Britannien: Widerstand gegen das reaktionäre Schlachtfest der Tories!

George Banks, Infomail 1234, 18. Oktober 2023

Dreizehn Jahre konservativer Toryherrschaft haben uns Haushaltssparkurs, Pandemie und Inflation gebracht – zusätzlich zu den dreifachen Bedrohungen durch Klimachaos, Rezession und Krieg. Es ist Zeit für sie zu gehen.

Im Jahr 2010, als die Konservative Partei gewählt wurde, gab es 29 Milliardär:innen in Großbritannien – jetzt sind es 171. Das Nationale Gesundheitswesen (NHS) des Landes wird in den Ruin getrieben. Unsere Schulen kollabieren. Schätzungsweise 14,5 Millionen Menschen – 22 % der Bevölkerung – leben unterhalb der Armutsgrenze.

Für diejenigen unter uns, die berufstätig sind, hat die Inflation unsere Löhne dezimiert, während die Zinsen steigen, die Wohnkosten in die Höhe schießen, Unternehmen in den Konkurs treiben und Arbeitsplätze und Existenzen vernichten. Trotz heldenhafter Streiks lagen die Lohnerhöhungen unter der Inflationsrate, und nun planen die Tories, Leistungen und Renten zu kürzen.

Aber für die reichen Freund:innen der Konservativen sieht die Sache anders aus. Die Öl- und Gasunternehmen haben Rekordgewinne erzielt, während die Gehälter der Vorstände der  100 FTSE-börsennotierten Spitzenfirmen durchschnittlich um 16 % – das Doppelte der Inflationsrate – auf 3,9 Millionen Pfund pro Jahr und Kopf gestiegen sind (FTSE: Financial Times Stock Exchange).

Die Tories verkörpern die Korruption und selbstgefällige Anmaßung im Herzen des britischen Kapitalismus. Johnsons „Partygate“-Skandal hat aufgedeckt, dass die Tories und ihre Kumpane während der Abriegelung tanzten und sich besoffen haben, während der Rest von uns keinen Kontakt zu unseren Lieben hatte und einige sogar die Beerdigung ihrer Angehörigen verpassten.

Hart rechts

Dreizehn Jahre Austerität, die Folgen des Brexit und  die verpfuschten, äußerst rechten Wirtschaftsreformen der ehemaligen Premierministerin „Liz“ Truss haben die Reichen reicher gemacht, aber den Niedergang des britischen Kapitalismus nicht aufgehalten und die Arbeiter:innen ärmer gemacht. Der amtierende Premier Rishi Sunak – der das ganze Charisma des Investmentbankers ausstrahlt, der er ist – hat die Tories in den Umfragen um 20 % hinter Labour zurückfallen lassen.

Der Parteitag der Konservativen fand vom 1. bis 4. Oktober in Manchester statt, inmitten einer Protestwelle der Arbeiter:innenklasse. Sunak und die erzreaktionäre Innenministerin „Suella“ Braverman, die verzweifelt versuchen, ihre Popularität bei der Rechten zu steigern, haben ihre „Wahlkampagne“ mit einer Reihe reaktionärer Maßnahmen gestartet.

Selbst die begrenzten umweltpolitischen Maßnahmen, die Boris Johnson versprochen hatte – die schrittweise Abschaffung benzinbetriebener Fahrzeuge und die Dekarbonisierung der Stromerzeugung bis 2030 – wurden fallengelassen. Diese dürftigen Versprechen waren bereits völlig unzureichend, aber jetzt wurde sogar die Illusion von Regierungsmaßnahmen, für Klimaschutz zu handeln, aufgegeben.

Auch die so genannte „Nivellierungsagenda“ ist gescheitert, wie die Entscheidung, die Verlängerung der Eisenbahnhochgeschwindigkeitsstrecke 2 nach Manchester zu streichen, zeigt. Die Bevorzugung des motorisierten Individualverkehrs gegenüber der Modernisierung des Schienennetzes wird die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs, seine international vereinbarten Klimaziele zu erreichen, weiter schwächen. Politische Maßnahmen wie diese entlarven Sunaks widerwärtigen neuen Slogan „langfristige Entscheidungen für eine bessere Zukunft“.

Da er der Arbeiter:innenklasse, von der die Tories dennoch erwarten, dass sie in großer Zahl für sie stimmen wird, nichts zu bieten hat, nutzte Sunak seine Grundsatzrede für einen gemeinen Angriff auf die am stärksten Ausgegrenzten der Gesellschaft – die trans Gemeinschaft. Er erklärte, die britische Öffentlichkeit werde „gezwungen“ zu glauben, dass „Menschen jeden Geschlechts sein können, das sie sein wollen“, und fügte hinzu: „Ein Mann ist ein Mann und eine Frau ist eine Frau, das ist einfach gesunder Menschenverstand“. Obwohl diese Äußerungen international verurteilt wurden, ernteten sie lauten Beifall von den anwesenden Fanatiker:innen.

Dies sind nicht nur leere Worte, sondern zeitigen Konsequenzen im realen Leben: Im vergangenen Jahr wurden 4.732 Hassverbrechen gegen trans Personen registriert, ein Anstieg von 11 % gegenüber dem Vorjahr und die höchste Zahl seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2012. Im Bericht des Innenministeriums über Hassverbrechen heißt es, dass die intensive Diskussion von „Transgenderthemen“ durch Politiker:innen und Medien zu diesem Anstieg geführt haben könnte.

In den letzten Monaten haben die Angriffe auf Flüchtlinge und Migrant:innen zugenommen. Obwohl erste Versuche, traumatisierte Asylbewerber:innen dort unterzubringen, gescheitert sind, ist das Bibby Stockholm (schwimmendes Gefängnis) weiterhin bereit, 500 „Insass:innen“ einzusperren. Dasselbe könnte man von Ruanda sagen (Abkommen mit der britischen Regierung, aus Großbritannien Abgeschobene dort aufzunehmen). Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Bravermans Pläne gestoppt hat, hat er das Projekt nicht grundsätzlich abgelehnt. Ihr jüngster Appell, die UN-Menschenrechtskonvention neu zu schreiben, ist nur die jüngste reaktionäre Aktion.

Während im staatlichen Gesundheitsdienst 110.000 Stellen unbesetzt sind, die Gemeinden in Konkurs gehen und die Schulen verfallen, schlagen die Tories vor, die Erbschaftssteuer „abzuschaffen“ – ein Segen für die Reichsten, die diese Dienstleistungen nicht einmal in Anspruch nehmen.

Auch „Liz“ Truss nutzte die Gelegenheit, um wieder auf der politischen Bühne zu erscheinen, nachdem sie die Unterstützung von 60 Abgeordneten für ihre „Wachstumsgruppe“ zusammengeschustert hatte (so viel wie die Torymehrheit im Unterhaus). Offensichtlich unbeeindruckt von ihrer katastrophalen Amtszeit als Premierministerin, die nach nur 49 Tagen endete, schlug sie ihre Lösung für die wirtschaftliche Misere des Landes vor: mehr Steuersenkungen, ein kleinerer Staat und mehr Fracking. Ihre Zuversicht, dass solche Maßnahmen den Bau von „einer halben Million Wohnungen pro Jahr“ fördern würden, zeigt, wie wahnwitzig sie wirklich ist.

Nicht zuletzt greifen die Konservativen weiterhin unsere demokratischen Rechte an, indem sie das kürzlich verabschiedete Gesetz über die öffentliche Ordnung (Public Order Act) dazu nutzen, Demonstrant:innen zu überwachen und zu inhaftieren, die gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung verschärfen, um wirksame Arbeitskampfmaßnahmen illegal zu machen, und eine Überprüfung versprechen, die darauf abzielt, bewaffneten Polizeibeamt:innen nach der Mordanklage gegen den Mörder von Chris Kaba (am 5.9.2022 in Streatham Hill, Südlondon, erschossener Rapper) Straffreiheit zu gewähren.

Stoppt die Tories!

Alles in allem handelt es sich um eine zutiefst reaktionäre Agenda. Sie muss gestoppt werden. Der Sieg der Labour Party bei den nächsten Wahlen ist jedoch alles andere als ausgemachte Sache. Trotz der Versuche Starmers, sich bei den Bossen als sichere Bank zu präsentieren, und trotz seiner Zurückhaltung, auch nur die bescheidensten Reformen für die Arbeiter:innenschaft zu versprechen, wird er bei der Wahl den Angriffen der rechten Medien ausgesetzt sein.

Seine mangelnde Bereitschaft, eine positive politische Vision für die Arbeiter:innenklasse zu präsentieren, wird viele apathisch zurücklassen. Er wird sich nicht auf das Heer begeisterter Freiwilliger verlassen können, zu dem Corbyn Zugang hatte, und er wird immer noch den Zorn der Milliardärsmedien zu spüren bekommen, für die die Tories immer die bevorzugte Option darstellen.

Die Stärke von Labour beruht auf ihren Verbindungen zu den Spitzen der prokapitalistischen britischen Gewerkschaftsbürokratie, die es ihr ermöglichen, den Widerstand der Arbeiter:innenklasse gegen die Wiederherstellung der „wirtschaftlichen Verantwortung“ effektiver zu beschwichtigen und zu kontrollieren. Deshalb wird die Strategie der Gewerkschaftsspitzen „Warten auf Labour“ nicht ausreichen, um die Forderungen der Arbeiter:innen zu erfüllen. Starmer hat deutlich gemacht, dass seine Regierung genauso migrant:innenfeindlich, kriegsbefürwortend und taschenfüllend für die Reichen sein wird wie die Tories – nur unter einem „humaneren“ und „effizienteren“ Deckmantel.

Es ist daher zu begrüßen, dass Sharon Graham von der Gewerkschaft Unite einen politischen Kampf mit Starmer angekündigt hat. Aber ihre alternativen Politikvorschläge sind unzureichend und in einigen Fällen – z. B. mehr Ölbohrlizenzen – reaktionär. Unite sollte eine Versammlung aller Organisationen einberufen, die bereit sind, die Agenda des ehemaligen Labourvorsitzenden Blair in Frage zu stellen und für sozialistische Maßnahmen zu kämpfen. Auf diese Weise kann die Arbeiter:innenklasse und können nicht nur ein paar Gewerkschaftsbürokra:innen über die Politik entscheiden, die wir brauchen, um den Planeten zu retten, die Reichen für die Wirtschaftskrise zahlen zu lassen und künftige Kriege zu verhindern.

Aber nur Massenaktionen der Arbeiter:innen – Demonstrationen, Streiks, ziviler Ungehorsam – können die Tories im Hier und Jetzt aus dem Amt jagen. Nur Massenunruhen können Starmer, sollte er Premierminister werden, in die Schranken weisen und Druck auf ihn ausüben, damit er politische Reformen im Interesse der Arbeiter:innenklasse durchführt.

Indem wir Schritte unternehmen, um uns als Klasse zu organisieren, können wir ein Gegengewicht zum Einfluss der Kapitalist:innen bilden und einen erfolgreichen Kampf gegen die Bosse führen, um unsere Löhne, unsere Dienstleistungen und unsere Lebensbedingungen zu verteidigen.

Letztlich kann nur eine Regierung, die sich auf Arbeiter:innenorganisationen wie Streikkomitees, Aktionsräte und Selbstverteidigungseinheiten stützt, zu einer echten Arbeiter:innenregierung werden, die in der Lage ist, die kapitalistische Herrschaft zu stürzen und den Weg für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu ebnen. Nur eine revolutionäre Partei – nicht die Labour-Partei, die sich immer der herrschenden Klasse beugt – kann den Kampf für diese politische Umgestaltung führen. Das ist die Partei, die Workers Power aufbauen will. Wenn Ihr das auch wollt – schließt Euch uns an!




Streiks in Britannien: Wie können wir gewinnen?

Workers Power Britannien, Infomail 1213, 7. Februar 2023

Die derzeitige Streikwelle ist der größte und am weitesten verbreitete Widerstand gegen das Kapital seit den 1980er Jahren, mit bis zu 3 Millionen Streiktagen zwischen Juni 2022 und Anfang dieses Monats.

Die Bahn, die Post, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Hochschulen und der öffentliche Dienst haben Streiks durchgeführt oder angekündigt. Lokale Streiks, wie bei Abellio-Bussen in London, haben zu dem allgemeinen Gefühl beigetragen, dass sich eine Klasse wehrt.

Die Feuerwehrleute haben gerade ihre Urabstimmung mit 88 % Ja-Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 73 % gewonnen und werden sich sicherlich dem Kampf anschließen, ebenso wie die Ärzt:innen in der Ausbildung, die derzeit ihre Stimme abgeben. Der gemeinsame Streik vom 1. Februar, der von jungen Lehrer:innen vor Ort angeführt wurde, war die erste koordinierte Aktion mit einer halben Million Streikenden und die größte Arbeitsniederlegung seit 12 Jahren.

Es steht viel auf dem Spiel. Wenn wir verlieren, wenn die Gewerkschaftsführer:innen sich mit der Art von Vereinbarung zufrieden geben, die angeboten wird, nämlich 4,5 % in diesem Jahr und 4,5 % für 2023-24, wie sie beim Schienenverkehr angepriesen wird, dann würde die Arbeiter:innenklasse eine große Niederlage erleiden, einen Rückgang des Realeinkommens um 12-15 %. Vor diesem Hintergrund wäre es schwer vorstellbar, dass die Gewerkschaften mobilisieren, um das neue Antistreikgesetz zu verhindern.

Wenn wir andererseits inflationsgleiche Lohnerhöhungen oder mehr durchsetzen, dann stellt sich die Frage, ob wir diese Errungenschaften dauerhaft machen können.

Das macht die aktuelle Situation zu einem potenziellen Wendepunkt für den Klassenkampf in Großbritannien. Und nicht nur hier, denn Arbeiter:innen in ganz Europa und Nordamerika beobachten Großbritannien als Land, in dem die weltweite Offensive der Bosse gebrochen werden könnte.

Streikwelle

Die vorherrschende Gewerkschaftsstrategie besteht in ein- oder zweitägigen Streiks, die manchmal kurz hintereinander stattfinden, gefolgt von langen Perioden, in denen geheime Verhandlungen geführt werden.

Das funktioniert nicht. Das einzige, was hilft, ist die Entschlossenheit, auf der vollen Forderung zu bestehen und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen – und das muss von den Gewerkschaftsführungen eingefordert werden, auch von den Linken wie Mick Lynch (RMT, Schienen-, Wasser- Straßentransport) und Pat Cullen (RCN, Pflegepersonal). Wenn isolierte, nicht eskalierende Warnstreiks Erfolg versprächen, hätten sie das schon längst getan.

Die Gefahr besteht darin, dass die Belegschaft durch die Strategie „Wir machen das so lange, wie es nötig ist“ schneller zermürbt wird als die Regierung oder die „Arbeitgeber:innen“ des privaten Sektors. Es droht dann, eine „Wir nehmen alles an, was uns angeboten wird“- Haltung stärker wird oder die Zahl der Nichtstreikenden wächst.

Jetzt gibt es jedoch immer noch eine starke Begeisterung für die Streiks, sowohl unter der Basis als auch in den Unterstützungsgruppen, die in etwa der Hälfte der Londoner Stadtbezirke und über „Enough is Enough“ („Genug ist Genug“) im Süden Manchesters entstanden sind.

Auf nationaler Ebene sind „Enough is Enough“ und People’s Assembly (Volksversammlung) gescheitert, weil die Gewerkschaftsbürokrat:innen (oder ihre politischen Wasser:innen im Falle der People’s Assembly) die Entwicklung eines Klassenkampfes im realen und nicht nur rhetorischen Sinne des Wortes fürchten. Sie wollen die Hände frei haben, um sich bei der ersten Gelegenheit zu einigen. Eine breite, organisierte Militanz in der Arbeiter:innenbewegung könnte sie nämlich zwingen, weiter zu kämpfen und weiterzugehen, als sie wollen.

Die Basis

Der Schlüssel zur aktuellen Streikwelle liegt in der Organisierung der Basis, und zwar sowohl innerhalb der Gewerkschaften als auch – was ebenso wichtig ist – gewerkschaftsübergreifend. Mit „Basis“ meinen wir die Aktivist:innen am Arbeitsplatz, die sich an den Streiks und Urabstimmungen beteiligt oder sie unterstützt haben. Die war deutlich sichtbar bei den Schulkontingenten der NEU (Nationale Gewerkschaft Bildungswesen) am 1. Februar. Andere Gewerkschaften sollten es ihnen gleichtun und in den Betrieben den alten Slogan „Educate, Agitate, Organise (Aufklären, Agitieren, Organisieren)“ befolgen.

Die Aktivist:innen müssen auf lokaler Ebene über bestehende Solidaritätsnetze oder durch den Aufbau eines solchen Netzes sowie auf nationaler Ebene miteinander in Kontakt gebracht werden, damit sie ihre Führung kontrollieren und zur Rechenschaft ziehen können.

Es geht aber nicht nur darum, Erfahrungen auszutauschen, moralische und sogar finanzielle Unterstützung zu gewähren und Streikposten nicht zu übertreten, sondern auch Aktionen zu organisieren. Es gibt z. B. hunderte Vorfälle, von Maßregelungen örtlicher Militanter. Wir brauchen sofortige Streiks, wilde oder inoffizielle, wenn es sein muss, um zu verhindern, dass die Bosse führende Aktivist:innen herausgreifen und unter Druck setzen.

Es sollte nicht unterschätzt werden, wie die Streikwelle – bei der Stimmabgabe, der Organisation von Streikposten und Demos, beim Streik und bei der Teilnahme an Streikposten – beiträgt, neue Gewerkschaftsaktivist:innen zu gewinnen und bestehende zu verändern und politisch weiterzuentwickeln. Das Bewusstsein der Gewerkschaften ist jetzt auf einem Höhepunkt, und das muss zu dauerhaften Ergebnissen führen. Generalsekretär Kevin Courtney berichtet, dass die Bildungsgewerkschaft NEU (National Education Union) in den zwei Wochen seit Ankündigung der Streiks 40.000 neue Mitglieder rekrutiert hat.

Generalstreik

Die NEU hat für den 15. März zum nächsten landesweiten Streik aufgerufen. Mark Serwotka (Vorsitzender der PCS; Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Handel) hat den Aufruf unterstützt und andere Gewerkschaften dazu aufgerufen, sich anzuschließen. Um den Schwung zu steigern, muss der Streik größer geraten als am 1. Februar, eine Million oder mehr.

Die Basis der Gewerkschaften, Solidaritätsgruppen und Sozialist:innen müssen sich auf dieses Datum vorbereiten, indem sie von ihrer Führung verlangen, dem Aufruf Folge zu leisten, und indem sie inoffizielle Aktionen organisieren, falls sie dies nicht tun. Das bedeutet die Bildung von Aktionsräten mit Delegierten aus lokalen Betrieben, Gewerkschaftszweigen und anderen Organisationen der Arbeiter:innenklasse, um für den Tag zu mobilisieren und zu planen.

Die objektive Situation, einschließlich, aber nicht ausschließlich, des neuen Antistreikgesetzes, wirft sicherlich die Frage nach einem Generalstreik auf. Einige Linke haben zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen, und insofern dies den Willen zur Einheit widerspiegelt, ist dies verständlich. In der Tat sollten wir alles in unserer Macht Stehende tun, um den 15. März zu einem solchen zu machen. Dann käme es darauf an, was am Tag danach passiert. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass die Kundgebungen einen Aufruf zu unbefristeten Massenstreiks beinhalten, so dass die Gewerkschaftsführer:innen ihn nicht ignorieren können.

Es ist klar, dass der Sieg über die Bosse und ihre Regierung nicht durch einen eintägigen Proteststreik errungen werden kann, egal wie groß er auch ausfallen mag.  Was wir mehr als alles andere brauchen, ist, die Gewerkschaften dazu zu zwingen, zu stark eskalierenden Maßnahmen bis hin zu einem Generalstreik aufzurufen.




Die Streikhitzewelle in Britannien

Dave Stockton, Workers Power Britannien, Neue Internationale 267, September 2022

Großbritannien erlebt einen rekordverdächtig heißen Sommer – nicht nur im Hinblick auf die Temperaturen von 30 bis 40 Grad, die normalerweise grüne Wiesen und Weiden in braunes Gestrüpp verwandelt haben, sondern auch im Hinblick auf einen „heißen Sommer“ mit Streiks, bei denen die Arbeiter:innen gegen plötzliche Preissteigerungen rebellieren, die zusätzlich auf eine lange Zeit stagnierender Reallöhne folgen. Während die jährlichen Lohnerhöhungen in der Privatwirtschaft durchschnittlich 5,9 Prozent betragen, liegt das Lohnwachstum im öffentlichen Sektor bei erschreckenden 1,8 Prozent.

Inflation

Ansporn für die Arbeiter:innen ist die galoppierende Inflation im Vereinigten Königreich, die die höchste jährliche Rate seit 40 Jahren aufweist. Der Verbraucherpreisindex (CPI) stieg im Jahr bis Juli 2022 um 10,1 Prozent, gegenüber 9,4 Prozent im Juni. Das Nationale Statistikamt zeigt, dass der Anstieg der Lebensmittelpreise, die einen größeren Anteil an den Gesamtausgaben von Arbeiter:innenfamilien ausmachen, 12,7 Prozent erreicht hat. Die Bank von England geht davon aus, dass sie noch in diesem Jahr die 13-Prozent-Marke überschreiten wird.

Derzeit zahlt der Durchschnittshaushalt im Vereinigten Königreich knapp 2.000 Pfund pro Jahr für Strom und Gas, doch nach Aufhebung der derzeitigen Obergrenze für Preiserhöhungen wird dieser Betrag am 1. Oktober auf 4.266 Pfund steigen, und am 1. Januar könnte es eine weitere Erhöhung geben.

Dies hat eine Reaktion ausgelöst, die an die Anti-Poll-Tax-Bewegung (Bewegung gegen die Kopfsteuer) der frühen 1990er Jahre erinnert. Eine Kampagnengruppe – Don’t Pay UK – hat zu massenhaften direkten Aktionen aufgerufen, um die Senkung der Gas- und Stromkosten zu erzwingen. Dazu gehört auch der Aufruf an die Menschen, ihre Lastschriftzahlungen an die Energieunternehmen ab dem 1. Oktober einzustellen, wenn die Regulierungsbehörde Ofgem die Preisobergrenze aufhebt.

Streiks und Arbeitskämpfe

Große Gewerkschaften wie Unite mit 1,4 Millionen Mitgliedern und GMB (Allgemeine und Städtische Bedienstete) mit 460.000 Mitgliedern erreichen durch Arbeitskampfmaßnahmen oder deren Androhung erhebliche Lohnabschlüsse auf Unternehmens- und Betriebsebene. Vor kurzem haben 1.800 Arriva-Busfahrer:innen im Nordwesten Englands einen Lohnabschluss von 11,1 Prozent erzielt.

Nach Angaben des Liverpool Echo rief die Menge der Streikposten bei der Bekanntgabe des Abschlusses „Hoch die Arbeiter:innen!“ Auch andere Beschäftigte des privaten Sektors, darunter Müllmänner- und -frauen, haben sich an Aktionen beteiligt und schnell Lohnerhöhungen durchgesetzt. Auch beim Logistikgiganten Amazon, im Baugewerbe und in einer Ölraffinerie sind die Belegschaften kürzlich in einen wilden Streik getreten.

Mehr als 1.900 Hafenarbeiter:innen in Felixstowe, dem größten Containerhafen des Landes, werden ab Sonntag, dem 21. August, acht Tage lang streiken. Die Gewerkschaft Unite the Union berichtet, dass die Arbeit„geber“in, die Felixstowe Dock and Railway Company, ihr Angebot einer Lohnerhöhung von 7 Prozent nicht verbessert hat, was eine Reallohnkürzung bedeuten würde.

Im öffentlichen Sektor ist die Lage schwieriger, weil die Zentralregierung Druck ausübt, die Lohnerhöhungen auf 2 Prozent zu begrenzen, und die Haushalte der Kommunen seit Jahren eingefroren oder gekürzt wurden. Aber die Gewerkschaftskonferenzen haben sich zumindest für indikative Urabstimmungen ausgesprochen. Im Herbst stehen entscheidende an und werden von immenser Bedeutung sein. Dies gilt auch für das nationale Gesundheitswesen (NHS), wo die Wut über Lohnangebote, die die enorme Arbeitsbelastung und die persönlichen Opfer, die die Beschäftigten während der Pandemie gebracht haben, nicht widerspiegeln, weit verbreitet ist.

Der wahre Kampf im öffentlichen Dienst besteht darin, die strengen Anforderungen der gewerkschaftsfeindlichen Gesetze der konservativen Tory-Regierung zu erfüllen. Diese sehen vor, dass Streiks nur dann rechtmäßig sind, wenn sich in einer Briefwahl, an der mehr als 50 Prozent aller Wahlberechtigten teilgenommen haben, eine Mehrheit für Aktionen findet. Anfechtungen der Richtigkeit der Mitgliederzahlen einer Gewerkschaft können eine Urabstimmung ungültig machen oder ihre Durchführung verzögern. Vor allem für landesweite Streiks großer Gewerkschaften gibt es einen regelrechten Hindernisparcours.

Es überrascht nicht, dass die traditionell kämpferischeren Eisenbahner:innen mit ein- und zweitägigen Streiks bisher den größten Sektor ausmachen. Durch die Ausstände bei Network Rail und 14 Eisenbahnverkehrsunternehmen wurden mindestens 80 Prozent des Zugverkehrs eingestellt. Am 20. August streikten 40.000 Eisenbahner:innen im nationalen Netz und 10.000 bei der Londoner U- und S-Bahn, wodurch praktisch der gesamte Zugverkehr zum Erliegen kam.

RMT an der Spitze

An vorderster Front standen die Aktivist:innen der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) (Gewerkschaft für Eisenbahner:innen, Seeleute und Transportarbeiter:innen), einer branchenübergreifenden Gewerkschaft für alle Berufe mit 83.000 Mitgliedern. Daneben gab es aber auch die Lokführer:innengewerkschaft Associated Society of Locomotive Engineers and Firemen (ASLEF) mit 22.000 und die Gewerkschaft für das Büropersonal (TSSA) mit 18.000 gewerkschaftlich organisierten Arbeitskräften.

Das alte Staatsunternehmen British Rail (Britische Eisenbahn) wurde in den 1990er Jahren von den Konservativen privatisiert, doch mussten sie die Netzbetreibergesellschaft Rail Track wieder verstaatlichen, weil die privatisierten Unternehmen ein völliges Chaos angerichtet hatten. Jetzt versuchen die Tories erneut, das System zu „reformieren“, indem sie das Zugpersonal abbauen und damit die Sicherheit von Fahrgästen und Beschäftigten zunehmend gefährden.

Der Generalsekretär der RMT, Mick Lynch, hat mit seinen direkten Widerlegungen der Versuche von Journalist:innen, die Streikenden als Feind:innen der Reisenden darzustellen, große öffentliche Unterstützung gewonnen. Er erläuterte die Situation wie folgt: „Es gibt eine Welle der Reaktion unter den Werktätigen auf die Art und Weise, wie sie behandelt werden. Die Menschen werden jeden Tag in der Woche ärmer. Die Leute können ihre Rechnungen nicht bezahlen. Sie werden am Arbeitsplatz verachtenswert behandelt. Ich denke, es wird zu allgemeinen und synchronisierten Aktionen kommen.“

Tory-Angriffe

Die Aktion der Eisenbahner:innen hat eine scharfe Reaktion der Tory-Regierung hervorgerufen, insbesondere zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Partei eine/n neue/n Vorsitzende/n und Premierminister:in wählt, die/der den in Ungnade gefallenen Boris Johnson ablösen soll. Der Tory-Verkehrsminister Grant Shapps erklärte gegenüber der rechtsgerichteten Daily Mail, dass „die Tage der Gewerkschaftsmacht gezählt sind“ und er „im Stillen an einem mehrgleisigen Plan gearbeitet hat, um die hartgesottenen linken Gewerkschaftsbaron:innen endgültig zu zermalmen“.

Er schlägt vor, noch höhere Schwellenwerte für die Beteiligung an Streikabstimmungen festzulegen und die Zeit, die die Gewerkschaften den Arbeit„geber“:innen für die Ankündigung von Streiks zur Verfügung stellen müssen, zu verdoppeln. Außerdem will er die Zahl der Streikenden, die sich an einer Streikpostenkette beteiligen dürfen, weiter einschränken. Gegen die Eisenbahner:innen und ihre Gewerkschaften droht Shapps außerdem mit rechtlichen Verwarnungen gemäß Abschnitt 188 des Gesetzes über Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen (1992), um „Reformen“ zur Abschaffung von Zugbegleiter:innen und zum Abbau von über 1.900 Arbeitsplätzen durchzusetzen.

Er hat auch behauptet, dass Gesetze zur Durchsetzung von Mindestdienstanforderungen, d. h. Streikverbote für Teile der Belegschaft, die diese dazu zwingen, ihre eigenen Streiks zu brechen, „geschrieben und einsatzbereit“ sind, wenn am 5. September ein/e neue/r Premierminister:in von den 160.000 Mitgliedern der Konservativen Partei gewählt wird.

Als nächstes sind 115.000 Postangestellte an der Reihe. Sie werden streiken, nachdem die Geschäftsführung der Royal Mail (britische Post) eine „Lohnerhöhung“ von 2 Prozent durchgesetzt hat, die angesichts der Inflationsrate einer zweistelligen Lohnkürzung gleichkommt. Die Vorschläge der Royal Mail für eine „Umstrukturierung“ sind außerdem ein Vorwand für einen weiteren Angriff auf die ausgehandelten Arbeitszeiten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Sonntagsvergütung. Außerdem droht die Ausgliederung des profitablen Paketgeschäfts aus der Briefzustellung, was das Ende der Verpflichtung für eine umfassende Dienstleistung im Postwesen bedeuten würde.

Zu den Postler:innen werden sich am 31. August 40.000 Beschäftigte von British Telecom und Openreach (Telekommunikation und Netzwerke) gesellen. Wenn die drei Eisenbahner:innengewerkschaften zur gleichen Zeit in den Ausstand treten, könnte dies bedeuten, dass mehr als 250.000 Beschäftigte streiken. Dies bietet eine gute Gelegenheit für gemeinsame Kundgebungen und Demonstrationen, die sich mit den Busbeschäftigten, den Müllwerker:innen und den Beschäftigten im Gesundheitswesen, die sich an der Urabstimmung beteiligen, zusammenschließen könnten. Sogar Barristers – die Anwält:innen, die Klient:innen vor den höheren Gerichten vertreten können – könnten sich an den Aktionen beteiligen.

Die RMT und die CWU (Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen) haben die Führung übernommen und eine groß angelegte Kampagne mit dem Titel „genug ist genug“ gestartet, in der sie „echte Lohnerhöhungen, Verstaatlichung zur Bekämpfung steigender Energierechnungen, ein Ende der Notwendigkeit von Lebensmitteltafeln und explodierenden Mieten sowie eine Politik der Besteuerung der Reichen“ fordern. Der Vorsitzende der Postangestellten, Dave Ward, gab bekannt, dass sich bereits 400.000 Menschen für die Kampagne angemeldet haben, die in den kommenden Wochen landesweit 70 Kundgebungen abhalten wird. Es ist geplant, regionale Organisationen, darunter vier in London, zu gründen, um die öffentliche Solidarität mit den Streiks zu mobilisieren und die Koordinierung zwischen den Sektoren, die die Arbeit niederlegen oder zu Streikmaßnahmen aufrufen, zu organisieren.

Rund 1.250 Menschen nahmen am 17. August an einer Auftaktkundgebung in Clapham Junction, einem großen Eisenbahnknotenpunkt im Süden Londons, teil. Obwohl die Veranstaltung erst einige Tage zuvor angekündigt worden war, mussten Hunderte von Teilnehmern:innen, die sich in die Warteschlange eingereiht hatten, abgewiesen werden, weil der Veranstaltungsort überfüllt war. Unter dem Motto „Es ist an der Zeit, die Wut in Taten umzuwandeln“ hörte ein größtenteils junges und begeistertes Publikum Mick Lynch, Dave Ward und Jo Grady von der Universitäts- und Hochschulgewerkschaft UCU, wie sie die zunehmende Brenn- und Treibstoffarmut anprangerten, die Zahl derer, die auf Essenstafeln angewiesen sind, und Lohnerhöhungen in Höhe der Inflationsrate oder darüber forderten, eine Obergrenze für Energierechnungen, die Verstaatlichung der Versorgungsbetriebe und die Besteuerung der Reichen.

Die Tatsache, dass die Gewerkschaften ihre eigene politische Kampagne organisieren müssen, verdeutlicht die Abwesenheit der Partei, für deren Unterstützung sie Millionen zahlen – Labour. Stattdessen entließ ihr Vorsitzender Keir Starmer einen Minister des Labour-Schattenkabinetts, der auf einer Streikpostenkette der RMT aufgetreten war. Kein Wunder, als Dave Ward sagte: „Die Leute fragen, wo ist Labour? Es liegt an der Labour-Partei – diese Kampagne geht mit oder ohne sie weiter“, wurde er mit Beifallsstürmen bedacht. Dies ist jedoch eine zu passive Haltung. Starmer muss beim Namen genannt und für seine Feindseligkeit gegenüber Streiks vor lokalen Labour-Gliederungen, die sich der Bewegung anschließen, beschämt werden.

Rückkehr des Klassenkampfs

Mick Lynch sagte auch: „Die Gewerkschaften müssen vorangehen, wir können nicht auf die Politiker:innen warten. Wir müssen in die Gemeinden und an die ehemalige rote Wand gehen, um sie bei ihrer Kampagne zu unterstützen. Wir müssen ihnen zeigen, wie sie sich organisieren können. Unsere Aufgabe als Aktivist:innen und Gewerkschafter:innen ist es, ihnen Mut zu machen, ihnen Hoffnung zu geben und sie auf die Straße zu bringen.“

Er fügte hinzu: „Tretet einer Gewerkschaft bei und beteiligt euch an einer Kampagne! Bringt die ArbeiterInnen dazu, Kampagnen zu führen und diese in eine Welle von Solidarität und Arbeitskampfmaßnahmen in ganz Großbritannien umzuwandeln!“

Das sind gute Worte, aber es liegt an den Aktivist:innen in den Gewerkschaften und den sozialistischen Kräften, sie in die Tat umzusetzen, indem sie Demonstrationen organisieren, um andere Arbeiter:innen und die breite Öffentlichkeit um Unterstützung zu bitten. Um dies in kleinen und großen Städten zu tun, bilden die Aktivist:innen bereits Solidaritätskomitees. Wenn sich eine Massenstreikwelle entwickelt, insbesondere wenn die Regierung oder die Arbeit„geber“:innen sich auf die gewerkschaftsfeindlichen Gesetze berufen, können diese die Grundlage für Aktionsräte mit Delegierten aus den Gewerkschaften und Gemeinschaftskampagnen bilden, die in der Lage sind, eine Regierung zu stürzen, die versucht, „die Gewerkschaften zu brechen“.

Die hohe Beteiligung zeigt, dass die Stimmung für einen radikalen Wandel wächst, um der wachsenden Armut und den sinkenden Löhnen ein Ende zu setzen. In der Tat: „genug ist genug“! Es ist an der Zeit zu beweisen, dass, wie einige Journalist:innen sagten, „der Klassenkampf zurückgekehrt ist“.




„Wir werden sie zermürben“

Interview mit einem streikenden Rechtsanwalt, Alex Rutherford, Workers Power (Britannien), Infomail 1196, 20. August 2022

Während die industrielle Militanz in Großbritannien zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ansteigt, haben sich die Strafrechtsanwält:innen der Streikwelle angeschlossen. Workers Power sprach mit Saul Brody, einem streikenden Anwalt aus Manchester, über die Bedeutung des Streiks, die Probleme im Strafrechtssystem und die Auswirkungen dieser Probleme auf die Betroffenen. Eine ausführliche Analyse des Streiks wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

WP: Könntest du etwas zum Hintergrund des Streiks sagen und wie er bisher verlaufen ist?

SB: Der Streik ist das Ergebnis eines Streits über die Höhe der Gebühren für die Arbeit in der Strafrechtshilfe. Wir haben am 27. Juni mit den Streikmaßnahmen begonnen. Wir beteiligen uns an dem Streik als Einzelmitglieder der Criminal Bar Association (CBA).

In der ersten Woche haben wir am Montag nicht gearbeitet, dann haben wir den Streik um einen Tag pro Woche ausgeweitet. Als er fünf Tage erreicht hatte, begannen wir, jede zweite Woche eine ganze Woche lang zu streiken. Außerdem nehmen wir derzeit keine Rücksendungen an [1].

Einige Anhörungen werden noch durchgeführt, insbesondere solche, bei denen es um eine schutzbedürftige Person geht und es ungerecht wäre, sie nicht durchzuführen. Alle, sowohl die älteren als auch die jüngeren Anwält:innen, nehmen die Belastung gemeinsam auf sich. Wir werden so lange fünf Tage arbeiten, dann fünf aussetzen, bis unsere Forderungen erfüllt sind. Wir halten zusammen, um die Zukunft der Strafrechtsanwält:innen zu sichern.

WP: Welche Probleme haben zum Streik der Anwält:innen geführt?

SB: Der Streik ist eine Folge der chronischen Unterfinanzierung – die Mittel für das Strafrechtssystem wurden in den letzten 10 Jahren um 28 % gekürzt. Junioranwält:innen leiden am meisten darunter. In den ersten fünf Jahren liegt das Durchschnittsgehalt eines/r Anwält:in in Strafsachen bei nur 12.000 Pfund und damit unter dem Mindestlohn.

Die Anwaltskammer für Strafrecht hat im letzten Jahr 300 – 400 Juniorratgeber:innen verloren. Es gibt keine neuen Bewerber:innen – es gibt zwar viele, aber es sind nicht unbedingt die besten Leute. Viele der besten Anwält:innen gehen aufgrund der stark gestiegenen Honorare in den Wirtschaftsbereich. Einige Leute können immer noch im Strafrecht arbeiten, aber sie müssen entweder sehr engagiert oder sehr wohlhabend sein.

Einige Mainstreamzeitungen haben über diese Themen berichtet. Aber niemand berichtet über die ungerechtfertigten Verzögerungen für Opfer, Zeug:innen und Richter:innen – sie sind unzumutbar lang. Die Situation führt zu einem Chaos in den Gerichten. Prozesse, die 2018 begannen, sind noch immer nicht abgeschlossen. Es wird nicht besser, es wird schlimmer.

Dies ist nicht auf das COVID zurückzuführen, sondern auf den chronischen Mangel an Gerichten, Richter:innen und Verteidiger:innen. Das Justizministerium hält es nicht für vorrangig, die Gerichtsgebäude in Ordnung zu bringen, was das gesamte System weiter belastet.

Das gesamte Budget für Strafrechtshilfe ist winzig – weniger als 1 Milliarde Pfund pro Jahr. Vergleicht das mit den 17 Mrd., die durch Betrug verlorengehen. Diese werden in den offiziellen Statistiken nicht berücksichtigt, so dass die Öffentlichkeit über die Effizienz des Strafrechtssystems belogen wird.

Viele Zeug:innen und Opfer werden mehrfach vor Gericht geladen und sagen: „Ich komme nicht wieder, ich war schon dreimal hier, habe mir Urlaub genommen und komme nicht wieder“. Der Regierung gefällt das, denn es führt dazu, dass die Strafverfolgung eingestellt wird, was den Druck auf das System verringert, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt.

Dies gilt vor allem für Vergewaltigungsfälle, bei denen die Opfer regelmäßig wegen Problemen mit dem System aussteigen.

Die Unterfinanzierung stellt auch eine Gefahr für die Vielfalt dar. Dies wirkt sich auf unterdrückte Minderheiten aus, die nicht die Möglichkeit haben, das Wagnis einzugehen, sich als Anwalt/Anwältin für Strafrecht zu bewerben. Dies führt unweigerlich zu einem Beruf voller weißer, männlicher Mittelschichtangehöriger.

Wir werden regelmäßig aufgefordert, auf Vielfalt zu achten, um Menschen zu gewinnen, die repräsentativ für die Gemeinschaft in diesem Land sind. Strafrecht kann nicht nur ein Hobby reicher Männer sein – wir brauchen Strafverteidiger:innen mit unterschiedlichem Hintergrund.

WP: Was sind die Forderungen des Streiks?

SB: Wir fordern eine Erhöhung der Gebühren für die Strafverteidigung um 25 %. Die Regierung bietet 15 % an, hat aber gesagt, dass dies nicht für den Rückstau an bestehenden Fällen gilt. Das würde bedeuten, dass niemand mehr alte Fälle anfassen will – die Gehaltserhöhung muss für alle Fälle von jetzt an gelten.

Strafverteidiger:innen opfern regelmäßig ihre Zeit, um das System zum Funktionieren zu bringen. Für vieles, was wir tun, werden wir nicht bezahlt. Die Vergütungssätze sind einfach so schlecht. Auf meiner Ebene gibt es einige gut bezahlte Fälle, die einen Ausgleich schaffen, aber die jüngeren Rechtsanwält:innen bekommen das nicht. Mir persönlich geht es gut, aber hier geht es um die Zukunft der Anwaltschaft.

Es ist eine furchtbare Situation, weil ich Mandant:innen habe, über die nicht verhandelt wird. Wir alle wollen arbeiten. Die CBA hat versucht, Justizminister Dominic Raab zum Zuhören zu bewegen, aber natürlich kann er jetzt einfach die Schuld für den Rückstand auf uns schieben, weil wir streiken.

WP: Wie kann der Streik eurer Meinung nach erfolgreich sein?

SB: Wir werden sie zermürben; wir werden nicht aufgeben. Die Lebenshaltungskostenkrise hat die Menschen an den Abgrund gebracht – viele müssen sich auf ihre Ersparnisse verlassen oder sich verschulden, um über die Runden zu kommen.

Die Wahrheit ist, dass es in der Strafgerichtsbarkeit nicht viele fett verdienende Anwält:innen gibt. Wir wenden uns an die breite Masse, nicht an die wenigen Spitzenleute.

Es hat einige Demonstrationen gegeben – ich habe bisher an zweien teilgenommen. Es gab einige Erwähnungen in der Presse und Unterstützung von einigen Abgeordneten. Wir befinden uns derzeit in einer sehr schwierigen Situation, weil keine/r der Politiker:innen in der Tory- (Konservative) oder sogar in der Labour-Partei sagen will, dass sie die Strafverteidiger:innen unterstützen. Die Wahl der Tory-Führung wird uns einen Haufen Idiot:innen bescheren, die nicht wissen, wie man das Land regiert. Wir werden schon etwas erreichen. Wir stecken derzeit in der Frage fest, ob das Gehaltsangebot für rückständige Fälle gelten wird. Wir brauchen auch ein indexiertes Gehaltssystem, das von einem unabhängigen Gremium kontrolliert wird, da unsere Gehaltserhöhungen im Moment vollständig von der Regierung kontrolliert werden. Die Lohnkürzungen sind zu weit gegangen.




Britannien: Eisenbahnarbeiter:innen – Kampfdruck erhöhen bis zum Sieg!

KD Tait, Workers Power, Infomail 1191, 27. Juni 2022

Das britische Eisenbahnnetz wurde am 21. und 23. Juni zweimal zum Stillstand gebracht, als 40.000 Eisenbahner:innen im ersten landesweiten Streik seit 30 Jahren die Arbeit niederlegten. Die Gewerkschaft RMT (Eisenbahn, See und Transport) wehrt sich gegen ein Lohnangebot von 3 % und gegen die Bedrohung von Arbeitsplätzen, Renten, Arbeitsbedingungen und der Sicherheit bei der Bahn. In London schlossen sich ihnen 10.000 U-Bahn-Beschäftigte an, die gegen geplante Arbeitsplatz- und Rentenkürzungen streikten.

Der Streik, an dem Network Rail und 13 der 15 englischen Eisenbahnunternehmen beteiligt waren, war massiv. An beiden Tagen fielen 80 Prozent der Züge aus, und die Bahnstrecken wurden ab 18.30 Uhr praktisch geschlossen. Ein dritter Streiktag ist für Samstag, den 25. Juni, geplant.

Bislang versteckt sich die Regierung hinter Network Rail und den privaten Betreibergesellschaften. Verkehrsminister Grant Shapps hat jede Verantwortung abgelehnt, obwohl sein Ministerium das jährliche Budget für die Eisenbahnunternehmen festlegt. Der Chef von Network Rail, Andrew Haines (Jahresgehalt: 589.999 Pfund), hat sich gegen „staatliche Eingriffe“ ausgesprochen und behauptet, diese würden die Gewerkschaften dazu ermutigen, „Streitigkeiten zu politisieren“.

Es handelt sich jedoch um eine politische Auseinandersetzung, die Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft zeitigt. Der Streik ist die erste ernsthafte Bewährungsprobe für die Politik der Lohnzurückhaltung der Regierung im öffentlichen Sektor. Hochrangige Regierungsquellen haben gewarnt, dass ein Nachgeben der Regierung gegenüber den Bahngewerkschaften einen Präzedenzfall für den gesamten öffentlichen Sektor schaffen würde. Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor werden ähnliche Forderungen im privaten nach sich ziehen.

Der Präzedenzfall, den die Konservative Partei – und hinter ihnen die „Arbeitgeber:innen“ – schaffen wollen, besteht darin, dass mit Streiks keine echten Lohnerhöhungen erreicht werden können. Da die Gewerkschaften der Post, des Bildungswesens und des öffentlichen Dienstes über Löhne und Gehälter abstimmen, hoffen die Tories, dass eine Niederlage der RMT die Gewerkschaftsbewegung demoralisieren und eine Obergrenze für Lohnforderungen festlegen wird.

Das Boulevardblatt Sun hat zu Recht „Klassenkampf“ auf ihre Titelseite geschrieben. Die „Arbeitgeber:innen“ wollen die Löhne niedrig halten, um ihre Gewinne zu sichern. Der Plan der Regierung, die Beschäftigten des öffentlichen Sektors auf schmale Rationen zu setzen, ist ein zentraler Bestandteil dieser Strategie. Deshalb ist dieser Konflikt von entscheidender Bedeutung für die gesamte Arbeiter:innenklasse.

Wofür kämpft die Gewerkschaft RMT?

Die RMT-Forderung nach einer Erhöhung um 7-8 % basiert auf der Inflationsrate bei der Eröffnung der jährlichen Lohnverhandlungen im Dezember. Die neuesten Zahlen, die am Mittwoch veröffentlicht wurden, zeigen jedoch eine Inflation nach dem Einzelhandelspreisindex von 11,7 % – den höchsten Stand seit 40 Jahren. Zusammen mit dem dreijährigen Einfrieren der Löhne und Gehälter haben die Eisenbahner:innen damit bis zu 20 % ihres Reallohns verloren. Eine Forderung von 7 % entspricht einer Lohnkürzung von 4 %. Da die Inflation bis zum Herbst voraussichtlich 14 % erreichen wird, wird sich dies noch verstärken. Die Arbeiter:innen müssen ihre Rechnungen bezahlen und Lebensmittel zu den heutigen Preisen kaufen – nicht zu denen vom Dezember.

Aber es gibt noch einen zweiten Grund, für einen inflationsgeschützten Abschluss zu kämpfen. Die Regierung nutzt diesen Konflikt, um den Maßstab für Lohnforderungen für die gesamte Arbeiter:innenklasse zu setzen. Die Eisenbahner:innen sind eine der am besten organisierten Gruppen unserer Bewegung. Wenn sie zu Lohnkürzungen gezwungen werden können, werden die „Arbeitgeber:innen“ dies als Freibrief nutzen, um allen anderen das Gleiche – oder Schlimmeres – aufzuerlegen.

Deshalb müssen die Eisenbahner:innen gewinnen. Aber eine Erhöhung unterhalb der Inflation auszuhandeln, bedeutet keinen Sieg. Die Gewerkschaft sollte für einen inflationsgeschützten Lohnabschluss kämpfen: aktuelle Inflation plus 1 % für jeden 1 %-igen Anstieg der Inflation. Wenn die Inflation sinkt, werden die Beschäftigten beginnen, die durch das Einfrieren der Löhne verursachten Verluste wieder auszugleichen.

Das Gleiche gilt für die Arbeitsplätze. RMT-Generalsekretär Mick Lynch hat erklärt, seine Priorität sei eine Einigung ohne betriebsbedingte Kündigungen. Aber der Verlust von fast 2.000 Arbeitsplätzen bedeutet mehr Arbeit und mehr Überstunden für diejenigen, die bleiben. Das bedeutet gefährlichere Eisenbahnen für Arbeit:innen und Fahrgäste. Es bedeutet weniger qualifizierte Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze für junge Menschen.

Die Eisenbahner:innen sollten den Verlust von qualifizierten und erfahrenen Berufen nicht hinnehmen. Jedem/r Beschäftigten, dessen/deren Stelle gestrichen wird, sollte eine Umgruppierung und Umschulung in der gleichen oder einer besseren Besoldungsgruppe angeboten werden. Entfallende Stellen sollten eins zu eins durch neue Posten ersetzt werden. Falls erforderlich, sollte die Arbeit ohne Lohneinbußen aufgeteilt werden.

Das Argument, die Pandemie habe die Nutzung der Pendler:innenzüge drastisch reduziert, ist übertrieben. Aber die Bekämpfung des Klimawandels, die Verringerung der Umweltverschmutzung und die Verbesserung der Infrastruktur für Arbeit und Freizeit erfordern in jedem Fall eine drastische Ausweitung des Schienen- und öffentlichen Verkehrs, nicht eine Verringerung.

Die Regierungspartei will den Gewerkschaften die Schuld an den Problemen der Bahn in die Schuhe schieben. Aber die Regierung und die Bosse sind nicht an einer Modernisierung interessiert, wenn diese ihren Profiten schadet. Die Tories haben mehr Eisenbahnen gestrichen, als sie gebaut haben. Die Eisenbahn wird nicht als öffentlicher Dienst betrieben – sie operiert im Interesse des privaten Profits. Der Kampf um Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf, die Profiteur:innen zu vertreiben und die Bahn wieder in öffentliches Eigentum zu überführen, das unter der Kontrolle der Arbeiter:innen und Fahrgäste steht und durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird.

Weitet die Aktion aus!

Lynch hat erklärt, die RMT sei auf einen „Zermürbungskrieg“ vorbereitet. Die Streikposten vom Dienstag bildeten eine eindrucksvolle Demonstration der Entschlossenheit der Eisenbahner:innen. Aber eine Reihe von 24-stündigen Arbeitsniederlegungen, die sich über viele Wochen oder sogar Monate hinziehen, birgt das Risiko von Ermüdung und finanzieller Härte.

Der schnellste Weg, den Konflikt zu einem raschen – und erfolgreichen – Abschluss zu bringen, ist die Ausweitung und Eskalation der Aktionen. Die Fahrer:innengewerkschaft ASLEF und die Gewerkschaft der Angestellten TSSA führen derzeit eine Urabstimmung durch. Die RMT-Streiks werden deren Mitglieder ermutigen, sich dem Konflikt anzuschließen und ihn zu verstärken. Aktivist:innen aus allen drei Gewerkschaften sollten eine Kampagne mit koordinierten, eskalierenden Aktionen organisieren, bei denen keine Einzelforderung zurückgestellt wird, bevor nicht alle beglichen sind.

Der Erfolg des Streiks hängt von der Organisierung der Gewerkschaftsmitglieder ab, um die Beteiligung und demokratische Kontrolle zu maximieren. Betriebsversammlungen und Streikpostenversammlungen können für den Streik mobilisieren und gemeinsame Streikausschüsse wählen, um Streikposten und Delegationen zu anderen Betrieben zu organisieren, die Durchführung des Streiks und der Verhandlungen zu erörtern – und jedes Abkommen abzulehnen, das nicht zu einer inflationsgeschützten Lohnerhöhung führt.

Solidarität

Die RMT-Beschäftigten haben den Weg nach vorn gewiesen. Für einen Sieg muss jedoch eine starke Solidaritätskampagne mobilisiert werden. In jeder Stadt und jedem Bezirk sollten lokale Solidaritätsausschüsse von Delegierten aus Gewerkschaftsortsgruppen und Betrieben gebildet werden. Diese können damit beginnen, bei ihren Mitgliedern und Kolleg:innen für die Ziele des Streiks zu werben, Geld für den Streikfonds zu sammeln und Delegationen zu den Streikposten zu organisieren.

Diese Ausschüsse können nicht nur den Streik unterstützen, sondern auch die Grundlage für die Organisierung von einfachen Gewerkschaftsmitgliedern in der gesamten Bewegung bilden, um Rekrutierung, Wahlbeteiligung und Stimmen für Aktionen in ihren eigenen Abstimmungen zu maximieren.

Wir sitzen alle im selben Boot. Jede:r erkennt die Notwendigkeit eines geeinten, koordinierten Widerstands an. Der Gewerkschaftsdachverband TUC sollte die Einzelgewerkschaften zusammenbringen und Abstimmungen sowie Kampagnen koordinieren. Aber wir können nicht auf ihn warten. Wir müssen bereit sein, mit den Gewerkschaftsführer:innen zu handeln, wenn sie kämpfen – aber ohne sie, wenn sie es unterlassen. Das bedeutet, dass wir uns innerhalb der Einzelgewerkschaften und gewerkschaftsübergreifend organisieren müssen.

Wir alle wissen, was auf dem Spiel steht. Deshalb ist die Weigerung der Führung der Labour-Partei, den Streik unmissverständlich zu unterstützen, so beschämend. Mit einer Handvoll ehrenwerter Ausnahmen haben die Labour-Abgeordneten Streikposten gemieden wie die Pest. Sie dürfen nicht aus der Verantwortung gelassen werden. Wir müssen jeden Auftritt in den Medien nutzen, um Keir Starmer und das Schattenkabinett aufzufordern, die Streiks zu unterstützen.

Mit Solidarität, Organisierung der Basis und kämpferischen Aktionen können wir die Lohnzurückhaltung der Tories brechen, eine echte Lohnerhöhung für Millionen von Menschen erreichen – und die Bosse für ihre eigene Krise bezahlen lassen. Sieg für die RMT!




Nordirland: Sinn Feins historischer Sieg wird vom unionistischen Veto blockiert

Bernie McAdam, Infomail 1190, 1. Juni 2022

Sinn Fein hat bei den Wahlen zur Nordirischen Versammlung einen historischen Sieg errungen. Die Partei, die der politische Flügel der Provisional IRA (Provisorische Irische Republikanische Armee) war und von der britischen Regierung sechs Jahre lang mit einem Sendeverbot belegt wurde, ist jetzt die größte Partei im Stormont, dem Parlament. Zum ersten Mal in der Geschichte des nordirischen Staates hat eine Partei, die sich für ein vereintes Irland einsetzt, mehr Sitze gewonnen als die größte Partei der Unionist:innen. Nach hundert Jahren unionistischer Dominanz in der Regierung hat eine nationalistische Partei nun das Recht, den Ersten Minister (First Minister) in der neuen Exekutive mit geteilter Macht zu benennen. Berechtigt ist jedoch nicht ermächtigt!

In Wirklichkeit hat sich die größte unionistische Partei, die Democratic Unionist Party (DUP), geweigert, einer solchen Exekutive beizutreten, wodurch die wichtigste Institution des Karfreitagsabkommens (GFA) zusammengebrochen ist. Die DUP möchte, dass das Nordirland-Protokoll, das Abkommen zwischen dem britischen Vereinigten Königreich und der EU, das eine Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See gezogen hat, aufgehoben wird, bevor sie einer neuen Exekutive oder Versammlung beitritt. Die Parteien haben bis zu 24 Wochen Zeit, um eine neue Exekutive zu bilden, andernfalls müssen Neuwahlen abgehalten werden.

Unnachgiebigkeit der Unionist:innen

Der DUP-Führer Jeffrey Donaldson sagt, er werde das Wahlergebnis akzeptieren (so?!), aber selbst wenn er nicht den Vorwand des Protokolls hätte, die Exekutive zu sabotieren, hätte die DUP es immer noch demütigend genug gefunden, einen nationalistischen Ersten Minister zu akzeptieren. Das zeigt, dass der Unionismus nicht weniger überheblich und bigott ist als der sektiererische Staat im Norden, den er seit über einem Jahrhundert verteidigt.

Der Nordstaat kann nur durch die Rolle Großbritanniens bei der Teilung Irlands im Jahr 1921 und der Schaffung eines willkürlichen Stücks Land mit einer unionistischen Mehrheit unter dem Namen „Nordirland“ verstanden werden. Der entstehende Staat wurde aufgebaut und konzipiert, um die nationalistische Minderheit niederzuhalten, mit systematischer Diskriminierung und Unterdrückung, die in den späten 60er Jahren zum Kampf für Bürger:innenrechte führte.

Die Unionist:innen wehrten sich gegen die Forderung nach gleichen Bürge:innenrrechten und reagierten durch Unterstützung der nachfolgenden britischen Regierungen mit verstärkter Repression. Als sich die nationalistische Minderheit gegen loyalistische Pogrome und staatliche Repressionen zur Wehr setzte, kam es zu einem Massenaufstand, der in einen bewaffneten Kampf zur Vertreibung der britischen Truppen und gegen die Teilung mündete. Sinn Fein und die IRA führten diesen Kampf an, und ihre Unterstützung ist noch heute ein Erbe ihrer Beteiligung an diesem berechtigten Widerstand.

Die Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens war der krönende Abschluss des Friedensprozesses, bei dem Unionist:innen und Nationalist:innen zum ersten Mal die politische Macht teilten. Die DUP wurde schreiend zu dieser Übung gezerrt, aber eigentlich hatte sie wenig zu verlieren, schließlich hatte Sinn Fein/IRA ihre Waffen außer Dienst gestellt und entgegen den republikanischen Grundsätzen ein Veto der unionistischen Mehrheit gegen ein vereinigtes Irland akzeptiert. Selbst nach einem solchen Einlenken wurde es von den Hardliner-Unionist:innen immer noch als Machtteilung mit dem Feind angesehen.

Nichtsdestotrotz teilten sich die DUP und Sinn Fein die Macht. Sie waren sich beide einig, den Staat und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen, sie und ihre Anhänger:innen waren beide Nutznießer:innen einer sektiererischen Mittelzuweisung, und sie stimmten beide, zusammen mit allen anderen großen politischen Parteien, der Umsetzung der Sparpolitik der britischen Regierung in Westminster zu, die die öffentlichen Dienstleistungen bis auf den Grund kürzt. Die Versammlung/Exekutive wurde zum Hauptinstrument der britischen Herrschaft im Norden.

Seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 wurde der Nordstaat mit einem dezentralisierten Parlament kosmetisch verschönert und einige der schädlichsten Formen der Diskriminierung wurden beseitigt, was einer kriegsmüden Bevölkerung viel Hoffnung gab. Doch die versprochenen wirtschaftlichen Vorteile des Friedens blieben aus, und es gab keine wirklichen Fortschritte beim Abbau des Sektierertums. Vielmehr kam es immer wieder zu einer Verschärfung der sektiererischen Spannungen, vor allem dann, wenn die DUP es für nötig hielt, den loyalistischen Eifer anzufachen. Die Rolle der DUP bei den „Flaggenkrawallen“ im Jahr 2013 ist ein typisches Beispiel dafür.

Sinn Fein hat sich verpflichtet, die Macht mit der DUP zu teilen, einer der reaktionärsten Parteien Europas, einer Partei, die sich kompromisslos gegen Abtreibungsrechte, die gleichgeschlechtliche Ehe, die Rechte der irischen Sprache usw. stellt. Das Karfreitagsabkommen basiert auf der Anerkennung eines Vetos der Unionist:innen in der Grenzfrage – eine Grenze, die seit ihrer Entstehung im Jahr 1921 die Gemeinden und das wirtschaftliche Hinterland vollständig geteilt hat, was mit sozialer Benachteiligung einherging.

Alle, von der EU, den USA, der Irischen Republik und den britischen Regierung bis hin zu allen großen politischen Parteien im Norden, schwören auf dieses Abkommen. Sie alle sind daran beteiligt, die Teilung zu veredeln, aber das Karfreitagsabkommen kann das Demokratiedefizit im Herzen des Nordstaates nicht beheben. Die Teilung der Macht ist ein geschickter Weg, dies zu verbergen, zumindest für eine gewisse Zeit. Aber der Widerspruch wird immer zum Vorschein kommen, der Widerspruch, eine britische Grenze in Irland zu haben, eine Grenze, die dem irischen Volk als Ganzes das Recht verweigert, über seine eigene Zukunft zu entscheiden.

Brexit

Der nächste Schritt war der Brexit, der diesen Widerspruch einer britischen Grenze auf der irischen Insel ausnutzte und verschärfte. Der britische Austritt aus der EU war in Irland überwältigend unpopulär. Im Norden stimmte eine Mehrheit dagegen, abgesehen von einer unionistischen Minderheit unter Führung der DUP, die nun meint, sie habe das „demokratische“ Recht, ein Veto gegen die Mehrheit einzulegen.

Als Mitglieder der EU hatten sowohl die Republik Irland als auch Nordirland eine offene Grenze und einen gemeinsamen Markt. Durch den Brexit drohte eine harte Grenze zwischen den beiden Staaten mit allen daraus resultierenden Kosten und Unannehmlichkeiten für beide Seiten. Die britische Regierungspartei der Tories scheinen die Folgen ihrer Pläne für Irland nicht bedacht zu haben.

Die Befürworter:innen des Brexit der DUP haben heuchlerisch gegen eine harte Grenze gewettert, aber warum dann für den Austritt aus der EU stimmen? Was erwartet man, wenn man eine Freihandelszone verlässt? Das Protokoll wurde von den Tories und der EU vereinbart, um die nachteiligen Auswirkungen einer harten Grenze zu umgehen. Anstelle von Kontrollen an der irischen Grenze, der einzigen Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, würde es Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland geben, wobei sich Nordirland bereit erklärt, die EU-Vorschriften für Produktstandards zu befolgen.

Die DUP und die Traditional Unionist Voice (Traditionelle Unionistische Stimme TUV) halten diese Grenze an der Irischen See für inakzeptabel, da sie den Platz von Norirland im Vereinigten Königreich untergräbt, daher muss das Protokoll weg. Die Tatsache, dass die Wirtschaft des Teilstaates vom Verbleib auf dem EU-Markt profitiert, wird geflissentlich übersehen. Obwohl die neue Versammlung eine pro-Protokoll-Mehrheit hat, wird die DUP/TUV ihr unionistisches Veto nutzen, um das Wahlergebnis zu kippen, das Donaldson angeblich akzeptiert hat!

Dies zeigt einmal mehr die paranoide Angst vor einem vereinigten Irland, das jeden ihrer Schritte bestimmt, selbst um den Preis einer harten Grenze zwischen Nordirland und der EU. Die Reaktion darauf erklärt zum Teil das schnelle Wachstum der Alliance Party zur drittgrößten Partei. Die Entwicklung dieser liberalen, wirtschaftsfreundlichen und EU-freundlichen Mittelschichtspartei könnte die Wirtschaft in Nordirland von ihrer traditionellen Loyalität zu den Unionist:innen abbringen, doch die Befürwortung der Alliance für die britische Union steht nicht zur Disposition.

Das anhaltende Brexit-Dilemma des britischen Premier Boris Johnson besteht darin, wie er das Protokoll so ändern kann, dass es die DUP und die EU zufriedenstellt. Zweifellos wird er dies in den kommenden Wochen mit seinen charakteristischen Lügen und Täuschungen tun, da das Parlament bereits über ein Gesetz zur Aufhebung des Protokolls beraten wird. Die EU und die USA haben ihn bereits vor solchen einseitigen Maßnahmen gewarnt, die ein Handelsabkommen mit den USA gefährden könnten. Außerdem würde dies die Gefahr eines Handelskriegs mit der EU erhöhen, und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft mit einer drohenden Rezession konfrontiert ist.

Es wird also ein interessantes Rätsel sein, inwieweit Johnson die Unionist:innen beschwichtigen kann. Es wird jedoch mehr als deutlich, dass der Brexit für Irland, im Norden wie im Süden, immer eine Katastrophe sein würde. Das Protokoll soll die Auswirkungen bis zu einem gewissen Grad abmildern, aber die Unnachgiebigkeit der Unionist:innen wird die Wahrscheinlichkeit einer harten Grenze nur erhöhen.

Eine neue Ära?

Die Vorsitzende von Sinn Fein im Norden, Michelle O’Neill, sagt, der Sieg läute „eine neue Ära“ für Nordirland ein. Er wird auch südlich der Grenze den politischen Schwung der Partei verstärken. Aber kommt Sinn Feins Vision eines vereinten Irlands dadurch näher? Sicherlich hat die Debatte über ein vereinigtes Irland seit dem Brexit zugenommen, aber die Verwirklichung ist nicht in greifbare Nähe gerückt.

Die Strategie von Sinn Fein besteht darin, sowohl in der nördlichen als auch in der südlichen Regierung politische Macht zu erlangen – kein unwahrscheinliches Szenario – um Druck auf Großbritannien auszuüben, eine Grenzabstimmung abzuhalten. Sie weisen darauf hin, dass Großbritannien nach den Bestimmungen des Karfreitagsabkommens berechtigt ist, eine Grenzabstimmung anzusetzen, sofern eine Mehrheit für ein vereinigtes Irland wahrscheinlich ist. Ihre Vorsitzende Mary Lou McDonald geht von einem Zeitrahmen von 5 bis 10 Jahren aus.

Diese Entscheidung liegt jedoch nicht bei Sinn Fein, sondern kann nur vom britischen Außenminister getroffen werden, und zwar auf der Grundlage dessen, was die britische Regierung bei einem Referendum für wahrscheinlich hält. Es gibt keinen Mechanismus, der die Regierung zum Handeln zwingt. Das irische Volk hat hier kein Mitspracherecht!

Es überrascht nicht, dass Johnson dies bereits „für eine sehr, sehr lange Zeit“ ausgeschlossen hat, und Keir Starmer von der Labour-Partei ist nicht besser, da er glaubt, dass ein Referendum nicht in Sicht ist, und selbst wenn es eines gäbe, würde er sich gegen ein vereinigtes Irland einsetzen. Sinn Fein macht sich also der Illusion schuldig, dass die Grenzabstimmung in greifbare Nähe gerückt ist und im Falle ihrer Durchführung eine Mehrheit finden würde, was jedoch nicht unvermeidlich ist, wenn man den Meinungsumfragen glauben darf.

Eine weitere Illusion besteht darin, dass Großbritannien als „neutraler“, „desinteressierter“ Akteur die Einheit fördern und alle Bestimmungen des Karfreitagsabkommens in gutem Glauben umsetzen würde. Doch die britische Präsenz ist das Hauptproblem. Nicht umsonst haben aufeinanderfolgende britische Regierungen einen 30-jährigen Krieg gegen diejenigen geführt, die die Grenze abschaffen wollten. Großbritannien könnte sich zwar prinzipiell für ein vereinigtes kapitalistisches Irland erwärmen, aber zu britischen Bedingungen, was in naher Zukunft höchst unwahrscheinlich ist.

Man kann sich nicht auf das Abkommen verlassen, das sich ohnehin auflöst, oder auf die Forderung nach einer Grenzabstimmung, um Irland zu vereinen. Die Tatsache, dass eine Abstimmung im Norden gefolgt von einer Abstimmung im Süden stattfinden müsste, ist eine Parodie dessen, was geschehen sollte. Die konsequente demokratische Position ist eine gesamtirische Wahl zu einer gesamtirischen Versammlung, in der das irische Volk als Ganzes über seine Zukunft im Norden entscheidet.

Die Sozialist:innen sollten sich für die Selbstbestimmung als Teil einer Strategie zum Aufbau einer Arbeiter:innenrepublik einsetzen. Die Teilung hat die Arbeiter:innenklasse in Irland schon zu lange gespalten. Da das Ausmaß des Elends und der Entbehrungen im gegenwärtigen Klima in die Höhe schießt, ist es unerlässlich, dass eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung aufgebaut wird, um die Arbeiter:innenklasse in ganz Irland zu verteidigen. Eine Massenbewegung auf der Straße und direkte Aktionen sind der Weg, um die Interessen der Arbeiter:innenklasse voranzubringen und dem imperialistischen Staat nördlich der Grenze die Kontrolle ebenso zu entreißen wie dem kapitalistischen Staat im Süden.

Der Kapitalismus ist entschlossen, die Kosten für seine zahlreichen Krisen auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Die Arbeiter:innen müssen darauf mit Arbeitskämpfen und dem Aufbau demokratischer Arbeiter:innenräte reagieren, die sich selbst verteidigen und den Kapitalismus letztendlich zerschlagen können. In Irland muss eine revolutionäre Partei aufgebaut werden, die für diese Strategie kämpfen kann – eine Strategie, die auf der permanenten Revolution basiert, in der die Arbeiter:innenklasse die uralte nationale Frage durch den Kampf für eine Arbeiter:innenrepublik löst.




Irland: 50. Jahrestag des Bloody Sunday

Bernie McAdam, Workers Power, Infomail 1177, 29. Januar 2022

Am 30. Januar jährt sich der Bloody Sunday (Blutsonntag) zum 50. Mal. An diesem Tag im Jahr 1972 ermordete das britische Fallschirmjägerregiment 13 unbewaffnete BürgerrechtsdemonstrantInnen in Derry. Ein vierzehntes Opfer erlag kurz darauf seinen Verletzungen, und es gab weitere 15 Verletzte. Die Northern Ireland Civil Rights Association (Nordirische BürgerInnenrechtsvereinigung) hatte zu einem Protest gegen die Internierung aufgerufen, und der Marsch wurde auf Empfehlung der britischen Armee untersagt.

Das Massaker räumte endgültig mit dem Mythos auf, dass die britische Armee „den Frieden bewahrt“ und zwischen zwei sich bekriegenden Gruppierungen stehe, „um sie auseinanderzuhalten“. Es war ein entscheidender Moment, der die gesamte nationalistische Gemeinschaft im Norden Irlands entfremdete und ihnen bestätigte, dass Großbritannien es nicht ernst meinte mit der Reform des sektiererischen Gebildes des sechs Grafschaften umfassenden unionistischen Staates.

Nach dem Bloody Sunday nahm der Massenwiderstand im Norden zu. Katholische ArbeiterInnen in Hunderten von Fabriken traten in den sechs Grafschaften in den Streik und veranstalteten spontane Proteste. Die Provisional IRA (Provisorische Irisch Republikanische Armee) verstärkte ihre bewaffnete Kampagne und verzeichnete einen enormen Anstieg der Rekrutierung. In der Republik Irland kam es zu beispiellosen Protesten mit dreitägigen Streiks und Demonstrationen in Dörfern, Städten und Gemeinden auf der ganzen Insel. Die Proteste wurden häufig von den Gewerkschaftsräten organisiert, und es nahmen ganze Betriebskontingente an den Märschen teil. Die Aktionen gipfelten in einem Generalstreik am dritten Tag, an dem 12 der 13 Opfer vom 30. Januar begraben wurden.

Die britische Botschaft in Dublin wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt, und die Abgeordnete Bernadette Devlin, die auf einer BürgerInnenrechtsliste gewählt worden war, schlug dem Innenminister Reginald Maudling im Unterhaus ins Gesicht. Irische BauarbeiterInnen legten auch in London und Birmingham die Arbeit nieder. Auf internationaler Ebene gab es Proteste in vielen Städten, darunter New York, wo John Lennon als Unterstützer der irischen Bewegung zugegen war, San Francisco, Paris, Montreal und Neapel, um nur einige zu nennen. Zwei New Yorker GewerkschaftsführerInnen, die Transport- und HafenarbeiterInnen vertraten, kündigten einen Boykott britischer Exporte an.

Die britische Reaktion

Das diskreditierte Widgery-Tribunal, das unmittelbar nach dem Bloody Sunday stattfand, bildete 38 Jahre lang die Grundlage für die Reaktion der britischen Regierung. Der Bericht sprach die britischen Soldaten von jeglichem Fehlverhalten frei und behauptete, sie seien unter Beschuss geraten. Die Angehörigen der Ermordeten führten eine lange und entschlossene Kampagne, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. 2010 wurde schließlich eine neue Untersuchung, der Saville-Bericht, durchgeführt, der den Angehörigen Recht gab und die Tötungen für „ungerechtfertigt und nicht zu rechtfertigen“ erklärte.

Nach 12 Jahren Untersuchung und 38 Jahre nach den Ereignissen bestätigte der Saville-Bericht die Unschuld der Opfer und bestätigte lediglich, was die Menschen in Derry bereits wussten. Aber es stellte einen Sieg für sie dar, dass Großbritannien endlich sein Verbrechen eingestehen musste. Sogar David Cameron, der Premierminister der Tories, sah sich gezwungen, sich im Unterhaus zu entschuldigen.

Der Saville-Bericht stellt fest, dass die Truppen nicht gewarnt haben, dass sie schießen würden, und: „Trotz der gegenteiligen Aussagen der Soldaten sind wir zu dem Schluss gekommen, dass keiner von ihnen als Reaktion auf Angriffe oder drohende durch Nagel- oder Benzinbomben geschossen hat.“ Der Befehl zum Schießen hätte nicht gegeben werden dürfen. Einige der Opfer waren vor den Militärs weggelaufen und wurden in den Rücken geschossen. Einige waren sogar dabei, anderen Verletzten zu helfen, und keine/r von ihnen war bewaffnet. In dem Bericht heißt es außerdem, dass die Soldaten bei den Ermittlungen „wissentlich falsche Angaben“ gemacht hätten.

In den Pressemitteilungen der Armee am Abend des Massakers wurde behauptet, die Soldaten seien unter schwerem Beschuss gestanden, was jedoch eindeutig eine Lüge war. Hauptmann Michael Jackson, der an diesem Tag als zweiter Befehlshaber fungierte, wurde für seinen Vertuschungsbericht belohnt, indem er schließlich den höchsten Posten in der Armee übernahm. Seine „Schussliste“ entpuppte sich als Fälschung, da keine der darin beschriebenen Schussabgaben mit den tatsächlich abgegebenen Schüssen übereinstimmte.

Ein paar faule Eier?

Der Saville-Bericht hat die Unschuldigen entlastet, auch wenn er nicht die offensichtliche Schlussfolgerung zog, dass es sich um eine unrechtmäßige Tötung oder einen Mord handelte. Zwölf Jahre später und immer noch keine strafrechtliche Verfolgung dieser Soldaten! Es überrascht nicht, dass der Saville-Bericht die britische Regierung freisprach, denn er fand keine Verschwörung in der Regierung oder in den höheren Rängen der Armee, um tödliche Gewalt gegen DemonstrantInnen in Derry anzuwenden. Oberstleutnant Wilford, der für die Fallschirmjäger, die in die Bogside eindrangen (1. Bataillon des Regiments), verantwortlich war, wurde dafür kritisiert, dass er über seine Befehle hinausging, und die Studie kam zu dem Schluss, dass einige in den Einheiten die Selbstkontrolle verloren hatten, so dass für Saville alles auf ein paar faule Eier hinauslief!

Diese verlogene Theorie lenkt von der Rolle ab, die hochrangige VertreterInnen der Armee und der Regierung am Bloody Sunday und im gesamten Norden Irlands in dieser Zeit gespielt haben. Der Bericht hörte, wie Generalmajor Ford, Kommandeur der Landstreitkräfte im Norden, drei Wochen vor dem Blutsonntag ein Memo an General Tuzo schrieb: „Ich komme zu dem Schluss, dass das Minimum an Gewalt, das zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung erforderlich ist, die Erschießung ausgewählter RädelsführerInnen unter den jungen Hooligans von Derry ist, nachdem klare Warnungen ausgesprochen wurden.“

Premierminister Ted Heath erklärte vier Tage später gegenüber seinem Kabinett: „Eine Militäroperation zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung wäre eine große Operation, die zwangsläufig zahlreiche zivile Opfer fordern würde.“ Offensichtlich hatte die britische Regierung bereits vor dem Bloody Sunday über den BürgerInnenrechtsmarsch und ihre Reaktion ein Memorandum an ihre Botschaft in Washington geschickt, in der sie vor feindseligen Reaktionen warnte, sollte es in Derry zu Unruhen kommen. Darüber hinaus hatte dasselbe Fallschirmjägerregiment seine mörderischen Absichten bereits im August des Vorjahres kundgetan, als elf unbewaffnete ZivilistInnen, darunter ein Priester, im Ballymurphygebiet von Belfast im Rahmen einer Operation getötet wurden, bei der Hunderte von NationalistInnen ohne Prozess interniert wurden. In einem Bericht des Gerichtsmediziners aus dem Jahr 2021 wurde festgestellt, dass alle ZivilistInnen in dem als „Ballymurphymassaker“ bekanntgewordenen Fall unschuldig waren und „ohne Rechtfertigung“ getötet wurden.

Warum Bloody Sunday?

Der Bloody Sunday war also kein einmaliger Vorfall oder eine Abweichung in der Politik, geschweige denn eine Frage von ein paar faulen Eiern in einer ansonsten großartigen Armee. Er kann nur im Zusammenhang mit der Besetzung eines Teils Irlands durch Großbritannien und dem sektiererischen Staat, den es seit 1921 mit aufgebaut und gestützt hat, verstanden werden. Der „nordirische“ Staat konnte nur durch die systematische soziale Unterdrückung der KatholikInnen überleben, die auf allen Ebenen diskriminiert wurden, auch bei der Vergabe von Wohnungen und Arbeitsplätzen sowie bei Wahlen. Im Jahr 1968 sagten die KatholikInnen schließlich, dass sie genug haben, und gingen in Scharen auf die Straße, um für BürgerInnenrechte und Gleichberechtigung zu kämpfen.

Sie wurden von der  Polizeitruppe Royal Ulster Constabulary (RUC) und LoyalistInnen brutal attackiert. Die überwiegend protestantische RUC wurde im August 1969 aus dem nationalistischen Bogsidebezirk in Derry vertrieben. Britische Truppen wurden stationiert, um die Kontrolle wiederherzustellen. Als die Truppen zunehmend auf die Straße gingen, wurde allen, die für BürgerInnenrechte kämpften, klar, dass die Armee und ihre Vorgesetzten in Whitehall keine ernsthaften Reformen des Staates zulassen würden, sondern dass ihre Priorität darin bestand, jeglichen Widerstand gegen ihn zu brechen.

Im August 1971 wurde die Internierung ohne Gerichtsverfahren eingeführt, um der Protestbewegung den Kopf abzuschlagen. Als Armee und Polizei rund 350 Personen festnahmen, wurden mehrere Fälle von Folter bekannt, insbesondere die 14 „Kapuzenmänner“, die in das „Folterzentrum“ der Armee in Ballykelly gebracht worden waren. Der Massenwiderstand wuchs. 8.000 ArbeiterInnen traten in Derry in einen eintägigen Streik. In der gesamten katholischen Gemeinde wurde ein Miet- und Gebührenstreik organisiert und es kam zu Tausenden von Angriffen auf Soldaten und PolizistInnen.

Die Internierung war nicht das einzige Mittel, das Großbritannien einsetzte. Die britische Armee verhängte Ausgangssperren, riegelte ganze Gebiete ab, führte Massenrazzien durch und schoss natürlich auch. Ballymurphy und der Blutsonntag waren Teil dieser allgemeinen Strategie der Unterdrückung, die sowohl von den Tory- als auch Labour-Regierungen betrieben wurde. Natürlich schickte Labour die Truppen und war ebenso eifrig wie die Tories, um den korrupten und bigotten Oranierstaat zu stützen.

Raus mit Britannien!

Die Armee spielte also keine neutrale Rolle, sondern wurde von der britischen Regierung zur Zerschlagung des Widerstands gegen den Nordstaat eingesetzt. Der künstlich geschaffene Charakter des Staats, der der Minderheit der UnionistInnen im Nordosten der Insel zugutekommen sollte, konnte ohne ständige militärische Unterstützung und drakonische repressive Gesetze wie den Special Powers Act (Sonderermächtigungsgesetz), das vom südafrikanischen Apartheidsystem so bewundert wurde, nicht bestehen.

Die Teilung war Großbritanniens Antwort auf den Unabhängigkeitskrieg von 1921. Der damals gegründete Nordstaat wurde zu einem Gefängnis für KatholikInnen. Ein wesentlicher Bestandteil seiner Existenz bestand in der systematischen sozialen Unterdrückung einer Minderheit aufgrund ihrer Identifikation mit dem irischen Nationalismus und einem geeinten Irland. Jede Anfechtung dieser institutionalisierten Diskriminierung würde unweigerlich einen nationalen Kampf auslösen. Der Bloody Sunday hat diesen Kampf beschleunigt und verschärft.

Heute, wo wir des Bloody Sundays als einer weiteren britischen Gräueltat gedenken, für die nie Gerechtigkeit geübt wurde, sind wir immer noch mit einem dysfunktionalen Staat konfrontiert, der durch britische Gewalt gestützt wird. Der permanente Krisenzustand Nordirlands, die rapide schwindende, wenn nicht sogar schon verschwundene Mehrheit der UnionistInnen, die anhaltende Farce einer Democratic Unionist Party/Sinn Fein-Exekutive und das Auflösen des Brexit auf einer Insel, die ihn nie gewollt hat, haben die Frage nach dem britischen Rückzug und einem vereinten Irland erneut aufgeworfen.

Der Kampf für eine ArbeiterInnenrepublik ist der beste Weg, um die mutigen BürgerInnenrechtsdemonstrantInnen zu rächen und ihrer zu gedenken, die an jenem schändlichen Tag in Derry von der britischen Regierung und ihrer Armee niedergemetzelt wurden. Das ist auch der einzige Weg, wie wir ein vereinigtes Irland aufbauen können, frei vom britischen Imperialismus, frei von kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden und im Besitz und unter Kontrolle der irischen ArbeiterInnen.




EU und Britannien: Stoppt die Tragödie im Ärmelkanal – lasst die Flüchtlinge herein!

Dave Stockton, Infomail 1170, 26. November 2021

Bei der jüngsten Tragödie im Ärmelkanal sind mindestens 27 Flüchtlinge, darunter fünf Frauen und ein junges Mädchen, ertrunken, als ihr Schlauchboot in den eisigen Gewässern kenterte. Französische und britische MinisterInnen haben die Gelegenheit genutzt, um sich gegenseitig die Verantwortung für diese Barbarei zuzuschieben. Das Einzige, worauf sie sich einigen können, ist, die Schuld bösen MenschenschmugglerInnen anzulasten, die Verzweiflung und Elend ausnutzen. Das ist schamloser Zynismus, der dem Rassismus Vorschub leistet, wenn er von denjenigen kommt, die die Verzweiflung, die so viele zur Flucht zwingt, maßgeblich mit verursacht haben.

Zynismus

„Warum hat Frankreich sie von seiner Küste weggelassen?“, fragen Boris Johnson und Priti Patel, die britische Innenministerin. „Warum haben die BritInnen keine Büros eröffnet, in denen sie legal ihre Aufnahme beantragen können?“, fragt Emmanuel Macron.

In der Zwischenzeit sucht Patel nach einer rechtlichen Handhabe für den Befehl an die britische Marine, die Beiboote in französische Hoheitsgewässer zurückzudrängen, was einen Verstoß gegen das Seerecht darstellt, das eine absolute Pflicht zu ihrer Rettung vorsieht. Die britischen Rechtsaußenzeitungen titeln derweil schreiende Schlagzeilen, in denen sie aufgefordert wird, „sich zusammenzureißen“ und „Großbritannien vor einer Invasion zu schützen“.

Es ist sicherlich richtig, dass in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge den Ärmelkanal überquert haben. Im Juli überstieg die Zahl das Niveau des gesamten Jahres 2020, und im November überschritt eine tägliche Überfahrt zum ersten Mal die Zahl von 1.000. Die Ursache für die steigende Zahl der Überfahrten ist die Blockade aller anderen Reisemöglichkeiten. Die britische Regierung kalkulierte zynisch, dass die Gefahren der Überfahrt viele von der Reise abhalten würden, insbesondere im Winter.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, Jemen, Äthiopien und Sudan, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid in Afrika. Viele Flüchtlinge kommen aus überfüllten Lagern im Iran und in der Türkei, die Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak aufgenommen haben.

Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten tragen einen großen Teil der Schuld für die Bombardierung, die Invasion und die Verhängung harter Wirtschaftssanktionen gegen eine Reihe von Ländern in der Region. Jetzt haben die westlichen Mächte alle Hilfe und Finanzmittel aus Afghanistan abgezogen und die Gold- und Währungsreserven des Landes an die Zentralbanken in Frankfurt, London, Paris und New York überwiesen, um sie als Lösegeld zu behalten.

Sie setzen den Hunger als Waffe gegen die Taliban ein, und diese wiederum treiben die Menschen dazu, vor ihrem repressiven Regime zu fliehen. Sprachliche Faktoren (die Verbreitung des Englischen als weltweite Verkehrssprache) und Familienangehörige in Großbritannien machen es zu einem natürlichen Ziel für diejenigen, die Sicherheit oder Arbeit suchen, was ihnen ermöglichen würde, Geld an ihre Familien in der Heimat zu überweisen.

Großbritannien und Frankreich ignorieren die unbestreitbare Tatsache, dass die „Illegalität“ dieser unglücklichen Menschen gerade in ihrer eigenen schamlosen Weigerung liegt, den vor Krieg und Hunger Fliehenden die Einreise zu gewähren, wozu sie nach internationalem Recht verpflichtet sind. Die BritInnen eröffnen keine Büros, in denen Flüchtlinge Asylanträge stellen können, bevor sie den Ärmelkanal erreichen. In Frankreich erhalten sie nicht einmal eine angemessene vorübergehende Unterkunft oder dürfen dort kampieren. Stattdessen werden sie in erbärmlichen Behelfsunterkünften am Straßenrand oder in Wäldern untergebracht. Die einzige Hilfe kommt von freiwilligen HelferInnen mit einem Sinn für menschliche Solidarität.

Wenn sie Großbritannien erreichen, werden sie in Auffanglagern festgehalten. Priti Patel wollte sie sogar in ausgemusterten Kreuzfahrtschiffen vor der Südküste festhalten, bis ein Aufschrei sie davon abhielt.

Auf der anderen Seite Europas werden Flüchtlinge als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen der EU, Polen und Weißrussland behandelt, in eklatanter Missachtung all ihrer feierlichen Erklärungen zu den Menschenrechten und der gemeinsamen Pflicht, Asyl zu gewähren. Großbritannien hat sogar Truppen an die östlichen Grenzen der Nato geschickt, um deren Abwehr zu stärken.

Öffnet die Grenzen!

KommunistInnen, SozialistInnen und GewerkschafterInnen in Großbritannien, Frankreich und der gesamten EU müssen diesem grausamen Spiel ein Ende setzen. Die Grenzen Europas und Großbritanniens zu Lande, zu Wasser und in der Luft sollten für alle geöffnet werden, die vor Krieg, Unterdrückung und wirtschaftlicher Not Asyl suchen. Diejenigen „Illegalen“, die bereits hier sind, müssen den Flüchtlingsstatus und Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten, Bildung und Wohnraum erhalten. ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften sollten sie willkommen heißen.

Die Mediengewerkschaften sollten die Druckmaschinen stoppen und den Zeitungen und Sendern, die Angst und Hass gegen diese leidenden Menschen schüren, so wie es Zeitungen wie die Daily Mail in den 1930er Jahren den vor der NS-Verfolgung fliehenden Juden und Jüdinnen angetan haben, den Stecker ziehen. Die meisten dieser Menschen wollten ihre Heimat, ihre Arbeit und ihre Familien nicht unter schrecklichen Gefahren verlassen.

Die westlichen Mächte, die die Reserven Afghanistans halten, müssen diese freigeben. Westliche Nichtregierungsorganisationen müssen die Möglichkeit erhalten, die medizinische und Nahrungsmittelhilfe wieder aufzunehmen. Die unermesslich reichen imperialistischen Mächte müssen den Ländern, die unter Covid und dem Klimawandel leiden, Hilfe zukommen lassen. Dies wäre nur die minimalste Wiedergutmachung, die diese Länder nach Jahrhunderten der Ausbeutung durch den europäischen und nordamerikanischen Kolonialismus und Imperialismus verdienen.




Britannien: Warum wir wieder Workers Power publizieren

Workers Power-Redaktion, 6. September 2021, Infomail 1162, 12. September 2021

Mit dieser Ausgabe nimmt WORKERS POWER sein Erscheinen nach sechs Jahren wieder auf und löst damit RED FLAG ab, das während der viereinhalb Jahre der Führung der Labour Party durch Jeremy Corbyn und der ersten 18 Monate durch Keir Starmer 39 Ausgaben lang erschien. RED FLAG vertrat in jeder Hinsicht die gleiche Politik wie sein Vorgänger und wurde als Organ der britischen Sektion der Liga für die Fünfte Internationale weitergeführt.

2015 appellierte Jeremy Corbyn an alle SozialistInnen, der Labour-Partei beizutreten oder es wieder zu tun. Diesem Aufruf folgten AnhängerInnen der Liga für die Fünfte Internationale gemeinsam mit Hunderttausenden und trugen dazu bei, die Partei zur größten linken Partei in Europa zu machen. Unter Corbyn stellte die Labour-Partei die bis dahin akzeptierte Notwendigkeit von Sparmaßnahmen sowie die offen marktfreundliche Ideologie von Tony Blair in Frage.

Doch Corbyns Führung, die er fast zufällig erlangte, wurde durch die Tatsache behindert, dass eine große Mehrheit der parlamentarischen Labour-Partei ihm gegenüber feindlich eingestellt war, ebenso wie die meisten Gemeinderäte und die Parteibürokratie. Corbyn und sein Stellvertreter John McDonnell weigerten sich jedoch von Beginn an, die abtrünnigen Abgeordneten und Ratsmitglieder ernsthaft zu bekämpfen und von ihren Positionen zu vertreiben.

Zugleich wurden keine dauerhaften Reformen zur Demokratisierung der Partei durchgeführt. Sie befürchteten eine Spaltung, die die Aussicht auf eine Regierung Corbyn zunichtemachen würde. Wie die Labour-Linke in den letzten hundert Jahren glaubten sie, dass Labour eine „breite“ Gemeinschaft darstellen müsse und vergaßen dabei, dass die Rechten, wenn sie nicht die Spitzen besetzen, versuchen würden, die Partei zu zerstören.

Das liegt daran, dass die Loyalität der Rechten nicht der Partei gilt, geschweige denn der ArbeiterInnenklasse, sondern ihrem Feind: dem Establishment und der KapitalistInnenklasse. Corbyns Internationalismus und seine Unterstützung des palästinensischen Widerstands gegen Israels Versuch, die PalästinenserInnen als Nation zu zerstören, bedeuteten, dass die er keine Hoffnung auf eine positive Sicherheitsüberprüfung durch die herrschende Klasse hatte und niemals Premierminister hätte werden dürfen.

Obwohl die Corbyn-Linke innerhalb der Partei und der Gewerkschaften wahrscheinlich sogar größer war als die Labour-Linke in den 1980er oder 1950er Jahren, war sie atomisiert, besaß keine eigene Führung oberhalb der lokalen Ebene und war gelähmt, als die Rechte zum Gegenangriff überging.

Wahrscheinlich haben Hunderttausende die Partei verlassen oder sind dabei, es zu tun. Die Zahl der linken Abgeordneten (der Socialist Campaign Group), gemessen an denjenigen, die es gewagt haben, gegen den Ausschluss von Ken Loach zu protestieren, ist auf 15 gesunken und damit ungefähr auf den Stand von vor 2015. Bald, wenn nicht schon jetzt, wird der Großteil der Corbyn-Linken sich außerhalb der Partei befinden.

Wer ist die Gruppe Workers Power?

Wir werden weiterhin Beziehungen zu den linken ReformistInnen und subjektiven RevolutionärInnen aus diesem Milieu unterhalten, aber wir können ihnen oder der neuen Generation von KlassenkämpferInnen nicht mehr sagen, dass der Kampf innerhalb der Labour Party die zentrale Frage des Tages ist.

Im Gegenteil, SozialistInnen müssen sich an die sozialen Bewegungen wie Black Lives Matter, Extinction Rebellion und Kill the Bill wenden, um praktische Unterstützung zu leisten und politische Führung anzubieten. Wir müssen uns mit der Basis der Gewerkschaften verbinden, deren einfache Mitglieder von Arbeitsplatzverlusten, Lohnkürzungen und Arbeitslosigkeit bedroht sind und deren AnführerInnen nur Kompromisse und Ausverkäufe anbieten.

Damit wollen wir unsere eigene revolutionäre Tradition als WORKERS POWER, die bis ins Jahr 1975 zurückreicht, wieder in den Vordergrund rücken. Wir haben diese Tradition, die in Manifesten, Entschließungen und wichtigen Artikeln sowie vor Ort im BergarbeiterInnenstreik, gegen den Irakkrieg und anderswo zum Ausdruck gekommen war, zwar nie aufgegeben, aber wir wollen diese Verbindung so sichtbar wie möglich machen.

Wir möchten auch betonen, dass wir Teil einer weltweiten Tendenz sind, der Liga für die Fünfte Internationale mit Sektionen auf vier Kontinenten, von denen viele in ihrer eigenen Sprache Workers Power heißen. Wir sind noch keine Parteien, sondern kämpfende Propagandagruppen, aber wie Leo Trotzki im Übergangsprogramm erklärte:

„Wenn unsere Internationale zahlenmäßig auch noch schwach ist, so ist sie doch stark durch die Doktrin, das Programm, die Tradition und die unvergleichliche Festigkeit ihrer Kader.“

Schließt Euch uns an!




Nein zu antisozialistischen Säuberungen in der Labour Party!

Stellungnahme von Red Flag, Infomail 1156, 22. Juli 2021

Mitglieder des rechten Flügels der Führung der Labour Party (des „National Executive Committees“ oder „NEC“; Nationales Exekutivkomitee) stellen einen Antrag zum Ausschluss von vier Linken, die sich gegen Keir Starmers (1) Führung und die Hexenjagd auf AntizionistInnen und MarxistInnen gestellt haben.

Obwohl die Gesamtzahl der Ausgeschlossenen gering ist, ist der Vorschlag, den Socialist Appeal zu „ächten“ (d. h. zu verbieten), eine Anspielung auf Neil Kinnocks Säuberung der Linken (in den 1980er und frühen 1990er Jahren), die den Weg für den Aufstieg der „Blairites“ (AnhängerInnen Tony Blairs) frei machte. Dieser Punkt wird den MedienbaronInnen nicht entgehen, die bereits lautstark gefordert haben, dass Starmer die Linken ganz aus der Partei vertreiben soll.

Linke Mitglieder des NEC und von Momentum (2) kritisieren das vorgeschlagene Verbot scharf. Aber sie müssen verstehen, dass es sich hierbei nicht nur um einen symbolischen Angriff auf die Linke handelt, der der rechten Presse in die Hände spielt.

Wir müssen uns im Klaren sein: Unabhängig von unseren politischen und taktischen Differenzen ist der Ausschluss dieser Gruppen eine Einleitung für das Ausmerzen der letzten bescheidenen Errungenschaften in der linken Politik, die unter Jeremy Corbyns Führung erreicht wurden. Es ist ein Versuch, SozialistInnen aus der Partei zu drängen und diejenigen, die bleiben, zum Schweigen zu bringen.

Wenn das NEC den Antrag annimmt, sollten sich die Ortsgruppen und Wahlkreisverbände weigern, den Ausschluss ihrer Mitglieder anzuerkennen. Momentum, eine Organisation, deren Mitgliedschaft auf Mitglieder der Labour Party beschränkt ist, sollte sich weigern, diese undemokratische Säuberung anzuerkennen. Wir müssen verlangen, dass die nahestehenden Gewerkschaften Gelder zurückhalten, bis die Ausschlüsse aufgehoben werden.

Dank der fehlenden nationalen Führung durch die offizielle Labour-Linke – Momentum und die Socialist Campaign Group – konnten die ungewählten ParteibürokratInnen die Mitgliedschaft seit über einem Jahr zum Schweigen bringen. Ganze Vorstände wurden suspendiert, Jahreshauptversammlungen abgesagt, Delegiertenwahlen auf Konferenzen manipuliert. Zigtausende sind ausgetreten, und das Kräfteverhältnis hat sich dramatisch zugunsten der Rechten verschoben.

Anstatt die Linke mit einer weiteren Hexenjagd zu konfrontieren, sollten die prokapitalistischen FührerInnen der Partei und ihrer Bürokratie vertrieben werden. Das bedeutet, dass Momentum sich in der Partei und den angeschlossenen Gewerkschaften für eine entschiedene Konfrontation mit Starmer organisieren muss. Dieser Kampf wurde zu lange vermieden und hinausgezögert. Je mehr Mitglieder ausgeschlossen und suspendiert werden oder demoralisiert austreten, desto leichter wird es für Starmer sein, seinen Übergang zurück zu „New Labour“ zu vollenden.

Die Behauptung, Labour sei ein breites Sammelbecken unterschiedlicher politischer Ausrichtungen, ist eine Lüge. Seit ihrer Gründung wird die Labour-Partei von einem nicht gewählten Apparat gewerkschaftlicher und liberaler BürokratInnen beherrscht, die in ihrer Ablehnung von Rechenschaftspflicht, Demokratie und Sozialismus vereint sind. Ein linker Flügel wird so lange toleriert, wie er handlungsunfähig und marginalisiert ist.

Aber als sich 2015 – 2019 die entscheidende Gelegenheit für eine Konfrontation mit der Rechten bot, haben die Labour-Linken sie verstreichen lassen. In ihrem verzweifelten Versuch, eine Spaltung der Partei zu vermeiden, gingen sie einen Kompromiss ein und wurden unweigerlich gestürzt.

In den kommenden Kämpfen gegen Stellenabbau, Betriebsschließungen und Zwangsräumungen wird Starmer die WählerInnen der ArbeiterInnenklasse von Labour bei jeder Gelegenheit verraten. Die Labour-Linke muss sich jetzt organisieren, um ihre Handlungmaßnahmen zu nutzen, Starmer diese Möglichkeiten zu verwehren, indem sie sich seiner Führung innerhalb der Partei widersetzt und, was am wichtigsten ist, indem sie sich den Protesten und Streikpostenketten im Widerstand gegen die neue Tory-Sparpolitik, also die Politik der konservativen Regierung, anschließt.

Da Starmer deutlich gemacht hat, dass er nicht für die radikalen sozialistischen Maßnahmen kämpfen wird, die notwendig wären, um diese Krise zu lösen, sollte Momentum die Führung übernehmen, indem es in jeder Gemeinde Ortsverbände reorganisiert und gründet, um für eine echte sozialistische Alternative zu kämpfen, die auf Klassenkampf, ArbeiterInnendemokratie und Internationalismus basiert.

Anmerkungen

(1) Keir Starmer war die Antwort des rechten Flügels der Labour Party auf den Linksruck unter Jeremy Corbyn. Er hat diesen mitsamt der von ihm losgetretenen Bewegung an der Führung der Partei abgelöst, unter anderem durch unhaltbare Antisemitismusvorwürfe, die sich an der propalästinensischen Politik vom linken Teil der Labour Party festmachen. Hier einige Links zu Artikeln über die Angriffe auf Linke unter Starmer und deren Hintergründe:

Labour-Krise wegen Repression gegen AnhängerInnen Corbyns

Britannien: Labour Party suspendiert Jeremy Corbyn von der Mitgliedschaft

Britannien: Labour-Vorsitzender Keir Starmer erklärt Linken den Krieg

(2) Momentum ist eine linksreformistische Strömung, die rund um Jeremy Corbyns linke Politik Zulauf gewann und zu einer seiner Hauptstützen in Partei und Apparat wurde.