Organisierung von oben – Buchbesprechung von A Collective Bargain (McAlevey)

Tim Nailsea, Workers Power, Infomail 1220, 12. April 2023

A Collective Bargain –  Unions, Organizing and the Fight for Democracy (Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie, VSA Verlag, Hamburg 2021) ist nach Raising Expectations (and Hell) und No Shortcuts (Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. VSA Verlag, Hamburg 2019) das dritte Buch von Jane McAlevey. Diese Bücher bilden eine nützliche Lektüre für aktive Gewerkschafter:innen und die Grundlage für ihr internationales Organizing-Netzwerk O4P, das sich auf seiner Website rühmt, seit September 2019 fast 25.000 Organizer:innen aus 110 Ländern beherbergt zu haben.

A Collective Bargain wurde im Kontext der Trump-Präsidentschaft und der daraus resultierenden Krise der Linken geschrieben. McAlevey argumentiert, dass die von ihr entwickelte Organizing-Methode in der politischen Arena von Nutzen sein kann.

Methoden

Im Hinblick auf Organizing befürwortet McAlevey „zwei Schlüsselmethoden“: Strukturtests – um die Popularität der Gewerkschaft, das Engagement der Mitglieder und ihre Bereitschaft zu Aktionen zu messen – und die Identifizierung von „organischen“ Führungspersönlichkeiten in den Betrieben durch Organisanizer:innen, um den Kampf voranzutreiben.

Beide Methoden können für jene nützlich sein, die ernsthaft versuchen, ihren Arbeitsplatz zu organisieren, aber es hängt viel davon ab, wie und von wem sie eingesetzt werden. Für Organizer:innen, die auf erfolgreiche Aktionen hinarbeiten wollen, könnten Strukturtests wertvoll sein. Aber auch für viele Gewerkschaftsführer:innen könnten endlose Strukturtests, Urabstimmungen oder eintägige Streiks dazu dienen, die Beschäftigten den Berg hinauf und wieder hinunter marschieren zu lassen, und so die Kraft zu schwächen, anstatt sie aufzubauen.

Ebenso ignoriert McAlevey mit ihrem Fetisch, eine „Supermehrheit“ zu gewinnen, bevor sie offen organisieren, geschweige denn streiken kann, die Lehren der Kommunist:innen, Sozialist:innen und Syndikalist:innen, die Organisierung als Teil des Klassenkampfes sahen. Sie befürwortet zwar die Mobilisierung sozialer Bewegungen zur Unterstützung der gewerkschaftlichen Organisierung, aber wenn sich die Gelegenheit zu Massenstreiks bietet, müssten all diese übervorsichtigen Methoden in den Hintergrund treten.

Ihre Methode ignoriert auch die Notwendigkeit, auf schwerwiegende Angriffe mit sofortigen Maßnahmen zu reagieren, die radikalisierende Wirkung eines Streiks und die Tatsache, dass die großen Wellen der gewerkschaftlichen Organisierung sich nicht auf betriebliche „Strukturtests“ oder die Sicherstellung einer Supermajorität beschränkten und es auch nicht konnten.

Wenn es um die Identifizierung von Führungspersönlichkeiten geht, sind Menschen, die sich selbst als Gewerkschaftsaktivist:innen bezeichnen, möglicherweise keine Führungspersönlichkeiten. Sie könnten das sein, was McAlevey als „Großmäuler“ bezeichnet, die von ihren Kolleg:innen einfach ignoriert werden mögen.

Stattdessen schlägt sie vor, „organische Führungspersönlichkeiten“ auszuwählen, d. h. Personen, die aufgrund ihrer Erfahrung oder ihrer Fähigkeiten Einfluss auf ihre Kolleg:innen haben, charismatisch sind oder sich selbstbewusst gegenüber der Geschäftsleitung verhalten. Eine erfolgreiche Organisierungskampagne sollte sich darauf konzentrieren, solche Beschäftigten zu gewinnen, um das Machtgleichgewicht zugunsten der Gewerkschaft zu verschieben, auch wenn sie der Gewerkschaft zunächst skeptisch oder feindlich gegenüberstehen.

McAlevey unterschätzt jedoch, wie die Identifizierung von Führungspersönlichkeiten, wenn sie von Gewerkschaftsfunktionär:innen vorgenommen wird, zur Auswahl solcher Führer:innen führen kann. Wenn eine solche organische Führungspersönlichkeit ihre Position hauptamtlichen Organisator:innen verdankt und nicht ihren Kolleg:innen , wenn sie nur durch den Gewerkschaftsapparat ersetzt werden kann und nicht durch diejenigen, die sie anführt, dann führt dies nicht langfristig zu einer stärkeren Beteiligung der Arbeiter:innen an ihrer Gewerkschaft und letztlich zu deren Kontrolle.

Prinzipien

McAlevey unterstützt jedoch „zwei Schlüsselprinzipien“: Demokratie und Beteiligung. Keine Kampagne kann ihrer Meinung nach erfolgreich sein, wenn sich die Arbeiter:innen nicht für sie verantwortlich fühlen und ihre Richtung mitbestimmen können. Ihr Verständnis von Gewerkschaftsdemokratie ist jedoch fragwürdig.

In A Collective Bargain geht sie auf diese Frage zwar nicht näher ein, aber in ihrem ersten Buch Gestiegene Erwartungen plädiert sie für eine Struktur, in der hauptamtliche Gewerkschaftsmitglieder gewählte Positionen besetzen. Die gewerkschaftliche Organisierung, so McAlevey, erfordert eine professionelle Führung.

Wie wir aus den Erfahrungen in den britischen Gewerkschaften wissen, wo sowohl die Basis als auch die hauptamtlichen Gewerkschaftsmitglieder um Positionen konkurrieren, werden die Aktivist:innen an der Basis oft von den Berufsgewerkschafter:innen verdrängt, die Zugang zur gewerkschaftlichen Infrastruktur haben, um Kampagnen durchzuführen. Für McAlevey bleibt die Basisorganisation als Ausbildungsstätte für Kämpfer:innen, die von der professionellen Bürokratie unabhängig sind, ein Buch mit sieben Siegeln.

Politik

Wie McAlevey glaubt, dass ihre Methoden in der Politik eingesetzt werden können, wird nicht wirklich erforscht. Sie ist eine US-Demokratin und sieht die Hauptschwäche der Demokratischen Partei darin, dass sie keine wirksamen Organizing-Methoden einsetzt, um ihre Basis zu mobilisieren. Aber sie geht nicht darauf ein, warum das so ist.

Die Demokratische Partei kann keine Methoden anwenden, die zu einer Organisierung und Radikalisierung am Arbeitsplatz führen, und zwar aus Gründen, die auf der Hand liegen sollten: Sie ist eine Partei der Kapitalist:innenklasse.

Die Lehrer:innen von Los Angeles, denen sie ein ganzes Kapitel widmet, befanden sich in direkter Konfrontation mit dem US-demokratischen Parteiapparat. Dies gilt auch für andere Gewerkschaftsaktivist:innen des öffentlichen Sektors in amerikanischen Großstädten. McAlevey weist auch auf die gewerkschaftsfeindliche Natur des Silicon Valley hin, das politisch fast ausschließlich demokratisch ist.

Natürlich ist die Demokratische Partei in keiner Weise eine Arbeiter:innenpartei. Aber könnten die Methoden von McAlevey innerhalb der britischen Labour Party angewendet werden?

Sie wurden in gewissem Maße in der Momentum-Bewegung ausprobiert, aber förderten keine demokratische Kontrolle, sondern überließen diese den von Jon Lansman und dem Team Corbyn ausgewählten Organizer:innen. Es wurden Kompromisse und Pakte geschlossen, um die Abgeordneten des rechten Flügels an Bord zu halten, während die Linken in den Wahlkreisen isoliert wurden.

Umwandlung der Gewerkschaften

A Collective Bargain ist wahrscheinlich das bisher am wenigsten wertvolle Buch von McAlevey. Raising Expectations war eine nützliche Darstellung der betrieblichen Organisierung in Amerika, und No Shortcuts ist ein klares und präzises Argument für ihre Organizing-Methode. Das jüngste Buch betritt wieder altbekanntes Terrain, so dass die gleichen Stärken und Schwächen zu Tage kommen.

Vor allem versteht sie weder als Organizerin noch als Akademikerin die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie als Ganzes (im Gegensatz zu den konservativen Spitzenfunktionär:innen, die das Organisieren so lange vernachlässigt haben).

Hauptamtliche und Funktionär:innen, die die Gewerkschaften bestimmen, setzen sich für den Erhalt des Verhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital ein. Ihre soziale Stellung hängt davon ab. Das ist die Quelle ihrer Feindseligkeit gegenüber der Basis, die durch die Eskalation von Konflikten bis zu dem Punkt, an dem die grundlegenden Interessen des Kapitals in Frage gestellt werden, „außer Kontrolle gerät“. Diese Ansicht liegt auch der Strategie von McAlevey zugrunde.

Die Arbeiter:innen hingegen haben kein Interesse daran, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, die ständig versucht, die Löhne zu drücken, die Arbeitsintensität zu erhöhen und sie regelmäßig aus der Arbeit zu werfen. Sozialist:innen versuchen, diese Spannung in den Gewerkschaften zum Vorteil der Arbeiter:innenschaft aufzulösen, indem sie die direkte Kontrolle der Lohnabhängigen über ihre Auseinandersetzungen und ihre Gewerkschaft einführen und so die Bürokratie als Ganzes auflösen.

Bei allen nützlichen Organizing-Methoden, die McAlevey befürwortet, ist diese Blindheit gegenüber der Bürokratie ein grundlegender Fehler in ihrer Analyse und ihrem Ausblick, der verhindert, dass ihr Werk ein Leitfaden für die Basis ist, um die Gewerkschaften zu transformieren und sie für den Sozialismus zu gewinnen.




Buchbesprechung: Wohnen im Kapitalismus als Objekt der Rendite

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 267, September 2022

Im Folgenden wollen wir eine kurze Zusammenfassung des Buchs von Andrej Holm: Objekt der Rendite. Zur Wohnungsfrage und was Engels noch nicht wissen konnte, Dietz Verlag, Berlin 2021, präsentieren. Wir beschränken uns auf die Geschichte des kapitalistischen Wohnungsbaus und seine sich verändernde Ökonomie.

Kapitalistischer Wohnungsbau im 19. Jahrhundert

Die einschneidendsten Änderungen verursachte die industrielle Revolution. Massen von Bauern/Bäuerinnen wurden in die Kohleabbauregionen, Stahlproduktionszentren und die verarbeitende Industrie gezogen. Große Anlagen und neue Städte entstanden und manch alte erlebten eine nie gekannte Bevölkerungsexplosion. Mitte und Ende des 19. Jh. wurden in den europäischen Zentren Wohnraum massenweise (vor allem armer Schichten) vernichtet, Straßen verbreitert und neue Gebäude für bürgerliche oder adlige Schichten gebaut.

Diese vernichtende bourgeoise Wohnraumpolitik nennt Andrej Holm „revanchistisch“. Dagegen gab es mit Proudhon und mittelständischen Wohnvereinen eine kleinbürgerliche Wohnraumpolitik, die den Kleinbesitz eines Reihen- oder Einzelhauses mit Gärten für alle als Lösung propagierte. Der Sozialreformer Gustav Schmoller wies 1890 die deutsche Bourgeoisie darauf hin, dass zwangsweise soziale Revolutionen ausbrechen werden und schlug bessere Wohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen vor. Engels wies jedoch darauf hin, dass unter kapitalistischen Umständen die Bourgeoisie selten oder gar nicht angemessenen Wohnraum zur Verfügung stellt, da dieser als Spekulationsobjekt weit attraktiver ist.

Interessanterweise kann man konstatieren, dass je stärker die Arbeiter:innenbewegung war, sich die katastrophale Wohnsituation leicht abmilderte und die Infrastruktur (Wasserversorgung, Kanalisation) durch Staatsinvestitionen verbesserte, was sich durch die Zahl der Obdachlosen und Schlafgänger zwischen 1850 – 1920 erhärten lässt.

Das 20. Jahrhundert

Die Novemberrevolution belebte die Debatte neu. Es wurde über die Sozialisierung auch von Wohnraum nachgedacht und es gab Mietstreiks 1919. Zwar wurde das nicht erreicht, aber es gab Impulse zur Finanzierung kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungen auf Basis der Besteuerung Privater, die zu ersten massenhaften Wohnungsbauprogrammen führten, die heute den Kernbestand der städtischen Wohnungen ausmachen.

1945 – 1990 wurde die massenhafte Versorgung der Bevölkerung in den Zentren ebenfalls durch kommunale Wohnungsgesellschaften und Baugenossenschaften durchgeführt. Im Rahmen von privatem Wohnungsneubau unter dem Label des Sozialbaus erfolgte hauptsächlich eine doppelte Subventionierung des privaten Sektors: erstens, da die Sozialbindung nach einer gewissen Frist entfiel (damals: 30 Jahre, heute in Berlin: 10 Jahre) und die Mieten zu einem Zeitpunkt, wo die Baukosten der Gebäude bereits refinanziert waren, nicht mehr preisgebunden waren und zweitens, weil die Zuschüsse und Steuererleichterungen einen erheblichen Anteil einnahmen und teilweise größer als die Gesamtkosten waren.

Nach der deutschen Einheit: Berliner Mietenmonopoly

Nach Wegfall der Systemkonkurrenz im Osten wurde die Privatisierung der kommunalen Gesellschaften 1990 durch dem Wegfall der Wohnraumgemeinnützigkeit vorbereitet. Kommunale Träger und Genossenschaften verloren ihre Steuervorteile. Die steuerlichen Mehrkosten wurden auf die Mieter:innen umgelegt. Eine Welle der Mietpreiserhöhung folgte. Bis dahin war der Mietpreisanstieg sehr schwach, halbwegs linear und entsprang aus den leicht steigenden Realkosten inkl. Inflation.

In den 2000er Jahren wurden in Berlin die Wohnraumförderung eingestellt, etwa 250.000 kommunale Wohnungen durch den „rot-roten“ Senat privatisiert und für sehr geringe Beträge an Private verkauft.

2007 platzte eine Immobilienblase auf dem US-Finanzmarkt. Aus dieser nationalen Immobilien-entwickelte sich die globale Finanzkrise. Da die normale Warenproduktion auf Grund des tendenziellen Falls der Profitrate nicht mehr ausreichend Gewinne realisierte, drängte anlagesuchendes Kapital auf andere Märkte. Im Gegensatz zu Investitionen in hochriskante Finanzprodukte wurden langfristige mit gesicherten Gewinnen attraktiver. Die größten Gewinne versprach man sich, wo der Rent-Gap am größten war: zum Kauf stehende ehemalige Werks- und kommunale Wohnungen. Niedrigzinspolitik so wie Deregulierung unter Schröder verstärkten den Trend.

Holm spricht hier ebenfalls von einer revanchistischen Raumvorstellung, die nicht nur in Privatisierung, Auswertung und Gentrifizierung mündete, sondern Zerstörung sozialer Leben, brutale Vertreibung, die marginalisierte Gruppen wie prekäre Arbeiter:innen, Migrant:innen, Wohnungslose am härteten trafen und mit Polizeigewalt durchgesetzt worden sind. Der Prozess, der London in den 1980er und New York in den 1980er und 1990er Jahren heimsuchte, erreichte ab 2000 Berlin und intensivierte sich in der Folgezeit.

In den letzten Jahren gab es ganze Wellen von Zwangsräumungen von Arbeiter:innen, Migrant:innen, linken Hausprojekten und Kneipen, wo ganze Straßenabschnitte unter polizeilichen Belagerungszustand gestellt, Anwohner:innen systematisch schikaniert worden sind.

Finanzorientierte und industrielle Wohnkonzerne

Bis in die 2000er Jahre war der Wohnungs- vom Finanzsektor relativ abgeschlossen. Natürlich wurden Kredite von Banken aufgenommen, um Wohnungen zu kaufen oder zu bauen, und diese mit der Zeit durch die Mieter:innen abgezahlt. Aber weitere Verflechtungen waren selten.

Anfang dieses Jahrtausends begannen Banken und Finanzdienstleister in Deutschland damit, nicht nur Geld für Wohnungsunternehmen zur Verfügung zu stellen, sondern mit diesem Kapital selbst Firmen zu gründen und in eigener Regie zu investieren (z. B. die Gründung von Deutsche Wohnen durch die Deutsche Bank 1998). Diese finanzmarktorientierten Wohnungskonzerne begannen, Kapital in Form von Private Equity Fonds zu sammeln, Wohnungen zu erwerben und diese wie ihre Unternehmensanteile wie moderne Finanzprodukte zu handeln. Diese absorbierten auch, begünstigt durch die Liberalisierung unter Schröder, Kapitale aus Rentenfonds, Versicherungen, mittelgroße Anleger:innen. Vor allem zogen Wohnungen mit einem hohen Rent-Gap dieses private Kapital an.

In den 2000er Jahren kauften diese Unternehmen etwa 230.000 ehemals kommunale Wohnungen auf. Damit wurden sie, die bis dahin einer zumindest geringen öffentlichen Kontrolle unterlagen und ein Gut mit öffentlich-sozialer Zweckbestimmung darstellten und nur geringe Renditen erzielten, systematisch in Finanzprodukte umgewandelt, wo größte Renditen durch große Mietsteigerungen möglich waren und der Finanzmarkt herrschte.

Nach der Finanzkrise 2007 strömte verstärkt auch internationales Kapital auf den deutschen Wohnungsmarkt. Ab 2010 haben finanzorientierte Wohnungskonzerne ihre Interaktion mit Banken und Investor:innen geändert. Wo anfangs Kapital für Unternehmungen zur Verfügung gestellt worden ist und diese Schulden mit den Mieten sukzessive abbezahlt worden sind und in Folge dessen ebenso wie Zinsen sanken, werden diese nicht mehr abbezahlt, sondern stattdessen Geschäftsanteile des Unternehmens an Investor:innen ausgegeben. Dadurch, dass die Schulden nicht bedient werden, steigen diese zusammen mit den Zinsen. Zinsen sind umlagefähig. So steigen die Mieten zusätzlich. Gleichzeitig wird die Bauindustrie für Projekte finanziert, um durch Wertsteigerungen der unmittelbaren Umgebung dortige Mieten anzukurbeln. Diese Bauindustrie verkaufte die Gebäude, erwarb aber gleichzeitig Anteile am kaufenden Unternehmen. Dadurch verschmolzen das in den Gebäuden gebundene Kapital der Wohnungsunternehmen, das Finanzkapital und die Bauindustrie zu dem, was Holm und Unger finanzindustrielles Kapital nennen.

Diese finanzindustriellen Wohnkonzerne zeichnet neben den o. g. Merkmalen weiter aus: Hoher Grad der Automatisierung bei ihren Geschäftsabläufen, aktuelle Werte und Mietsteigerungspotenziale werden ermittelt, damit potenzielle Investitionen, Abrechnungen oft absichtlich fehlerhaft erstellt.

Gleichzeitig werden die Strukturen dezentralisiert und verschachtelt. Wo damals dem/r Mieter:in ein/e Vermieter:in oder eine Firma gegenüberstanden, existiert ein Geflecht von Firmen. Der Vorteil dieser Struktur liegt darin, dass diese Firmen sich für ihre Dienstleistungen hohe Rechnungen ausstellen, diese einerseits auf die Mieter:innen umgelegt werden können und andererseits als hohe Betriebsausgaben in geringere Steuern münden. So ist das sog. „Insourcing“ eine übliche Praxis, die Betriebskosten künstlich in die Höhe zu treiben. Es beschreibt das Ausgliedern ehemals firmeneigener Handwerker:innen und Reinigungskräfte bzw. Gründen von Handwerks- und Reinigungsunternehmen, Beauftragung dieser durch die Hausverwaltung, Ausstellen hoher Rechnungen und deren Umlage auf die Mieter:innen.

Eine Firma tritt auf der untersten vertikalen Ebene als Eigentümerin auf. Auf der mittleren Ebene fallen diese Firmen mit Geschäftsanteilen anderer Eigentümer- oder Holdinggesellschaften zusammen und auf höheren Ebenen ist der Konzern international und branchenübergreifend aufgestellt. Die Gewinne zentralisieren sich früher oder später nach oben in der Eigentümervertikalen und laufen bei Aktionär:innen, Banken oder internationalen Investmentgruppen wie BlackRock zusammen.

Die Mieter:innen zahlen alle Ausgaben inkl. Instandhaltung. Ein weiterer Trick ist hier, nicht instand zu halten und Beschwerden wie erforderliche Mietsenkungen schlicht und ergreifend zu ignorieren, sie stattdessen mit Forderungen, Inkasso- und Gerichtsverfahren zu überziehen. Es wird dadurch gleichzeitig auch versucht, das Gebäude so in der Bausubstanz verkommen zu lassen, bis eine Sanierung notwendig wird. Deren Kosten sind umlagefähig. Sind sie amortisiert, also durch die Miete abbezahlt, wird sie jedoch nicht auf den vorherigen Zustand gesenkt.




Frauenbefreiung international, aber wie? Verónica Gagos Versuch

Jürgen Roth / Martin Suchanek (Gruppe Arbeiter:innenmacht, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Die Frauen*streiks rücken das Potential des Feminismus, genauer eines popularen, volkstümlichen Feminismus’ ins Zentrum politischer Debatten und Diskussionen. Mit dem 2019 erschienenen Buch „La potencia feminista – O el deseo de cambiarlo todo“ untersucht die argentische feministische Sozialwissenschafterin und Aktivistin Verónica Cago die Ursachen und das Potential der großen Kämpfe, die seit 2016 in mehrfacher Hinsicht den Beginn einer neuen Welle der Frauenbewegung markieren.

Den Ausgangspunkt diese Bewegung bildeten die in Argentinien bereits ab 2016 beginnenden Frauenstreiks sowie die US-amerikanische Bewegung gegen die drohende Machtübernahme Trumps. Auf ihrem vorläufigen Höhepunkt 2019 umfasste sie mehrere Millionen Streikende, vor allem in Lateinamerika, aber auch in Spanien und anderen Ländern. In ihnen kommt nicht nur ein neuer Aufschwung der Bewegung zum Ausdruck, sondern gerade im globalen Süden auch eine radikal neue Opposition von unten gegen den Neoliberalismus.

In ihrem Buch, das 2020 unter dem Titel „Feminist International – How to change everything“ (Verso, GB-London/USA-Brooklyn, NY) und 2021 auf Deutsch mit dem Titel „Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern“ (Unrast-Verlag) erschien, will sie aber keineswegs nur die Bewegung und ihre Aktivitäten nachzeichnen.

In dem Buch und vor allem in den abschließenden „8 Thesen zur feministischen Revolution“ versucht sie, die Ursachen für die Entstehung und Bedeutung dieser Bewegung theoretisch zu fassen und zu begründen, worin deren zukunftsweisender Charakter besteht. In der folgenden Besprechung der Arbeit folgen wir dem Aufbau des Textes, beziehen uns aber immer wieder auf die 8 Thesen, die auch eine Art Zusammenfassung ihrer Untersuchung darstellen. Die Zitate beziehen sich in der Regel auf die englischsprachige Ausgabe.

Ausgangspunkt

Das für Gago Entscheidende an den Frauen*streiks der letzten Jahre besteht darin, dass sie ein neues politisches Potential zum Ausdruck bringen: die potentia (Macht, Handlungsvermögen) der Frauen aus dem Proletariat und den unteren Klassen. „Das Konzept der feministischen potentia spiegelt diese Art von Bewegung wider, indem es eine alternative Theorie der Macht anstrebt. Feministische potentia bedeutet, die Unbestimmtheit dessen, was man tun kann, was wir tun können, zu rechtfertigen.“ (Seite 2, Englische Ausgabe, eigene Übersetzung)

Damit, so Gago, wolle sie keineswegs einem naiven Verständnis von Macht das Wort reden, das von Institutionen und Strukturen der Herrschaft absieht. Die potentia steht für sie vielmehr für die Konfrontation mit diesen Strukturen, für eine Art Gegenmacht:

„In diesem Sinne handelt es sich um ein Verständnis von potentia als Entwicklung einer Gegenmacht. Letztlich geht es um die Bejahung einer anderen Art von Macht: die der gemeinsamen Erfindung gegen die Enteignung, des kollektiven Engagements gegen die Privatisierung und die Ausweitung dessen, was wir im Hier und Jetzt für möglich halten.“ (Ebenda)

Der von Hardt/Negri entnommene Begriffe der potentia stellt ein Schlüsselkonzept des gesamten Buches dar. Doch die von Negri übernommene Interpretation ist selbst überaus fragwürdig. In dem Buch „Die wilde Anomalie, Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft“ behauptet er, die Begriffe potentia und potestas würden bei Spinoza einen „absoluten Antagonismus“ darstellen. Ersterer stünde für das kreative Vermögen der Vielen, deren kollektives und schöpferisches Vermögen, deren dynamische Gestaltungsmacht, zweiterer für die Unterdrückung der Vielheit, von Freiheit, Kreativität. In dieser Lesart steht die potestas für die Herrschaft des unterdrückerischen Staates, für Ausbeutung, Unterdrückung, Kolonialismus oder für das Empire. Die potentia steht für Macht und Begehren der Menge, der Multitude.

Spinoza verwendet die Begriffe in der von Negri behaupteten starren Gegenüberstellung nicht, vielmehr begreift er potentia und potestas als dialektisches Verhältnis. Dabei stellt die potentia durchaus das vorrangige, treibende Moment dar. So soll bei ihm die vernünftige potentia potestas werden. Die potestas des Staats begreift er als durchaus notwendig (z. B. zum Schutz gegen reaktionäre religiöse Intoleranz). Sie muss allerdings seiner Vorstellung nach demokratisch kontrolliert werden.

Es geht uns an dieser Stelle jedoch nicht um eine richtige oder falsche Interpretation Spinozas, sondern vielmehr darum, dass Gago die falsche, undialektische Gegenüberstellung von potentia und potestas von Negri unkritisch übernimmt.

So knüpft sie am Begriff der Multitude, der Menge an, die bei Hardt/Negri schon den Kern und die Produktionsweise einer zukünftigen Gesellschaft darstellt. Die Frauen*streiks sind für Gago deshalb von so großer Bedeutung, weil sie das Hervortreten, die Selbstformierung eines neues Subjekts und einer neuen Form der Vergesellschaftung von unten darstellen. Hier trete einen neues, umfassendes proletarisches Klassensubjekt hervor, das nicht mehr auf die (marxistischen) Eingrenzungen auf die industrielle (zumeist weiße) Lohnarbeit beschränkt wäre. Hier würden vielmehr transversale Verknüpfungen gebildet, die alle popularen und proletarischen Schichten und Subjektivitäten umfassen würden. Dass Gago dabei die Begriffe popular und proletarisch fast durchgängig synonym verwendet, ist kein Zufall, denn bei ihrem Klassenbegriff verschwimmen die Grenzen zwischen der Lohnarbeit und anderen nicht-ausbeutenden Klassen, insbesondere zu den unteren Schichten des Kleinbürger:innentums und zur Bauern-/Bäuerinnenschaft.

Ähnlich wie Hardt/Negri lehnt auch Gago die Dialektik ab. Die umfassende Klasse bedarf keiner zusammenfassenden strategischen Zielsetzung, keines wissenschaftlichen Programms, das ihre heterogenen Teile politisch auf ein gemeinsames Ziel orientiert. Die Klasse muss nicht erst von einer an sich zu einer für sich werden. Sie muss eigentlich nur ihre Diversität miteinander verknüpfen und anreichern. Dies erklärt auch, warum für Gago die neue Qualität in den Frauen*streiks hervortrete. Das revolutionäre, gesellschaftsverändernde Subjekt existiert in diesen nämlich bereits. Indem die verschiedenen Unterdrückten ihre eigenen Bedürfnisse entdecken, artikulieren, verbinden, schaffen und erweitern sie auch ihr Bedürfnis zur Revolution, zur Neueinrichtung der Gesellschaft. Letztere versteht sie aber nicht als politischen Kampf um die Macht, um den Sturz einer Klasse durch einen andere, sondern als stetig vor sich gehenden Transformationsprozess, der die Gegenüberstellung von Reform und Revolution hinter sich lasse.

Neue Qualität der Streikwaffe?

Doch nun zu den einzelnen Aspekten ihrer Argumentationskette. Der feministische Streik ginge mit der Erweiterung des Klassenbegriffs einher. Die Frauen*streiks würden den engen Horizont der gewerkschaftlichen, reformistischen, aber auch marxistisch dominierten Arbeiter:innenbewegung, die nur auf die weißen, männlichen Industriearbeiter geblickt habe, sprengen.

Dies geschehe schon dadurch, dass er mehr als den „normalen“ Streikkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital umfasse. Indem er Haus-, Reproduktions- und migrantische Arbeit einbeziehe, mache er diese ebenso sichtbar wie die „territoriale“ Dimension des Kampfs um Land der indigenen Bevölkerung. Zweifellos liegt eine Stärke darin, breitere Schichten in den Kampf einzubeziehen, als dies die Gewerkschaftsbürokratie üblicherweise tut, und auch nicht weiter darauf zu warten, bis diese grünes Licht für die Aktion gibt.

Zu den Stärken zählt sie auch, dass der Frauen*streik ebenfalls jene Unterstützer:innen umfasse, die sich trotz der „Unmöglichkeit zu streiken“ solidarisieren.

Spätestens hier wird die Sache jedoch problematisch. Es ist natürlich sehr positiv, dass auch Menschen, die aufgrund von Repression oder ihrer sozialen Stellung nicht am Streik teilnehmen können, die Aktionen befürworten oder das sogar sichtbar machen. Doch wir machen uns nur selbst etwas vor, wenn wir auch Menschen, die die Arbeit aufgrund von Repression, geringerem Organisationsgrad oder mangelnder Solidarität unter Kolleg:innen (noch) nicht niederlegen können, als Streikende mitrechnen. Der Klassengegner wird sich davon leider nicht beeindrucken lassen.

Ebenso ist es problematisch, den Unterschied zwischen streikenden Lohnarbeiter:innen und anderen „Streikenden“ als nebensächlich zu betrachten. Grundsätzlich ist es natürlich sehr gut, wenn sich auch Genoss:innenschaften, kleine Selbstständige, Studierende, Schüler:innen und Erwerbslose dem Streik anschließen. Anders als Lohnarbeiter:innen setzt ihr „Streik“ jedoch das Kapital oder den Staat als Arbeit„geber“ nicht ökonomisch unter Druck.

Natürlich zeigt es zwar eine Stärke der Frauen*streiks als politischer und gesellschaftlicher Massenbewegung, dass sich ihr Millionen anschlossen, die zur Zeit ihre Arbeitskraft nicht gegen Lohn verkaufen (können). Aber für die reale Durchsetzungsfähigkeit ist es letztlich von entscheidender Bedeutung, ob es gelingt, vor allem die große Masse der lohnarbeitenden Frauen in den Streik zu ziehen wie auch ihre männlichen Kollegen (ansonsten fungieren letztere eigentlich, ob sie wollen oder nicht, objektiv als Streikbrecher). Das ist vor allem entscheidend, wenn der Frauen*streik über einen befristeten, eintägigen Demonstrationsstreik hinausgehen und zu einem unbefristeten werden soll.

Dazu ist es natürlich von entscheidender Bedeutung, dass auch die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden und die Bürokratie durch klare Forderungen und eine Basisbewegung von unten unter Druck gesetzt wird. Dazu wäre bei den Frauen*streiks ein gemeinsames, möglichst internationales Aktionsprogramm für Schlüsselforderungen notwendig gewesen. Nur so können die weiblichen (wie männlichen) Beschäftigten im prekären Sektor auch wirklich grundlegende Forderungen durchsetzen, weil sie gerade aufgrund ihrer prekären Stellung auf die Solidarität und den gemeinsam Kampf der gesamten Arbeiter:innenbewegung angewiesen sind.

Ein solches Programm wird leider im gesamten Buch von Gago nicht erwähnt, geschweige denn diskutiert. Hier zeigt sich die Achillesferse ihrer Strategie, die jedoch aus dem Verständnis der Subjektkonstituierung der Autorin durchaus logisch folgt.

Arbeiter:innenklasse oder populare Klasse?

Für sie umfasst die feminisierte Arbeit die von Frauen, Lesben, Transgender und Travestis, aber auch die Arbeit von Menschen unterschiedlicher Klassen, die umstandslos zu einem erweiterten Begriff einer Klasse vereint werden.

So beläuft sich beispielsweise der informelle Sektor, die Schattenwirtschaft, in Argentinien auf rund 40 % aller Arbeitenden. Dieser Anteil ist aufgrund der Krise um die Jahrtausendwende in diesem Land selbst für lateinamerikanische Verhältnisse sehr hoch. Unabhängig davon ist es sicher sehr wichtig, Forderungen für diesen Sektor aufzustellen. Doch dieser Sektor, den Verónica Gago auch als „populare Ökonomie“ bezeichnet, besteht keineswegs nur aus Lohnarbeiter:innen.

In einer deutschsprachigen Veröffentlichung der 8 Thesen zur Feministischen Revolution definieren die Herausgeber:innen, was darunter verstanden wird: „Die «populare Ökonomie» umfasst Arbeitsformen, die traditionell als informell definiert werden, sowie Subsistenzarbeit und außerhalb des traditionellen Lohnsystems erfundene Arbeitsformen; sie bezieht sich auf ein heterogenes Proletariat, das mit unterschiedlichen Mitteln für seinen Lebensunterhalt sorgt, etwa durch Müll- und Flaschensammeln oder durch gemeinnützige Arbeit in Suppenküchen. Das Konzept einer «popularen Ökonomie» will diese Arbeitsformen politisieren sowie einer Marginalisierung und Abwertung durch Begriffe wie «informelle Wirtschaft» oder «soziale Ausgrenzung» begegnen.“ (Gago, 8 Thesen zur feministischen Revolution, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2020, S. 6)

Hier wird aus der Not eine Tugend gemacht. Menschen, vor allem Frauen, die aufgrund der kapitalistischen Krise dauerhaft ihre Arbeitskraft nicht mehr verkaufen können, die sich durch Müll- und Flaschensammeln durchbringen müssen, unterliegen objektiv einem Verelendungs- und Entproletarisierungsprozess. Um diesen zu stoppen, ist es notwendig, dafür zu kämpfen, dass diese Menschen wieder ins Lohnarbeitsverhältnis zu existenzsichernden Löhnen integriert werden. Diesen Prozess als „populare Ökonomie“ zu charakterisieren, bedeutet nicht nur, ihn schönzureden. Es bedeutet auch, die Augen vor den objektiven Deklassierungsprozessen des Kapitalismus zu verschließen und damit auch davor, dass diese Tendenzen die Arbeiter:innenklasse schwächen, weil größere Teile aus ihr herausfallen – entweder in Richtung prekäre kleinbürgerliche Existenz oder, im allerschlimmsten Fall, in Richtung Lumpenproletariat. Noch deutlicher wird bei der Einbeziehung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft in die Arbeiter:innenklasse.

Die „erweiterte Klasse“ entpuppt sich hier als Zusammenwürfeln von Proletariat und Kleinbürger:innentum. Mit dieser Ausweitung des Begriffs wird auch die zentrale Rolle der kapitalistischen Ausbeutung, also der Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital, für die Bestimmung der Arbeiter:innenklasse relativiert. Anstelle der Ausbeutung durch das Kapital tritt bei diesem „erweiterten Klassenbegriff“ „die spezifische Abwertung von gemeinnütziger, nachbarschaftlicher, migrantischer und reproduktiver Arbeit. Wir haben verstanden, wie im Alltag ihre Unterordnung im Verhältnis zu allen Formen von Arbeit steht.“ (Ebenda, S. 7)

Nun wird niemand bestreiten, dass diese Arten von Arbeit oft „unterbewertet“ werden. Doch in Wirklichkeit ist die „Ausweitung“ des Ausbeutungsbegriffs einfach nur unscharf und undifferenziert. Migrantische und auch reproduktive Arbeit sind oft Formen der ausgebeuteten Lohnarbeit. Die nachbarschaftliche Tätigkeit mag nicht geschätzt werden – sie stellt ein anderes Verhältnis dar. Mit der Vermischung von Ausbeutung und „Unterordnung“ werden vor allem jedoch die Klassenverhältnisse, in denen sie stattfinden, unklar. So ist sicher auch die Arbeit von armen Bauern und Bäuerinnen oder von unteren Schichten des Kleinbürger:innentums „unterbewertet“. Viele mögen ärmer sein als manche Lohnabhängige. Dennoch gehören sie verschiedenen Klassen an. Während die Arbeiter:innenklasse über kein Privateigentum an Produktionsmitteln verfügt und gezwungen ist, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, sind die Bauern/Bäuerinnen kleine Eigentümer:innen und Warenproduzent:innen. Sie nehmen daher eine widersprüchliche gesellschaftliche Stellung ein. Bei Gago hingegen sind sie umstandslos Teil des Proletariats und sogar „antikapitalistisch“.

Neue Kritik der politischen Ökonomie

Im Buch theoretisiert sie dies weiter. Zwischen feministischen Ökonomietheorien und volkstümlicher Schattenwirtschaft ohne kriminellen Sektor wie Drogenhandel habe es „Intersektionen“ gegeben. Es handle sich bei Letzterer um eine antineoliberale, kollektiv organisierte Überwindung individuellen Lebens in Gestalt von Kooperativen, autonomen Lebensstilen und -entwürfen. Dabei sei Neoliberalismus nicht auf den Gegensatz Staat – Markt reduzierbar.

Für Gago ist die feministische ökonomische Perspektive schon deshalb antikapitalistisch, weil Wertextraktion aus Körperterritorien erfolge. Hier folgt sie dem feministisch-operaistischen Ansatz von Mariarosa Dalla Costa, der ihrer Forderung nach Lohn für Hausarbeit zugrunde lag. Sie weitet ihn sogar aus über die Hausarbeit in der Sphäre der Lohnarbeiter:innenfamilie hinaus, auf praktisch alle Frauen, die irgendwie körperlich arbeiten und nicht zur herrschenden Klasse gehören.

Was in „Feministische Internationale“ als Ausweitung des Klassenbegriffs versprochen wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als die Auflösung des marxistischen Klassenbegriffs. Im Grunde wird der Klassen- durch einen Volksbegriff ersetzt, der stark an die Vorstellungen der antimarxistischen russischen Volkstümler:innen Ende des 19. Jahrhunderts erinnert, die in der Bauern-/Bäuerinnenschaft eine konsequent revolutionäre Klasse erblickten.

Die „Volksökonomie von unten“ produziert zwar in Teilen Mehrwert in Gestalt prekärer Lohnarbeit. Der Rest lebt aber von staatlich vermittelten Transfereinkünften, die wesentlich vom indirekten (Sozial-)Lohn gespeist werden. Der informelle Sektor ist noch abhängiger als Lohnarbeit und sollte (Verteilung der Arbeit auf alle Hände und Köpfe durch Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und öffentliche Arbeiten zu Tariflöhnen unter Arbeiter:innenkontrolle) vollständig in die offizielle Lohnarbeit integriert statt konserviert werden!

Antikapitalistisches Wirtschaften kann unter Herrschaft des Kapitals nur Nischen bekleiden und ihn nicht graduell sukzessive ersetzen. Angesichts des Weltmarkts der Agrokonzerne wäre die Revitalisierung der ursprünglichen Ackerbaugemeinde noch reaktionärer und utopischer als die sozialdemokratischen und populistischen Genossenschaftsillusionen. Die Landfrage kann genossenschaftlich nur in Kooperation mit sozialistischer Planwirtschaft auf höchstem technischen und vergesellschafteten Niveau gelöst werden, nicht durch eine Idealisierung der Subsistenzwirtschaft. Wirklicher Antikapitalismus ist mit dem ökonomischen Romantizismus der russischen Sozialrevolutionär:innen oder großer Teile der lateinamerikanischen populistischen Bewegungen inkompatibel. Gagos Nähe dazu ist als radikale Linkspopulist:in kein Zufall.

Es ist daher auch kein Zufall, dass sich ihr „Antikapitalismus“ im Wesentlichen auf einen Anti-Neoliberalismus, Anti-Extraktivismus und die Betonung des Kampfes gegen die massenhafte Verschuldung von Communities und Armen konzentriert. All dies sind wichtige Themen und Aufgaben, um die sich auch eine proletarische Frauenbewegung organisieren muss. Doch das reicht nicht, um zu bestimmen, worin eigentlich das Ziel des Kampfes bestehen soll. Hier stellt Gago vor allem fast, was sie nicht will: weder kapitalistischen Markt noch Planwirtschaft. Diese wenig originelle Zurückweisung des Sozialismus hat freilich weitreichende Konsequenzen für das Programm zur Frauenbefreiung. Die Überwindung der Trennung von Produktion und Reproduktion ist ohne Sozialisierung der Hausarbeit letztlich nicht möglich. Diese erfordert aber ihrerseits die Enteignung der herrschenden Klasse und die bewusste Reorganisation von Produktion und Reproduktion auf Basis einer Planwirtschaft.

Reform und Revolution

Gago meint hingegen, ohne solche grundlegenden revolutionären Veränderungen auskommen zu können. Für sie überwindet die argentinische Bewegung eine Beschränkung auf Themen, Quoten und Sektoren. Sie praktiziere eine Intersektion von Geschlecht, Klasse und rassistisch Unterdrückten.

Der Ort dieser Verbindung unterschiedlicher Sektoren sind Frauenvolksversammlungen (Asambleas), Netzwerke, die sich gleichzeitig auf Institutionen bezögen, indem sie Forderungen stellten.

Somit würden sie verkörpern, was Rosa Luxemburg revolutionäre Realpolitik genannt hatte: Handeln in der Gegenwart und gleichzeitige Existenz als Möglichkeit, Potenzial. Dieses könne zum Bruch mit dem System führen, sei also eine Rohform der Methode des Systemübergangs. Der Wunsch nach Revolution („Wir wollen alles verändern!“) stamme aus der Realität des vor sich gehenden Wandels. Die Zeit der Revolution sei jetzt angebrochen. Transversalität als neue Organisationsform entwickle die Kapazität, den Feminismus an jeder Ecke in Szene zu setzen, ohne sich in eine Logik umschriebener Forderungen einzwängen zu lassen. In These 5 fasst Gago dies folgendermaßen zusammen:

„Die feministische Bewegung besetzt die Straßen, trifft sich zu Versammlungen, schmiedet territoriale Allianzen und erstellt Diagnosen der politischen Konjunktur. Sie erzeugt eine Gegenmacht, die sich Rechte erkämpft und gleichzeitig einen radikalen Horizont beibehält. Damit demontiert sie den Gegensatz zwischen Reform und Revolution.“ (Gago, 8 Thesen zur feministischen Revolution, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2020, S. 16)

Die Asambleas bilden die Gegenmacht in dem Sinne, dass sie – wie bei Negris Multitude – der Ort sind, an dem sich die Frauen und Unterdrückten zum Subjekt konstituieren, ihre potentia entdecken, einander mitteilen, vermitteln. Die Aufgabe der Asambleas besteht daher auch nicht darin, ein gemeinsames Kampfprogramm zu diskutieren, zu verabschieden und gemeinsame Aktionen zu vereinbaren. Im Gegenteil, diese Form der demokratischen und politischen Zusammenfassung der Kämpfenden unter einem Ziel ist Gago suspekt. Die Verbindung würde vielmehr durch die Diversität und Transversalität der Akteur:innen geschaffen.

Hier wird deutlich, dass sich ihr Begriff von Gegenmacht grundlegend von der revolutionär-marxistischen Vorstellung unterscheidet. Gegenmachtorgane sind grundsätzlich Kampforgane gegen die bestehende Staatsmacht und Klassenherrschaft. Sie können daher auch nur in bestimmen krisenhaften Klassenkampfsituationen entstehen, müssen entweder auf gesellschaftlicher Ebene verallgemeinert werden oder sie sind letztlich dem Untergang – sei es durch Repression oder Integration – geweiht. Werden sie jedoch verallgemeinert, sei es auf betrieblicher und/oder örtlicher Ebene, entwickelt sich eine Situation der Doppelmacht, die entweder revolutionär oder konterrevolutionär gelöst werden muss, also indem die Kampforgane der Gegenmacht zu Machtorganen einer neuen, sozialistischen Gesellschaft oder von den Machtorganen der herrschenden Kapitalist:innenklasse zerschlagen werden.

Nicht so bei Gago. Den „Gegensatz zwischen Reform und Revolution“ „demontiert“ sie, indem sie die Revolution als stetiges Voranschreiten der (feministischen) Gegenmacht konzipiert. Diese bezieht immer neue Schichten und Teile des Proletariats ein, immer neue Sektoren der „popularen Ökonomie“. Die Asambleas oder andere Organe der Gegenmacht erheben dabei natürlich auch Reformforderungen an den bestehenden Staat, organisieren Debatten, erweitern ihren Diskurs, ihr Handlungs- und Vorstellungsvermögen und vor allem auch schon die zukünftige Gesellschaft selbst, indem sie für die Ausweitung der „popularen Ökonomie“ kämpfen. Zu Kampforganen um die politische Macht müssen die Asambleas, muss die so verstandene „Gegenmacht“ erst gar nicht geraten, da die Transformation und Revolution bereits im Gange ist.  Für sie bedeutet soziale Revolution schließlich nicht den Übergang der Staatsmacht in die Hände einer anderen Klasse, sondern ein Höchstmaß an Bewegung und Ausdehnung der Alternativökonomie.

Dieses Konzept ist historisch nicht neu. Es ähnelt vielmehr recht offenkundig dem Revisionismus eines Bernsteins und dem sozialdemokratischen Reformismus, der Abkehr vom Ziel der Machteroberung. Revolutionäre Realpolitik beinhaltet für Gago keine Übergangsstrategie, die Teilkämpfe um Verbesserungen mit Übergangslosungen und der Machtfrage verknüpft, sondern ihr gerät unter der Hand die aktuelle Bewegung zu einer, die beides, Reform und Revolution, „aushält“. Da sie den Kampf für Reformen nicht als untergeordnetes Moment des revolutionären Kampfs akzeptieren kann und will, bleibt von der „Revolution“ letztlich nur die ideologische Verkleisterung einer Spielart der reformistischen Transformationsstrategie übrig, wie sie heute im linken Reformismus und auch bei Strömungen des Linkspopulismus vertreten wird.

Feministische Internationale

Nachdem auch auf nationaler Ebene kein Programm, keine revolutionären Strategie nötig seien, ja als schädlich betrachtet werden, vertritt Gago auch eine Internationale, die ohne diese auskommt.

„Die aktuelle feministische Bewegung bringt einen neuen Internationalismus hervor. Dabei geht es nicht darum, den verschiedenen Kämpfen eine abstrakte Struktur aufzuerlegen, sie zu homogenisieren und dadurch auf eine «höhere» Ebene zu heben. Ganz im Gegenteil: Sie wird an jedem einzelnen Ort als spürbare Kraft wahrgenommen, die ausgehend von Körpern und individuellen Lebensverläufen transnationale Dynamiken auslösen kann. Somit ist die feministische Bewegung eine global organisierte, destabilisierende, im Globalen Süden verankerte und von dort aus wirkende Kraft.“ (Ebenda, S. 19)

Für unsere argentinische, postoperaistische Feministin bildet die Bewegung eine koordinierte Kraft globaler Destabilisierung, webt Netzwerke antiautoritärer Insubordination und Selbstermächtigung ausgehend von Lateinamerika. Sie sei trans- und plurinational (Letzteres bezieht sich auf die indigenen Ethnien, Nationalitäten), überkomme somit Internationalismus wie Nationalstaat, weil sie überall existiere. Ihr Transnationalismus verkörpere die Inversion eines Internationalismus’ von oben.

Der Streik sei zum globalen Schlüsselwort geraten: „Wenn wir streiken, macht die Welt Halt!“

In Anbetracht der Friedhofsruhe innerhalb der klassischen Arbeiter:innenbewegung kann die Bedeutung der Frauen*streiks gar nicht genug betont werden. Haben sie aber „die Welt“ wirklich destabilisiert? Und reicht das aus oder braucht es vielmehr zusätzlich Vorstellungen, wie eine neue Ordnung errichtet werden soll und organisiertes Eintreten dafür? Bei Gago werden Aufbau, Strategie und Programm ganz bewusst der Spontaneität und Unmittelbarkeit überlassen.

„Dieser Ansatz unterscheidet sich stark davon, kollektive Organisationsformen moralisch vorauszusetzen oder theoretisch zu fordern. Der Feminismus in den Stadtvierteln, im Bett oder zu Hause ist nicht weniger internationalistisch als der Feminismus auf den Straßen oder den regionalen Treffen. Genau darin liegt sein starker raumpolitischer Aspekt: In seinem Ansatz, Feminismus nicht in getrennten Sphären zu denken, sondern Transnationalismus aktiv zu praktizieren, in ihm Wurzeln zu schlagen und Territorien gleichzeitig für unerwartete, unzählige und weltweite Zusammenhänge zu öffnen.“ (Ebenda, S. 21)

Mit diesen Zeilen endet die Darlegung der neuen, entstehenden Feministischen Internationale. Sie soll also offensichtlich unterschiedliche Teile und Konzepte ohne Debatte um Strategie, Taktik und Programm lose verbinden. Das Problem der Vermittlung von aktuellem Bewusstsein der Klasse und revolutionärer Strategie, die Frage, um welche Forderungen, um welche kollektiven Organisationsformen, um welche Kampagnen und verbindlichen Aktionen sich eine neue proletarische Frauenbewegung konstituieren soll, taucht in der Schrift erst gar nicht auf. Es scheint vielmehr durch die spontane Entwicklung gelöst. Man müsse einfach „Sphären“ gemeinsam denken, Transnationalismus praktizieren, dann erledigt sich die Frage, um welche Kampfziele und Forderungen sich alles drehen soll, von alleine. Die ökonomistische Vorstellung, dass Klassenbewusstsein spontan aus dem gewerkschaftlichen Kampf entstehe, wird hier auf die Sphäre des Kampfes gegen die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen übertragen, wenn auch philosophisch durch den Rekurs auf die potentia der Menge, durch das politische und ökonomische Handlungsvermögen der (proletarischen) Frauen.

Eine solche Strategie wird unvermeidlich an ihre Grenzen stoßen. Schon jetzt erweist sie sich nach zwei Jahren Pandemie und Krise als unfähig, eine Antwort auf die Stagnation oder sogar den Rückgang der Frauen*streiks in vielen Ländern zu geben. Natürlich wäre es kindisch, einfach ein lineares Wachstum der Bewegung zu erwarten. Zeitweilige Rückschläge und Schwankungen sind unvermeidlich, selbst bei einer revolutionären Führung der Bewegung.

Doch schon allein diese Entwicklungen sind eigentlich ein Argument für verbindliche, internationale Strukturen einer Bewegung und für die Diskussion und Erarbeitung gemeinsamer Forderungen und Aktionen.

Aber – ähnlich wie die Sozialistische Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg – muss sich auch eine neue, internationale Frauenbewegung, wenn sie ihr Potential realisieren will, grundsätzlich den großen strategischen Fragen widmen. Nur so wird sie in der Lage sein, den Kämpfenden, den verschiedenen Bewegungen und Kräften angesichts der aktuellen kapitalistischen Krise und angesichts des schärfer werdenden Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten Orientierung zu geben. Das betrifft auch den Kampf gegen die geschlechtliche Unterdrückung und seine untrennbare Verbindung zur sozialistischen Revolution. Gagos Buch „Feministische Internationale“ kommt zweifellos das Verdienst zu, die Frage der Internationale aufgeworfen zu haben. Eine revolutionäre Antwort darauf präsentiert sie jedoch nicht.




Der Ökosozialismus bei Michael Löwy und seine Revision des Marxismus

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Mit diesem Artikel möchten wir unsere bisherige Kritik des Ökosozialismus zur Diskussion stellen.1 Dabei ist es schwierig, von dem Ökosozialismus zu sprechen, da es sich um einen politisch breit besetzten Begriff handelt. Eine der ausgeprägteren politischen Darstellungen lieferte Michael Löwy, Mitglied der Vierten Internationale (ehemals Vereinigtes Sekretariat), in seinem Buch „Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“2, weshalb wir uns vor allem darauf beziehen. Das bedeutet aber auch, dass dieser Artikel nicht schon unser letztes Wort zu diesem Thema sein kann. Die zunehmende Bedeutung der Ökologie, welche durch die Umweltbewegung eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat, wird eine marxistische Auseinandersetzung mit den Ideen des Ökosozialismus auch in Zukunft erfordern.

Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus war die Tatsache, dass im Dezember 2018 das Netzwerk „Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative“ in Österreich gegründet worden war. Die beteiligten Organisationen Aufbruch Salzburg, Aufbruch Innsbruck, Revolutionär-Sozialistische Organisation (RSO), Sozialistische Alternative (SOAL) und Solidarische Linke Kärnten (SLK) bekannten sich damit zum gemeinsamen Aufbau einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Organisation, ohne ihre eigenen Strukturen aufzulösen. Dieser Gründung war ein Austausch über eine antikapitalistische und ökosozialistische Kooperation vorangegangen, an dem wir uns zwar nicht personell beteiligen konnten, aber zu dem wir in einem Diskussionsbeitrag3 unsere Offenheit gegenüber einer antikapitalistischen Kooperation klarstellten. Zur Frage des Ökosozialismus konnten wir damals noch keine fundierte Position beziehen. Deshalb schrieben wir: „Ist der Begriff des ‚Ökosozialismus‘ wirklich noch so offen oder stehen hinter dem Begriff teilweise nicht schon seit längerer Zeit linke Strömungen, die sich damit bewusst vom ‚orthodoxen‘ Marxismus abzugrenzen versuchten? Wir halten eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus im Rahmen einer Kooperation jedenfalls für vernünftiger, als diesen als Ausgangspunkt einer solchen zu setzen.“ Unsere Bedenken wurden jedenfalls bei der Gründung dieser Kooperation nicht berücksichtigt. Auch haben wir von keiner Seite eine Antwort auf unseren Beitrag erhalten.

Zum inhaltlichen Einstieg möchten wir klarstellen, dass sich unsere Kritik des Ökosozialismus nicht auf die hervorgehobene Bedeutung der Ökologie bezieht. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in einem immer drastischeren Ausmaß und gefährdet damit nicht nur die Möglichkeit einer zukünftigen egalitären Gesellschaft, sondern die Existenz menschlicher Zivilisation überhaupt. Dementsprechend kann man der Umweltfrage gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Unsere Kritik bezieht sich vielmehr auf die Revisionen, die zum Teil und unter anderen bei Löwy an den revolutionären Auffassungen des Marxismus vorgenommen werden und zu gefährlichen politischen Schlussfolgerungen verleiten. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich zu erwähnen, dass einige dieser Revisionen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – bis in die historischen Ursprünge des Ökosozialismus in entsprechenden Debatten innerhalb der deutschen Grünen in den 1980er Jahren zurück reichen. Eine lesenswerte Kritik an den damaligen ökosozialistischen Führungsfiguren Rainer Trampert und Thomas Ebermann findet sich schon bei Dieter Elken4. Nun aber zu Michael Löwy.

Warum Ökosozialismus?

Löwy geht davon aus, dass die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten unvereinbar ist mit der „expansiven und zerstörerischen Logik des kapitalistischen Systems“ (S. 7). An dessen Stelle brauche es über den Weg einer Revolution eine nachhaltige Gesellschaft auf Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Soweit können wir ihm folgen. Aber schon beim eigentlichen Ausgangspunkt für seine Theorie des Ökosozialismus wird es schwierig: Löwy unterstellt der ArbeiterInnenbewegung sozialdemokratischer und stalinistischer Tradition eine „Fortschrittsideologie“ und eine „Ideologie des Produktivismus“. Er definiert nicht klar, was er darunter versteht. Aber sofern er damit die Unterordnung der Ökologie unter die quantitative Ausweitung der Produktion meint, können wir ihm zustimmen – allerdings sind wir nicht wie er bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sogleich die Idee des Fortschritts zu verwerfen, sondern würden diese vielmehr unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verteidigen. Wie dem auch sei, aufgrund des „Produktivismus“ müsse es eine „Konvergenz“ (S. 37) der ArbeiterInnen- und der Umweltbewegung zum Ökosozialismus geben. Dabei handle es sich um eine „ökologische Theorie- und Aktionsströmung, die sich die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus zu eigen macht und sich dessen Schlacken entledigt“ (S. 28). Man muss ihm zugutehalten, dass er entgegen anderen ÖkosozialistInnen Marx und Engels gegen den „Produktivismus“-Vorwurf letztlich verteidigt. Warum es daher abseits der noch zu diskutierenden Schlacken nicht ausreiche, den Marxismus gegen sozialdemokratische und stalinistische Entstellungen zu verteidigen und die Umweltbewegung für den Marxismus zu gewinnen, bleibt an dieser Stelle noch etwas unverständlich.

Zur Herrschaft über die Natur

Einen Teil der Antwort findet man in Löwys Auseinandersetzung mit Marx‘ und Engels‘ Bemerkungen zur Herrschaft über die Natur, die sich immer wieder in ihren Werken finden und die immer wieder kritisiert wurden. So verweist er beispielhaft auf Engels‘ Aussage, dass die Menschen im Sozialismus zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur werden. Anschließend verweist er wohlwollend darauf, dass Marx den Mensch als Teil der Natur gesehen habe (was hier nicht als Widerspruch zu Engels gemeint ist). Er zitiert eine bedeutende Textstelle bei Engels selbst, die da lautet: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. ( … ) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außerhalb der Natur steht (…) und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“5 Trotz dieser Klarstellung und Verteidigung von Marx und Engels gesteht er den falschen KritikerInnen zu, dass die marxistischen Schriften Anlässe für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Natur böten. Und schlussendlich behauptet er, dass Marx am Ende den Sozialismus nicht mehr als „Herrschaft“ oder „Kontrolle“ des Menschen über die Natur gesehen habe, sondern eher als „Kontrolle des Stoffwechsels mit der Natur“ und offenbart zumindest seine Distanzierung zur marxistischen Terminologie – wozu man einwendend fragen könnte, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur denn (nachhaltig) kontrollieren könne ohne Kontrolle und Beherrschung der Natur im Engels‘schen Sinne, sprich dem Erkennen und Anwenden ihrer Gesetze.

Zur Frage der Produktivkräfte

Kommen wir aber zum eigentlichen Kritikpunkt von Löwy am Marxismus. Diesen verortet er in einer bestimmten Formulierung des historischen Materialismus von Marx selbst, im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in einen Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ( … ). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“6 Dazu meint Löwy: „Diese Konzeption scheint den Produktivapparat als ,neutral’ zu betrachten: und wenn er einmal von den durch den Kapitalismus auferlegten Produktionsverhältnissen befreit sei, könne er sich unbegrenzt entwickeln. Der Irrtum dieser theoretischen Konzeption muss heute nicht einmal mehr bewiesen werden. ( … ) [Der Produktivapparat ist] nicht neutral, er dient der Akkumulation des Kapitals und der unbegrenzten Expansion des Marktes. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Umweltschutzes ( … ). Man muss ihn daher ‚revolutionieren‘ ( … ) Das kann für bestimmte Produktionsbranchen bedeuten, sie zu ‚brechen‘ ( … ).“ (S. 33 f.) Und gegen Ende des Buches erklärt er, dass „eine sozialistisch-ökologische Transformation zugleich sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Produktivkräfte, und damit verbunden, die Konsummodelle, die Transportsysteme sowie letztlich die gesamte kapitalistische Zivilisation umwandeln muss.“ (S. 139)

Die ökologische Frage fordere laut Löwy daher von den MarxistInnen eine Revision der traditionellen Konzeption der Produktivkräfte und er zitiert wohlwollend den italienischen „Ökomarxisten“ Tiziano Bagarolo, der meint: „Die Formel, nach der sich eine Transformation potenzieller Produktivkräfte in reale Destruktivkräfte vor allem in Bezug auf die Umwelt vollzieht, erscheint uns [für den Entwurf eines ‚differenzierten‘ Fortschrittkonzepts] angemessener und bedeutsamer als das altbekannte Schema des Widerspruchs zwischen (dynamischen) Produktivkräften und (den sie in Ketten haltenden) Produktionsweisen.“ (S. 25 f.) Zum besseren Verständnis sei hier Marx selbst zu den Destruktivkräften zitiert: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (… ).“7

Dass Löwy Marx‘ und Engels‘ Konzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Irrtum (ohne Beweis!) einfach beiseiteschiebt, ist höchst problematisch. Immerhin bildet sie den Kern der materialistischen Geschichtsauffassung im Marxismus. Der Verweis, dass eben alles revolutioniert werden müsse, bietet dafür keinen Ersatz, denn dabei handelt es sich nur um eine Schlussfolgerung und um keine materialistische Herleitung gesellschaftlicher Veränderung. Obendrein basiert diese Schlussfolgerung auf der falschen Unterstellung, dass die Veränderung der Produktionsweise nicht auch eine qualitative Veränderung der Produktivkräfte nach sich ziehe und impliziert eine „produktivistische“ Deutung. Was die Entwicklung von Produktivkräften tatsächlich bedeutet, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, was Marx eigentlich unter Produktivkräften verstanden hat – was Löwy in seinem Buch unterlässt. Im ersten Band von „Das Kapital“ schreibt Marx: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel und durch Naturverhältnisse.“8 Die Produktivkräfte umfassen also nicht nur Wissenschaft, Technik oder Maschinerie, sondern (wie an anderer Stelle formuliert) die Naturbedingungen, unter denen produziert wird, und die menschliche Arbeitskraft selbst, die es natürlich beide zu bewahren gilt. Somit wird klar, dass Umweltzerstörung bei Marx Zerstörung von Produktivkraft ist!

Somit teilt Löwy ein gutes Stück die undialektische Interpretation eines Großteils der Sozialdemokratie und des Stalinismus vom Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie. Demzufolge laufe in der Geschichte ein unilinearer Entwicklungsprozess der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ab, der auf einer bestimmten Stufe an die Schranke der Produktionsverhältnisse stoße. Somit wird der dialektische Charakter von Produktionsweisen, welche die Vermittlung des Gegensatzpaares von Produktivkräften (Inhalt) und Produktionsverhältnissen (Form) verkörpern, reduziert auf die Frage, ob die Produktivkräfte im quantitativen Sinn weiter wachsen können oder nicht, um den Übergang zu einer neuen Produktionsweise zu begründen. Es wird also nicht thematisiert, inwieweit der Gegensatz objektiv revolutionäre Möglichkeiten schafft, ja dieser gerade in der letzten aller Klassengesellschaften, dem Kapitalismus, mit der Entwicklung der Produktivität der Arbeit immer heftiger eklatieren muss. Vielmehr wird die Überlebtheit der jeweils aktuellen Produktionsweise, die notwendig die Überlebtheit bestimmter Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse beinhalten muss, verflacht so definiert, als ob die Produktivkräfte aufgehört haben müssen zu wachsen. Die Dynamik des Kerns der materialistischen Geschichtsauffassung wird somit eingeebnet. Leugnen die ÖkologInnen den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen und machen für die ökologische Katastrophe einseitig erstere verantwortlich, so entstellen AutorInnen wie Löwy und zumindest ein Teil der Öko-SozialistInnen den Marxismus ebenso wie die sozialdemokratischen und stalinistischen ApologetInnen. Für diese stellt sich die Frage der revolutionären Aufhebung einer Produktionsweise durch eine andere als eine objektivistische in Gestalt des Waltens und Wachsens der Produktivkräfte, nicht des subjektiven Faktors der revolutionären ausgebeuteten Klasse. Bagarolo fasst zudem den Widerspruch falsch als einen zwischen Produktivkräften und Produktionsweisen, nicht -verhältnissen. Die Sozialdemokratie, Stalinismus und Ökosozialismus letztlich gemeinsame einseitige Interpretation, die sie Marx und Engels unterschieben, ist streng genommen nur für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im engeren Sinne richtig. Weder auf den Übergang von klassenlosen zu Klassengesellschaften noch auf den zwischen vorkapitalistischen, auf dem Grundeigentum beruhenden Produktionsweisen ist diese enge Auslegung so ohne Weiteres anwendbar. Die Übergänge zwischen mykenischem Griechenland und den Stadtstaaten der klassischen Antike bzw. zwischen antikem Rom und europäischem Mittelalter waren oft mit langen Phasen des Rückgangs von Produktivkräften und Kultur verknüpft. Im weiteren und dialektischen Sinn bleibt natürlich die Aussage des Vorwortes hier richtig, weil gerade der Niedergang der Produktivkräfte zu anderen Produktionsverhältnissen führen muss, will sich die Gesellschaft weiterentwickeln. Gemäß den revisionistischen Entstellungen der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung müssten dagegen von der asiatischen Produktionsweise über die Antike bis zum Feudalismus sich die Produktivkräfte von Stufe zu Stufe stets gesteigert haben. Der Übergang zwischen diesen Produktionsweisen, so er denn überhaupt stattgefunden hat, muss nach diesem Konzept dann die Bremsen jeweils gelöst haben.

Doch der Geschichtsverlauf gleicht nicht einem mit zunehmender Geschwindigkeit stets vorwärts rollenden Fahrzeug, das ab und an abgebremst wird, um danach seine Fahrt umso zügiger fortzusetzen. Manchmal geht ihm der Sprit aus, wechselt es die Richtung, baut einen Unfall und die Besatzung wechselt es gegen ein anderes aus.

Zur ökosozialistischen Ethik

Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es sich bei der Frage der Produktivkräfte nur um ein belangloses Missverständnis handelt. Tatsächlich folgen aus der falschen Theorie aber irreführende Folgerungen für die Praxis. Löwy problematisiert die Hemmung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus nämlich kaum, sondern vorwiegend deren falsche Entwicklung und Handhabung. Dementsprechend spielt der offensichtlichste Ausdruck von Produktivkrafthemmung und -zerstörung, die Wirtschaftskrise, keine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption. Wirtschaftskrisen werden bei ihm vor allem aufgrund der darauf folgenden hemmungsloseren Ausbeutung der Natur als Verschärfung der Umweltkrise thematisiert. Natürlich gibt es auch Menschen, die darunter leiden und sich gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur wehren, aber er skizziert keine revolutionäre Situation, in der die herrschende KapitalistInnenklasse in eine politische Krise gerät und die ausgebeutete und unterdrückte ArbeiterInnenklasse die bestehenden Verhältnisse nicht mehr ertragen möchte. Stattdessen widmet er ein eigenes Kapitel einer „ökosozialistischen Ethik“ (S. 91 – 99), die der nicht-ethischen Logik des Kapitals radikal entgegengesetzt sei. Dabei wird noch einmal der genannte Zusammenhang zur Revision der Marx‘schen Auffassung der Produktivkräfte deutlich: „Der Sozialismus und die Ökologie beinhalten beide qualitative soziale Werte, die nicht auf den Markt reduzierbar sind. ( … ) Diese Konvergenz der Empfindsamkeiten wird nur möglich, wenn die MarxistInnen ihr traditionelles Konzept der ‚Produktivkräfte‘ einer kritischen Analyse unterziehen – und wenn die ÖkologInnen mit der Illusion einer im Grunde natürlichen ‚Marktwirtschaft‘ brechen.“ (S. 94)

Die ökosozialistische Ethik müsse sozial, egalitär und demokratisch sein und der Ökosozialismus würde letztendlich als Ethik der Verantwortung zum humanistischen Imperativ: „Die ökologische Krise, die das natürliche Gleichgewicht der Umwelt bedroht, gefährdet nicht nur Fauna und Flora, sondern auch und vor allem die Gesundheit, die Lebensbedingungen und das Überleben unserer Spezies. Der Kampf für die Rettung der Umwelt, der notwendigerweise zugleich ein Kampf für einen Zivilisationswandel ist, wird zum humanistischen Imperativ, der nicht nur diese oder jene Klasse betrifft, sondern die Gesamtheit der Individuen und jenseits davon auch die kommenden Generationen.“ (S. 95) „Ein Paradigmenwechsel wird benötigt, ein neues Zivilisationsmodell, kurz: eine revolutionäre Umwälzung.“ (S. 97) Hier verlässt Löwy nicht nur den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich von seinen utopischen Vorläufern dadurch abgrenzte, dass er ihn aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklung begründete und nicht aus moralischen oder sonstigen Prinzipien, nach denen sich die Welt zu richten habe. Mit dem Verweise auf die Betroffenheit „nicht nur dieser oder jener Klasse“ bereitet er implizit einer „ökologischen Volksfront“ den Boden, sprich einer klassenübergreifenden Strategie zur Abwendung der ökologischen Katastrophe.

Zur Revolution

Im Marxismus ist es die ArbeiterInnenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess den Kapitalismus nicht nur beseitigen kann, sondern daran auch ein objektives Interesse hat. Wer ist das „revolutionäre Subjekt“ bei Michael Löwy? Eine wirklich eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Natürlich bezieht sich Löwy implizit beim Ökosozialismus als Konvergenz von ArbeiterInnen- und Umweltbewegung auf die ArbeiterInnenklasse. Auch spricht er davon, die Produktionsmittel in die Hände der ArbeiterInnen zu geben. Aber die Rolle der ArbeiterInnenklasse wird nicht weiter ausgeführt und wo es um politische AkteurInnen geht, hebt er vor allem indigene Gemeinschaften hervor und als besonders entscheidend die globalisierungskritische Bewegung. Aufschlussreicher ist die „Internationale ökosozialistische Erklärung von Belém/Brasilien (2008)“, die Löwy am Ende des Buches anfügt. Dort heißt es: „Die am stärksten unterdrückten Schichten der menschlichen Gesellschaft, die Armen und die indigenen Bevölkerungsgruppen, müssen ein prägender Teil dieser ökosozialistischen Revolution werden ( … ) Gleichzeitig ist die Geschlechtergerechtigkeit eine grundlegende Komponente des Ökosozialismus ( … ) In allen Gesellschaften gibt es darüber hinaus noch weitere mögliche TrägerInnen für eine revolutionäre ökosozialistische Veränderung. ( … ) Die Arbeiterkämpfe, die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe der Landlosen und der Arbeitslosen für soziale Gerechtigkeit sind untrennbar mit den Kämpfen für Umweltgerechtigkeit verbunden.“ (S. 169 f.) Es ist unbestreitbar, dass all die genannten sozialen Gruppen wichtig sind im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber zumindest in der Erklärung von Belém, die Löwy unterzeichnet hat, sind die Kämpfe der ArbeiterInnen nur ein Teil vieler Kämpfe, ohne herausragende Rolle. Wir wollen hier keinen rein ökonomischen ArbeiterInnenkampf beschwören – es geht um die Frage, wer die notwendige revolutionäre Umgestaltung tatsächlich vollziehen kann und auf wen sich eine sozialistische Organisation daher orientieren und stützen muss.

Diese Frage wird in Löwys Buch allerdings nicht gestellt. Überhaupt findet sich bei ihm keine wirkliche Begründung einer politischen Organisation, geschweige denn Partei. In der marxistischen Tradition müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zur ArbeiterInnenpartei formieren, zum politischen Subjekt werden, um die Mehrheit der Lohnabhängigen (und unter ihrer Führung auch Teile des KleinbürgerInnentums) für den Sozialismus zu gewinnen. Auch bleibt in diesem Zusammenhang bei ihm die Frage offen, wie ein revolutionäres Klassenbewusstsein in der ArbeiterInnenklasse befördert werden soll. Die ÖkosozialistInnen haben sich in einem internationalen Netzwerk organisiert, der Aufbau einer Partei gehört nicht zu dessen Zielen.

Zu guter Letzt wollen wir noch auf eine zentrale Frage eingehen, nämlich die programmatische Methode. Löwy kommt wie wir aus einer politischen Tradition, die sich die Methode von Trotzkis Übergangsprogramm auf die Fahnen schreibt. Er stellt richtig fest, dass die Notwendigkeit der Revolution nicht bedeutet, auf den Kampf für Reformen, also für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu verzichten. Allerdings geht er dabei so weit, dass er die Übergangsdynamik vom Kapitalismus zum Sozialismus im Kampf für (ökosoziale) Reformen verortet: „Der Kampf für ökosoziale Reformen zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich Träger einer Veränderungsdynamik ist, des Übergangs von Minimalforderungen zu einem Maximalprogramm, unter der Bedingung, dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft ( …).“ (S. 37) Mit Minimalforderungen werden im Marxismus Reformen bezeichnet, die den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellen, während Maximalforderungen die nach einer zukünftigen Gesellschaft bezeichnen. Übergangsforderungen wie zum Beispiel diese, dass die ArbeiterInnen in ihren Betrieben Komitees schaffen, mit denen sie eine Kontrolle über die kapitalistische Produktion ausüben, sollen am Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt anknüpfen (in diesem Beispiel könnte es um die Umweltverträglichkeit des Unternehmens gehen), aber die ArbeiterInnenklasse zur Eroberung der politischen Macht befähigen. Löwy formuliert in Wahrheit keine solchen Übergangsforderungen. Stattdessen scheint es, als ob er darunter nur solche versteht, die in der kapitalistischen Profitlogik nicht umsetzbar sind („dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft“), etwa die öffentliche Umgestaltung des Verkehrssystems, und somit über den Kapitalismus hinausweisen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Übergangsforderungen, weil sie in ihrer Konsequenz nicht zur Selbstermächtigung der ArbeiterInnen gegen das Kapital führen und nicht mit der Intervention einer revolutionären Vorhutpartei zum Zweck der Lösung der Machtfrage verbunden werden. Aber lassen wir Trotzki im Namen der IV. Internationale selbst zu Wort kommen:

„Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. ( … ) Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, wo nicht mehr die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen; ( … ) wo jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.

Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. ( … )

Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten ‚Minimal‘-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. ( … ) Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d. h. revolutionären Perspektive. In dem Maße, wie die alten partiellen ‚Minimal‘-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen – und das geschieht auf Schritt und Tritt –, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“9

Übergangsforderungen bestehen eben nicht nur im Kampf für (ökosoziale) radikale Reformen, sondern zielen auf einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft, im Besonderen durch den Aufbau proletarischer Gegenmacht. Im Gegensatz dazu weist der Ökosozialismus von Michael Löwy programmatisch nicht über einen Kampf um Minimalforderungen, gepaart mit einem ökologischen Maximalismus, hinaus.

Endnoten

1 Dieser Beitrag ist eine Ausweitung und Überarbeitung des im Jahr 2019 erschienenen Artikels „Ökosozialismus: Kritik der Konzeption von Michael Löwy“ (siehe http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=3957). Insbesondere der Abschnitt zu den Produktivkräften wurde zugespitzt und jene zur ökosozialistischen Ethik sowie zur Übergangsmethode mit Zitaten versehen.

2 Löwy, Michael: Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, LAIKA Verlag, Hamburg 2016

3 http://www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2018/08/AST_-Diskussionbeitrag-zur-antikapitalistischen-Kooperation.pdf

4 http://marxismus-online.eu/display/dyn/paf1276a7-5407-4e3f-9299-eaedaed2660d/content.html

5 Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, MEW 20; Berlin/O. 1962, S. 452 f.; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 67

6 Marx, Karl: Vorwort zu ders.: Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 9; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 69

7 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin/O. 1969, S. 69; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 70

8 Marx, Karl: Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW 23, Berlin/O. 1971, S. 54

9 Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938). In: Ders.: Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 – 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen o. J., S. 7 f.




Riexingers Green New Deal: “System Change” statt Sozialismus

Mattis Molde, Neue Internationale 252, Dezember 2020/Januar 2021

Bernd Riexinger, der scheidende Vorsitzende der LINKEN, geht unter die BuchautorInnen. Schon 2018 legte er mit „Neue Klassenpolitik“ einen Text vor, in dem er die strategische Ausrichtung der Linkspartei zu begründen suchte. Mit seinem vor wenigen Monaten beim Hamburger VSA-Verlag erschienenen „System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal“ versucht er, eine langfristige, strategische Antwort auf die derzeitige Krise vorzulegen.

Er will deshalb die herrschenden Zustände angreifen, den „Status quo in Frage stellen“. Auch wenn er den Kapitalismus nicht abschaffen will, so will er eine andere „Formation“ desselben erreichen. Dass der Vorsitzende einer reformistischen Partei dem Reformismus treu bleibt, überrascht nicht weiter. Die Beschäftigung mit seinem Buch erweist sich dennoch als sinnvoll. Reformistische Parteien und ParteichefInnen begründen ihre „Realpolitik“ in der Regel erst gar nicht theoretisch, da sie diese ohnedies, ganz im Sinne ihres engen, pragmatischen Horizonts, für alternativlos betrachten.

Riexinger hingegen hält dies für nötig, weil er einen „neuen“ Linksreformismus begründen will, dessen Vorstellung von Systemwandel (System Change) und Green New Deal sich nicht nur vom revolutionären Marxismus, sondern auch von den Konzepten der Sozialdemokratie und der Grünen unterscheiden und abgrenzen soll.

Krisenerscheinungen

Dabei greift er reale Probleme auf: „Lange schon schwelen verschiedene Krisen des Kapitalismus: Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und das Gefühl von vielen, dass die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Corona hat diese Vielfachkrise des Kapitalismus verschärft und zugespitzt.“ (System Change, S. 9) Er beschreibt Erscheinungen und Probleme, die mit dem Kapitalismus zu tun haben bzw. von ihm produziert werden. Punkte, an denen man spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist auf dieser Welt. Aber eine marxistische Krisenanalyse stellt dies nicht dar. Die kommt auch später nicht.

Ein Beispiel: „Soziale Ungleichheit“: Ist das eine „Krise des Kapitalismus“? So wie dieses System funktioniert, produziert und reproduziert es immer Ungleichheit, da die BesitzerInnen von Kapital dieses ständig vermehren, während die Arbeitenden im Normalfall nur sich und ihre Familie reproduzieren können. Man könnte die Frage stellen, ob die Ungleichheit gewachsen ist oder ob soviel Kapital angehäuft worden ist, dass seine Verwertung so schwierig wird, dass dies zu einer Krise des Systems wird, die aus der Entfaltung seiner eigenen Gesetzmäßigkeiten erfolgt. Das wäre eine „Krise des Kapitalismus“ im marxistischen Sinne. Da solche Analysen in dem Buch nicht vorkommen, will uns Riexinger wohl nur sagen, dass die Ungleichheit zunimmt, dass dies ungerecht ist und bekämpft gehört.

Letztere Aussage ist ja unbestreitbar richtig. Wir werden später aber sehen, dass dieses Herumwerfen mit Begriffen eine politische Funktion hat.

Krisenursachen

Die Untersuchung des Kapitalismus findet also nicht statt und auch nicht, wie diese einzelnen „Krisen“ zusammenhängen. Er beschreibt die Erscheinungen meist ganz treffend und belegt, dass die vorgeblichen Bemühungen von Bundesregierung oder EU-Kommission, bestimmte Probleme, z. B. die globale Erwärmung, anzugehen, hilflos sind, Einzelmaßnahmen darstellen und durch die generelle Ausrichtung der Politik konterkariert werden.

Ein Beispiel: „ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits Ende 2019 ein Konzept für einen Green Deal auf den Weg gebracht, der die Klima- und Wirtschaftspolitik stärker aufeinander abstimmen soll. Ziel sind massive Investitionen in neue Technologien zur effizienteren Ressourcennutzung und zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen. Das klingt gut, erweist sich aber bei näherem Hinsehen wie eine Mischung aus „Greenwashing“ und Wettbewerbspolitik. Das Ziel, bis 2050 eine „grüne Null“ zu erreichen, ist für die EU ein Fortschritt, reicht aber nicht aus, um die Klima-Katastrophe zu verhindern. Während aus einem Fonds Investitionen in den Klimaschutz finanziert werden sollen, fördern zahlreiche EU-Töpfe mit Milliarden Euro klimaschädliche Großprojekte.“ (System Change, S. 24)

Aus all diesen Beispielen folgt für Riexinger, dass eine neue Politik nötig ist.

Wer soll es richten?

Riexingers Verdienst besteht darin, ein Projekt vorzulegen, das versucht, die ganzen Probleme in ihrer Vielfältigkeit anzugehen. Sein Ziel ist es, alle Bewegungen, die gegen diese aktiv sind, zu einer einzigen zu vereinen, die dann alles für alle erreicht, was sozial und ökologisch ist, unabhängig von Geschlecht und Herkunft.

Dieses Projekt stellt politisch sehr viel mehr dar, als was andere reformistische Führungen derzeit zu bieten haben: Die Sozialdemokratie besinnt sich gerade darauf, dass es ein Jahr vor den Bundestagswahlen vielleicht opportun wäre, wenigstens ein paar Forderungen zu haben, die klarmachen, wo sie steht, bzw. die den schäbigen sozialen Flicken der SPD am Kostüm der Großen Koalition mehr Glanz verleihen sollen. Die Gewerkschaften im DGB sind komplett unfähig, irgendeine Gemeinsamkeit für die ökonomischen und ökologischen Herausforderungen zu formulieren. Jeder Teil der Bürokratie bleibt borniert bei den Leisten seiner Branche.

Riexinger fasst sein Projekt so zusammen: „Entscheidend ist, ein Bündnis sozialer Bewegungen für den sozial-ökologischen Umbau und unteilbare Solidarität aufzubauen. Dafür ist der Green New Deal kein Masterplan, sondern ein strategischer Vorschlag, wie wir eine bessere Welt gewinnen können.“ (System Change, S. 132 f.)

Die Ziele, die er vorschlägt, basieren auf den bekannten Forderungen der Linkspartei:

  • Löhne, die zum Leben reichen, 13 Euro Mindestlohn, Leiharbeit verbieten, prekäre Arbeit abschaffen, Arbeitszeit um die 30-Stunden-Woche mit Lohnausgleich,
  • Rentenniveau auf 53 % anheben, Mindestrente von 1.200 Euro, AlG I auf 24 Monate verlängern, Elterngeld auf 24 Monate anheben.

Für die „Transformation der Auto-Industrie“ stellt Riexinger sich unter anderem vor, Fahrzeuge für kollektive Mobilitätskonzepte herzustellen und einen Ausbau der Bahn zu forcieren.

Utopie

Der Weg, diese guten Dinge zu erreichen, geht darüber, dass die Bewegungen, die es schon gibt und die sich ja noch mehr verbinden müssen, soviel Druck auf den Staat ausüben, dass dieser die Konzerne und das Kapital dazu zwingt. Am Beispiel der Auto-Industrie liest sich das so: „Der Staat muss die Auto-Konzerne auf einen sozial gerechten, ökologischen Transformationspfad verpflichten. Das wird nur gelingen, wenn Belegschaften, Gewerkschaften, Umweltverbände und Klimabewegung an einem Strang ziehen.“ (System Change, S. 59 f.) Er verweist darauf, dass es im Konjunkturpaket Gelder der Regierung für Transformation gebe.

Für die Zukunft will er dann die Wirtschaft demokratisieren. DAX-Unternehmen sollen mindestens zu 21 % in öffentlichem Eigentum stehen, 30 % Belegschaftseigentum, den Rest dürfen private AktionärInnen behalten (System Change, S. 62). Was er nicht sagt, ist wie den DAX-Konzernen 51 % ihres Kapitals genommen werden sollen.

Solche Utopien kann man nur schreiben, wenn man alles ignoriert, was MarxistInnen über den bürgerlichen Staat formuliert haben. Die Marx’sche Sichtweise erledigt Riexinger, indem er die Aussage, der „Staat sei nur ein Instrument in den Händen von Kapital und Konzernen“ (System Change, S. 103) so interpretiert, als würde sie bedeuten, dass sich der Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht im Staat reflektieren würde, als könnten überhaupt keine politischen Reformen errungen werden. Darüber hinaus unterstellt er der marxistischen Staatstheorie, sie würde Staat und Kapital als identisch betrachten. Zwar weist er die platte bürgerliche Idee, dass „der Staat ein neutrales Instrument sei“ (ebenda) zurück und erklärt stattdessen, „dass sich im Staat Kräfteverhältnisse verdichten. Er ist das Feld, auf dem die verschiedenen Interessen (Klasseninteressen) ausgetragen werden.“ (ebenda)

Hinter diesen Ideen, die auf u. a. auf Poulantzas zurückgehen, steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, nämlich dass rein gewerkschaftliche oder soziale Kämpfe alleine nicht ausreichen, um grundlegende Veränderungen zu erzielen, sondern dass ein politischer Kampf notwendig ist. Aber durch die Weigerung, den bürgerlichen Klassencharakter dieses Staates anzuerkennen, verkommt das Ganze nur zu einer komplexeren Begründung einer reformistischen, bürgerlichen Reformstrategie. Letztlich muss und kann die ArbeiterInnenklasse in Riexingers Augen den Staat in einem langwierigen gesellschaftlichen und institutionellen Kampf übernehmen und verändern.

Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zur marxistischen Staatstheorie, die den bürgerlichen Staat als Herrschaftsinstrument des Kapitals begreift, das über tausende Fäden materieller Spitzenprivilegien die Armee, den Repressionsapparat, die Justiz- und Staatsbürokratie auf sich als herrschende Klasse verpflichtet, um die Interessen des Gesamtkapitals wahrzunehmen. Die Crux besteht gerade darin, dass der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist fungieren kann, weil er nicht mit einzelnen Kapitalien oder der ökonomischen Vertretung der Bourgeoisie identisch ist. So kann er deren Gesamtinteresse auch gegen einzelne dieser Fraktionen durchsetzen – wie ironischerweise beim New Deal der 1930er Jahre.

Das ist auch der Grund, warum ein revolutionäres kommunistisches Programm immer auf die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch einen Rätestaat der ArbeiterInnenklasse, die Diktatur des Proletariats, zielt.

Kein Ausrutscher

Es würde aber auch reichen, die politische Realität wahrzunehmen: Es ist ja kein Ausrutscher, wenn in den Konjunkturpaketen keine Auflagen für die Lufthansa oder die Autokonzerne enthalten sind, denn es geht diesem Staat, seiner Regierung und seinem Apparat dabei immer um das, was im Wortsinn „systemrelevant“ ist: den Erhalt der Profitmaschinen der deutschen Bourgeoisie im Konkurrenzkampf mit ihren internationalen Konkurrentinnen. Dem werden alle sozialen und ökologischen Fragen untergeordnet.

Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Schwammigkeit zu Beginn des Buches bei der Darstellung der vielfältigen „Krisen des Kapitalismus“ ihre Ergänzung und Fortsetzung findet, wenn es um den Staat im Kapitalismus geht. Die Utopie schließt auch ein, dass dieser sozial und ökologisch gebändigte Kapitalismus funktioniert und nicht weiter Krisen produziert.

Riexinger hält seine Utopie für Realismus. Sein Credo ist, man müsse an den realen Bewegungen anknüpfen, weil nur Menschen in Bewegung etwas verändern können. Sein Irrtum besteht darin, dass er auch an den Irrtümern der Bewegungen festhält, ja sie zu seinen eigenen macht. Die Führung der Umweltbewegung beispielsweise glaubt, dass eine ökologische Wende in diesem System, ja sogar mit diesen Regierungen möglich sei.

RevolutionärInnen vertreten einen anderen Ansatz: Sie wollen, dass Menschen in der Bewegung lernen und ihre Ziele ändern. Dafür gilt es immer, Vorschläge zu unterbreiten, die realistisch sind, weil sie funktionieren können. Wir hoffen nicht, dass der Staat der Bourgeoisie durch eine Bewegung gezwungen werden könnte, Maßnahmen gegen jene durchzusetzen und sie teilweise zu enteignen. Wir propagieren, dass die ArbeiterInnenklasse ihre eigene Macht aufbaut. Dass die Beschäftigten Betriebe besetzen, die geschlossen werden sollen. Dass sie unter ihrer eigenen Kontrolle die Produktion oder die Umstellung dieser organisieren. Dass sie sich gegen die Übergriffe des Staates selbst verteidigen.

Eine solche Perspektive ist im revolutionären Sinne realistisch, weil sie von den realen gegensätzlichen Interessen der Klasse und der Rolle des Staates ausgeht und nicht selbst Luftschlösser produziert. Indem sie die Kämpfenden in den Bewegungen darauf vorbereitet, deren Illusionen und falschen Vorstellungen solidarisch kritisiert und darlegt, welche Aktionen und Forderungen notwendig sind, um kurz- und langfristige Ziele zu erreichen, tritt sie für einen revolutionären Realismus ein.

Gewerkschaften

Für seine Vision muss sich Riexinger aber nicht nur den Kapitalismus und seinen Staat schönreden, sondern auch die AkteurInnen seiner Bewegung. Das fängt an bei der Linkspartei, die sich „behauptet“ und die „stabil“ ist, aber auch in „ständiger Veränderung“ (System Change, S. 16). Dafür nennt er neue Mitglieder und WählerInnen im Westen. Meint er auch diejenigen, die die Linke an die AfD verloren hat? Stellt er sich die Frage, warum die Linke so gut wie nichts aus den Verlusten der SPD gewinnen konnte? Was ist mit der Politik der Linken an der Regierung? Martin Schulz sagt zu Recht: „Eine Regierung SPD-Grüne-Ramelow, zum Beispiel, vor der hat in Deutschland keiner Angst.“ Das sollte den Parteivorsitzenden der Linken Angst machen.

In den Gewerkschaften sieht Riexinger völlig zu Recht eine entscheidende Kraft für jede Veränderung. Er sieht auch, dass diese sich entscheiden müssen, „ob sie sich als mobilisierende, organisierende und konfliktorientierte Interessenvertretung stärken oder ob sie sich auf die korporatistische Zusammenarbeit mit (exportorientiertem) Kapital konzentrieren wollen.“ (System Change, S. 96) Dann lobt er das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban, um anschließend festzustellen: „Selbstverständlich gibt es auch ganz andere Stimmen. Betriebsräte und GewerkschafterInnen, die Abwrackprämien auch für neue Dieselautos fordern.“ (System Change, S. 97) Diese „anderen“ Stimmen sind in der IG Metall die absolute Mehrheit. Auch Urban hat der Forderung nach Kaufanreizen für Verbrenner-Autos nicht widersprochen.

Aber die SozialpartnerInnenschaft floriert nicht nur in der Exportindustrie. Die maßgeblich von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen in ver.di angestoßene Pflegekampagne wurde trotz breiter Wirkung von der ver.di-Bürokratie auf einzelne Betriebe beschränkt, eine Politisierung durch die Verbindung mit der Forderung nach Rekommunalisierung der Krankenhäuser bekämpft und die ganze Kampagne in die Sackgasse von BürgerInnenbegehren gelenkt.

Um die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für antikapitalistische Kampagnen jeder Art zu gewinnen, ist also eine systematische Auseinandersetzung mit der SozialpartnerInnenschaft und ihrer Trägerin, der Gewerkschaftsbürokratie, nötig. Schon die Debatte darüber, wie diese aussehen könnte und sollte, wird in der Linken nicht geführt und auf den Streikkonferenzen der Luxemburg-Stiftung konsequent unterdrückt.

No Deal

Die Idee eines sozial gebändigten Kapitalismus‘ ist nicht neu. Riexinger legt dem Raubtier nur noch eine neue ökologische Schleife an. Dieser Traum ist immer wieder befeuert worden, weil es Phasen gab, in denen die Bourgeoisie Zugeständnisse an die ArbeiterInnenbewegung machen musste. Er wurde auch genährt, weil in Krisenperioden die gängigen bürgerlichen Ideologien selbst fraglich werden. Daher suchen auch viele nach radikalen Alternativen. Auch das versuchen Riexinger und die Linkspartei wie auch viele ähnliche Strömungen in Westeuropa, den USA und auf der gesamten Welt aufzugreifen, indem sie einen scheinbar radikaleren Reformismus als gangbare quasi-revolutionäre, antikapitalistische Politik zu begründen versuchen.

Wir wollen was anderes. Die Aufgabe für SozialistInnen und KommunistInnen bleibt es, in einer historischen Krise des kapitalistischen Systems nicht für eine neue sozialere Formation des Kapitalismus zu kämpfen, welche dieses verrottete System sofort wieder zerlegen würde, sobald es kann. Unser Ziel ist der Sieg über dieses System – seine endgültige Abschaffung!




Neuzusammensetzung der LohnarbeiterInnenklasse – ein Überblick

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Die wichtigsten Veränderungen der Sozialstrukter seit Anfang der 1990er Jahre (1) wollen wir thesenhaft umreißen:

a) Der Klassengegensatz im Sinne einer fortschreitenden Trennung der ProduzentInnen von ihren Produktionsbedingungen nahm zu. Die Zahl der Lohnabhängigen (Arbeiterklasse und lohnabhängige Mittelschichten) stieg auf Kosten der Selbstständigen (klassisches Kleinbürgertum).

b) Der Warencharakter der Arbeitskraft prägte sich auch in Bereichen wie Distribution, Zirkulation und öffentlicher Dienst deutlicher aus.

c) Es kam zu einer scharfen Differenzierung, Segmentierung, aber auch Polarisierung der Sozialstruktur bzw. Klassengliederung.

7 Entwicklungstendenzen

1. Die Bourgeoisie ist heute eine in sich selbst hierarchisch gegliederte Klasse. Größere und mittlere KapitalistInnen stellen nur noch 0,5 Prozent der Erwerbstätigen. Die Bourgeoisie ist heute eine von der Finanzoligarchie und wenigen hundert Familien beherrschte Klasse.

2. Die Industriearbeiterklasse, hauptsächliche Produzentin des Mehrwerts, veränderte sich quantitativ und qualitativ. Größere Teile der technischen Intelligenz zählen heute zur Arbeiterklasse. Aber auch die Qualifizierung und Fachkompetenz der alten Industriearbeiterschaft ist gewachsen. In den fünfziger Jahren waren noch mehr als zwei Drittel ungelernte Arbeitskräfte, 2004 nur noch 17% (Westdeutschland) bzw. 10% (Ostdeutschland).

Die Zahl der Maschinenarbeiter („Blaumänner“), der Fabrikarbeiter in der Fertigung ist im besonderen Maße absolut und prozentual gegenüber anderen ausgebeuteten Beschäftigten in der Zirkulationssphäre und im „Dienstleistungsbereich“ in Deutschland rückläufig. Weltweit ist allerdings ihre Zahl angewachsen!

Von den abhängig Beschäftigten im „Dienstleistungsbereich“ müssen ebenso eine Vielzahl zu den produktiven LohnempfängerInnen der Transportindustrie und des Reparaturwesens gerechnet werden! Besonders der Sektor Logistik (Transport von Personen, Gütern, Dokumenten und Daten) entwickelt sich immer mehr zu einer Schlüsselbranche der BRD-Exportwirtschaft. Auch wenn die Bedeutung der Schwerindustrie stark geschrumpft ist, so nimmt in Deutschland der produktive Kern der Klasse zwar absolut und relativ ab, doch längst nicht in dem Maße wie oft unterstellt wird. Berücksichtigen wir außerdem die Zunahme der technischen Intelligenz ist aus dieser Sicht die wachsende Zahl der Angestellten in der Industrie, im produzierenden Handwerk, im Bauwesen, in der Landwirtschaft, im Bergbau, im Transportwesen keinesfalls mit einer Verringerung der Arbeiterklasse, auch nicht der produktiven Arbeit identisch.

3. Die Zahl der LohnempfängerInnen in unproduktiven Sektoren (Handel, Banken, Versicherungen, private und öffentliche Dienstleistungen) stieg beträchtlich. Zu den Angestellten zählen sowohl Angehörige des oberen Managements (leitende Angestellte, Kapitalfunktionäre, Geschäftsführungen), die eine Fraktion der Bourgeoisie repräsentieren, wie ein nicht geringer Teil als DirigentInnen bzw. Manager der lohnabhängigen Mittelschichten. Das Gros der ArbeiterInnen und Angestellten in den Dienstleistungsberufen gehört zwar nicht zur stark veränderten Industriearbeiterschaft, aber eindeutig zur Arbeiterklasse. Sie sind Eigentümer bloßer Arbeitskraft, bekommen nur deren Marktpreis bezahlt, während ihre „Arbeitgeber“ abgesehen von Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge sich mittels der Ausbeutung der unproduktive Beschäftigten einen Profit aneignen, der sich aus einer Umverteilung des in produktiven Sektoren erzeugten Mehrwerts speist. Zu ihnen gehören insbesondere die mehr als 4 Millionen kommerziellen Lohnarbeiter, die Lohnarbeiter im Bildungswesen (abgesehen von den betrieblichen Bildungseinrichtungen), im Gesundheitssektor, in der Werbung, im Bank- und Versicherungswesen.

4. Der Anteil der gewerblichen Mittelschichten an den Erwerbstätigen nahm ab, der der lohnabhängigen Mittelschichten zu. Die werktätige Bauernschaft verschwand fast vollständig.

Ein großer Teil des gewerblichen Kleinbürgertums stieg ins Proletariat ab, ein geringer schaffte den Sprung in die Kapitalistenklasse. Ein großer Teil der Kleinbetriebe sind von Großbetrieben abhängig, an deren Ausdehnung sie daher interessiert sind.

Ein signifikantes Umstrukturierungsmerkmal ist die Ausweitung des höheren und mittleren Leitungspersonals in Staat und Wirtschaft zu einer sozialen Schicht bzw. Klasse, die mit anderen Gruppen abhängig Arbeitender (insbesondere dem Bildungsbürgertum) eine Mittelstellung zwischen Kapital und Arbeit bekleidet. Ihre Oberschicht gehört zur herrschenden Klasse, ihre unteren Segmente zu den Lohnarbeitern bzw. abhängig Arbeitenden.

Unterm Strich überkompensiert die gewaltige Zunahme der unproduktiven Angestellten den Rückgang des produktiven Kerns der Arbeiterklasse in Deutschland. Letzterer wird auch in der hiesigen Linken stark überschätzt. Die deutsche Arbeiterklasse ist größer denn je im Verhältnis des Umfanges von Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie. Weltweit gilt dies erst recht, v.a. auch für die Mehrwert erzeugende Industriearbeiterschaft und die Logistik!

5. Massenentlassungen im Zuge von Rationalisierungen (Mikroelektronik), Verwertungskrisen und zunehmende wirtschaftliche Instabilität erhöhten von einer Konjunkturkrise zur nächsten den Sockel an Arbeitslosen: von 1997 – 2005 lag die Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen im BRD-Durchschnitt bei 10% (Höhepunkt 2005 mit 13%). In Ostdeutschland schwankte sie zwischen 19,1% (1997) und 20,6% (2005). Die Zahl der Langzeitarbeitslosen lag auch 2009 noch bei 2,3 Millionen.

6. Die objektive Schwächung der Kampfkraft des Proletariats durch diese Zahlen wird vervollständigt durch die weitere Segmentierung der Lohnarbeiterschaft. Auch als Folge des Drucks auf Löhne und Arbeitsbedingungen durch die sich verstetigende industrielle Reservearmee nahm der Anteil prekärer Beschäftigung drastisch zu: Leiharbeit, Niedriglohnsektor, Hartz IV, Ein-Euro-JobberInnen, Teilzeitarbeit, Flexibilisierung, Minijobs, unbezahlte Praktika usw. Die Gewerkschaftsführung ist bestrebt, die Kernbelegschaften auf Kosten dieser unteren Segmente zu schonen. Trotzdem ging diese spalterische Politik nicht ohne Einbußen für den Stamm der Arbeiteraristokratie einher (Notlagentarifverträge, Standortsicherungsvereinbarungen unter Verzicht auf Lohnbestandteile und garniert mit unbezahlten Überstunden, Arbeitszeitkonten etc.). V.a. wird somit der immer weiter zunehmenden Lohnspreizung, der wachsenden Ungleichheit in der Klasse nicht abgeholfen. Zudem sind in den letzten 10 Jahren kaum nennenswerte Lohnabschlüsse getätigt worden. Im Gegenteil: Reallohnverluste und ungeheure Arbeitsintensivierung sind der Preis, den auch die gut organisierte Facharbeiterschaft zahlen muss und weiter zahlen wird, wenn sie die zunehmende Kluft in den Reihen der Lohnarbeit nicht durch kühne Gegenoffensive stoppt.

7. Deutlich zurückgegangen ist die Zahl der Großbetriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten in der Industrie, im Bergbau (plus Steine und Erden). Der Trend zur Konzentration eines immer größeren Anteils der Industriearbeiter in Großbetrieben mit mehr als 1000-köpfigen Belegschaften scheint seinen Höhepunkt um 1980 herum gehabt zu haben. 1976 lag er höher als 2007. 1976 gab es in der BRD 1066 solcher Betriebe, in denen 3 Millionen Personen oder 39% aller in Industrie und Bergbau Beschäftigten arbeiteten (1981: 905/3,9 Mio./51%; 1985: 830/3,6 Mio./43%; 1991: 930/3,7 Mio./48%; 1994: 820/3,0 Mio./43%; 2008: 642/1,7 Mio./27%).

Diese Zahlen müssen nicht bedeuten, dass das Gesetz zunehmender Konzentration und Zentralisation des Kapitals außer Kraft gesetzt wurde. Schließlich gründeten die Großkonzerne massenhaft Tochterunternehmen, in die sie große Teile der Arbeitskräfte auslagerten (Outsorcing, Profitcenter, innere Konkurrenz). Die Mutterkonzerne konzentrierten sich zunehmend aufs Kerngeschäft der Produktion, Forschung, Entwicklung, Vertrieb, Marketing und Unternehmenssteuerung. Doch ist diese Entwicklung für die Kampfkraft der Klasse objektiv nachteilig aufgrund schwindenden Konzentrationsgrads.

Fußnote

(1) Statistisches Material für die folgende Darstellung siehe: Ekkehard Lieberam, Strukturwandel und Klassenbildung der Lohnarbeiter in Deutschland – Skizze nach 162 Jahren Manifest; in: E. Lieberam/J. Miehe (Hg.), Arbeitende Klasse in Deutschland – Macht und Ohnmacht der Lohnarbeiter, S. 25 – 80, Pahl-Rugenstein Verlag Nf., Bonn, 2011




Verändertes Bewusstsein angesichts der Krise

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Eine Gleichzeitigkeit von Krise und Konflikt fehlt heute in Deutschland weitestgehend. Liegt das daran, dass die Krise hierzulande noch recht glimpflich ausfiel („Beschäftigungswunder“)? Eine Umfrage unter der untersten Ebene der betrieblichen Interessenvertretung in der Metall- und Elektroindustrie (Vertrauensleute und Betriebsräte) im Frühjahr 2010 ging dieser Frage nach (1).

Fehlendes Krisenbewusstsein?

Diesen in der Regel klassenbewusstesten, für die Initiierung betrieblicher Kämpfe ausschlaggebenden Elementen war ebenso wie der deutliche Bevölkerungsmehrheit bewusst:

  • v.a. bezüglich der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zwischen Kapital- und Vermögensbesitz einer- und Lohn- und Sozialeinkommen andererseits geht es in diesem Land zunehmend ungerecht zu;
  • traditionelle Legitimationsmuster des Kapitalismus („Soziale Marktwirtschaft“) und Neoliberalismus (Notwendigkeit von „mehr Markt“) werden zunehmend in Frage gestellt bzw. deutlich zurückgewiesen;
  • Zukunftsperspektiven werden skeptisch eingeschätzt, drei Viertel erwarten auch von einem Aufschwung keine Verbesserung;
  • besonders erschrickt die Demoskopen die „Breite der systemischen Delegitimierung“. Banken, Finanzinstituten, Unternehmern und Managern, Politikern und dem politischen System insgesamt wird genauso misstraut wie der Umsetzung der „Sozialen Marktwirtschaft“.

Widersprüchliches Bewusstsein der Arbeiteravantgarde

Die Umfrage ergab darüber hinaus:

1. Selbst im Zentrum der deutschen Exportwirtschaft existiert an der Basis der betrieblichen Funktionäre ein fragmentiertes Krisenbewusstsein. Einschätzungen wie „herber Schlag“ finden sich neben „medienpolitischer Übertreibung“. Die eigene Lage wird als besser als die gesellschaftliche empfunden. Sei es, dass die InterviewpartnerInnen meinen, sie hätten ihr Leben noch unter Kontrolle oder anderen ginge es noch schlechter. Was tatsächlich als Krise bezeichnet wird, geht auch deshalb auseinander, weil die Gewerkschaften und ihre Bildungsarbeit hier weiße Flecken hinterlassen.

2. Die Welt der Finanzmärkte erscheint als virtuelle Welt, weit entfernt von jeder betrieblichen Produktion „realer Werte“. Gleichzeitig bemächtigt sich die „fiktive“ Wirtschaft zunehmend der realen. Das Verhältnis von Real- und Geldkapitalakkumulation erscheint in einem finanzgesteuerten Kapitalismus auf den Kopf gestellt. Die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise erscheint in diesem Bild noch gesteigert gegenüber klassischen Konjunkturkrisen. Dem akuten Krisenbewusstsein liegen stärker verschlüsselte Strukturen zugrunde als den Überakkumulationskrisen. Die Krise entschwindet dem Nahbereich. Nicht überquellende Lager, sondern die Folgen falsch gelaufener Finanztransaktionen führen zu Restriktionen für die Unternehmen. Die Finanzkrise erscheint als quasi exterritorialer Ort, die betrieblichen Handlungsmöglichkeiten mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten bis hin zu Kontroll- und Vetopositionen greifen nicht auf Finanzmärkten. Die Frage nach dem „was“ und „wann“ der Krise paart sich mit dem „wo“ und “wogegen“.

3. Warum die „Jahrhundertkrise“ bisher nahezu lautlos über die Bühne gegangen ist, legt die Vermutung nahe, sie würde als singuläre Ausnahme eingeschätzt. In der Befragung äußerten aber viele, für sie sei „immer Krise“. Dieser Widersinn entschleiert sich, wenn die Befragten nicht streng ökonomisch argumentieren, sondern mit „krisenhaft“ fortwährenden Druck und permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingungen assoziieren, die beständige Restrukturierung der Betriebsabläufe: Verlagerungen, Outsorcing, Kostensenkungsprogramme, zunehmende Intensität der Arbeit usw. Auf dem Boden langjähriger Erfahrung einer Verschlechterung von Arbeits- und Lebensverhältnissen drückt Krise als „permanenter Prozess“ Defensivtraditionen bis hin zu regelrechten Niederlagen aus. Für einen Teil ist die Aussage, dass „Leistung sich lohnt“ desavouiert, aber resignativ besetzt.

4. Die Arbeitsplatzsicherung der Stammbelegschaften („German miracle“) beruhte nicht nur auf der erweiterten Kurzarbeiterregelung, sondern – quantitativ bedeutsamer – auf Arbeitszeitverkürzung über das Instrument der Arbeitszeitkonten.

Positiv wird daraus geschlossen: massive Arbeitszeitverkürzung ist ein Mittel zur Beschäftigungssicherung.

Negative Konsequenzen: Beschäftigungssicherheit galt nicht für die Prekären. In den Augen von Unternehmen und durchaus auch Stammbelegschaften funktionierte der „Puffer“ Leiharbeit. Für die Unternehmen allerdings auch nach der Krise (verstärkter Rückgriff auf Leiharbeit über Vorkrisenniveau). Sie haben wertvolle Erfahrungen mit externer Flexibilisierung wie Leiharbeit, befristetem Beschäftigungsverhältnissen und Scheinselbstständigkeit sammeln dürfen.

Das Hoch- und Runterfahren der Arbeitszeitkonten ging zu Lasten immer weiterer Unterwerfung privater Lebensverhältnisse unter die betrieblichen Anforderungen. Die deutschen Unternehmen konnten sich schon vor der Krise brüsten, im internationalen Vergleich über die flexibelsten Arbeitszeitregime zu verfügen. Die Flexibilisierungsspielräume konnten sie in der Krise nochmals ausweiten.

Das Wechselspiel zwischen Kurzarbeit und schneller Auftragsbearbeitung erfolgte auf Kosten wachsenden Zeit- und Leistungsdrucks. Das Experimentierfeld für noch weitergehende Intensivierung der Arbeit steigert das gesundheitliche Risiko der Beschäftigten enorm. Hier tickt eine Zeitbombe.

Der flexible Personaleinsatz ging auch mit innerbetrieblichen Umsetzungen, beruflicher Unsicherheit und Statusverlust einher, was aber nur als vorübergehend empfunden und nicht generell akzeptiert wird (Fachkräfte aus indirekten Bereichen in die Montage).

Fazit: Die „atmende Fabrik“ mit kapazitätsorientierten Arbeitszeiten hat nach krisenbedingter Ultraflexibilisierung noch deutlichere Konturen angenommen.

5. Großformatige Krisenauseinandersetzungen sind zwar ausgeblieben, doch trügt der Augenschein einer Krise ohne Konflikt. Hinter den Kulissen ballen sich tief gehende Ohnmachtserfahrungen gegenüber einer entrückten, unbeherrschbaren Dynamik, aber auch ein diffuses Protestpotenzial ist im Entstehen.

Diese massive Wut wird weniger von Apathie und Fatalismus geprägt, sondern aus Unzufriedenheit über fehlende Einsichten in die Lage, über den Wunsch diese zu ändern ohne zu wissen wie.

Die Wut kennt v.a. in abhängigen Zulieferbetrieben keine Adresse. Hier wird das örtliche Management als machtloses Rädchen im anonymen Großgetriebe verortet und entschuldigt, ohne dass der betriebliche Interessenkonflikt aus dem Bewusstsein verschwindet. Krisenkorporatismus wird zähneknirschend eingegangen, nicht als dauerhafte Lösung angesehen. Resignation, Erschöpfung, soziale Ängste mischen sich mit Wut und Protest. Das Ohnmachtsgefühl adressatenloser Empörung wird auf Staat und Gesellschaft verschoben. Die Protestfantasien beziehen sich oft auf Frankreich. Brennende Reifen, Aktionen auf der Straße und vorm Regierungssitz, „boss-napping“ lassen es „richtig krachen“. Die Hoffnung, aus der subalternen Rolle auszubrechen, endlich wieder mit eigener Stimme wahrgenommen zu werden, die eigenen Interessen endlich wieder ins Spiel zu bringen, ist der Treibstoff im Kampf gegen die eigene Rolle als Fußabtreter der Republik.

Es gibt aber auch Widerstand. Aber es sind Abwehrkämpfe, keine offensiven Auseinandersetzungen auf der Grundlage eigener Alternativvorstellungen.

6. In den Interviews wird immer wieder auf jene Bedingungen verwiesen, die grundsätzliche politische Aktivitäten erschweren: Existenzängste, verschlechterte Arbeitsbedingungen, Spaltungstendenzen in den Belegschaften zwischen Stamm – und Leiharbeitern, Produktionsarbeitern und Angestellten, verschiedenen Nationen und Kulturen usw.

Der Stellenwert der Gewerkschaften wird zwar anerkannt, ja ihr sogar erfolgreiches Krisenmanagement bescheinigt, aber sie wird in der Krise als erklärende, deutende Kraft vermisst! Sie hat zu wenig aufgeklärt, führte keinen Dialog mit Betriebsräten und Vertrauensleuten und war in den Betrieben zu wenig präsent.

Neben mehr Aufklärung und Deutung werden auch Forderungen an die Gewerkschaften formuliert, mehr zu mobilisieren und politischer zu werden.

7. Staat und Politik kommen deutlich schlechter weg. Auf sie verschiebt sich die „adressatenlose Wut“. Politiker sind korrupt und der Staat generell machtlos. Auf den Staat setzt man zwar doch noch, wenn es um Regulierung der Finanzmärkte geht, bleibt aber skeptisch bis resignativ. Krisenbewusstsein und Gesellschaftsbewusstsein liegen enger beieinander als früher, doch „die Politik“ erscheint nicht als Problemlöser, sondern als Teil der Problematik.

Fazit: Das Beschäftigtenbewusstsein bewegt sich im zentralen Dilemma: Wie können kritisch-realistische Handlungsperspektiven entwickelt werden, die schließlich doch die Grenzen dessen sprengen, was als das Machbare erscheint? Wie in der Bevölkerung ist die Unzufriedenheit mit den Gesellschaftszuständen sehr groß, die Idee einer Alternative aber zumindest extrem unterentwickelt.

Unsere eingehende theoretische Beschäftigung mit der Krise kann über die wissenschaftliche Genugtuung, die ein Studierzimmer mit wohlriechendem Flair ausfüllen mag, hinaus zu einem Schlüssel werden für die Freisetzung der objektiven Sprengkraft des gewaltigen Potenzials des BRD-Proletariats werden. Das gewaltige Potenzial schlummert nicht nur in seiner Stellung im Produktionsprozess, seinem Organisationsgrad, sondern auch im widersprüchlichen Krisenbewusstsein. Seine lähmenden Komponenten abzustreifen bedarf es zuerst der Antwort auf folgende Fragen: Was sind die Ausgangspunkte? Wer ist der Adressat, wo liegen die Interventionspunkte und Bruchlinien?

Fußnote

(1) Die Umfragen und Zahlen sind folgendem Text entnommen: Richard Detje/Wolfgang Menz/Sarah Nies/Dieter Sauer, Ohnmacht und adressatenlose Wut im Betrieb – Interessen- und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen, in: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 87, September 2011, S. 46 – 59




Buchtipp: „… und unsere Fahn‘ ist rot

Michael Eff, Infomail 1029, 14. November 2018

Na endlich! Nach fast 40 Jahren ist die politische Autobiografie von Oskar Hippe: „…und unsere Fahn` ist rot“ neu aufgelegt worden. Dem Manifest-Verlag sei ausdrücklich gratuliert und für dieses verlegerische und politische Geschenk gedankt.

Worum geht es? Im Klappentext der Erstausgabe aus dem Jahre 1979 heißt es dazu:

„Diese Erinnerungen eines revolutionären Arbeiters sind ein Dokument der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Die mehr als sechs Jahrzehnte politischer Aktivität dieses Kommunisten aus dem ,roten’ mitteldeutschen Industrierevier umspannen die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der sechziger Jahre. Die Herausbildung des Spartakusbundes und der KPD; ihr Kampf um die Macht in der Periode 1918–1923; die Stalinisierung der KPD und der Kampf der linksoppositionellen Kräfte dagegen; die Machtergreifung der Nationalsozialisten, Illegalität, und Verhaftung; Neubeginn organisierter politischer Tätigkeit nach 1945; Verhaftung durch die sowjetische Militärverwaltung, acht Jahre Zuchthaus und Arbeitslager in der DDR; fraktionelle Arbeit auf dem linken Flügel der SPD in den Jahren des Kalten Krieges; Wiederbelebung einer sozialistischen Linken in den sechziger Jahren … Oskar Hippe, Jahrgang 1900 verbindet in diesen Erinnerungen die Erfahrungen eines Aktivisten an der Basis mit der kritischen Verarbeitung entscheidender Perioden der jüngeren deutschen Vergangenheit.“

Noch im April 1916, in chauvinistischer Hurra-Stimmung, als er mit dem Zug in Berlin ankommt, trägt er eine schwarz-weiß-rot gestreifte Krawatte als Ausdruck seiner „nationalen“ Gesinnung. Seine ältere Schwester nimmt ihm diese Krawatte ab und wirft sie ungehalten auf die Schienen. Am 1. Mai 1916 nimmt er an der berühmten Anti-Kriegsdemonstration auf dem Potsdamer Platz teil, auf der Karl Liebknecht sprach. Im Oktober 1916 tritt er dem Spartakusbund bei. Später wird Mitglied der Reichsleitung der trotzkistischen „Linken Opposition“ – ein Revolutionär der ersten Stunde, der seiner Gesinnung bis zu seiner letzten Stunde treu blieb.

Er schildert die Kämpfe und Niederlagen (vor allem diese) aus der Sicht eines Teilnehmers „von unten“, ohne dabei den Blick für das Ganze zu verlieren und ohne auf den analytischen Zugriff zu verzichten. Was in mir persönlich immer am meisten Bewunderung hervorrief – ich kannte ihn bis zu seinem Tode –, war seine ungebrochene Menschlichkeit. Zweimalige Verhaftung und Folter durch die Nazis, seiner Frau Gertrude wurden zwei Rückenwirbel „kaputt geschlagen“ , acht Jahre Haft in Bautzen in der DDR und die Niederlagen der deutschen Arbeiterbewegung konnten ihn nicht brechen und machten ihn auch nicht zu einem „verbitterten Alten“.

 

Zwei, drei kritische Anmerkungen zur Neuauflage seien aber gestattet.

Erstens hätte man das „Geleitwort“ von Hans Querengaesser für die erste Ausgabe durchaus wieder aufnehmen können. Es ist nach fast 40 Jahren selbst ein historisches Dokument und durchaus lesenswert.

Zweitens hatte die Erstausgabe ein sehr nützliches Personenregister. Warum hat man jetzt darauf verzichtet? Zu aufwendig?

Drittens aber, und wichtiger: Es ist nicht ganz klar, warum sich das Vorwort von Steve Hollasky und Lucy Redler in den historischen Ausführungen weitgehend auf die Novemberrevolution beschränkt. Jubiläumsbedingt?? Das wäre eine sehr dünne Begründung. Wenn man schon in einem Vorwort Ausführungen zu historischen Abläufen macht, worauf hier m. E. durchaus hätte verzichtet werden können, denn Oskar Hippes Text wäre auch so verständlich, dann erscheint eine Beschränkung auf die Novemberrevolution fragwürdig. Die Ereignisse 1923, der Kampf gegen die Stalinisierung der KPD, aber auch die Zeit nach1945 nehmen in Oskars politischer Biografie durchaus breiten Raum ein. Oder gibt es für die Beschränkung politische Gründe, weil man dann z. B. auch Ausführungen zur Taktik des Entrismus für die Zeit nach 1945 hätte machen müssen?

Sei’s drum! Ich freue mich ungemein, dass die Autobiographie eines Genossen, der mich in meiner politischen Jugend beeindruckt und beeinflusst hat, wieder greifbar ist (Oskar unterstützte die „Kommunistische Jugendorganisation Spartacus“). Die Neuauflage dieser politischen Autobiografie eines revolutionären Arbeiters bleibt ohne Wenn und Aber verdienstvoll. Und Oskars Schlussbemerkung behält ihre Gültigkeit: „Ich glaube, dass dieses Buch auch heute, wo eine kritische Jugend dabei ist, die Oktoberrevolution zu studieren und kritisch zu untersuchen, was nach ihr kam, dazu beitragen kann, den Klärungsprozess im Sinne des wahren Marxismus und Leninismus weiterzuführen. Sollte das der Fall sein, so war meine Arbeit nicht umsonst.“

 

Bibliografische Angaben:

Oskar Hippe, …und unsere Fahn` ist rot, Manifest Verlag, Berlin 2018, 264 Seiten, Preis 12,90 Euro, ISBN 978-3-96156-061-5




Abtreibung – Wir müssen anders darüber reden

Joy Macready, Frauenzeitung Nr. 3, Arbeitermacht/REVOLUTION, März 2015

Rezension des Buchs von Katha Pollitt – Pro: Reclaiming Abortion Rights – [Pro: Einforderung von Abtreibungsrechten] Oktober 2014

“Wir müssen die Beendigung einer Schwangerschaft als ein gängiges, sogar normales Ereignis im reproduktiven Leben von Frauen betrachten… Wir müssen Abtreibung als eine dringende praktische Entscheidung ansehen, die genauso moralisch zu werten ist wie die, ein weiteres Kind zu bekommen – manchmal sogar moralisch höher stehend.“

Endlich hat einmal jemand den Mut, die quasi allgemeingültige Darstellung von Abtreibung als Tragödie für jede einzelne Frau an jedem Punkt in ihrem Leben zurückzuweisen. Für viele Frauen kann ein Schwangerschaftsabbruch eine lebensrettende Handlung bedeuten und der Selbsterhaltung dienen. Aber es ist noch mehr als das.

Mutige Darstellung

Wie Katha Pollitt schreibt: „Legale Abtreibung stellt die Frage von Frauenemanzipation in besonders krasser Form. Sie trägt den Körper der Frau aus dem Bereich der Öffentlichkeit und stellt ihre Person, nicht Männer und nicht Kinder, in den Mittelpunkt ihres eigenen Lebens.“

Durch ihr Buch „Pro: Reclaiming Abortion Rights“ versucht Pollitt die Debatte um Abtreibung neu zu gestalten und weist die gängige Sichtweise zurück, dass Abtreibung etwas ‚Schlechtes‘ wäre, „worüber wir traurig den Kopf schütteln und uns dann über den Grad der Schlechtigkeit auslassen, uns in unserem Gerechtigkeitssinn sonnen und unsere moralische Ernsthaftigkeit hervorkehren können, wenn wir über Einschränkungen für die eine oder andere  Frau diskutieren.“

Abtreibung finden statt, egal ob per Gesetz legalisiert, durchgeführt von medizinischen Fachkräften und abgesichert durch allgemeine Krankenversicherungen, oder illegal in schmutzigen Kliniken oder gefährlichen Seitengassen.

Millionen Frauen sind überall auf der Welt gezwungen, gegen Gesetze zu verstoßen und eine Schwangerschaft abzubrechen. Erst vor kurzem wurde die Leiche einer jungen Brasilianerin, Jandyra Magdalena, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt aufgefunden, einen Tag, nachdem sie eine Abtreibung vornehmen ließ. Dies ist ein grausamer Beweis dafür, dass Frauen immer noch lebensgefährliche Risiken eingehen, um eine Schwangerschaft zu beenden.

Vom Beginn des Buches an, verweist Pollitt auf den Kern der materiellen Notwendigkeit von Abtreibungen: die Knappheit an Mitteln für den Lebensunterhalt von alleinstehenden Müttern und sogar Familien mit zwei Elternteilen und  den widersprüchlichen Druck auf junge Frauen, gleichzeitig verführerisch wirken zu sollen und enthaltsam zu sein -„heiße Jungfrauen“.

Ihr Hauptargument ist, dass Abtreibung als normaler Teil der Gesundheitsvorsorge bei Frauen nicht nur in einem biologisch-körperlichen, sondern auch in gesellschaftlichem Zusammenhang anerkannt werden muss. Sie erklärt: „.. Zugang zu legaler Abtreibung ist gut für die Gesellschaft und Frauen dazu zu verhelfen diese wahrnehmen zu können, ist eine gute Tat. Anstatt Frauen bei einem Schwangerschaftsabbruch zu ächten, sollten wir ihren Realismus  und ihre Selbsteinschätzung würdigen. Die Gesellschaft profitiert davon, wenn Frauen sich Bildung, Arbeit und ihre Träume verwirklichen können, ohne dass sie immer in Sorge leben müssen, dass dies nur vorübergehend sein könnte, weil jeden Moment eine versehentliche Schwangerschaft ihr ganzes Leben aus den Gleisen werfen könnte. Es ist gut für Menschen, sexuelle Erfahrungen genießen zu können und nicht ständig das Versagen von Verhütungsmitteln fürchten zu müssen.“

Pollitt bestreitet zu Recht die „Abwertung von Abtreibung“, wo selbst die BefürworterInnen negative Ausdrücke verwenden, wie traurig, tragisch, hart, quälend, komplex, schwierig usw. Es wird allgemein angenommen, dass Abtreibung eine schreckliche Tragödie sei und keine Frau dies mit reinem Gewissen tun könne.

Eine Schwangerschaft zu beenden, muss als eine freie Entscheidung ebenso wie alle anderen Entscheidungen in unserem Leben angesehen werden, argumentiert sie. „…es mag in manchen Fällen nicht leicht sein, aber für viele Frauen ist Abtreibung eine unglaublich gute Sache und erlaubt ihnen, ein aktives Leben zu führen, statt an Haus und Herd gefesselt zu sein.“

Sie fordert kostenlose Abtreibung auf  Wunsch und stellt klar, dass es zentral  für die Emanzipation von Frauen ist, über ihre eigene Fruchtbarkeit und wann und ob sie überhaupt eine Familie haben wollen, selbst bestimmen zu können. „Ohne dieses Recht scheint für jede Frau von der ersten Periode bis zur Menopause Mutterschaft die Grundbestimmung zu sein, und sie muss ja zu jeder befruchteten Eizelle sagen, die bei ihr anklopft.“ Gleichzeitig fordert Pollitt auch bessere Sexualaufklärung und freien Zugang zu Verhütungsmitteln.

Reaktionäre Welle in den USA

Als amerikanische Feministin schreibt Katha Pollitt v. a. über die Lage in den USA, wo die Republikanische Partei, die nun im Kongress und im Senat über die Mehrheit verfügt, ihren letzten Versuch, die Abtreibung nach der 20. Woche zu verbieten, wieder fallen gelassen hat und stattdessen jetzt den Geldhahn bundesstaatlicher Mittel für Abtreibungen zudrehen will nach 42 Jahren des obersten Gerichtsentscheids gegen staatliche Eingriffe in das Recht auf Abtreibung (Präzedenzfall Roe gegen Wade).

Selbst dieser Meilenstein in der Rechtssprechung von 1973 räumte Frauen nur das Recht auf Abtreibung bis zur Überlebensfähigkeit bzw. 24 Wochen nach Schwangerschaftsbeginn ein. Der Entscheid sprach dem Fötus ab der Überlebensfähigkeit begrenzte Rechte zu. Aber was er amerikanischen Frauen immerhin gab, war eine Wahl.

Wie Pollitt sagt: „Die Legalisierung von Abtreibung schützt Frauen nicht nur vor Tod, Verletzung oder Furcht vor Haftstrafe, und sie ermöglicht es Frauen auch nicht nur, sich Ausbildung und Arbeit zu widmen oder sie vor Zweck-Ehen und zu vielen Kindern zu bewahren: Sie änderte, wie Frauen sich selbst wahrnahmen: als Mütter aus Entscheidung, nicht durch Schicksal.“

Heute gewinnt die reaktionäre Anti-Abtreibungsbewegung, die von den Republikanern und der religiösen Rechten geführt wird, in den USA an Boden. Zwischen 2011 und 2013 haben US-Staaten dem Zugang zu Abtreibung 205 neue gesetzliche Einschränkungen auferlegt.

Dazu zählen erhöhte Wartezeiten, ‚Beratungen‘ und 24stündige ‚Bedenkzeiten‘, fragwürdige Dokumente, die Ärzte ihren Patientinnen vorlesen müssen, worin bspw. steht, dass Abtreibungen Brustkrebs, Geisteskrankheiten und Anstieg von Selbstmordraten verursachen würden; weitere Einschränkungen sind Verbote von Bezahlungen durch die staatliche Grundkrankenversicherung Medicaid, Begrenzungen von Versicherungskostenübernahmen sowie elterliche Benachrichtigung und Zustimmungsgesetze.

Mindestens 73 Kliniken sind in dieser Zeit geschlossen worden oder haben aufgehört Abtreibungen durchzuführen.

Arbeiterinnen und Frauen in Armut sind am stärksten von den neuen Abtreibungs-Beschränkungen betroffen, da die verbleibenden Kliniken meist entweder zu weit entfernt, zu teuer oder zu belastet mit Einschränkungen, Vorschriften und Erniedrigungen sind.

Bis Mai 2014 hatten 23 US-Staaten Gesetze erlassen, die den Einsatz von Ultraschallgeräten vor der Abtreibung betrafen. Drei Staaten fordern, dass die Bilder den Schwangeren gezeigt werden müssen und in den anderen müssen diese angeboten werden. Viele Staaten haben auch in den Verfassungen ‚personenbezogene‘ Änderungen vorgeschlagen, wonach die Begriffe ‚Mensch‘ und ‚Person‘ sich auf Lebewesen ‚in jedem Stadium der menschlichen Entwicklung‘ beziehen müssen. Diese Verfassungsänderungen kamen jedoch nicht durch.

Im vergangenen Sommer hat das oberste Gericht die Ladenkette Hobby Lobby davon freigesprochen, Spiralen und bestimmte Verhütungsmittel für ihre Mitarbeiterinnen unter Obamacare zahlen zu müssen, weil dies ‚Abtreibungsmittel‘ seien, die dem religiösen Glauben des Firmenchefs widersprächen. Ein Boss hat demnach mehr Rechte und Kontrolle über den weiblichen Körper und dessen Fruchtbarkeit als wir selbst.

Abtreibung ist eine Klassenfrage

Pollitt argumentiert, dass Frauen das Recht zu verweigern, eine Schwangerschaft zu beenden, effektiv auch heißt dagegen zu sein, Frauen ihre Unabhängigkeit und volle Partizipation in der Gesellschaft zuzusprechen. Fortpflanzung und Reproduktion sind eine finanzielle Frage, sagt sie, und ohne die Möglichkeit Schwangerschaften zu begrenzen oder den Zeitpunkt zu planen, werden Frauen im Erwerbsleben immer im Nachteil sein und den Männern untergeordnet sein müssen.

Ein Mann, der aus Versehen eine Frau schwängert, ist nicht gezwungen, alles aufzugeben; er wird nicht der Schule verwiesen, wird nicht wegen angeblicher Promiskuität/häufigem Partnerwechsel geächtet und muss als Zweitelternteil nicht ein Leben in Schwierigkeiten und düsteren Zukunftsaussichten akzeptieren.

Zu Recht verortet Pollitt den Ursprung von Frauenunterdrückung in der Bindung an Haushalt und Familie. Sie deckt auf, wie das System weltweit darauf basiert, dass Frauen unbezahlte oder krass unterbezahlte Arbeit verrichten. „Wannimmer diese Arbeit eine Tätigkeit ähnlich der weiblichen Rolle im Haushalt ist, wie Kinderversorgung, Pflege, Essenszubereitung, Putzarbeit, so ist sie schlecht bezahlt, Niedrig qualifiziert und schlecht angesehen“, schreibt sie. „Und sollten Frauen doch einmal die Arbeit in der Familie ablehnen, müsste die Gesellschaft enorme Summen aufwenden, um diese zu ersetzen.“

Sie versäumt es jedoch, die Verbindung zum alles umfassenden System herzustellen, in dem die gesellschaftlichen Normen bestimmt werden. Kapitalismus beruht auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der Aneignung des von der ArbeiterInnenklasse erzeugten Mehrwerts durch die Kapitalistenklasse.

An dem Punkt, wo die menschliche Gesellschaft ein Mehrprodukt erzeugte, d. h. mehr als die Mittel zur Selbstversorgung des täglichen Verbrauchs, musste jemand dieses kontrollieren. Das war die Geburtsstunde der Klassengesellschaft. Das Privateigentum an Produktionsmitteln untermauert die Unterordnung der Frauen. Sie wurden zum Werkzeug für die Weitergabe des aus dem Mehrprodukt resultierenden Reichtums an legitime Erben. Von daher wurde die Fruchtbarkeit und Sexualität von Frauen  im Rahmen der patriarchalen monogamen Familienstruktur kontrolliert.

Der Industriekapitalismus revolutionierte den Charakter der menschlichen Produktion und zementierte die Familienstruktur und die Rolle der Frau im Privathaushalt und sorgte dafür, dass ihre Arbeitskraft unbezahlt für die Reproduktion der nächsten Generation von Arbeitskräften verwendet wurde.

Darum ist nur durch den Sturz des Kapitalismus und des Klassensystems die wirkliche Befreiung der Frauen zu erreichen. Aufgrund des Mangels einer Klassenanalyse bleibt Pollitts Antwort nur der Aufbau einer Bewegung für die freie Wahl in der Abtreibungsfrage mit Hilfe von feministischen Organisationen und Kampagnen für Wahlfreiheit und Gerechtigkeit im Bereich der Reproduktion, die mit kommunalem Aktivismus vernetzt sein sollen. Sie berichtet von Gegeninitiativen auf Gesetzgebungsebene. 51 Gesetzesänderungen für die Wahlfreiheit bei Abtreibungen habe es 2014 in 14 US-Staaten gegeben.

Politische Alternative

Aber ohne eine politische Alternative zum Kapitalismus ist dies zu Sisyphusarbeit verdammt, wo die Fortschritte, die die Bewegung für die Wahlfreiheit bei Abtreibung erzielt, in dem Moment wieder zurückgenommen werden, wo die reaktionären rechten Kräfte im Zuge von Sparprogrammen wieder an Macht gewinnen.

Deshalb müssen wir die Debatte im Sinne der Kernaussage von Pollitts Buch in den Kontext einbetten, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. Wir müssen eine Gesellschaft aufbauen, die auf den Bedürfnissen der Menschen aufbaut, nicht auf den materiellen Vorteilen für eine Minderheit, eine Gesellschaft, wo Frauen gleichen Zugang zu Arbeit und Bildung, Wohnung und Gesundheitsfürsorge haben sowie in die Lage versetzt werden, wo sie entscheiden können, ob sie Kinder haben wollen ganz nach ihren Wünschen und nicht aufgrund von ökonomischem und sozialem Druck. Deshalb muss unser Ziel der Sturz des Kapitalismus sein.

Um dies zu verwirklichen, brauchen wir ArbeiterInnenorganisationen, die den Kampf für Frauenrechte aufnehmen. Die Schwäche in Pollitts Argumentation, selbst wo sie von armen Frauen, ArbeiterInnen und farbigen Frauen redet, liegt darin, dass sie nicht die Selbstorganisation entlang von Klassengrenzen erwähnt. Sie setzt sich nicht dafür ein, dass Gewerkschaften diese – für Arbeiter und Arbeiterinnen  – brennende Frage in der Mitgliedschaft aufwerfen und gemeinsame Streikmaßnahmen gegen beispielsweise die Geschäftsführung von Hobby Lobby ergreifen, statt ein bürgerliches Gericht über das Schicksal von Arbeiterinnen entscheiden zu lassen.

Um den Wandel herbei zu führen, brauchen wir eine proletarische Frauenbewegung, die die Frauenunterdrückung in allen Lebensbereichen wirklich angreift und das unterdrückerische System zerschlägt, das die gesamte Menschheit unter seiner Tyrannei hält.