Gewalt gegen Frauen in Bolsonaros Brasilien

Raquel Silva, Liga Socialista/Brasilien, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Der erste Jahrestag der Covid-19-Pandemie verging in Brasilien ohne jegliche Feierlichkeiten. Tatsächlich gibt es in der aktuellen Situation nichts zu feiern. Wie Studien ergeben, hat die soziale Isolation, in der wir seit März 2020 leben, zu einem Anstieg der Vorfälle an häuslicher Gewalt und Femiziden geführt. Im Oktober 2020 zeigten Erhebungen, dass in Brasilien zwischen März und August 497 Frauen getötet wurden. Das bedeutet, dass alle neun Stunden eine Frau ermordet wurde. Die Bundesstaaten mit den höchsten Gewalt- und Mordraten sind São Paulo, Minas Gerais und Bahia. Die von sieben Journalistenteams durchgeführten Erhebungen weisen auf einen Anstieg der Zahlen während der Pandemie hin. Sie verdeutlichen auch, dass die niedrigen Zahlen gewaltbezogener Vorfälle in einigen Bundesstaaten tatsächlich auf ihre Untererfassung zurückzuführen sind. Die Daten zeigen, dass die Mehrheit der Opfer schwarze und arme Frauen sind. In Minas Gerais zum Beispiel sind 61 % der Opfer schwarze Frauen.

Indigene Frauen

Seit dem Putsch gegen Dilma Rousseff von der Partido dos Trabalhadores (PT; Partei der ArbeiterInnen) hat die Intensität der Angriffe auf indigene Bevölkerungsgruppen stark zugenommen. Mit der Zerstörung von Hilfs- und Unterstützungseinrichtungen für indigene Völker wie Fundação Nacional do Índio (FUNAI; wörtlich: Nationale Stiftung des Indios) sind die Dörfer nun noch verwundbarer. Indigene Gemeinden werden auch durch illegalen Bergbau, Brände und Agrobusiness angegriffen. Zudem hat die Gewalt gegen ihre VertreterInnen zugenommen. Mehrere ihrer SprecherInnen wurden in den letzten Jahren getötet.

Daten über die Situation indigener Frauen fehlen generell. Einige Berichte deuten jedoch darauf hin, dass sich ihre Situation verschlechtert hat, da häusliche Gewalt und Vergewaltigungen in den Dörfern während der Pandemie zugenommen haben. Illegaler Bergbau führt zu einer Situation der Verwundbarkeit und Gewalt in den indigenen Gemeinden. Wie eine/r der AnführerInnen berichtet, führt die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten und ihre/seine Kinder zu ernähren, oft dazu, dass indigene Frauen der gleichen oder sogar noch härteren Gewalt ausgesetzt sind als nicht-indigene Frauen der ArbeiterInnenklasse. Sie alle leiden unter einem Mangel an finanzieller und anderer Unabhängigkeit, was sie anfälliger für Verbrechen wie häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und in den schlimmsten Fällen Femizid macht.

Zurücknahme von Errungenschaften

Wir sind uns bewusst, dass nicht erst die Regierung Bolsonaro Gewalt gegen Frauen hervorgebracht hat. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen reicht Jahrzehnte zurück. Obwohl die Errungenschaften der letzten 30 Jahre seit der Verfassung von 1988 unzureichend waren, bedeuteten sie einen Schritt in die richtige Richtung, ebenso wie alle anderen Fortschritte, die durch den Kampf sozialer Bewegungen erreicht wurden.

Nach dem Putsch haben jedoch reaktionäre Sektoren, die mit der Rechten und rechtsextremen evangelikalen Gruppen verbunden sind, die die so genannte „Bibelbank“ (in den Parlamentskammern) bilden, versucht, den Frauen ihre Rechte und Errungenschaften zu nehmen, indem sie der großen Mehrheit der Frauen der ArbeiterInnenklasse ein reaktionäres und gewalttätiges Programm aufzwingen wollen. Dies geht einher mit der kapitalistischen neoliberalen Agenda der Angriffe auf die Rechte von Arbeiterinnen. Zusätzlich zu Gesetzesänderungen, die den ArbeiterInnen verschiedene Rechte und Garantien entzogen haben, ist der Angriff auf Frauen noch heftiger. Das liegt daran, dass Frauen, ohnehin der Doppelbelastung von Lohn- und Hausarbeit ausgesetzt, in der Arbeitswelt um ein Vielfaches mehr unter noch niedrigeren Löhnen und verlängerten Arbeitszeiten leiden. Die Rentenreform hat die Frauen der ArbeiterInnenklasse noch stärker getroffen, da sie nun mit einer Erhöhung der notwendigen Lebensarbeitszeit konfrontiert sind, um länger in die Rentenkassen einzuzahlen, wodurch der Rentenanspruch noch schwieriger zu erreichen sein wird.

Die Regierung Bolsonaro hat bereits in ihrem ersten Amtsjahr 2019 die Mittel zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen drastisch gekürzt. Sie schaffte das Sekretariat für Frauenpolitik ab und schuf stattdessen das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte (das die LGBTQ+-Agenda ausschloss). Ein Ministerium, dessen ideologische Agenda darin besteht, „Moral und gutes Benehmen“ zu bewahren, hat sogar die begrenzten verfassungsmäßigen Rechte und Garantien angegriffen wie z. B. den Zugang zur assistierten Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die Mutter oder Anenzephalie (schwere Missbildung des embryonalen bzw. fötalen Gehirns).

Der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Regierung und derer, die sie unterstützen, wurde vor allem durch die skandalöse Behandlung eines 10-jährigen vergewaltigten Kindes im Juli 2020 entlarvt. Das Recht auf Abtreibung dieses Vergewaltigungsopfers wurde in Frage gestellt, sein Name veröffentlicht und es erlitt ein schweres psychologisches Trauma, da ExtremistInnen versuchten, eine Abtreibung zu verhindern. Ministerin Damares Alves vom Ministerium für Frauen, Familien und Menschenrechte, eine evangelikale Pastorin, erließ zwei Gesetze, die den Zugang zur assistierten Abtreibung erschweren und peinliche und restriktive Maßnahmen für weibliche Vergewaltigungsopfer schufen.

Ele Nao! Nicht er!

Unter den Bedingungen der Pandemie 2020 wurden viele der Angriffe der Regierung Bolsonaro auf Frauen und die LGBTQ+-Community massiv spürbar, da die Mobilisierung schwieriger wurde. Doch schon während des Präsidentschaftswahlkampfes 2018 ist klar geworden, dass uns im Falle eines Sieges von Bolsonaro schwere Rückschläge bevorstehen würden. Seine Aussagen als Parlamentarier zeigten bereits, dass die Angriffe auf Frauen, Schwule, Schwarze und Indigene hart ausfallen würden.

Bolsonaro widmete seine Stimmabgabe für Dilmas Amtsenthebung dem Oberst Brilhante Ustra, der während der Militärdiktatur für die Folterung inhaftierter linker, militanter Frauen verantwortlich war. Dilma war eine von ihnen gewesen. Bolsonaro griff auch eine PT-Abgeordnete in der Abgeordnetenkammer an und rief: ,,Ich würde sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht verdient hat.“ In einer anderen Kampagne machte er deutlich, dass er die Quilombola-Schwarzen angreifen würde, womit er sich auf die Dörfer der Schwarzen bezog, die aus der Sklaverei geflohen sind, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihr Kampf wird im rassistischen Narrativ mit Chaos gleichgesetzt. Er drohte auch damit, die Linke und die sozialen Bewegungen anzugreifen.

Im Angesicht dieser Drohungen wurde die Bewegung „Ele Nao!“ (Nicht er!) in den sozialen Medien populär, die eine beeindruckende Demonstration gegen die Wahl Bolsonaros organisieren konnte. In einem erbitterten Kampf gewann Bolsonaro die Wahl. Es war eine Wahl, die von einer Politik des Hasses gegen die PT, dem Verbot der Kandidatur Lulas und vielen Enthaltungen geprägt war.

In der neuen Regierung gingen Sparmaßnahmen gegen die ArbeiterInnen Hand in Hand mit der Weiterführung der konservativen Agenda der rechtsextremen Evangelikalen. Die Frauenbewegung hat in verschiedenen Kollektiven, die sich im ganzen Land ausbreiten, versucht, diese Angriffe zu stoppen. Aber die aktuelle Situation führte dazu, dass die Pandemie eine entmutigende Wirkung auf die Bewegungen ausübte. Die soziale Isolation hat viele Straßenbewegungen gelähmt. Viele Kollektive agieren virtuell, andere gehen in extremen Fällen auf die Straße (wie im Fall des vergewaltigten Mädchens, als RechtsextremistInnen versuchten, eine Abtreibung zu verhindern und das Frauenkollektiv das Recht des Mädchens wahrte, indem es die ExtremistInnen von der Krankenhaustür vertrieb).

Die Linke und soziale Bewegungen

Generell finden Aktionen gegen die Angriffe der Regierung Bolsonaro seit letztem Jahr über soziale Medien statt. Die soziale Isolation schafft eine sehr starke Barriere gegen Aktionen. Die Angst vor Ansteckung, aber auch die, als „Corona-LeugnerIn“ wie Bolsonaro zu erscheinen, hindert Bewegungen daran, außerhalb des Internets zu agieren.

Bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 (in Brasilien finden sie alle am selben Tag statt), bei denen Tausende von StadträtInnen und BürgermeisterInnen gewählt wurden, konzentrierte sich die Linke oft auf Kandidaturen, die die Unterdrückten repräsentieren – Frauen, Schwarze und Trans-Personen.

Die Webseite der Deutschen Welle Brasilien bewertet die Vielfalt in Bezug auf Geschlecht, sexuelle und ethnische Identität bei den Wahlen 2020 als Fortschritt. Der Anstieg der Kandidaturen von Unterdrückten war höher als 2016. Von den 503 Trans-KandidatInnen wurden 82 gewählt. In Hauptstädten wie Belo Horizonte (Minas Gerais) und Aracaju (Sergipe) erhielten Trans-KandidatInnen die meisten Stimmen. Die Zahl der Frauen im Allgemeinen sowie die Zahl der schwarzen Frauen, die in gesetzgebende Ämter gewählt wurden, hat ebenfalls zugenommen. In 18 Städten gibt es 16 % weibliche Abgeordnete. Parteien wie Partido Socialismo e Liberdade (PSOL; Partei für Sozialismus und Freiheit) und PT stellten die größte Anzahl von KandidatInnen aus den sozial unterdrückten Schichten auf, aber auch die konservativen und liberalen Mainstream-Parteien erhöhen die Anzahl der Kandidaturen von Frauen und rassistisch Unterdrückten. KommentatorInnen führen diese Veränderung auf eine Reaktion gegen die Wahl Bolsonaros und seine rechtsextreme Plattform zurück. Sie sehen darin einen Versuch der Reorganisation von Teilen der Linken, indem KandidatInnen der sozialen Bewegungen aufgewertet werden. Darüber hinaus wird vielen KandidatInnen zugesprochen, dass sie über die LGBTQ+- und Frauenagenda hinausgehen und sich auf Fragen des Wohnungsbaus, der Bildung und Gesundheit der ArbeiterInnen zubewegen.

Verstärkte Polarisierung

AnalystInnen weisen aber auch darauf hin, dass rechtsextreme Kandidaturen zugenommen haben und es in den gesetzgebenden Kammern zu vielen Auseinandersetzungen kommen wird.

Die Situation hat sich während der Pandemie für verschiedene Schichten verschlechtert. Die Versäumnisse, vor allem nach der Krise in Manaus (Amazonas), als PatientInnen wegen Sauerstoffmangels zu sterben begannen, sowie das Ende der Katastrophenhilfe, ein Anstieg der Arbeitslosigkeit (allein die Schließung von Ford Brasilien führte zum Verlust von 55.000 direkten und indirekten Arbeitsplätzen), Korruptionsskandale und die Veruntreuung von Geldern aus der Covid-Hilfe, beginnen die Regierung Bolsonaro immer mehr zu zermürben. Angriffe auf die Presse haben Unzufriedenheit erzeugt, sogar bei Teilen, die die PT angegriffen und Bolsonaro zum Wahlsieg verholfen haben.

Viele harte Kämpfe liegen noch vor uns. Ohne Impfstoffe werden die Kämpfe jeden Tag härter, besonders jetzt, wo wir mit einer sehr starken zweiten Welle der Pandemie und der neuen Variante des Virus konfrontiert sind. Die PT und PSOL, linke Parteien mit parlamentarischer Vertretung, agieren zaghaft im Aufruf zu Protesten auf der Straße, während sie sich darauf konzentrieren, Unterstützung für „moderate“ Parteien im Rennen um die Präsidentschaft des Bundeskongresses zu sammeln (obwohl diese Parteien Teil des Putsches gegen die Linke waren!).

Gleichzeitig können wir aber auch Anzeichen für ein mögliches Wiederaufleben von Massenmobilisierungen sehen. Die 8M (Weltfrauenstreik) und Kollektive, die Teil des „World March of Women“ (Weltfrauenmarsch) sind, nehmen an den aktuellen Mobilisierungen gegen Bolsonaro teil, die in den „Carreatas“ (Autokorsos) der Gewerkschaften ihren Mittelpunkt haben. Dies sind wichtige Schritte für die Frauenbewegung, sich mit den Mobilisierungen und Kämpfen der ArbeiterInnen zu verbinden.

Nieder mit Bolsonaro!

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, den Kampf mit dem Aufbau einer Einheitsfront gegen die Regierung Bolsonaro, den rechten Flügel und die Angriffe der Bosse voranzutreiben. Die Bewegung müsste für drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und gegen die Versuche der Bosse, die ArbeiterInnen für die Krise zahlen zu lassen, kämpfen. Aber eine solche Einheit wird nur erreicht werden, wenn der Kampf für die Rechte der Frauen, gegen Gewalt im Haus und in der Öffentlichkeit und gegen Femizide ein zentraler Teil dieser Auseinandersetzung wird, der die Frauen der ArbeiterInnenklasse an die Spitze der Frauenbewegung sowie des breiteren Kampfes der ArbeiterInnenbewegung gegen den brasilianischen Kapitalismus bringt.

Versuche, eine Einheitsfront aufzubauen, sind bereits im Gange mit der Autokorso-Kampagne, die Impfstoffe für alle und die Amtsenthebung Bolsonaros fordert. Aber Autokorsos allein können diese Ziele nicht erreichen. Wir müssen mehr Autokorsos und Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen Generalstreik auszurufen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro fordert.

Trotz der Untätigkeit der Führung der linken Parteien darf die Einheitsfront niemals vor echten militanten Aktionen gegen die Regierung zurückschrecken und muss die bewusstesten und kämpferischsten Schichten der sozial Unterdrückten zusammen mit den militanten Teilen der Gewerkschaftsbasis und der Linken einbeziehen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Nieder mit Bolsonaro!
  • Für eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen!



Brasilien: Nieder mit Bolsonaro! Landesweite Autokorsos verlangen Amtsenthebung

Carlos Uchoa Magrini/Assyria Conti, Infomail 1138, 7. Februar 2021

Die Unzufriedenheit der brasilianischen Bevölkerung mit der Regierung Bolsonaro wächst seit ihrem Amtsantritt. Seine rechtsextreme Politik fördert den Hass gegen Frauen, BeamtInnen, LehrerInnen, Schwarze, LGBTQ+ sowie gegen SozialistInnen und AnhängerInnen der ArbeiterInnenpartei PT und all jene, die mit der Linken identifiziert werden. Gleichzeitig verteilt sie Gefälligkeiten an ihre Gefolgschaft, und zusammen haben diese die Unzufriedenheit unter allen Sektoren geschürt, die nicht Vorurteile und sogar faschistische Ideen und Verhaltensweisen unterstützen.

Doch aufgrund der Pandemie und der Untätigkeit der Führungen der zentralen Gewerkschaften und linken Parteien war die ArbeiterInnenklasse gelähmt. Es gab viel zu wenig Initiative zur Bekämpfung von Bolsonaros völkermörderischer und verleumderischer Regierung.

Die Beweise für eine tiefe kapitalistische Krise, die durch die Pandemie des neuen Coronavirus noch verschärft wird, sind bereits aus den Statistiken ersichtlich. Die Arbeitslosigkeit rangiert auf dem höchsten Stand seit den 1990er Jahren. Bolsonaros Politik zur Gesundheitskrise hat es nicht geschafft, den Vormarsch der Krankheit einzudämmen, was zu einer wachsenden Zahl von Todesfällen führt, während die Wirtschaftskrise jeden Tag schlimmer wird.

Aktionen

Am 11. Januar kündigte der Autohersteller Ford die Schließung der Fabriken in Camaçari im Bundesstaat Bahia, Taubaté im Bundesstaat São Paulo und Horizonte im Bundesstaat Ceará, an. Dies bedeutet den Verlust von etwa 5.000 direkten und 50.000 indirekten Arbeitsplätzen. Kurz darauf gab auch Audi seine bevorstehende Stilllegung bekannt, und andere Unternehmen weisen bereits in die gleiche Richtung.

Diese Schließungen waren ein Schock, vor allem für die Linke. Die Verweigerung des Coronavirus-Impfstoffs führte dazu, dass Brasilien eines der letzten Länder war, das Lieferungen bestellte. Die Folgen waren sehr ernst. In Manaus gingen Bolsonaros AnhängerInnen auf die Straße, um gegen die Abriegelung zu demonstrieren und zwangen den Bürgermeister, sie zu beenden. Die direkte Folge war, dass eine Woche später das öffentliche und private Krankenhausnetz zusammenbrach. Die Menschen starben aus Mangel an Sauerstoff und Krankenhausversorgung. Eine furchtbare Situation!

Bewegt von diesem Drama, starteten KünstlerInnen eine Solidaritätskampagne, um Sauerstoff zu kaufen und nach Manaus zu schicken. Am 19. Januar schickte der Präsident von Venezuela, Nicolás Maduro, fünf LKW-Ladungen Sauerstoff als Spende. Diese ganze katastrophale Lage rüttelte das brasilianische Volk aus seiner Lähmung auf.

Zu Protesten riefen die zentralen Gewerkschaften, linke Parteien, einige Einheitsfrontorganisationen (Frente Brasil Popular, Frente Povo sem Medo) in Form eines Autokorsos am 23. Januar auf und forderten Impfungen gegen Covid-19 und die Amtsenthebung der Regierung Bolsonaro. Der Aufruf erfolgte zunächst über die offiziellen Webseiten dieser Organisationen, gewann aber in den sozialen Medien an Kraft.

Nach Angaben des Gewerkschaftsverbandes CUT fanden die Autokorsos in mehr als 90 Städten statt, darunter 24 Landeshauptstädte und der Bundesdistrikt. Die langen Autoschlangen mit Fahnen und Plakaten machten deutlich, dass das brasilianische Volk die Untätigkeit dieser Regierung nicht länger ertragen kann und bereit ist, für ihren Sturz zu kämpfen. In São Paulo schätzte der Präsident der CUT-SP, Douglas Izzo, dass sich mehr als 2.000 Fahrzeuge in der Autokolonne befanden, die mehr als drei Stunden dauerte.

Laut Janeslei Albuquerque (CUT-Sekretär für Mobilisierung und Beziehungen zu sozialen Bewegungen) ist „die Tragödie in Manaus nicht etwas völlig Unerwartetes. Sie wurde vorhergesagt, berechnet und angeprangert, aber es wurde absolut nichts getan“.

Janeslei Albuquerque nutzte die Gelegenheit, um die Schließung von Fafen (Stickstoffdüngerproduzent), das zu dem Energiekonzern Petrobras gehörte, anzuprangern: „Die Regierung bevorzugt die totale Verseuchung, und wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Menschen durch Sauerstoffmangel ersticken, obwohl wir in Araucária, Paraná, eine Fabrik haben, die den Sauerstoff produzieren könnte, der in Brasilien zur Rettung von Menschenleben benötigt wird – aber die wurde vor einem Jahr geschlossen“.

Wir verfügen nicht über Daten aus allen Städten, aber alle Nachrichtenmeldungen sind ermutigend und zeigen eine positive Reaktion der Bevölkerung, die Fahnen schwenkte, mit Töpfen schlug und „Nieder mit Bolsonaro“ rief. Die Wut, die den Autokorso befeuerte, verbreitete sich dann wie mit einer Schießpulverlunte durch Brasilien und ermunterte die Menschen, mit anderen Protesten fortzufahren, andere Städte zu erreichen und die Unzufriedenheit der Menschen und ihre Bereitschaft zu zeigen, etwas zu tun, um die Bolsonaro-Regierung zu stürzen.

Reaktionen aus dem Parlament

In der Bürokratie des Nationalkongresses sitzt derweil Rodrigo Maia von der wirtschaftsliberal-konservativen Partei Democratas, Präsident der Abgeordnetenkammer, immer noch bequem auf einem Stapel von mehr als 60 Amtsenthebungsanträgen gegen den Präsidenten.

Einige Führer der Rechten, wie der ehemalige Präsident Fernando Henrique Cardoso (PSDB; Partei der Brasilianischen Sozialdemokratie) selbst, haben in ihren Reden bereits deutlich gemacht, dass sie Bolsonaro nicht zu Fall bringen wollen. Vielmehr wollen sie ihn „ausbluten“ lassen, indem sie auf die Wahlen im Jahr 2022 warten. Einige Führer der Linken, wie Fernando Haddad (PT), Marcelo Freixo (PSOL; Partei für Sozialismus und Freiheit) und Manuela D’Ávila (PC do B; Kommunistische Partei Brasiliens) haben ebenfalls deutlich gemacht, dass sie diese Strategie unterstützen und eine breite Front mit „demokratischen“ Sektoren der Bourgeoisie aufbauen wollen. Sie scheinen vergessen zu haben, dass diese „demokratischen“ Sektoren der Bourgeoisie dieselben sind, die den Putsch anführten, der die Regierung Dilma Rousseff (PT) stürzte.

Für uns besitzen die Autokorsos allein nicht die Kraft, die Regierung Bolsonaro aus dem Sattel zu heben. Aber sie können der Startpunkt für eine große Massenbewegung im ganzen Land sein. Wir müssen mehr Autokorsos und Straßendemonstrationen organisieren, mit dem klaren Ziel, einen Generalstreik aufzubauen, der ein Ende der Regierung Bolsonaro fordert.

Die Linke muss das Vakuum füllen, das seit den Wahlen 2018 entstanden ist. Damals hatte die Bourgeoisie keine anderen Optionen und unterstützte Bolsonaro. Das gefiel der traditionellen Rechten nicht, aber es reichte aus, um eine Regierung aufrechtzuerhalten, die korrupt ist, Privatisierungen und Austerität unterstützt und die ArbeiterInnenklasse schwer angegriffen hat. Die Linke muss die Wahltaktik einer breiten Front mit Sektoren aufgeben, die vorgeben, die Demokratie zu verteidigen, aber in Wirklichkeit PutschistInnen sind, die lediglich die Interessen der Bourgeoisie verteidigen.

In diesem Zusammenhang sehen wir die Notwendigkeit, neben diesem Kampf große Anstrengungen zu unternehmen, um eine Einheitsfront auf der Grundlage eines Regierungsprogramms aufzubauen, das den Bedürfnissen und Forderungen der ArbeiterInnenklasse entspricht.

Dies ist der Weg, um den Dialog mit der ArbeiterInnenklasse zu eröffnen und einen Weg nach vorne auf der Linken zu präsentieren. Es kann auch der Weg sein, eine revolutionäre Partei aufzubauen, mit einem Programm, das die Agenda der unmittelbaren und Übergangsforderungen der ArbeiterInnenklasse erfüllt, d. h. den Weg zum Sturz des Kapitalismus einschlägt. Es ist notwendig, sehr deutlich zu machen, dass wir einen revolutionären Prozess brauchen, um den bürgerlichen Staat zu zerstören und auf seinen Trümmern einen sozialistischen Staat unter Kontrolle der ArbeiterInnen aufzubauen.

  • Für einen Generalstreik!
  • Für den Sturz Bolsonaros!
  • Für eine Regierung der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen!



Kommunalwahlen in Brasilien: Bolsonaro verliert, Linke gewinnt in Städten

Liga Socialista, Infomail 1130, 11. Dezember 2020

Die Bedeutung des zweiten und letzten Wahlgangs der brasilianischen Kommunalwahlen am 29. November liegt nicht so sehr in der genauen Zahl der abgegebenen Stimmen, sondern vielmehr in dem, was sie uns über die politische Lage des Landes vier Jahre nach dem Staatsstreich, durch den Präsidentin Rousseff von der ArbeiterInnenpartei PT abgesetzt wurde, und zwei Jahre nach der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten aussagen.

Seit dem Putsch

Der Putsch von 2016, der einige Jahre vor der Amtsenthebung von Dilma Rousseff vorbereitet wurde, sollte nicht nur die PT aus der Regierung herausnehmen, sondern auch die Macht an die offen bürgerlichen Kräfte zurückgeben. Obwohl die PT-Regierung eine Regierung der Klassenversöhnung darstellte, war ihre bloße Existenz sowohl für die nationale Bourgeoisie als auch für den US-Imperialismus beunruhigend. Was sie wollten, war eine Regierung, die die Rechte der ArbeiterInnen zurücknimmt und sicherstellt, dass es keine Einschränkungen für die Fähigkeit des Kapitals gibt, den Reichtum des Landes auszubeuten.

Dazu mussten sie die PT und ihren langjährigen Führer Lula, aber auch den Rest der brasilianischen Linken vernichten, damit sie keine Opposition hätten. Ein solcher Staatsstreich ist keine einzelne, momentane Aktion, sondern Teil eines kontinuierlichen Prozesses. Ein Erfolg des Putsches würde die Eliminierung der PT und die effektive Vernichtung der gesamten Linken bedeuten.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 sahen wir, dass die PT noch immer am Leben war und dass sie zwar den Kandidaten des Putschlagers, den faschistoiden Bolsonaro, nicht besiegen, aber die Wahl in eine zweite Runde zwingen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war die Schlüsselaktion des Staatsstreichs die illegale Verhaftung von Lula, dem wichtigsten populären Führer des Landes, und damit die Verhinderung seiner Kandidatur. Sie taten dies, um den Wahlsieg der Rechten zu garantieren.

Es war ein Sieg des Hasses. Bolsonaro und seine AnhängerInnen und UnterstützerInnen ritten auf der Welle und wählten sich selbst im ganzen Land. Die etablierten Rechtsparteien, die brasilianische sozialdemokratische Partei PSDB, die eigentlich die Hauptpartei der Industriebourgeoisie ist, die Partei der brasilianischen demokratischen Bewegung MDB, die auf dem Agrobusiness im ganzen Land basiert, und die DemokratInnen, die DEM, die Nachfolgerin der offiziellen Partei unter der Militärregierung, verloren die Kontrolle über den Putsch und wurden von der extremen Rechten besiegt, so dass sie gezwungen waren, Bolsonaro in der zweiten Runde zu unterstützen.

Hätte der Putsch den beabsichtigten Weg eingeschlagen, wäre heute die Linke zerstört worden, ganz ohne Kräfte für den Kampf. Darüber hinaus würden die PSDB und die MDB die politische Szene dominieren und ihren Einfluss auf die mittleren und großen Gemeinden verstärken. Doch dies war nicht der Fall.

Die Kommunalwahlen

Der große Verlierer dieser Wahlen war zweifelsohne Bolsonaro, dessen Versuch, eine eigene Partei aufzubauen, völlig scheiterte. Nur 13 BürgermeisterkandidatInnen akzeptierten seine ausdrückliche Unterstützung, und von diesen waren nur zwei erfolgreich. Die Höhepunkte dieser Niederlage waren die Siege von Crivella (Republikaner) in Rio de Janeiro und Hauptmann Wagner (PROS – Republikanische Partei der sozialen Ordnung) in Fortaleza.

Er war nicht der einzige Verlierer, denn auch die traditionellen Parteien der Rechten, die MDB und PSDB, konnten keine wirklichen Gewinne erzielen. Diese Parteien förderten den Putsch von 2016 in der Erwartung, die Macht zu übernehmen, aber sie wurden bei den Wahlen von 2018 geschlagen. Ihre Kandidatur für das Präsidentschaftsamt kam nicht zum Erfolg, und sie verloren schließlich an Boden in den Landesregierungen und im Parlament.

Seitdem konnten sie sich nicht etablieren und sind den so genannten „Zentrumsparteien“ unterlegen, die keine klaren Programme haben, sondern auf der Grundlage von lokalen Geschäften, Klientelismus, Ausbeutung öffentlicher Ämter und Vetternwirtschaft florieren. Dies ist der Sektor, der seit dem Putsch am stärksten gewachsen ist. Ihr Wachstum begann unter Bolsonaro, hat sich aber unabhängig von ihm fortgesetzt.

Nach dem Putsch verloren die PT und die Linke im Allgemeinen die Kontrolle über viele Gemeinden, aber sie wurden durch den Staatsstreich nicht völlig zerschlagen. Im Gegenteil, diese Wahlen zeigen, dass sie in großen und mittelgroßen Städten allmählich wieder an Boden gewinnen. Der Putsch, die Anti-PT und die Verbreitung rechter Ideen haben es nicht geschafft, die Linke zu besiegen.

Wir können jedoch nicht sagen, dass der Bolsonarismus besiegt ist. Bolsonaro geht zweifellos geschwächt aus diesen Wahlen hervor, aber die rechtsextreme Bewegung, die sich mit ihm erhoben hat, ist immer noch da. Die anhaltende Stärke der kleinen Parteien der Mitte bedeutet, dass sich Brasilien in einer Art politischem Patt befindet, und das kann nicht ewig so weitergehen.

Die linke Kampagne

In Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern trat der linke Flügel in der zweiten Runde zur Eroberung von 18 Rathäusern an und gewann 5. Vergleicht man dies mit den Wahlen von 2016, bei denen die PT in 7 antrat und nur eine gewann, war dies ein Durchbruch.

Darüber hinaus erhielt der Hauptkandidat der Linken in São Paulo Guilherme Boulos von der Partei des Sozialismus und der Freiheit, PSOL, 40,62 Prozent, über 2 Millionen der Stimmen. In den entsprechenden Wahlen von 2008, 2012 und 2016 erhielt die Partei insgesamt 289.000 Stimmen. Diese Zahlen zeigen, dass die PSOL zwar nicht das Rathaus, aber einen großen Sieg in São Paulo errungen hat. Außer in São Paulo gewann die PSOL auch in Pará, wodurch Edmilson zum Bürgermeister der Stadt Belém gewählt wurde.

Der große Fehler der PT und der Linken war, mit wenigen seltenen Ausnahmen, dass sie keine Kampagne zu nationalen Themen führten. Es versäumt zu haben, die ernste Situation, in der wir leben, anzuprangern, ist eine selbst auferlegte Niederlage für die Linke, die die Gelegenheit der Kommunalwahlen nicht genutzt hat, um die ArbeiterInnen um die KandidatInnen und ihre FührerInnen zu mobilisieren.

Sie zeigt auch die Wurzel der politischen und Identitätskrise der Linken. Diese Kampagne hätte den Putsch, die Bolsonaro-Regierung und die Angriffe auf die ArbeiterInnenrechte anprangern, die Rücknahme der Arbeits- und sozialen Sicherheits„reformen“, die Wiederverstaatlichung des Energiekonzerns Petrobras und der Ölquellen sowie die Annullierung aller Klagen gegen Lula und die linken FührerInnen fordern sollen. Es hätte eine Kampagne sein sollen, um die Militanz zu mobilisieren und die Klasse auf künftige Kämpfe vorzubereiten.

Schließlich wissen wir sehr gut, wofür die bürgerlichen Wahlen dastehen und wem sie  dienen. Unter keinen Umständen glauben wir, dass sie die vom Kapitalismus auferlegten Probleme lösen können. Wir stehen vor einer politischen Krise der brasilianischen Linken, und um eine Lösung zu finden, müssen wir über die gegenwärtigen linken Parteien hinausgehen. Die Illusion, dass bei den Wahlen 2022 durch die Wahl einer fortschrittlichen Regierung auf der Grundlage eines breiten Bündnisses alles gelöst wird, um Bolsonaro zu besiegen, dient nur dazu, die ArbeiterInnenklasse zu demobilisieren.

Für uns besteht der wirkliche Weg nach vorn darin, die ArbeiterInnenklasse und die sozialen Bewegungen zu mobilisieren und eine revolutionäre Partei aufzubauen, mit einem Programm, das der Agenda der unmittelbaren und Übergangsforderungen der ArbeiterInnenklasse entspricht und den Weg zum Sturz des Kapitalismus öffnet.

Bürgerliche Wahlen werden den Forderungen der ArbeiterInnenklasse nicht gerecht, aber sie können und müssen eine Gelegenheit sein, die Debatte mit den ArbeiterInnen zu eröffnen, um den wirklichen Ausweg aufzubauen und dafür zu mobilisieren. Nur mit einem revolutionären Programm wird es uns gelingen, den bürgerlichen Staat zu zerstören und auf seinen Trümmern einen sozialistischen Staat unter dem Kommando der ArbeiterInnen aufzubauen.




Brasilien: Evangelikale und rechte Angriffe auf Frauenrechte nach dem Putsch

Liga Socialista, Infomail 1118, 23. September 2020

Am 27. August 2020 verübte die Regierung Bolsonaro ein weiteres bösartiges Attentat auf die Rechte der Frauen. Gemäß ihrer reaktionären, konservativen und grausamen Politik greift der vom Gesundheitsministerium erlassene Paragraph 2282 das verfassungsmäßige Recht auf unterstützte Abtreibung an.

In Brasilien garantiert das Gesetz seit 1940 Frauen den Zugang zur unterstützten Abtreibung, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Frau bedroht oder sie durch Vergewaltigung herbeigeführt wurde. Im Jahr 2004 verabschiedete das Oberste Bundesgericht ein Urteil, das den Schwangerschaftsabbruch bei fötaler Anenzephalie, einem Zustand, bei dem der größte Teil der Großhirnrinde des ungeborenen Kindes fehlt, entkriminalisiert. Der Widerstand gegen dieses Urteil war der Auslöser für die Angriffe auf das legale Recht auf Abtreibung.

Im August 2013 sanktionierte Präsident Dilma Rousseff einen Gesetzentwurf, der dem nationalen Gesundheitsdienst (SUS) zur Pflicht machte, den Opfern sexuellen Missbrauchs eine sofortige Versorgung zu gewähren. Religiöse Organisationen versuchten sofort, die Schwangerschaftsverhütung mit der „Pille danach“ in Fällen sexueller Gewalt zu stoppen, weil sie argumentierten, dies würde ÄrztInnen den Weg zu Abtreibungen öffnen. Gegenwärtig schreibt das Gesetz vor, dass alle Krankenhäuser des öffentlichen Netzes unter anderem unverzüglich die Diagnose und die „Pille danach“ für das Opfer sowie die medizinische Behandlung körperlicher Verletzungen und psychologische Beratung, Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten (STD), HIV-Tests und Zugang zu Informationen über gesetzliche Rechte und andere verfügbare Gesundheitsdienste anbieten müssen.

Reaktion

Kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes im Oktober 2013 stellte Eduardo Cunha, ein Abgeordneter der „evangelikalen Fraktion“, die Gesetzesvorlage PL 5069 vor, die einen großen Rückschritt für die Frauenrechte darstellt. Der Gesetzentwurf war eine klare Reaktion seitens religiöser FührerInnen gegen die Garantie des Zugangs zu Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung und anenzephalen Föten (Föten, bei denen ein bedeutender Teil des Großhirns nicht entwickelt ist). Aufgrund einer heftigen Reaktion von AktivistInnen und ParlamentarierInnen, die versuchten, Teile des Textes zu ändern, kam die Gesetzesvorlage im Parlament zum Stillstand, zumal kurz darauf das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff begann.

Der Aufstieg reaktionärer Kräfte nach dem Parlamentsputsch, der Dilma verdrängte, dann die Wahl von Jair Bolsonaro und die Bildung einer sozialkonservativen, rechtsextremen Regierung ebneten den Weg für erneute Attacken auf die Rechte der Frauen. Die Auflösung des Frauensekretariats und die Schaffung des Ministeriums für Familie und Menschenrechte unter der evangelischen Pastorin Damares Alves machten deutlich, dass die Agenda für Fortschritte bei den Frauenrechten abgeschlossen war. Die Zeit der Rückschritte, Verluste und Angriffe hatte begonnen.

Drastische Gesetzesverschärfung und reaktionäre Hetze

Ende 2019 wurde das Gesetz 13.931 verabschiedet, das Angehörige der Gesundheitsberufe verpflichtet, Vergewaltigungsfälle der Polizei zu melden. Die betroffenen Frauen sind außerdem zu einer ausführlichen Schilderung gegenüber dem ärztlichen Personal verpflichtet und müssen darauf hingewiesen werden, dass ihnen für den Fall, dass sie den Vorwurf nicht beweisen können, strafrechtliche Verfolgung droht. Dieses Gesetz bricht die ärztliche Schweigepflicht und hindert Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden, wirksam daran, in Vergewaltigungsfällen medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie die Reaktion ihrer Täter fürchten.

Letzten August schockierte ein Fall von Vergewaltigung das Land, sowohl wegen der Art des Verbrechens selbst als auch wegen der Behandlung des Opfers. Ein 10-jähriges Kind, das von seinem Onkel sexuell missbraucht worden war, seit es 6 Jahre alt wurde, wurde schwanger. Die Reaktion auf das Kind war so repressiv, dass eine Gruppe von Frauen vor dem Krankenhaus tätig wurde, um sicherzustellen, dass es medizinisch versorgt und ein Verfahren zum Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wurde.

Fundamentalistische Gruppen taten alles, um eine legale Abtreibung zu verhindern und dann das Kind selbst des Mordes anzuklagen. Das Frauenministerium beteiligte sich an diesen Ausschreitungen gegen das 10jährige Mädchen. Es gibt in der Tat Hinweise darauf, dass es das Ministerium selbst war, das die Informationen und Daten des Kindes an fundamentalistische Gruppen weitergegeben hat.

Die Reaktion der Regierung auf den Einsatz der feministischen Gruppen, die das Kind unterstützten, erfolgte rasch. Sie verfügte den Erlass 2282, der das Gesetz 13.931 modifiziert, das die ärztliche Schweigepflicht verletzt, indem es  ÄrztInnen verpflichtet, die Behörden zu benachrichtigen. Dem feministischen Netzwerk von GynäkologInnen zufolge erschwert, ja verunmöglicht es Frauen, die sich vor ihren Angreifern verstecken müssen, Hilfe und Unterstützung zu suchen. In jedem Falle werden die Opfer noch größeren Gefahren ausgesetzt.

Den ÄrztInnen zufolge ist Vertraulichkeit unerlässlich, um Frauen in die Lage zu versetzen, den Aggressor anzuzeigen. Die Anwesenheitspflicht eines/r AnästhesistenIn bürokratisiert die Betreuung zusätzlich. Die ÄrztInnen stellen klar, dass in den meisten Fällen ein Abbruch durch medikamentöse und nicht durch chirurgische Mittel eine solche Anwesenheit unnötig macht. Nur im letzteren Fall wäre ein/e AnästhesistIn in jedem Fall obligatorisch.

Das Dekret schreibt die Pflicht einer Ultraschalluntersuchung vor, die der Frau gezeigt werden muss, mit dem einzigen Zweck, Frauen ein schlechtes Gewissen zu bereiten, weil sie Abtreibungen vornehmen lassen wollen. Zudem kann es  den Schmerz von bereits geschwächten und vergewaltigten Frauen verstärken.

Die Perversität dieser rechtsradikalen Regierung ist klar. Dekret 2282 hat das klare Ziel, der Regierung die volle Kontrolle über alle legalen Abtreibungsverfahren zu gewähren, um mehr und mehr die vergewaltigten Körper von Frauen (Kinder und Erwachsene) zu kontrollieren. Die Vorankündigung der Hilfeleistung wird Daten für die Kontrolle und die Verweigerung der Rechte von Frauen liefern. Wenn es ihnen gelingt, Zugang zu erhalten, werden die Schwierigkeiten, eine/n AnästhesistIn zu bekommen (die/der die Teilnahme verweigern kann), mehr Not und Leid für die Frauen verursachen, und darüber hinaus stellt die Ultraschalluntersuchung für Frauen, die Opfer tiefer Gewalt sind, Folter dar.

Zeit des Rückschritts

Wir leben in einer Zeit des tiefen sozialen Rückschritts. Zusätzlich zu all den Verlusten, die wir als Lohnabhängige erleiden, leiden wir als arbeitende Frauen in Stadt und Land. Es ist bekannt, dass Abtreibung in Brasilien für reiche Frauen relativ leicht und uneingeschränkt verfügbar ist. Das Verbot gilt nur für arme Frauen, die illegalen Verfahren ausgesetzt sind, bei denen Arbeiterinnen, von denen viele Mütter sind, verstümmelt oder getötet werden.

In dem Land, in dem Angaben des brasilianischen Jahrbuchs für öffentliche Sicherheit aus dem Jahr 2018 durchschnittlich 180 Vergewaltigungen pro Tag vorkommen, die Mehrheit (53,8 %) gegen Mädchen bis 13 Jahre alt, repräsentiert dieses Dekret mehr als Gewalt gegen Frauen. Es bedeutet, dass wir heute eine Regierung haben, die diese Gewalt, diese Vergewaltigungspraxis bekräftigt, indem sie Frauen bestraft, sie dazu verurteilt, Mütter der Frucht dieser Gewalt zu werden, oder sie sogar foltert und diesen Frauen, die Opfer einer männlich chauvinistischen Gesellschaft sind, die Schuld zuschiebt.

Die Verfassung von 1988 garantiert einen säkularen Staat und die Trennung von Kirche und Staat. Daher gibt es weder Raum noch eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Einmischung der Kirche in die unterstützte Abtreibung, die seit 1940 im Strafgesetzbuch garantiert wird. Es stellt einen großen Rückschritt für Frauen, Mädchen und Kinder dar, die arm, unschuldig, ohne Hilfe, unterdrückt und geschwächt sind.

Wir wissen, dass die Realität für Frauen aus den wohlhabendsten Schichten ganz anders aussieht. Sie sind keinerlei Zwängen, Druck oder Unsicherheiten ausgesetzt. Der ganze Prozess verläuft vertraulich, sie befinden sich in angenehmer Umgebung und werden in völliger Sicherheit und Diskretion betreut. Es gibt keine undichten Stellen, keine religiösen FanatikerInnen, keine HeuchlerInnen, die an den Türen der Kliniken demonstrieren. Es handelt sich also nicht um eine Frage der Sorge um das Leben, sondern um reine Heuchelei und Fanatismus, die vom religiösen Fundamentalismus aufgezwungen werden, der in der gegenwärtigen Regierung Stärke besitzt und zur Umkehrung aller Eroberungen führt, die der Kampf der Frauen im Land erreicht hat.

Wir müssen diesen reaktionären Attacken mit aller Kraft widerstehen! Unsere Antwort muss klar und geschlossen sein, um die Rechte der arbeitenden Frauen zu verteidigen! Der 28. September ist der lateinamerikanische und karibische Tag für legale Abtreibung. Wir müssen energische und entschlossene Maßnahmen ergreifen, damit dieses Dekret aufgehoben wird und wir unsere Rechte weiter durchsetzen, und dürfen keinen Rückzug von ihnen zulassen!

  • Für die Aufhebung des Gesetz 13.931 und des Dekrets 2282!
  • Für die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs!
  • Für die Verteidigung des Lebens der Frauen!



Die Weltgesundheitskrise und ihre Auswirkung in Brasilien

Liga Socialista, Infomail 1108, 24. Juni 2020

Die Gesundheitskrise, die die Welt aufgrund von COVID-19 verwüstet, hat die ganze Zerbrechlichkeit des kapitalistischen Systems offenbart. Die kapitalistischen Mächte und ihr gesamter Mechanismus der Ausbeutung und Anhäufung von Profiten wurden von einer bereits seit 2019 vorhergesehenen großen Wirtschaftskrise heimgesucht und befanden sich inmitten einer tiefen Gesundheitskrise, die in China begann und sich rasch auf alle Länder und Kontinente ausweitete. Das Virus führte zu einer neuen Ordnung, die die Länder dazu veranlasste, Maßnahmen der Isolation und sozialen Distanzierung zu ergreifen, um eine noch größere Zahl von Todesfällen zu verhindern. Durch die Isolation wurde die Wirtschaftskrise vorweggenommen und verschärft, was mehrere Länder dazu veranlasste, noch härtere Maßnahmen gegen ArbeiterInnen zu ergreifen, um die finanziellen Auswirkungen auf die Konten des Großkapitals der Welt zu minimieren.

Lage in Brasilien

In Brasilien ist die Situation nicht anders. Die Pandemie breitet sich rasch aus, und die Zahlen der Fälle und Todesfälle sind erschreckend. Heute, am 20. Juni, übersteigt die Zahl nach offiziellen Angaben 50.000 Tote und eine Million Infizierte, die zu wenig gemeldet werden. Während jedoch andere Länder Isolationsmaßnahmen ergriffen haben, die auf den ersten Blick wirtschaftlichen Interessen zuwiderlaufen, weigert sich in Brasilien die Regierung Bolsonaro, die Schwere der Krankheit anzuerkennen. Als Regierung, die der ideologischen Linie der „Wissenschaftsverweigerung“ folgt, behandelt Bolsonaro die Krankheit als etwas Einfaches und verteidigt die Idee, dass ArbeiterInnen und Kinder sich dem Virus „stellen“ müssen, um die Wirtschaft zu retten. Seit Beginn der Ansteckung in Brasilien hat er die ernste Situation, in der sich das Land und die ganze Welt befinden, vernachlässigt.

Er hat die gleiche Politik wie Donald Trump verfolgt und besteht auf dem Einsatz eines Chloroquin-Medikaments, das bei der Behandlung von COVID-19 mehr Kontroversen hervorruft als Ergebnisse bringt. (Chloroquin wurde v. a. als Standard gegen Malaria eingesetzt. Wegen Resistenzentwicklung der meisten Erreger ist es heute dort jedoch nicht mehr Mittel der 1. Wahl. Anm. d. Red.) Bolsonaro leugnet die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation WHO, er ergreift nicht die geringste Maßnahme zur Kontrolle der Ansteckung und hat darüber hinaus einen Krieg gegen GouverneurInnen und BürgermeisterInnen geführt, die in ihren jeweiligen Provinzen und Gemeinden Isolationsmaßnahmen ergriffen haben.

Das Land befindet sich in einer tiefen kulturell-ideologischen Fehde zwischen AnhängerInnen und GegnerInnen von Bolsonaro. Den Richtlinien des falschen Philosophen Olavo de Carvalho folgend, der von evangelikalen FührerInnen unterstützt wird, mit Teilen, die Theorien der „flachen Erde“ verteidigen, sowie faschistischen Gruppen, haben wir eine Regierung, die die Wissenschaft verleugnet, indem sie systematisch die Mittel für die wissenschaftliche Forschung in Brasilien kürzt. Die Haltung der Regierung gegenüber der Pandemie hat innerhalb von 26 Tagen zwei Gesundheitsminister gestürzt, und zwar aufgrund von Divergenzen in der Politik der Bekämpfung und Kontrolle der Ausbreitung der Krankheit und des Einsatzes von Chloroquin.

Inmitten der Gesundheitskrise unternimmt die brasilianische Regierung nicht die geringste Anstrengung, um eine Politik der Ansteckungsbekämpfung vorzuschlagen. Im Gegenteil, sie besteht ständig darauf, alle Produktions- und Handelslinien wieder zu öffnen, wodurch die ArbeiterInnen noch stärker der Ansteckung durch die Krankheit ausgesetzt werden. Das Gesundheitsministerium hat zur Zeit keine/n MinisterIn. Das Ressort wird von einem Armeegeneral geleitet, der auf Interimsbasis handelt. Das Militär übernimmt zunehmend das Kommando über die Regierung. Während sich die Krankheit rasch ausbreitet, folgt die Regierung Bolsonaro dem kapitalistischen Glaubensbekenntnis durch Wirtschaftsminister Paulo Guedes, indem sie Angriffe auf die ArbeiterInnenrechte durchführt und vertieft und sich weigert, das Grundeinkommen aufrechtzuerhalten, um die Lohnabhängigen zu unterstützen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Dafür benutzt sie die Ausrede, kein Geld zu haben, aber die Regierung hat in den letzten Monaten 3,2 Billionen Reais  = 544 Milliarden Euro) an Bankiers vergeben und damit deutlich gemacht, wen diese Regierung „retten“ will.

Neben der Vernachlässigung der Kontrolle der Ansteckung durch COVID-19 hat der Skandal im Zusammenhang mit der Abholzung des Amazonasgebiets und dem Völkermord an den indigenen Völkern weitere Folgen mit sich gebracht, die die brasilianische Wirtschaft ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen. Der Ausschuss des US-Hauses lehnt mit einer Mehrheit der Demokratischen Partei eine Ausweitung der Handelsabkommen mit Brasilien ab. Die Situation könnte sich für das brasilianische Kapital verschlimmern, wenn der Demokrat Joe Biden zum Präsidenten gewählt wird, denn, so der ehemalige Botschafter Rubens Ricupero, „er engagiert sich mehr für die Umweltfrage als Barack Obama“. Das niederländische Parlament lehnte die Ratifizierung des Mercosur-EU-Abkommens ab, weil es mit der Umweltpolitik im Amazonasgebiet und mit der landwirtschaftlichen Konkurrenz nicht einverstanden ist. Brasiliens tiefe Wirtschaftskrise neigt dazu, sich angesichts der schädlichen Politik der Umweltzerstörung und ihrer Folgen für die Außenbeziehungen zu verschlimmern.

Politische Krise, ideologische Eskalation

Inmitten dieser ganzen Gesundheitskrise befindet sich die Regierung Bolsonaro in einer tiefen politischen Krise seit dem Rücktritt eines der Spitzenminister der Regierung, des ehemaligen Richters Sergio Moro, der für die „Geldwaschanlage“-Untersuchungen verantwortlich war, Lula verurteilte und die Wahl Bolsonaros 2018 ermöglichte. Nach seinem Ausscheiden aus dem Ministerium legte Moro den Streit um die Kontrolle der Bundespolizei und Bolsonaros Interessen am Schutz seiner Kinder offen, insbesondere Senator Flávio Bolsonaro, gegen den unter anderem wegen Korruptions- und Geldwäscheverbrechen ermittelt wird.

Moros Weggang und die Veröffentlichung des Videos des Ministertreffens, bei dem die Bundespolizeiaffäre enthüllt wurde, schwächten die Unterstützerbasis für die Regierung und zwangen Bolsonaro, Stimmen durch Verteilung von Millionengeldern an Kongressabgeordnete aus dem so genannten „centron“ (Zentrum) zu sichern; die kleinen rechten Parteien, die sich im Tausch gegen Unterstützung im Kongress verkaufen. Dieses Manöver führte dazu, dass Bolsonaro einen Teil seiner Unterstützung verlor, weil er während des Wahlkampfes sagte, dass er die „alte Politik“, Unterstützung im Kongress zu kaufen, ablehne und niemals praktizieren werde. Das Video des Treffens war ein Schlag für die Regierung, denn es zeigt MinisterInnen, die rassistische Äußerungen von sich geben, explizite Angriffe auf öffentliche Bedienstete, Umweltzerstörung und, vielleicht am kompromittierendsten, die Erklärung des Bildungsministers Abraham Weintraub, der die MinisterInnen des Obersten Gerichtshofs eindeutig angreift und bedroht.

Nach diesen Ereignissen verschärfte eine Gruppe, die sich die „300 BrasilianerInnen“ nennt, die Probleme noch weiter. Mit faschistischem Charakter kampierte die Gruppe in Brasilia zum „Kriegstraining“ und griff den Obersten Gerichtshof maskiert und mit Fackeln an, in deutlicher Anspielung auf die Mitglieder des Ku-Klux-Klan. Alle Forderungen nach Schließung des Obersten Gerichtshofs werden von Bolsonaro klar unterstützt. In den letzten Tagen hat das Gericht die Verletzung des Bankgeheimnisses für die Abgeordneten der Bolsonarobasis genehmigt, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen von Material in ihren Häusern durchgeführt und den Führer der faschistischen Gruppe „300 BrasilianerInnen“ vorläufig festgenommen. Bolsonaro erkannte, dass das Gericht den Druck auf den ideologischen Kern der Regierung erhöht, und drohte erneut mit einer Intervention, einem Staatsstreich, um den Beginn der „Jahre der Führung“ des Militärputsches von 64 nachzustellen.

Die Antwort auf diese Drohungen war die Inhaftierung von Fabricio Queiroz, einem ehemaligen Berater von Flávio Bolsonaro, während der Ermittlungen über Finanzströme im Zusammenhang mit dem Büro von Flávio Bolsonaro, als er noch Mitglied des Staatskongresses von Rio de Janeiro war.

Faschistische Haltungen und Reaktionen

Die Aktionen der „300er-Gruppe“ schockierten einen Teil der brasilianischen Bevölkerung wegen der Ähnlichkeit mit den von faschistischen Gruppen in den USA praktizierten Taten. Mit weißen Masken und Fackeln in den Händen versammelten sie sich vor dem Obersten Gerichtshof und drohten damit, die MinisterInnen des Gerichts anzugreifen. Die Reaktion war schnell. Fans, die mit Fußballvereinen verbunden sind und „Antifa-Club-Fans“ genannt werden, riefen zu Aktionen auf, um sich dem faschistischen Vormarsch entgegenzustellen. Diese Demos wurden ohne Beteiligung linker Gruppierungen oder VertreterInnen der ArbeiterInnenbewegung aufgerufen. Auch wenn sie nicht so groß waren, hatten sie Auswirkungen und störten die Regierung. Es ist interessant, darauf hinzuweisen, dass diese Aktionen zur gleichen Zeit stattfanden, als in den Vereinigten Staaten und in mehreren Ländern die Reaktion auf den Tod von George Floyd angesichts der von der Polizei in Minneapolis begangenen Brutalität Empörung hervorrief.

Die Herausforderungen für die Linke

Die brasilianische Linke erlebt einen Moment der großen Herausforderung. Seit den Bewegungen des Jahres 2013, als eine Welle von Demonstrationen auf die Straßen flutete, hat die Rechte in diesen Bewegungen an Boden gewonnen und linke Fahnen und Parteien wurden abgelehnt. Die Mobilisierung unterstützte die gefährliche Linie „keine Fahne und keine Partei“ mit nationalistischen Reden, die den Gruppen, die sich zum Angriff auf die damalige Rousseff-Regierung der ArbeiterInnenpartei PT organisierten, eine Stimme zu geben begannen. Rechte Gruppen zogen eine Generation junger Menschen an und besetzten den von der Linken in den Bewegungen eröffneten Raum. Es gibt mehrere Analysen, die darauf hindeuten, dass Tausende von Menschen, die noch nie zuvor an politischen Aktionen teilgenommen hatten, sich diesen rechten Gruppen anschlossen und sich mit ihnen identifizierten, und zwar auf der Grundlage eines moralistischen Diskurses, der die Verteidigung der Familie, der Moral und der guten Sitten in den Vordergrund stellte.

In diesem Szenario spielten die evangelikalen Kirchen, die über eine starke parlamentarische Vertretung im Kongress verfügen, zweifellos eine wichtige Rolle. Diese Situation bildete die Grundlage für die Verallgemeinerung von Hassreden bei den Wahlen 2014, als Dilma Rousseff wiedergewählt wurde. Nach dem Wahlprozess hielten die PutschistInnen des rechten Flügels die Hassreden und Vorurteile aufrecht, die schließlich zum Sturz der Regierung und zur Dominanz in der brasilianischen Gesellschaft führten. Dieser politische Diskurs des Hasses hat die Wahlen von 2018 ernsthaft beeinflusst und führt auch heute noch dazu, dass die Linke von den meisten BrasilianerInnen, von der Elite bis zu den ArbeiterInnen, abgelehnt wird.

Bisher hat sich die Linke, vor allem die PT, die die größte Partei der Linken und Hauptvertreterin der ArbeiterInnen ist, nicht an die Spitze der Bewegungen gestellt. In diesem Moment der sozialen Isolation ist die Situation noch schlimmer, denn viele Menschen fürchten sich wegen der Gesundheitsgefahr an Straßenaktionen zu beteiligen.

In diesem Szenario der politischen Krise der Regierung Bolsonaro beginnen sich Aktionen der Rechten gegen Bolsonaro zu entwickeln. Nachdem Meinungsumfragen ergeben hatten, dass die Unterstützungsbasis der Bolsonaro-WählerInnenschaft rund 30 Prozent beträgt, startete der ehemalige „bekehrte“ Bankier Eduardo Moreira in sozialen Netzwerken die Kampagne „Wir sind 70 Prozent“ gegen Bolsonaro.

Eine weitere Aktion gegen Bolsonaro ist das überparteiliche Manifest der Bewegung „Wir sind zusammen“, das rechte und linke Führungspersönlichkeiten aus Kunst, Schriftstellerei, Religion und andere unterzeichnet haben. Das Manifest richtet sich klar gegen die Forderungen von Jair Bolsonaro. Der ehemalige Präsident Lula hat sich jedoch gegen die Unterzeichnung dieses Manifests ausgesprochen. Für ihn ist es nur eine Aktion zum Sturz Bolsonaros und stellt nicht die Verteidigung der Interessen der ArbeiterInnenklasse dar. Lula argumentiert, dass die PT in der Lage sei, selbst gegen Bolsonaro vorzugehen und den ArbeiterInnen einen Ausweg aufzuzeigen. Für Lula ist das, was diese Elite will, der Sturz des Mannes Bolsonaro, aber die Aufrechterhaltung der Regierung Bolsonaro, einer Regierung, die den ArbeiterInnen eine Sparpolitik aufzwingt.

Bisher sehen wir kein Zugehen der PT auf die Beschäftigten, keinen Aufruf zu ihrer Organisierung. Die linken Organisationen und Parteien sind isoliert, aber die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter sind nicht isoliert, weil sie arbeiten oder weil sie nicht in der Lage sind, dies zu tun. Die ArbeiterInnenschaft ist täglich einer Ansteckung ausgesetzt, sie verliert Arbeitsplätze und Rechte, wobei die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen die Situation noch verschlimmern.

Die brasilianische Linke ist in einer Situation, in der sie sich innerhalb der Bewegungen nicht durchsetzen kann, sie übernimmt heute nicht die Führungsrolle der ArbeiterInnen in Brasilien. Es handelt sich um eine tiefe Krise, die Raum für die Besetzung durch die extreme Rechte eröffnet hat. Der Diskurs der extremen Rechten, die an der Macht ist, hat die ArbeiterInnenklasse erreicht. Es ist ein reaktionärer, oft sogar faschistischer Diskurs, der den Hass auf Minderheiten, auf Bildung, auf die Künste predigt. Er hat LehrerInnen und Kultur in Feinde der Gesellschaft verwandelt und die Lehre und wissenschaftliche Forschung zerstört. Es gibt keinen Dialog innerhalb der Linken. Die wenigen Versuche, eine Einheitsfront zu bilden, waren sehr kurzlebig und haben die vorgeschlagenen Ziele nicht erreicht. Wie der Philosoph Vladmir Safatle sagte, leidet die brasilianische Linke heute unter einer tiefen Identitätskrise. Es ist notwendig, diese Identität als VertreterIn der ArbeiterInnenklasse zu retten. Was wir seit Jahren erleben, ist eine Linke, die sich nur um die Wahlagenda kümmert, um die möglichen Stimmen und Positionen, die erreicht werden können.

Lula hat Recht, wenn er sagt, dass die PT kein Manifest mit PutschistInnen unterschreiben muss, um Bolsonaro loszuwerden, dass die Partei eine Agenda für die ArbeiterInnen vertreten solle, aber er weist nicht den Weg zum Kampf, zur Mobilisierung und zur Positionierung der PT und des Hauptgewerkschaftsbundes CUT als Hauptinstrumente des proletarischen Kampfes. Einige AnalystInnen weisen darauf hin, dass Lula mit diesem Diskurs versucht, die Basis der Partei neu zu organisieren, um in naher Zukunft wieder eine Führungsrolle zu erlangen, aber auf den alten Bündnissen mit der Rechten aufbauend.

In der Zwischenzeit wurden im Kongress mehrere Anträge auf Amtsenthebung gestellt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass Rodrigo Maia, der Vorsitzende des Kongresses, diesen Anträgen stattgeben wird. Bolsonaro versucht, sich durch die Unterstützung der Zentrumsparteien, des Militärs und der Polizei zu stärken. Es ist eine schwache Regierung, aber eine, die weiterhin der neoliberalen Agenda folgt. Während wir ArbeiterInnen unter all den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie leiden, greift die Regierung weiterhin unsere Rechte an, und die Linke bewegt sich nicht dazu, Kämpfe zu organisieren.

Mobilisierung nötig

Es ist dringend notwendig, dass die FührerInnen der Linken, vor allem aus der PT und dem Gewerkschaftsverband  CUT, die ArbeiterInnen auffordern und an die Basis gehen und sagen, dass diese Regierung eine Regierung der Zerstörung ist und wir ihr entgegentreten müssen. Wir wissen, dass die Einhaltung von Abstandsregelen und Gesundheitsvorschriften notwendig sind, aber in der gegenwärtigen Situation müssen wir den ArbeiterInnen klarmachen, dass es nicht möglich sein wird, der Krankheit zu begegnen, Bedingungen der Isolation zu haben, menschenwürdige Lebensbedingungen zu garantieren, solange die Regierung Bolsonaro besteht. Nur durch den Sturz dieser gesamten Regierung können wir die Mindestbedingungen haben, um bessere Lebens-, Arbeits- und Gesundheitsbedingungen zu fordern.

Wir müssen der ArbeiterInnenklasse klar und deutlich sagen, dass eine Regierung, die Abermilliarden für die BankerInnen ausgibt und sich weigert, die Hilfe für die ArbeiterInnen zu gewährleisten, sich nicht um die 50.000 Toten durch Corona kümmert, die sich nur um die großen Geschäftsleute und die Rettung der eigenen Familie sorgt, eine solche Regierung kann nicht länger aufrechterhalten werden.

Angesichts dieses Chaos brauchen die linken Parteien eine geschwisterliche Debatte, um eine Einheitsfront Front zum Kampf für die Agenda der ArbeiterInnenklasse aufzubauen, die unmittelbare und Übergangsforderungen enthält. Nur auf diese Weise werden wir eine linke Regierung, eine ArbeiterInnenregierung erkämpfen können, die sich auf die Kampforgane der Klasse stützt, die Interessen der ArbeiterInnen vertritt und mit dem Kapitalismus bricht.




Brasilien: Die COVID-19-Krise und die Herausforderungen für die ArbeiterInnenklasse

Liga Socialista, Brasilien, Infomail 1099, 11. April 2020

Die Wirtschaftskrise in Brasilien verschärfte sich bereits während der ersten Amtszeit von Präsidentin Rousseff, aber mit dem Putsch, der sie zu Fall brachte, wurde die Krise noch größer und nahm politische Dimensionen an. Seitdem hat sich die Lage des Landes immer weiter verschlechtert, mit großen Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse wie z. B. „Reformen“ der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Sicherheit.

Als sich die Angestellten im öffentlichen Dienst auf allen Ebenen (Bund, Provinzen, Gemeinden) für eine große Bewegung im ganzen Land organisierten, um die Reform der staatlichen Verwaltung zu stoppen, wurde das Land von der Coronavirus-Pandemie heimgesucht. Die Gewerkschaftsdachverbände setzten die für den 18. März geplante Aktion aus Angst vor einer großflächigen Übertragung des Virus sofort aus.

Um den Forderungen der KapitalistInnen nachzukommen, erließ die Regierung die provisorische Maßnahme 927, die u. a. die Aussetzung von Arbeitsverträgen für bis zu 4 Monate erlaubte. Dies stieß in den Medien und sogar im Kongress auf ein sehr negatives Echo und veranlasste die Regierung, den speziellen Artikel, der diesen Angriff garantierte, zurückzuziehen. Andere Offensiven gegen die ArbeiterInnen, die zur Rücknahme der Rechte der formell Beschäftigten im Land führten, wie z. B. die Gewährleistung der Präsenz der Gewerkschaften bei Vertragsverhandlungen, wurden jedoch aufrechterhalten. Diese Möglichkeit lässt den ArbeiterInnen der Gnade der Bosse ausgeliefert sein. Von ihnen wird erwartet, dass sie „Vereinbarungen“ unterzeichnen, die ihnen Rechte entziehen und sogar die Löhne senken können. Der Kongress sollte diese provisorische Maßnahme ohne weitere Prüfung ablehnen. Es ist uns bereits klar, dass das Coronavirus als Vorwand benutzt wird, um den ArbeiterInnen ihre Rechte zu nehmen.

Eine „Gripezinha“ (kleine Grippe)

Die Regierung Bolsonaro behandelt die Pandemie auf unlogische und kriminelle Weise, als handele es sich nur um eine weitere einfache Grippe, eine „Gripezinha“ in den Worten Bolsonaros. Obwohl sich mehrere Mitglieder seiner Regierung angesteckt haben, besteht er darauf, präventive Maßnahmen zu disqualifizieren. Dies wurde auf der Kundgebung, zu der er selbst am 15. März zur Unterstützung seiner Regierung gegen den Kongress und den Obersten Bundesgerichtshof (STF) aufgerufen hatte, sehr deutlich. Zu diesem Zeitpunkt stand er unter Quarantäne (Verdacht auf Ansteckung), und dennoch verließ er den Palast, um dort seine AnhängerInnen zu begrüßen und zu umarmen.

Die Pandemie hat sich im ganzen Land ausgebreitet. In den meisten Städten ist vieles zum Stillstand gekommen. Alle kommerziellen Aktivitäten mit Ausnahme von Märkten und Apotheken sind zum Erliegen gekommen. Turnhallen, Bibliotheken, öffentliche und private Schulen sind ebenfalls geschlossen. Die Empfehlung lautet, das Haus nicht zu verlassen. Aber ArbeiterInnen in Industrien, die noch betrieben werden und ihre Belegschaften weiterhin arbeiten lassen, laufen Gefahr, sich anzustecken. Der öffentliche Verkehr zeigt seine eigenen Mängel. Mit dem Rückgang des Personentransportes arbeiten die meisten Unternehmen weniger Stunden und mit einer kleineren Flotte im Falle der Busse. Das bedeutet, dass der öffentliche Verkehr zu Spitzenzeiten zu überfüllt ist, was die Ansteckungsgefahr weiter erhöht.

Die BewohnerInnen der Vorstädte und Favelas (Elendsviertel) wurden praktisch aufgegeben. Für sie gibt es kein Programm zur Eindämmung der Pandemie. In einem Video auf der Website der Zeitung Estadão auf YouTube prangerte ein/e GemeindevorsteherIn aus der Favela Paraisópolis in São Paulo ihre Verlassenheit durch die Behörden an und ergriff die Initiative zur Organisation der Favelas. Es gibt 420 lokale AnführerInnen, die jeweils für bestimmte Straßen zuständig sind. In diesen Straßen hat jede/r von ihnen Kontakt zu etwa 300 EinwohnerInnen. So verstehen sie die Situation in der Favela. Sie haben Teams zur Verteilung von Nahrungsmitteln gebildet und richten improvisierte Orte ein, an denen sie sich um die BewohnerInnen kümmern, die von der Krankheit befallen sind. Dies ist ein Beispiel dafür, wie man sich organisieren muss, nicht nur, um die Pandemie zu bekämpfen, sondern auch, um demokratische Rechte zu verteidigen, die täglich vom Staat selbst missachtet werden.

Am 24. März verharmloste Präsident Bolsonaro im nationalen Fernsehen in Opposition zu Fachleuten und Weltgesundheitsbehörden erneut die Pandemie und rief das brasilianische Volk auf, aus der sozialen Isolation herauszukommen, und forderte eine „Rückkehr zur Normalität“ und ein Ende der „Gefangenschaft“. Er erklärte auch, dass „die Medien“ für die Verbreitung der Angst verantwortlich seien.

Es wird erwartet, dass der April der Spitzenmonat für die Übertragung des Coronavirus in Brasilien sein wird, und der Gesundheitsminister selbst sagt bereits einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems voraus, der eine ähnliche Situation wie in Italien zeigen könnte. Brasilien hat bis dato (30.03.) einen Rekord von 159 Toten und 4.579 Infizierten, mit einer Sterberate von 3,5 % (El País, 31.03.2020).

Leider braucht es wenig Phantasie, um zu erkennen, dass es der Regierung Bolsonaro nur darum geht, die Interessen von UnternehmerInnen und Bankiers zu verteidigen und zu versuchen, eine Wirtschaft zu retten, die bereits vor die Hunde gegangen ist.

Kapitalismus: eine tödliche Gefahr

Angesichts dieses Rahmens müssen wir die demokratischen Rechte sichern, die bereits bedroht waren und jetzt durch provisorische Maßnahmen und Dekrete noch schneller angegriffen werden. Die KapitalistInnenklasse und ihre Vertreterin, die Regierung Bolsonaro, wollen und werden den Massen die Lasten der Krise und damit auch die Risiken der Pandemie aufhalsen. Wir dürfen die allgemeine Einschränkung der demokratischen Rechte nicht passiv hinnehmen. Stattdessen sollten wir diese hart erkämpften Rechte nutzen, um ein wirksames Programm zur Bekämpfung der Pandemie umzusetzen. Der Kampf um unsere Gesundheit ist eng mit der Gegenwehr gegen die Ausbreitung der Wirtschaftskrise verbunden. Um erfolgreich zu sein, reicht es nicht aus, unsere Forderungen auf Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit zu beschränken. Wir müssen uns auch auf die sozialen Ursachen konzentrieren, die das Virus so gefährlich machen. Es ist kein Zufall, dass der Kampf gegen die Krankheit ein entschlossenes Vorgehen gegen Ausbeutung und Marktwirtschaft erfordert. Es ist mehr denn je klar, dass der Kapitalismus selbst zu einer tödlichen Gefahr für die Menschheit geworden ist.

Das Streik-, Versammlungs- und Demonstrationsrecht muss verteidigt werden. Wir sind gegen alle Maßnahmen, die die Kosten der Krise auf die ArbeiterInnen abwälzen und die rassisch Unterdrückten diskriminieren oder ausschließen. Wir brauchen auch jedes Mittel zum Kampf. Wenn wir dafür sorgen wollen, dass Millionen von Menschen ihre Löhne und Rechte nicht verlieren, müssen wir kämpfen – weder die Regierung noch das Kapital werden uns Zugeständnisse machen. Wir brauchen also eine Organisation in einem viel größeren Maßstab, um unsere Interessen zu verteidigen. Wir brauchen Gremien zum Kämpfen wie Aktionsräte und ArbeiterInnenkontrollausschüsse, die demokratisch organisiert und ihrer Basis gegenüber rechenschaftspflichtig sind.

Die sozialen Internetmedien bieten Möglichkeiten, die Isolation der Menschen zumindest teilweise zu durchbrechen. ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen, Kampagnen und politische Initiativen können diese Medien auch nutzen, um sich zu vernetzen, Audio- und Videokonferenzen abzuhalten, und sogar Menschen, die in Unternehmen zur Arbeit gezwungen werden, wie auch informelle ArbeiterInnen können ihre Aktivitäten am Arbeitsplatz unter Berücksichtigung von Sicherheitsanweisungen koordinieren.

Angesichts dieser chaotischen Situation müssen die Organisationen der ArbeiterInnenklasse, die Gewerkschaftsdachorganisationen, Konföderationen, Verbände und Einzelgewerkschaften folgende Maßnahmen verteidigen:

  • Verteidigung der Rechte, die wir bereits gewonnen haben!
  • Sofortige Aufhebung von EC 95, das eine Obergrenze für die Ausgaben für den öffentlichen Dienst festlegt!
  • Aufhebung des Gesetzes über die fiskalische Verantwortung, das bereits unter normalen Bedingungen die Ausgaben für öffentlich Bedienstete begrenzt!
  • Gegen MP 927 – das Gesetz darf im Senat nicht verabschiedet werden!
  • Sofortige Aussetzung aller nicht wesentlichen Arbeiten und Ausweitung der Tätigkeiten auf Distanz!
  • Stabilität und volle Auszahlung der Löhne und Gehälter für formelle ArbeiterInnen, einschließlich derer, die durch Quarantäne weggesperrt wurden, solange die Auswirkungen der Pandemie andauern!
  • Ein Einkommen in Mindestlohnhöhe für alle informellen, arbeitslosen ArbeiterInnen und Scheinselbstständigen sowie für KleinunternehmerInnen (Geschäfte, Restaurants und andere), die vorläufig geschlossen bleiben müssen!
  • Aussetzung der Zahlung von Rechnungen und der Kürzungen bei den öffentlichen Dienstleistungen (Wasser und Abwasser, Energie, Telefon und Internet),
  • Zusatzzahlungen für andere Ausgaben wie Mieten, Gesundheitspläne, öffentliche Verkehrsmittel, Kredite und Finanzierungen, für die Dauer der Krise!
  • Notfallplan für die öffentliche Gesundheitsfürsorge in den Favelas, Vorstädten und den Siedlungen der MST und MTST (Land- und Obdachlosenbewegungen)!
  • Kostenlose Gesundheitsdienste für alle – von Tests über Krankenhausunterbringung bis hin zur Intensivpflege!
  • Stärkung des SUS (Nationaler Gesundheitsdienst)! Steigerung der Produktion von Arzneimitteln, Testkits, Desinfektionsmitteln, Atemschutz zur Bekämpfung der Pandemie, Bereitstellung von Informationen für die Bevölkerung und Einstellung von medizinischem Personal und AssistentInnen unter der Kontrolle von Gewerkschaften und ArbeiterInnen!
  • Abschaffung von Geschäftsgeheimnissen und Geheimhaltung aller Forschungsergebnisse staatlicher und privater Institute! Internationale Koordinierung der Bemühungen um die Entwicklung eines Impfstoffs, der allen Menschen kostenlos zur Verfügung steht!
  • Verstaatlichung der privaten Sektoren des Gesundheitswesens, der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie ohne Entschädigung, um Ressourcen zu bündeln und sie unter die Kontrolle der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften zu stellen!
  • Aussetzung aller Arbeiten und Aktivitäten, die nicht notwendig sind, um die Grundversorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten! Diese Maßnahmen müssen von der arbeitenden Bevölkerung festgelegt werden, nicht von den EigentümerInnen des Kapitals und ihren Regierungen!
  • Bedingungslose Lohnzahlung für alle ArbeiterInnen, deren Arbeit eingestellt wird!
  • Zusätzliche Zahlungen für alle Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderen Bereichen, die weiterhin mit Gesundheitsrisiken arbeiten müssen! Wenn Unternehmen sich weigern, diese Maßnahmen zu befolgen, müssen sie entschädigungslos enteignet werden!
  • Nein zur Aussetzung der ArbeiterInnenrechte durch vorläufige Maßnahmen, Dekrete und/oder durch Entscheidung der Unternehmen selbst mit der Begründung, dass Überstunden, Heimarbeit, Samstags- oder Sonntagsarbeit, Versetzungen erforderlich sind usw.!



Brasilien: Politisches Lumpenpack!

Liga Socialista, Infomail 1063, 25. Juli 2019

Mit einer entscheidenden Abstimmung billigte das
brasilianische Repräsentantenhaus am 8. Juli 2019 mit 379 Ja-Stimmen und 131
Nein-Stimmen den Grundtext der „Reform“ der sozialen Sicherheit. Die Debatte
war im Plenum heftig geführt worden, wobei die Opposition große Anstrengungen
unternahm, um diese Katastrophe zu vermeiden.

Die Umsetzung der Reform würde die Zerstörung des
Sozialversicherungssystems des Landes bedeuten. Von nun an müssen die
Arbeit„nehmer“Innen etwa zehn Jahre länger arbeiten, um mit einer Rente in den
Ruhestand zu gehen, von der sie leben können. Darüber hinaus könnte die Höhe
der Rente der Hälfte des bisherigen Gehalts entsprechen. Die Renten, die
Ehemänner für ihre Witwen hinterlassen, betragen die Hälfte des Mindestlohns.
Damit droht eine verheerende Situation im Land.

Wir müssen die Mitglieder des Parlaments unter die Lupe
nehmen, die für diese Reform gestimmt haben. Während der gesamten Debatte
bestanden sie darauf, dass Privilegien abgeschafft werden sollten und die
Reform notwendig sei, um zu verhindern, dass das Land auseinanderfällt.

Dieses Lumpenpack! Gleichzeitig mit ihren Reden, in denen
sie scheinheilig erklärten, dass BeamtInnen und LehrerInnen privilegiert seien,
wurde die Tatsache verschleiert, dass die Sonderkommission des Parlaments, die
die Reform der Sozialversicherung analysierte, die Steuerbefreiung für die
AgrarexporteurInnen wieder eingeführt hat, was ohne dieses Geschenk zu einem
Steueraufkommen von rund 84 Milliarden Real geführt hätte.

Viele dieser Abgeordneten, die sagen, dass das Land vor
einem finanziellen Zusammenbruch stand und es sich einfach nicht mehr leisten
konnte, die Renten zu zahlen, verteidigten und genehmigten das Repetro-Gesetz,
das während der Regierung Temer verabschiedet wurde, das Ölgesellschaften, die
das Gebiet über und unter den Salzschichten ausbeuten, Steuervorteile gewährte
und bis 2040 wirksam ist. Diese Befreiungen werden zu Steuerausfällen von rund
1 Billion Real führen.

Wenn es dem Land an Geld mangelt, was ist dann mit dem
Vermögen von hohen RegierungsbeamtInnen, Abgeordneten und SenatorInnen? Werden
sie ihre Rentenansprüche und andere Privilegien aufgeben? Also, für wen war die
Reform wirklich notwendig?

Diese Reform wurde durchgeführt, um den Bedürfnissen von
Geschäftsleuten und Bankiers gerecht zu werden, denen dieser Ausgabenposten des
Haushalts immer ein Dorn im Auge war. Ein Sozialhaushalt, der den ArbeiterInnen
im Alter, bei Unfällen oder Krankheiten helfen sollte, wurde von den wirklich
Privilegierten – Geschäftsleuten, Bankiers und AgroexporteurInnen –, die ihn in
die Finger bekommen wollten, immer als Hindernis angesehen. Jetzt wird der
Staat mehr Geld haben, um es auf Kosten der Gesellschaft an diese ParasitInnen
zu verteilen.

Klassenwahl

Offensichtlich war die Abstimmung im Parlament eine
Klassenwahl: eine Abstimmung für die Reichen und Superreichen, für das
bürgerliche Establishment, für die Bankiers, Industriellen und das
Agrobusiness, für das brasilianische und internationale Kapital. Es ist kein
Wunder, dass alle bürgerlichen Parteien, die Stützen der Regierung sowie die
traditionellen Parteien der brasilianischen Elite für die „Reform“ gestimmt
haben. Es ist auch kein Zufall, dass eine beträchtliche Anzahl der „Mitte-Links“-Mitglieder
von PDT (Demokratische ArbeiterInnenpartei) und PSB (Partido Socialista
Brasileiro) ebenfalls dafür gestimmt hat, obwohl die Führungen dagegen
sprachen. Nur die Abgeordneten der reformistischen und linken Parteien PT
(ArbeiterInnenpartei), PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) und PCdoB
(Kommunistische Partei von Brasilien), die behaupten, die ArbeiterInnenklasse
zu vertreten und historisch und organisatorisch mit den ArbeiterInnen- und
Gewerkschaftsbewegungen verbunden sind, stimmten gegen diesen historischen
Angriff auf die sozialen Rechte.

Unser Kampf kann und darf nicht hier enden. Wir müssen den
Widerstand der ArbeiterInnenklasse weiterhin organisieren und mobilisieren. Die
Abstimmung im Kongress war nur der erste Akt. Es wird nun eine längere Zeit der
Änderungen und Ergänzungen geben, bis am 6. August eine weitere Abstimmung im
Kongress stattfinden wird. Wenn es noch eine Mehrheit dafür gibt, wird das
Gesetz an den Senat, die zweite Kammer des Parlaments, am 8. August übergeben.

Natürlich können wir nicht erwarten, dass der Kongress,
geschweige denn der Senat, die Rentenkürzungen aufgibt. Es wird viel „Kuhhandel“
geben, wo dieser oder jener Beruf (z. B. Lehrerschaft und Polizei)
zusätzliche Regeln erhalten wird, wo das Mindestalter für den Ruhestand oder
die Formel für die Beziehungen zwischen Beitragsdauer und Rentenniveau
angepasst wird. Wir können mit Sicherheit erwarten, dass dies zum Schaden der
Bevölkerungsmehrheit geschieht, auch wenn es einige Verbesserungen für
Schichten der Gesellschaft geben wird, die von bestimmten Parlamentsfraktionen
unterstützt werden. Wir können uns bei diesen Verhandlungen keinerlei
Illusionen machen! Nur Massenmobilisierungen an den Arbeitsplätzen, in den
Büros und auf den Straßen können die derzeitige Offensive von Regierung und
Bürgertum stoppen.

Die CUT, der größte und wichtigste Gewerkschaftsdachverband des
Landes, hat zu Massenversammlungen im Juli und zu einer Protestwoche vom 5. bis
12. August aufgerufen, die am 13. August in einem „Tag des Kampfes gegen die
Rentenreform“ gipfelt, um das Land zum Stillstand zu bringen.

Es liegt auf der Hand, dass sich alle linken und
ArbeiterInnenparteien und die sozialen Bewegungen, die StudentInnen, die
Frauenbewegung, die Landlosen, die Bauern/Bäuerinnen und indigenen Völker sowie
die Obdachlosenbewegung zusammenschließen sollten, um eine massenhaft vereinte
Front gegen die Rentenreform aufzubauen. Wir, die Liga Socialista, schlagen
vor, Aktionsräte an allen Arbeitsplätzen und in allen Büros, an den Schulen,
Universitäten, in den ArbeiterInnensiedlungen, den Favelas, in Stadt und Land
zu bilden, um die Aktion vorzubereiten, zu organisieren und zu leiten. Die Räte
sollten von Massenversammlungen gewählt werden, ihrer Basis
rechenschaftspflichtig und von ihr abrufbar sein und die Grundlage für eine
nationale, demokratische Koordination des Kampfes bilden.

Die „Aktionswoche“ ist ein positiver Schritt nach vorne.
Aber aus der Vergangenheit wissen wir, dass temporäre und begrenzte Maßnahmen,
auch wenn es sich um einen eintägigen Generalstreik handelt, die Regierung und
die Bosse nicht aufhalten werden. Wir müssen einen unbefristeten Generalstreik
zur Rücknahme des Gesetzes einleiten und organisieren und er muss auf den
Aktionsräten basieren. Um Provokationen und Angriffe der extremen Rechten,
paramilitärischen bzw. (proto)faschistischen Kräfte oder der Polizei zu
stoppen, muss die Bewegung eine Selbstverteidigung in großem Stil organisieren.

Eine solche Bewegung könnte natürlich nicht nur die
Rentenreform stoppen, ein solcher unbefristeter Generalstreik würde auch die
Frage der Macht aufwerfen, die Frage, welche Klasse die Gesellschaft führt und
in wessen Interesse.

Wichtig ist, dass wir wissen, wie wir den Kampf gegen das
Gesetz zu einem für eine sozialistische Gesellschaft eskalieren können, dass
wir bereit sind, einen Verteidigungskampf und einen Generalstreik in einen
Machtkampf zu verwandeln. Vom Widerstand zur Revolution!




Bolsonaros Rentenreform: Resiste Brasil!

Markus Lehner, Neue Internationale 236, April 2019

Seit Anfang des
Jahres ist Jair Bolsonaro Präsident Brasiliens. Mit rechtsextremen Sprüchen
gegen Frauenrechte, Genderpolitik, andersfarbige Unterklassen, mit einer
gewaltbereiten Anhängerschaft und seiner Bewunderung für den
„antikommunistischen“ Terror der einstigen Militärdiktatur war Bolsonaro in der
brasilianischen Politik als rechter Außenseiter bekannt geworden. Kaum jemand
hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass er Präsident werden würde. In Ermangelung
sonstiger bekannter, nicht der Korruption beschuldigter KandidatInnen
entschieden sich Eliten und Militärs schließlich jedoch, gerade auf diese Karte
zu setzen.

Durch eine
schwere Wirtschaftskrise gebeutelt und durch Blockaden im schwerfälligen politischen
System bei jeglichen größeren „Reformvorhaben“ gescheitert, entschied man sich
für einen Kandidaten, der für den Angriff auf die Linke und die organisierte
ArbeiterInnenbewegung steht. Letztlich gewann Bolsonaro mit dem Versprechen der
„Säuberung“ des korrupten Systems und der Wiederbelebung der daniederliegenden
Wirtschaft. Nichts kann jedoch Bolsonaros Haltung zur ArbeiterInnenbewegung
besser zusammenfassen als sein (auch nach der Wahl wiederholter) Spruch: „Die
brasilianischen Arbeiter müssen sich entscheiden: Arbeit haben oder Rechte
haben“. Ganz in diesem Sinn sieht er Gewerkschaften als die größte Bedrohung
für eine „gesunde Wirtschaft“.

Gruppierungen im
Regime

Kurz: Neben der
reaktionären Bildungs-, Kultur-, Frauen-, Umweltpolitik etc. trägt auch
Bolsonaros Sozial- und Arbeitsmarktpolitik deutliche Elemente faschistischer
Politik. Allerdings ist Bolsonaro nicht „allein zu Hause“ in Brasilia. Ein
Großteil seines Kabinetts besteht aus (Ex-)Generälen, die aufs Engste mit der
„Elite“ von Industrie und Agro-Business verbunden sind. Zusätzlich wird die
Wirtschaftspolitik von Paulo Guedes und seiner ultra-liberalen Bänker-Truppe
bestimmt. Diese beiden (nicht immer harmonisch zusammenarbeitenden) Kräfte
setzen Bolsonaro enge Handlungsspielräume. Es gibt viele Gerüchte, dass er bei
weiteren Eskapaden schnell durch seinen Vizepräsidenten (einem der Generäle in
der Regierung) ersetzt werden könnte. Außerdem hat Bolsonaro auch die
ultrafundamentalistischen EvangelikalInnen in die Regierung geholt, was vor allem
in der Familien- und Bildungspolitik für eine reaktionäre Wende sorgt, die auch
in der liberalen Öffentlichkeit Protest auslöst. Die Verschärfung des sowieso
schon sehr restriktiven Abtreibungsrechts hat in den letzten Monaten zu einer
starken Protestwelle nicht nur der Frauenbewegung geführt.

Schließlich
fehlt Bolsonaro eine definitive Mehrheit im Kongress, der aus einer Vielzahl
von Parteien besteht. Wie jede Regierung muss er sich dort in langwierigen
Verhandlungen Mehrheiten organisieren – und scheiterte dort bisher bei vielen
seiner Vorhaben kläglich. Am deutlichsten wird dies wieder einmal bei der
Rentenreform, die als das wichtigste Anliegen jeder neoliberalen Wende in
Brasilien angesehen wird. Die hohe Verschuldung des Landes führt zu hohen Zinsraten,
die zusammen mit den Einbrüchen beim Export die wirtschaftliche Wende, die der
„Messias Bolsonaro“ versprochen hatte, weiterhin nicht mal im Ansatz erkennen
lassen. Da das ineffektive Rentensystem etwa ein Drittel der öffentlichen
Ausgaben ausmacht, wird die Rentenreform als das A und O des Erfolgs jeder
Regierung angesehen. Wie es der Regierungssprecher diese Woche erklärte: „Wir
haben zwei Alternativen: entweder Zustimmung zur Rentenreform oder diese
Regierung fällt“.

Die von Guedes
ausgearbeitete Reform stellt die übliche neoliberale Lösung des Problems auf
Kosten der sozial Schwachen dar, die auch bisher nicht vom System profitiert
haben. Einerseits soll das System privatisiert, in eine kapitalgedeckte Rente
umgewandelt werden. Andererseits soll das Mindestrenteneintrittsalter soweit
angehoben werden, dass dabei zumindest eine Mindestrente herauskommt (was bei
den GeringverdienerInnen zum Arbeiten bis ins 70. Lebensjahr führen würde).
Schon in Chile war die Kapitalrente das „Prunkstück“ der neoliberalen
Junta-Politik – und wird dort gerade wegen der Probleme bei den unteren
Einkommen wieder abgeschafft.

Massiver Angriff

Es ist klar,
dass die geplante Reform einen massiven Angriff auf die Existenzgrundlagen von
Millionen ärmerer BrasilianerInnen verkörpert. Sie ist auch nicht das, wofür
Bolsonaro und seine Partei gewählt worden waren (die Rentenreform war bei ihm
kein Wahlkampfthema). Auch im Kongress will sich ein größerer Teil auch der
konservativen Abgeordneten nicht mit diesem unpopulären Thema „belasten“. Da
das Gesetz im Verfassungsrang eine Vierfünftel-Mehrheit im Kongress benötigt,
reichen wenige Stimmen über die „Linke“ im Parlament hinaus, um die Reform zu
blockieren. Dies erklärt die Besorgnis des Regierungssprechers und die große
„Geschäftigkeit“, die gerade mal wieder im Kongress herrscht, um irgendwie doch
noch eine Mehrheit zu organisieren.

Wichtiger als
diese parlamentarischen Blockaden ist jedoch der wachsende Widerstand auf der
Straße. Die Enttäuschung auch der irregeführten WählerInnenschaft wächst: von
wirtschaftlicher Erholung keine Spur; auch die neue Regierung ist wieder in
Korruptionsfälle verstrickt (inklusive der Familie Bolsonaros). Der
Bolsonaro-Clan ist auch offensichtlich in ein jüngst aufgedecktes kriminelles
Netzwerk innerhalb der Polizei von Rio verwickelt, das die Ermordung der linken
Stadträtin Marielle Franco organisiert hat. Per „Gesetz zur Finanzierung der
Gewerkschaften” (MP873) soll diesen der Geldhahn abgedreht werden – und nun
auch noch dieser massive soziale Angriff in Gestalt der Rentenreform! Viele der
verschiedenen Proteststränge gegen das neue Bolsonaro-Regime bündeln sich daher
heute im Protest gegen diese.

Bereits nach der
Verkündung des Reformgesetzes haben sich alle großen Gewerkschaftsdachverbände
(die oft miteinander konkurrieren) auf gemeinsamen Widerstand geeinigt. Am 22.
März fand der erste große Protesttag statt, an dem Hunderttausende im ganzen
Land gegen Bolsonaros Vorhaben auf die Straße gegangen sind. Selbst die
Gewerkschaftsverbände waren über die große Beteiligung überrascht. Vielfach
haben sich inzwischen lokale Widerstandskomitees (portugiesisch: Resistência)
gebildet, die eine Einheitsfront aus Gewerkschaften, MST (Landlosenbewegung),
MTST (Obdachlosenbewegung), linken Parteien und verschiedenen sozialen
Bewegungen darstellen. Die CUT (Einheitszentrale der ArbeiterInnen) als größter
Gewerkschaftsdachverband spricht inzwischen von der Vorbereitung des
Generalstreiks gegen die Rentenreform. Ob es zu weiteren Aktionstagen oder
gleich zu Streikaktionen kommen wird, wird stark von der Entwicklung der
Basisorgane des Widerstands abhängen.

Widerstandskongress!

Unsere
GenossInnen von der Liga Socialista treten dafür ein, in diesen
Widerstandskomitees mit allen linken Organisationen und den Gewerkschaften
zusammenzuarbeiten und dort für den unbefristeten Generalstreik einzutreten.
Sie kritisieren sowohl die Pläne, die Aktionen auf ein- bis zweitägige Streiks
zu beschränken, wie auch das sektiererische Verhalten bestimmter linker
Gruppen, aus den Komitees auszutreten, da CUT und PT (ArbeiterInnenpartei) dort
auch die Forderung zur Befreiung von Lula als zentrale Forderung mit
einbeziehen. Auch wenn wir die Politik der PT, speziell in ihrer
Regierungszeit, kritisieren, sehen wir die Gefangennahme des Ex-Präsidenten
Lula da Silva als einen klaren politischen Willkürakt, der die ganze politische
Linke treffen soll. Daher halten wir die Kampagne „Lula Livre“ für
unterstützenswert. Auch sozialdemokratische Ex-Präsidenten können politische
Gefangene werden – für deren Befreiung wir dann auch eintreten müssen.

Angesichts der
konzentrierten Angriffe auf soziale Rechte und die Existenz von Gewerkschaften
halten wir es für notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung sich im geeinten
Widerstand organisiert. Wie am Ende der Militärdiktatur ist es wieder
notwendig, einen umfassenden Widerstandskongress der Gesamtklasse zu
organisieren (1983 wurde die CUT auf dem „Congresso Nacional de Classe
Trabalhadora – CONCLAT“, dem „nationalen Kongress der ArbeiterInnenklasse“
gegründet). Es ist klar, dass es heute wieder einen COCLAT braucht, wie es auch
viele in der CUT diskutieren. Dabei muss ein politisches Programm der
ArbeiterInnenklasse als Antwort auf die menschenverachtende Politik der
brasilianischen Eliten diskutiert werden. Für uns ist klar, dass ein solches
Programm beim Kampf gegen die bestehenden Angriffe beginnen und dieser zur
sozialistischen Revolution auf Grundlage der in ihm entstehenden demokratisch
kontrollierten Kampforgane der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten
ausgeweitet werden muss.

International
müssen wir diesen Widerstandsprozess in Brasilien mit aller Kraft unterstützen.
Brasilien ist neben Venezuela heute ein Brennpunkt des internationalen
Klassenkampfes in Lateinamerika, der für dessen Richtung weltweit
mitentscheidend ist. Unterstützt daher auch in Deutschland die vielen lokalen
Initiativen zur Solidarität mit dem Widerstand in Brasilien! So hat sich in
Berlin ein großes Solidaritätskomitee mit vielen Arbeitsgruppen und Initiativen
gebildet unter dem Titel „Resiste Brasil – Berlin“. Kontaktaufnahme ist auch
über die GAM möglich. „Resiste Brasil – Berlin“ organisiert am 7.4. um 16 Uhr
auf dem Hermannplatz in Berlin eine Protestkundgebung zum ersten Jahrestag der
Verhaftung von Lula – eine Aktion, die weltweit in allen großen Städten und
natürlich besonders auch überall in Brasilien zum Protest gegen die rechte
Willkürherrschaft in Brasilien stattfinden wird.




Wir werden weiter für unsere Rechte kämpfen!

Interview mit Raquel Silva (Liga Socialista Brasilen), Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 7, März 2019

Rachel Silva ist Gründungsmitglied der „Liga Socialista“, der brasilianischen Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, und langjährige Aktivistin der LehrerInnengewerkschaft in Juiz de Fora. Sie beteiligt sich gemeinsam mit den GenossInnen der LS an der Vorbereitung der Demonstration zum 8. März und am Aufbau eines Komitees gegen die sog. „Rentenreform“ der Regierung Bolsonaro.

Frage: Wie hat sich der Putsch gegen Dilma auf die Lage der Frauen und sexuell Unterdrückten ausgewirkt?

Seit dem Staatsstreich
2016 haben die Angriffe auf Frauen und LGBTs zugenommen, als die Anti-PT-Welle
zum Sturz von Präsidentin Dilma einsetzte.
Dilma Rousseff selbst hat während ihrer Amtszeit viele machistische Angriffe
erlitten, von einschlägigen Schmährufen im Maracanã-Stadion zur Eröffnung der
FIFA-Weltmeisterschaft 2014 bis hin zu den berüchtigten pornografischen
Aufklebern für Autos, die allgemein die Frauenwürde trafen.

Nach dem Putsch nahm die
konservative, Anti-PT-Welle (PT: Arbeiterinnenpartei, Ex-Regierungspartei) zu.
Der moralische Konservatismus gewann viel an Bedeutung, vor allem, als das
Magazin „Veja”, eine der größten Zeitschriften des Landes, Vertreterin der
Bourgeoisie und Organisatorin des Putsches, einen Artikel mit der neuen First
Lady Marcela Temer (Ehefrau des damaligen Präsidenten Michel Temer)
veröffentlichte, in dem die Eigenschaften von „schön, bescheiden und
häuslich“ hervorgehoben wurden.

Während seiner Regierung
wurde das Nationale Sekretariat für Frauenpolitik in das Ministerium für
Menschenrechte übertragen und aus der Gruppe der Regierungsstellen entfernt.
Dies war bereits ein Angriff, da es eine Errungenschaft auflöste, die eine
Eroberung des Frauenkampfes vor dem Putsch 2016 darstellte.

Frage: Welche Rolle spielen dabei die konservative Rechte und Kirchen? Welche Rolle spielte Sexismus im Wahlkampf und welchen Widerstand gab es?

Diese konservative Welle, die von den
evangelikalen Kirchen sehr stark angenommen und verbreitet wurde, gewann
während des Wahlkampfes um den Präsidenten der Republik mehr Raum. Die Angriffe
richteten sich gegen öffentliche Schulen und LehrerInnen, denen „Ideologentum“,
Linkssein und sogar Pädophilie vorgeworfen wurden. Um die PT zu schlagen,
wurden gefälschte Nachrichten über ideologische Indoktrination erstellt und
verbreitet, wobei der Begriff „Gender-Ideologie“ entstand, und man die Bildungspolitik
der PT-Regierung als einen Versuch denunzierte, die Kinder zu lehren, „schwul“
zu sein. Lügen über Schwulenkostüme in Schulen wurden durch soziale Netzwerke
und WhatsApp verbreitet. Der Konservatismus hat einen heftigen homophoben
Diskurs begonnen.

Im Kampf gegen diesen Angriff, gegen die
Kandidatur von Bolsonaro brachte die auf einer Facebook-Seite gestartete
Bewegung #elenão („er nicht“) feministische Kämpferinnen, Unabhängige,
Hausfrauen, Männer in Brasilien und in der Welt zusammen. Millionen von
Menschen sind auf die Straße gegangen, um #elenão zu sagen! Es war die größte
Frauenbewegung in der Geschichte Brasiliens. Die Reaktion auf die Bewegung war
eine Reihe von neuen Angriffen auf FeministInnen. Gewalttaten gegen Militante,
Frauen und Schwule nahmen während der Wahlperiode zu, insbesondere zwischen den
Wahlgängen.

Frage: Welche Verschlechterungen, welche Angriffe drohen unter Bolsonaro auf die Frauen und LGBT+-Menschen gegenüber der bisherigen Situation?

Nach seinem Amtsantritt
im Januar 2019 ernannte Jair Bolsonaro in der Mehrheit Männer zu Ministern. Von
den 22 Ministerien stehen nur zwei unter der Leitung von Frauen: die
Landwirtschaft, angeführt von einer rechtsextremen Vertreterin des
Agrobusiness, aus der DEM-Partei (Democratas, Demokratinnen), und das neu
gegründete Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte, dessen
evangelikale Ministerin einen fundamentalistischen Diskurs gegen Abtreibung
führt und in der politischen Szene mit absurden Aussagen, vor allem gegen
Schulen und LehrerInnen, für große Kontroversen sorgt.

Mit einem Diskurs, der an
Wahnsinn grenzt, setzt sie reaktionäre und ultra-konservative Ausrufezeichen,
akzeptiert keine Geschlechterfragen und will Sara Winter dem Frauensekretariat
voranstellen. Sara Winter, die sagt, sie sei ex-feministisch, brach mit dem
Feminismus und gründete die Gruppe FEMEN in Brasilien, die von der sonstigen
Frauenbewegung abgesondert agierte. Sie führte harte Angriffe auf feministische
Bewegungen mit haltlosen Beschuldigungen und verteidigt ultrakonservative
Positionen in der Frauenpolitik.

Wir leben in einem Moment
der Angriffe an mehreren Fronten. Im Kongress werden wir durch Versuche, Rechte
wie die seit 1945 garantierte Abtreibung in Fällen von Anenzephalie,
Vergewaltigung und unsicheren Schwangerschaften zu beseitigen, attackiert.
Schon früher wurden wir immer wieder in Alarmbereitschaft versetzt wie im Falle
eines Gesetzentwurfs des ehemaligen Abgeordneten Eduardo Cunha (PdMDB, Partei
der Demokratischen Bewegung Brasiliens).

Anfang Februar dieses
Jahres präsentierte der Kongressabgeordnete Marcio Lambre von der PSL
(Sozialliberale Partei Bolsonaros) zwei Gesetze, die unsere Rechte direkt
angreifen. Ein Gesetzentwurf sieht ein Abtreibungsverbot unter allen Umständen
und während der gesamten Schwangerschaft vor, außer wenn ein hohes Risiko für
die schwangere Frau besteht, wobei die Bestrafung von ÄrztInnen einschließlich
der Aberkennung ihrer Approbation vorgesehen ist. Das andere Projekt sieht das
Verbot der Vermarktung und des Vertriebs von Verhütungsmitteln, der Pille am
nächsten Tag, der Spirale mit Strafe für AnwenderInnen und Herstellerfirmen
vor. Nach harter Kritik zog der Abgeordnete das Verhütungsprojekt zurück und
wurde darüber informiert, dass Abtreibung wegen Vergewaltigung, Todesgefahr und
Anenzephalie im Strafgesetzbuch durch Beschluss des Bundesgerichtshofs
vorgesehen ist. Er werde den Vorschlag entsprechend ändern, es bliebe aber sein
Ziel, das Voranschreiten der Möglichkeiten der Abtreibung in Brasilien
zurückzudrehen.

Die Regierung Bolsonaro
hat außerdem gerade dem Kongress den Vorschlag zur „Reform der sozialen
Sicherheit“ (des Versicherungssystems der Sozialrenten) übermittelt. Dieser
Vorschlag ist nicht nur ein harter Angriff auf die Arbeit„nehmer“Innen im
Allgemeinen, sondern bedeutet auch größere Verluste für Frauen, insbesondere
für Landarbeiterinnen.

Frage: Hat Gewalt gegen Frauen weiter zugenommen?

Die Gewalt gegen Frauen
in Brasilien erreicht absurd hohe Zahlen: 606 Überfälle, 135 Vergewaltigungen
und 12 Morde pro Tag. Alle 2 Minuten werden in Brasilien 5 Frauen geschlagen.
Das sind aktuelle Zahlen, aber sie zeigen nicht die Realität, weil viele Frauen
Gewalt nicht anprangern.

In Brasilien, einem Land
mit hohem Macho-Anteil, haben wir jetzt einen semifaschistischen Präsidenten,
der immer gewalttätige Reden gegen Frauen gehalten, sie als minderwertig
eingestuft hat und argumentiert, dass Frauen weniger verdienen sollten als
Männer, weil er sagt, „sie werden schwanger“. Bolsonaro wurde verurteilt, um
Entschädigung an die Kongressabgeordnete Maria do Rosário Nunes der PT zu
zahlen, weil er sie in den Gängen des Repräsentantenhauses verbal angegriffen
hat. Er sagte dort, er würde sie nicht vergewaltigen, weil sie es nicht
verdient hätte, da sie zu hässlich sei.

Frage: Wie entwickelte sich die Frauenbewegung in den letzten Jahren?

Die Frauenbewegung wuchs
während der PT-Regierungen. Kollektive im Zusammenhang mit dem „Weltweiten
Marsch der Frauen“, dem Marsch der Margeriten – Bewegung der Bäuerinnen
(Landfrauen der Felder, Wälder und Gewässer) –, Kollektive linker Parteien wie
PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterinnenpartei), PSOL (Partei für
Sozialismus und Freiheit), PCB (Brasilianische Kommunistische Partei;
moskautreu auch nach 1956).  Dies
erweiterte auch die Diskussion und Organisation von Frauen in CUT und PT.
Kampagnen zur Verteidigung der Legalisierung von Abtreibungen haben
Unterstützung von männlichen Sektoren erhalten. Der Feminismus gewann an Stärke
und wuchs auf den Straßen. Mit der Wahl von Trump folgte die feministische
Bewegung in Brasilien dem weltweiten Aufruf, der im Marsch gegen Trump
gestartet wurde. Gewerkschaftliche Agenden wurden in die 8.-März-Tage
aufgenommen. Die Frauenbewegung und -organisation ist zu einem Hindernis für
Konservative geworden und belästigt die Macho-Gesellschaft.

Die Frauenbewegung begann
mit dem Putsch, der Dilma Rousseff stürzte, unsicherer zu werden. Die Angriffe
wuchsen, der Diskurs gegen den Feminismus gewann die sozialen Netzwerke und die
evangelikalen Gruppen zusammen mit den Kirchen trugen noch mehr zu diesem
Angriff bei.

Frage: Wie kann Widerstand erfolgreich sein? Welche Politik ist dazu nötig?

Was die Kämpfe der Frauen
gegen diese Angriffe betrifft, so haben wir seit den Wahlen noch nicht viel
Mobilisierung erlebt. Die Erwartung ist, dass nach dem Karneval die Bewegung
wächst. Der Internationale Frauenstreik, der hier von mehreren Gruppen gegen
die Reform des Sozialversicherungssystems gewendet wurde, wird für den 8. März
vorbereitet. Die Mobilisierung in unserer Region ist allerdings schwach. Der 8.
März fällt mit der Karnevalswoche zusammen, was es sehr schwierig macht, zu
handeln.  Hier in Juiz de Fora
kamen die Kollektive zusammen, um die 8M-Kämpfe zu organisieren, aber es gab
einen Bruch. PCB, PSOL und PSTU brachen mit den Kollektiven, die mit dem
„Weltweiten Marsch der Frauen“ und der PT verbunden waren. Sie machen getrennte
Aktionen.

In diesem Moment schwerer
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse, insbesondere auf Frauen, müssen wir uns
mit einer antisexistischen und klassenorientierten Agenda organisieren, um die
Aktionen gegen die Reform der sozialen Sicherheit zu verstärken und dieser
illegitimen und semifaschistischen Regierung zu begegnen.

Wir werden weiterhin für
unsere Rechte kämpfen, gegen die Reform der sozialen Sicherheit, für die
Entkriminalisierung der Abtreibung, für ein Ende von Gewalt und Frauenmord!




Bolsonaro an der Macht

Max Fleischer, REVOLUTION, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 7, März 2019

Letztes Jahr hat Brasilien gewählt. Im Januar wurde Jair Bolsonaro als Präsident Brasiliens vereidigt. Damit steht fest, dass Brasilien die nächsten Jahre von Sexismus, Rassismus, Homophobie und Neoliberalismus regiert werden wird. Bolsonaro, seines Zeichens Ex-Militär und vehementer Kämpfer für die Militärdiktatur, steht wie kein Zweiter für Neoliberalismus und Unterdrückung. Darüber hinaus sind seine Reden durchsetzt von widerlichem, hasserfülltem Vokabular. Er hetzt gegen alles, was nicht dem normativen Familienbild entspricht: „Ich hätte lieber, dass mein Sohn bei einem Autounfall stirbt, als dass er sich als homosexuell outet“, sagte er 2011 in einem Interview des brasilianischen „Playboy“. Auch von Gewerkschafter_Innen und linken Aktivist_Innen hat er keine hohe Meinung. So sagte er 2018: „Wenn diese Leute hier bleiben wollen, müssen sie sich unserem Recht beugen. Oder sie verlassen das Land oder gehen ins Gefängnis. Diese roten Typen werden aus unserem Vaterland verbannt.“

Wie konnte das passieren?

Im Zuge der
Weltwirtschaftskrise 2007/08 wurden durch den Internationalen Währungsfonds
(IWF) extreme Angriffe auf die Arbeiter_Innenklasse gefahren. Alle
Brasilianer_Innen mussten Kürzungen der sozialstaatlichen Mechanismen wie
Kranken- und Rentenversicherungen über sich ergehen lassen sowie Erhöhungen von
Sozialbeiträgen.

Doch das konnte nicht
helfen: Brasilien, ehemals aufstrebende Halbkolonie, ist krisengeschüttelt und
hoch verschuldet. Die Politik der Partido dos Trabalhadores (Arbeiter_Innenpartei;
im Folgenden: PT) wurde 2006 von der Bevölkerung gewählt in der Hoffnung auf
eine bessere Zukunft. Diese wurde jedoch enttäuscht. Als regierende Partei
schloss sie sich dem neoliberalen Kurs an, der durch den Internationalen
Währungsfonds, kapitalgeile Investor_Innen und die Bourgeoisie vorangetrieben
wurde. So war sie dafür verantwortlich, dass die Anti-Terror-Gesetze eingeführt
wurden, dass mehr und mehr Menschen verarmen und, vor allem in den Favelas
(Slums), die Leute ein Gefühl der Unsicherheit verspüren.

 Doch das reichte nicht, um Brasilien aus der Krise zu holen.
Die brasilianische Bourgeoisie brauchte jemanden, der härtere Maßnahmen gegen
die Arbeiter_Innenklasse durchsetzte. Denn diese ließ die Kürzungen nicht unkommentiert
stehen. Mit Protesten, massiven Mobilisierungen, Generalstreiks und Besetzungen
von beispielsweise Schulen sowie Universitäten versuchten Arbeiter_Innenklasse,
Jugendliche und Landlosenbewegung, sich zu wehren. Als Antwort auf die
Unfähigkeit der PT-Regierung die Proteste niederzuschlagen, wurde nach einem
Korruptionsskandal, der vielmehr Vorwand für einen verfassungsmäßigen Putsch lieferte,
Temer als Übergangspräsident eingesetzt. Bei den letzten Wahlen konnte sich
dann Bolsonaro durchsetzen, der sich nicht nur positiv auf die Militärdiktatur
bezieht, sondern sich auch von Schlägertupps auf den Straßen unterstützen
lässt.

Das lag daran, dass in dieser
Zeit ein Rechtsruck durch die brasilianische Gesellschaft gegangen ist. So
wurden die Mittelschichten durch die andauernd schlechte wirtschaftliche
Situation von Bolsonaros populistischer Hetze angezogen, während die PT nicht
mit ihrem Spitzenkandidaten Lula antreten konnte und bereits durch ihre
vorherige Politik an der Regierung Wähler_Innen aus der Arbeiter_Innenklasse
verloren hatte.

Bolsonaros Programm

Auf seiner Agenda für die
kommende Zeit stehen zahlreiche arbeiter_Innenfeindliche Punkte und seine
Aufgabe besteht darin, die Interessen der brasilianischen Bourgeoisie und
ausländischen Investor_Innen durchzusetzen. So hat er als eine seiner ersten
Amtshandlungen den Mindestlohn gekürzt und plant, den Regenwald für
Agrarflächen freizugeben ohne Rücksicht auf die indigene Bevölkerung oder
Umwelt. Neben der Schließung des Kultusministeriums sind zahlreiche
Entlassungen in Ministerien geplant, besonders wenn die Angestellten nicht auf
seiner politischen Linie stehen. Auch die
Stärkung der Befugnisse der Polizei, beispielsweise bis hin zu direkten
Exekutionen bei Kriminellen ohne vorheriges Gerichtsverfahren, gehört zu seinen
Vorhaben.

Zusätzlich sind seine Pläne
für ganz Brasilien durchsetzt von Hass auf alle Andersdenkenden, ein
Rückschritt für den Kampf um Gleichberechtigung, eine Katastrophe für die
Umwelt und die letzten Indigenen in Brasilien und ein Schlag ins Gesicht für
alle emanzipatorischen Kräfte.

Situation von Frauen

Diese Angriffe werden nun alle Arbeiter_Innen zu spüren
bekommen. Am stärksten davon betroffen werden jedoch die sozial unterdrückten
Gruppen sein. Dabei war die Situation für Frauen in Brasilien schon vor
Bolsonaro schwierig. So erhalten nach einer Studie des
Bundesarbeitsministeriums von 2006 Frauen 19 % weniger Lohn bei gleicher
Arbeit und Qualifizierung. Daneben wird die Erwerbstätigkeit der Frauen immer
noch als zweitrangig gegenüber Männern betrachtet. Trotz des gleichen
Arbeitsvolumens leisten Frauen im Schnitt zusätzlich 28 Stunden häusliche
Arbeit pro Woche im Gegensatz zu nur 10 Stunden bei Männern laut Ipea (Institut
für Angewandte Wirtschaftsforschung). Die geschlechterspezifische
Arbeitsteilung ist nach wie vor stark verankert: So müssen Frauen nach wie vor
einen Hauptteil in der Kinderbetreuung oder der Pflege von kranken
Familienmitgliedern übernehmen. Hinzu kommt, dass Kindergartenplätze Mangelware
sind und Ganztagsschulen nur für Reiche existieren.

Diese Problematik wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern.
Denn hier kommen gerade Bolsonaros Verbündete ins Spiel. Obwohl Brasilien immer als Bastion des Katholizismus galt, ist bald ein
Drittel der brasilianischen Gesellschaft evangelikal. Diese Kirche hat eine
riesige Geldmenge zur Verfügung, welche sie im eigenen Interesse nutzt. Nicht
nur dass sie über ein riesiges Medienimperium herrscht mit einem eigenen
Fernsehsender sowie zahlreichen TV-Prediger_Innen, auch unterstützt sie
Bolsonaro argumentativ und sitzen ihre Anhänger_Innen im neu gewählten
Parlament. So fordern sie beispielsweise rigorose Abtreibungsverbote, selbst
bei Vergewaltigungen. Bolsonaro unterstützen die christlichen, evangelikalen
Fundamentalist_Innen ebenso wie Trump, da beide die bürgerlich normative
Familienvorstellung wieder in den Vordergrund rücken wollen.

Doch das ist nicht alles.
Besonders Gewalt gegenüber Frauen ist in Brasilien ein großes Problem. Laut
Statistik wird alle 15 Sekunden in Brasilien eine Frau im eigenen Familienkreis
misshandelt. Ipea geht davon aus, dass jährlich mehr als 527.000 versuchte
Vergewaltigungen geschehen. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weitaus höher
liegen. So wurde erst 2009 Vergewaltigung als Straftatbestand gesetzlich
eingeführt. Davor wurde sie lediglich als eine „Missachtung der Familienehre“
bewertet. Auch die gezielte Tötung von
Frauen aufgrund ihres Geschlechtes, auch Femizid genannt, ist ein großes
Problem. 2013 wurden knapp 13 Frauen am Tag getötet, großteils von
Familienangehörigen oder Ex-Partnern. Zwar wurde 2015 dann ein Gesetz zu
Femiziden verabschiedet, welches eine starke Erhöhung des Strafmaßes bei
häuslicher Gewalt beinhaltet. Es ist aber unter Bolsonaro damit zu rechnen,
dass sich die Gewalt gegenüber Frauen verschärft und die bestehenden Reglungen
aufgeweicht werden.

Angriffe auf LGBTIAs

Ein großer Dorn im Auge sind dem Staatspräsidenten alle
Menschen, die nicht den bürgerlichen, heterosexuellen Idealen entsprechen.
LGBTIA-Menschen sind seit einiger Zeit wieder stärker von Aggressionen und
Gewalt, verbal sowie körperlich, betroffen. Seit den Wahlen hat sich die
Unsicherheit weiter verschärft. Die 2010 gesetzlich verankerte Gleichstellung
von homosexuellen Partner_Innenschaften wird aktuell von Bolsonaro und seinen
Evangelikal_Innen permanent bombardiert. Daneben läuft eine Hetzkampagne gegen
das Adoptionsrecht von Paaren, die eben nicht dem bürgerlich normativen
Idealbild entsprechen. Als die Regierung und Rousseff Pläne vorstellten, in
denen sexuelle Orientierungen sowie Genderfragen als Teil des Unterrichts
eingeführt werden sollten, warf Bolsonaro der Regierung vor, die Gesellschaft
„homosexualisieren“ zu wollen. Auf der Agenda der neuen Regierung steht eine
Umarbeitung der Lehrpläne. Es sollen jegliche Genderthemen sowie Sexualkunde
gestrichen werden, um die Schule vermeintlich als „neutralen Ort des Lernens“
darzustellen. Im vergangenen Jahr wurden laut Schätzungen 300 LGBTIA-Menschen
in Brasilien getötet, wobei auch hier eine höhere Dunkelziffer angesetzt werden
dürfte. Kurz nach dem ersten Wahlgang wurde die LGBTIA-Kämpferin und
brasilienweit bekannte Transgenderkünstlerin Aretha Sadick verbal angegriffen.
Nur zwei Tage später, wenige Straßen weiter wurde eine 25-jährige Transfrau
brutal ermordet. Augenzeugen berichteten von Männern, die laut
schwulenfeindliche Parolen brüllten und „Bolsonaro“ riefen. Die Angst innerhalb
der LGBTIA-Community wächst ständig und die Gewalt hat, seitdem Bolsonaro zur
Wahl angetreten ist, dramatisch zugenommen. 2017
gab es sogar einen richterlichen Beschluss, welcher Homosexualität als
Krankheit darstellt und es Psycholog_Innen erlaubt, Homosexuelle zu
therapieren.

Wie gegen Bolsonaro kämpfen?

Nur eine kämpferische Linke kann die Angriffe Bolsonaros und
seiner Regierung abwenden. Die fortschrittlichen Teile der Klasse sind jetzt
dazu angehalten, sich gemeinsam zu organisieren und dem ekelhaften Bolsonaro
einen Riegel vorzuschieben. Dazu brauchen wir
eine kämpferische Einheitsfront aller linken Kräfte, die sich auf die
Arbeiter_Innenbewegung stützen. Das bedeutet, dass man auch die PT und die CUT
(Arbeiter_Inneneinheitskongress), den brasilianischen Dachverband der
Gewerkschaften, klar auffordern und zwingen muss, sich zu beteiligen.
Denn nur wenn alle linken Kräfte zusammenarbeiten, kann die
Arbeiter_Innenklasse die kommende Katastrophe abwenden.

Alle linken Gruppen, Gewerkschaften und Organisationen der
Klasse sind dazu angehalten, ihre Kräfte zu bündeln und gemeinsam zu streiken
bis hin zum Generalstreik, der die gesamte Wirtschaft des Landes lahmlegt. Dazu
braucht es koordinierte Organe, die die Selbstverteidigung organisieren und die
Bevölkerung bewaffnen. Das ist die einzige Möglichkeit, um wirklich alle
Unterdrückten zu befreien, um Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern
herzustellen und das tradierte, auf ekligen Vorstellungen basierende
Ausbeutersystem zu stürzen. Darüber hinaus
muss klar sein: Der Kampf um Befreiung ist international! Auch bei uns
müssen die Leute solidarisch auf die Straßen gehen. Arbeiter_Innen
multinationaler Konzerne, die die brasilianische Regierung stützen, müssen ihre
Arbeit niederlegen. Der Rechtsruck ist international und kann auch nur so
bekämpft werden. Wenn die weltweite Linke das nicht tut, werden bald nicht nur
in Brasilien die Anschläge auf LGBTIA-Menschen massiv zunehmen, werden Frauen immer
stärker in ihre alte Rolle zurückgedrängt und alle Andersfarbigen widerlicher
Hetze ausgesetzt sein. Nur wir können das Erstarken der Rechten verhindern!

Solidarität mit allen Brasilianer_Innen, nieder mit
Bolsonaro! Nur eine geeinte Arbeiter_Innenbewegung hat die Macht, sich und die
sozial Unterdrückten zu befreien und wahre Gleichberechtigung herzustellen.