, Wasser und Krankenhäuser zu fordern und diese Dienste unter ihre eigene Kontrolle zu stellen.

Wenn Burhan gewinnt, aber ein Bürger:innenkrieg mit den RSF-Truppen an der Peripherie ausbricht, sollten diese fortschrittlichen Kräfte den Massenkampf für volle demokratische Rechte und Klassenforderungen nach sozialen Rechten, Arbeitsplätzen und Gewerkschaftsrechten wiederbeleben. Ein solcher Kampf ist die beste Voraussetzung, um die Widerstandskomitees in echte Räte der Massen (Sowjets) umzuwandeln, die von der organisierten Arbeiter:innenklasse geführt werden und die Autorität besitzen, sich an die wehrpflichtigen Soldat:innen, die Söhne und Töchter der arbeitenden Massen zu wenden. Das setzt voraus, dass die Widerstandskomitees zu einem nationalen Kongress von Fabrikkomitees und Räten ausgebaut werden, die sowohl die Macht als auch das produktive Eigentum der Generäle, Großgrundbesitzer:innen und Kapitalist:innen an sich reißen können.

Sozialist:innen im Sudan müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Wiederherstellung der Revolution und der Widerstand gegen den Bürger:innenkrieg eine Auseinandersetzung mit den militärischen Befehlshabern beider Seiten, die Ablehnung der bürgerlichen Politiker:innen aller Couleur, aber auch das Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Minderheiten bedeuten. Die Position der einflussreichen sudanesischen Kommunistischen Partei, die sich auf die stalinistische Strategie einer Revolution stützt, bietet eine reaktionäre Utopie: „eine professionelle, einheitliche nationale Armee auf der Grundlage von Kompetenz, Integrität und nationalem Bekenntnis, unabhängig von parteipolitischen, regionalen, nationalen, kommunalen und stammesbezogenen Zuordnungen“. In Wirklichkeit brachten die Arbeiter:innen und Bäuer:innen ihre eigenen Milizen und müssen die Soldat:innen vom Kommando ihrer reaktionären Offiziere brechen.

Nach dem gescheiterten Experiment des Zusammenlebens von ziviler und militärischer Herrschaft können Millionen erkennen, dass die Einführung der Demokratie die Zerschlagung des gesamten repressiven Staates mit den korrupten Generälen in seinem Zentrum bedeutet. Nur eine revolutionäre verfassunggebende Versammlung, organisiert von einer revolutionären Arbeiter:innenregierung, kann die brennenden Fragen der Demokratie, des Eigentums und der Unterdrückung lösen. Sie könnte die Bodenschätze des Sudan, seine Industrie und die großflächige Landwirtschaft in der Kornkammer Gezira für einen demokratischen Plan für die Bedürfnisse der Massen unter Führung der Arbeiter:innenklasse nutzbar machen und die Ausbeutung des Reichtums des Landes durch die räuberische Elite und die westlichen Banken beenden. Sie könnte eine wichtiges Sprungbrett für die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung werden, die sich auf Räte stützt. Dieser sozialistische Übergang kann durch die Ausweitung der Revolution auf Afrika und den Nahen Osten dauerhaft gemacht werden.




Palästina/Israel: Widerstand gegen Israels Unterdrückung vereinen!

Alex Rutherford, Neue Internationale 272, April 2023

Der Besuch des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu in Großbritannien (und Deutschland) fand zu einer Zeit statt, in der die Brutalität des israelischen Apartheidstaates einen weiteren Höhepunkt erreicht. Im Jahr 2023 wurden bisher mindestens 83 Palästinenser:innen von den israelischen Verteidigungskräften (IDF) und verschiedenen bewaffneten Siedler:innengruppen getötet.

Die Gewalt geht einher mit Angriffen der israelischen Regierung auf die vermeintlich demokratische Verfassung des Landes, einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz.

Diese miteinander verknüpften Faktoren haben zu einem Aufschwung des Widerstands gegen den israelischen Staat sowohl in der israelischen als auch in der palästinensischen Bevölkerung geführt. Sie haben auch zu einem ungewöhnlichen Anblick auf den Straßen Londons geführt – Menschenmassen von israelischen und palästinensischen Demonstrant:innen, die gegen einen gemeinsamen Feind demonstrieren – wenn auch mit deutlich unterschiedlichen Slogans.

Entwicklung seit Jahresbeginn

Nach dem Massaker vom 26. Januar in Dschenin führten israelische Streitkräfte am 6. Februar eine Razzia in Jericho durch, bei der fünf Palästinenser:innen getötet wurden und die zu Massenprotesten führte. Am nächsten Tag ermordeten IDF-Kräfte einen 17-jährigen Palästinenser. An Reaktion darauf rammte am 10. Februar ein palästinensischer Autofahrer sein Fahrzeug in eine Menschenmenge, die an einer Bushaltestelle in Jerusalem wartete; drei israelische Zivilist:innen starben dabei. Vier Tage später führten israelische Streitkräfte eine Razzia in einem Flüchtlingslager in der Nähe der palästinensischen Stadt Tubas durch, bei der ein palästinensisches Kind getötet wurde.

Am 22. Februar verübten die IDF ein weiteres Massaker, diesmal in der Stadt Nablus im Westjordanland, bei dem 11 Einwohner:innen getötet und mehr als 100 verwundet wurden. Am 26. Februar eröffnete ein Palästinenser an einer Verkehrskreuzung das Feuer und brachte zwei israelische Siedler:innen um.

Stunden später randalierten mehr als hundert israelische Siedler:innen in palästinensischen Dörfern in der Umgebung von Nablus, was die palästinensischen Behörden als „Pogrom“ bezeichneten. Bei dem Angriff wurden Häuser, Geschäfte und Autos in Brand gesetzt, 390 Zivilist:innen verletzt und Samih al-Aqtash, ein Vater von fünf Kindern, erschossen. Dorfbewohner:innen berichteten, dass IDF-Kräfte anwesend waren und nichts unternahmen, um sie zu stoppen. Am nächsten Tag wurden Hunderte weiterer israelischer Truppen in das Westjordanland entsandt.

Ein weiterer Angriff von israelischen Siedler:innen ereignete sich am 6. März in Huwara, als sie eine palästinensische Familie mit Steinen und einer Axt  attackierten. Am 7. März folgte ein weiterer israelischer Überfall in Dschenin.

Am 8. März zeigte ein Generalstreik in den palästinensischen Städten Nablus, Dschenin und Ramallah das Ausmaß der Empörung der Arbeiter:innenklasse über die Gewalt. In der darauf folgenden Woche, am 9. und 16. März, fanden jedoch zwei weitere israelische Razzien statt.

Die zunehmende Gewalt, die nicht nur von offiziellen staatlichen Kräften, sondern auch von bewaffneten Siedler:innenbanden ausgeht, weist alarmierende Ähnlichkeiten mit der Art von staatlich geförderter Gewalt auf, die die jüdische Bevölkerung in Europa im 20. Jahrhundert erleben musste und die im Holocaust gipfelte. Dies spiegelt sich auch in dem wütenden antipalästinensischen Rassismus wider, den die derzeitige israelische Regierung an den Tag legt.

Das Argument, dass das Pogrom und andere Gewalttaten von Siedler:innen gegen Palästinenser:innen in irgendeiner Weise durch die israelische Wut über palästinensische Terrorakte gerechtfertigt oder zumindest milder beurteilt werden müssen, kann leicht zurückgewiesen werden.

Die Gewalt der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker:innen kann in keiner Weise mit der Barbarei der militärischen und zivilen Besatzungstruppen gleichgesetzt werden. Revolutionäre Kommunist:innen müssen an der Seite der palästinensischen Widerstandsbewegung und der arbeitenden Massen in ihrem Kampf gegen den rassistischen israelischen Siedler:innenkolonialstaat stehen, während sie gleichzeitig die Ideologie, Strategie und Taktik der Führerung der Bewegung schonungslos kritisieren.

Verfassungskrise

Es ist klar, dass sich Israel unter der mit Rechtsextremen besetzten Regierung Netanjahu auf ein unverhohlen autoritäres Regime zubewegt, nicht nur für seine palästinensischen, sondern auch für seine jüdischen israelischen Bürger:innen. Auch wenn es sich nicht, wie manche behaupten, um einen faschistischen Staat handelt, sind die jüngsten Schritte zur Beschneidung der verfassungsmäßigen Befugnisse des Obersten Gerichtshofs bedrohlich.

Solche Schritte entlarven weiter die Falschheit der Behauptung, Israel sei seit seiner Gründung eine „liberale Demokratie“. Wie kann dies der Fall sein, wenn es Millionen von Palästinenser:innen, die in den besetzten Gebieten und Flüchtlingslagern an den Grenzen Israels leben, systematisch elementare demokratische Rechte verweigert? Deren Aushöhlung für jüdische Israelis ist letztlich eine unvermeidliche Folge eines solchen Regimes.

Der Aufstieg des extremistischen jüdisch-israelischen Nationalismus innerhalb des israelischen Staatsapparats und die derzeitige Vorherrschaft rechter Demagog:innen in der Exekutive spiegeln den Vormarsch einer virulenten Ideologie innerhalb der Siedler:innenbevölkerung selbst wider.

Die jüdische Vorherrschaftsideologie von Regierungsmitgliedern wie Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich ist in hohem Maße repräsentativ für die Mehrheitsmeinung in den illegalen israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland.

Dies wiederum hat seine materielle Grundlage in der Segregation und Unterdrückung der Palästinenser:innen innerhalb des Apartheidstaates und dem zunehmenden palästinensischen Widerstand gegen diese Unterdrückung.

Die offensichtliche Brutalität und der Autoritarismus des neuen Regimes schaffen jedoch einen Widerspruch zwischen den wütenden zionistischen Kräften in Israel, deren Annäherung an eine pogromistische Politik gegenüber den Palästinenser:innen immer deutlicher wird, und den liberalen Zionist:innen sowohl in Israel als auch in Großbritannien, der EU und den USA, den wichtigsten imperialistischen Unterstützer:innen des Regimes.

Diese liberalen zionistischen Kräfte wollen ihre Verteidigung Israels als demokratischen Staat rechtfertigen – eine Propaganda, die mit jeder neuen Gräueltat des Regimes zunehmend diskreditiert wird.

Innerer Widerspruch des liberalen Zionismus

Darin spiegelt sich ein tieferer Widerspruch zwischen der angeblich befreienden Ideologie, dem jüdischen Volk eine sichere „Heimat“ zu bieten, und der brutalen Realität, ein ganzes Volk aus seinem eigenen Land zu vertreiben und es neu zu besiedeln. Dieser Zwiespalt verursacht enorme Probleme für die westlichen Unterstützer:innen des Zionismus, die versuchen, die Herzen und Köpfe der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern zu gewinnen.

Diesen gelingt es in der Regel, große Teile dieser Arbeiter:innenschaft in eine stillschweigende Unterstützung der liberal-zionistischen Ideologie einzulullen, solange die Brutalität des israelischen Staates von den Medien und Politiker:innen verdeckt wird. In Großbritannien ist der liberale Zionismus in den letzten Jahren in die politische Offensive gegangen, nachdem seine Behauptungen über weit verbreiteten Antisemitismus eine wichtige Rolle bei der erfolgreichen Zerstörung der Corbyn- und der wirksamen Unterdrückung der BDS-Bewegung gespielt haben. In Deutschland wurde die „bedingungslose Solidarität“ mit Israel zu einem Bestandteil der Staatsräson, der sich letztlich auch die Linkspartei unterordnet.

Die offenen Angriffe des israelischen Staates auf die rechtsstaatliche Demokratie und eine sich dagegen entwickelnde Protestbewegung eines großen Teils der jüdischen israelischen Bevölkerung, einschließlich der Weigerung von IDF-Reservesoldat:innen, ihren Dienst zu verrichten, wurden bisher strikt im Rahmen einer liberalen, rechtsstaatlich-demokratischen Bewegung durchgeführt, die Palästinenser:innen von einer wirksamen Beteiligung ausschließt und auch palästinensische Flaggen bei Demonstrationen in Israel verbietet.

Die linkszionistische Ideologie der Protestbewegung verengt ihren politischen Horizont und schließt die Perspektive der Einheit mit den Millionen von unterdrückten und enteigneten Palästinenser:innen aus. Obwohl 200.000 linkszionistische Demonstrant:innen gegen die Verfassungsreform auf die Straße gingen, kamen nur 1.000 jüdische Israelis, um gegen das Pogrom vom 22. Februar zu protestieren.

Während Sozialist:innen diesen mutigen Demonstrant:innen ihre Solidarität bekunden sollten, ist dies nur ein Anfang. Israelische und palästinensische Sozialist:innen müssen dringend Solidarität mit den Arbeiter:innen und Jugendlichen ausüben, die in der Netanjahu-Regierung und den Siedler:innenpogromen einen gemeinsamen Feind erkennen. Wenn eine neue Intifada wächst, braucht sie internationalistische israelische Unterstützung und breite internationale Rückendeckung, insbesondere im imperialistischen Europa und den USA. Nur so können die Fundamente des Apartheidstaates untergraben und das Ziel eines binationalen, demokratischen, sozialistischen Palästinas realisierbar werden.

Der palästinensische Widerstand

Die zunehmende Repression durch die israelischen Streitkräfte ist Teil einer Kampagne mit der offiziellen Bezeichnung „Break the Wave (Wellenbrecher)“, die Massenverhaftungen und Tötungen in Städten des Westjordanlands vorsieht, die als Zentren des palästinensischen Widerstands bekannt sind und sich insbesondere gegen bewaffnete Gruppen wie die al-Quds-Brigaden des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) und die al-Aqsa-Märtyrer:innenbrigaden der Fatah richten.

Obwohl die Kampagne darauf abzielt, den Widerstand zu brechen, hat sie in Wirklichkeit den gegenteiligen Effekt, indem sie den Widerstand gegen die Besatzung innerhalb Palästinas verstärkt. Bei der Beerdigung von palästinensischen Kämpfer:innen, die bei der israelischen Razzia in Dschenin am 7. März getötet wurden, war die Zahl der bewaffneten Menschen auffallend hoch, und die Fahnen der verschiedenen Fraktionen der Widerstandsbewegung waren miteinander vermischt.

Diese Gruppierungen organisieren den bewaffneten Widerstand gegen den israelischen Staat, aber auch gegen ihre Kollaborateur:innen, die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA), die es seit fünfzehn Jahren nicht gewagt hat, Wahlen auszurufen. Die Anwesenheit von Kämpfer:innen, die nominell mit der Fatah, der dominierenden Gruppierung in der PNA, verbunden sind, zeigt, dass sich die Spaltung in ihren Reihen vertieft.

Während die Zahl der Todesopfer durch die Gräueltaten der israelischen Streitkräfte und der zivilen Siedler:innen steigt, sind die Mitschuld der Palästinensischen Autonomiebehörde an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes und ihre Unterwürfigkeit gegenüber dem israelischen Staat für viele in der Widerstandsbewegung deutlich geworden.

Obwohl die Palästinensische Autonomiebehörde ursprünglich nur als Übergangsregierung für einen Zeitraum von fünf Jahren vor der Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates gedacht war, hat sie fast drei Jahrzehnte nach der Unterzeichnung der Osloer Abkommen nichts getan, um die politischen und gesetzlichen Rechte der palästinensischen Bürger:innen zu fördern – im Gegenteil, der Lebensstandard der Palästinenser:innen ist weiter gesunken.

Israel hat seine Apartheidpolitik weiter vertieft, und der israelische Staat, der schon immer auf den Grundsätzen des Kolonialismus beruhte, hat sich selten so offen entschlossen gezeigt, die Zerstörung der Palästinenser:innen als souveräne nationale Gemeinschaft, die in ihrem eigenen Land lebt, zu vollenden. Da es der PNA nicht gelungen ist, nennenswerte Verbesserungen für die eigene Bevölkerung zu erreichen, ganz zu schweigen von der utopischen Zwei-Staaten-Lösung, hat sie ihre politische Autorität innerhalb der Widerstandsbewegung verloren, während die Aktivist:innen nach wirksamen Antworten auf ihre brennenden Probleme suchen.

Damit die PNA ihre relativ privilegierte Stellung durch die Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung aufrechterhalten kann, muss sie sich als legitimer politischer Ausdruck des palästinensischen Volkes darstellen. Ihre Fähigkeit, dies zu tun, wird durch die Entwicklung einer unabhängigen Widerstandsbewegung bedroht, die sie nicht kontrollieren kann. Sie muss daher mit allen Mitteln gegen die unabhängige Organisation des palästinensischen Bevölkerung vorgehen.

Die israelische Militärkampagne hat keineswegs „die Welle gebrochen“, sondern im Gegenteil die Woge des Widerstands noch verstärkt, da überall in den besetzten Gebieten neue „Brigaden“ von palästinensischen Widerstandskämpfer:innen entstanden sind. Diese unterscheiden sich jedoch deutlich von den Gruppierungen, aus denen sich die bewaffnete Widerstandsbewegung in jüngster Vergangenheit zusammensetzte. Die Brigaden stützen sich nicht auf eine bestimmte religiöse Ideologie, sondern sind in lokalen Gemeinschaften wie Dschenin, Nablus und Tubas verwurzelt.

Veränderung der Kräfte

In Nablus war eines der populären Gesichter der bewaffneten palästinensischen Widerstandsbewegung der 19-jährige Ibrahim al-Nabulsi, ein Kämpfer der al-Aqsa-MärtyrerInnenbrigaden, der als „Löwe von Nablus“ bekannt war. Er wurde am 9. August getötet und wurde zum Symbol für eine neue bewaffnete Widerstandsgruppe, die als „Höhle des Löwen“ bekannt ist und durch die die wachsende Wut ihren politischen Ausdruck findet.

Diese Bewegung, die ausdrücklich dazu aufruft, dem Fraktionsdenken innerhalb der Widerstandsbewegung ein Ende zu setzen, steht offenbar nicht unter der Kontrolle der traditionellen Fraktionen des palästinensischen Widerstands, was für Israel sehr gefährlich ist, da es selbst die Fähigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde, als Gendarm im Westjordanland zu agieren, unerbittlich untergräbt.

In allen palästinensischen Vierteln in den besetzten Gebieten finden sich jetzt die Insignien der Löwenhöhle. Eine kürzlich vom Palästinensischen Zentrum für Politik- und Umfrageforschung durchgeführte Meinungserhebung ergab, dass 72 % aller Palästinenser:innen die Gründung weiterer bewaffneter Widerstandsgruppen im Westjordanland unterstützen, 79 % die Auslieferung von Militanten an die PA-Kräfte ablehnen und 87 % die Vorstellung zurückweisen, dass die PA das Recht hat, Verhaftungen vorzunehmen.

Die Parole der Einheit, die von der Höhle des Löwen ausgegeben wurde, ist richtig. Die Koordination zwischen den verschiedenen Fraktionen des Widerstands wird entscheidend sein, um einen wirksamen Kampf gegen die israelische Offensive zu führen. Die derzeitigen Anzeichen deuten darauf hin, dass es im Westjordanland zu einem bewaffneten Massenaufstand kommt, wie er seit der Zweiten Intifada von 2000 – 2005 nicht mehr stattgefunden hat.

Was jedoch die gegenwärtige Situation von diesem früheren Kampf unterscheidet (abgesehen von der enormen Verschärfung der Unterdrückung und des Landraubs in den dazwischen liegenden Jahren), ist die politische Position der PNA. Während der Zweiten Intifada unterstützten ihre Sicherheitskräfte den Aufstand, und die PNA genoss in der gesamten palästinensischen Gesellschaft noch breite Unterstützung. Da die PNA nun rundum diskreditiert ist, da sie nicht mehr in der Lage ist, auch nur symbolischen Widerstand gegen die Besatzung zu leisten, wird sich die Dritte Intifada stattdessen auf die Basisorganisation der palästinensischen Bevölkerung selbst stützen müssen.

Welche Führung, welche Strategie?

Leider sind sowohl die palästinensischen als auch die israelischen Arbeiter:innenmassen von schädlichen Ideologien beeinflusst, die die Entwicklung ihrer Bewegung zu einer wirklich selbstbewussten sozialistischen behindern, die in der Lage ist, den zionistischen Apartheidstaat zu stürzen und eine säkulare, sozialistische demokratische Republik in Palästina zu errichten.

Auf der jüdischen Seite hindert die reaktionäre Ideologie des Zionismus selbst jene jüdischen Arbeiter:innen, die die Brutalität ihrer eigenen Regierung erkennen, daran, eine konsequente befreiende Politik zu vertreten.

Auf palästinenischer Seite führt die schein-radikale, aber reaktionäre Ideologie des Islamismus dazu, dass die Widerstandsbewegung unter den Einfluss religiöser Fanatiker:innen gerät und in dschihadistische und individualterroristische Taktiken abgleitet, die eine Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten zur Folge haben und auch zum „Märtyrer:innentod“ der entschlossensten Kämpfer:innen führen.

Während wir unsere volle Unterstützung und Solidarität mit dem berechtigten Widerstandskampf der Palästinenser:innen zeigen müssen, muss die Arbeiter:innenklasse ihre politische Unabhängigkeit von diesen Führungen erringen und die Fehler ihrer Strategie aufzeigen, um die Massen von ihren Ideologien zu lösen und den Weg für die Entwicklung einer wirklich sozialistischen Massenbewegung der palästinensischen und israelischen Arbeiter:innenklassen zu öffnen.

Wir müssen die Perspektive einer gemeinsamen revolutionären Partei für ganz Palästina aufzeigen, die die palästinensischen Arbeiter:innen mit dem fortschrittlichsten Teil der israelischen Arbeiter:innen hinter einem gemeinsamen Programm für den Sturz des israelischen kapitalistischen Staates und seine Ersetzung durch eine gemeinsame säkulare, demokratische, sozialistische Republik Palästina, in der alle Bürger:innen gleiche Rechte haben, vereint – als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens.




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




USA: „Unsere“ Demokratie retten!??

Christian Gebhardt, Infomail 1199, 20. September 2022

Die Republikanische Partei ist darauf aus, „unsere“ Demokratie zu stürzen. Die bevorstehenden midterm elections (Zwischenwahlen) werden eine Wahl zwischen einer extremistischen Autokratie und der „besten Demokratie“ sein, die wir je auf Erden gesehen haben. Zumindest versucht die Demokratische Partei, uns das drei Monate vor den Zwischenwahlen im November weiszumachen. Aus Angst, ihre hauchdünne Mehrheit zu verlieren, verweisen die Demokrat:innen auf die Tatsache, dass immer mehr republikanische Vorwahlen auf den von Trump unterstützten und nicht auf den „gemäßigten“ Kandidaten hinauslaufen. Diese radikalen Anhänger:innen Trumps würden nicht nur eine Bedrohung für die demokratischen Rechte (z. B. Abtreibungsrechte oder die Homo-Ehe), sondern auch für die Demokratie als Ganzes darstellen.

Und da ist ein Körnchen Wahrheit dran. Die Ergebnisse der Vorwahlen zugunsten der Hardcore-Trumpanhänger:innen bei den kommenden Zwischenwahlen sind nicht nur ein Zeichen für den anhaltenden Einfluss des Trumpismus innerhalb der Republikanischen Partei, sondern auch ein Zeichen für einen anhaltenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft, selbst nachdem Trump sein Amt niedergelegt hat. Die Republikanische Partei befindet sich mitten in einem Rechtsruck, der von einer Basis von Wähler:innen angeheizt wird, die an die „große Lüge“ des Wahlbetrugs glauben und Druck auf „gemäßigte“ Republikaner:innen ausüben, damit diese sich entweder vorerst zurückhalten oder ihre Politik ändern. In jedem Fall spricht dies für einen Rechtsruck der Republikanischen Partei, der für Revolutionär:innen nicht allzu überraschend kommt. Unabhängig davon, ob dieser Rechtsruck aus echter Überzeugung oder Opportunismus erfolgt, stellt er dennoch eine reale Bedrohung für viele demokratische Rechte der US-Arbeiter:innenklasse insgesamt dar: z. B. Angriffe auf Abtreibungsrechte, die Homo-Ehe, das Wahlrecht usw.

Insgesamt lässt sich die derzeitige Situation in den USA als eine Polarisierung charakterisieren, in der die extreme Rechte in Zusammenarbeit mit der christlichen Rechten immer mehr Einfluss gewinnt und bestimmte Punkte ihrer Agenda durchsetzen kann.

Aber wer sind diese „Gemäßigten“?

Die Demokratische Partei fordert die gemäßigten republikanischen Teile auf, zur Vernunft zu kommen und die Realität der derzeitigen Republikanischen Partei zu erkennen. Eine Person, die in diesem so genannten moderaten Haufen am beliebtesten ist, ist Liz Cheney, eine Politikerin, die in 93 % der Fälle für die Politik von Donald Trump gestimmt hat und nicht als Teil des „progressiven Flügels“, was immer dieser Begriff auch bedeuten mag, innerhalb der Republikanischen Partei bekannt war. Mit ihrer Verteidigung der härtesten Formen des wirtschaftlichen Neoliberalismus gegen die Arbeiter:innenklasse und von Waterboarding (Kopf unter Wasser Drücken) und anderer Folter als legitime außenpolitische Optionen hätte sie noch vor zwei Jahren von keinem Mitglied der Demokratischen Partei als „gemäßigt“ bezeichnet werden können.

Was hat sich also geändert? Cheney hat sich in die Herzen der Demokrat:innen gespielt, indem sie gegen Trumps Verwicklung in den Angriff auf den Kongress am 6. Januar Stellung bezog, ihre Rolle im Ausschuss „6. Januar“ übernahm und für Trumps zweites Amtsenthebungsverfahren stimmte. Obwohl dies wichtige politische Positionen gegen Trumps Form des Autoritarismus waren, können sie ihr früheres politisches Leben als Hardcorepolitikerin des rechten Flügels, die politisch genauso ruchlos war wie ihr berüchtigter Vater, der ehemalige republikanische Vizepräsident Dick Cheney, nicht vergessen machen.

Wahlstrategie der Demokratischen Partei für die Zwischenwahlen

Es stellt sich also die Frage: Warum loben die Demokrat:innen jetzt Cheney? Zwar könnten wir ihnen zugute halten, dass sie glauben, Liz Cheneys Politik hätte sich grundlegend geändert und sie sei nun eine respektvolle Verbündete. Doch selbst wenn die Demokrat:innen dumm genug sind, das zu glauben, deutet das eher auf ihre übergreifende, fehlgeleitete Strategie für die Zwischenwahlen hin, ein Thema, das viel wichtiger ist.

Cheney als gemäßigt darzustellen und sie und ihre Anhänger:innen aufzufordern, nach Gemeinsamkeiten zu suchen und diese zu stärken, bedeutet, dass die Demokrat:innen einerseits versuchen, Druck auf republikanische Gesetzgeber:innen auszuüben, damit diese entweder in bestimmten Fragen mit ihnen stimmen oder aus der Reihe tanzen und die Partei ganz wechseln. Andererseits beschwören sie diese republikanischen „Gemäßigten“ sowie Unabhängige und unentschlossene Wähler:innen, für die Demokratie, und das bedeutet genauer gesagt, für die Demokratische Partei zu stimmen.

Für uns Revolutionär:innen ist es wichtig festzustellen, dass die Arbeiter:innenklasse – wenig überraschend – in dieser Strategie keine Rolle spielt. Statt sich an der Arbeiter:innenklasse zu orientieren, um den Aufstieg der extremen Rechten und des Trumpismus in den USA zu bekämpfen, versuchen die Demokrat:innen, uns davon zu überzeugen, sich mit Leuten zusammenzutun, die für den politischen Rechtsruck, mit dem wir es zu tun haben, mitverantwortlich sind. Das demokratische Establishment nimmt zudem eine Haltung ein, die den Interessen der Arbeiter:innenklasse zuwiderläuft, indem es diese Debatte derzeit nutzt, um den progressiven Flügel innerhalb der Demokratischen Partei anzugreifen, weil er „zu radikal“ und in Wirklichkeit nicht besser als die radikalen Republikaner:innen sei – eine widerliche Form der Gleichsetzung „beider Seiten“. Auch wenn wir die politische Strategie dieses progressiven Flügels ebenfalls grundlegend ablehnen, sehen wir es als notwendig an, auf diesen Angriff hinzuweisen und die Mitglieder dieses Flügels aufzufordern, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit der Demokratischen Partei zu brechen!

Die bürgerliche Demokratie – der Klebstoff, der sie zusammenhält

Die DemokratIsche Partei verkündet natürlich nicht offen, dass ihre Strategie eigentlich nicht darin besteht, den Trumpismus im Namen der Arbeiter:innen zu bekämpfen. Sie behauptet, dass der Kampf für Demokratie der wichtigste sei und sich alle um ihn scharen sollten. Wer sich gegen die Demokratische Partei stellt, auch wenn er/sie von links kommt, gehört zum falschen Lager und ist es daher nicht wert, mit jenen Kräften zusammenzuarbeiten. Dieser Aufruf, „unsere Demokratie“ zu verteidigen, ist der Klebstoff, der diese Strategie zusammenhalten und die Aktivist:innen der Arbeiter:innenbewegung an die Demokratische Partei binden soll, auch wenn  diese nicht auf der Seite der Arbeiter:innenklasse steht.

Doch niemand erwähnt den Charakter dieser „Demokratie“. Sie wird als abstraktes, natürliches Gesetz dargestellt statt als das, was sie wirklich ist: ein Form der Demokratie, die der herrschende Klasse, der Bourgeoisie nützt! Eine gesellschaftliche Struktur, die dazu da ist, den Kapitalismus und seine zerstörerischen Kräfte zu beherrschen und zu verteidigen. Eine „Demokratie“, die die Krisenlast auf die Schultern der Arbeiter:innenklasse legt, während sie dafür sorgt, dass die Profite für die Kapitalist:innen weiter fließen. Kurz gesagt, eine Demokratie, die wir als Revolutionär:innen überwinden und durch eine Arbeiter:innendemokratie und einen Arbeiter:innenstaat ersetzen wollen! Einen Staat, der wirklich vom Volk und für das Volk geführt wird und nicht durch ein Marionettenspiel, das die Kapitalist:innen vollständig begünstigt.

Wir brauchen eine Arbeiter:innenpartei!

Der Kampf für eine abstrakte Demokratie, in Wirklichkeit einer für eine bürgerliche Herrschaftsform, liefert keine Option für US-Arbeiter:innen. Anstatt innerhalb der Demokratischen Partei zu arbeiten und versuchen, für fortschrittlichere Positionen und Einfluss innerhalb einer Partei zu kämpfen, die sie nicht will – wie Bernie Sanders, die DSA oder Vertreter:innen wie die Squad uns glauben machen wollen –, brauchen wir einen offenen und sauberen Bruch mit der Demokratischen Partei. Dieser sollte zu einer Arbeiter:innenpartei führen, einer Partei, die wirklich die Perspektive der Arbeiter:innenklasse und ihre Kämpfe in den Vordergrund stellt, nicht nur, wenn es darum geht, mehr Einfluss oder Stimmen bei Wahlen zu gewinnen, sondern die auch die täglichen Kämpfe der arbeitenden Menschen in den USA führen kann. Eine Partei, die sich mit den laufenden Streikwellen, den Kämpfen gegen die Abschaffung der reproduktiven Rechte, der Wahlrechtsbeschränkungen, der Homo-Ehe und all den anderen Angriffen auf die demokratischen Rechte, die derzeit stattfinden, befasst. Eine Partei, die eine Koalition aus Vertreter:innen all unserer aktuellen Kämpfe für einen vereinten Gegenschlag bilden wird. Eine Partei, die den Arbeiter:innen endlich die Möglichkeit gibt, über ihre Politik und ihr politisches Programm selbst zu entscheiden.

Organisationen wie die Demokratischen Sozialist:innen Amerikas oder das Arbeiter:innennetzwerk Labor Notes sollten eine solche Initiative anführen und lokale Zweigstellen bilden, um eine Struktur für eine politische Debatte zu schaffen, die sich auf die Ausarbeitung eines Programms und eines Kampagnenplans konzentrieren sollte. Diese Debatten sollten nicht nur die Basisorganisationen der Arbeiter:innenklasse einbeziehen, sondern auch die Gewerkschaften auffordern, sich zu beteiligen, ihre Verbindungen zu der Demokratischen Partei zu lösen und sich einer solchen Initiative mit voller Kraft anzuschließen. Auch wenn wir wissen, dass sich die Gewerkschaftsführung nicht freiwillig an einer solchen Initiative beteiligen oder sie gegebenenfalls sabotieren wird, sollten wir zu ihrer Beteiligung aufrufen. Auf diese Weise wird  der Mitgliedschaft der faule Kern der Gewerkschaftsführung vor Augen geführt und liefert uns die perfekten Argumente, um mit ihr zu brechen und sich unserer Sache anzuschließen.

Wir Revolutionär:innen müssen uns in einer solchen Initiative engagieren und für eine revolutionäre Perspektive kämpfen. Wir sollten uns als revolutionäre Strömung innerhalb einer solchen Initiative organisieren, basierend auf einem revolutionären Aktionsprogramm. Wir argumentieren für dieses Programm und versuchen, so viele Mitglieder wie möglich zu sammeln, um für dieses Programm sowohl innerhalb als auch außerhalb der Partei zu kämpfen. Eine solche Taktik würde unweigerlich zu zwei möglichen Ergebnissen führen: Entweder wir gewinnen am Ende die Mehrheit der Partei für unser revolutionäres Programm und schaffen so eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, oder sie führt zu einer offenen Spaltung innerhalb der Initiative mit reformistischen und zentristischen Kräften. Eine Spaltung, die jedoch eine stärkere und gezieltere revolutionäre Organisation in den USA hervorbringen würde. Eine Organisation, die es uns Revolutionär:innen ermöglichen würde, in den aktuellen Kämpfen der Arbeiter:innenklasse mit einer stärkeren Stimme für unsere revolutionären Ideen zu streiten, z. B.: die Notwendigkeit der Überwindung der bürgerlichen Demokratie durch die Einführung der Arbeiter:innendemokratie und Bildung eines Arbeiter:innenstaates!