Schauprozesse in Hongkong

Peter Main, Infomail 1242, 17. Januar 2024

Am 18. Dezember begann in Hongkong der Prozess gegen Jimmy Lai, den Eigentümer der inzwischen eingestellten Apple Daily, der wichtigsten liberalen Zeitung Hongkongs. Lai, der seit drei Jahren inhaftiert ist, zumeist in Einzelhaft, muss sich vier Anklagen stellen, darunter drei Verstöße gegen das Nationale Sicherheitsgesetz (NSL). Dieses wurde 2020 über Hongkong verhängt und verbietet effektiv jegliche Opposition oder Kritik an den Regierungen von Hongkong und Peking. Das Gesetz sieht im Falle einer Verurteilung eine lebenslange Haftstrafe vor, und die Erfolgsquote bei der Strafverfolgung liegt Berichten zufolge bei 100 Prozent.

Im Fall von Lai führte die Staatsanwaltschaft als Beweis für seine Schuld die Tatsache an, dass er in seiner Zeitung zur internationalen Unterstützung der Demokratiebewegung in Hongkong aufgerufen und verschiedene internationale politische Persönlichkeiten auf seinem Twitter-Account hervorgehoben markiert hatte. Angesichts der weit verbreiteten Verurteilung des Prozesses in der ganzen Welt ist es erwähnenswert, dass die vierte Anklage nach dem britischen Kolonialgesetz gegen „Aufwiegelung“ erhoben wurde.

Verfahren gegen „Hongkong 47“

Der Prozess gegen Lai findet nur zwei Wochen nach dem Abschluss des Verfahrens gegen die „Hongkong 47“ statt. Ihr „Verbrechen“? Im Juli 2020 organisierten sie eine inoffizielle Vorwahl, um Kandidat:innen für die im September anstehenden Wahlen zum Legislativrat von Hongkong auszuwählen. Ihr Ziel war es, die Chancen zu maximieren, genügend Sitze zu gewinnen, um die Politik, einschließlich des von der von Peking eingesetzten Regierung vorgeschlagenen Haushalts, zu blockieren.

Nach dem Gesetz über die nationale Sicherheit stellt dies eine „Subversion“ dar, denn wenn der Haushalt nicht verabschiedet wird, kann die Regierung ihre Politik nicht umsetzen. Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), die die eigentliche Quelle aller Entscheidungen in China darstellt, haben die gewählten Volksvertreter:innen nicht das Recht, eine Regierung an der Umsetzung ihrer Politik zu hindern.

Der Vorwahlkampf war erfolgreicher als erwartet: Mehr als 600.000 Menschen, d. h. mehr als 13 % der gesamten Wähler:innenschaft, gaben ihre Stimme ab. Schließlich verschob die Covid-Pandemie die Wahl auf Dezember 2021. Bis dahin war den meisten Angeklagten Entlassung gegen Kaution verweigert worden und sie befanden sich in Untersuchungshaft. Nach wiederholten Anträgen der Staatsanwaltschaft auf Verschiebung des Prozesses mit der Begründung, dass mehr Zeit für den Abschluss der Ermittlungen erforderlich sei, blieben sie das ganze Jahr 2022 in Haft.

Auf den ersten Blick scheint das zu zeigen, dass sie über keine Beweise verfügte, um ihre Verfolgung zu unterstützen, als die Angeklagten inhaftiert wurden, aber der wahrscheinlichere Grund ist die Absicht, andere einzuschüchtern, die an irgendwelche Aktivitäten gegen die Regierung denken könnten.

In der Zwischenzeit erkannte die Regierung die weit verbreitete Unterstützung für die Angeklagten an, indem sie erklärte, es bestehe die „Gefahr der Pervertierung der Justiz, wenn der Prozess mit Geschworenen geführt wird“, und ernannte daher einen handverlesenen Richter, der den Fall verhandeln sollte. Der Prozess begann schließlich im Februar 2023, und schon bald stellte sich heraus, dass einige der Angeklagten tatsächlich im Auftrag der Regierung gehandelt hatten, indem sie heimlich Sitzungen zur Organisation der Vorwahlkampagne filmten und aufzeichneten. Ein Urteil wird nicht vor Ablauf von drei Monaten erwartet, so dass der Stress für die Gefangenen und ihre Familien anhält und als Warnung für andere dient.

Ironischer Weise endete dieses Verfahren am Tag der ersten Wahl zum Legislativrat, die nach den neuen Vorschriften stattfand. Bei der Wahl 2019, die nach dem vorherigen System stattfand, lag die Wahlbeteiligung bei 71,23 Prozent, und die „prodemokratischen“ Kandidat:innen gewannen mehr als 80 Prozent der Sitze in den 18 abstimmenden Bezirken. Damals wurden 90 Prozent der Sitze durch das Volk gewählt; diesmal waren weniger als 20 Prozent zu wählen, nur von der Regierung überprüfte Bewerber:innen durften kandidieren, und natürlich saßen die „prodemokratischen“ Kandidat:innen im Gefängnis. Die Wähler:innen in Hongkong machten ihre Ablehnung dieses manipulierten Systems deutlich, indem sie das Verfahren boykottierten; die Wahlbeteiligung lag bei nur 27,5 Prozent der Wahlberechtigten.

Weitere Verfahren

Im selben Monat beantragte Chow Hang-tung, eine Anwältin, die seit zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt, weil sie die Mahnwachen 2020 und 2021 zum Gedenken an das Tian’anmen-Massaker von 1989 organisiert hat, die Freilassung gegen Kaution, da noch kein Termin für ihren Prozess feststeht. Chow wurde kürzlich zusammen mit zwei Anwälten vom Festland, Xu Zhiyong und Ding Jiaxi, mit dem Menschenrechtspreis des Europäischen Rates der Gerichte und Anwaltschaften (CCBE) ausgezeichnet.

Der Richter lehnte ihren Antrag ab und begründete dies damit, dass er nicht wisse, ob ihr Handeln gegen das NSL verstoße. Es ist offensichtlich, dass die Richter das Gesetz nicht mehr auslegen und anwenden, sondern auf das Urteil der KPCh warten, oder, wie Chow es in ihrer Annahme des CCBE-Preises formulierte, „selbst ein ,unabhängiges Gericht‘ … wird in der Praxis zum Vollstrecker des parteiischen Willens der Partei“.

Die Inszenierung dieser Schauprozesse durch die KPCh bestätigt auf ihre Weise, dass selbst die elementarsten demokratischen Rechte – Redefreiheit, unabhängige politische Parteien, freie Wahlen – tatsächlich eine Bedrohung für ihre Herrschaft darstellen. Der Kampf für die Beibehaltung einiger dieser Rechte in Hongkong nach der Rückgabe des Gebiets an China im Jahr 1997 hat zu verschiedenen Zeiten Millionen von Menschen mobilisiert, war aber immer von der Annahme geprägt, dass es sich um eine Angelegenheit handelt, die nur Hongkong betrifft. Einige glaubten sogar, dass „Ein Land, zwei Systeme“ eine Art Garantie für den Sonderstatus der ehemaligen Kolonie darstellte. Es ist klarer denn je, dass der Kampf für selbst grundlegende demokratische Rechte in dem Gebiet nicht von dem Eintreten für diese Rechte in ganz China getrennt werden kann.

Heute verlangsamt sich die nationale Wirtschaft, die Arbeitslosigkeit steigt, und es gibt Anzeichen von Spaltung und sogar Lähmung in den Reihen der KPCh selbst. Die Sozialist:innen in ganz China müssen sich in einer Partei auf der Grundlage eines Programms organisieren, in dessen Mittelpunkt der Aufbau unabhängiger Organisationen der Arbeiter:innenklasse steht – betriebliche Ausschüsse, unabhängige Gewerkschaften, eine Jugendorganisation, eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse – und das sich der Verteidigung der Arbeiter:inneninteressen, dem Widerstand gegen weitere Zugeständnisse an kapitalistische Willkür, dem Sturz der Diktatur und ihrer Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenorganisationen verpflichtet.




Frankreich: Generalstreik gegen die „Rentenreform“! Nieder mit Macron und der antidemokratischen Fünften Republik!

Marc Lassalle, Infomail 1217, 24. März 2023

Seit zwei Monaten wird Frankreich von Streiks und Protesten gegen den Versuch, das Rentenalter zu erhöhen, erschüttert. Doch nun ist die Krise in eine neue Phase eingetreten.

Nach monatelangen Verhandlungen, in denen versucht wurde, die Stimmen der Abgeordneten des rechten Flügels der Republikaner:innen zu kaufen, konnte die Regierung immer noch keine Mehrheit erlangen – ein Zeichen für den Druck, den die Massen auf alle Abgeordneten ausübten.

Präsident Emmanuel Macron berief sich daraufhin auf Artikel 49.3 der Verfassung, der es ihm erlaubt, das Parlament zu übergehen und Gesetze zu verabschieden, ohne dass es eine Mehrheit unter den Abgeordneten gibt, geschweige denn ein Mandat des Volkes.

Dieser ungeheuerliche Eingriff in die Demokratie löste mehr als eine Woche lang eine neue Serie nächtlicher Proteste aus. In diesen Kämpfen mit den Sicherheitskräften stehen immer mehr junge Menschen an vorderster Front: Sie lassen sich nicht ihrer demokratischen Rechte berauben!

An den Arbeitsplätzen fällt das Tempo des Kampfes uneinheitlich aus. Einige Sektoren wie die Eisenbahnen, die Energiewirtschaft, die Docks und die Müllabfuhr werden seit Wochen bestreikt. Auf den Straßen von Paris türmen sich 10.000 Tonnen Müll. Die Häfen von Marseille und Rouen sind blockiert, ebenso wie mehrere Raffinerien. Die Benzinknappheit ist im Süden des Landes sehr groß und weitet sich unaufhaltsam auf das ganze Land aus.

Der Aktionstag am 23. März brachte 3,5 Millionen Arbeit„nehmer“:innen mit hunderten Demonstrationen auf die Straße. Die Erfahrung der letzten Wochen zeigt jedoch, dass selbst eine Mobilisierung dieses Ausmaßes nicht ausreicht, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen, geschweige denn, um sie vollständig abzusetzen, was die notwendige Voraussetzung für die Aufhebung des Gesetzes und eine angemessene Bestrafung für ihre Missachtung der Demokratie wäre.

Alle Gewerkschaftsverbände erklärten, sie würden das Land im März zum Stillstand bringen. Die Realität sieht jedoch bislang anders aus. Einige gut organisierte Sektoren führen zwar erneuerbare Streiks durch (die jeden Morgen in Betriebsversammlungen abgestimmt werden), aber es gibt keine generelle Arbeitsniederlegung. An den Aktionstagen (neun seit Januar) werden Millionen auf die Straße gebracht, aber die Zahl der Streikenden außerhalb dieser Tage ist eher gering.

Was ist hier los? Die Gewerkschaftsführer:innen haben ihre Glaubwürdigkeit in diesem Kampf aufs Spiel gesetzt – sie können heute nicht einfach nachgeben oder sich zurückziehen. Aber sie wollen auch nicht über die aktuelle Strategie hinausgehen. Da die Rentenreform nach allgemeiner und richtiger Auffassung den Lohnabhängigen zwei Jahre ihres Ruhestands vorenthält, würde eine Niederlage bedeuten, dass sie zugeben müssten, dass sie nicht in der Lage sind, die bestehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter:innen zu verteidigen, geschweige denn für Verbesserungen zu kämpfen.

Doch trotz des hohen Einsatzes weigern sich die Gewerkschaften, zu einem Generalstreik aufzurufen. Sie bestehen auf Blockaden, auf Verallgemeinerungen, aber sie haben nicht dazu aufgerufen, dass alle organisiert und gemeinsam das Land in einem unbefristeten politischen Streik lahmlegen. Der Grund dafür ist einfach. Die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten in Frankreich ist gering, weniger als 10 Prozent. Die Führungen ziehen es daher vor, gut kontrollierte Streiks in einigen strategischen Sektoren mit „Aktionstagen“ für alle anderen zu kombinieren. Sie ziehen diese konkreten Aktionen einem unbefristeten Generalstreik vor, der zwangsläufig die Organisation alternativer lokaler, regionaler und nationaler Führungen zur Koordinierung erfordern würde. Angesichts eines politischen Kampfes, der eine politische Aktion in gleichem Umfang erfordert, sind die Gewerkschaftsspitzen unschlüssig und verhalten sich zu dieser Aufgabe passiv. Doch dies ist eine Strategie der Niederlage.

Viele Arbeiter:innen betrachten die Gewerkschaftsführer:innen immer noch als die legitime Führung, auch weil die Gewerkschaftsfront (die Intersyndicale) bislang geschlossen bleibt und die Reden der Führer:innen einen radikalen Ton anschlagen. Doch bevor Macron ein Misstrauensvotum knapp überstand, war die Zahl der Streikenden rückläufig. Das hat sich nach dem 16. März zwar wieder geändert. Aber ohne einen ernsthaften Tempo- und Richtungswechsel wird sich nach einiger Zeit wieder dasselbe Problem stellen.

Deshalb müssen wir den Schwung des aktuellen Kampfes nutzen. Dieser ist noch nicht vorbei, er ist vielmehr in eine entscheidende Phase getreten. Die nächsten Tage und Wochen werden von größter Bedeutung sein. Die Entschlossenheit der Streikenden, kombiniert mit der noch zu entfesselnden Kampfbereitschaft der Massen, ist unermesslich stärker als die Regierung und ihre Polizei. Die Jugend nimmt den Kampf auf: Universitäten in Paris und Toulouse sind besetzt. Überall versuchen Aktivist:innen, die Betriebe zu vernetzen, Streikkomitees zu bilden und für einen Generalstreik zu werben.

Das jüngste Interview von Macron, das von einer ungezügelten Verachtung für die Lohnabhängigen geprägt war, hat die Situation noch zugespitzt. Die Gewalt der Polizei und die Forderungen der Minister:innen nach einem harten Durchgreifen gegen die Demonstrant:innen verstärken den Hass der Bevölkerung auf die Regierung nur noch. Millionen von Menschen fühlen, dass Demokratie und Gerechtigkeit auf ihrer Seite sind.

Der Generalstreik ist der einzig mögliche Schritt. In jedem Betrieb sollten die Aktivist:innen die Führung übernehmen und ihre Kolleg:innen davon überzeugen, die Streiks auszuweiten, die Profitmaschine zu stoppen und die öffentlichen Dienste zu schließen. Generalversammlungen und Streikkomitees in den Betrieben sollten die Führung übernehmen und Aktionsräte bilden, die regional und national vernetzt sind, um die Verallgemeinerung von Streiks zu organisieren.

Dieser Kampf geht über die Renten hinaus. Auf Macrons Umgehung des Parlaments kann es nur eine Antwort geben: einen Generalstreik, um die Rentenreform zu stoppen, um Macron zu stürzen und vor allem, um die 5. Republik und ihre bonapartistische Verfassung zu Fall zu bringen.

Macron wird nicht der erste Tyrann sein, der von den französischen Arbeiter:innen auf der Straße besiegt wird. Aber er könnte der letzte sein, wenn die französische Arbeiter:innenklasse sich auf eine Endabrechnung mit dem Kapitalismus vorbereitet.




Chinas zwei Seiten: Diktatur und Widerstand

Peter Main, Infomail 1217, 15. März 2023

Die letzte Woche hat zwei Seiten des heutigen Chinas gezeigt: die falsche parlamentarische Fassade der Diktatur der KPCh und die wortgewaltige Auflehnung der Hongkonger Demokratieaktivistin Chow Hang-tung gegen diese Diktatur in ihrer Rede auf der Anklagebank nach der Verurteilung, die wir im Folgenden wiedergeben.

KP-Tagung

In Peking ist die jährliche „Zwei-Sitzungen“-Tagung zu Ende gegangen, an der 2.900 „Delegierte“ teilnahmen, die alle von der Kommunistischen Partei handverlesen wurden, um den Mythos einer demokratischen Verfassung aufrechtzuerhalten. Die Zwei Tagungen, die so genannt werden, weil sie den Nationalen Volkskongress und die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes zusammenbringen, sind verfassungsmäßig das höchste gesetzgebende Organ Chinas. Je komplizierter der Name, desto nichtssagender das eigentliche Gremium, so scheint es, denn die Aufgabe der Tagung besteht lediglich darin, die bereits von der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) getroffenen Entscheidungen zu bestätigen.

Dieses Jahr war insofern etwas anders, als die KPCh im vergangenen Oktober ihren alle fünf Jahre stattfindenden Kongress abhielt und Xi Jinping zum dritten Mal zu ihrem Generalsekretär berief. Gleichzeitig wurden neue Mitglieder des Politbüros und des Ständigen Ausschusses ernannt, die alle als Unterstützer:innen von Xis Fraktion innerhalb der KPCh anerkannt waren. Infolgedessen musste die Versammlung in der vergangenen Woche die gleichen Personen in die Gremien, die das Land formell regieren, wie den Staatsrat, berufen. Alle 2.900 Delegierten stimmten daher pflichtbewusst für Xi als Präsident – nicht, dass es irgendwelche alternativen Kandidat:innen gegeben hätte.

So vorhersehbar all diese Ernennungen auch waren, sehen professionelle China-Beobachter:innen, das heutige Äquivalent zu den „Kremlastrolog:innen“ des ersten Kalten Krieges, eine gewisse Bedeutung in der Beibehaltung von Yi Gang als Gouverneur der Zentralbank. Dies wird als ein beruhigendes Bekenntnis zur Stabilität für die Interessen des Großkapitals gedeutet, das durch das Gerede über größere wirtschaftliche „Reformen“, die die staatliche Kontrolle verstärken werden, beunruhigt ist. Die Ernennung von He Lifeng, dem Vorsitzenden der staatlichen Planungsabteilung (Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform), zum Vizepremier, deutet jedoch darauf hin, dass tatsächlich Veränderungen auf der Tagesordnung stehen.

Der Aufstieg von Li Qiang, Xis Nummer zwei in der KPCh und nun zum Ministerpräsidenten Chinas ernannt, veranschaulicht drei wesentliche Merkmale der KPCh-Politik: die anhaltende Unterstützung des Großkapitals, die unanfechtbare Macht der Partei und die völlige Unterordnung unter Xi Jinping. Li war der Shanghaier Parteichef, der Elon Musk dazu überredete, seine Mega-Tesla-Fabrik in der Stadt zu bauen, aber auch die umfassendste und oft tödliche Abriegelung von Chinas Wirtschaftsmetropole auf Anweisung von Xi durchsetzte.

Währenddessen wurde in Hongkong die wahre Bedeutung von „Ein Land, zwei Systeme“, auch bekannt als „Hongkong regiert, Peking herrscht“, vor den Gerichten und auf der Straße demonstriert. 47 Mitglieder von Oppositionsparteien, viele von ihnen ehemalige Mitglieder des Legislativrats der Stadt, stehen vor Gericht, weil sie die Frechheit besaßen, „Vorwahlen“ abzuhalten, um ihre Kandidat:innen für eine Wahl im September 2020 auszuwählen, die dann verschoben wurde.

Anklagen

Wie die Staatsanwaltschaft erklärte, hatten die Angeklagten geplant, ihre Wahlbeteiligung zu maximieren und so ihre Chancen zu erhöhen, genügend Sitze zu gewinnen, um von der Regierung unterstützte Gesetze zu blockieren. Dies stellte eine Verschwörung im Sinne des am 20. Juni 2020 erlassenen Gesetzes über die nationale Sicherheit dar!

Am 8. März, dem Internationalen Frauenkampftag, wurde Mitgliedern der Liga der Sozialdemokrat:innen der Stadt mit Verhaftung gedroht, falls sie an einem Marsch für die Rechte der Frauen teilnähmen – und die Demonstration wurde abrupt abgesagt. Am selben Tag wurde Elizabeth Tang, die frühere Vorsitzende einer Hausangestelltengewerkschaft und Ehefrau von Lee Cheuk-yan, einem der 47 vormaligen Mitglieder des Legislativrats, wegen des Verdachts auf „Zusammenarbeit mit dem Ausland“ verhaftet.

Am Samstag, den 11. März, wurden drei Anführer:innen der Hongkong-Allianz, die die große Demonstration zum Gedenken an das Tiananmen-Massaker 2019 organisiert hatte, zu viereinhalb Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie es versäumt hatten, auf ein Ersuchen der Nationalen Sicherheitspolizei um Daten zu antworten. Die Bedeutung des Prozesses liegt nicht so sehr in der Verurteilung, sondern in seiner möglichen Verwendung als Vorbereitung für eine weitere Strafverfolgung wegen Subversion und Handelns als Agent:innen „einer ausländischen Macht“ – bei der der Schuldspruch zweifellos als „Beweis“ vorgelegt werden wird.

Rede von Chow Hang-tung

Eine der drei, Chow Hang-tung, weigerte sich, vom vorsitzenden Richter zum Schweigen gebracht zu werden, und bestand darauf, ihre Handlungen in einer letzten Rede von der Anklagebank aus zu rechtfertigen. Wir geben diese Rede wieder, sowohl als Geste der Solidarität als auch als Anerkennung für ihren Mut:

„Euer Ehren, wir wissen ganz genau, dass wir keine ausländischen Agent:innen sind, und in dieser einjährigen Prozedur hat sich nichts ergeben, was das Gegenteil beweist. Uns unter solchen Umständen zu verurteilen, bedeutet, Menschen dafür zu bestrafen, dass sie die Wahrheit verteidigen.

Die Wahrheit ist, dass die nationale Sicherheit als hohler Vorwand benutzt wird, um einen totalen Krieg gegen die Zivilgesellschaft zu führen. Die Wahrheit ist, dass unsere Bewegung für Menschenrechte und Demokratie im eigenen Land gewachsen ist und nicht von einem finsteren ausländischen Implantat stammt. Die Wahrheit ist, dass die Menschen hier eine eigene Stimme haben, die nicht zum Schweigen gebracht werden wird.

Dem Bündnis sind die Kosten nicht fremd, die entstehen, wenn man der Macht die Wahrheit sagt. Wir sollten es wissen, da wir seit über 30 Jahren die Wahrheit über das Tiananmen-Massaker bewahren und uns für viele derjenigen eingesetzt haben, die inhaftiert, schikaniert und gedemütigt wurden, weil sie die Wahrheit gesagt haben. Wir sind seit langem bereit, den Preis dafür zu zahlen.

Mit den Bekanntmachungen und der erniedrigenden Einstufung als ausländische Agent:innen wollte die Regierung uns sagen: Geht in die Knie, verratet eure Freund:innen, verratet eure Sache, akzeptiert die absolute Autorität des Staates, der alles weiß und alles entscheidet, und ihr werdet Frieden haben!

Was wir mit unserer Aktion sagen, ist ein einziges Wort: NIE. Ein ungerechter Frieden ist überhaupt keiner. Niemals werden wir unsere Unabhängigkeit vom Staat aufgeben. Niemals werden wir dazu beitragen, unsere eigene Bewegung zu delegitimieren, indem wir das falsche Narrativ der Regierung gutheißen. Niemals werden wir uns selbst und unsere Freund:innen als potenzielle Kriminelle behandeln, nur weil die Regierung uns das vorwirft.

Stattdessen werden wir das tun, was wir schon immer getan haben, nämlich Falschheit mit Wahrheit, Demütigung mit Würde, Geheimhaltung mit Offenheit, Wahnsinn mit Vernunft und Spaltung mit Solidarität bekämpfen. Wir werden gegen diese Ungerechtigkeiten angehen, wo immer wir müssen, sei es auf der Straße, im Gerichtssaal oder in der Gefängniszelle. Dieser Einsatz, einschließlich dessen, was wir in diesem Fall getan haben, ist ein Kampf, den wir hier, in dieser Stadt, die wir unser Zuhause nennen, führen müssen. Denn unsere Freiheit, wir selbst zu sein, steht auf dem Spiel. Es geht um die Zukunft unserer Stadt und sogar um die der ganzen Welt.

Euer Ehren, die heutige Anhörung findet zu einem ironischen Zeitpunkt statt. Während die falschen Volksvertreter:innen in Peking ihre große Versammlung abhalten und damit beschäftigt sind, die Wünsche eines Mannes als die der Nation anzuerkennen, wird den echten Stimmen des Volkes diese Anerkennung in diesem Gerichtssaal verweigert. Wenn die Interessen der Nation von einer Partei oder gar einer Person definiert werden, wird die so genannte ‚nationale Sicherheit’ unweigerlich zu einer Bedrohung für die Rechte und die Sicherheit des Volkes, und zwar auf nationaler und sogar auf globaler Ebene, wie die Beispiele Tiananmen, Xinjiang, die Ukraine und sogar Hongkong zeigen.

Im Vergleich zu diesen eingebildeten Agent:innen nicht identifizierbarer ausländischer Körperschaften ist die konkrete, aber nicht rechenschaftspflichtige Staatsmacht sicherlich die gefährlichere Bestie. Die Regierung betont stets die Priorität ‚Ein Land, zwei Systeme’, aber das bedeutet nicht, dass wir als Bürger:innen dieses Landes die Hauptverantwortung dafür tragen, diese Bestie, die die Welt bedroht, zu zügeln. Deshalb haben wir getan, was wir getan haben, und deshalb dürfen wir niemals aufgeben.

Herr Vorsitzender, verurteilen Sie uns für unseren Ungehorsam, wenn Sie müssen, aber wenn die Ausübung der Macht auf Lügen beruht, ist Ungehorsam die einzige Möglichkeit, menschlich zu sein. Dies ist meine Unterwerfung.“




Volle Mobilisierung für 10,5 %/500 Euro! Erzwingungsstreik!

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, Infomail 1214, 21. Februar 2023

Die „Arbeitgeber“verbände lehnen unsere Forderung ab. Angebot haben sie bis jetzt keines vorgelegt. Sie „wissen“ nur eins: unsere Forderung sei „wirtschaftlich nicht verkraftbar“. Wir sagen: 8 % Inflation und die Reallohnverluste der letzten Jahre sind für uns nicht verkraftbar!

Nach den Coronajahren, in denen wir mit Einmalzahlungen abgespeist wurden, stehen wir nun massiven Preissteigerungen gegenüber, die gerade bei Heizung, Energie und Lebensmitteln noch über der offiziellen Inflationsrate liegen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht.

Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Wenn wir unsere Forderungen durchsetzen, einen Abschluss wollen, der über der Inflationsrate liegt, dann werden Warnstreiks nicht reichen. Wir müssen uns auf eine politische Kraftprobe mit Bund und Kommunen einstellen, die nicht nur von den Regierungen, sondern auch von der bürgerlichen Presse und vom Kapital in allen Branchen unterstützt werden. Daher sollten wir uns nicht auf monatelange Rituale und Verhandlungen einlassen, sondern möglichst schnell die Urabstimmung einleiten und einen landesweiten Erzwingungsstreik aller Beschäftigten vorbereiten und durchführen.

Keine faulen Kompromisse! Nein zur Mogelpackung Einmalzahlung!

Unsere Gewerkschaften wie auch die Tarifkommission müssen Einmalzahlungen weiter eine Absage erteilen und unsere Forderungen nach 10,5 % mehr Lohn, aber mind. 500 Euro bei einer Laufzeit von 12 Monaten ohne Wenn und Aber vertreten.

Jedoch wenn wir die Tarifrunden der IG Metall oder IGBCE anschauen, müssen wir wachsam sein. Dort wurden Einmalzahlungen vereinbart. Im Gegenzug wurden die Lohnforderungen zurückgeschraubt sowie einer längeren Laufzeit zugestimmt. Bei der IG Metall wurde die hohe Streikbereitschaft nicht genutzt. Das Ergebnis für die Beschäftigten: schon wieder Reallohnverlust. Solche Mogelpackungen brauchen wir nicht.

Natürlich ist die Einmalzahlung für den Moment hilfreich. Aber der geht vorüber, die Inflation bleibt. Auch auf die Rente wird sie nicht angerechnet und die Arbeit„geber“:innen sparen die Krankenkassenbeiträge auf Kosten des Gesundheitswesens.

Tarifrunde von unten!

Eine der Lehren, die wir aus diesen Tarifrunden ableiten können: Wir können uns als Voraussetzung für einen Erfolg nicht auf den Gewerkschaftsapparat verlassen! Die Vorbereitungen rund um die Warnstreiks müssen genutzt werden, um Mitglieder zu gewinnen wie auch Mobilisierungsstrukturen in den Betrieben und Einrichtungen aufzubauen.

Die beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass ein systematischer Gewinn von Mitgliedern wie auch erfolgreiche Tarifkämpfe selbst in Bereichen der Pflege möglich sind, die noch vor Jahren von ver.di als nicht streikfähig angesehen wurden.

Ob Gesundheitswesen, Bildung oder Verwaltung, ob Beschäftigte bei Bund oder Kommunen: Wir müssen alle zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen! Wie die Kolleg:innen in den Krankenhausbewegungen müssen wir unsere Forderungen selbst aufstellen und die Tarifkommission muss ständig die Mitglieder informieren. Dafür sind Streik- oder Streikdelegiertenversammlungen da!

Streikversammlungen als Kampfmittel!

Gute Beispiele stellen hier Anträge zur Aufkündigung der Schlichtungsvereinbarung dar. Ein solcher wurde auf einer Berliner Arbeitsstreikversammlung mit großer Mehrheit angenommen. Von der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Streikführung und Entscheidung, wann der Streik zu Ende ist, müssen wir selbst bestimmen und kontrollieren. Die Uniklinik Essen kann hier als positives Beispiel für uns dienen. Dort wurden Delegierte aus allen Abteilungen in Streikkomitees gewählt und auf Streikversammlungen zusammengeführt. Diese diskutierten die jeweiligen Verhandlungen und beschlossen die weiteren Schritte des Arbeitskampfes wie auch seine Finanzierung. Die Delegierten waren gegenüber den Streikversammlungen rechenschaftspflichtig. Auf solchen regelmäßigen Streikversammlungen diskutieren dann die nach Tarif bezahlten Kolleg:innen den weiteren Weg zur Durchsetzung unserer Forderungen.

Weitergehende Forderungen

Hier können wir dann auch Forderungen diskutieren und beschließen, die über die derzeitigen Vorschläge für die Tarifrunde hinausgehen wie z. B. die starke Besteuerung großer Unternehmen und DAX-Konzerne, die auch während der Pandemie oder Energiekrise ihre Taschen gefüllt haben oder weiter füllen. Geld ist genug da! Deshalb können wir auch genauso gut die Wiedereinführung der Vermögens- wie Einführung einer Übergewinnsteuer in unsere Forderungen mit aufnehmen.

Ein Verweis wie in der ver.di-Tarifbroschüre, dass die finanzielle Situation der Kommunen gar nicht so schlecht sei, reicht hier nicht aus. Wichtiger ist hier, die Offenlegung der öffentlichen Finanzen und aller Verträge zur Auslagerung öffentlicher Dienste zu fordern. Nur so können wir und die Bevölkerung wirklich die Vorschläge der Gegenseite bewerten. Zusätzlich sollten wir auch jetzt schon Forderungen diskutieren, wie dem Personalmangel entgegengesteuert werden kann. Er ist in Krankenhäusern ebenso bekannt wie eklatant und stellt sich im Erzieher:innen- und Bildungsbereich sowie den sozialen Diensten nicht anders dar. Ein Element hierfür liefert sicherlich eine bessere Bezahlung. Wichtig ist darüber hinaus aber auch die Entlastung durch Einstellung zusätzlichen Personals. Der Kampf darf hier nicht auf einzelne Bundesländer und unabhängige Tarifverträge aufgeteilt werden. Hierfür benötigen wir unsere gesammelte Schlagkraft.

Vom Warnstreik zum unbefristeten Streik!

Diese wird von den Gewerkschaftsführungen auch in der derzeitigen Tarifrunde nicht ausgeschöpft. Die bisher durchgeführten Aktionen, Aktionstage und zeitlich versetzte Warnstreik können nur erste Schritte setzen. Aber sie reichen nicht. Wir müssen aber weitergehen und die volle Kampfkraft möglichst rasch entfalten.

Auch wenn es durchaus Sinn macht, einzelne Themen an unterschiedlichen Streikaktionstagen in den Vordergrund zu stellen, ist es unverständlich, warum nicht zu allen Warnstreiktagen die volle Belegschaft zum Streik mobilisiert werden soll. Dadurch kann in der breiten Mitgliedschaft darüber diskutiert werden, wie die unterschiedlichen Bereiche (Pflege, Bildung, Nahverkehr, Klimaschutz etc.) gemeinsam gedacht und verknüpft werden sollen.

  • Einzelne Streiktage reichen nicht! Schluss mit der Zersplitterung! Gemeinsame Aktionen mit Post, Bahn und allen anderen Kämpfen! Aufbau von Unterstützungskomitees, um die Öffentlichkeit zu informieren!

  • Wir brauchen einen Erzwingungsstreik! Vorbereitung und Einleitung der Urabstimmung anstatt monatelanger Verhandlungsrituale oder gar Schlichtung!

  • Für gläserne Tarifverhandlungen! Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden, keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!

  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wahl und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!

Kündigt das Schlichtungsverfahren!

Wir dürfen darüber hinaus nicht zulassen, dass die Gegenseite über den Weg des Schlichtungsverfahrens den Streik aushebeln kann. Es gibt zwischen ver.di und dem Arbeit„geber“:innenverband ein Schlichtungsabkommen. Wenn eine der beiden Parteien eine Schlichtung einleiten will, ist das für beide Seiten zwingend. Während der Schlichtung herrscht Friedenspflicht. Nach dem Scheitern dieses Verfahrens könnte zwar die Urabstimmung eingeleitet werden. Aber aller Erfahrung zufolge ist nach einer längeren Phase der Friedenspflicht der Schwung raus und es wird kaum noch möglich sein, die Kolleg:innen zu mobilisieren.

Deswegen stellt in allen Gremien Anträge, dass dieses Schlichtungsabkommen, das nur der Arbeit„geber“:innenseite nützt, von ver.di sofort gekündigt werden muss! Anstatt Energie in ein Schlichtungsverfahren zu stecken, sollten wir diese lieber in die Organisierung eines flächendeckenden Vollstreiks aller Kolleg:innen investieren!

https://vernetzung.org/schlichtung-ist-kein-hebel-sondern-ein-knebel/




Warum stellen wir nur Lohnforderungen?

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst, Infomail 1214, 21. Februar 2023

10,5 % mehr Lohn für alle, mindestens aber 500 Euro mehr pro Monat bei einer Laufzeit von 12 Monaten und Erhöhung der Ausbildungsvergütung sind die Hauptforderungen der diesjährigen TVöD-Runde bei Bund und Kommunen.

Sollten die Ziele erreicht werden, würden sie nicht nur in Hinblick auf die Inflationsraten eine längst überfällige Verbesserung für alle darstellen, sondern gäben auch ein wichtiges Signal für alle anderen Lohnabhängigen. Dennoch kann durchaus die Frage gestellt werden, warum nicht Forderungen mit aufgenommen wurden, die über Lohnerhöhungen hinausgehen?

Die Vorbereitung unserer Tarifrunde begann schon vor der Sommerpause 2022 und durchaus vielversprechend: Ver.di organisierte bundesweit Treffen unter der Mitgliedschaft, um ihr die obigen Forderungen mitzuteilen. Die klare Absage an Einmalzahlungen wie auch die hohen Lohnforderungen waren vor allem Auswirkung innergewerkschaftlichen Drucks:

1) Ver.di möchte ihrem Mitgliederverlust entgegenwirken, indem sie ihren Mitgliedern zu zeigen versucht, dass sie sie ernst nimmt.

2) Die großen Bewegungen der Krankenhausbeschäftigten in Berlin und NRW, die erst 2021 und 2022 für einen Tarifvertrag Entlastung gekämpft haben, zeigten, dass es möglich ist, im Bereich der Gesundheitsversorgung – wenn nötig auch wochenlang – Streiks durchzuführen. Das hat nicht nur zu einem Zuwachs von ver.di-Mitgliedern geführt, sondern auch eine hohe Erwartungshaltung unter der Belegschaft geschaffen, dass sie gut organisiert Kämpfe gewinnen kann.

3) Die Inflation und die hohen Energiekosten üben ebenfalls Druck auf die Mitgliedschaft und dadurch vermittelt auf die Tarifkommission aus. Diese muss dafür sorgen, dass die Löhne ihrer Mitgliedschaft für deren Lebenshaltungskosten reichen.

Trotzdem wurden neben finanziellen Aspekten auch von den Beschäftigten immer wieder Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen genannt, die in einem weiteren Punkt, der Druck aufbaut, wirken: gegen Personalmangel! Die Entlastungsfrage für die Beschäftigten in Krankenhäusern, Kindertagesstätten, Reinigungsfirmen, bei Behörden, usw. wurde durch verschiedene Forderungen deutlich wie z. B.:

  • Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern!

  • Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!

Die Begründung der Tarifkommission, solche Forderungen nicht in die für diese Tarifrunde zu integrieren, lautete, dass es damit zu einem gegenseitigen Ausspielen der Forderungen käme. Besonders die Entlastungsfrage soll laut ver.di anschließend in den Bundesländern einzeln aufgegriffen werden, wo es dazu noch keine Tarifverträge gibt. Dies stellt aber eine unbefriedigende Entscheidung der Tarifkommission dar. Diese kam somit dem Bedürfnis der Belegschaften nicht nach, auch Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen aufzustellen, um alte Kolleg:innen im Beruf zu halten und ihn attraktiver für neue zu gestalten. Beides kann unserer Meinung nach nicht getrennt und sollte dadurch in Streikversammlungen angesprochen und kritisch diskutiert werden.




China: Ende der Null-Covid-Politik

Peter Main, Infomail 1210, 14. Januar 2023

Die rasche Lockerung von Chinas Null-Covid-Sperren ist eine direkte Folge der Massenproteste, die das Land erschüttert haben. Die Proteste selbst korrigieren auch das weit verbreitete Bild, dass die Bevölkerung nur die ewig gehorsame, gedankenlose Sklavin der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist.

Die erste Reaktion des Einparteienstaates bestand jedoch im Versuch, die Demonstrationen zu unterdrücken. Das Aufgebot an gut ausgebildeter und ausgerüsteter Bereitschaftspolizei macht deutlich, dass sich das Regime seit langem auf solche Konfrontationen vorbereitet hat. Es weiß, dass seine weitere Herrschaft von der Repression abhängt.

Die Auswirkungen der Proteste bedeuten jedoch nicht, dass sie den einzigen Faktor für das Einlenken von Ministerpräsident Xi Jinping ausmachten. Die Entscheidungen einiger Provinzbehörden und lokaler Regierungen, die Lock-down-Regeln „neu zu interpretieren“, bevor es eine neue Entscheidung aus dem Machtzentrum Peking gab, weisen auf Spaltungen innerhalb der KPCh selbst hin.

Das ist nicht überraschend. Die unteren Ränge der Partei stehen in ständigem Kontakt mit der Öffentlichkeit, und zu ihnen gehören auch Zehntausende von „Geschäftsleuten“, d. h. Kapitalist:innen, die den Zusammenbruch ihrer Unternehmen erlebt haben. Parteimitglieder sind auch Schlüsselfiguren in den Kommunalverwaltungen auf allen Ebenen.

Ein Beamter der Stadt Dongguan sagte laut Financial Times, dass die lokalen Regierungen Schwierigkeiten hätten, die Subventionen aufrechtzuerhalten, um die Fabriken offen zu lassen, da sie auch für die Covid-Tests aufkommen müssten. Bei Millionen von Menschen, die sich täglich testen lassen müssen, nur um zur Arbeit zu gehen, wird es immer schwieriger, die Bilanzen auszugleichen.

Am anderen Ende der sozialen Skala, laut Forbes-Liste der 100 reichsten Menschen Chinas, ist das Vermögen der reichsten Tycoons des Landes im letzten Jahr um 39 Prozent gesunken. Das liegt nicht nur an den Covid-Maßnahmen, sondern auch an der Rezession in der übrigen Welt, von der China betroffen ist. Die Exporte, für die ein Wachstum von 4,5 % für das dritte Quartal bis September erwartet wurde, schrumpften tatsächlich um 0,3 %.

Nicht nur bei den Covid-Beschränkungen macht Xi einen Rückzieher. Auch die finanziellen Anforderungen, die sich auf die so wichtige Bau- und Immobilienbranche auswirken, wurden erheblich gelockert. Die Beschränkungen des Verhältnisses von Schulden zu Kapital, die so genannten „drei roten Linien“, bedrohten die Zahlungsfähigkeit vieler großer Unternehmen, von denen Evergrande nur das bekannteste ist.

Die chinesische Zentralbank hat eine ursprünglich für Ende des Jahres angesetzte Frist verlängert, innerhalb derer die Kreditinstitute ihren Anteil an Krediten im Immobiliensektor begrenzen müssen. Dies bedeutet, dass Banken und andere Kreditgeber:innen mehr Zeit haben, um den Anteil der immobilienbezogenen an ihren Gesamtschulden anzupassen. Die Zeit soll genutzt werden, um Projekte abzuschließen und so die ausstehenden Schulden zu verringern.

Insgesamt sehen die Aussichten für das kommende Jahr in China düster aus. Die zentrale Rolle der Exporte in der Wirtschaft, bisher eine der größten Stärken des Landes, wird zu einer Gefahr, wenn die Nachfrage im Rest der Welt zurückgeht, teils wegen der steigenden Zinsen, teils wegen der Lager, die immer noch mit unverkauften Waren gefüllt sind. Sportausrüsterkonzern Nike zum Beispiel meldete im September, dass seine nordamerikanischen Lagerbestände am Ende des dritten Quartals um 65 % höher waren als im Vorjahr.

Mit der Verlangsamung der Wirtschaft werden Arbeitsplätze, -bedingungen und Löhne unweigerlich unter Druck geraten, und es wird für Aktivist:innen immer wichtiger werden, die Lehren aus den Anti-Lockdown-Protesten zu ziehen. Die Geschwindigkeit, mit der Taktiken in einer Stadt oder Region in weit entfernten Orten aufgegriffen wurden, zeigt, dass Pekings Überwachungsprogramme, so mächtig sie auch sein mögen, die Kommunikation nicht gänzlich unterbinden.

In der Tat wird berichtet, dass die Zensur von „We Chat“ und anderen „sozialen Medien“ in den letzten zwei Wochen deutlich nachgelassen hat, wobei Beiträge, die früher innerhalb von Stunden entfernt worden wären, nun tagelang im Umlauf sind. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, müssen die Aktivist:innen an allen Fronten ihre völlige Unabhängigkeit von den sich entwickelnden Fraktionen in der KP bewahren, so wie sie auch unabhängig von den Kapitalist:innen sein müssen, die beginnen, sich mit der Partei zu zerstreiten.




Holodomor: Propaganda und historische Wirklichkeit

Frederik Haber, Infomail 1209, 7. Januar 2023

Der Deutsche Bundestag hat beschlossen, dass die Hungersnot in der Sowjetunion der frühen 30er Jahre ein Völkermord am ukrainischen Volk gewesen sei. Der stalinistischen Zwangskollektivierung fielen Millionen Tote zum Opfer, besonders in der Ukraine und in Kasachstan. Zugleich ist der Begriff Holodomor politisch fragwürdig, weil er die stalinistische Politik mit einem bewussten Völkermord gleichsetzt.

Tatsächlich ist diese Phase der sowjetischen Geschichte sehr lehrreich. Sie war eine Etappe der Machteroberung der Stalin-Fraktion im Kampf um die Partei, gegen die Arbeiter:innenklasse und gegen die Bäuer:innen. In dem Buch „The Degenerated Revolution“, das demnächst auch auf deutsch erscheinen wird, wird diese Phase beschrieben, die einsetzte, nachdem die Stalin-Gruppe, die politische Vertretung der Staatsbürokratie, um 1927 die Linke Fraktion (Bolschewiki-Leninst:innen) geschlagen und mit Zehntausenden Kommunist:innen aus der Partei gedrängt hatte. Im folgenden veröffentlichen wir den ersten Abschnitt des dritten Kapitels von „Degenerated Revolution“ (Seite 47 – 50), der sich mit der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Bürokratie beschäftigt. Er nimmt die inneren Widersprüche der führen Sowjetunion zum Ausgangspunkt und betrachtet die Politik-Stalin-Fraktion in diesem Kontext.

Bürokratische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

D. Hughes/Peter Main

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe um Stalin also mit dem restaurativen Flügel zusammengearbeitet und damit auch das Wachstum der Kulaken-Landwirtschaft, niedrige industrielle Wachstumsraten und eine ineffektive Planungsmaschinerie toleriert. Bis zu diesem Punkt der Entwicklung kann man sie als eine politische Tendenz definieren, die im isolierten russischen Staat die politische Macht dadurch zu behalten trachtete, dass sie die bewusstesten Schichten der ArbeiterInnenklasse systematisch politisch enteignete.

Sie unterschied sich von der Rechten darin, dass sie unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, wenn ihre politische Kontrolle über den Sowjetstaat in Gefahr geriet, in der Lage war, sich in bürokratischer Weise gegen das Privateigentum zu wenden und eine Form wirtschaftlicher Planung zu entwickeln und auszuweiten, die mit dem Wertgesetz in Konflikt stand. Ihr Interesse, Formen der Planung zu entwickeln, ergab sich aus der Notwendigkeit, die an sich gerissene politische Macht zu behalten, nicht aus einer sozialistischen Zielsetzung heraus.

Im Laufe des Jahres 1927 kam es dann im Sowjetstaat zu Schwierigkeiten, Getreide in gleicher Menge wie im Jahr zuvor von der Bauernschaft zu bekommen. Ähnliche Probleme hatten die Requirierungsbehörden 1928. Die Thermidorianer:innen ernteten nun die bitteren Früchte industrieller Unterentwicklung und der Zugeständnisse an die Kulak:innen. Die zentristische Stalin-Gruppe vollzog ihre entscheidende Wendung gegen den Bucharin-Flügel und gegen die Politik der späten Neuen Ökonomischen Politik, NÖP. Die Voraussetzung für diesen Linksschwenk war die vorherige vollständige Entfernung der revolutionären Linken aus allen Machtpositionen.

Im Dezember 1927 wurden die lokalen Organisationen der kommunistischen Partei angewiesen, ihre Anstrengungen zur Getreidebeschaffung zu erhöhen – mit geringem Erfolg. Zur gleichen Zeit erklärte Stalin noch immer: „Der Ausweg ist die langsame und stetige Vereinigung der Klein- und Kleinstbauern zu großen Betrieben auf Grundlage der gemeinsamen kooperativen Bewirtschaftung des Landes – nicht durch Druck, sondern durch Überzeugung und das gute Beispiel“ (Zitiert nach Alex Nove, An Economic History of the USSR, Harmondsworth 1972, S. 148). Der Entwurf des Fünfjahresplans, der 1928 angenommen wurde, setzte als erstrebenswertes Ziel, während seiner Laufzeit den Anteil an kollektivierten Betrieben in der Landwirtschaft auf 15 % zu erhöhen.

Von Januar bis März 1928 fanden dann gewaltsame Getreidebeschlagnahmungen unter der Leitung von führenden Stalinist:innen statt – Stalin persönlich, Schdanow, Kossior und Mikojan. Als unvermeidliche Reaktion fuhren die Kleinbauern und -bäuerinnen ihren Anbau von Weizen und Roggen im Jahr 1928 herunter. Die Stalinist:Innen mussten sich entscheiden: entweder Zugeständnisse an die private Landwirtschaft machen, die Preise erhöhen und billige Konsumgüter aus dem Westen importieren und damit ihre politische Macht in Gefahr bringen – oder sich gegen das Privateigentum auf dem Lande wenden. Sie entschieden sich für die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft – allein mit dem Ziel, ihre bürokratische Macht zu behalten, nicht im Sinne irgendwelcher langfristiger Pläne zur Kollektivierung oder möglicher kurzfristiger Vorteile im Agrarsektor. Die sowjetische Industrie war allerdings hoffnungslos schlecht darauf vorbereitet, die kollektivierte Landwirtschaft mit der Ausrüstung zu versorgen, die sie brauchte, um bessere Erträge zu erzielen. 1928 verfügte die UdSSR nur über 27.000 Traktoren statt der eigentlich benötigten 200.000 (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 17).

Die Kollektivierung der Landwirtschaft wurde ohne jede formelle Diskussion oder Entscheidungsfindung einer offiziellen Parteistruktur durchgeführt. Sie war das Werk der siegreichen Stalin-Fraktion und Ausdruck ihrer Kontrolle über die Partei zu dieser Zeit. Am 7. November 1929 druckte die Presse einen Artikel Stalins ab, in dem er die „spontane Hinwendung der breitesten Massen der klein- und mittelbäuerlichen Haushalte zu kollektiven Formen der Landwirtschaft“ lobte. Im Dezember begann Stalin eine Kampagne zur Liquidierung der Kulak:innen „als Klasse“, was durch ein Dekret vom 5. Januar 1930 unterstrichen wurde, welches das staatliche Ziel der „vollständigen Kollektivierung“ proklamierte.

Schon sieben Wochen nach dem Erlass waren 50 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen Mitglieder in rudimentären und zusammengestümperten Kollektiven geworden. Aktiver Widerstand führte automatisch dazu, dass Kleinbauern und -bäuerinnen von den Parteiorganen als „Kulaken“ abgestempelt wurden. Bis Juli 1930 waren 320.000 vermeintliche Kulakenfamilien enteignet und deportiert worden – eine Zahl, die bei weitem die am Vorabend der Kollektivierung veröffentlichten stalinistischen Statistiken zu den Kulak:innen überstieg.

Die Mitgliederzahlen der landwirtschaftlichen Kollektive von 1930 widerlegen die durchsichtigen Lügen der Stalinist:innen, die Kollektivierung sei eine spontane Bewegung der Masse der Kleinbauern und -bäuerinnen gewesen. Ein vager Hinweis Stalins, dass der Druck gelockert werden sollte, den er in einem Prawda-Artikel mit dem Titel „Siegestrunken“ im März 1930 formuliert hatte, löste eine wahre Fluchtbewegung aus den kollektiven Betrieben aus. Anfang März 1930 waren 58 % der sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen in Kollektive eingetreten. Bis Juni fiel diese Zahl wieder auf 23%! In der fruchtbaren zentralrussischen Schwarzerde-Region fiel der Anteil im gleichen Zeitraum sogar von 81,8% auf 15,7%.

Die entwurzelten Bäuer:innen fanden in den neuen Kollektiven weder Ressourcen noch Ausrüstung vor. Angesichts des Tempos der industriellen Entwicklung der 1920er Jahre und auch angesichts der Ziele des ersten Fünfjahresplans konnte Kollektivierung zu diesem Zeitpunkt nichts anderes bedeuten, als schlicht und einfach den Mangel, das Elend und die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu verallgemeinern. Der Widerstand der Kleinbauernschaft nahm den Charakter eines Bürger:innenkrieges an. Dort, wo sie keinen anderen Widerstand leisten konnten, schlachteten sie ihr Vieh als letztes Mittel, sich den staatlichen Behörden zu entziehen. Dies belegt der dramatische Rückgang des sowjetischen Nutztierbestandes zwischen 1929 und 1934. In diesem Zeitraum verringerten sich die Bestände an Pferden und Schweinen um 55 %, an Rindern um 40 % und an Schafen um 66 %. Gab es 1930 noch eine gute Ernte, ging die landwirtschaftliche Produktion in den ersten Jahren der Kollektivierung deutlich zurück. 1932 lag die Getreideerzeugung 25 % unter dem Durchschnitt der NÖP-Jahre und die Hungersnot kehrte in schrecklichem Ausmaß in die ländlichen Regionen der Sowjetunion zurück.

Aufgrund des Widerstandes und der desaströsen Wirkung der Kollektivierung auf die landwirtschaftliche Produktion ordneten die Stalinist:innen 1930 eine temporäre Rücknahme ihrer Maßnahmen an. Aber 1931 wurde die Kollektivierungskampagne wieder aufgenommen als Mittel der Stalinist:innen, die landwirtschaftlichen Produktivkräfte der Sowjetunion fest unter Kontrolle zu bekommen. Sie waren bereit, einen Rückgang der Agrarproduktion in Kauf zu nehmen, um diesen für ihr bonapartistisches Regime gewünschten Effekt zu erzielen. Bis 1932 waren 61,5 % der Anbaufläche kollektiviert, es gab 211.100 Kooperativen (Kolchosen) und 4.337 staatliche Landwirtschaftsbetriebe (Sowchosen) (H.C. D’Encausse, Stalin, Order through Terror, London 1968, S. 19).

Obwohl die Kolchosen formell als Genossenschaften gegründet wurden, wurden ihre Sekretär:innen und Führungskomitees von lokalen Parteiorganen ernannt. 1935 erhielt das Kolchos-System seine endgültige Form. Landwirtschaftliche Maschinen, Agrarspezialist:innen, Mechaniker:innen, Ausbildungspersonal und Tiermediziner:innen sollten alle in staatlichen Maschinen-Traktor-Stationen (MTS) konzentriert werden. Die Überwachung der Landwirtschaft durch das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) sollte ebenfalls in den MTS angesiedelt werden. Die Kolchosen sollten Maschinen und Expertise von der MTS erhalten. Auf diese Weise wurde eine Schicht privilegierter Arbeiter:innen in den MTS und zugleich ein perfekter Überwachungs- und Repressionsapparat gegen die bäuerlichen Massen geschaffen.

Das Einkommen der Bauern und Bäuerinnen wurde in Abhängigkeit des Ertrags ihrer Kolchosen bestimmt, nachdem der Staat das Getreide gekauft hatte und die Steuern von der Kolchose eingetrieben hatte. 1935 verdiente ein Durchschnittshaushalt 247 Rubel für ein Jahr Arbeit in der Kolchose – den Preis für ein Paar Schuhe! Zusätzlich wurde den Bauern und Bäuerinnen deshalb erlaubt, eine kleine Fläche von höchstens einem halben Hektar selbst zu bewirtschaften, auf der die bäuerliche Masse das Nötigste für ihren miserablen Lebensunterhalt mühsam erarbeitete. Die Wiedereinführung eines internen Ausweissystems für die Kolchosen-Angehörigen 1933 band diese sehr wirksam an die Kolchosen. Ein Gesetz vom 17. März 1933 legte fest, dass kein Kolchosmitglied ohne Genehmigung der Bürokratie den Kolchos verlassen durfte.

Die sowjetischen Kleinbauern und -bäuerinnen erlebten die Kollektivierung daher als Verlust ihrer „Oktobererrungenschaften“. Die bonapartistische Bürokratie hatte ihre politische Macht und ihre materiellen Privilegien bewahrt, indem sie die Basis für beschränkte Warenproduktion der Kulak:innen und der NÖP-Leute zerstört hatte. Die Kleinbauern und -bäuerinnen  verloren jede Möglichkeit, die politische Herrschaft der Bürokratie durch einen Lieferstreik herauszufordern. Das Ergebnis waren nicht nur die Stagnation und Ineffizienz der Landwirtschaft, die der sowjetischen Bürokratie bis zu ihrem Ende zu schaffen machte. Es erzeugte auch eine trotzige und rebellische Bäuer:innenschaft, die durch drastische Repression niedergehalten wurde. Der Sieg der Stalinist:innen über die Landbevölkerung war eine enorme Sprengladung im Fundament des Arbeiter:innenstaates und machte einen riesigen Repressionsapparat nötig, einschließlich Zwangsarbeitslagern, die parallel zur Kollektivierung entstanden, um die Landwirt:innen in den kollektivierten Betrieben zu halten.

Nachsatz der Redaktion

Dieser Repressionsapparat schritt dann auch zur physischen Vernichtung der Kommunist:innen, der bewusstesten Arbeiter:innen, aber auch von Vertreter:Innen aller anderen Schichten, die die persönliche Diktatur Stalins gefährden konnten. Sie traf Angehörige von nationalen Minderheiten im Vielvölkerstaat Sowjetunion oft härter als den russischen Teil der Bevölkerung, da diese Repression natürlich auch mit der Durchsetzung des großrussischen Chauvinismus einhergingen. Die Ukraine war in dieser Hinsicht sowohl aufgrund der großen Bedeutung ihrer Bäuer:innenschaft und Agrarproduktion, aber auch als größte nicht-russischer Republik im Fokus der Stalin-Fraktion. In der Tat führte die Bürokratie einen Krieg gegen die Bäuer:innenschaft, um ihre eigene Herrschaft durchzusetzen und zu sichern, einen Bürger:innenkrieg bei dem sie bereitwillig den Tod von Millionen in Kauf nahm. Ihr historisches Ziel bestand darin, den Sieg der Oktoberrevolution auszulöschen und alle Errungenschaft in ihr Gegenteil zu verkehren. Sie war ein Schlag nicht nur gegen die Bäuer:innen, sondern auch gegen die Proletarier:innen aller Länder.




Tarifrunde öffentlicher Dienst – Mit dem üblichen Ritual ist nichts zu gewinnen

Helga Müller, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Auch die ver.di-Tarifkommission verspürt Druck – zumindest ansatzweise. Am 11. Oktober beschloss sie aufgrund des Aufbegehrens von Kolleg:innen aus vielen Dienststellen und Betrieben die Forderungen für die Tarifrunde bei Bund und Kommunen: 10,5 % für alle, 500 Euro Festgeld für die unteren Lohngruppen, eine Laufzeit von 12 Monaten.

Die Festgeldforderung würde für die unteren Lohngruppen eine Steigerung bis zu 20 % – also tatsächlich einen Inflationsausgleich – bedeuten. Angesichts einer Preissteigerung von rund 10 % ist die volle Durchsetzung der Forderungen für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen dringend nötig.

Darüber hinaus bemängelt ver.di in ihrer Tarifbroschüre die nach wie vor existierende Lohnlücke zwischen dem Verdienst im öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft: „Gegenüber dem Jahr 2000 sind die Einkommen der Beschäftigten bei Bund und Kommunen um 59 Prozent gestiegen. In der Gesamtwirtschaft hingegen betrug das Plus in diesem Zeitraum 63,1 Prozent.“

Übliches Tarifrundenritual?

Ver.di attestiert der kommenden Auseinandersetzung eine „historische Dimension“. Trotzdem wird in der Planung am üblichen, um nicht zu sagen üblen, Tarifritual festgehalten. Drei schon lange vor den Kampfmaßnahmen angesetzte Verhandlungen mit den öffentlichen Arbeit„geber“:innen mit ein paar Warnstreiks dazwischen, um ein bisschen Druck auf Kommunen und Bund auszuüben. Am dritten und letzten Verhandlungstag wird dieser Regie zufolge nach einer Marathonsitzung schweißgebadet ein fauler Kompromiss verkündet werden. Dass das nicht ausreichen wird, um die Forderungen auch nur annähernd durchzusetzen, wissen eigentlich alle.

Kein Wunder also, dass schon jetzt die betrieblichen Funktionär:innen darauf vorbereitet werden, dass ein Abschluss wie in der IG Metall zu erstreben sei und es ein Erfolg wäre, wenn dieses Ergebnis auch im öffentlichen Dienst durchgesetzt werden würde. Dabei wissen wir alle, dass dieser Abschluss in der noch immer mobilisierungsstarken Metall- und Elektroindustrie einen Reallohnverlust bedeutet (siehe dazu auch die Analyse des Abschlusses in dieser Ausgabe der NI).

Vor allem aber stellt diese „Vorbereitung“ der Tarifrunde einen Schlag ins Gesicht der Kolleg:innen – z. B. aus dem Krankenhausbereich – dar, die sich mit Vehemenz für die hohen Forderungen ein-und diese durchgesetzt hatten. In einzelnen Dienststellen wurden Forderungen um die 19 % erhoben, um die Tarifrunde auch zu einem Kampf gegen die Auswirkungen der Inflation geraten zu lassen.

Auch wenn die Mobilisierungsfähigkeit in den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes sehr unterschiedlich ist, das Arbeiten im Home-Office diese nicht gerade fördert und die Forderungen auch auf unterschiedliche Resonanz stoßen, so ist es doch möglich, angesichts der Inflation eine größere Bewegung im öffentlichen Dienst hinzubekommen. Die Situation ist günstig: Auch der Tarifvertrag der Beschäftigten bei Bussen und Bahnen läuft Ende diesen Jahres ab. Die Kolleg:innen haben für ihre Tarifrunde bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen, weil auch sie sich als einen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge verstehen, und wollen auch gemeinsame Streiks und Kundgebungen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst organisieren. Hier kommen nochmal 100.000 Kolleg:innen dazu, die die Kampfkraft noch steigern können.

Was tun?

Um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tarifrunde zu schaffen, dürfen und können wir uns nicht auf den Apparat verlassen. Es gilt vielmehr, dass wir schon in der Vorbereitung für einen kämpferischen Kurs eintreten. Dabei sollten wir uns in einem ersten Schritt auf jene Belegschaften beziehen, die hohe Tarifforderungen gestellt haben, aber diese auch in alle Bereiche ausweiten:

a) Die Vorbereitungen auf die ersten Warnstreiks – oder, wie ver.di das nennt, den Stärketest – müssen genutzt werden, um Mitglieder zu gewinnen. Die beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass ein systematischer Aufbau von Mitgliedern auch in Bereichen wie der Pflege möglich ist, die noch vor wenigen Jahren von ver.di nicht als streikfähig angesehen wurden. Ihre Kämpfe der letzten Jahre haben bewiesen, dass sich auch längere Streikphasen durchstehen lassen.

b) Die Belegschaften müssen diesen Kampf als den ihren begreifen. Die Kolleg:innen in den beiden Krankenhausbewegungen haben bewiesen, dass auch dies möglich ist. Sie haben ihre Forderungen selbst aufgestellt und wurden auch in die Verhandlungen der Tarifkommission mit den Unikliniken miteinbezogen. So konnte ein 79-tägiger Streik in NRW auch wirklich durchgehalten werden.

c) Die Kolleg:innen müssen ihren Kampf – angefangen bei der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Streikführung und Entscheidung darüber, wann der Streik zu Ende ist – selbst bestimmen und kontrollieren können. Dafür gab es in den Krankenhausbewegungen auch Elemente eines eher demokratisch geführten Tarifkampfes.

An der Uniklinik Essen ging das am weitesten: Ähnlich wie beim ersten Streik für einen TV Entlastung 2018 haben die Kolleg:innen ein Streikkomitee gegründet, gewählt aus den verschiedenen Abteilungen, mit Hilfe dessen sie ihren Kampf diskutiert, entschieden und kontrolliert haben.

d) Es braucht auch Diskussionen, Beiträge und Flyer, die auch die Frage der Finanzierung der öffentlichen Haushalte aufgreifen. Und es braucht Forderungen wie die massive progressive Besteuerung der großen Unternehmen und Dax-Konzerne, die auch während der Pandemie und Energiekrise hohe Profite eingestrichen haben, sowie die Wiedereinführung der Vermögens- und Einführung einer Übergewinnsteuer. Ein Verweis darauf – wie in der ver.di-Tarifbroschüre –, dass die finanzielle Situation der Kommunen gar nicht so schlecht sei, reicht nicht. Wichtig ist vielmehr, die Offenlegung der öffentlichen Finanzen und aller Verträge zur Auslagerung öffentlicher Dienste zu fordern. Vor allem aber muss die Frage ins Zentrum gestellt werden, welche Klasse – Kapital oder Lohnabhängige – für öffentliche Versorgung mittels Steuern aufkommen muss.

e) Last, but not least muss in den verschiedenen Dienststellen und Einrichtungen auch jetzt schon die Diskussion begonnen und den Kolleg:innen eine ernsthafte Perspektive geboten werden, wie dem Personalmangel entgegengesteuert werden kann. Er ist in den Krankenhäusern ebenso bekannt wie eklatant, aber auch im Erzieher:innen- und im Bildungsbereich hat die Pandemie mehr als deutlich gemacht, dass Personal fehlt. Ein Element ist sicherlich eine bessere Bezahlung, um mehr Kolleg:innen für diese Bereiche zu gewinnen. Wichtig ist aber, den Kampf um mehr Personal nicht nur auf einzelne Krankenhäuser oder Einrichtungen zu beschränken, sondern ihn gemeinsam und bundesweit zu führen mit einer Kampagne gegen Privatisierung und für eine Finanzierung der Krankenhäuser und aller Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge entsprechend dem realen Bedarf. Hier spielt auch die Frage der kollektiven Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und vor allem Personalausgleich eine große Rolle.

In dieser Tarifrunde ist es vor allem wichtig, in betrieblichen wie örtlichen gewerkschaftlichen Gliederungen Beschlüsse, Anträge zu formulieren, dass es darum geht, die Forderungen – vor allem das Festgeld von 500 Euro bezogen auf eine Laufzeit von 12 Monaten – auch wirklich durchzusetzen. Dafür muss die Urabstimmung für unbefristete Streiks nach den ersten Warnstreiks eingeleitet werden. Darüber hinaus geht es darum, dass die Tarif- und Verhandlungskommission nicht nur die „Stimmung der Beschäftigten in den Verwaltungen und Betrieben“ (wie es in der ver.di-Tarifbroschüre heißt) in Bezug auf den Abschluss einholt, sondern die Kolleg:innen in Streikversammlungen über das Ergebnis informiert werden, darüber diskutiert und entschieden wird – wie in der NRW Krankenhausbewegung geschehen. Etwaige Verhandlungen müssen öffentlich und offen geführt werden, nicht im Hinterzimmergesprächen sog. „Tarifexpert:innen“. Kein Abschluss ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Schnellstmögliche Einleitung der Urabstimmung statt monatelanger Verhandlungsrituale!

Dafür ist es notwendig, dass sich die Kolleg:innen über die Betriebe und Orte hinweg koordinieren und Absprachen treffen, wie am besten die Absicht der ver.di-Führung, auch diese Tarifrunde auf das übliche Ritual zu beschränken, durchbrochen werden kann. Ein Zusammenschluss von aktiven Kolleg:innen, die sich nicht mit den faulen Kompromissen abfinden, sondern einen ernsthaften Kampf gegen Inflation und Personalmangel führen wollen, ist mehr als notwendig. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.




China: Xi schottet die Partei ab

Peter Main, Neue Internationale 269, November 2022

Der zwanzigste Kongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verlief vorhersehbar und nach Plan. Nun ja, fast. Dem Parteivorsitzenden Xi Jinping gelang es endlich, alle 24 Plätze im Politbüro und die sieben Plätze im Ständigen Ausschuss mit seinen eigenen Anhänger:innen zu besetzen. Obwohl er 2012 die Unterstützer:innen von Hu Jintao und Li Keqiang, dem vorherigen Präsidenten und dem bis Ende diesen Jahres noch amtierenden Premierminister, ausgeschaltet hatte, war er gezwungen, sie bis jetzt im höchsten politischen Gremium, dem Ständigen Ausschuss, zu behalten.

Die einzige Unterbrechung der sorgfältig inszenierten Inszenierung monolithischer Einheit erfolgte in der letzten Sitzung, als der Kongress über seine geänderten Statuten, d. h. die Bedingungen der Parteimitgliedschaft, abstimmen sollte. Plötzlich wurde Hu von Beamt:innen von seinem Platz am obersten Tischende entfernt und weggeführt. Beim Gehen warf er einen Blick auf Xi und klopfte Li leicht auf die Schulter.

Episode

Wir werden vielleicht nie genau erfahren, was hinter dieser außergewöhnlichen Episode steckt, aber viele haben bemerkt, dass Hu unmittelbar vor seiner Absetzung die rote Mappe vor ihm geöffnet hatte, die Berichten zufolge geschlossen bleiben sollte, bis Xi gesprochen hatte. Wurde er, der frühere Parteivorsitzende, der die Erholung von der Großen Rezession beaufsichtigte, einfach wegen eines Verstoßes gegen das Protokoll abgesetzt? Befürchtete man, er könnte Xi unterbrechen? Oder war es einfach nur eine Demonstration, dass es absolut niemandem erlaubt ist, von dem von Xi festgelegten Drehbuch abzuweichen?

An die offizielle Version, dass Hu erkrankt war und ihm zu seinem eigenen Wohl weggeholfen wurde, scheint jedoch niemand zu glauben.

Was auch immer daran wahr sein mag, der gesamte Kongress hat auf jeden Fall deutlich gemacht, dass Xi jetzt die volle Kontrolle innehat. Für den Fall, dass irgendjemand Zweifel hatte, verpflichtet die Änderung der „Satzung“ alle Parteimitglieder, seinen Status als „Kern der Parteiführung“ zu wahren.

Eine solche Beweihräucherung, eine solche monolithische Einheit, wirft sofort die Frage auf: „Wovor hat er Angst?“ Sicherlich sind solche Maßnahmen nur dann notwendig, wenn es irgendeine Art von Bedrohung gibt. Selbst in einem so streng kontrollierten Land gibt es in der Tat Anzeichen von Dissens. Eine Woche vor Beginn des Kongresses erklärten zwei führende Mediziner, George Fu Gao und Zhong Nanshan, dass die durch Abriegelungen erzwungene Pandemiestrategie, die als das Markenzeichen von Xis Politik gilt, nicht mehr zu erreichen sei. Am nächsten Tag widerlegte die Tageszeitung People’s Daily diese Idee und lobte die Politik in den höchsten Tönen.

Am ersten Tag des Kongresses ließ eine einsame Figur ein Transparent von einer Straßenbrücke in Peking herunter, unter den vielen Slogans lautete der erste: „Wir wollen keine Tests, wir wollen Essen!“ Der „Brückenmann“, wie er jetzt genannt wird, in offensichtlicher Anspielung auf den „Panzermann“, der sich nach dem Tiananmen-Massaker im Juni 1989 einer Panzerkolonne widersetzte, fasste die Gefühle von Millionen Menschen treffend zusammen.

Er wies auch auf die entscheidende Schwäche von Xis Diktatur hin: Wenn seine Herrschaft so vollständig ist, dann ist er direkt für alle Fehler, alle Misserfolge verantwortlich – und angesichts der weltweiten Verbreitung von Covid wird die Abriegelungsstrategie scheitern. Die Gesundheitsbehörden wissen es, die lokalen Regierungsvertreter:innen wissen es, zweifellos wissen es auch viele Parteimitglieder – aber man darf es nicht sagen, und man kann es nicht korrigieren. In dieser Frage hat sich Xi selbst in eine Ecke gedrängt. Langfristig führt dies zu einer politischen Lähmung: Xi kontrolliert die Partei, die Partei kontrolliert alles, wenn Xi abgesetzt würde, wäre das gesamte Regime bedroht.

Wirtschaft

Die Abriegelung ist nur eines der Themen, aus denen Xis Gegner:innen in der Partei und im ganzen Land Kraft schöpfen werden. Ein weiteres ist die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten fand der Kongress vor dem Hintergrund einer sich abschwächenden Wirtschaft statt. Die Industrieproduktion ist 2022 bis Juli nur um 0,4 % gestiegen. Die Quartalsvergleichszahl des Bruttoinlandsprodukts, die während des Kongresses veröffentlicht werden sollte, sich aber bis an dessen Ende verzögerte, wies eine jährliche Wachstumsrate von 3,9 % auf, geplant waren 5,5 %.

Die von Xi verhängten Abriegelungen sind zum Teil dafür verantwortlich, da sie die Produktion, die Lieferwege und den Inlandsverbrauch stören. Seine Gegner:innen weisen auch darauf hin, dass die Vereitelung jeglicher Hoffnung auf eine Lockerung der Politik durch den Kongress internationale Folgen zeitigte. Am Morgen nach Ende des Kongresses erlitt der Nasdaq-Index der in den USA notierten chinesischen Unternehmen mit einem Minus von 14,4 % seinen bisher größten Tageseinbruch. Auch der Hang-Seng-Index Hongkongs verzeichnete mit einem Minus von 1,6 % den stärksten Rückgang seit der Krise von 2008.

Chinas wirtschaftlicher Abschwung ist jedoch nicht nur Ergebnis einer verfehlten Politik. Im Inland unterliegt es ebenso den zyklischen Mustern der kapitalistischen Produktion wie jede andere kapitalistische Wirtschaft. Das rasante Wachstum nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation 2001 endete in der Krise von 2008. Der Aufschwung wurde durch enorme staatliche Ausgaben für die Infrastruktur angeheizt, wurde aber durch den Börsencrash von 2016 gestoppt, der Xi dazu veranlasste, gegen einige der kapitalistischen Kreise vorzugehen, die er anfangs gefördert hatte. Seitdem sind die Wachstumsraten stetig gesunken.

Auf internationaler Ebene hat der Aufstieg des Landes zu einer großen kapitalistischen Wirtschaft, einer imperialistischen Macht, es in Konflikt mit den bereits bestehenden Weltmächten gebracht, vor allem mit den USA. Die US-Sanktionen gegen China, die unter Obama begonnen und seither aufrechterhalten wurden, bringen nun schwerwiegende Auswirkungen mit sich, vor allem in den Bereichen, in denen Spitzentechnologie nicht nur industriell, sondern auch militärisch genutzt werden kann.

Dies sind die Faktoren, die Xis Politik geprägt haben, die im Allgemeinen durch eine größere Kriegslust auf internationaler Ebene und die Unterdrückung potenzieller Rival:innen im Inland gekennzeichnet ist. Wie der Brückenmann gezeigt hat, gibt es jedoch weitverbreitete Ressentiments und Feindseligkeit gegenüber der Einparteiendiktatur und dem angeblich allmächtigen Führer. Er hat auch gezeigt, vor wem Xi Jinping wirklich Angst hat, nämlich nicht vor den Amerikaner:innen, sondern vor den Chines:innen.




Tarifabschluss Häfen: Punktsieg für den Apparat

Bruno Tesch, Neue Internationale 267, September 2022

In der zehnten Verhandlungsrunde zwischen dem Zentralverband der deutschen Seehäfen (ZDS) und der Gewerkschaft Vereinte Dienstleistungen (ver.di) einigten sich die beiden Parteien am 22. August 2022 auf einen neuen Tarifvertrag.

Das Ergebnis

Ab 1. Juli 2022 steigen die Entgelte in Vollcontainerbetrieben in der Ecklohngruppe 6 (inklusive Sonderzahlung) um 9,4 Prozent; in den konventionellen und Stückguthafenbetrieben in derselben Referenzlohngruppe (inklusive Sonderzahlung) um 7,9 Prozent. Ab 1. Juni 2023 erhöhen sich die Entgelte in den genannten Betriebsarten um jeweils weitere 4,4 Prozent. Sollte die Preissteigerungsrate darüber liegen, tritt eine Inflationsklausel in Kraft, die eine Preissteigerungsrate bis 5,5 Prozent ausgleicht. Für den Fall einer höheren Inflationsrate haben die Tarifparteien eine Verhandlungsverpflichtung, inklusive eines Sonderkündigungsrechtes, vereinbart.

Extrem bescheiden fällt der Abschluss zudem für die Beschäftigten der sog. C-Betriebe aus, für die zum 1. Juli 2022 3,5 % vereinbart wurden, für 2023 gar nur 2,5 %. Unter diese Unternehmen fallen lt. ver.di vor allem solche, die mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätten. In der Regel sind das aber auch jene, wo die Arbeiter:innen ohnedies schon weniger verdienen. Für sie bedeutet der Abschluss weitere deutliche Reallohnverluste, so wie insgesamt die Lohndifferenzen in der Branche weiter zunehmen.

Ursprünglich Forderung

Der gewerkschaftlichen Forderung nach einem Inflationsausgleich in nicht bezifferter Höhe und Anhebung der Stundenlöhne um 1,20 Euro v. a. auch für die unteren Lohngruppen stand die Position des ZDS, die die Laufzeiten aufspalten wollte und eine schrittweise Lohnerhöhung von 3,2 % in diesem und 2,8 % im nächsten Jahr sowie eine Einmalzahlung von 600 Euro vorsah, gegenüber. Daneben sind auch Arbeitsverdichtung und Überstunden ein gerade in den letzten Jahren immer drückenderes Dauerthema geworden. Grund dafür sind Personalabbau und die Ausweitung des Sektors der „unständigen“ Arbeitskräfte, die als moderne Tagelöhner:innen malochen.

Natürlich verdienten auch diese Forderungen in voller Höhe und Umfang unsere tätige Solidarität, denn schon ihre Durchsetzung konnte sich nur stärkend auf das Selbstbewusstsein der Kolleg:innen auswirken und die Anziehungskraft einer gewerkschaftlichen Organisierung erhöhen. Aber die Kolleg:innen sollten wachsam sein und Transparenz und Rechenschaftspflicht von ihren in den Verhandlungen agierenden Vertreter:innen fordern. So erwies sich der Glaube als Luftschloss, dass „eine starke Mobilisierung am 22. August ( … ) es auch der Verhandlungskommission ermöglichen (würde), ( … ) sich über die weiteren Verhandlungsschritte direkt mit den anwesenden Kolleg:innen zu beraten, anstatt sich hinter verschlossenen Türen auf die Argumente der Bosse einlassen zu müssen“, wie Dustin Hirschfeld von „Klasse gegen Klasse“ schrieb. (https://www.klassegegenklasse.org/hafenstreiks-inflationsmonster-stoppen-vollstreik-jetzt/).

Eigenlob der ver.di-Spitze

Auf den ersten Blick liest sich das Resultat als voll im Einklang mit den gewerkschaftlichen Kernforderungen. „Das ist ein sehr gutes Ergebnis. Unser wichtigstes Ziel war ein echter Inflationsausgleich, um die Beschäftigten nicht mit den Folgen der galoppierenden Preissteigerung alleinzulassen“, schwelgte denn auch ver.di Verhandlungsführerin Maya Schwiegershausen-Güth.

Das Resultat wird zur Annahme bei der Bundestarifkommission am 5. September empfohlen und dürfte wohl durchgewinkt werden, nachdem ein „Diskussionsprozess mit den Mitgliedern in den Betrieben über das Tarifergebnis eingeleitet“ worden ist. Da aber 90 % der Bundestarifkommission den Abschluss unterstützen, soll das Ergebnis ausdrücklich nur besprochen und erklärt werden. Eine Mitgliederbefragung, die wenigstens einen Aufschluss über die Positionierung der Basis geben könnte, ist ausdrücklich nicht vorgesehen. Den Hafenarbeiter:innen wird dieser neue Vertrag nicht nur als großer Erfolg verkauft, Schulterklopfen über die Unterstützung durch Streikaktionen als „faire“ Geste inbegriffen, aber v. a. wird die Linie des Bürokrat:innenapparats hervorgestrichen: Seht her, was wir durch unser Verhandlungsgeschick alles erreichen können!

Mehr war drin!

Doch Eigenlob stinkt bekanntlich. Aber eine kritische Feststellung zum glorreichen Abschluss lässt sich nicht beiseite wischen: Offensichtlich hat die Idee der Gegenseite von einer Aufspaltung nach Tätigkeitsbereichen wie auch einer zeitlichen Streckung verfangen.

Zudem ist bei der Inflationsberechnung ja deren Beginn weit vor dem Stichdatum Juli 2022 unberücksichtigt geblieben. Eine Anhebung der Tabellenentgelte von 1,20 Euro konnte zwar für 2022 erreicht werden, für das zweite Jahr sind freilich nur weitere 30 Cent vorgesehen – womit sich die „soziale Komponente“ gleich wieder relativiert. Was gedenkt die Gewerkschaft gegen die horrende Arbeitszeitverdichtung, die Ausweitung des prekären Sektors der „unständigen“ Arbeitskräfte in den Seehäfen zu tun? Dazu schwieg sie.

Tarifrundenritual nicht durchbrochen

In der Nachbetrachtung bleibt festzuhalten, dass viel mehr hätte erreicht werden können. Das erstreckt sich nicht nur auf das reine Tarifresultat, sondern vielmehr auf die politisierende Ausstrahlung über den engen gewerkschaftlichen Rahmen hinaus. Die Streikbereitschaft war riesig und die Entschlossenheit zum Kampf erwies sich auch in der machtvollen und militanten Demonstration am 15. Juli in Hamburg. Hier zeigte sich ähnlich wie bei den Streiks der Gewerkschaft der Lokführer:innen (GdL), dass selbst mit einer verhältnismäßig kleinen Belegschaftszahl eine große Wirkung erzielt werden kann, wenn neuralgische Stellen in Transport und Verkehr und betroffen werden.

Darüber hinaus wurde jedoch auch die Chance nicht genutzt, mit gleichzeitig stattfindenden Arbeitsniederlegungen z. B. an den Flughäfen ein Verbindungsnetz an Aktivist:innen aufzubauen, das die Streiks hätte ausweiten und die Frage des Teuerungsausgleichs zu einer bundesweiten Kampagne für die gleitende Lohnskala – 1 % Lohnsteigerung für jedes Prozent Inflation – unabhängig von Tarifrunden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen als Produzent:innen wie Konsument:innen hätte ausbauen lassen.

Zustimmung zum Arbeitsgerichtsurteil

Skandalös war in dem Zusammenhang v. a. die Zustimmung der ver.di-Spitze zu dem arbeitsgerichtlichen Verdikt, die Streiks nach den 15. Juli, dem Höhepunkt der Aktionsfähigkeit der Basis, bis zum 26. August auszusetzen. Dies spielte dem bürokratischen Apparat naturgemäß in die Hände, denn so konnte er die Kontrolle behalten, der möglichen Kampfdynamik die Spitze brechen, die Beschäftigten zu unterstützenden Statist:innen für ihre nicht direkt kontrollierbaren Verhandlungsrunden mit den Arbeit„geber“:innen degradieren.

Eine unmittelbare Lehre aus den Geschehnissen muss lauten: Die Forderung nach Inflationsausgleich muss sich auf alle Branchen erstrecken, die Preissteigerungen und gleitenden Lohnanpassungen sollten von gewählten Arbeiter:innenkontrollkomitees überwacht werden. Einschränkungen des Streikrechts durch bürgerliche Gerichte dürfen niemals anerkannt und befolgt werden.

In Diskussionsprozess eingreifen!

Die Mobilisierung hat aber schon jetzt viele Kolleg:innen in den Häfen kämpferischer und politischer gemacht. Und für die Beschäftigten in den C-Betrieben ist der Abschluss ein Hohn. Eine konsequente Gewerkschaftspolitik hätte sich auf die Verfestigung der Aufsplitterung nicht einlassen dürfen, sondern vielmehr die Kampfkraft zur Mobilisierung für einen gemeinsamen und gleichen Abschluss nutzen müssen.

Aber auch in anderen Bereichen fällt der Abschluss viel zu knapp aus – nicht zuletzt wegen der zwei Jahre Laufzeit. Statt die Kampfkraft voll zu entfalten, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und eine Urabstimmung einzuleiten und damit vom Warn- zum Vollstreik überzugehen, zogen es ver.di-Führung, Verhandlungs- und Tarifkommission vor, doch noch einen angesichts des Mobilisierungspotentials und des massiven Inflationsdrucks mäßigen Abschluss zu zimmern.

Alle kämpferischen Gewerkschafter:innen sollten bei den bis zum 5. September anberaumten Versammlungen gegen die Annahme des Verhandlungsergebnisses argumentieren und dafür eintreten, dass dort nicht nur diskutiert und informiert, sondern auch abgestimmt wird. Außerdem soll ein für die Tarifkommission bindender Mitgliederentscheid zum Tarifvertrag eingefordert werden. Zweifellos wird dies gegen den Apparat sehr schwer durchsetzbar sein – doch sollen und können die Versammlungen genutzt werden, um zu sehen, wie viele Gewerkschaftsmitglieder mit dem Apparat gehen und wie viele nicht, vor allem aber um möglichst viele klassenkämpferischen Arbeiter:innen über die Tarifrunde hinaus in einer antibürokratischen Basisopposition zu organisieren.