Entstehung, Programm, Praxis – zum Charakter der Linkspartei

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024

Die Gründung der Partei DIE LINKE 2007 geht auf die Fusion von „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) und der „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) zurück. Sie bildete eine Antwort auf die Agenda 2010, auf die sozialdemokratische Dominanz und den Verrat der SPD an der Arbeiter:innenklasse, der auch im Verhältnis zwischen dieser und Lohnarbeiter:innen eine nachhaltige Zäsur bedeutete.

Das Positive daran war sicherlich eine Erschütterung des SPD-Monopols auch in den Gewerkschaften, die – anders als bei den Grünen in den 1980er Jahren – nicht zur Bildung einer „radikalen“ kleinbürgerlichen, später offen bürgerlichen Alternative zur SPD führte, sondern zur Entstehung einer zweiten reformistischen Partei.

Mit Gründung der Linkspartei ist eine zweite, im Grunde linkssozialdemokratische Partei entstanden. Andererseits war DIE LINKE selbst nie mehr als eine Partei zur Reform und Bändigung des Kapitalismus – und wollte auch nicht mehr sein.

Entstehung

Das verdeutlichte bereits ihre Entstehung. Die PDS war trotz ihres parlamentarischen Überlebens eine schrumpfende Partei, die nur in den neuen Bundesländern und Berlin über einen Massenanhang verfügte. Die Mitgliedschaft betrug 1990 noch 285.000 Mitglieder, 1991 172.579 und im Jahr 2006, also vor Fusion mit der WASG, 60.338.

Die ehemalige PDS-Mitgliedschaft wies bei der Fusion einige Besonderheiten in der Sozialstruktur auf, die davon herrühren, dass sie aus der Partei der ehemals herrschenden Bürokratie der DDR hervorging und die dort politisch absolut dominierende gewesen war.

Mehr als 60 Prozent der PDS-Mitglieder waren 2006 älter als 65 Jahre, also Rentner:innen. Die jüngeren sind es jedoch, die im Apparat der Partei, in den Stiftungen, Landtagen, Kommunen usw. als Funktionär:innen tätig sind. Zweitens lag der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der Parteimitgliedschaft in der PDS mit 37 Prozent deutlich unter jenem der SPD (57 Prozent). Drittens verfügten 54 % der PDS-Mitglieder über einen Hochschulabschluss gegenüber 33 Prozent bei der SPD, während umgekehrt nur 30 % die Schule mit einem  Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss absolviert hatten – ein extrem geringer Prozentsatz für eine Massenpartei, die sich sozial auf das Proletariat stützt, 2006 auch extrem gering gegenüber 40 Prozent bei der SPD und 50 Prozent in der Gesamtbevölkerung.

Die PDS war zwar auch immer eine reformistische, bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Aber anders als die SPD stützte sich ihre organische Verankerung kaum auf die Gewerkschaften. Diese wurde vielmehr über den Einfluss in anderen Massenorganisationen wie der Volkssolidarität, Mieter:innenvereinigungen, lokalen Verbänden sowie eine historisch gewachsene Verbindung zu den akademisch gebildeten Schichten der ostdeutschen Lohnabhängigen gebildet. Dazu kam ein Massenanhang auch unter sozial schlechter gestellten Teilen der Arbeiter:innenklasse, insbesondere auch Arbeitslosen im Osten.

Das wirkliche neue politische Phänomen bei der Fusion stellte die WASG dar. Diese war ein Resultat der Massenproteste und Mobilisierungen gegen die Angriffe der rot-grünen Regierung – Agenda 2010 und Hartz-Gesetze – und der damit verbundenen Krise der SPD.

Auch beim Blick auf die WASG ist jede nachträgliche Idealisierung fehl am Platz. Schon der Name „Wahlalternative“ war instruktiv dafür, worin die Praxis der zukünftigen Partei bestehen sollte. Zweitens war die WASG von Beginn an von einem „traditionalistischen“ Flügel der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie, ihren akademischen Wasserträger:innen und ehemaligen SPD-Funktionär:innen um Lafontaine dominiert und geführt.

Für diese, die WASG von Beginn an prägende und dominierende Strömung war immer auch klar, wie eine zukünftige neue Partei der „sozialen Gerechtigkeit“ aussehen müsste. Sie sollte eine Wahlpartei sein, die im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften und deren Führungen sowie anderen, vom Reformismus dominierten sozialen Bewegungen (z. B. attac, Friedensbewegung) v. a. an der Wahlurne einen „Politikwechsel“ erzwingt, eine Partei, deren Ziel die Verteidigung oder Wiedererrichtung des „Sozialstaates“ war.

Die WASG litt jedoch an einem inneren Widerspruch, der die reformistische Führung umtrieb und beunruhigte und zugleich das klassenkämpferische Potenzial der neuen Partei zum Ausdruck brachte. Die WASG zog nämlich als Mitglieder nur wenige Bürokrat:innen an, sondern vor allem Arbeitslose und Aktive aus den sozialen Bewegungen. Sie war eine Partei der Hartz-IV-Bezieher:innen; von Arbeitslosen, die damals mit 345 (West) bzw. 331 (Ost) Euro plus Wohngeld über die Runden kommen mussten. In vielen Städten machten diese die Hälfte der Mitgliedschaft oder mehr aus.

Auch wenn diese Schicht der Mitgliedschaft viele der Illusionen in den „Sozialstaat“, den Parlamentarismus und die Möglichkeit einer „Reformpolitik“ teilte, so wollte sie eine aktive Partei bilden, die für die Belange der Arbeitslosen und anderer Unterdrückter und Ausgebeuteter kämpft.

Die WASG war zwar von Beginn an eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei. Doch die vorherrschende Bürokrat:innenclique verfügte noch nicht über einen starken, verlässlichen Apparat. Noch hatte sich in ihr kein stabiles Verhältnis zwischen Führung und Basis herausgebildet, das in langjährig etablierten reformistischen Parteien fast automatisch die Gefolgschaft der, meist passiven, Mitglieder sicherstellt. Die WASG hingegen war eine reformistische Partei mit einer außergewöhnlich aktiven Mitgliedschaft, was aus ihrer Verbindung zur Arbeitslosenbewegung herrührt.

Für die PDS und heute DIE LINKE oder die SPD war und ist es normal, dass die überwältigende Mehrheit der Mitglieder außer der Beitragszahlung nichts oder wenig tut, zu keinen Versammlungen erscheint oder, wo sie es tut, dort mehr oder weniger passiv agiert und die Vorgaben von oben abnickt. Das stärkt die Führung und das ist im Grunde auch so gewollt. Die aktiven Mitglieder reformistischer Parteien sind in der Regel die Funktionär:innen der Partei bzw. Funktionsträger:innen des bürgerlichen Staates oder korporatistischer Gremien wie Betriebsräten, von Sozialverbänden oder ähnlichem. Und genau diesen „Normalzustand“ einer bürgerlichen Partei – und eine solche, wenn auch besondere Form ist auch eine bürgerliche Arbeiter:innenpartei – wollten die Spitzen von WASG und PDS mit der Fusion zur Linkspartei bewusst herbeiführen.

Das haben sie mit der Fusion mit der PDS auch geschafft. Von den 12.000 WASG-Mitgliedern machte nur etwas mehr als die Hälfte die Fusion mit. Viele widersetzten sich der bürokratischen Fusion und der Regierungspolitik der PDS, die vor allem in Berlin katastrophal war. Den Höhepunkt erlebte diese Rebellion der Bewegungsbasis in der Kandidatur der Berliner WASG gegen die PDS 2006, wo die PDS 9,2 % der Stimmen verlor und auf 13,4 % absackte. Die Berliner WASG konnte einen Achtungserfolg mit 3,8 % der Erststimmen und 2,9 % der Zweitstimmen (40.504) verbuchen.

Dieser Erfolg der WASG und die Formierung des Netzwerks Linke Opposition (NLO) brachten das Potential eines Bruchs und einer weiteren Radikalisierung zum Ausdruck, der jedoch auch daran scheiterte, dass ein Teil der Linken, die den Wahltritt in Berlin unterstützt hatten, vor dieser Perspektive zurückschreckte und, allen voran die SAV, in den Schoß der Linkspartei zurückkehrte. Neben linken Fusionsgegner:innern blieben v. a. die Arbeitslosen, die unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse, der neuen Partei fern.

Die Entstehung 2007 verdeutlicht auch das reale Verhältnis der Partei zu sozialen Bewegungen. Diese sind solange willkommen, als sie der Partei Mitglieder und Wähler:innen zutragen – nicht jedoch als eigenständiger Faktor, der der Spitze gefährlich werden und die Partei real zu einem Instrument von Klassenbewegungen von unten machen könnte.

Außerdem konnte DIE LINKE diese Verluste durch ein scheinbar stetes Wachstum und Wahlerfolge von 2007 – 2010 leicht kompensieren. Abgesehen von Bayern überwand sie in diesem Zeitraum bei allen westdeutschen Landtagswahlen die 5 %-Hürde. Auch im Osten fuhr DIE LINKE Rekordergebnisse ein, so 2009 in Thüringen (27,4 %) und Brandenburg (27,2 %). Bei den Bundestagswahlen 2009 brachte sie es auf 11,5 % (gegenüber 8,7 % 2005) und 76 Abgeordnete.

Bei ihrer Gründung 2007 hatte DIE LINKE insgesamt 71.711 Mitglieder in 16 Landesverbänden. In den Folgejahren stieg die Zahl auf 75.968 (2008) und 78.046 (2009). 2010 schrumpfte die Mitgliedschaft jedoch um fast 5.000 auf 73.658. Seither ist die Mitgliederzahl der Partei, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen, stetig rückläufig. 2023 beträgt sie nur noch 55.000.

Programm und Strategie

Dem reformistischen Charakter der Partei entsprachen von Beginn an ihre programmatischen, strategischen Vorstellungen.

Das Programm der Partei DIE LINKE (Programmatische Eckpunkte, angenommen 24./25. März 2007) trug von Beginn an die Handschrift des keynesianischen, auf die Gewerkschaftsbürokratie und die Arbeiter:innenaristokratie orientierten Mehrheitsflügels der Partei. Als strategisches Ziel der Partei verortet es einen „Politikwechsel“, gestützt auf das Erringen einer „antineoliberalen gesellschaftlichen Hegemonie“.

DIE LINKE bekennt sich in den programmatischen Eckpunkten ihres Gründungsparteitages 2007 ausdrücklich zum freien Unternehmer:innentum. Dort heißt es: „Gewinnorientiertes unternehmerisches Handeln ist wichtig für Innovation und betriebswirtschaftliche Leistungsfähigkeit.“ (S. 3) Der Staat habe nur dafür zu sorgen, dass dieses im kreativen Überschwang nicht über die Stränge schlage und gegen das Gemeinwohl verstoße.

Dahinter steht die alte reformistische Mär, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit im Rahmen der kapitalistischen Verhältnisse durch die Intervention von Staat und Politik, wenn schon nicht überwunden, so erfolgreich abgemildert werden könne – was wiederum impliziert, dass „der Staat“ kein Instrument zur Sicherung zur Herrschaft der Bourgeoisie wäre, sondern über dem Klassengegensatz stünde.

Dabei ist den Strateg:innen der LINKEN durchaus klar, dass eine einfach Mehrheit im Parlament, ein Parteienbündnis von LINKEN und SPD (und evtl. den Grünen) nicht ausreicht, um die Sabotage jeder fortschrittlichen Maßnahme durch die herrschende Klasse, die Manipulation der öffentlichen Meinung durch die monopolisierten bürgerlichen Medien usw. abzuwehren.

Marx, Lenin und alle anderen revolutionären Marxist:innen haben daraus und aus der Aufarbeitung der Klassenkämpfe und Revolutionen seit Beginn der bürgerlichen Epoche den Schluss gezogen, dass das Proletariat – will es sich befreien, will es dem kapitalistischen Ausbeutungssystem ein Ende setzen – den bürgerlichen Staat nicht einfach übernehmen, nicht auf eine „Regulierung“ des Kapitalmonopols an den Produktionsmitteln hoffen darf, sondern die herrschende Klasse enteignen, den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen und durch die Herrschaft der in Räten organisierten bewaffneten Arbeiter:innenklasse ersetzten muss.

DIE LINKE schlägt hier einen ganz anderen, wenn auch nicht gerade originellen Weg vor. Eine „Reformregierung“ müsse sich auf die „gesellschaftliche Hegemonie“ stützen – sprich darauf, dass auch die „weitsichtigen“ und „sozialen“ Teile der herrschenden Klasse für eine Politik des Klassenausgleichs gewonnen werden müssen.

Eine solche Politik bedeutet notwendigerweise eine Unterordnung der LINKEN unter einen Flügel der herrschenden Klasse, eine Garantie für das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Es bedeutet notwendig eine staatstragende Politik der „Opposition“.

Der Partei schwebt eine Marktwirtschaft ohne große Monopole und Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis von Warenproduktion und pluralen Eigentumsverhältnissen.

DIE LINKE erkennt zwar die Existenz von Klassen und auch des Klassenkampfes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der Kampf für Sozialismus oder eine andere Gesellschaft durch die Linkspartei ist für die Alltagspraxis allerdings weitgehend fiktiv, eine Worthülse. Das drückt sich auch im Sozialismusbegriff aus. Dieser wird nicht als bestimmte Produktionsweise, sondern vor allem als Wertegemeinschaft verstanden. So heißt es im Grundsatzprogramm von 2011:

„Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird.“

Dieser Anklang an Marx ist allerdings auch schon alles, was mit dessen Vorstellung von Sozialismus/Kommunismus und dem Weg dahin zu tun hat. Anstatt einer Revolution als Vorbedingung zur Entwicklung gen Kommunismus sieht der Programmentwurf einen „längere(n) emanzipatorische(n) Prozess (vor), in dem die Vorherrschaft des Kapitals durch demokratische, soziale und ökologische Kräfte überwunden wird und die Gesellschaft des demokratischen Sozialismus entsteht.“ Der Boden des bürgerlich-demokratischen Systems ist ihr als politisches Terrain heilig, die sozialistische Revolution lehnt sie ab.

Das bedeutet aber auch, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer Ziele und Version dieses Sozialismus durch Regierungsbeteiligungen herbeiführen muss. Wo die Linkspartei an der Regierung ist, gestaltet sie die bestehenden Verhältnisse mehr oder minder sozial mit. Dabei akzeptiert sie die Institutionen des bürgerlichen Systems als unüberschreitbaren Rahmen linker Politik, der allenfalls durch einzelne Reformen zu erweitern wäre.

Das entscheidende Problem dieser Konzeption liegt im Verständnis von Klassenkampf und Staat. Der bürgerliche Staat wird als Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen, als Terrain des Klassenkampfes, nicht als Staat des Kapitals, als Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie.

Der Unterschied zum Marxismus besteht dabei nicht darin, dass der Kampf um Reformen und für demokratische Rechte abzulehnen wäre. Er besteht auch nicht darin, dass nicht auch Kämpfe auf staatlichem Terrain ausgetragen werden können und müssen, sondern in der Annahme, dass diese den Klassencharakter des bürgerlichen Staats aufheben könnten. Die Transformationsstrategie begreift ihn als ein ein zu reformierendes Instrument gesellschaftlicher Veränderung hin zum Sozialismus.

Das findet sich auch im noch heute gültigen Grundsatzprogramm von 2011, dem angeblich linken „Erfurter Programm“ wieder:

„DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“

Auch wenn hier nebulös von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes Kernproblem: Die Transformationsstrategie löst die Dialektik von Reform und Revolution so auf, dass die Revolution als eine in die Breite gezogene, bloß tiefer gehende, grundlegendere und langwierige Reform verstanden wird. Die Revolution bildet dann im Grunde nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und Transformationsbemühungen.

Kommunistische Politik betrachtet die Frage gerade umgekehrt. Die Revolution stellt einen Bruch dar, ein qualitativ neues Moment, eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse. So wichtig einzelne Reformen auch sein mögen, so zeichnet sich eine revolutionäre Veränderung durch die Machteroberung einer bisher ausgebeuteten Arbeiter:innenklasse aus. Dabei ist aber nicht die Transformation des bürgerlichen Staates kennzeichnend, sondern vielmehr umgekehrt das Zerbrechen oder Zerschlagen dieses Apparates. Die Herrschaftsinstrumente des Kapitals werden ersetzt durch qualitativ neue vorübergehende Formen politischer Herrschaft, die Räteherrschaft der Arbeiter:innenklasse, also die Diktatur des Proletariats anstelle der des Kapitals.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Begrenztheit einer in der Linkspartei gern geführten Debatte zwischen linkem und rechtem Flügel ersichtlich, zwischen kommunaler/parlamentarischer Regierungsarbeit und Bewegungslinker/Parteiapparat. Die gesamte Transformationsstrategie verspricht zwar eine Verbindung dieser, stößt aber unwillkürlich selbst auf das Problem, dass eine bürgerliche Regierung auch mit der Linkspartei eine solche bleibt. D. h., die Partei muss dann notwendigerweise an der Regierung gegen die Interesse der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten handeln und jene der herrschenden Klasse vertreten – oder sie müsste mit ihrem gesamten Konzept brechen. Die Transformationsstrategie, die in der realen Regierungspraxis ohnedies keine Rolle spielt, erfüllt im realen Leben im Grunde nur die Aufgabe einer Rechtfertigungsideologie für die bestehende Praxis.

Wohin das Konzept der Linkspartei führt, zeigt sich an den Regierungen selbst, wenn sie teilweise aktiv in Bewegungen ist. Auch dort nimmt es eine zwiespältige Haltung an, z. B. in der Wohnungspolitik Berlins. Dort wird DWE unterstützt, aber die rot-roten Regierungen hatten mehr Wohnungen privatisiert als jede andere. Wo DIE LINKE regiert, erfüllt sie auch alle repressiven Aufgaben des Staates – z. B. regelmäßige Abschiebungen von Geflüchteten auch in Berlin oder Thüringen etc. Über diese Leichen im Keller spricht die Linkspartei nicht gerne. Dabei bilden sie das notwendige Resultat ihrer Realpolitik.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft als staatstragend. So z. B. der Spitzenkandidat Bartsch, als er an einer Solidaritätskundgebung mit Israel während der Bombardierung von Gaza teilnahm.

Diese alles andere als sozialistischen Politiken sind keine Warzen im demokratisch-sozialistischen Gesicht der Linkspartei, sondern notwendige Folgen ihrer politischen Konzeption. Sie liegen in der Logik einer Partei, die den Kapitalismus nicht überwinden, die Herrschaft der Bourgeoisie nicht brechen, den bürgerlichen Staat nicht zerschlagen, sondern mit verwalten und transformieren will.

Programmatische Methode

Dies erfordert jedoch nicht nur eine Ablehnung, sondern auch eine Kritik der Methode des Programms. Allgemein fällt bei diesem auf, dass es zwar viele Forderungen inkludiert, aber vollkommen unklar ist, welchen Stellenwert sie für die Praxis und Strategie der Partei haben. Dieses Manko ist jedoch durchaus typisch für reformistische Organisationen. Schließlich will die Parteiführung nicht gern an den eigenen Versprechen gemessen werden. Sie will freie Hand haben und sich nicht mit Forderungen ihrer Mitglieder und Anhänger:innen konfrontiert sehen, welche die Erfüllung der Versprechen einfordern und Rechenschaft verlangen könnten.

Insgesamt offenbart der Entwurf ein Programmverständnis, das methodisch im Reformismus und Stalinismus wurzelt. Es ist vom Programmtyp her ein Minimal-Maximal-Programm, d. h. der Sozialismus als „historisches Endziel“ steht – trotz der scheinbaren Verbindung durch einen  längeren „transformatorischen Prozess“ – unverbunden neben (oft durchaus richtigen) Alltagsforderungen. Die Kämpfe um höhere Löhne, gegen Sozialabbau, Hartz IV, Krieg, Aufrüstung usw. sind aber nicht mit dem Ringen um den Sozialismus verwoben. Der Sozialismus ist als Losung im Grunde hier nichts anderes als das Amen in der Sonntagspredigt.

Anstelle eines Minimal-Maximal-Programms bräuchte es ein Programm von Übergangsforderungen. Ein solches müsste soziale, gewerkschaftliche und demokratische Kämpfe gegen Krise, Krieg und Rassismus mit der Perspektive der Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse verbinden. Diese käme allerdings nicht etwa dadurch zustande, dass Forderungen wie „Gegen Entlassungen! Für Verstaatlichung!“ usw. einfach mit der Losung „Für Sozialismus!“ ergänzt werden. Dazu wäre es nötig, dass die Selbstorganisation der Klasse gefördert wird, dass sie sich eigene Machtpositionen und -organe im Betrieb, im Stadtteil und letztlich in der Gesellschaft erkämpft. Solche Forderungen sind z. B. jene nach Arbeiter:innenkontrolle über Produktion, Verteilung, Verstaatlichung, Sicherheitsstandards usw. Es sind Forderungen nach Streikkomitees, die von der Basis direkt gewählt und ihr verantwortlich sind; zur Schaffung von Streikposten, Selbstverteidigungsorganen, Preiskontrollkomitees usw. bis hin zu Räten, Arbeiter:innenmilizen und einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Mobilisierungen und Kampforgane der Klasse stützt.

Diese – und nur diese – Übergangsmethodik würde programmatisch das repräsentieren, was Marx über den Sozialismus sagte: dass er die „wirkliche Bewegung“ ist und nicht etwa nur eine „Vision“ oder „Utopie“, wie es DIE LINKE gern formuliert. Diese Elemente fehlen in deren Programm völlig.

Dieser sicher nicht nur für diese Partei typische Mangel bedeutet konkret, dass die Arbeiter:innenklasse in ihrem Kampf über das, was sie als Führungen und Strukturen vorfindet, nie bewusst und gezielt hinauskommt. Es bedeutet, dass das Proletariat letztlich den reformistischen Parteien, Gewerkschaftsapparaten, Betriebsräten, dem Parlamentarismus oder, noch schlimmer, den spontan vorherrschenden bürgerlichen Ideologien dieser Gesellschaft ausgeliefert bleibt.

Das Fehlen von Übergangsforderungen bedeutet, dass die Klasse sich in ihrem Kampf bürgerlichen Strukturen und Ideen unterordnet. Gemäß der LINKEN soll also die gesellschaftliche Dynamik zur Überwindung des Kapitalismus in den Bahnen der alten Gesellschaft, also zu den Bedingungen der Bourgeoisie erfolgen. Daran ändern auch ein paar Volksentscheide oder ein bisschen mehr „Mitbestimmung“ nichts.

Methodisch wurzelt all das letztlich in einer undialektischen Sichtweise von Geschichte und Klassenkampf. Das Prinzip des Minimal-Maximal-Programmes entspricht der Vorstellung von gesonderten, nicht miteinander verbundenen Etappen der Revolution bzw. des historischen Prozesses allgemein. Wie im Stalinismus, der die Revolution auf die demokratische Phase beschränkte, geht es auch der LINKEN um begrenzte Reformen. Dass selbst diese objektiv oft eine Dynamik Richtung Sozialismus annehmen, selbst die Umsetzung grundlegender bürgerlich-demokratischer Aufgaben im imperialistischen Zeitalter nur durch das Proletariat und unter dessen Führung errungen und durch den Sturz der Bourgeoisie gesichert werden kann, bleibt der LINKEN ein Buch mit sieben Siegeln.

Das marxistische Programmverständnis hingegen geht vom aktuellen Stand des internationalen Klassenkampfes aus und unterbreitet Vorschläge, wie dieser – also Aktion, Bewusstsein und Organisierung – vorangebracht werden kann. Das impliziert auch, konkret zu benennen, welche Kampfformen, Konzepte, Organisationen und Führungen den Kampf behindern, schwächen oder falsch orientieren und wie die Klasse den Einfluss dieser Faktoren überwinden kann.

Das Programm der Linkspartei entspricht deren reformistischem Charakter. Es entspricht den politischen Zielen der zentralen Teile des Apparates und des Funktionärskörpers, der sie dominiert, entspricht der tagtäglichen realen parlamentarischen Praxis, ob nun als Regierung oder Opposition, und auch den gelegentlichen Ausflügen und Interventionen in Bewegungen und linke Gewerkschaftsmilieus, als deren Vertretung sich DIE LINKE betätigt. Das alles sollte niemanden überraschen, zumal die Spitzen der Linkspartei aus ihrem Reformismus auch nie ein Geheimnis gemacht haben.

Umso erstaunlicher und beschämender ist jedoch, dass große Teil der Linken in der Linkspartei jahrelang diese Tatsachen schönredeten. So verkannten sie die Annahme des Erfurter Programm 2011 als „Erfolg“ der Linken in der Partei, weil es den Regierungssozialist:innen angeblich „rote Haltelinien“ bei der Regierungsbeteiligung auferlegt hätte. Christine Buchholz (damals marx21, heute Sozialismus von unten) und Sahra Wagenknecht freuten sich damals noch gemeinsam über das Programm. Gegenüber der Jungen Welt erklärte Buchholz: „Die Art und Weise, wie die Debatte gelaufen ist, stimmt mich da sehr zuversichtlich: Wir haben am Wochenende eine konstruktive Diskussion gehabt, nach der es weder Sieger noch Besiegte gibt. Ich persönlich bedaure z. B., dass unsere ‚Haltelinien‘ geschwächt sind, andere kritisieren andere Punkte – aber die Richtung stimmt.“

Wer solche „Siege“ erringt, braucht keine Niederlagen. Auch die AKL gab sich damals „insgesamt zufrieden“. Am kritischsten äußerte sich noch die SAV. Sie bemängelte zwar „Aufweichungen“ des Programms, lobte aber dessen grundsätzlich richtige „antikapitalistische Stoßrichtung“.

Stagnation, Krisen und Niedergang

Nach den Wahlerfolgen der Anfangsjahre trat freilich Ernüchterung ein, die sich in stagnierenden und fallenden Mitgliederzahlen und Wahlniederlagen widerspiegelte, in Flügelkämpfen und seit 2022 in einer existenziellen Krise.

Dabei formierten sich auch die politischen Flügel teilweise neu. Lange Zeit bildeten die ostdeutschen Realos den sog. Hufeisenflügel mit den angeblichen linken Wagenknecht-Anhänger:innen. Demgegenüber formierte sich die sog. Bewegungslinke, die ihrerseits ein strategisches Bündnis mit den Regierungssozialist:innen gegen Wagenknecht einging – natürlich alles zum Wohl der Partei und ihres Überlebens. Doch dürfen bei diesem allgemeinen Niedergang wichtige Veränderungen der Parteizusammensetzung und Wähler:innenbasis nicht übersehen werden.

Rund 60 % ihrer Mitglieder sind erst nach 2011 eingetreten, die ehemaligen PDS-Genoss:innen sind längst zu einer kleinen Gruppierung geworden. 15 % der Mitglieder sind unter 35. Dies ist mehr als bei jeder anderen Bundestagspartei und stellt auch einen Zuwachs seit Parteigründung dar. Zugleich stellen die Altersgruppen der 50- – 64-Jährigen und der 65- – 79-Jährigen je 27 % der Mitglieder. Die Linkspartei ist vergleichsweise schwach unter der Altersgruppe von 36 – 49 vertreten.

Die Linkspartei hat wichtige Schichten und die Bindekraft zu Arbeitslosen, ärmeren Teilen der Klasse und auch des Kleinbürger:innentums im Osten an die AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat von Regierungspolitik und Anpassung, aber auch eines Rechtsrucks und einer Demoralisierung von Teilen der Lohnabhängigen selbst.

DIE LINKE hat massiv Mitglieder, Verankerung und Wähler:innen in der Fläche im Osten verloren. Ihre, wenn auch oft geschwächte Mitglieder- und Wähler:innenbasis kommt aus Großstädten sowie Städten und Ortschaften zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner:innen. In Kleinstädten und auf dem Dorf ist sie wenig bis gar nicht vorhanden. Zugleich hat sie im Westen eine stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenklasse und der Jugend (und somit über längere Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen) gewonnen. So entspricht der Anteil von „Arbeiter:innen“ unter den Berufstätigen 17 %, der von Angestellten 67 % (darunter 35 % im öffentlichen Dienst). Gleichzeitig dominiert noch immer ein überdurchschnittlich hoher Schulabschluss und Bildungsniveau unter den Mitgliedern, während der Anteil von Arbeitslosen und Auszubildenden geringer als in anderen Parteien ist. Das drückt sich auch in veränderten Größen der Landesverbände und einem stärkeren Gewicht im Westen aus.

Diese Verschiebungen verweisen auch darauf, dass die Linkspartei in den Gewerkschaften und Betrieben, also in der organisierten Arbeiter:innenklasse stärker geworden ist, und zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen zum Ausdruck kommt. Von den Mitgliedern her stützt sich die Partei vor allem auf die mittleren und bessergestellten urbanen Schichten der Lohnabhängigen. Sie verfügt also über eine für eine reformistische Partei eher typische stärkere Verankerung in der Arbeiter:innenaristokratie als unter der Masse des Proletariats.

Die betrieblichen und unteren gewerkschaftlichen Funktionsträger:innen betreiben zwar nicht einfach dieselbe Politik wie der sozialdemokratisch dominierte Apparat, aber sie fordern diesen nicht heraus, zumal ihre reformistische Politik natürlich auch im Rahmen tarifvertraglicher und sozialpartnerschaftlicher Regulierung bleibt. Die Linkspartei betreibt z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren AnhängerInnen aus den Unis in den Gewerkschaftsapparat zu schicken (z. B. über Organizing- und Trainee-Programme) und so ihre Verankerung zu stärken. Auch die Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung, die DIE LINKE zuletzt im Mai 2023 in Bochum mit 1.550 Teilnehmer:innen organisierte, belegt einen gewachsene Verankerung im Gewerkschaftsapparat und unter betrieblichen Funktionär:innen.

Sie hat in den letzten Jahren an Verankerung in sozialen Bewegungen gewonnen, wenn auch nicht ohne Rückschläge und eher indirekt, also über die Zusammenarbeit, informelle Bündnisse mit Teilen der radikalen Linken (IL, Antifa) und Migrant:innenorganisationen (einige kurdische Vereine, Teile von Migrantifa). Der Beitritt von etlichen hundert Menschen aus dem „linksradikalen“ Milieu im November 2023 belegt diesen Trend.

Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass in den letzten 4 – 5 Jahren die Zuwächse im Westen die Verluste im Osten nicht mehr ausgleichen. Die Partei stagniert oder verliert fast überall. Das bildet letztlich auch den Boden für die innere Krise einer parlamentarisch fixierten reformistischen Partei, die um ihr Überleben als solche kämpft.

Dominanz der Funktionär:innenschicht

Über der sozialen Basis und den Mitgliedern und Wähler:innen erhebt sich ein Funktionär:innenapparat, der die Partei führt und prägt. Die Tätigkeit der aktiven Mitglieder ist wesentlich auf Vertretung in kommunalen, regionalen Strukturen, Ländern, Bund vertreten. DIE LINKE verfügt über 6.500 kommunale und sonstige Abgeordnete, über 200 Parlamentarier:innen und hauptberufliche Mitarbeiter:innen. Allein die Zahl der Kommunalpolitiker:innen, darunter hunderte Bürgermeister:innen, beläuft sich auf über 5.000 und diese sind vor allem im Osten tätig.

Der Stiftung der Partei beschäftigt natürlich auch vom Staat gesponsorte hauptamtliche Funktionär:innen – und diese bald in jedem Bundesland. Hinzu kommt noch ein Parteiapparat im Bund und allen Ländern. Wenn man all dies addiert, so kommt die LINKE auf mehrere hundert, wenn nicht tausend hauptamtliche Funktionär:innen, die Einkommen direkt aus dem Parteiapparat oder staatlichen Vertretungsorganen beziehen. Andere erhalten bloß Aufwandsentschädigungen. Hier sind noch gar nicht jene Abteilungen der Arbeiter:innenbürokratie in der LINKEN mitgezählt, die ihre Einkünfte aus anderen Quellen – dem Gewerkschaftsapparat oder als freigestellte Betriebsräte – beziehen.

All diese machen einen selbst für eine bürgerliche Partei untypisch hohen Anteil der Funktionär:innen an der aktiven Mitgliedschaft aus – von Funktionär:innen, die fest in die Tagesgeschäfte des bürgerlichen Systems eingebunden sind, und zwar nicht nur oder nicht einmal in erste Linie in Landesregierungen, sondern vor allem auf der kommunalen Ebene, wo die parteiübergreifende Zusammenarbeit noch viel pragmatischer geregelt wird, wo Klassenzusammenarbeit tägliches Brot darstellt und somit auch eine feste Basis für den Reformismus auf „höheren“ Ebenen abgibt. Diese Funktionär:innen machen insgesamt über 10 % der Mitgliedschaft aus. Ziehen wir in Betracht, dass die Mehrheit der Mitglieder passiv ist, am regelmäßigen Parteigeschehen nicht teilnimmt, so dominiert diese Schicht im Grunde alle größeren Strömungen der Partei. Der Unterschied besteht dann eher darin, mit welchen Milieus (Kommunalpolitik, gewerkschaftliches Organizing, soziale Bewegungen und NGO-artige Kampagnen) sie verbunden sind.

Selbst wo die Partei noch längst nicht Regierungsfunktionen ausübt, präsentiert sie sich allzu oft staatstragend. So z. B. bei der Solidaritätskundgebung mit Israel im Bundestag.

Taktik

Angesichts der aktuellen Angriffe und des gesellschaftlichen Rechtsrucks stellt DIE LINKE weiter eine organisierte Kraft der Arbeiter:innenklasse dar, die zur gemeinsamen Aktion aufgefordert, der gegenüber auf verschiedenen Ebenen (bis hin zur kritischen Wahlunterstützung) die Taktik der Einheitsfront angewandt werden muss. Aber wir dürfen uns dabei keine Illusionen über den Charakter der Partei machen und müssen uns vergegenwärtigen, dass sie nicht nur eine aktive Minderheit der organisierten Arbeiter:innenklasse vertritt, sondern zugleich auch ein Hindernis für den Aufbau einer wirklichen Alternative, einer revolutionären Arbeiter:innenpartei darstellt.

Daher muss die Anwendung einer Einheitsfronttaktik Hand in Hand mit einer marxistischen Kritik und dem Kampf für eine revolutionäre Alternative zur Linkspartei einhergehen.

Natürlich ist es unter den gegebenen Bedingungen notwendig, z. B. in DWE oder den Gewerkschaften gemeinsam zu kämpfen. Es ist auch notwendig, den gemeinsamen Kampf gegen laufende und kommende Angriffe zu intensivieren, von der Linkspartei dies einzufordern.

Heute geht es aber nicht primär darum, gemeinsame Handlungsfelder auszuloten, sondern darum, was die Linkspartei ist und was Sozialist:innen oder Kommunist:innen daraus folgern sollen: Sie sollten sich keinen Illusionen in die Partei hingeben, sondern selbst eine linke Kritik entwickeln und am Aufbau einer revolutionären Alternative zur Linkspartei mitwirken, den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei vorantreiben!

Eine solche Partei wird sicherlich nicht einfach durch lineares Wachstum aus einer der bestehenden kommunistischen oder sozialistischen Kleingruppen oder deren bloßer Vereinigung entstehen können. Es braucht eine Kombination aus gemeinsamem Kampf und gemeinsamer Bewegung mit einer programmatischen Klärung. Das heißt aber auch Überwindung der reformistischen Begrenztheit und Schwächen der Linkspartei, nicht nur des Wagenknecht-Flügels und der Regierungssozialist:innen, sondern auch der sog. Transformationsstrategie.




Europaparteitag DIE LINKE: Vom Abbruch zum Aufbruch?

Martin Suchanek, Infomail 1237, 20. November 2023

Vorweg: Das Programm zur Europawahl spielte auf dem Parteitag in Augsburg allenfalls eine Nebenrolle. Natürlich gab es um das 84-seitige Papier auch Debatten, einige Änderungsanträge und sogar etwas Kritik. Doch insgesamt war dies eine Marginalie, eine Quasipflichtübung zum eigentlichen Zweck: der Wahl einer Kandidat:innenliste zu den Europawahlen 2024 und einer Zurschaustellung eine neuen Einheit, Geschlossenheit und Zuversicht. Augsburg soll für Aufbruch stehen – und, wenigstes medial, ist diese Inszenierung einigermaßen gelungen.

So attestiert die Tagesschau: „Diszipliniert beschließt DIE LINKE ihr Europawahlprogramm, die Einigkeit ist groß: Ohne das Wagenknecht-Lager wirkt DIE LINKE wie befreit.“ Und das Neue Deutschland, das der Partei am weitaus freundlichsten gesonnene Medium, verteilt gute Noten. Der Anfang sei gemacht, jetzt müsse „nur“ noch geliefert werden.

Bemerkenswert an diesem Aufbruch ist zuallererst, dass das Wahlprogramm inhaltlich vor allem für Kontinuität steht. Wo Differenzen auftauchten, wie vor allem bei der Nahost-Frage, greift man, auch nicht gerade originell, zum gemeinsam verabredeten Formelkompromiss. Das hilft zwar in der Sache nicht, wohl aber in Sachen „Einheit der Partei“.

Reformistischer Wein in nicht so neuen Schläuchen

Programmatisch präsentierte der Parteitag alten reformistischen Wein in gar nicht so neuen Schläuchen. Gegenüber früheren Programmen ist das für 2024 inhaltlich eher noch einmal weichgespült.

Wie in so ziemlich jedem sozialdemokratischen Reformprogramm der letzten Jahrzehnte stellt auch DIE LINKE nicht die Eigentumsfrage, sondern die nach „Umverteilung und sozialer Gerechtigkeit“ ins Zentrum. Als Hauptursache der Probleme wird nicht der Kapitalismus, sondern der „Neoliberalismus“ ausgemacht. Daher soll aus der EU auch ein reformierter Hort der Gerechtigkeit werden:

„Wir treten an gegen ein Europa der Reichen, Rechten und Lobbyisten – und für die Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen, all der Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Sie sind unsere Leute. Für sie machen wir Politik. Deswegen wollen wir eine europäische Zeitenwende für Gerechtigkeit. Deshalb wollen wir, dass die EU zu einer Kraft für soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Frieden wird. Ein unabhängiges Europa, das den Menschen verpflichtet ist, nicht dem Profit.“

Diese Credo bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik zieht sich durch die folgenden fünf Abschnitte des Programms: „Umverteilen für soziale Gerechtigkeit“, „Wirtschaft sozial und ökologisch gerecht umbauen“, „Klimagerechtigkeit“, „Frieden und soziale Gerechtigkeit weltweit“ und „Mehr Demokratie, weniger Lobbyismus“.

Insbesondere das erste Kapitel „Umverteilen und soziale Gerechtigkeit“ enthält hunderte, für sich genommen zumeist unterstützenswerte Forderungen, die allesamt auf höhere Einkommen und Löhne, Mindestsicherungen, gute und kostengünstige Sozialleistungen auf der einen Seite und gleichzeitig auf Gewinnabschöpfung und Besteuerung des Kapitals und der Reichen auf der anderen zielen. Schon hier zeigt sich ein durchgängiges Problem: Wie diese Forderungen gegen die Reichen und Mächtigen, gegen das Kapital, seine Regierungen und staatlichen Institutionen erkämpft werden sollen – das kommt im Reformprogramm erst gar nicht vor. Die folgenden Abschnitte behalten diesen grundlegenden Zug nicht nur bei, sie verschlimmern ihn eher noch.

Im gesamten Programm werden große Bögen um zentrale Fragen gemacht. Erstens um die Eigentumsfrage. Diese wird nur bei den Immobilien wirklich gestellt, wobei auch dort die Frage der Entschädigung oder eben Nicht-Entschädigung ausgeklammert wird. An die Banken wagt sich die DIE LINKE jedoch erst gar nicht ran. Statt ihrer entschädigungslosen Verstaatlichung und Zentralisierung unter Arbeiter:innenkontrolle beschwört die Linke mehr „Transparenz“ und ihre Verkleinerung. Insgesamt soll der private Finanzsektor „auf eine dienende Funktion für die Gesellschaft“ zurechtgestutzt werden, so dass die Profitmacherei nur noch ausnahmsweise am Rande stattfinde. Wünsch Dir was im Kapitalismus, also.

Der andere durchgängige Fehler besteht darin, dass, mitunter auch recht kleinteilig, an der Verbesserung der bestehenden bürgerlichen Institutionen herumgeschraubt wird. Die EU wird recht detailreich „reformiert“, demokratisiert und, jedenfalls im Programm der Linkspartei, zu etwas ganz anderem gemacht, als sie eigentlich ist. Dass es sich bei ihr um einen imperialistischen Staatenblock unter deutscher und französischer Führung handelt, kommt im Programm erst gar nicht vor. Vielmehr leidet dieser „nur“ unter Fehlentwicklungen, die scheinbar wegreformiert werden könnten. DIE LINKE wendet sich zwar zu Recht gegen nationale Abschottungsstrategien, von der sozialistischen Alternative zum Europa des Kapitals – von Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas – will sie jedoch nichts wissen.

Damit bleibt ihr jedoch eine wirkliche Alternative zur populistischen Rückbesinnung auf die „Unabhängigkeit“ der Nationalstaaten verbaut, ja die Europapolitik der Linkspartei verkommt unwillkürlich zu einer utopistischen Verklärung der bestehenden EU.

Doch nicht nur dort. Zwar nimmt DIE LINKE den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zur Kenntnis, erkennt die Gefahr von immer heftigeren Kriegen – aber ihre Antwort bleibt nicht nur vollkommen reformistisch, sondern ist offenkundig auch utopisch. Die Stärkung und Reform der UNO gerät so zum Credo ihre Außenpolitik, zum Wundermittel „friedlicher Konfliktlösung“.

Dabei zeigen alle aktuellen Kriege, ob nun der russische Angriff auf die Ukraine, die türkischen Bombardements Rojavas, Israels Invasion in Gaza oder der Bürgerkrieg im Jemen, dass sich die UNO regelmäßig als wirkungslos erweist, weil sei eben nur Ausdruck eines globalen Kräfteverhältnisses zwischen den alten und neuen imperialistischen Mächten und kein, über der imperialistischen Ordnung stehendes Organ der „Weltgemeinschaft“ ist.

Daher fehlt aber auch im internationalen Teil des Wahlprogramms jeder Bezug auf Kämpfe der Arbeiter:innenklasse, von national Unterdrückten, auf die imperialistische Konkurrenz zwischen den Großmächten. In der Ukraine erkennt die Partei zwar zu Recht das Selbstverteidigungsrecht des Landes gegen den russischen Imperialismus an, aber sie zeigt gleichzeitig keine klare Kante gegen die westliche und deutsche imperialistische Einmischung, ja sie stützt diese mit der Verteidigung von Sanktionen gegen Russland.

In Palästina verurteilt die Partei zu Recht die Ermordung unschuldiger Zivilist:innen durch die Hamas, aber sie weigert sich auch, die Legitimität des palästinensischen Widerstandes gegen die Unterdrückung durch Israel anzuerkennen. Stattdessen werden die utopische und reaktionäre Zwei-Staatenlösung und die Vermittlung durch die UNO beschworen.

Diese reformistische Grundausrichtung des Wahlprogramms ist natürlich nichts Neues, sondern bestimmt die Politik der Linkspartei seit ihrer Gründung. Inhaltlich brachte der Parteitag weder einen Neuanfang noch einen Bruch, sondern vielmehr Kontinuität auf der Basis eines nicht einmal allzu linken reformistischen Wahlprogramms, in dem auf 84 Seiten das Wort Sozialismus erst gar nicht erwähnt wird.

Plan 2025

Der „Aufbruch“ entpuppt sich aber nicht nur in dieser Hinsicht als mehr Schein als Sein. Anders als bei früheren Wahlen zum EU-Parlament geht DIE LINKE mit Spitzenpersonal aus der Partei und bekannten und anerkannten Aktivist:innen aus sozialen Bewegungen in den Wahlkampf. Die Kandidat:innen der Parteiführung erhielten anders als bei früheren Parteitagen durchweg gute Wahlergebnisse.

So erzielte der Spitzenkandidat und Parteivorsitzende Schirdewan 86,9 Prozent, ein Gegenkandidat aus dem Wagenknecht-Lager, der noch vor der Wahl seinen Austritt erklärte und sich als politischer Geisterfahrer zum Clown machte, verabschiedete sich mit 2 %. Die Umwelt- und Seenotaktivistin Carola Rackete wurde ohne Gegenkandidatin von 77,78 % gewählt. Die EU-Abgeordnete Özlem Demirel steht auf Listenplatz 3 mit 62,04 Prozent (gegen 28,86 % für Didem Aydurmus). Der Sozialmediziner Gerhard Trabert erzielte mit 96,81 % das weitaus beste Ergebnis des Teams der vier Spitzenkandidat:innen.

Klar ist aber auch eines: Die Wahlen in den Jahren 2024 und 2025 stehen im Zentrum der Aktivitäten der Linkspartei. So werden im „Plan 2025“ zum „Comeback der Linken“ die verschiedenen Urnengänge bis zur nächsten Bundestagswahl – für eine elektoral ausgerichtete Partei durchaus konsequent – als entscheidende „Etappenziele“ für den Aufbruch und Neuaufbau angeführt. Das Überleben und der viel bemühte „Gebrauchswert“ der Linkspartei hängen somit vor allem davon ab, ob wie Europawahl, die Landtagswahlen und vor allem die Bundestagswahl 2025 ausgehen werden.

Wahrscheinlich stehen der Partei in den kommenden Monaten noch etliche, womöglich mehrere Tausend Austritte von Anhänger:innen der Bewegung um Sahra Wagenknecht bevor, spätestens wenn die neue populistische Partei gegründet wird. Insofern sind die stetigen Verkündigungen von Neueintritten mit Vorsicht zu genießen. Umgekehrt wird DIE LINKE jedoch auch nicht kurzfristig zusammenbrechen. Die neue Einheit der Partei ohne Wagenknecht und Co. ist nämlich nicht bloß inszeniert. Regierungssozialist:innen und Bewegungslinke erwiesen sich nur als scheinbare Gegensätze. In Wirklichkeit bilden sie zwei Seiten einer Medaille. Es wächst zusammen, was zusammengehört – und das wird sicher dadurch erleichtert, als die Linkspartei in nächster Zukunft immer weniger in die Verlegenheit von Regierungsbeteiligungen kommen wird, also viel leichter ihr „Bewegungsgesicht“ zeigen kann. Schließlich wird sich DIE LINKE gegen alle anderen Parteien – einschließlich des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) – als einzige Partei präsentieren, die überhaupt den Rechtsruck in Deutschland beim Namen nennt und gegen diesen steht. Da dieser eine Realität ist, trifft sie damit ein reales Problem und es ist keineswegs auszuschließen, dass ihr das eine gewisse Anziehungskraft verleihen kann. Das eigentliche Problem besteht darin, dass DIE LINKE keine Antwort oder, genauer, eine falsche auf den Rechtsruck gibt.

Sie erkennt zwar an, dass diesem auch eine Krise der kapitalistischen Ordnung zugrunde liegt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminiert und die bürgerliche Demokratie samt der politischen Mitte erodieren lässt. Doch ihrer Vorstellung zufolge liegen dem nicht fallende Profitraten und eine strukturelle Überakkumulation von Kapital zugrunde, die ihrerseits die Konkurrenz, den Kampf um die Neuaufteilung der Welt und die ökologische Krise verschärfen und den Nährboden für Rassismus, Militarismus, Populismus, Autoritarismus und faschistische Tendenzen bilden. Der Reformismus hält auch diese Probleme im Rahmen einer „regulierten“ Marktwirtschaft für lösbar, sofern nur eine verfehlte, neoliberale Politik durch eine „richtige“ der Umverteilung, des sozialen Ausgleichs und der Demokratisierung ersetzt würde. Daraus ziehen diese Sozialist:innen den Schluss, dass heute keine revolutionäre Antwort möglich und sinnvoll sei, sondern dass man sich auf eine „realistische“ Reformpolitik konzentrieren müsse.

Darin liegt der bürgerliche, aber auch utopische Kern der Vorstellungen der Linkspartei. Auch wenn die sozialistische Revolution angesichts der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse in weiter Ferne zu liegen scheint, so erfordern alle großen Probleme unsere Zeit nichts weniger als eine revolutionäre Antwort – und das heißt zuerst auch den Bruch mit reformistischen Vorstellungen und den Kampf für den Aufbau einer revolutionären Arbeiter:innenpartei und -internationale.




Das Phänomen Babler

Alex Zora, Infomail 1226, 13. Juni 2023

Mit diesem Ausgang hatte wohl kaum jemand gerechnet. Nachdem auf dem Parteitag Hans Peter Doskozil vom rechten Parteiflügel noch als Sieger verkündet worden war, musste die Wahlkommission zwei Tage später zugeben, dass sie die Stimmen vertauscht hatte und doch Andreas Babler vom linken Parteiflügel die Mehrheit für sich gewinnen konnte. Viele linke Sozialdemokrat:innen mochten ihr Glück kaum fassen, konnten sie doch einen ersten wichtigen Sieg gegen die Parteibürokratie davontragen. Wie wir in weiterer Folge aber hoffentlich verdeutlichen können, ist die innerparteiliche Auseinandersetzung – trotz aller Appelle zur Einheit – damit noch lange nicht abgeschlossen, sondern steht eigentlich erst am Anfang.

Was davor geschah

Um die aktuellen Ereignisse in der österreichischen Sozialdemokratie zu verstehen, ist es wichtig, einen Blick in die jüngere Vergangenheit zu werfen. Wesentlich hierfür sind die Entwicklungen, die sich innerhalb und außerhalb der Partei seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 abspielten. Nach einer anfänglich noch recht zaghaften und abwartenden Politik schwenkte die damalige Bundesregierung unter SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann spätestens im Herbst 2015 auf klar rassistische Antworten um. Sinnbildlich dafür stand die Errichtung eines Grenzzauns an der österreichisch-slowenischen Grenze bei Spielfeld. Recht kurze Zeit später – im Winter 2016 – wurde dann von der SPÖ-geführten Regierung der Kurs weiter verschärft. Es wurde eine Obergrenze für Geflüchtete geschaffen. Damit durfte jährlich nur mehr eine begrenzte Anzahl an Asylsuchenden in Österreich aufgenommen werden. Im März war dann die österreichische Regierung – mit Außenminister Sebastian Kurz – zentral an der Schließung der Fluchtrouten über den Westbalkan beteiligt.

Das alles führte zu großem Unmut in der SPÖ. Der linke Flügel – insbesondere die Jugendorganisationen – begehrte immer offener gegen den rechten Kurs der Parteiführung auf. Gleichzeitig drängte der rechte Parteiflügel auf einen noch stärker rassistischen Kurs und die Öffnung der Bundespartei in Richtung einer Koalition mit der offen rassistischen FPÖ. Der rechte Flügel sammelte sich insbesondere rund um die SPÖ-Burgenland, die schon im Frühling 2015 eine Koalitionsregierung mit der FPÖ eingegangen war. Auf der 1. Mai-Demonstration der SPÖ in Wien krachten dann die Lager offen aufeinander. Die traditionelle Beschwörung der Einigkeit in der Partei wurde dort durch ein Pfeifkonzert während der Rede von Werner Faymann gestört. Das, sowie die Tatsache, dass der SPÖ-Präsidentschaftskandidat Rudolf Hundstorfer im ersten Durchgang der Wahl nur 11,3 % erreichte, führten dazu, dass der Bundeskanzler nur kurze Zeit später seinen Rücktritt verkünden musste.

Nach Faymanns Rücktritt wurde Christian Kern neuer Parteichef. Wir schrieben damals: „Der rechte Flügel und Teile der Gewerkschaftsbürokratie fordern eine Öffnung in Richtung der FPÖ, mit der im Burgenland bereits koaliert wird. Die linken Teile und die Jugendorganisationen stellen sich gegen den rassistischen Kurs der Partei und fordern fortschrittliche Antworten in der sozialen Frage ein. Auch das neue Team an der Parteispitze, das um den ehemaligen ÖBB-Manager Christian Kern aufgezogen wird, kann die existenzielle Krise der SPÖ nicht kaschieren. Sein Auftrag ist die Befriedung der Partei, bisher bringt er aber vor allem seine eigenen Vertrauten in höchste Positionen. Ein Überspielen der Konflikte wird die Krise der Partei nur vertiefen und die Position des linken Flügels, der kämpferischen Gewerkschafter:innen und der Jugendorganisationen weiter untergraben.“ (http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=2136)

Im Wesentlichen erwies sich unsere Analyse als richtig. Christian Kern schaffte es, die tiefen Widersprüche in der Partei zu übertünchen. Ihm wurde sowohl vom linken wie auch rechten Parteiflügel das Vertrauen ausgesprochen – die Parteijugend sowie alle Bundesländer stellten sich hinter ihn als neuen Parteichef. Das Übertünchen der Differenzen innerhalb der SPÖ wurde aber auch recht bald um einiges einfacher. Nicht einmal ein Jahr lang war Christian Kern Bundeskanzler einer funktionierenden Bundesregierung und mit der Verbannung der SPÖ auf die Oppositionsbank nach der Wahl 2017 war es deutlich einfacher, die Widersprüche der Partei im Zaum zu halten. Auch der linke Flügel konnte sich insbesondere im Widerstand gegen die reaktionäre Politik von ÖVP und FPÖ wieder in der Partei stärken. Diese Perspektive hatten wir 2016 noch unterschätzt.

Mit der Ablösung Christian Kerns durch seine persönlich ausgesuchte Nachfolgerin Pamela Rendi-Wagner im Herbst 2018 änderte sich politisch sehr wenig an der Spitze der SPÖ. Sie stand weiterhin für eine staatstragende Politik (insbesondere auch während der Coronapandemie), die versuchte, die Widersprüche in der SPÖ auszusitzen. Nach dem historisch schlechtesten Abschneiden der SPÖ bei den Nationalratswahlen 2019 zeigte sich im Frühling 2020 dann, wie viel Rückhalt Rendi-Wagner in der SPÖ verloren hatte. Ohne Gegenkandidat:in in der Mitgliederbefragung erreichte sie nur eine Zustimmung von 71,4 %.

Insgesamt zeigte sich der linke Parteiflügel hier auch deutlich kompromissbereiter, es wurde kaum öffentliche Kritik an der Parteiführung geäußert. Anders sah das beim rechten Parteiflügel aus. Insbesondere Hans Peter Doskozil, Landeshauptmann des Burgenlands, schoss sich immer wieder medial gegen Rendi-Wagner ein. Hier spielte in der innerparteilichen Auseinandersetzung sicherlich ein kräftiger Schuss Sexismus mit hinein, doch öffentlich drehte sich die Kritik an der Parteiführung vor allem um die Forderung nach einer reaktionäreren Politik in Bezug auf Geflüchtete und Migrant:innen. Der Ausbruch der Coronapandemie zögerte die Konflikte dann sicherlich noch weiter hinaus, ging es doch darum, sich in dieser komplett neuen Situation erst einmal zu orientieren. Gleichzeitig gab es – vor allem in den ersten Monaten der Pandemie – ein Zusammenrücken der meisten politischen Kräfte im Zuge der Politik der nationalen Einheit im Angesicht der allgemeinen Krise. Die Schwäche der SPÖ unter Pamela Rendi-Wagner zeigte sich letztlich insbesondere in den letzten beiden Jahren sehr deutlich. Trotz der riesigen Verwerfungen der österreichischen Innenpolitik im Zuge der ÖVP-Korruptionsaffären konnte die SPÖ kaum profitieren.

Ihre herben Verluste bei den Kärntner Landtagswahlen im März diesen Jahres brachten dann das Fass zum Überlaufen. Es sollte zu einer Mitgliederbefragung zwischen Pamela Rendi-Wagner und Hans-Peter Doskozil um den Parteivorsitz kommen. Doch ganz so einfach sollte es dann doch nicht ausgehen.

Wenn sich zwei streiten …

Die Konflikte und Widersprüche innerhalb der SPÖ sind also keine grundsätzlich neue Sache. Sie haben sich vielmehr lange angebahnt und zeigen viele Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Entwicklungen in anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien. In letzter Konsequenz bilden sie eine Folge des Charakters der SPÖ als bürgerlicher Arbeiter:innenpartei, einer grundsätzlich widersprüchlichen Formation, die auf der einen Seite bürgerliche Politik vertritt, aber ihre soziale Basis in der Arbeiter:innenklasse und der Arbeiter:innenbewegung hat. Bürgerliche Arbeiter:innenparteien können zwar auch über lange Zeiten hinweg recht stabil wirken, aber so lange sie nicht vollkommen in eine bürgerliche Formation übergehen, wie beispielsweise die italienische Sozialdemokratie, können Entwicklungen, wie wir sie heute in der SPÖ erleben, nie ausgeschlossen werden.

Der Ablauf nach Bekanntgabe der Mitgliederbefragung fiel dann mehr als chaotisch aus. Zuerst sollten nur Pamela Rendi-Wagner und Hans-Peter Doskozil auf dem Stimmzettel stehen. Klar festgelegt wurde diese Regel aber nirgends. Nachdem sich mit Nikolaus Kowall dann aber auch ein Kandidat der Parteilinken aufstellen lassen wollte, brach der Damm. Es meldeten sich dutzende Mitglieder (und Nicht-Mitglieder) für die Wahl zum Vorsitz an. Nachdem sich auch Andres Babler, bisher Bürgermeister von Traiskirchen, um den Vorsitz bewarb, zog dann Kowall seine Kandidatur zurück. Auf dem Stimmzettel landeten dann bekanntlich nur 3 Kandidat:innen: Doskozil für den rechten Flügel, Rendi-Wagner für das Zentrum und den Parteiapparat sowie Babler für den linken Flügel.

Im Zuge der Mitgliederbefragung traten der SPÖ auch 9.000 neue Mitglieder bei. Sie ging ausgesprochen knapp aus. Mit jeweils ungefähr einem Drittel der Stimmen landete Doskozil auf Platz 1, Babler schaffte es knapp vor Pamela Rendi-Wagner auf den zweiten Platz. Die Konsequenz war für Letztere die Ankündigung ihres Rücktritts und für Doskozil die Siegessicherheit für die endgültige Abstimmung auf dem Parteitag.

Andreas Babler hatte schon davor angekündigt, dass er es sich offenlassen würde, bei einem knappen Ergebnis auf dem Parteitag zu kandidieren, auch wenn er nicht auf Platz 1 in der Mitgliederbefragung landen würde. Schon im Vorfeld des Parteitags wurde recht klar, wie sich die unterschiedlichen Teilorganisationen positionierten. Die Mehrheit der Landesorganisationen stellte sich recht klar hinter Doskozil, einige andere positionierten sich nicht offen und nur die Vorarlberger SPÖ-Vorsitzende sprach sich für Babler aus. Dazu kamen logischerweise auch die traditionell linken Jugendorganisationen sowie auch die große Mehrheit der Frauenorganisationen. Bei den gewerkschaftlichen Delegierten dürfte Babler auch recht stark abgeschnitten haben, war doch hier insbesondere Doskozils Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn (statt eines kollektivvertraglichen) schlecht angekommen. Doch die wohl größte Unterstützung kam letztlich vermutlich aus der Wiener Landespartei, die gleichzeitig auch die größte und mächtigste der SPÖ ist.

Letztlich reichte es knapp. Nach der kurzen Konfusion, die Doskozil mit einer Mehrheit sah, wurde 2 Tage nach dem Parteitag das Ergebnis korrigiert. Er wählte letztlich Babler mit 53 zu 47 % zum neuen Vorsitzenden.

Was bedeutet der Sieg von Babler?

Das zeigt recht gut, dass Babler zum Beispiel im Gegensatz zu Jeremy Corbyn in der britischen Labour Party doch auch starken Rückhalt in relevanten Teilen der Bürokratie – insbesondere in Wien – genießt. Daraus lassen sich mehrere Dinge schlussfolgern. Was recht offensichtlich ist, ist, dass sich ein Teil der Bürokratie durchaus bereit zeigt, einen kantigeren Kurs einzuschlagen, um sich aus der Misere zu manövrieren. Dabei erhofft man sich sicherlich nicht nur eine Verbesserung in den Umfragen, sondern auch neue Mitglieder und Elan. Gleichzeitig hat nun aber Babler vor allem der Wiener Landespartei seinen Wahlsieg zu verdanken und wird sich in Zukunft vermutlich zweimal überlegen, ob er Kritik am Kurs von Bürgermeister Michael Ludwig anbringen kann. Ob dann die Wiener Landespartei der Ausrichtung des neuen Vorsitzenden folgt oder umgekehrt, wird sich vermutlich noch zeigen müssen. Erste Anzeichen dazu lassen sich beispielsweise in einem Standard-Interview erkennen. Auf die Frage wie er denn zum Lobautunnel stehe, gegen den Klimaktivist:innen seit Jahren mobilmachen, meinte er: „Ich werde mich mit den Wienern austauschen.“

Die Unterstützung durch Teile der Bürokratie zeigt aber auch, dass er vermutlich nicht unmittelbar mit offener oder versteckter Gegner:innenschaft des gesamten Apparats zu rechnen hat. Vielmehr wird vermutlich versucht werden – was in Bezug auf einige wichtige Punkte schon gelungen ist – seine allzu radikalen Kanten abzuschlagen. Die Losung von Geschlossenheit und Einheit war schon immer ein zentrales Mittel, mit dem linke Stimmen in der SPÖ ruhiggestellt werden sollten. Auch Babler hat diese Herangehensweise verinnerlicht. Den rechten Parteiflügel schert das hingegen recht wenig. Doskozils mediale Angriffe in Richtung Pamela Rendi-Wagner hatten nicht nur über Jahre den Konflikt eskaliert und letztlich die Mitgliederbefragung vom Zaun gebrochen, auch nach Bablers Sieg zog der rechte Flügel mit ersten Angriffen gegen ihn auf. Vom Salzburger SPÖ-Chef David Egger-Kranzinger, der vor kurzem noch das historisch schlechteste SPÖ-Ergebnis dort eingefahren hatte, gab es gleich laute Kritik an Bablers Vorschlag der 32-Stunden-Woche und seinen Positionen in Bezug auf Geflüchtete. Einheit wird in der SPÖ immer nur als Waffe gegen die Linke eingesetzt. Wenn Babler und seine Bewegung nicht bald hart gegen den rechten Parteiflügel sowie gegen den bürgerlichen Apparat vorgehen, wird ihn früher oder später dasselbe Schicksal ereilen wie Jeremy Corbyn, der letztlich von der Bürokratie der Labour Party abgesägt wurde.

Generell ist der Kurs von Babler noch nicht eindeutig definiert. Auf der einen Seite hat er mit linken Forderungen wie einer Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden pro Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich durchaus radikal aufgetrumpft, was dem rechten Parteiflügel gleich sauer aufgestoßen ist. Auf der anderen Seite musste er schon bei einigen wichtigen Inhalten wie seiner politischen Kritik an der EU oder dem Bundesheer massiv zurückrudern. Das Gleiche gilt für sein Bekenntnis zum Marxismus, das er nach medialem Backlash gleich wieder fallenließ. Das zeigt recht gut die Strategie, die er und sein „Team Basis“ vertreten. Man möchte in einigen Aspekten neue Akzente setzen und den Diskurs verschieben, doch wenn dafür andere linke Positionen hinderlich werden, können diese einfach kurzerhand geopfert werden. Eine prinzipienfeste Politik sieht anders aus. Dabei hatte er noch bei seiner klar antirassistischen Politik in der Geflüchtetenfrage gezeigt, dass insbesondere vermeintlich „unpopuläre“, aber richtige Positionen langfristig zum Erfolg führen können.

Wesentlich wird sein, inwiefern Babler die Partei öffnen möchte, um die Basis aktiv zu mobilisieren sowie die Parteilinke zu organisieren. Seine fortschrittlichen Positionen (32-Stunden-Woche, Kinder- und Energiegrundsicherung, Mietobergrenze, Millionär:innen- und Erbschaftssteuer etc.) könnten als Ansatzpunkt für eine Bewegung der Gewerkschaften und Linken im Widerstand gegen die Regierungspolitik und die Teuerungskrise dienen. Wenn es letztlich nur bei Diskursverschiebung und Wahlkampfrhetorik bleibt, ist der linke Reformismus von Babler nicht einmal das Papier wert, auf dem er geschrieben steht.




Duell um den SPÖ-Vorsitz: Wie weiter nach Bablers Erfolg?

Michael Märzen, Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 1223, 25. Mai 2023

Das Ergebnis der Mitgliederbefragung für die Vorsitzwahl der SPÖ ist da und es gleicht einem leichten Erdbeben, welches die Partei vielleicht nicht erschüttert, aber zumindest kräftig durchrüttelt. Der burgenländische Landeshauptmann und Parteirechte Hans Peter Doskozil belegt mit 33,68 % der Stimmen den ersten Platz, knapp darauf Andreas Babler, der Parteilinke und Bürgermeister von Traiskirchen, mit 31,51 %, dicht gefolgt von der bisherigen Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner mit 31,35 % (die übrigen Stimmen waren ungültig). Unklarer könnte das Ergebnis nicht sein – eine Misere für den Parteiapparat, welcher die Mitgliederbefragung organisiert hatte, um den Richtungsstreit ein für alle Mal zu beenden.

Während der Doskozil-Flügel den Sieg sofort für sich beanspruchte und Rendi-Wagner ihren Rückzug ankündigte, forderte der „Parteirebell“ Babler eine Stichwahl unter der Mitgliedschaft. Und das aus gutem Grund, denn das Wahlergebnis ist nicht nur verdammt knapp, sondern es ist gut möglich, dass der außerordentliche Delegiertenparteitag am 3. Juni den angeblichen Sieg von Doskozil aus Angst vor einem Linksruck bestätigt. Für dieses Szenario sprechen auch schon die ersten Stellungnahmen der Landesparteichef:innen. Den Vorstoß führte gleich der Salzburger Landeshauptmann und erklärte „Freund von Doskozils Politik“, David Egger-Kranzinger, welcher mit seinem Kurs gerade erst die Landtagswahl in Salzburg versemmelt hatte. Das Ergebnis stehe fest und er gehe davon aus, dass die Delegierten auf dem Parteitag dem Ergebnis der Befragung folgen würden. In dasselbe Horn stoßen die Vorsitzenden aus der Steiermark, Niederösterreich, Oberösterreich und selbstverständlich aus dem Burgenland. Jene aus Kärnten und Tirol haben noch keine Wahlempfehlung ausgesprochen. Nur die Vorsitzende aus Vorarlberg, Gabriele Sprickler-Falschlunger, die sich ursprünglich für Rendi-Wagner positioniert hatte, sprach sich schnell für Andreas Babler und eine Stichwahl aus. In der „Zeit im Bild 2“ (österreichische Fernsehnachrichtensendung) rückte schließlich der Doskozil-getreue, ehemalige Bundesgeschäftsführer Maximilian Lercher aus, um klarzustellen, dass eine Stichwahl „de facto“ nicht stattfinden werde, obwohl das Parteipräsidium ja dem unklaren Ergebnis hätte Rechnung tragen können, indem es doch noch einen Mitgliederentscheid organisiert. Dafür plädierte offenbar der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig, der sich ebenfalls für Rendi-Wagner eingesetzt hatte. Der rechte Parteiflügel konnte diese Option im Parteipräsidium verhindern, nicht aber den Sieg endgültig für Doskozil beanspruchen. Es wird also zu einem Duell auf dem Parteitag kommen.

Die Linken in der SPÖ

Den Linken innerhalb und außerhalb von Sozialdemokratie und Gewerkschaften kann die Vorsitzwahl nicht egal sein. Hans Peter Doskozil steht für eine weitere Verschiebung der Sozialdemokratie nach rechts durch einen härteren Kurs in der Migrations- und Asylpolitik und eine Stärkung des staatlichen Repressionsapparats. „Integration vor Neuzuzug“, Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, Aushandeln von „Rückführungsabkommen“ und mehr Polizei sind euphemistische Bezeichnungen für eine stärkere Abriegelung Europas und mehr Abschiebungen. Gekoppelt wird das mit durchaus progressiven Forderungen wie einem Mindestlohn von 2.000 Euro netto, besserer Gesundheitsversorgung, Grundrecht auf Pflege, Kindergrundsicherung usw. Mit dieser typisch sozialchauvinistischen Politik (soziale Reformen im Interesse der Lohnabhängigen kombiniert mit nationalistischer Ausgrenzung) möchte Doskozil der FPÖ Konkurrenz machen, um eine Neuauflage von Schwarz-Blau zu verhindern. Wir haben in der Vergangenheit schon zu oft gesehen, wie eine Anbiederung nach rechts im Endeffekt nur rechte Politik stärkt und den offen rassistischen Parteien nützt.

Babler hingegen steht gegen eine solche Anbiederung und für eine stärkere Ausrichtung nach links. Er möchte eine „Bewegung von unten“ schaffen, eine Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich (was Doskozil ablehnt) und „die Systemfrage stellen“. Mit seinem Wahlerfolg ohne Landespartei im Rücken und einer „Basistour“ durch Österreich hat er gezeigt, dass er die einfachen Mitglieder der SPÖ erreichen und aktivieren kann. Er könnte die Sozialdemokratie zu einer Partei machen, die verstärkt für die Interessen der Lohnabhängigen eintritt und auf die tatsächliche Organisierung der Arbeiter:innenklasse achtet. Er könnte linke Positionen in die Öffentlichkeit bringen und ein Gegengewicht zur rechten Hetze bilden. Das zeigt zumindest seine Arbeit als Bürgermeister von Traiskirchen, wo er am Ort eines der wichtigsten Asylzentren die FPÖ in Schach hält. Auch wenn sich Babler sogar positiv auf den Marxismus bezieht, muss jedoch klar sein, dass er ein Reformist bleibt. Seine Politik geht über soziale Verbesserungen im Rahmen des Kapitalismus nicht hinaus, was angesichts der umfänglichen kapitalistischen Krise letztlich eine Utopie ist. Tatsächlich stellt er die „Systemfrage“ auch nicht in der Form, in der sie gestellt werden müsste, nämlich als Entscheidung zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Bei der Vorsitzwahl geht es also um die Frage einer möglichen Linksverschiebung der österreichischen Sozialdemokratie, einer potentiellen Aktivierung der österreichischen Arbeiter:innenbewegung und der Möglichkeit des Kampfes um eine Arbeiter:innenpartei. Wenn Babler gewinnt und sich nicht mit dem Parteiestablishment und dem Doskozillager aussöhnt, geht die Auseinandersetzung in die dritte, lange Runde. Denn wir haben schon bei der Labour Party in Großbritannien gesehen, wie der Linksreformist Jeremy Corbyn aus der eigenen Partei heraus sabotiert und abgesägt wurde. Linke Sozialdemokrat:innen müssen die Gelegenheit nutzen, sich als linker Flügel zu organisieren. Nur so besteht überhaupt der Hauch einer Chance, die Sozialdemokratie zu erneuern.

Bei allem Optimismus der letzten Wochen und Tage ist es jedoch sehr gut möglich, dass sich die Parteirechte auf dem Bundesparteitag durchsetzt. Viel hängt offenbar davon ab, wie sich die Wiener Delegierten entscheiden werden. In diesem Fall, in dem sich ein linker Flügel wohl noch nicht formiert hat und das vermutlich dann auch nicht mehr tun wird, lautet die Frage, wie eine Demoralisierung und Passivierung von Zehntausenden verhindert werden kann, die nun Hoffnungen auf linke Politik gehegt haben.

Für alle ehrlichen Anhänger:innen von Babler und die organisierten linken Kräfte, die hinter ihm standen, muss klar sein, dass ihre Politik in einer von Doskozil geführten Partei keinen Platz haben wird. Gleichzeitig sehen wir heute, dass das Potenzial für eine Kraft links der SPÖ so groß ist wie noch nie. Das haben zuletzt auch die Wahlerfolge der KPÖ gezeigt. Wenn sich Doskozil am Parteitag durchsetzt, braucht es ein Zusammenkommen aller Linken in Österreich, um über eine neue, klassenkämpferische Arbeiter:innenpartei zu diskutieren. Babler, KPÖ, LINKS und die außerparlamentarische Linke könnten die Chance ergreifen, die mehr als ein Jahrhundert alte Dominanz des Reformismus und der Sozialdemokratie in Österreich ernsthaft in Gefahr zu bringen. Es braucht eine ehrliche und offene Diskussion darüber, wie wir in Österreich dem Kapital und seiner Regierung wirksam etwas entgegensetzen können. Wenn diese Chance vertan wird, werden rechte Kräfte wie die FPÖ nur weiter von der Krise und der Unzufriedenheit der Menschen profitieren.




1918: Die Gründung der revolutionären KPÖ

Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1196, 19. August 2022

Hiermit veröffentlichen wir einen schon älteren Artikel. Er wurde im Oktober 1993 unter dem Titel „Vor 75 Jahren: Gründung der revolutionären KPÖ“ in unserer Zeitung „ArbeiterInnenstandpunkt“ Nr. 55 von unserem damaligen Genossen Manfred Scharinger publiziert.

Hintergrund

Als die KPÖ am 3. November 1918 in den Eichensälen in Wien-Favoriten gegründet wurde, gehörte sie zu den ersten Kommunistischen Parteien der Welt und war im heutigen West- und Mitteleuropa sogar die allererste Gründung. Gleichzeitig war dieser formale Akt ein vorläufiger Abschluss in einem länger andauernden Differenzierungsprozess im Schoße der deutschen Sozialdemokratie in Österreich. Die am konsequentesten mit der russischen Revolution in Solidarität Stehenden vollzogen den Schritt zur eigenständigen politischen Kraft.

Zweitens war diese Gründung eingebettet in eine politisch aufs äußerste zugespitzte Situation in Mitteleuropa: Die Hohenzollernmonarchie in Deutschland stand im Herbst 1918 ebenso vor dem Ende wie die Habsburgerdynastie, deren Österreich-Ungarn im Oktober in Nationalstaaten zerfiel. Beide teilten das Schicksal des russischen Zarismus, der schon im März 1917 von den Petersburger Massen in die Knie gezwungen wurde. Nach russischem Vorbild entstanden
überall Arbeiter:innenräte – vier lange Kriegsjahre hatten weite Teile der Gesellschaft von ihrer anfänglichen Kriegsbegeisterung geheilt und Platz gemacht für Friedenssehnsucht und revolutionäres Gedankengut. Auch in Österreich schien der Weg bereitet für eine Lösung der Krise ähnlich wie in Russland, dessen soziale Revolution das Europa der Monarch:innen von Grund auf umzugestalten begonnen hatte.

In den ersten Monaten nach der Gründung der KPÖ (bzw. der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs – KPDÖ-, wie sie bis Jänner 1921 hieß) war das Proletariat die entscheidende Kraft in Österreich. Julius Braunthal, einer der Parteitheoretiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP), stellte fest: „Die österreichische Arbeiterklasse hat seit November 1918 zu jeder Stunde die Macht, die Rätediktatur zu errichten“. Und Otto Bauer, der SP-Parteiführer, bemerkte in seiner „Österreichischen Revolution“: Jede bürgerliche Regierung wäre „binnen 8 Tage in Straßenkämpfen gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden“. Nur eine Partei war in der Lage, eine Revolution in Österreich aufzuhalten: die SdAP, der es gelungen war, sich die Massenloyalität der radikalisierten Arbeiter:innenklasse zu erhalten. Ihrer Führung glückte das Kabinettstück, die revolutionären Erwartungen so weit zu kanalisieren, dass das kapitalistische System erhalten blieb, ohne dass gleichzeitig größere Teile der Basis zur neugegründeten Kommunistischen Partei überliefen. Diese Erblast wird die KPÖ von ihrer Gründung bis heute begleiten: Die übermächtige Konkurrenz der Sozialdemokratie im Lager der Arbeiter:innenklasse.

Vorgeschichte

Die österreichische Sozialdemokratie war in ihrer Geschichte immer auf zwei Dinge ganz besonders stolz: erstens auf ihre Rettung Österreichs „vor dem Bolschewismus“. Und zweitens darauf, dass in der SdAP bzw. der SPÖ nach 1945 quasi die Einheit der Arbeiter:innenklasse repräsentiert sei – mit einer KPÖ als zu vernachlässigender und entweder belächelter oder dämonisierter Restgröße. Wo liegen nun die Gründe dafür, dass die KPDÖ nach 1918 nicht zur Massenkraft wie z.B. ihre deutsche Schwesterpartei werden konnte? Der Grund ist ganz sicher nicht in einem besonderen, fast mythischen Einheitsstreben des österreichischen Proletariats zu suchen – eine populäre Erklärung, die von Viktor Adler bis Bruno Kreisky immer wieder bemüht wurde. Genauso wenig ein besonderer Antikommunismus der SPÖ – ein Argument, mit dem sich die KP-Führer:innen vor jeglichem Anteil an der spezifischen Schwäche des österreichischen „Kommunismus“ freizusprechen trachteten. Die SPD war in ihrer Geschichte nicht weniger antikommunistisch, und trotzdem war die KPD die stärkste Partei der Kommunistischen Internationale außerhalb der UdSSR. Stattdessen liegen die Gründe in den Bedingungen, mit denen die KP bei ihrer Gründung konfrontiert war und in Fehlern der jungen, unerfahrenen KP-Führung.

Anders als im Falle der russischen Bolschewiki, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die notwendige Spaltung der Sozialdemokratie in revolutionäre und reformistische Kräfte vollzogen hatten, existierte in Österreich nie eine durchgehende revolutionäre Opposition. Dies behinderte ganz wesentlich die Herausbildung einer revolutionären Alternative zur Sozialdemokratie auch nach 1914, als die SdAP mit fliegenden Fahnen ins Lager der Vaterlandsverteidigung übergewechselt war und die Arbeit an der Gründungeiner neuen revolutionären und internationalistischen Arbeiter:innenpartei notwendig geworden war. Eine organisierte Linksopposition bestand im Unterschied zu Deutschland, wo Karl Liebknecht gegen die Kriegskredite im Reichstag gestimmt hatte, nicht. Einzig dem Reichenberger „Vorwärts“ (Nordböhmen) gebührt die Ehre, wegen seiner Antikriegsartikel verboten worden zu sein. Erst langsam bildete sich im Verlauf des Weltkrieges, als die Massenstimmung bereits zu schwanken begann, auch in Österreich eine klarer umrissene Oppositionsströmung gegen die Kriegspolitik der sozialdemokratischen Parteiführung heraus. Friedrich Adler, der gewichtigste Exponent dieser „Linken“ – wie sie sich selbst nannte – hatte 1916 den amtierenden Ministerpräsidenten, Graf Stürghk, aus verzweifeltem Protest gegen die Burgfriedenspolitik der SdAP-Führung erschossen.

Im Kreise der oppositionellen Sozialdemokrat:innen ergaben sich 1916/1917 zwei getrennte Entwicklungslinien: Einerseits kam es zu einer Versöhnung der „Linken“ mit der SdAP-Parteiführung, und andererseits setzte sich die Bewegung der „Linksradikalen“, einer Minderheitsströmung der „Linken“, zunehmend stärker von der SdAP-Führung und den nun wieder mit ihr versöhnten „Linken“ ab: Mit ihrer kompromisslosen Antikriegspolitik („Nieder mit dem imperialistischen Krieg! Es lebe der Klassenkampf! Er allein kann dem Krieg ein Ende bereiten! Arbeiter seid bereit!“- so der Schluss eines 1917 illegal verbreiteten Flugblattes) konnte sie vor allem unter proletarischen Jugendlichen und sozialistischen Student:innen viel Sympathie gewinnen – im Frühjahr 1917gewann die linksradikale Richtung vorübergehend sogar die Oberhand unter den sozialistischen Jugendlichen. Natürlich kam ihr dabei die internationale Entwicklung zugute: Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 in Russland standen Pate für den Aufschwung der proletarischen Bewegung, und wenn die Linksradikalen – nunmehr bereits als „revolutionäre Sozialisten“ – in einem Aufruf an die Arbeiter:innen des Artilleriearsenals schrieben: „Lernet Russisch, lernet von Petersburg!“, so konnten sie sich der Zustimmung der fortgeschrittenen Arbeiter:innen sicher sein.

Jännerstreik 1918

So hatten, als der Jännerstreik 1918 begann, die „Linksradikalen“ in Wien, vor allem aber in Wiener Neustadt und im Wiener Becken, eine beschränkte Massenbasis und Einfluss vor allem unter den fortgeschrittensten Arbeiter:innen. Der Jännerstreik wurde damit zur ersten entscheidenden Auseinandersetzung zwischen der jungen „linksradikalen“ Bewegung, die die Notwendigkeit eines Bruches mit der SdAP-Parteiführung erkannt hatte, und der „alten“ Sozialdemokratie. Die Bewegung gewann rasch an Stärke und wurde – vor allem im Wiener Neustädter Gebiet – schnell zu einem politischen Streik: Sofortige Annahme des Friedensangebotes der russischen Arbeitermacht war die Losung der Stunde.

Doch der sozialdemokratischen Parteiführung gelang das Abwürgen der Bewegung: Zu unerfahren waren die Führer:innen der „Linksradikalen“, zu sehr war es der Parteiführung gelungen, die schweren Bataillone des Proletariats von ihrer Friedenssehnsucht und Kampfbereitschaft zu überzeugen – und zu sehr lastete noch das Gewicht des Militärapparates auf der ersten großen revolutionären Streikbewegung, die mitten im Krieg die Monarchie an den Rand des inneren Zusammenbruchs gebracht hatte. Doch dieser Jännerstreik hatte noch eine zweite, für die Gründung der KPDÖ wichtige Seite: Der nach dem Abbruch der Bewegung folgenden Repressionswelle fielen v.a. die wenigen überzeugten „Linksradikalen“ zum Opfer. An die Front abkommandiert, ins Gefängnis geworfen oder aber demoralisiert von der Niederlage in der Bewegung, der im Juni 1918 eine zweite in einer Niederlage endende Streikbewegung folgte, sollten sie bis zum Untergang der Monarchie im Herbst zu ohnmächtigen Zuschauer:innen degradiert werden.

Im Frühjahr 1918 trat neben den „Linksradikalen“ eine weitere revolutionäre Gruppe um das Ehepaar Elfriede und Paul Friedländer (1) in Erscheinung. Gemeinsam mit dem sich ihnen anschließenden Kreis um Klaus Steinhardt führten sie eine streng konspirative Arbeit und blieben so, nachdem die „Linksradikalen“ vom Staatsapparat zerschlagen wurden, die einzig intakte marxistische Struktur, die dazu noch eine monatliche Zeitung, „Der Weckruf“, herausgab. So wurde die „Weckruf“-Gruppe zum Motor der Parteigründung.

Die Zerschlagung der „Linksradikalen“, die im ostösterreichischen Proletariat verankert waren, und die Festigung der Kontrolle der Bürokratie über die sozialdemokratischen Parteiorganisationen nach der Niederlage der Jännerstreiks 1918 erschwerten die revolutionäre Massenarbeit ungemein. Trotzdem: Der Zerfall des Habsburgerreiches im Oktober 1918 und allgemeine Zuspitzung der Kriegswirren machten klar, dass in Mitteleuropa die Revolution auf der Tagesordnung stand. Die Kommunist:innen zogen daraus völlig zurecht die logische Schlussfolgerung: Keine Zeit ist zu verlieren – eine Kommunistische Partei muss gegründet werden.

Nach der Gründung

Die Gründungsversammlung am 3.11.1918 selbst wurde nicht öffentlich angekündigt. Die Herausgabe eines Agitations- und Propagandaorgans wurde beschlossen, dass zuerst als „Weckruf“ dreimal pro Woche erschien und 1919 als „Rote Fahne“ zur Tageszeitung wurde. Mit mehreren Flugblättern wurden die Arbeiter, Soldaten und die „geistigen Arbeiter“ zum Beitritt in die neue Partei aufgefordert. Die Wiener Bezirksversammlungen vom 4.-12.11. waren allerdings eher mäßig besucht, was auf die relativ schwache Verankerung der Organisation hindeutet.

Dazu kam noch, dass es erst schrittweise gelang, die anderen revolutionären Kräfte außerhalb des FriedIänder/Steinhardt-Kreises für den Beitritt zu gewinnen. Die „alten Linksradikalen“ um Koritschoner wollten ursprünglich in der Sozialdemokratie Fraktionsarbeit leisten, schlossen sich aber dann am 7.12. der KPDÖ an. Dazu kamen dann auch noch die aus der russischen Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Linken (wie Tomann und Koplenig) sowie viele revolutionäre Jugendliche, die aus dem sozialdemokratischen Jugendverband ausgeschlossen wurden oder ausgetreten waren. Etwas später stießen dann schließlich noch die Linke der jüdischen Arbeiterpartei Poale Zion sowie die „Föderation revolutionäre Sozialisten ‚Internationale‘“ hinzu.

Versagen der SdAP-Linken

Die Linken innerhalb der reformistischen Partei blieben großteils ihrer Haltung während des Krieges treu: Radikal reden, aber um jeden Preis in der Partei bleiben. Zu einem beträchtlichen Teil gelang es der alten Führung um Victor Adler und Karl Renner 1917,die Linken zu integrieren, die sich dafür mit einer loyalen, pro-kapitalistischen Politik bedankten. Bekannt ist der Ausspruch Otto Bauers: „Arbeiter und Soldaten hätten jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten können. Es gab keine Gewalt, sie daran zu hindern“. Der verbal radikalere Friedrich Adler, Attentäter von 1916, sprach sich zwar in Worten für die „Diktatur des Proletariats“ aus, wenn es aber darum ging, die Massen für den Sturz der bürgerlichen Herrschaft zu mobilisieren, versagte er komplett. AII das wurde mit Phrasen, um jeden Preis die Einheit der Partei (unter dem Deckmantel der „Einheit des Proletariats“) aufrecht erhalten zu wollen, gerechtfertigt.

Schließlich gab es noch die besten Elemente der SdAP-Linken, einerseits die Reichenberger Linke um Isa und Josef Strasser (Verfasser der Broschüre „Der Arbeiter und die Nation“), die sich umgehend der KPDÖ anschloss und andererseits die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft Revolutionärer Arbeiterräte (SARA) um Josef Frey und Franz Rothe. Letztere war von der Notwendigkeit der proletarischen Revolution überzeugt und wollte die SdAP für ein revolutionäres Programm und für den Anschluss an die kommunistische Internationale (Komintern) gewinnen. Sie übte vor allem innerhalb des Wiener Arbeiterrates eine einflussreiche Rolle aus. Doch so sehr sie auch gegen die reformistischen Verräter in der SdAP-Führung kämpfte, so schreckte sie doch vor der letzten Konsequenz zurück. Entgegen der Aufforderung der Komintern, „Vernichtungskampf gegen die österreichische Sozialdemokratie… und Vereinigung mit der KPDÖ“, schreckten Frey-Rothe in den entscheidenden Monaten 1919 vor der letzten Konsequenz, der Spaltung der SdAP und dem Anschluss an die KPDÖ, zurück. Zwar traten die revolutionärsten Teile der SARA im Jänner 1921 dann doch über und spielte gerade Josef Frey eine wesentliche Rolle in der KPDÖ, aber dieser Schritt kam zu spät. Gerade am Höhepunkt der Krise, als auch die SARA einen bedeutenden Einfluss in der Arbeiter:innenklasse besaß, gerade in dieser Situation wäre ein Bruch mit dem Reformismus am günstigsten gewesen. Eine qualitativ stärkere und einflussreichere KPDÖ wäre die Folge gewesen. So überließ die SARA der Parteibürokratie die Initiative. Nach dem Rückfluten der Revolution Ende 1920/21 wurden sie aus allen wichtigen Positionen verdrängt und schließlich ausgeschlossen. Der Rückgang ihres Einflusses drückte sich in den mageren 1,4% bei den Wahlen zum Arbeiterrat im Dezember 1920 aus, die nicht einmal 1/3 des KPDÖ-Ergebnisses darstellte.

Die Lehre daraus liegt auf der Hand: Ist es grundsätzlich immer die klare Pflicht revolutionärer Marxist:innen, eine eigenständige bolschewistische Organisation aufzubauen, so gilt das in Situationen des zugespitzten Klassenkampfes noch mehr. Nur so kann gewährleistet werden, dass man ohne Einschränkungen revolutionäre Ideen und Aktionen umsetzen kann. Diese zentrale Lehre zogen die Marxist:innen in der SARA zu spät. Andere, wie der „Vorwärts“ und seine internationale Militant-Strömung, ziehen sie teilweise überhaupt nicht, teilweise zu spät und dann aber auch nur halbherzig. Das britische Militant ist Mitte der 1980er Jahre, als es in Teilen der Labour Party einen nicht unbeträchtlichen Einfluss ausübte, in dieser um den Preis beträchtlicher politischer Anpassungen geblieben, um Anfang der 1990er Jahre, in einer Situation des Niedergangs und der Passivität der Parteibasis, auszutreten. Und Congress Militant in Südafrika weigert sich sogar angesichts der vorrevolutionären Situation in Südafrika und des offenen Ausverkaufs der bürgerlichen ANC-Führung, eine eigenständige marxistische Organisation aufzubauen, und ist auch bereit, für das Verbleiben innerhalb des ANC seine politische Kritik an der bürokratischen Führung zu mäßigen.

Aufstieg und Krise der KPDÖ

Nach Anlaufschwierigkeiten gelang der KPDÖ im Frühjahr 1919 ein kometenhafter Aufstieg von ca. 3000 Mitgliedern im Februar 1919 auf 10000 im März und schließlich 30-40000 Mitglieder im Mai 1919. Als die KPDÖ im März endlich zu den Wahlen im Arbeiterrat zugelassen wurde, erreichte sie immerhin 10% der Stimmen. Besonders unter den Heimkehrern aus der Gefangenschaft, aber auch den Soldaten (v.a. im Volkswehrbataillon 41), aber auch den arbeitslosen Massen übte sie einen bedeutenden Einfluss aus, und konnte zehntausende von ihnen für Demonstrationen mobilisieren. Dies zeigte das Potential für revolutionäre Politik und die Richtigkeit, eine selbstständige kommunistische Partei aufzubauen.

Im Zentrum der kommunistischen Agitation stand angesichts der revolutionären Zuspitzung die von den Bolschewiki entwickelte Forderung, dass die Arbeiterräte nicht der Koalitionsregierung von Sozialdemokratie und Christlich-Sozialen vertrauen dürfen, sondern selbst die Macht übernehmen müssten. „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!“ hieß die zentrale Losung. Die KP war damit die einzig konsequente Organisation, die angesichts des kapitalistischen Desasters auf der Notwendigkeit des Sturzes der bürgerlichen Herrschaft beharrte.

Aber auch international spielte die Partei eine wichtige Rolle. Das enthusiastische und überzeugende Auftreten des österreichischen Delegierten Steinhardt sicherte gegen die zaudernde deutsche KP die Gründung der kommunistischen Internationale im März 1919. Ebenso nahm die KPDÖ den proletarischen Internationalismus ernst und entsendete eine Kompanie der „Roten Garde“ in das von den Weißen bedrohte Räte-Ungarn, wo deren Kommandant, Leo Rothziegel, fiel. Im Arbeiter:innenrat brachte sie einen Antrag durch, aufgrund dessen in Osterreich ein eintägiger Solidaritätsstreik mit der ungarischen Räterepublik durchgeführt wurde.

Doch sollen hier nicht die Schwächen der jungen KP verschwiegen werden. In der Frühphase dominierte eine ultralinke Politik, die davon ausging, dass die Massen bloß auf den Sturm des Parlaments durch eine entschlossene revolutionäre Minderheit warten würden. (2) Daraus ergab sich eine Politik, die die Revolution mehr proklamierte als durch systematische Agitation und Kampagnen die Notwendigkeit einer Umwälzung hier und jetzt in den Massen zu verankern. Damit ging eine sektiererische Herangehensweise an die SdAP einher, die immerhin noch das Vertrauen der überwältigenden Mehrheit des Proletariats besaß. Einheitsfrontpolitik war den damaligen Kommunist:innen ein Fremdwort. Schließlich litt die Partei unter schweren Fraktionskämpfen. Dies alles führte zu einem deutlichen Rückgang ihres Einflusses. Bei den Wahlen zum Arbeiterrat im Dezember 1920 erreichte die KPDÖ nur noch 4,7%.

Erst durch die vehemente Intervention der Komintern und nach der Vereinigung mit der SARA Anfang 1921 konnte die Partei ihre Fehler weitgehend korrigieren. Unter der Führung von Frey entwickelte sie, entsprechend der Beschlüsse des 3. und 4. Weltkongresses eine flexible Einheitsfronttaktik gegenüber der Sozialdemokratie. Sie beschränkte sich nun nicht mehr auf propagandistische Entlarvungen, sondern kombinierte diese mit konkreten Aufforderungen an die SdAP zur gemeinsamen Aktion. Auf Initiative der Kommunist:innen organisierte der Wiener Arbeiterrat im Frühjahr 1922 eine Demonstration unter der Losung „Für den 8-Stunden-Tag!“, die zur machtvollsten Kundgebung der Nachkriegszeit wurde. Doch auch wenn die reformistische Parteispitze in der Regel gemeinsame Aktionen ablehnte, konnten durch diese Taktik viele sozialdemokratische Arbeiter:innen in Aktionen einbezogen werden. So wurde in Österreich, trotz Ablehnung der SdAP, die größte Spendensammlung für Sowjetrussland aller kapitalistischen Länder durchgeführt. Ebenso kam es, trotz des dezidierten Boykotts der SP-Parteispitze, am 1. Mai vielerorts zu gemeinsamen Kundgebungen. Einen Höhepunkt fand diese Politik vor dem Hintergrund der sogenannten Genfer Sanierung 1922. Durch dieses Gesetz wurde faktisch die gesamte österreichische Wirtschaft dem Diktat des Völkerbundes unterstellt. Die Sozialdemokratie kläffte, aber biss nicht. Sie schlug das Angebot zu einer gemeinsamen Protestkampagne aus. Trotzdem vermochte die KP, über 30000 Arbeiter:innen auf die Straße zu bringen.

Die zunehmende Bürokratisierung der russischen KP durch die Sinojew-Stalin-Clique führte auch zur Bürokratisierung der Komintern. Dies bedeutete eine verstärkte Unterordnung der Sektionen unter Moskau. Deren Intervention spielte dann auch eine Rolle bei der Verdrängung Freys aus der Führung auf dem VI. Parteitag im März 1923. Danach verfiel die Partei in einen permanenten Zick-Zack-Kurs zwischen sektiererischer „Einheitsfront nur von unten“ und opportunistischer Anpassung. Nach einer ultralinken Periode 1929-1933 („Sozialfaschismus-Theorie“) folgte ein scharfer Rechtsruck, der die KPÖ endgültig in eine reformistische Kraft verwandelte. Austropatriotische Ergüsse, die die Volksfront mit den Schuschnigg-Faschisten vorbereiteten, und die Erfindung der „Österreichischen Nation“ durch Alfred Klohr rundeten diese Degeneration ab.

Anmerkungen:

(1) Elfriede Friedländer spielte später bei der deutschen KP unter dem Namen Ruth Fischer eine zentrale Rolle. In den 1930er Jahren arbeitete sie eine Zeit lang bei der trotzkistischen Bewegung mit.

(2) Man nannte dies, nach einem ungarischen Emissär, „Bettelheimerei“.




Der Sonderweg der KPÖ Steiermark – ein Vorbild für die Linke?

Michael Märzen, Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt (Österreich), ursprünglich erschienen in Flammende 1, Infomail 1196, 16. August 2022

Von den verschiedenen Landesorganisationen der Kommunistischen Partei Österreich nimmt die steirische einen besonderen Platz ein. Sie ist die bisher erfolgreichste Teilorganisation, aber auch diejenige, welche recht deutlich aus dem programmatischen und ideologischen Verständnis der Bundespartei ausschert. Aus diesem Grund war und ist ihr Verhältnis zum Bundesvorstand von Konflikten geprägt. Die KPÖ Steiermark hat sich daher aus dem zentralen Führungsgremium zurückgezogen und geht ihren Weg autonom vom Rest der Partei.

Viel interessanter und wichtiger als dieses besondere Verhältnis zur restlichen Partei sind aber die Wahlerfolge der KPÖ Steiermark. Nicht nur, dass sie in Graz Ende der 1980er Jahre als Einzige ihr Mandat im Gemeinderat halten konnte oder sie im Landtag der Steiermark seit 2005 vertreten ist, bei den Wahlen der steirischen Landeshauptstadt 2021 konnte sie ihre Stimmen um ganze 8,5 % ausbauen. Sie wurde mit 28,8 % zur Siegerin, stellt nun mit Elke Kahr die Bürgermeisterin von Graz und führt eine linke Koalition an – gemeinsam mit Grünen und SPÖ. Somit ist es nicht verwunderlich, dass die KPÖ Steiermark einen gewissen Respekt und sogar Bewunderung innerhalb von Teilen der österreichischen Linken genießt. Die Partei habe sich durch ihren ehrlichen Stil, ihre hartnäckige Unterstützungsarbeit für die Grazer Bevölkerung und ihre Bescheidenheit die Unterstützung ihrer Wähler:innen verdient. Für die österreichische Linke gelte es demnach, sich diese Erfolgsstrategie in Form von langfristiger Verankerung auf kommunalpolitischem Gebiet zu eigen zu machen.

Dem Glanz der KPÖ Steiermark stehen aber auch immer wieder politische Skandale gegenüber, die auch die wohlwollende Linke verdutzt den Kopf schütteln lassen. So wurde medienwirksam skandalisiert, dass der Landtagsabgeordnete Werner Murgg auf Vermittlung der österreichisch-weißrussischen Gesellschaft ins autoritär regierte und staatskapitalistische Weißrussland reiste, um im dortigen Staatsfernsehen die Sanktionen der EU zu kritisieren: „Sie treffen nur die einfachen Leute, das könnte Aufstände provozieren.“ Oder die Rede von Thomas Pierer im Brucker Gemeinderat, in der er mit einer kopierten AfD-Rede genderneutrale und gendersensible Sprache verhöhnte.

Auch wenn die Erfolge der KPÖ Steiermark nicht von der Hand zu weisen sind, wollen wir mit diesem Beitrag linke Organisationen und Aktivist:innen davor warnen, diese als politisches Vorbild zu betrachten bzw. ihre Politik oder gar Programmatik nachzuahmen. Die Politik der steierischen Landesorganisation ist eine defensive Ausprägung ihres stalinistischen Erbes, die kurzfristig als Erfolgsmodell erscheinen mag, aber langfristig nur in einer reformistischen1 Sackgasse enden kann.

Von Erfolgen und Konflikten

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schlitterte die Kommunistische Partei Österreich in eine tiefe Krise. War sie schon davor jahrzehntelang in der politischen Landschaft marginalisiert, stellte sich nun die Frage ihrer Existenz. Der Stalinismus hatte abgewirtschaftet und auch die Reformversuche der Perestroika waren gescheitert. Die KPÖ war immer eine sehr treue Partei gegenüber der Linie der KPdSU gewesen. Ihre Beschönigung der bürokratischen Diktaturen über das Proletariat sowie die Unterdrückung von progressiven Bewegungen, wie z. B. im Prager Frühling 1968, hatten der Partei schon früher geschadet. Nun war die stalinistische KPÖ ihres wichtigsten politischen Bezugspunktes beraubt, ihre Glaubwürdigkeit am Boden. Die Wahlergebnisse erreichten ihren Tiefpunkt.

Die Erneuerungsversuche unter Michail Gorbatschow wurden zwar noch mit Hoffnung betrachtet, aber über die Ergebnisse bestanden in der österreichischen Partei nicht ausgetragene Meinungsverschiedenheiten. Mit der Krise des „kommunistischen Systems“ verfestigten sich in der KPÖ auf der einen Seite eine Mehrheit der „undogmatischen“ Erneuerung und auf der anderen Seite ein „traditionalistischer“ Flügel. Der außerordentliche Parteitag im Juni 1991 in Graz sollte ein „Reformparteitag“ sein. Der „Maxismus-Leninismus“2 der kommunistischen Parteien habe sich von vielem Neuen (Frauenfrage, Ökologie usw.) abgekapselt, hieß es dort. Die Partei sollte sich ideologisch öffnen für einen vom Dogmatismus befreiten Marxismus. Die stalinistische Diktatur habe schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Offen gehalten wurde die Option einer „echten Erweiterung der KPÖ und ihre Vereinigung mit anderen linken Kräften“ sowie eine ausführliche programmatische Debatte. Der demokratische Zentralismus3 wurde mit einem neuen Statut abgeschafft. Die Selbstauflösung der Partei wurde zwar überwunden, aber die Krise hatte erst begonnen.

Bei den Nationalratswahlen 1994 erreichte die KPÖ mit lediglich 11.919 Stimmen ihren historischen Tiefpunkt. In eine andere Richtung ging der Trend lediglich in der Steiermark. In Graz hatte die Partei 1988 trotz Krise der Sowjetunion ihr Gemeinderatsmandat mit Ernest Kaltenegger halten können. Bei den Gemeinderatswahlen 1993 konnte sie noch ein zweites Mandat für Elke Kahr dazugewinnen. In der Stadt hatte sich die KPÖ Graz mit Wohnungspolitik und Mieter:innenberatung sowie –hilfe ein lohnendes Politikfeld geschaffen. 1998 erzielte sie schon 7,9 % und erreichte den Einzug von Ernest Kaltenegger in den Stadtsenat (so heißt die dortige Proporzregierung), wo er Wohnungsbaustadtrat wurde. 2003 kam dann beinahe der Durchbruch, als die KPÖ vor dem Hintergrund der tiefen Krise der FPÖ 20,8 % in Graz erreichte, allerdings bei der darauffolgenden Wahl 2008 auf 11,2 % abrutschte. Dazwischen gelang jedoch noch einer der bedeutendsten Erfolge, nämlich der Einzug der KPÖ Steiermark in den dortigen Landtag, mit 4 Mandaten (Ernest Kaltenegger, Renate Pacher, Claudia Klimt-Weithaler, Werner Murgg) – auf Landesebene immer noch das beste Wahlergebnis. Nach 2008 ging es aber zumindest in Graz schrittweise bergauf, bis zum Wahlsieg im letzten Jahr.

Wahlergebnisse der KPÖ Graz
1945 6,7 %
1949 5,7 %
1953 5,8 %
1958 3,9 %
1963 3,5 %
1968 2,8 %
1973 3,0 %
1978 2,0 %
1983 1,8 %
1988 3,1 %
1993 4,2 %
1998 7,9 %
2003 20,8 %
2008 11,2 %
2012 19,9 %
2017 20,3 %
2021 28,84 %

Die KPÖ Steiermark hatte entgegen der Bundespartei der alten Doktrin des „Marxismus-Leninismus“ nicht abgeschworen. Somit bestand eine ideologische Spannung, die sich folglich zu einer politischen Zuspitzung entwickelte. Beim 31. Parteitag im Dezember 2000 unterstützte ein Teil der steirischen Parteileitung eine „Alternativplattform“, welche wesentliche Positionen der „Erneuerung“ zurücknehmen wollte. Außerdem sollte die Parteispitze abgewählt werden, was misslang. Im Herbst 2003 legte die Landespartei eine „Grundlage für ein noch zu beschließendes Programm“ zur Diskussion vor. Die bedeutendsten praktischen Differenzen drehten sich jedoch um die Haltung zur Europäischen Union und zum Pluralismus als Parteikonzeption. Vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union 1995 war die KPÖ gegen einen Beitritt gewesen und anschließend für einen Austritt4. Mit der Zeit weichte sie diese Position aber auf und ließ sie als unmittelbare Forderung fallen. In diesem Kontext diskutierte sie auch die Verbindung mit anderen Linksparteien in Europa und nahm an der Gründung der Partei der Europäischen Linken5 im Jahr 2004 teil. Anstelle dieser Haltung zur Europäischen Union und der ELP wollte die KPÖ Steiermark lieber auf traditionalistische und stalinistische Parteien wie die KP Griechenland orientieren. Der Pluralismus, wie er auch in der Europäischen Linken gelebt werde, führe laut ihrer Kritik zu einer Kapitulation6. In weiterer Folge formierten sich Teile der steirischen Partei (z. B. Werner Murgg) mit anderen traditionalistischen Kräften innerhalb der KPÖ zur „Kommunistischen Initiative zur Erneuerung der KPÖ“. Mehrere Oppositionelle wurden nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung um die Legitimität des 33. Parteitags (Dezember 2004) ausgeschlossen und die Kommunistische Initiative ging einen organisatorisch unabhängigen Weg (heute trägt sie den Namen „Partei der Arbeit“). Die KPÖ Steiermark ging jedoch den eigenständigen Weg nicht mit. Die steirischen Mitglieder akzeptierten die Beschlüsse des Parteitags nicht, zogen sich aus dem Bundesvorstand der KPÖ zurück und betrachten ihre Organisation seither als autonom gegenüber der Bundespartei.

Wahlsieg in Graz

Die Grazer Gemeinderatswahlen im September 2021 hievten die KPÖ überraschenderweise – offenbar hatte sie bis kurz davor selbst nicht damit gerechnet – mit 28,84 % an die Spitze. Im November wurde die Stadtregierung als Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ mit Elke Kahr als Bürgermeisterin angelobt. Der Wahlkampf in Graz und die Arbeit der KPÖ in der Regierung sind wohl die wichtigsten Referenzen, um zu verstehen, wie die Praxis der steirischen Genoss:innen aussieht. Aber zunächst stellt sich die Frage: Wie konnte es überhaupt zu diesem Erfolg kommen?

Der Aufstieg der KPÖ in Graz ist nicht ohne den Abstieg der Sozialdemokratie zu verstehen. Diese hielt 2003 in der Landeshauptstadt noch knapp 26 % der Stimmen. Von da an ging es schrittweise bergab, bis sie 2017 nur noch 10 % erreichte und von der KPÖ vom zweiten Platz verdrängt wurde. Im letzten Jahr verlor sie zwar prozentuell nicht mehr so viel, rutschte aber auf den fünften Platz zurück, nur noch vor den NEOS und den anderen Kleinstparteien. Schon in den 1990er Jahren, als sich die SPÖ dem Neoliberalismus hingab, wurde die Partei unbeliebter. In der jüngeren Vergangenheit der Steiermark war aber die sogenannte „Reformpartnerschaft“ von Bedeutung. Im Wesentlichen war das ein gemeinsam von ÖVP und SPÖ groß angelegtes Sparprogramm, um das Landesbudget auf dem Rücken von Lohnabhängigen, Frauen, Kindern und Bedürftigen zu sanieren. So wurden im Doppelbudget 2013/14 ganze 1,5 Mrd. Euro eingespart. Dabei wurde nicht nur in der Verwaltung gekürzt oder wurden Gemeinden fusioniert, unter den Einsparungen litt auch der Sozialbereich, dessen Beschäftigte auf die Straßen gingen, und es wurden viele kleinere Volksschulen geschlossen. Dazu kommt aber auch die beharrliche Arbeit der KPÖ insbesondere im Wohnungsbereich, erst unter Ernest Kaltenegger und dann mit Elke Kahr. 1992 zog Kaltenegger den Mieternotruf auf, welcher Mietverträge, Betriebskostenabrechnungen und die Höhe von Provisionen prüfte sowie bei Schikanen, Kündigungen und Räumungsklagen unterstützte. Auch die Tatsache, dass KPÖ-Mandatar:innen von ihrem Einkommen nur einen Teil in der Höhe eines Facharbeiter:innenlohns beziehen und den Rest für Sozialpolitisches spenden, hilft dem Image der Partei, das sie auch sehr behutsam als ehrlich, hilfsbereit, nicht abgehoben usw. pflegt. Hinzu kommt der Absturz der ÖVP bei der Wahl 2021 um beachtliche 11,88 Prozentpunkte! Das hatte zu tun mit teuren und unpopulären Groß- und Prestigeprojekten, welche die ÖVP umsetzte oder plante, beispielsweise das Mur-Kraftwerk oder eine mögliche U-Bahn. Es hing aber wohl auch mit den Skandalen rund um Sebastian Kurz zusammen, die die ÖVP damals erschütterten. Und mit ihrem plumpen Antikommunismus, mit dem die Konservativen eine Katastrophe im Falle eines kommunistischen Wahlsiegs beschworen, hatten sie sich auch noch lächerlich gemacht und die Sympathie für die KPÖ gestärkt.

Wie sah nun die Politik der KPÖ im Wahlkampf aus? Wirft man einen Blick auf die wohl öffentlichkeitswirksamsten Elemente, die Wahlplakate, dann findet man Slogans wie „Soziales darf nicht untergehen“, „Lebensraum vor Investoren“, „Wohnraum bezahlbar für alle“ oder „Da sein wenn‘s drauf ankommt“. Alles Plakate, die sich keineswegs von sozialdemokratischen oder grünen unterscheiden, geschweige denn sich durch Radikalität, Kapitalismuskritik oder Aufzeigen eines Klassenwiderspruches abheben. In dieselbe Kerbe schlägt auch das Wahlprogramm der KPÖ Graz. Schon der Form nach ist es dem gewöhnlicher bürgerlicher Parteien nachempfunden, als Ansammlung von Themenblöcken, in denen allgemeinpolitische Floskeln mit Auflistungen von kleinen Reförmchen gespickt werden. Inhaltlich vermisst man bitter die Analyse der politischen Klassenverhältnisse (inkl. Geschlechterverhältnisse u. v. a.) in der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus, was eine propagandistische und aufklärerische Rolle zur Herausbildung von Klassenbewusstsein spielen kann, und aus der eine konkrete Strategie zur Befreiung der Arbeiter:innenklasse formuliert werden könnte. Das würde eine marxistische Partei auszeichnen. Nun könnte man einwenden, dass es sich hierbei um das Programm für eine Gemeindewahl handelt. Aber selbst wenn man eine ernsthafte linke Kommunalregierung stellen möchte, ist die Machtfrage zumindest perspektivisch aufgeworfen, schon durch den Konflikt, der sich mit der Zwangsgewalt des kapitalistischen Zentralstaates ergeben würde. Und dafür sollte die Kommunalpolitik in einem allgemeineren Kontext behandelt werden. Den Schlüssel bildete, auch schon im Kleinen die Macht der Kapitalist:innen, ihr Vermögen und ihr Eigentum zu konfrontieren und dabei die massenhafte Organisierung der Lohnabhängigen in Stadtteilen und Betrieben voranzutreiben.

Linke Koalition

Was kann man also von der linken Koalition und ihrem Regierungsprogramm halten? Das sogenannte „Arbeitsprogramm“ trägt den Titel „Gemeinsam für ein neues Graz. Sozial. Klimafreundlich. Demokratisch.“ Es liest sich eingangs durchaus positiv und vieles kann man auch begrüßen. Es stellt sich ideologisch in die Tradition des Antifaschismus, der Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung. Die Klimakrise wird als eine zentrale Herausforderung benannt. Aber es stellt sich eben auch nur in die Tradition dieser Bewegungen. Weitere Bezüge auf Kämpfe und Bewegungen bzw. deren Rolle zur Durchsetzung von wichtigen sozialen Veränderungen gibt es keine. Für einen Eindruck vom Arbeitsprogramm der Koalition seien an dieser Stelle ein paar der 21 Schwerpunktprojekte genannt: An erster Stelle die Realisierung der Südweststrecke, einer Straßenbahnverbindung, die schon vor zwei Jahren im Grazer Gemeinderat beschlossen wurde. An zweiter Stelle die Schaffung leistbaren Wohnraums durch den Bau neuer Gemeindewohnungen, aber leider nicht, wie viele. An dritter Stelle kommt „jeden Tag einen Baum pflanzen“. Weitere nennenswerte Punkte sind die Reduktion der Kinderbetreuungsbeiträge, die Erhöhung des Zuschusses zur Jahreskarte Graz und zum Klimaticket Steiermark, ein Fahrrad für jedes Kind oder die Ausrichtung der Wirtschaftsförderung nach sozialen, regionalen und ökologischen Kriterien. Und – abseits von diesen Schwerpunkten – das Bekenntnis zu einem ausgeglichenen Budget.

Ein zentrales Anliegen im Wahlprogramm der KPÖ Graz war die „Wiedereingliederung aller ausgelagerten Betriebe in das Eigentum der Stadt und Rückführung der Grazer Linien in einen städtischen Eigenbetrieb“. Dabei ging es insbesondere um das „Haus Graz“, also um die direkten und indirekten Beteiligungen der Stadt, denn die Ausgliederungen brächten keine Einsparungen und der Gemeinderat habe keine Entscheidungsbefugnis über Leistungen, Tarife und Personalpolitik mehr. Nach der Wahl war das Thema schnell vom Tisch. Laut KP-Klubobmann Manfred Eber habe man sich das genauer angesehen und festgestellt, dass man bei einer Rekommunalisierung unter den Abteilungen keine Gegenrechnungen mehr machen könnte und Körperschaftssteuer zahlen müsse. Das würde Belastungen in Höhe von einem bis zu zweistelligen Millionenbetrag jährlich bedeuten. Stattdessen findet sich im Koalitionspakt nur noch die Sicherstellung von Plätzen in den Aufsichtsräten für alle im Stadtsenat vertretenen Parteien. Das Argument ist schwer nachvollziehbar, immerhin müssten sich über Zusammenführungen und die Abschaffung von teuren Managergehältern deutliche Einsparungen bewirken lassen. Und wenn nicht, könnte man es sich oder die Reichen ruhig auch ein bisschen kosten lassen. Denn die Überführung von zentralen Unternehmen in öffentliches Eigentum ist wohl das wichtigste Anliegen kommunistischer Politik, weil es den Weg aus der Profitlogik ebnet und demokratische Kontrolle bis zur Verwaltung durch die Arbeiter:innen selbst ermöglicht und damit die Durchsetzung der Interessen jener, welche die notwendige Arbeit in unserer Gesellschaft leisten.

Erst kürzlich tat sich die Grazer Stadtregierung positiv damit hervor, dass sie die jährliche Erhöhung von Kanal- und Müllgebühren sowie der Mieten in den Gemeindewohnungen aussetzte. Argumentiert wurde das mit den im Zuge der massiven Inflation ohnehin schon stark gestiegenen Lebenserhaltungskosten. Grundsätzlich ist das natürlich auch ein begrüßenswerter Schritt. Aber auch hier wird wieder einmal klar, dass sich die KPÖ Steiermark voll und ganz im bürgerlich-demokratischen Rahmen bewegen möchte. Denn gesetzlich ist es nicht möglich, den vom Justizministerium festgelegten Richtwert der Miete zu beeinflussen, geschweige denn eine generelle Beschränkung der (Privat-)Mieten in Graz.

Generell zeichnet sich die Linkskoalition also nicht gerade durch eine Konfrontation mit dem Kapital aus. In einem Bündnis mit den Grünen und der Sozialdemokratie ist das auch nur schwer vorstellbar. Zugegeben, die Möglichkeiten einer Stadtregierung hierfür sind durchaus begrenzt und die Stimmung der Massen ist nicht unbedingt revolutionär. Aber trotzdem wäre es die Aufgabe einer linken Regierung unter Führung von Kommunist:innen, in Worten und Taten die Widersprüche zwischen den Klassen für alle sichtbar zu machen und zuzuspitzen. Konkrete Mobilisierung auf der Straße und in den Betrieben für die Politik, die an die Grenzen des bürgerlich-kapitalistischen Rechtsstaats stößt, wären hier ein Anfang. Statt sich aber darauf zu konzentrieren, betont die KPÖ lieber die Arbeit auf Augenhöhe selbst mit den reaktionären bürgerlichen Kräften ÖVP und FPÖ.

Wenn sie sich nicht auf die Enge des Stadtbudgets einschränken würde, könnte sie weitreichende Sozialmaßnahmen einleiten und einen politischen Kampf um deren Finanzierung führen. Die Strategie der KPÖ Graz läuft auf das Gegenteil hinaus, nämlich Haushaltssanierung, wie ein Artikel auf ihrer Homepage zeigt. Was das für die Reformbemühungen der Linkskoalition bedeutet, wird spannend zu beobachten. Große Würfe darf man sich jedenfalls nicht erwarten. Laut dem Artikel erzielte die Stadt im letzten Jahr ein negatives Nettoergebnis von 73 Mio. Euro und hatte einen Schuldenstand von 1,6 Milliarden Euro. Laut Grazer Haushaltsordnung müsse nach dreimalig negativem Nettoergebnis ein Haushaltskonsolidierungsplan erstellt werden, wobei 2020 und 2021 schon negativ waren. „Auch unter der derzeitigen wirtschaftlichen Lage werden wir alles daransetzen, die Vorgaben des Landes Steiermark zu erfüllen sowie unter Berücksichtigung einer möglichen Wiedereinführung des Stabilitätspakts zu budgetieren.“

Programmatik

Wie kann man die Politik der KPÖ Graz bzw. der KPÖ Steiermark verstehen? Gibt es theoretische, ideologische oder programmatische Auffassungen, aus denen sich ihr Handeln ableitet? Oder herrschen Pragmatismus und personelle Beliebigkeit? Nach einem Studium ihres Landesprogramms glauben wir, dass sich die Praxis der Landespartei schon aus ihrem programmatischen Verständnis ergibt, insbesondere unter den Umständen eines niedrigen Klassenbewusstseins und Klassenkampfes. Wie sieht dieses Verständnis also aus?

Das Programm der KPÖ Steiermark (Fassung 2012) überrascht auf den ersten Blick. Der oftmals „unideologischen“, pragmatischen Praxis (siehe Beispiel Graz) der Organisation steht ein in orthodox-marxistischer Terminologie geschriebenes Programm gegenüber. Es erscheint der Eindruck, die steirische KPÖ nehme den Marxismus ernster als die Bundespartei und positioniere sich konsequenter. So verortet sie die Entwicklung des Kapitalismus weiterhin in seinem imperialistischen Stadium, versucht, die kapitalistische Krise mit einer marxistischen Theorie zu erklären, betont den Charakter der Partei als einer marxistischen Partei der Arbeiter:innenklasse und spricht von der Revolution. Gleichzeitig verschreibt sie sich einer „progressiven Reformpolitik“, deren Ziel nicht ein revolutionäres Erkämpfen des Sozialismus darstellt, sondern der Aufbau eines „progressiven Sozialstaates“. Hier erkennen wir die Tradition der stalinistischen Etappentheorie7 in Form einer antimonopolistischen Demokratie.

Spannend am Imperialismusverständnis der KPÖ Steiermark ist, dass zwar die USA als hegemoniale Weltmacht bezeichnet werden und die Europäische Union als Bündnis imperialistischer Staaten, abseits davon aber keine imperialistischen Mächte benannt werden. Russland kommt in dieser Beziehung überhaupt nicht vor und bei China scheint sich die KPÖ Steiermark nicht einmal sicher zu sein, dass es sich um ein kapitalistisches Land handelt und nicht etwa um einen legitimen Weg zum Sozialismus („Die KP China definiert das Land in der Anfangsphase des Sozialismus“).

Interessant im Kontext der Einschätzung der Weltlage ist der Blick auf Lateinamerika. Dort hätten sich revolutionäre Bastionen entwickelt. Gemeint sind die Staaten der „Bolivarischen Allianz“ (ALBA) unter der damaligen Führung Venezuelas. Vollkommen unkritisch wird der Linksnationalist Hugo Chávez zitiert, der den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ beschwört. Bei aller Sympathie und Solidarität mit den damaligen linken Bewegungen, die diese Regierungen in Lateinamerika an die Macht brachten, muss man schon feststellen, dass es sich dabei keineswegs um revolutionäre Regierungen der Arbeiter:innenklasse oder um sozialistische Experimente handelte. Die Länder des Sozialismus des 21. Jahrhunderts waren großteils linkspopulistische und teilweise bonapartistische8 Regimes, die weder vermochten noch beabsichtigten, die Macht des Kapitals zu brechen, und daher mit ihrem Anspruch umfassender Sozialreformen für die ärmere Bevölkerung scheitern mussten.

Schon positiver liest sich der Abschnitt zur „Bilanz des Realsozialismus“, besonders wenn man bedenkt, dass sich die KPÖ Steiermark nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den traditionalistischen Block eingeordnet hatte. Selbst bezeichnet sie sich natürlich nicht als stalinistisch9, auch wenn sie davon ein ungenaues, unklares und eingeschränktes Verständnis hegt. „Der Marxismus-Leninismus beruhte zum Teil auf dogmatisch eingeengten Bruchstücken des Marxismus“, „Die Politik des Realsozialismus war teils richtige, teils verfehlte, teils vereitelte Politik“, „Der Stalinismus nach Stalin brach mit dem Terror, aber nicht mit den Deformationen und den unwissenschaftlichen Methoden, die sich verfestigten“, „Gemessen an dieser Aufgabenstellung [der Wiederherstellung der kommunistischen Bewegung und einer revolutionären Perspektive] ist der Stalinismus ein Synonym für Dogmatismus, Verflachung, Einengung, Realitätsverlust, ein Anachronismus“. Richtig an der steirischen Analyse des „Realsozialismus“ ist das Problem des Aufbaus des Sozialismus im rückständigen Russland bei Scheitern der internationalen Ausweitung der Revolution auf das ökonomisch fortgeschrittene Europa. „Die ökonomischen und politischen Strukturen entfremdeten sich der Masse der Gesellschaft und entwickelten eine Eigenlogik, den Vollzug der Eigeninteressen einer exklusiven, der demokratischen Kontrolle entzogenen bürokratischen Schicht.“ Dass die wesentlichen Grundlagen des Sozialismus laut Programm durch „schwerwiegende Deformationen“ beeinträchtigt wurden, liest sich vor diesem Hintergrund fast schon beschönigend. Wesentlich ist unserer Auffassung nach hingegen, dass die soziale und politische Degeneration einen Bruch mit der Bürokratie und ihrer Politik bedingen. Dafür brauchte es eine von den stalinistischen Regimen unabhängige Organisierung der Arbeiter:innenklasse sowie den Sturz der Bürokratien der stalinistischen Länder in einer politischen Revolution. Diese Konsequenzen hat die KPÖ Steiermark bis heute nicht gezogen, weil sie das Phänomen des Stalinismus und seine reaktionäre politische Rolle immer noch nicht richtig erfasst hat.

Aus den Erfahrungen des „Realsozialismus“ schließt das Programm glücklicherweise auf die Notwendigkeit, „neue Sozialismusvorstellungen zu entwickeln, die auf der vollständigen und konsequenten Demokratisierung aller Bereiche der Wirtschaft, des Staates und der Zivilgesellschaft beruhen“. Unglücklicherweise besinnt sie sich dabei aber nicht auf die positiven Errungenschaften der Russischen Oktoberrevolution im Sinne der Diktatur des Proletariats – einer Arbeiter:innendemokratie in Form von Räteherrschaft und Arbeiter:innenkontrolle. An deren Stelle tritt bei der KPÖ Steiermark die alte Leier einer „sozialistischen Demokratie“. Dabei ist es kein Zufall, dass nirgendwo von der Notwendigkeit gesprochen wird, den von einer tatsächlichen demokratischen Kontrolle der Bevölkerung bürokratisch abgehobenen kapitalistischen Staat zu zerschlagen und die Macht in die Hände von Organen der proletarischen Gegenmacht10 zu legen. Anstelle der organisierten Arbeiter:innenklasse tritt für die KPÖ Steiermark der progressive Nationalstaat (dazu gibt es ein eigenes Kapitel: „Progressiver Nationalstaat – Basis und Hauptstütze von Gegenmacht“).

Dazu ein paar Zitate: „Wie der neoliberale Staat die Interessen des Großkapitals stützt, muss sich eine demokratische Reformbewegung auf einen erst zu erkämpfenden, neuartigen Sozialstaat stützen können, der der Wohlfahrt seiner Bürger verpflichtet ist und in dem die Lohnabhängigen das entscheidende Wort zu sprechen haben. (…) Anders als durch die Rückeroberung des Staats durch die revolutionären Kräfte ist es unmöglich, eine progressive Sozialpolitik zu betreiben. Dazu braucht der Staat Organe, die mit umfangreichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kompetenzen ausgestattet sind, um, wenn nötig auch mit Mitteln des außerökonomischen Zwangs eingreifen zu können. (…) Letzten Endes läuft alles darauf hinaus, dass der Staat dem Kapital Zügel anlegt und seine Institutionen in Einflusssphären des öffentlichen Eigentums verwandelt, die in Händen einer progressiven Volksmacht liegen. (…) Erst dann, wenn jedes Land das Recht hat, über seine Geschicke frei zu entscheiden (…) sind Kapitalverkehrskontrollen, Besteuerung von Transaktionen des Geld- und Finanzkapitals, wichtige Bausteine für die Rückgewinnung einer gesellschaftlichen Steuerung, möglich. (…) Aus kommunistischer Sicht steht also nicht die ‚Abschaffung des Nationalstaates‘ auf der Tagesordnung, sondern die Umformung vom Staat des Monopolkapitalismus in progressive Nationalstaaten, die, wenn sie auf Dauer bestehen wollen, Schritte in Richtung Sozialismus machen müssen.“

Die KPÖ Steiermark verfolgt das Konzept einer antimonopolistischen Demokratie, welche erst einmal durch Reformen des bürgerlichen Staates verwirklicht werden soll. Erst dann wäre es möglich, Schritte Richtung Sozialismus zu setzen. Eine solche Konzeption ist natürlich reine Utopie und ähnelt der stalinistischen Vorstellung, nach der die Bürokratie der Sowjetunion kapitalistische Pufferstaaten („Volksdemokratien“) in Ost- und Mitteleuropa errichten wollte, frei vom politischen Einfluss des westlichen Kapitals. Das war überhaupt nur denkbar z. B. durch die militärische Kontrolle Osteuropas durch die Rote Armee nach dem Zweiten Weltkrieg und ist gescheitert, worauf „von oben“ die Umwandlung in bürokratische Arbeiter:innenstaaten erfolgte. Die Idee, im Bündnis mit einer „antimonopolistischen“ Bourgeoisie den Kapitalismus so weit zu reformieren, dass in weiterer Folge Schritte zum Sozialismus ergriffen werden können, verkennt, dass auch die „nichtmonopolistische“ Bourgeoise lieber das Bündnis mit dem Monopolkapital sucht als mit der Arbeiter:innenklasse und die imperialistische Epoche eine des Niedergangs und der kapitalistischen Krise ist, in der eine friedliche Reformperiode hin zum Sozialismus keine ökonomische und politische Basis besitzt.

Schlussfolgerung

Ein kommunistisches Programm sollte eigentlich zwei wesentliche Aufgaben erfüllen. Auf der einen Seite sollte es eine Handlungsanweisung für den Klassenkampf bzw. den politischen Rahmen dafür bilden. Auf der anderen Seite sollte es im Inneren der Partei als gemeinsames Verständnis dienen, durch das eine kollektive und demokratische Praxis möglichst der gesamten Partei ermöglicht wird. Das Programm der KPÖ Steiermark ist dagegen eine Art langwierige Grundsatzerklärung und kann dadurch den ersten Anspruch nicht erfüllen und aufgrund der Abgrenzung ihrer alltäglichen Praxis von diesen Grundsätzen auch nicht den zweiten. Diese Aufspaltung von hochtrabenden Erklärungen in irgendwelchen Schriften auf der einen Seite und der Beschränkung auf kleine Reförmchen in der eigentlichen Arbeit entspricht sehr dem – für Sozialdemokratie und Stalinismus typischen – Aufspalten der Programmatik in einen Maximalteil, wo das Ziel des Sozialismus beschworen wird, und einen Minimalteil, in dem konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt formuliert werden, ohne dass eine Verbindung der beiden Hälften hergestellt wird.

Das Konzept der „progressiven Reformpolitik“ und des „progressiven Nationalstaats“ reproduziert die Kluft von Minimal- und Maximalprogramm und erklärt in gewisser Weise die orthodox-ideologische Programmatik der KPÖ Steiermark bei ziemlich ideologiefreier, pragmatischer politischer Praxis. Die Orientierung auf die Kommunalpolitik ist die logische Konsequenz dieser Strategie, weil aufgrund der eigenen Schwäche nur auf der niedrigen Ebene Möglichkeiten für „Reformen“, praktische Hilfestellungen und mittelfristige Eroberungen von Posten im bürgerlichen Staat erkannt werden.

Natürlich kann eine solche Politik kurz- und mittelfristig Erfolg haben. Wer in der politischen Praxis aber nicht versucht, in Propaganda und Agitation die Arbeiter:innenklasse als politisches Subjekt anzusprechen, die Konfrontation mit dem Kapital zu suchen und dadurch anzustreben, ein revolutionäres Klassenbewusstsein zu prägen, wird mittel- und langfristig über keine Machtbasis verfügen, um über kleine demokratische und soziale Reförmchen hinaus zu wirken. Sollte sich der Einfluss der KPÖ Steiermark steigern, wird sie sich mit dieser politischen Praxis in der kleinteiligen und bescheidenen Reformarbeit verlieren und schlichtweg den Platz der steirischen Sozialdemokratie einnehmen. Zum Abschluss wollen wir dieses Problem noch mit einem Zitat von Franz Stephan Parteder (ehem. Vorsitzender der Landespartei) unterstreichen: „Wir wollten eigentlich als ganz normale Partei, die innerhalb des Verfassungsbogens steht, verstanden werden.“ Wer so etwas will, braucht sich mit dem Aufbau einer Partei zur Überwindung des Kapitalismus wohl auch nicht weiter zu beschäftigen.

Referenzen

Endnoten

1 Unter Reformismus verstehen wir eine Praxis, welche die Politik der Arbeiter:innenklasse auf Verbesserungen (oder Abwendung von Verschlechterungen) innerhalb des kapitalistischen Rahmens eingrenzt und somit letztlich in bürgerlicher Politik befangen bleibt. Dabei kann sich der Reformismus in Worten durchaus radikal oder gar marxistisch geben.

2 Der Marxismus-Leninismus ist die stalinistisch entstellte Kanonisierung des Leninismus.

3 Der demokratische Zentralismus ist ein Grundprinzip der leninistischen Parteikonzeption und bezeichnete vor der Entstellung durch den Stalinismus das Verhältnis von innerparteilicher Demokratie zur Einheit der Partei in der Aktion nach außen.

4 Der Arbeiter*innenstandpunkt hat sowohl die neoliberalen und undemokratischen, als auch die für die Lohnabhängigen positiven und sie zusammenführenden Seiten der Europäischen Union betont und bei der Volksabstimmung 1994 für eine Enthaltung argumentiert. Einen Austritt aus der Europäischen Union lehnen wir ab, weil wir in einem „Zurück zum alten Nationalstaat“ keine besseren Kampfbedingungen für die Arbeiter:innenklasse erkennen, sondern nur das Gegenteil. Wir kämpfen für die internationale Einheit der Arbeiter:innenklasse und eine europäische sozialistische Revolution.

5 Die Europäische Linkspartei ist ein Zusammenschluss von eurokommunistischen und anderen linksreformistischen Parteien. Mittlerweile hat sie sich stark der Position einer „Transformation“ des Kapitalismus verschrieben. Wir kritisieren die sogenannte Transformationstheorie als eine Form von Reformismus.

6 Auch wenn wir mit der Parteikonzeption der KPÖ Steiermark gewiss nicht viel Übereinstimmung haben, können wir ihre Zurückweisung des Pluralismus teilen. Unserer Auffassung nach ist eine marxistische Partei ein Instrument zur Verwirklichung eines revolutionären Programms und bedarf zu diesem Zweck einer ihm angemessenen Klarheit und Geschlossenheit. Das ist keine Absage an unterschiedliche Meinungen, sondern eine strategische und taktische Handlungsunfähigkeit.

7 Etappentheorie bedeutet hier, dass vor der revolutionären Enteignung der Kapitalist:innenklasse und dem anschließenden Aufbau des Sozialismus eine besondere Etappe liegen müsste. Erst nach deren Absolvierung kann dann an eine sozialistische Revolution gedacht werden. In der Tradition des Stalinismus wurde ein solches Modell oftmals auf halbkoloniale Länder angewandt, also Länder, die aufgrund ihrer Abhängigkeit indirekt von imperialistischen Mächten beherrscht werden. Dort müsse man, gestützt auf die Volksmassen und im Bündnis mit dem patriotischen Kapital, das ausländische Kapital zurückdrängen und eine bürgerliche Demokratie erkämpfen.

8 Als Bonapartismus bezeichnet man im Marxismus ein autoritäres Regime, welches seine Macht auf eine Balance zwischen gegensätzlichen Klassen oder Blöcken von Klassen stützen, dafür aber die Herrschaft autoritär und ideologisch absichern muss. Dabei kann sich dieses Regime, scheinbar und im Sinne der Nation über die Klassen und gesellschaftlichen Gegensätze erheben.

9 Wir verstehen unter Stalinismus das soziale Phänomen der bürokratischen Degeneration eines Arbeiter:innenstaates sowie damit zusammenhängend die politischen Ausprägungen der Kommunistischen Partei im Interesse dieser Bürokratie, was mit einer entsprechenden Entstellung des Marxismus einhergeht. Wir charakterisieren die Herrschaftsformen in der Sowjetunion, China, Jugoslawien, Kuba und Nordkorea dementsprechend ebenfalls als stalinistisch sowie auch die politischen Ausprägungen der KPdSU nach der „Entstalinisierung“ unter Nikita Chruschtschow.

10 Unter proletarischer Gegenmacht verstehen wir eigene, vom bürgerlichen Staat unabhängige, demokratische Organisationen der Arbeiter:innenklasse. Solche können bestehen in Form von Parteien, Gewerkschaften, Streikkomitees, Betriebsgruppen, Kontrollkomitees, Milizen und in ihrer höchsten Form als Arbeiter:innenräte.

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Nach dem Parteitag: Die Agonie der Linkspartei

Jaqueline Katharina Singh, Neue International 266, Juli/August 2022

Am Wochenende des 25./26. Juni tagten die G7 auf Schloss Elmau bei Garmisch-Partenkirchen im Zeichen von Ukrainekrieg und ökonomischer Krise. Zeitgleich wurde in Erfurt versucht, eine ganz andere Art der Krise einzudämmen – auf der Tagung des 8. Bundesparteitages der Linkspartei.

Allein die Tatsache, dass sich DIE LINKE schon vor Monaten entschlossen hatte, die eigene Veranstaltung auf dieses Wochenende zu legen, spricht Bände über die Prioritätensetzung einer Organisation, die sich nach wie vor gern als Bewegungs- und Friedenspartei geriert. Doch warum sollte ausgerechnet eine, dem Anspruch nach sozialistische Oppositionspartei der Mobilisierung gegen die imperialistischen Ausbeuter:innen dieser Welt und die „eigene“ Regierung Priorität zumessen?

Angesichts des Krisenzustandes der Partei, des katastrophalen Wahlergebnisses bei der Bundestagswahl und des Rücktritts des Parteivorstandes im Zusammenhang mit #linkemetoo hat man schließlich Wichtigeres zu tun. Die Terminfestlegung symbolisiert gewissermaßen den Zustand einer Partei, für die es kein Problem gewesen wäre, die eigene Tagung um eine Woche zu verschieben.

Doch wer sich vom Wochenende richtungweisende Entscheidungen, ein politisches Kräftemessen der Flügel oder wenigstens eine klärende Auseinandersetzung erwartet hatte, wurde enttäuscht. Die Konfrontation, die zumindest in etlichen Artikeln vor der Tagung durchklang, fand nicht oder allenfalls schemenhaft statt. Letztlich blieb die inhaltliche Debatte aus, oder um es mit den Worten von Thies Gleiss zu beschreiben: „Mit der bekannten durchgestylten, synthetischen und immer furchtbar übertrieben wirkenden Inszenierung des Profiparteitagorganisationsstabes der LINKEN fand am letzten Juni-Wochenende in Erfurt die ‚1. Tagung des 8. Parteitages’ statt. Wie immer war es teuer, unauthentisch und langweilig.“

Was hätte es gebraucht?

Statt der gespielter Einigkeit zwischen den Flügeln, dass es nach außen nicht einen weiteren Eklat braucht, hätte die inhaltliche Klärung in den Vordergrund gerückt werden müssen. Die SAV schreibt dazu: „Auf dem Parteitag waren aber nur zwei Stunden für eine Generaldebatte vorgesehen, und eine Stunde für eine Diskussion zum Kampf gegen patriarchale Machtstrukturen, Gewalt und Sexismus. Dass diese Zeit nicht ausreichen würde, hätte klar sein müssen. Über 70 Beiträge kamen in der Generaldebatte nicht zu Wort. Stattdessen nahmen Grußworte, Einspieler, Promi-Reden und Abstimmungsprozeduren großen Raum ein – in Anbetracht der Erwartungen an den Krisenparteitag eine unglückliche Parteitagsregie.“

Stattdessen hätte es in der Tagesordnung die bewusste Möglichkeit für die Delegierten geben sollen, die inhaltlichen Differenzen in Debatten und Anträgen offen auszudiskutieren. Warum? Ein Überspielen dieser Differenzen lässt sie nicht verschwinden.

Vielmehr ist der „Pluralismus“ der Partei eben einer der Gründe, warum das Außenbild so zerrüttet erscheint. Mit bloßen Ermahnungen oder erzwungener Nettigkeit können die Probleme nicht gelöst werden, da sie ihren Ursprung selten in der Form, sondern im Inhalt tragen. Stattdessen entschied sich der alte Parteivorstand, dessen Mehrheiten im neuen faktisch fortbestehen, die Krise der Linkspartei weiter zu verwalten.

Ursache der Krise

Was in den Medien als ewig währender Kleinkrieg zwischen Wagenknecht und dem Rest der Partei dargestellt wird, ist in der Realität facettenreicher. Dennoch kann man den Kern des Konfliktes recht gut zusammenfassen. So lautet die Hauptfrage letzten Endes, was Sozialismus ist und wie man dahin kommt, wobei insbesondere die Rolle des bürgerlichen Staates eine tragende Rolle spielt. Dabei kann man im Groben drei Flügel ausmachen: Während der der Regierungssozialist:innen wie beispielsweise um Bodo Ramelow zwar verbal ab und zu den demokratischen Sozialismus erwähnt, besteht seine Politik in nichts anderem als einer linken Spielart der Sozialdemokratie. Offen und praktisch strebt er die Beteiligung an bürgerlichen Regierungen an – und letztlich, ohne Widerstand von einem anderen Flügel in der Partei erwarten zum müssen.

Die linkspopulistische Strömung um Sahra Wagenknecht hat gegen Regierungsbeteiligungen grundsätzlich nichts einzuwenden. Allenfalls wirft sie Ramelow und Co. vor, sich zu billig zu verkaufen. Sie versucht, sich als letzte Bastion der „Friedenspolitik“ der Linkspartei und als Anwältin der Lohnabhängigen und ihrer sozialen Nöte in Stellung zu bringen, was jedoch am national-zentrierten und sozial-chauvinistischen Charakter dieser Politik nichts ändert.

Als dritter Flügel hat sich in den letzten Jahren die sog. Bewegungslinke in Stellung gebracht, die im alten wie neuen Vorstand die meisten Mitglieder stellt.

Sie reklamiert für sich gern eine grundlegende Kritik an der faktischen Schwerpunktsetzung auf parlamentarische Arbeit, inklusive der in regionalen und kommunalen Vertretungen. Dieser bürgerlichen Realpolitik möchte sie eine andere entgegenstellen, die auf Mobilisierungen und Arbeit in sozialen Bewegungen setzt. Mehr als andere Strömungen beschwört sie auch das sozialistische Ziel – freilich nicht im Sinn einer Übergangsprogrammatik, sondern vielmehr als ein von der realen Arbeit DER LINKEN in Gestalt von Abgeordneten, Gewerkschafter:innen, Aktiven in sozialen Bewegungen losgelöstes in der Ferne.

Aber selbst die meisten Sprecher:innen der Bewegungslinken sehen darin kein Problem, weil auch für sie der „Sozialismus“ nur eine Vision darstellt, die erst in ferner Zukunft Realität werden kann. Derweil ist „Transformationsstrategie“ angesagt, also die mehr oder minder pragmatische Kombination von Regierungsbeteiligungen und Bewegungsaktivismus.

Was alle Flügel eint

Dass es ihr bei aller Beschwörung eines letztlich mehr moralisch verstandenen „Sozialismus“ nie um eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ging, gehört zum Gründungskonsens der Partei. Ganz wie die Sozialdemokratie oder der Labourismus verstand und versteht sie ihre Aufgabe in der „Reform“ des Kapitalismus, die über zahlreiche Fortschritte und Rückschläge nach einem langwierigen, im Kern aber graduellen Transformationsprozess zum Sozialismus führen soll.

Dieses Konzept ist, wie Geschichte und Degeneration der Sozialdemokratie verdeutlichen, historisch gescheitert und theoretisch vom Marxismus längst widerlegt. Das sozialistische Endziel der „Transformation“ dient natürlich auch nicht als reales, sondern vor allem als ideologische Beschwörungsformel, als utopische Begleitmusik zu den Niederungen der „Realpolitik“.

Wer jedoch ablehnt, die Herrschaft des Kapitalismus durch eine Revolution zu brechen, wer von der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und seiner Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte nichts wissen will, der/die ist letztlich gezwungen, auf den bürgerlichen Staat als Instrument der Veränderung zu setzen. Unter dieser Voraussetzung sind Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen notwendig, ja folgerichtig. Offen bleibt nur, ob der Kurs auf Rot-Grün-Rot aktuell oder erst zu einem „günstigeren“ Zeitpunkt opportun erscheint.

Innerhalb dieses Rahmens werden die Machtkämpfe der Partei ausgetragen. Dass sie aktuell so scharf ausfallen, hängt freilich damit zusammen, dass DIE LINKE selbst im bürgerlichen Spektrum zur Zeit wenig reüssieren kann und fraglich ist, wozu eine linkssozialdemokratische Partei neben dem SPD-Original überhaupt gebraucht wird. Da dies aber nicht in die Debatte des Parteitages einfloss, führt uns das zur Frage: Was wurde dann besprochen und beschlossen? Bevor wir auf die personellen Entscheidungen zu sprechen kommen, widmen wir uns den inhaltlichen Debatten.

Für oder gegen die NATO?

Zwar bemühte sich die bürgerliche Presse vorab, das Bild der Linkspartei als Putinversteherin zu zeichnen und auch, wenn es davon Mitglieder in der Partei geben mag, stellen sie nur einen marginalen Teil dar. Der Leitantrag 3 „Keine Aufrüstung, kein Krieg“ des Parteivorstandes bezüglich des Ukrainekrieges stellt dies ebenfalls mehr als deutlich klar. Dafür liegt eine andere Stolperschnur: die Rolle des westlichen Imperialismus und die Positionierung bezüglich der NATO. Im Antrag wird die Vorgeschichte des Krieges ausblendet, die NATO-Kritik fällt recht handzahm aus. Klare Forderungen, dass es keine NATO-Interventionen geben darf, oder gar Kritik an deren Plänen zur Osterweiterung sind nicht enthalten.

Eine Alternative dazu stellte der Ersatzantrag des linken Lagers dar, der scheinbar unter der Federführung von marx21, aber auch Mitarbeit der AKL stand und von Landesvorständen in Hessen und NRW sowie von einigen Kreisverbänden und vielen Delegierten unterstützt wurde.

In ihm heißt es: „Dieser Krieg ist nicht nur ein Krieg Russlands gegen die Ukraine, er ist auch ein Krieg um die Ukraine, nämlich ein Machtkampf zwischen der NATO (der EU und USA) auf der einen und Russland auf der anderen Seite.“ Der Antrag sprach sich zudem gegen einen Wirtschaftskrieg aus (in gesamter Länge hier nachzulesen: https://linke-gegen-krieg.de/).

Trotz breiten Bündnisses der linken Kräfte scheiterte der Ersetzungsantrag, bekam aber respektable 43 % der Delegiertenstimmen. Der Parteivorstand sah sich offenbar sogar gezwungen, die Parteilinke Wissler vorzuschicken, um den Leitantrag inhaltlich zu verteidigen und eine Mehrheit für den linken Antrag zu verhindern.

Weitere Anträge, die die Positionierung weiter in Richtung Waffenlieferungen oder gar Pro-NATO verschieben sollten, wurden ebenso abgelehnt wie solche, die Sanktionen insgesamt ablehnten wie beispielsweise der Antrag eines Sol-Mitgliedes aus Bad Cannstatt.

Auffällig dabei ist, dass der Jugendverband den rechten Flügel des Parteitags stellte und beispielsweise zu den Kräften gehörte, die gerne per se für Sanktionen und Waffenlieferungen wären.

Doch warum gibt es überhaupt die Debatte? Dieser Konflikt – und die Art, wie er ausgetragen wird – ist nur ein anderer Ausdruck der Krise der Linkspartei. Weil die Stimmen der Regierungssozialist:innen bereits vor dem Ukrainekrieg ihre NATO-Solidarität festgeschrieben hatten, da dies für mögliche Koalitionen auf Bundesebene notwendig wäre, zeigt sich auch hieran, wie fehlende Analyse und gemeinsame Methodik sich negativ auswirken können. Zwar lehnt DIE LINKE Waffenlieferungen und Kriegseinsätze ab, aber sie vermag den imperialistischen Charakter der deutschen und westlichen Politik nicht zu erkennen. Dennoch stellen die 43 % für den linken Antrag einen, wenn auch den einzigen Erfolg der Linken auf dem Parteitag dar und einen Ansatz, eine Opposition in der Partei um eine zentrale politische Frage herum zu formieren.

#linkemetoo

Einen anderen inhaltlicher Schwerpunkt stellte die Debatte zu #linkemetoo dar. Obwohl Gregor Gysi seine Redezeit nutzte, um geschlechtsinklusive Sprache zu kritisieren und es nach Wisslers Wahl zu empörten Ausrufen kam, wurde jedoch der Antrag „Den Grundkonsens erneuern. Für eine feministische LINKE“ angenommen. Inhaltlich setzt dieser positive Noten: Die sexualisierte Gewalt innerhalb der Linkspartei wird als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse begriffen. Das sei aber keine Entschuldigung, diese zu ignorieren, sondern bedeute, dass es Strukturen für den Umgang damit brauche – und diese zu schaffen, sei nicht nur Aufgabe von FLINTAs.

Was wohl eine Schwierigkeit ausmachen wird, ist die angedeutete Debatte bezüglich der Definitionsmacht. In dem Antrag selbst wird sich positiv auf die Unschuldsvermutung bezogen, eine klare Ablehnung der Definitionsmacht erfolgt im Umkehrschluss daraus jedoch leider nicht und wäre wohl hitziger diskutiert worden.

Schade an dieser Debatte insgesamt ist, dass sich die Linke zwar als Spiegel der Gesellschaft begreift, aber nicht die Konsequenzen daraus zieht, für gesamtgesellschaftliche Verbesserungen zu kämpfen. Die Neuerungen innerhalb der Partei, die Erarbeitung von Richtlinien und Sensibilisierung sind richtig und wichtig. Eine reale Verbesserung für Betroffene kann es aber nur geben, wenn z. B. fortschrittliche Reformen des Sexualstrafrechts erkämpft, Betroffene finanziell unterstützt werden oder die Möglichkeit zur Meldung von Übergriffen massiv vereinfacht wird. Zu unseren Vorschlägen siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/04/18/linkemetoo-aus-den-fehlern-lernen/.

Personalfragen

Insgesamt fokussierte sich die Partei auf Personalfragen. Als Vorsitzende wurde das Tandem aus Janine Wissler und Martin Schirdewan gewählt, also eine Neuauflage des letzten Vorsitzes mit Schirdewan statt Hennig-Wellsow. Die Kandidat:innen, die dem Wagenknecht-Flügel zugeschrieben wurden, haben je rund ein Drittel der Stimmen bekommen. Aber in der Wahl zum Parteivorstand konnten sie sich nicht durchsetzen.

Der Parteivorstand selbst wurde von 44 auf 26 Mitglieder verkleinert. Hier kritisiert die AKL zu Recht, dass es erneut keine Entscheidung gab, Ämter und Mandate zu trennen oder eine Kontrolle dieser Funktionen einzuführen. Die aktuelle Entwicklung wird eher als weitere Zentralisierung beschrieben. So schreibt sie: „Vor allem aber haben nun die Berufspolitiker*innen und Parlamentsfraktionen die Macht annähernd vollständig übernommen. Von den acht direkt gewählten geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern sind vier hauptberufliche Abgeordnete, zwei qua Amt Angestellte der Partei, ein Abgeordneten-Mitarbeiter und eine Gewerkschafts-Hauptamtliche. Im 18-köpfigen Restvorstand sind jeweils drei Abgeordnete, Mitarbeiter*innen bei Abgeordneten, bezahlt durch RL-Stiftung oder politische Initiativen sowie Gewerkschaftshauptamtliche, ein Beschäftigter bei der Partei. Dazu kommen zwei Studierende, eine Journalistin und ein Polizist im höheren Dienst.“

Allein das illustriert, dass die Partei fest im Griff einer Bürokratie steckt – und daran stößt sich bezeichnenderweise keiner der drei großen Flügel.

Ähnlich wie beim letzten Parteitag mischt die Bewegungslinke (BL) zahlenmäßig im Vorstand gut mit. Wer das anfangs noch als Linksverschiebung hätte deuten können, ist nach dieser Periode wohl vorsichtiger in der Bewertung. 11 Mitglieder im 26-köpfigen Vorstand werden ihr zugerechnet. Die zweitgrößte Gruppierung stellen die Regierungssozialist:innen, deren Ziel natürlich darin liegt, R2G zur Realität werden zu lassen. Zur zu erwartenden Praxis schreibt die AKL: „Das sind keine guten Ausgangsbedingungen, um die Krise der Partei zu lösen. Bereits nach den letzten Vorstandswahlen hatte die ‚Bewegungslinke’ eine Mehrheit im Parteivorstand, die sie aber in allen wichtigen Entscheidungen nicht nutzte, sondern regelmäßig vor der Fraktion und dem dort dominierenden ‚Hufeisen’ zurückruderte. In nur wenigen Monaten zerlegte sich diese Parteivorstandsmehrheit. Es steht zu fürchten, dass sich das wiederholt.“

Was sagen die Zentrist:innen?

Während sich marx21 bereits vor dem Parteitag mit Optimismus nicht zurückhalten konnte, sieht es bei SAV und Sol anders aus. Beide Gruppen bewerten den Parteitag mit gemischten Gefühlen und halten fest, dass der versprochene Krisenparteitag ausblieb, um „Weiter so!“ zu verfahren, was der Partei letztendlich schadet. Die Konsequenzen bleiben jedoch schwammig. So setzt die SAV weiter Hoffnungen in die Bewegungslinke und schreibt: „Wenn die Bewegungslinke für eine Partei kämpft, die sich auf Bewegungen orientiert, ihr politischer Ausdruck sein kann, mit dabei hilft, die Arbeiter*innenbewegung aufzubauen, sich auf die kommenden Proteste gegen steigende Lebenskosten, die Klimakrise, noch mehr zwischen-imperialistische Kriege vorbereitet, und darin für eine sozialistische Gesellschaftsalternative kämpft, kann die vereinte Parteilinke DIE LINKE noch retten. Die Bewegungslinke muss dafür allerdings ihre Hasenfüßigkeit gegenüber den Reformer*innen ablegen.“

Das klingt zwar schön. Doch nicht nur das Verhalten der Bewegungslinken seit ihrer Gründung hat gezeigt, dass die Mitglieder zwar motiviert sein mögen und einzelne inhaltlich gute Forderungen aufwerfen, aber in zentralen Fragen einknicken – und zwar nicht nur wegen persönlich-pragmatischen Opportunismus‘, sondern auch, weil es der inneren Logik der sog. Transformationsstrategie, also der strategischen Ausrichtung dieser Strömung entspricht.

Um Druck auf die Bewegungslinken aufzubauen, reichen Vorschläge für gemeinsame Aktionen nicht – es bedarf auch einer Kritik ihrer grundlegenden, reformistischen Strategie, um die Notwendigkeit eines Bruchs mit dieser Spielart des Reformismus deutlich zu machen.

Die Sol hält sich fast noch bedeckter, wenn sie in einem Auswertungsartikel schlussfolgert: „Sol-Mitglieder haben auf dem Parteitag als Delegierte für konsequente sozialistische Positionen gestritten. Wir konnten 61 Zeitungen verkaufen und für mehrere hundert Euro Literatur des Manifest-Verlags verkaufen. Eine Reihe von Parteimitgliedern wollen mit der Sol die Diskussion darüber fortsetzen, wie es mit der LINKEN weitergehen kann und wie eine starke sozialistische Kraft in der Bundesrepublik aufgebaut werden kann.“

Schön für die Sol. Ein Konzept zum Kampf für eine revolutionäre Position ist das aber nicht.

Zusammengefasst heißt das: marx21 will beim Postenschacher nicht außen vor bleiben, ignoriert die Rechtsentwicklung der Partei und setzt weiter auf die Bewegungslinke und das Prinzip Hoffnung. Von der Krise wird zwar gesprochen, gleichzeitig aber jeder kleinster Gewinn als Schritt Richtung Sozialismus gefeiert.

Die anderen Kräfte sind an dieser Stelle realistischer in ihrer Einschätzung, aber vage und unzulänglich bezüglich der Konsequenzen.

DIE LINKE und der Kampf für revolutionäre Politik

Der Parteitag verdeutlicht einmal mehr, dass sich die Linkspartei in einer Existenzkrise befindet – egal, ob nun die „populäre Linke“ um Sahra Wagenknecht austritt oder nicht. Es mag der Krise nur eine andere, schockartige Form verleihen. Ansonsten geht einfach das politische Siechtum weiter, bei dem ein Teil der Linken auf der Straße sein mag, die anderen eben in den Parlamenten und nicht so wenige an Regierungen oder Kommunalverwaltungen zu finden sind.

Grundsätzlich müssen wir aber festhalten: Wer denkt, dass aus der Linken noch eine sozialistische Arbeiter:innenpartei wird, die diesen Namen verdient, kann auch auf eine parallele Sonnen- und Mondfinsternis warten. Falls revolutionäre Linke in oder außerhalb der Linkspartei mehr erreichen wollen, als einzelne Mitglieder für sich zu gewinnen, sondern die Krise der Partei zu nutzen anstreben zwecks Formierung einer größeren politischen Kraft, die unzufriedene, klassenkämpferische, antiimperialistische Mitglieder sammelt und politisch formiert, steht sie vor mehreren miteinander verbunden Aufgaben.

1. Die kämpferischen Elemente müssen um konkrete Kampagnen aktiv formiert werden

43 % für den linken Antrag gegen den Krieg zeigen, dass es in der Linkspartei hunderte, wenn nicht tausende Aktive gibt, die zumindest per Unterschrift für eine Politik gewinnbar sind, die die Invasion des russischen Imperialismus in der Ukraine verurteilt und zugleich gegen die westliche imperialistische Politik von NATO, USA, EU und Deutschland angehen will.

Doch damit die 43 % nicht nur in den Protokollen des Parteitages auftauchen, müssen sie zu einer Kraft formiert werden, die aktiv eine Bewegung gegen den Krieg und die mit ihm verbundene ökonomische Krise, Preissteigerungen oder drohende Schließungen von Betrieben aufbaut. Eine solche müsste auch aktiv in den Gewerkschaften gegen Sozialpartner:innenschaft und nationalen Schulterschluss und für eine Politik des Klassenkampfes auftreten.

2. Formierung um ein revolutionäres Aktionsprogramm

Um eine politische Alternative zur reformistischen, bürokratischen Strategie der Parteiführung auszuarbeiten, reichen Kampagnen um einzelne Forderungen aus zwei Gründen nicht. Erstens werfen in der aktuellen Periode die großen Frage des Klassenkampfes – ökologische Katastrophe, massive Preissteigerungen, Flucht/Migration, Krieg, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, um nur einige zu nennen – die Eigentumsfrage und die nach der Reorganisation der Gesellschaft selbst, also nach dem Kampf gegen den Kapitalismus, auf. Eng damit verbunden sind die Fragen nach einem Verständnis des Imperialismus als globaler kapitalistischer Ordnung wie nach dem Charakter des bürgerlichen Staates und der sozialistischen Revolution.

Kurzum, es braucht ein Programm, eine Antwort, die diese Fragen verbindet und ein System von Übergangsforderungen, das eine Brücke vom Kampf gegen aktuelle Angriffe und für Verbesserungen mit dem für eine sozialistische, revolutionären Umwälzung darstellt.

Zweitens bedarf es einer grundlegenden Alternative zur Politik der Linken selbst, eines politisch-programmatischen Gegenentwurfs zum Erfurter Programm und zur Transformationsstrategie – vom pragmatischen Regierungssozialismus und Linkspopulismus ganz zu schweigen. Genau dieser Aufgabe haben sich die Linken in der Linkspartei bisher nicht gestellt. Die Bewegungslinke macht – bestenfalls – aus der Not, dem Fehlen eines eigenen Programms, eine Tugend. Auch die AKL vermochte über Jahre (!) nichts vorzulegen. Marx21, SAV und Sol haben sich der Aufgabe entweder erst gar nicht gestellt oder nur halbherzig.

3. Vorbereitung eines Bruchs

In der gegenwärtigen Lage muss das Ziel einer solchen Formierung der politisch-programmatisch organisierte Bruch mit der Linkspartei sein, um in dieser Auseinandersetzung isolierte, politisch ratlose Mitglieder zu sammelen, so dass nicht nur einzelne unabhängig voneinander und frustriert austreten, sondern dies in DER LINKEN und in [’solid] einen organisierten Charakter annimmt.

Gerade die Auseinandersetzung in der Partei und um einen Fraktionskampf wäre auch wichtig, um das Bewusstsein und die politische Ausrichtung zu klären und Genoss:innen, die bisher nur das politische Leben in einer weitgehend passiven reformistischen Partei kennen, auf eine Zukunft nach der Linkspartei vorzubereiten.

In diesen Prozess sollten von Beginn an auch alle revolutionären Kräfte außerhalb der Linkspartei einbezogen werden, die das Ziel einer revolutionären, kommunistischen Umgruppierung auf Basis gemeinsamen Eingreifens in den Klassenkampf und einer klaren programmatischen Grundlage teilen. Dabei darf, um nicht den Fehler der Linkspartei selbst zu wiederholen, die Diskussion der bestehenden, teilweise sehr tiefen politischen, theoretischen und programmatischen Differenzen unter den verschiedenen Strömungen mit revolutionärem Anspruch nicht hintangestellt werden. Sie müsste vielmehr selbst in die Programmdebatte integriert werden.

Die drei Punkte wie auch unser eigenes Programm wollen wir als Arbeiter:innenmacht in einen solchen Prozess, sollte er zustande kommen, einbringen. Wir verstehen dies nicht als Vorbedingung, wohl aber als Beitrag, der alle anderen Strömungen in- und außerhalb der Linkspartei zur Diskussion darüber auffordert, die das Ziel der Schaffung einer revolutionären Alternative zum Reformismus im Hier und Jetzt angehen wollen.




Der Parteitag der Linkspartei – Vorwärts dem Ende entgegen?

Martin Suchanek, Infomail 1191, 24. Juni 2022

„Gemeinwohl statt Profit. Klimagerechtigkeit statt Aufrüstung. DIE LINKE ist bereit für die neue Zeit“ – so der Titel des Leitantrages zum Parteitag, der vom 24. bis 26. Juni in Erfurt tagt. Angesichts der Existenzkrise der Partei, die auch von ihren Parteigänger:innen längst nicht mehr bestritten wird, setzt der Vorstand DER LINKEN auf eine weitere hoffnungsfrohe Beschwörungsformel. Dass DIE LINKE für die „neue Zeit“ bereit sei, glaubt schließlich kaum jemand, sodass dieser und ähnliche Titel fast schon wie eine unfreiwillige Parodie daherkommen.

Was das kommende Wochenende betrifft, scheint das Ziel der Parteiführung vor allem darin zu bestehen, dass der Laden ohne weiteren größeren öffentlichen Eklat die Tagung übersteht. Immerhin darin dürften sich im Großen und Ganzen die drei Hauptströmungen der Partei – Bewegungslinke, Regierungssozialist:innen und Linkspopulist:innen – einig sein. Nicht nur der Leitantrag, sondern auch die politischen Vorschläge der jeweiligen Strömungen sind so gehalten, dass sich tiefere Differenzen eher darin finden, was nicht offen ausgesprochen wird, was nicht drin steht, als was verkündet wird.

Natürlich wird es auch kontroverse Wortmeldungen und, sofern der Begriff angesichts der Parteitagschoreographie angebracht ist, „Debatten“ geben. Grund dafür gäbe es genug, schließlich unterscheiden sich die drei Hauptströmungen der Partei erheblich und drängen bei fast allen wichtigen Fragen in verschiedene Richtungen. Eine offene Debatte um die grundlegenden Probleme oder gar Differenzen will jedoch zu diesem Zeitpunkt keine dieser Kräfte – und sei es, weil keine weiß, was sie bei einem Zerfall der Partei tun sollte. Daher wird es in Erfurt allenfalls zu einem Kräftemessen, keinesfalls zu einer allzu offenen Konfrontation und schon gar nicht zu einer Entscheidung kommen. Die Fortsetzung der aktuellen Hauptform der Parteikrise, ihre Daueragonie, ist vorprogrammiert.

Die Strömungen

Die linkspopulistische Strömung um Sahra Wagenknecht versucht, sich als letzte Bastion der „Friedenspolitik“ der Linkspartei und als Anwältin der Lohnabhängigen und ihrer sozialen Nöte in Stellung zu bringen. In der Vergangenheit fielen dabei gerade Wagenknecht und Lafontaine mit chauvinistischen Ausfällen auf. Vor dem Parteitag wird in den Anträgen Zurückhaltung geübt, um Kräfte um den Aufruf „Für eine populäre Linke“ zu sammeln. Man behilft sich mit dem Gemeinplatz, dass sich DIE LINKE nicht auf „Milieus“ verengen dürfe. Das ist natürlich richtig und wird wohl in dieser Allgemeinheit von niemandem/r bestritten. Zur Klärung der Sache trägt es jedoch auch nichts bei. Darum geht es aber auch nicht, sondern vielmehr um die Sammlung der eigenen Strömung. Das Hantieren mit solchen Formeln ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal dieses Flügels.

Auch wenn die Linkspopulist:innen seit dem letzten Parteitag die Führung in NRW verloren haben, so sind sie nach wie vor in einzelnen Landesverbänden wie Niedersachsen stark und stellen zentrale Führungspositionen in der Bundestagsfraktion, gemeinsam mit einem Teil der „Reformer:innen“ um Bartsch.

Die Bewegungslinke wiederum stellt seit dem letzten Parteitag einen bedeutenden Teil des bestehenden Vorstandes. Für sie geht es bei der Neuwahl der Führung also nicht nur um Janine Wissler als Vorsitzender, sondern auch um ihre relative Stärke auf Bundesebene. Sie reklamiert für sich gern eine grundlegende Kritik an der faktischen Schwerpunktsetzung auf parlamentarische Arbeit, inklusive der in regionalen und kommunalen Vertretungen. Dieser bürgerlichen Realpolitik möchte sie eine andere entgegenstellen, die auf Mobilisierungen und Arbeit in sozialen Bewegungen setzt. Mehr als andere Strömungen beschwört sie auch das sozialistische Ziel – freilich nicht im Sinn einer Übergangsprogrammatik, sondern vielmehr als ein von der realen Arbeit DER LINKEN als Abgeordnete, Gewerkschafter:innen, Aktive in sozialen Bewegungen losgelöstes in der Ferne.

Aber selbst die meisten Sprecher:innen der Bewegungslinken sehen darin kein Problem, weil auch für sie der „Sozialismus“ nur eine Vision darstellt, die erst in ferner Zukunft Realität werden kann. Derweil ist „Transformationsstrategie“ angesagt, also die mehr oder minder pragmatische Kombination von Regierungsbeteiligungen und Bewegungsaktivismus.

Wie fragwürdig ihr „linker Kurs“ jedoch ausfällt, zeigt schon, dass sie faktisch an einer Art friedlicher Koexistenz mit den Reformier:innen festhält. In den letzten Jahren teilten sie sich faktisch die Vorsitzendenposten – zunächst Riexinger/Kipping, dann Wissler/Hennig-Wellsow. Nun soll das Tandem Janine Wissler für die Bewegungslinke und Martin Schirdewan, der dem Reformerflügel zugerechnete Europa-Abgeordnete, übernehmen.

Die Regierungssozialist:innen und Reformer:innen bleiben, wie so oft, in den grundlegenden und programmatischen Fragen vage und formelhaft. Unter „Erneuerung“ verstehen sie Anpassung, vorzugsweise an die bürgerliche Mitte, um so alle Hindernisse für eine Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zu beseitigen. Konkrete Programme oder gar verpflichtende Festlegungen brauchen sie allenfalls gegen andere Strömungen und vor allem linke Kräfte. Ansonsten ist ihr Programm vor allem das realpolitische Manöver in Parlamenten und noch mehr an Regierungen.

Personalfragen

Daher gilt auch als die eigentlich spannende Frage auf dem Parteitag nicht, welche Änderungen zu den Leitanträgen angenommen oder abgelehnt werden. Vielleicht können einige der wenigen linken Anträge, die aus der AKL oder aus Verbänden unter dem Einfluss linker Gruppierungen wie der SAV oder der Sol stammen, sogar Achtungserfolge erringen – sofern sie es überhaupt über die Hürden der Parteitagsregie schaffen. Letztlich ist das für die Veranstaltung nebensächlich.

Auch wenn die Partei nicht weiß, wohin es gehen soll, auch wenn es an einer klaren Linie fehlt und diese auch durch weitere Appelle an eine imaginierte Einheit nicht erreicht werden kann, so wissen wir am 26. Juni wenigstens, wer der Partei vorstehen wird.

Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Wissler/Schirdewan das Rennen machen werden. Aber das Ergebnis der wichtigsten Gegenkandidat:innen Sören Pellmann (Bundestagsabgeordneter aus Leipzig) und Heidi Reichinneck (Vorsitzende der LINKEN Niedersachsen), die beide dem Wagenknecht-Lager nahestehen, wird auch Aufschluss über das Kräfteverhältnis geben. Erst recht trifft das auf die Wahlen zum Parteivorstand zu, auch wenn sich alle klar darüber sein müssen, dass dieser keineswegs das alleinige, ja nicht einmal das entscheidende Machtzentrum der Organisation darstellt. Die Bundestagsfraktion und vor allem deren Spitze stellen in der Öffentlichkeit und für die Politik der Partei wohl ein bedeutenderes Gremium dar als die eigentliche Parteiführung. Die Landtagsfraktionen führen ein realpolitisches Eigenleben, das Vorstand und Parteitage nur marginal tangieren. Wo die Linkspartei in Landesregierungen vertreten ist oder gar wie in Thüringen den Ministerpräsidenten stellt, spielen Beschlüsse oder Programme, die dieser Praxis eigentlich widersprechen, keine Rolle.

Charakter der Partei

Das ist natürlich nicht erst seit jüngster Vergangenheit so, es war in der LINKEN (und in ihrer Vorgängerpartei PDS) immer der Fall. Das spiegelt letztlich den Charakter der Gesamtpartei als reformistischer, als bürgerlicher Arbeiter:innenpartei wider. Zur Ehrenrettung DER LINKEN muss hier angeführt werden, dass sie selbst ihren bürgerlich-reformistischen Charakter nie bestritten hat. Dass es ihr bei aller Beschwörung eines letztlich mehr moralisch verstandenen „Sozialismus“ nie um eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ging, gehört zu ihrem Gründungskonsens. Ganz wie die Sozialdemokratie oder der Labourismus verstand und versteht die Linkspartei ihre Aufgabe in der „Reform“ des Kapitalismus, die über zahlreiche Fortschritte und Rückschläge nach einem langwierigen, im Kern aber graduellen Transformationsprozess zum Sozialismus führen soll.

Dieses Konzept ist, wie die Geschichte und Degeneration der Sozialdemokratie verdeutlichen, historisch gescheitert und theoretisch vom Marxismus längst widerlegt. Das sozialistische Endziel der „Transformation“ dient natürlich auch nicht als reales, sondern vor allem als ideologische Beschwörungsformel, als utopische Begleitmusik zu den Niederungen der „Realpolitik“.

Wer jedoch ablehnt, die Herrschaft des Kapitalismus durch eine Revolution zu brechen, wer von der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und seiner Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte nichts wissen will, der ist letztlich gezwungen, auf den bürgerlichen Staat als Instrument der Veränderung zu setzen. Unter dieser Voraussetzung sind Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen notwendig, ja folgerichtig. Offen bleibt nur, ob der Kurs auf Rot-Grün-Rot aktuell oder erst zu einem „günstigeren“ Zeitpunkt opportun erscheint.

Wie gesagt, der großen Mehrheit der Linkspartei kann niemand vorwerfen, dass sie aus ihrem positiven Bezug auf die bürgerliche Demokratie und den bürgerlichen Staat ein Geheimnis gemacht hätte. Wohl aber muss die Linken in der Linkspartei – insbesondere all jene, die vorgeben, in der Tradition des revolutionären Marxismus zu stehen – der Vorwurf treffen, dass sie selbst vor dieser Erkenntnis nur allzu gern die Augen verschlossen und so getan haben, als wäre die Frage des Klassencharakters der Partei noch offen.

Jetzt, wo bei der Linkspartei die Lichter auszugehen drohen, wird zumindest in AKL, SAV und Sol die Frage aufgeworfen, ob es nicht Zeit ist, das lecke Schiff zu verlassen. Diese Gruppierungen machen sich immerhin keine oder relativ wenig Illusionen in die Bewegungslinke, während marx21 tapfer daran festhält, dass DIE LINKE mit gutem Willen und harter Arbeit zu einer Bewegungspartei transformiert werden könnte.

Ursachen für die Existenzkrise

Das die Linkspartei heute vor eine Existenzkrise steht, hat etwas mit ihren inneren politischen Differenzen zu tun. Aber das allein erklärt die Krise nicht. Widersprüche, Gegensätze, verschiedene reformistische Flügel gab es von Beginn an, zum Teil größere, zum Teil sogar heftigere.

Verändert haben sich aber die Haltung der Lohnabhängigen zur Partei und die politische Gesamtlage. Erstens konnte sich DIE LINKE in den ersten Jahren als Partei der Hoffnung gerade für untere Schichten der Arbeiter:innenklasse verkaufen. Unter den Arbeitslosen und schlechter bezahlten Lohnabhängigen verfüge sie über eine starke Wähler:innenbasis, auch weil sie als Anti-Hartz-IV-Partei einigermaßen glaubwürdig in Erscheinung trat. Ihre Gewinne bei den Wahlen gingen vor allem auf Kosten der SPD.

Doch diese Lage hat sich längst verändert – und zwar nicht, weil sich die LINKE anderen Milieus zugewandt hätte, sondern weil sie sich als Partei entpuppte, die an Regierungen das Elend der „Arbeitsmarktverwaltung“ eben auch nur mitgestaltete und nicht beseitigte. An den Regierungen war und ist sie von SPD und Grünen kaum zu unterschieden. Ihr oppositioneller Bonus verblasste und zwar nicht, weil er über Bord geworfen wurde, sondern weil sich die inneren Widersprüche DER LINKEN als bürgerlicher Arbeiter:innenpartei vor den Augen der Arbeiter:innenklasse entfalteten. Sie entpuppte sich als das, was sie immer war: eine Partei, die sich sozial, historisch, organisch auf Teile der Lohnabhängigen stützt, deren Politik jedoch bürgerlich ist, also auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung und seines politischen Systems steht.

Die Mitverwaltung des Kapitalismus in Landesregierungen unterminierte nicht nur das Standing der Partei gerade unter den unteren Schichten der Klasse, sondern auch ihre Unterscheidbarkeit zur SPD. Immer weniger wurde sie Anziehungspunkt für Sozialdemokrat:innen, zumal, wenn diese einen kleinen „Linksschwenk“ unternahm. Die Verluste an traditioneller Gefolgschaft der Linkspartei konnten zwar durch eine Gewinnung neuer Aktivist:innen vor allem in Westdeutschland unter Jugendlichen, sozial unterdrückten Teilen der Klasse, aber auch unter Gewerkschafter:innen ausgeglichen werden. Insgesamt stagnierte DIE LINKE jedoch bestenfalls zahlenmäßig.

Von ihren rund 60.000 Mitgliedern sind fast 6.000, also rund 10 %, als gewählte Abgeordnete oder Vertreter:innen in Parlamenten, Landtagen und kommunalen Körperschaften aktiv. Bedenken wir weiter, dass eine Mehrheit der Partei passiv ist, also nicht regelmäßig am Parteileben teilnimmt, so ist schon auf dieser Ebene die Frage nach dem Schwerpunkt der Politik der Partei entschieden. Diese reale und auch angestrebte Einbindung der Partei in den bürgerlichen Staatsapparat und Politikbetrieb findet ihre Entsprechung und Ergänzung in einem vergleichsweise großen Apparat, der staatlich über Parteienförderungen und Stiftungen finanziert ist, und in der Einbindung eines Teils der Funktionär:innen in den Gewerkschaftsapparat.

Es gehört zum düsteren Sittenbild einer bürgerlich-reformistischen Apparatpartei, dass auch sexuelle Übergriffe systematisch auftreten. Im Artikel #LinkeMeToo: Aus den Fehlern lernen! haben wir uns ausführlicher mit dem Umgang damit in der Partei beschäftigt und eigene Vorschläge unterbreitet, wie sexistische und sexuelle Übergriffe und Formen der Gewalt in der Linken und Arbeiter:innenbewegung bekämpft werden sollten. Die Dominanz des Apparates stellt dabei ein zusätzliches Hindernis für die Bekämpfung von Sexismus und allen anderen Formen der Unterdrückung dar, weil Aufstieg und Auswahl von einer Bürokratie bestimmt werden (selbst wenn es formale Wahlen geben sollte).

Die Partei findet sich, wie wir oben gezeigt haben, fest in den Händen einer Bürokratie.

Die Gegensätze von Bewegungslinker, Regierungssozialismus und Linkspopulismus sind solche von Strömungen innerhalb des Reformismus wie auch Apparates. Ihr Kampf ist keinesfalls nur, ja nicht einmal in erster Linie einer um Ideen und Programm, sondern auch um den Anteil an den bürokratischen Posten und Wahlämtern, die die Partei noch zu bieten hat.

Es ist aber kein Zufall, dass sich die aktuellen Strömungen der Partei um die sog. „Flüchtlingskrise“ und mit dem Rechtsruck in der Gesellschaft formierten. Ein Teil der Linkspartei trat verbal für offene Grenzen und Solidarität mit den Geflüchteten ein. Die Regierungssozialist:innen gaben sich antirassistisch in Worten und ließen stillschweigend weiter abschieben. Der populistische Flügel trat auf den Plan und äußerte Verständnis für Chauvinismus und Rassismus und machte im Namen der „normalen“ Menschen gegen offene Grenzen Stimmung.

Seither lässt sich fast bei jeder wichtigen politischen Frage verorten, dass die verschiedenen Flügel der Linkspartei unterschiedliche Positionen und Standpunkt einnehmen, von einem relativ fortschrittlichen Linksreformismus bei der Bewegungslinken über einen liberal-aufgeklärten Sozialreformismus bei den Regierungssozialist:innen zu einem Linkspopulismus, der Verteidigung des „Sozialstaates“ und der „sozialen“ Marktwirtschaft mit Chauvinismus kombiniert.

Der Krieg um die Ukraine, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten und die globale ökonomische Krise spitzen die Frage weiter zu, auch weil die großen weltgeschichtlichen Fragen selbst wenig Spielraum für reformistische, gut gemeinte Beschwörungsformeln lassen. Angesichts von Krieg, wirtschaftlicher Krise und fortschreitender ökologischer Katastrophe wäre ein Aktionsprogramm notwendig, ein System von Übergangsforderungen, das den Kampf gegen den imperialistischen Krieg, gegen Militarisierung und Aufrüstung, gegen das Erstarken des deutschen Imperialismus mit dem gegen Inflation, Gesundheits- und Umweltkrise und andere Angriffe verbindet. Ein solches Programm müsste die Frage nach Enteignung der großen Kapitale unter Arbeiter:innenkontrolle, nach einer planwirtschaftlichen Reorganisation von Produktion und Reproduktion gemäß der Bedürfnisse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit ins Zentrum stellen. Es müsste ein Programm des Klassenkampfes entwickelt werden, das in den Gewerkschaften und Betrieben den Kampf für eine klassenkämpferische Opposition ins Zentrum stellt, zum Aufbau von Aktionskomitees gegen Krieg und Krise aufruft, um die Massenorganisationen der Klasse zum Handeln bis hin zum politischen Massenstreik zu treiben.

Die Linkspartei wird das nicht tun. Alle ihre dominierenden Flügel bewegen sich nicht in diese Richtung, egal wie die Wahlen zum Parteivorstand ausgehen werden. Statt eines Aufbruchs in eine „neue Zeit“ wird es für die Linkspartei mit Agonie weitergehen. Bei allem Beschwören von Einheit und eines „strategischen Zentrums“ werden die vielen Stimmen nicht verstummen, weil die verschiedenen Strömungen in unterschiedliche Richtungen drängen, weil die Partei ihre verbliebenen Positionen im Parlament und in den Landtagen, also gemeinsame Pfründe, noch zusammenhalten. Eine strategische Ausrichtung, geschweige denn ein tragfähiges Programm kann das nicht ergeben.

Für jene Linken in der Linkspartei, die sich der Todeskrise der Partei bewusst werden, stellt sich jedoch nicht erst mit dem Parteitag die Frage: wie weiter? Und das ist vor allem eine programmatische Frage. Ob die Linkspartei als reformistische Partei überlebt oder nicht, hängt sicher nicht nur von politischen Klärungen ab. Eine Krise der Ampel-Koalition und/oder der SPD, Risse zwischen Regierung und Gewerkschaften für den Fall, dass Inflation und Krise immer weniger abgedämpft werden können, könnten selbst einer Linkspartei im Siechtum eventuell einen gewissen Aufschwung bringen. Die Probleme löst das aber nicht nicht.

Für alle antikapitalistischen Kräfte, für alle, die in der AKL und anderen anderen linken Strömungen agieren, stellt sich die Frage nach einem Kampf gegen den Apparat auf einer klaren programmatischen Grundlage. Es ist aber deutlich, dass eine solche Auseinandersetzung vor allem darauf zielen müsste, Kräfte für den Bruch mit der Linkspartei zu sammeln und gemeinsam mit antikapitalistischen Kräften, die gegen Krieg und Krise kämpfen, in Diskussion um die Erarbeitung eines Aktionsprogramms und die Grundlagen einer revolutionären Alternative zur Linkspartei zu treten.




Die Wahlen im Saarland und die Agonie der LINKEN

Stefan Katzer, Infomail 1184, 4. April 2022

Als das Ergebnis der Wahl im Saarland feststand, herrschte unter den ansonsten zerstrittenen Flügeln der Partei plötzlich große Einigkeit: Als „desaströs“ und „katastrophal“ wurde das Abschneiden der Linken strömungsübergreifend bewertet. Und in der Tat: ein Verlust von 10,3 % und damit ein Absacken der Stimmenanteile von 12,9 % auf 2,6 % kann kaum anders bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund, dass es der LINKEN im Saarland einst gelungen ist, über 20 % der Stimmen auf sich zu vereinen (2009: 21,3 %), ist dieses Ergebnis für die Linkspartei, die nun nicht einmal mehr im Landtag vertreten sein wird, umso bitterer. Doch auch wenn dieser Absturz deutlich heftiger ausfiel als von vielen Linken erhofft – wirklich überraschend kam er nicht.

Tendenz: sinkend

Bereits bei der letzten Bundestagswahl hat DIE LINKE herbe Verluste (- 4,3 %) eingefahren und ist mit einem Stimmenanteil von 4,9 % nur deshalb in den Bundestag eingezogen, weil sie zugleich drei Direktmandate gewinnen konnte. Zu diesem bundesweiten Abwärtstrend kamen die besonderen Bedingungen im Saarland hinzu. Dort hatte ein von persönlichen Animositäten geprägter Streit innerhalb der Partei zu einer Spaltung der Fraktion und schließlich zum medienwirksamen Parteiaustritt von Oskar Lafontaine geführt. Lafontaine, der an den Erfolgen der LINKEN im Saarland sicherlich großen Anteil hatte, hatte zudem dazu aufgerufen, DIE LINKE nicht mehr zu wählen und dies mit Verweis auf die Abkehr der Partei von einer linken Sozial- und Friedenspolitik politisch zu begründen versucht.

Tatsächlich scheinen einige Tausend (ehemalige) LINKE-Wähler:innen Lafontaines Ratschlag gefolgt zu sein: immerhin 13.000 Stimmen verlor DIE LINKE an das „Lager“ der Nichtwähler:innen. Noch mehr DIE LINKE-Wähler:innen  (18.000) wechselten jedoch zur SPD, die mit einem Stimmenanteil von 43,5 % die mit Abstand stärkste Kraft wurde und – aufgrund der undemokratischen 5 %-Hürde – damit sogar eine absolute Mehrheit der Sitze im saarländischen Landtag erringen konnte. Der restliche Anteil  derjenigen, die 2017 noch DIE LINKE gewählt haben und nun zu einer anderen Partei gewechselt sind, verteilt sich recht gleichmäßig auf die Grünen (4.000), die AfD (4.000) und die CDU (3.000). Ein nicht unerheblicher Teil (6.000) ehemaliger LINKEN-WählerInnen ist seit der letzten Wahl zudem verstorben.

Der Linkspartei ist es andererseits kaum gelungen, Wähler:innen anderer Parteien von sich zu überzeugen oder Nicht- bzw. Neuwähler:innen zu mobilisieren, sodass sie lediglich je 1.000  Wähler:innen von SPD und CDU an sich binden bzw. je 1.000 Erst- und Nichtwähler:innen mobilisieren konnte.

Schaut man sich die Ergebnisse in Bezug auf die soziale Stellung bzw. Klassenzugehörigkeit der Wähler:innen an, wird deutlich, dass es vor allem der SPD gelungen ist, überproportional viele Arbeiter:innen (49 %) (https://www.rnd.de/politik/saarland-wahl-2022-spd-siegt-in-fast-allen-bevoelkerungsgruppen-nur-eine-ausnahme-3CPPBYNKWZA5ZIIYPR2HDFJOUQ.html) bzw. Gewerkschafter:innen (49,1 %) für sich zu gewinnen. Auch DIE LINKE ebenso wie die AfD konnten bei Gewerkschafter:innen überproportional punkten: 2,8 % wählten die LINKE (gegenüber 2,6 % Gesamtstimmenanteil), 6,8 % die AfD, die insgesamt auf 5,8 % der Stimmen kam (https://www.dgb.de/themen/++co++960c1212-ae88-11ec-b676-001a4a160123).

Wie weiter?

Eine wichtige Frage, die sich die LINKE nun stellen muss und mit Verweis auf den Austritt Oskar Lafontaines alleine nicht beantwortet werden kann, ist die, warum es der Partei nicht gelungen ist, die (SPD-)Wähler:innen, die mit Oskar Lafontaine gekommen sind, auch nach dessen Austritt bei sich zu halten. Sicherlich spielen Persönlichkeiten in der Politik eine Rolle, doch die Frage bleibt, weshalb es nicht gelungen ist, diese Wähler:innen vom Programm der LINKEN zu überzeugen und diese dadurch an die Partei zu binden. Eine damit im Zusammenhang stehende Frage ist die nach den Gründen dafür, dass der große Teil der ArbeiterInnen die SPD (und sogar die AfD) der Linken vorzieht. Ist dies allein darauf zurückzuführen, dass während des Wahlkampfes die Frage im Zentrum stand, wer der/die nächste Ministerpräsident:in wird und davon insbesondere die SPD profitieren konnte?

Die Bundesvorsitzenden der LINKEN, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow, haben noch andere Erklärungen für das desaströse Abschneiden der LINKEN im Saarland parat. Im Vordergrund ihrer Analyse (https://www.youtube.com/watch?v=Mqt2EYeCrWc) stand die Feststellung, dass zerstrittene Parteien nun mal nicht gewählt würden. Deshalb sei es jetzt notwendig, solidarisch miteinander umzugehen, Konflikte produktiv auszutragen und nach außen geschlossen aufzutreten. Es gelte das, wofür die Partei stehe, in den Vordergrund zu rücken und gemeinsam für soziale Gerechtigkeit, faire Bildungschancen, gegen Aufrüstung etc. einzustehen. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die Linkspartei muss sich als bessere reformistische Kraft, letztlich als bessere SPD profilieren, um in Zukunft bei Wahlen erfolgreich zu sein.

Getrennt marschieren – vereint verlieren?

Geschlossenheit lässt sich jedoch nicht herbeireden. DIE LINKE besteht derzeit de facto aus drei Flügeln, die unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wohin sie sich entwickeln sollte und wie sie dort hinkommen kann. Während ein Teil offen für Regierungsbeteiligungen und alle dazu notwendigen Kompromisse (Fortbestehen der NATO, Auslandseinsätze der Bundeswehr etc.) eintritt, gibt es andere, die dies strikt ablehnen. Vertritt der linkspopulistische Flügel um Wagenknecht sozialchauvinistische Positionen und fordert eine Abkehr von angeblich kleinbürgerlicher „Minderheitenpolitik“, stehen andere (zumindest auf dem Papier) für offene Grenzen und internationale Solidarität. Während ein Teil auf die „Arbeit“ im Parlament und die Gewinnung von Mandaten fokussiert, strebt die sog. „Bewegungslinke“ eine stärkere Orientierung auf soziale Bewegungen an.

Auch wenn es nötig ist, diese innere Differenziertheit zu bedenken, um die nur notdürftig überdeckten und immer wieder offen aufbrechenden Konflikte innerhalb der Partei einordnen zu können, so vertritt DIE LINKE insgesamt ein reformistisches Programm. Dieses beinhaltet zwar offiziell auch die Überwindung des Kapitalismus als Zielvorstellung, real fokussiert sich die Partei aber auf einen „Ausgleich“ der sozialen Interessen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Real ist sie (auf kommunaler und Landesebene) bereits seit langem eingebunden in die Mitverwaltung des Kapitalismus. Vor der Bundestagswahl hat die Führung der Partei zudem deutlich gemacht, dass sie dazu bereit ist, auf wesentliche Teile ihres Programms zu verzichten, um endlich ein „progressives Bündnis“ mit Grünen und SPD auch auf Bundesebene realisieren zu können.

Der Sozialismus, den man angeblich irgendwann einmal erkämpfen möchte, bleibt solchermaßen als Fernziel mit der realen Politik der Partei unvermittelt. Ein solches Programm stößt aber notwendigerweise an die sich krisenhaft zuspitzende Realität der kapitalistischen Klassengesellschaft, welche immer weniger Spielraum für einen „sozialen Ausgleich“ lässt und die Menschheit immer deutlicher vor die Alternative stellt: Sozialismus oder Barbarei.

Während die Klima- und Biodiversitätskrise sich immer weiter zuspitzt, Inflationsraten von über 5 % die Löhne auffressen, der sich zuspitzende Kampf um die Neuaufteilung der Welt die Menschheit mit einem Dritten Weltkrieg bedroht, tut der größte Teil der Linken so, als gäbe es ein Zurück zum Sozialstaat der 1980er Jahre und zur „Friedenspolitik“ Willy Brandts. Der LINKEN dies vorzuwerfen, läuft aber letztlich darauf hinaus, sie zu bezichtigen, dass sie eben DIE LINKE ist: eine reformistische Partei ohne revolutionären Anspruch!

Hinzu kommt, dass die bürgerliche Realpolitik der Linkspartei in den Landesregierungen und ihre Anpassung an SPD und Grüne selbst die Frage aufwerfen, wozu sie überhaupt gebraucht wird. Tritt sie nur als etwas linkere Variante der Sozialdemokratie in Erscheinung tritt, liegt es nahe, dass reformistische Wähler:innen gleich das sozialdemokratische Original wählen, statt ihre Stimme für eine etwas linkere, parlamentarisch jedoch aussichtslose Kopie zu verschwenden. So geschehen im Saarland, aber längst nicht nur dort.

Die Aufgabe und der Anspruch von Revolutionär:innen bestehen nun nicht darin, einer reformistischen Partei Tipps zu geben, wie sie bei bürgerlichen Parlamentswahlen erfolgreich sein kann (was aufgrund der geschilderten Widersprüchlichkeit des Reformismus ohnehin schwer zu bewältigen ist). Vielmehr geht es darum, zu verdeutlichen, dass eine Politik auf der Grundlage eines Programms notwendig ist, das der tatsächlichen Lage angemessen ist und die Überwindung des Kapitalismus nicht als abstraktes Fernziel begreift, sondern im Rahmen eines Systems von Übergangsforderungen Kämpfe um konkrete Verbesserungen mit diesem Ziel verbindet.

Diejenigen Kräfte innerhalb der Linkspartei (aber auch der SPD), denen es darum geht, die Kämpfe der Lohnabhängigen und Unterdrückten voranzubringen und diese für ein revolutionäres Programm zu gewinnen, rufen wir dazu auf, gemeinsam mit allen anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ihre Reorganisation voranzutreiben, damit sich diese zur zentralen, eigenständigen Kraft im Kampf gegen Krise, Kapital und Klimakatastrophe formieren kann. Dies ist die zentrale Aufgabe einer linken, revolutionären Kraft – nicht die Gewinnung von Sitzen in bürgerlichen Parlamenten für eine reformistische Partei, die sich vor allem auf passive Wähler:innen stützt und davon träumt, durch treue Mitwirkung an der Elendsverwaltung des Kapitalismus einige Brosamen für „die kleinen Leute“ abstauben zu können.

Der Niedergang der Linkspartei verdeutlicht daher erneut die Dringlichkeit einer Debatte um Ziele und Mittel unseres Kampfes. Letztlich geht es um die Frage, wie wir die unterschiedlichen Auseinandersetzungen und sozialen Bewegungen miteinander verbinden und ein gemeinsames Ziel, eine gemeinsame Perspektive entwickeln können. Hierfür braucht es einen konkreten Startpunkt, diese Diskussion und einen gemeinsamen Kampfplan zur Gegenwehr zu organisieren. Wir schlagen deshalb vor, eine Aktionskonferenz zu organisieren, auf welcher diese Fragen übergreifend von möglichst allen Organisationen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten diskutiert werden können. Eine solche Konferenz sollte sich darauf konzentrieren, konkrete Forderungen und Kampfmittel festzulegen, um den Angriffen von Rot-Grün-Gelb und des Kapitals gemeinsam entgegenzutreten und dies mit dem Kampf gegen den deutschen Imperialismus und die Kriegsgefahr zu verbinden.




La Fontaine: La Fin

Frederik Haber, Infomail 1182, 21. März 2022

Das Ende seiner parlamentarischen Laufbahn, zuletzt als Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Saarländischen Landtag, und seiner Mitgliedschaft in ebendieser Partei dürften auch das Ende seiner politischen Laufbahn bedeuten.

Schon im März 1999, als Lafontaine sein Amt als Finanzminister der Schröder/Fischer-Regierung und alle Ämter in der SPD niederlegte, war ihm das Ende seiner politischen Laufbahn vorausgesagt worden. Die Wende der Sozialdemokratie zur „neuen Mitte“, zu einem Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz, wollte der überzeugte „echte“ Sozialdemokrat und auf staatliche Regulierung des Kapitalismus zum vermeintlichen Wohl aller Klassen in Deutschland bedachte Reformist nicht mitmachen.

Die Nachrufe auf Lafontaine von Seiten der rechts gewendeten Sozialdemokratie und des liberalen und konservativen Mainstreams erwiesen sich damals als verfrüht.

Comeback

Er schaffte damals das Comeback. Entscheidend dafür war der Kampf gegen die Agenda 2010 und die Hartzgesetze sowie gegen den Jugoslawien- und Afghanistankrieg unter Rot-Grün. Die Massenproteste hatte er zwar nicht initiiert. Allerdings verstand er es, diese für sich und den Versuch eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie zu nutzen – und bis zu einem gewissen Grad war er damit auch erfolgreich. Nachdem die Agendapläne bekannt geworden waren, demonstrierten Hunderttausend in Berlin. Teile der Gewerkschaften riefen zum Widerstand auf. Am weitesten ging die IG Metall in Schweinfurt, die im Juni 2003 praktisch einen ganzen Tag alle Metaller:innen auf die Straße brachte. Der dortige Bevollmächtigte Klaus Ernst lud Lafontaine als Hauptredner ein. Auch wenn die Bewegung nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung der Regierung durch die DGB-Vorstände geschlagen wurde, entstand die WASG, die später mit der PDS zur LINKEN wurde. Lafontaine wurde Parteivorsitzender und war damit der einzige Mensch in der Geschichte der BRD, dem dies in zwei verschiedenen Parteien gelang.

Er war Oberbürgermeister von Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlandes – der erste sozialdemokratische – und Kanzlerkandidat der SPD gewesen. Die Wahl 1990 ging verloren und er hatte einigen Anteil daran. Völlig richtig hatte er zwar vorhergesehen, dass die schnelle Einverleibung der DDR in die BRD unter den bestehenden kapitalistischen Bedingungen zu einer Vernichtung der DDR-Industrie führen würde mit all ihren verheerenden Folgen. Diese Zweifel trafen in der Phase des nationalen, konterrevolutionär-demokratischen Taumels, in den die Aufbruchstimmung von 1989 versackt war, auf taube Ohren. Vor allem aber vertrat Lafontaine selbst keine fortschrittliche politische Alternative zu diesem Prozess der politischen Unterwerfung und des ökonomischen Überrollens. Kohls Versprechen der „blühenden Landschaften“ stellte er die letztlich nur unmittelbaren Interessen der westdeutschen Arbeiter:innen gegenüber, genauer deren etablierte Einbindung in das System der Sozialpartner:innenschaft.

Reformistischer Kern

Auch wenn Lafontaines Politik immer wieder als linkssozialdemokratisch betrachtet und verklärt wurde, so zeigt sein politischer Werdegang, dass diese letztlich immer von dem Bemühen geprägt war, die Gesamtinteressen des Kapitals mit jenen der deutschen Arbeiter:innenklasse zu vermitteln.

So hatte er schon vor der Wiedervereinigung die Stahlkrise im Saarland mit ihren Massenentlassungen in den 1980er Jahren „sozialverträglich“ gestaltet. Das war Ende 1990 noch keine Option. In einer Phase von Revolution und Konterrevolution taugen die Rezepte des Reformismus nichts, der sozial„staatlich“ vermittelte Klassenkompromiss der BRD ließ sich nicht auf die ehemalige DDR ausdehnen. Das Kapital nutzte den Sieg im Kalten Krieg und die kapitalistische Wiedervereinigung vielmehr zur Schaffung eines Billiglohnsektors im Osten.

Dass Lafontaine auch Minderheitsmeinungen offen auszusprechen und damit anzuecken vermochte, war das, was ihn immer vor vielen anderen Politiker:innen ausgezeichnet und ihm meist Sympathien entgegengebracht hat. Er war gegen den NATO-Doppelbeschluss gewesen, der massive nukleare Aufrüstung mit Abrüstungsangeboten an die UdSSR verbunden hatte, und hatte sich damit gegen den SPD-Kanzler Schmidt gestellt. Er war der sozialdemokratische Held in der Friedensbewegung und beteiligte sich drei Tage an Blockaden des Raketendepots in Schwäbisch Gmünd-Mutlangen.

Er schlug in der industriellen Krise Ende der 1980er Jahre vor, die Arbeitszeit auch ohne Lohnausgleich zu verkürzen, was auf Empörung in Gewerkschaftskreisen traf. Auch wenn es eigentlich die Realität aller Arbeitszeitverkürzungen beschrieb, wo auch damals schon entgegen der offiziellen Präsentation natürlich die Zeitverkürzung mit Rationalisierung und Inflation verrechnet worden war, so verdeutlichte dieser Lafontaine’sche „Sozialismus in einer Klasse“ auch, dass er keineswegs ein entschiedener Vertreter der Lohnabhängigen war, sondern vor allem einer eines vermeintlich realistischen sozialen Ausgleichs.

Genauso stellte er sich gegen Kanzler Schröder sowohl im Falle des NATO-Angriffs auf Jugoslawien als auch in der Wirtschaftspolitik. Dieser Konflikt endete in seinem schmählichen Rücktritt als Finanzminister. Nachdem er daran beteiligt gewesen war, die übelsten Angriffe der Kohlregierung auf die Arbeiter:innen zu revidieren, plante er eine linkskeynesianistische Politik: die Wirtschaftsförderung mit sozialen und ökologischen Auflagen zu verbinden. Dieses Modell war schon 1999 nicht zu verwirklichen. Schröder setzte vielmehr darauf, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf Kosten der Arbeitenden zu verbessern und mit einer darauf ausgerichteten und von Deutschland dominierten EU den US-Imperialismus herauszufordern (Agenda 2010). Lafontaines Modell, das heute in ähnlicher Weise als „Green New Deal“ durch die Reden und Papiere geistert, scheiterte an den sich verändernden Akkumulationsbedingungen des Kapitals.

Diese Utopie, die glaubt, durch staatlichen Druck den Kapitalismus in ein soziales und ökologisches Bett zu zwingen, verkennt, dass er in seinem grundlegenden Charakter auf der Konkurrenz der Kapitalien um die höchste Profitrate beruht. Und zwar global. Sie verkennt auch den Charakter des bürgerlichen Staates.

Beide Irrtümer binden Lafontaine wie so viele andere Reformist:innen an das Wunschbild/Ziel des „Sozialstaates“. Ein starker Staat ist dafür nötig, der auch auf mächtige Teile der herrschenden Klasse Druck ausüben – und Regelungen in seinem Wirkungsbereich durchsetzen kann, dem gegebenen Staat.

Nationalismus und Sozialchauvinismus

Hier liegt der Weg zum Nationalismus und Sozialchauvinismus. Nicht nur die internationale Konkurrenz bedroht diesen zufolge die sozialen und ökologischen Errungenschaften, sondern auch Flüchtlinge und Migrant:innen. Lafontaine spielte eine entscheidende Rolle bei der Formulierung des sog. Asylkompromisses 1992 zwischen CDU/CSU und SPD, dem Anfang vom Ende des heute praktisch inexistenten Asylrechts. Er stellte sich zusammen mit seiner Frau, Sahra Wagenknecht, in den letzten zehn Jahren wiederholt gegen „Fremdarbeiter:innen“ und warf seiner Partei vor, die (vermeintliche) Existenzbedrohung deutscher Facharbeiter:innen durch ungebremste Immigration zu ignorieren.

In seiner Austrittsbegründung aus der LINKEN hat er diese Formulierung wiederholt. Er hat sie mit einer Kritik an der Unterwerfung unter die NATO durch den rechten Parteiflügel verbunden, die aber als Beschwörung des Völkerrechts daherkommt. Völkerrecht ist der Anspruch, dass sich auch die imperialistischen Mächte an Regeln halten. In einer Welt, die auf imperialistischer Ausbeutung beruht, ist dieser Illusion.

Die Kommentator:innen der meisten bürgerlichen Medien bilanzieren, Lafontaine sei gescheitert. Ob offen oder unausgesprochen, in der Logik dieser Damen und Herren steht dahinter das Kriterium, wie sehr er Deutschland und damit seiner herrschenden Klasse genutzt hat. Sozialdemokrat:innen und andere Reformist:innen sind für diese aber immer nur für Jobs nützlich, zu denen die offenen Protagonist:innen der Bourgeoisie unfähig sind. So war nur Brandt in der Lage, die Unruhe und Bewegung der 68er in der Jugend und der Arbeiter:innenklasse zu integrieren und einen „Wandel durch Handel“ mit der DDR zu beginnen. Nur Schröder konnte die massiven Angriffe auf die Lohnabhängigen durchführen.

Lafontaine hat wenig solcher historischen Verdienste für die herrschende Klasse, wenn man davon absieht, dass er die reformistischen Illusionen, denen er selbst anhing, auch tausenden anderen Menschen aufoktroyiert hat. Sein Scheitern stellt das des Reformismus dar, des Versuchs, in einem untergehenden System soziale, humane und ökologische Verhältnisse zu etablieren, sei es, um „was Gutes zu tun“, oder sei es, um dieses System zu bewahren. Dass aus den Bewegungen und Organisationen, die er mit aufbaute, zuletzt aus der LINKEN, nichts wurde, vor allem dass nicht mehr daraus wurde, dass z. B. in der WASG oder der LINKEN sich keine Strömung bildete, die mit dem Reformismus brach, ist nicht nur seine Schuld. Es ist die derer, die sich als revolutionär verstehen und keinen Plan haben, was Reformismus eigentlich ist und wie er bekämpft werden könnte.