Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Die Juli-Tage

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 5, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vier Monate nach dem Sturz des Zaren hatten die ArbeiterInnen wenig vorzuweisen. Die Inflation stieg steil an, während die Handelsbilanz und der Wert des Rubels abstürzten. Aus Angst vor dem neuen Selbstvertrauen und der Schlagkraft der Fabrikarbeiter begannen die Unternehmer, die Fabriken zu schließen. Die Metall-Erzeugung fiel um 40%, die Produktion in der Textilindustrie um 20% – obwohl die Unternehmer von ihren ArbeiterInnen noch größere Anstrengungen für den Krieg forderten.

Die Nahrungsmittel wurden knapp – Ende Juni blieben für Petrograd noch Mehlrationen für nur 15 Tage. Am 15. Juli wurden die Butter- und Fleischrationen gekürzt. In ganz Russland fragten sich die Massen: Haben wir dafür den Zaren vertrieben?

Worin bestand die Antwort der Regierung Kerenski? Trotzki beschrieb sie als „organisierte Unentschlossenheit“. Inzwischen sammelte sich auch der Adel, so dass er am I. Juli imstande war, in Moskau einen „Allrussischen Kongress der Landbesitzer“ zu organisieren.

Auch die Kriegsanstrengungen versagten – die Mehrzahl der Soldaten hatte den Krieg satt. Russland verlor gegenüber Deutschland an Boden.

In striktem Gegensatz zur zaudernden Provisorischen Regierung stand die Macht des Wyborg-Bezirks von Petrograd. In diesem großen Industrieviertel gab es kaum Menschewiki oder Sozialrevolutionäre, die ArbeiterInnen waren entweder Bolschewiki oder unentschieden. In diesem Bezirk lag die Kaserne des 1. Maschinengewehrregiments – mit 10.000 Soldaten und etwa 1.000 MGs. Hier gab es die größte Ungeduld, was die Situation betraf.

Am 18. Juni marschierten 500.000 ArbeiterInnen durch die Straßen Petrograds. Sie waren aufgerufen worden, um zum ersten Allrussischen Sowjetkongress zu kommen. Die Sowjetführer sahen jedoch verblüfft, dass die Menge mehrheitlich bolschewistische Losungen rief: „Alle Macht den Sowjets! Nieder mit den zehn kapitalistischen Ministern!“

Für Lenin und die Bolschewiki bedeute die Losung „Alle Macht den Sowjets!“ nach dem April 1917 nicht einen Aufruf zum Aufstand. Es war eine Losung, die darauf abzielte, die Massen, die damals noch eine Zusammenarbeit von Sowjet und Provisorischer Regierung unterstützte, für die Perspektive der Rätemacht zu gewinnen. Es war eine Aufforderung an die „sozialistischen“ Minister, ihre Koalition mit den kapitalistischen Politikern zu brechen und eine Arbeiter- und Bauernregierung zu bilden.

Der Brennpunkt dieser Taktik lag im Sowjet selbst. So wie die Dinge standen, tat seine Führung alles, um die Doppelmacht und die Kriegsbemühungen aufrecht zu erhalten. Er wurde von der Mehrheit der Soldaten und Arbeiter als ihre Führung angesehen. Trotz des Verrats seiner Führer repräsentierte er die einzige wirkliche Macht im Land. Deswegen warnten die Bolschewiki, als sie bei den ArbeiterInnen das Verlangen nach dem Aufstand am 18. Juni spürten, vor der Gefahr, isoliert zu werden, Sie forderten die ArbeiterInnen der Putilow-Werke, die für den 21.Juni einen Streik planten, dringend auf, „ihren berechtigten Unmut zu zügeln“.

Der Streik wurde vertagt, aber die nächsten zwei Wochen brachten keine Atempause. Die ArbeiterInnen verlangten stürmisch nach einer Antwort. Die Petrograder Garnison war in andauernder Gärung – aber eine Gefahr tauchte auf: Ein Aufstand in Petrograd würde Schritt für Schritt zerschlagen werden, wenn er nicht in der Lage wäre, Unterstützung aus den Provinzen und von der Front heranzuziehen.

In dieser Situation schrieb Lenin: „Wir verstehen eure Bitterkeit, wir verstehen die Aufgebrachtheit der Petrograder Arbeiter, aber wir sagen zu ihnen: Genossen, ein unmittelbarer Angriff wäre unklug.“

Die gesamte Baltische Flotte, die in Helsingfors stationiert war, befand sich in Aufruhr. Dort, mehr als sonst irgendwo, erkannten die Bolschewiki die Notwendigkeit, die Flut noch zurückzuhalten. Sie sahen sich jedoch durch die Ereignisse gezwungen, sich auf eine Explosion, für die sich täglich mehr Pulver anhäufte, vorzubereiten.

Der Auslöser für die Eskalation in den Juli-Tagen war der Rücktritt von vier Ministern der Konstitutionellen Demokraten. Sie fühlten, dass die Regierung nicht genug unternommen hatte, um die wachsende Macht der Massen zu zügeln, und hofften, mit ihrem Rücktritt die „Kompromißler“ innerhalb der Provisorischen Regierung zu einem Zusammenstoß mit den Arbeitern provozieren zu können, um so ihre eigene Lage zu erleichtern.

Diesen hitzigen Moment beschrieb Trotzki so: „Die Arbeiter und Soldaten waren der Ansicht, dass alle anderen Fragen – die der Löhne, des Brotpreises und ob es notwendig sei, an der Front für wer weiß was zu sterben – von der Frage abhingen, wer das Land in Zukunft regieren sollte, die Bourgeoisie oder ihr eigener Sowjet.“

Sie konnten sich daran erinnern, dass in der Vergangenheit Aktionen von unten ihnen den Erfolg gesichert hatten.

Am 3. Juli entschied sich das 1. Maschinengewehrregiment für eine bewaffnete Demonstration. Die Anarchisten schürten noch das Feuer. Es war an der Zeit, den „unentschlossenen“ Bolschewiki von unten her einen Anstoß zu versetzen. Die russische Polizei und deutsche Agenten versuchten ebenso, eine Aktion zu provozieren.

Aber weder Provokateure noch die Anarchisten hätten die Juli-Tage verursachen können, wären die fortgeschrittensten ArbeiterInnen nicht vor Ungeduld fast geplatzt. Sie hatten aus den vier Monaten an Entbehrungen gelernt, dass eine Rätemacht notwendig war; sie mussten sich aber die Taktik, die sie – zusammen mit dem Rest der Arbeiterklasse und der Soldaten an der Front – ermögliche konnte, erst noch aneignen. Die Haltung der MG-Schützen und der radikalisierten Arbeiter wurde von Soldaten des 108. Reserveregiments zum Ausdruck gebracht, als sie einem bolschewistischen Arbeiter entgegen schrieen:

„Schlaft ihr denn im Kschesinkaja-Palast (dem Hauptquartier der Bolschewiki)? Vorwärts, schmeißen wir Kerenski hinaus!“

Die unglaublichsten Szenen folgten. Barrikaden wurden errichtet. Lastwagen wurden von den Fabriken verlangt, mit Maschinengewehren bestückt und zur Demonstration geschickt. Gewehre und Handgranaten wurden an die verteilt, die keine besaßen. Die Demonstration sollte in einer voll militärischen Weise stattfinden. Ein Arbeiter der Renaud-Fabrik drückte damals seine Gefühle so aus: „Nach dem Abendessen kam eine Anzahl von Maschinengewehrschützen angerannt mit der Forderung, wir sollten ihnen einige Lastwagen geben. Trotz unserer Gruppe (der Bolschewiki) mußten wir ihnen die Wagen überlassen (…) Sie beluden die Lastwagen sofort mit Maxim-MGs und fuhren mit ihnen zum Newski-Boulevard hinunter. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir die Arbeiter nicht mehr zurückhalten (…) Sie stürmten alle, so wie sie in ihren Overalls waren, direkt von den Werkbänken hinaus.“

Am 4. Juli bekamen die MG-Schützen die Nachricht, dass sie an die Front als Teil der neuen Offensive, die die Entente verlangte, mobilisiert würden. Das war für die MG-Abteilung, die sich dafür entschied, nicht an die Front gegen das deutsche Proletariat, sondern stattdessen gegen ihre eigenen kapitalistischen Minister auszurücken, untragbar. Um 7 Uhr war die Stadt lahm gelegt. Mit jeder Fabrik, die in den Streik trat, stieß auch eine Abteilung bewaffneter Roter Garden zur Demonstration.

Alle DemonstrantInnen waren Arbeiter und Soldaten. Auf ihren Transparenten war zu lesen: “Alle Macht den Sowjets!“ Alle waren bewaffnet. Überall hielten die Arbeiter Versammlungen ab.

Die Forderungen des Zuges spiegelten das gewachsene Bewusstsein der ArbeiterInnen wider: „Weg mit den zehn kapitalistischen Ministern!“, „Alle Macht den Sowjets!“, „Einstellung der Kriegsoffensive!“, „Konfiszierung der Druckereien der bürgerlichren Presse!“, „Alles Land in Staatseigentum!“ und „Staatliche Kontrolle der Produktion!“.

Bis dahin hatten die Bolschewiki ihr Äußerstes getan, um die spontane Erhebung zurückzuhalten.

Noch um 3 Uhr Nachts am 4. Juli schickte eine Konferenz der Petrograder Sektionen der Bolschewiki Delegierte aus, um zur „Zurückhaltung“ aufzurufen. Erst, als die Bewegung nicht mehr zu stoppen war, musste das Zentralkomitee seine Linie revidieren, indem es bolschewistische Agitatoren ausschickte, um zu versuchen, den ziellosen Zorn der Soldaten und Streikenden gegen das Exekutivkomitee des Sowjets im Taurischen Palais zu leiten. Die bewaffneten DemonstrantInnen strömten die Hauptverkehrsader der Hauptstadt, den Newski-Prospekt, hinunter.

Dann jedoch gingen regierungstreue Truppen zum Gegenangriff über. Eine Panik brach aus. Allerorten begann die Regierung nach Waffen zu suchen und zu ihrer Verteidigung und der des Exekutivkomitees des Sowjets wurden Kavallerie, Infanterie und Panzerwagen von der Front zurückbeordert, um  die Arbeiter niederzuwerfen.

Bei Anbruch der Nacht begannen die ArbeiterInnen, langsam in ihre Bezirke zurückzukehren, obwohl einige Gruppen von pro-bolschewistischen Soldaten noch standzuhalten versuchten. Die Bolschewiki riefen zu einer Beendigung der Aktion auf. Schließlich nahmen Regierungstruppen das bolschewistische Hauptquartier im Kschesinskaja-Palast und die Peter-Paul-Festung, die von den Aufständischen überrannt worden war, ein. Die Juli-Tage endeten in einer Niederlage.

Am nächsten Tag kehrten die ArbeiterInnen wieder an die Arbeit zurück. Sie berichteten, dass ihre Hände vor Aufregung zitterten und ihnen an der Drehbank nicht gehorchten.

Das Ergebnis war ein gewaltiger Umschwung von links nach rechts unter den Arbeitern. Innerhalb weniger Tage füllten sich die Gefängnisse mit politischen Gefangenen. In der Nacht vom 4. zum 5. Juli stürmten Regierungstruppen die Gebäude des bolschewistischen Zentralkomitees und Politbüros, die Druckpresse, für die die ArbeiterInnen drei Monate lang gespart hatten, wurde zerstört und die „Prawda“ geschlossen.

Schließlich wurde fast die gesamte Führungsschicht der Partei während des Monats Juli und des Großteils des August aktionsunfähig gemacht. Jedoch auch die mittleren und unteren Kader litten an einer ernsthaften Erschöpfung. Der Bericht des Politischen Komitees stellte für den Juli fest, dass die Partei kaum dazu imstande sei, Agitation unter den Massen zu betreiben.

Die Regierung begann, jene ArbeiterInnen und militärischen Einheiten, die an der Aktion teilgenommen hatten, zu entwaffnen und führte die Todesstrafe für jeglichen Akt von Befehlsverweigerung an der Front wieder ein – ein Akt von immenser symbolischer Bedeutung für die Arbeiter. Schlimmer als all dies war jedoch die Tatsache, dass das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets jedem dieser Schritte zustimmte!

Warum nahmen die Bolschewiki dann an der Demonstration teil, obwohl sie doch erwartet hatten, dass sie in einer Miederlage endet? Sie argumentierten, dass es korrekt gewesen sei, mitzudemonstrieren – denn, wenn sie behaupteten, die Partei der Massen zu sein, dann hatten sie auch mit ihr zu sein. Die Partei musste den Massen helfen, aus ihren eigenen Aktionen zu lernen und die Opfer dieses Lernprozesses so gering wie möglich zu halten. Wären die Bolschewiki nicht mit dabei gewesen, dann wäre die Führung in die Hände der Anarchisten übergegangen und die Verluste wären noch größer und noch blutiger gewesen.

Warum aber argumentierte die Partei dann gegen die Machtergreifung von dieser Position aus? Trotzki erklärte mit Bezug auf den Oktober: „Als die Bolschewiki im Oktober sich entschieden hatten, daß ihre Stunde nun gekommen sei, kamen die schwierigsten Tage erst nach der Machtergreifung. Es erfordert die höchste Kräfteanspannung der Arbeiterklasse, um die zahllosen Angriffe des Feindes auszuhalten. Im Juli besaßen nicht einmal die Petrograder Arbeiter diese Vorbereitung auf einen endlosen Kampf. Obwohl fähig, die Macht zu ergreifen, boten sie diese dem Exekutivkomitee nichtsdestoweniger an.

Das Proletariat der Hauptstadt, obwohl es in seiner überwältigenden Mehrheit den Bolschewiki zuneigte, hatte noch immer nicht die Nabelschnur des Februars, die es mit den Kompromißlern verband, zerschnitten. Viele hegten noch die Illusion, man könne alles mit Worten und Demonstrationen erreichen, d.h. indem man die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre erschreckte, konnte man sie dazu bringen, mit den Bolschewiki zusammen eine gemeinsame Politik auszuführen. Auch die fortgeschrittenen Sektionen der Klasse besaßen noch keine klare Idee davon, auf welchen Wegen es möglich wäre, zur Macht zu gelangen.“

Wenn schon die Arbeiter unvorbereitet waren, so waren es die Bauern erst recht. Die Soldaten waren ebenfalls weniger radikalisiert als die Arbeiter – nicht verwunderlich, denn die meisten von ihnen stammten aus der Bauernschaft. Dazu kommt noch, dass Moskau diesbezüglich unvergleichlich schwächer war als Petrograd.

Es muss gesagt werden, dass die Regierung versuchte, den Bolschewiki die Schuld an den Juli-Tagen zu geben, indem sie behauptete, dass die Bewegung ein geplanter Aufstandsversuch gewesen sei. Man weiß natürlich, dass dies nicht stimmte; aber diese Lüge wäre viel schwieriger zu widerlegen gewesen, wenn die Militäroffensive gerade zum Zeitpunkt der Ereignisse zusammengebrochen wäre und nicht erst einige Tage später.

Die Bolschewiki hatten recht, zu warten – und sie waren dabei nicht müßig, bis die Führung des Sowjets und die Regierung ihre Führungsschwäche offen vor den Massen bloßgelegt hatten.

Was lernten dann die Bolschewiki daraus? Ein Führer der Konstitutionellen Demokraten bemerkte später: „Als technischer Versuch war die Erfahrung (des Juli) für sie zweifelsohne von außergewöhnlichem Wert. Es zeigte ihnen, mit welchen Elementen sie es zu tun hatten, wie sie diese Elemente organisieren sollten und schließlich, welcher Widerstand von der Regierung, dem Sowjet und den Militäreinheiten geleistet werden konnte (…) Es war offensichtlich, daß sie, als die Zeit kam, um das Experiment zu wiederholen, sie es systematischer und bewußter durchführen würden.“

Und die ArbeiterInnen? Ein Brief aus den Geschützwerkstätten der Putilow-Werke drückt ihre Gefühle glänzend aus: „Schaut zuversichtlich auf die schwarzen Schornsteine, die aus dem Boden wachsen. Ihnen zu Füßen leidet und stirbt der Menschenschlag, den ihr braucht, in der Sklaverei perfektionierter und erbarmungsloser Ausbeutung. Dort reift langsam das Bewußtsein. In unseren Herzen hat sich der Haß angehäuft, und die freundlichen Bedingungen eines anderen Lebens, für die ganze Menschheit, sind mit Liebe auf die blutige Fahne geschrieben.“




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Die Bolschewiki: Massenpartei der Arbeiterklasse

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 6, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Die russischen ArbeiterInnen hatten – v.a. in Petrograd – im Juli eine herbe Niederlage erlitten. Die bolschewistische Führung war in Haft oder im Exil. Die Auflage der Parteipresse war nach dem Juli halbiert; das Zentralorgan erschien im August nur in einer Auflage von 5o.ooo. Die Stimmung in den Fabriken war schlecht.

Doch im September und Oktober hatte sich das Blatt entschieden zugunsten der Bolschewiki gewendet. Nach Jahren des Exils oder Untergrunds, nach Monaten eines Daseins als unbeugsame linke Minderheit in den Sowjets und nach den Verfolgungen im Juli hatten sich die Bolschewiki schließlich als Partei der russischen Arbeiterklasse bewiesen. Ihre unbestrittene Führerschaft befähigte sie, das spontane Bewusstsein der Arbeiterklasse in eine bewusste politische Kraft umzuformen. Ihre Methoden, die Führung zu erringen und die reformistische n Hindernisse aus dem Weg zu räumen, sind ein kostbares Vermächtnis für heutige RevolutionärInnen.

Unter Kerenskis Regentschaft mobilisierten weiter die Kräfte der bürgerlichen Konterrevolution. Der Druck von Seiten der Armeeführung verstärkte sich. Der Oberbefehlshaber Brusilow forderte von Kerenski: „Es kann keine Doppelautorität in der Armee geben. Die Armee muß einen Kopf und eine Autorität haben.“ Er forderte die vollständige Wiederherstellung der militärischen Disziplin. Kerenski, dessen eigene Rolle als Möchtegern-Bonaparte auf dem Drahtseilakt zwischen Sowjets und Konterrevolution fußte, wollte Zeit gewinnen, indem er Brusilow entließ und ihn durch Kornilow ersetzte. Kerenski gab diesem Balanceakt Gestalt durch die Einberufung einer „Staatskonferenz“ in Moskau vom 12. bis 15.August. Im Bolschoi-Theater versuchte Kerenski zwischen den gegensätzlichen Kräften – Unternehmern, Offizieren auf der rechten sowie den Sowjetabordnungen von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf der linken Seite – den Starken Mann zu geben. Doch der offene Hass und die Angst zwischen den verschiednen Kräften machte das unmöglich. Letztlich untergrub Kerenski so seine schwache Autorität.

Eine Offensive der Konterrevolution sollte ihm dann den Rest geben. Indem sie sich an Kerenski, Zereteli und Tschernow orientierte, beging die Konterrevolution einen Riesenfehler. Sie glaubte, in diesen ausgelaugten Bankrotteuren den Kräfteschwund und Bankrott der Arbeiterklasse und Revolution zu erblicken. Dieser Fehler sollte sie aber bald teuer zu stehen kommen.

Vor dem Juli hatten sich die Bolschewiki als Führung in mehreren Kampfeinheiten der Arbeiterklasse mit Schlüsselfunktion etabliert. In den Petrograder Stadtratswahlen vom August verzeichneten sie Mehrheiten in den Arbeitervierteln von Peterhof und Wyborg. Ihr Einfluss in den Fabrikkomitees war angewachsen; 82% der Delegierten auf der allrussischen Fabrikkomitee-Konferenz im August unterstützten ihre Forderung nach Sowjetmacht. Die Bolschewiki führten einen Generalstreik in Moskau gegen die Staatskonferenz. Die versöhnlerische Führung des Moskauer Sowjets war gegen diesen Streik. Eine Resolution von jungen Putilower ArbeiterInnen belegt, dass sie nicht bereit waren, ihren Frieden mit der Bourgeoisie oder der provisorischen Regierung zu schließen: „Wir, die Jugend, haben aus der Erfahrung unserer Väter gelernt, wie gefährlich es ist, sich mit der Bourgeoisie zu verbrüdern; wir erklären, daß eine furchtbare Stunde kommen wird, wenn wir, die Jugend, uns zur Rettung der Revolution auf die Straße begeben werden, um mit unseren jungen Händen jene Schmarotzer zu zermalmen, die vom Blut und Schweiß der Fronenden leben. (Wir geben) unserer tiefen Verachtung für die Sozialrevolutionäre und Menschewiki (Ausdruck), die weiterhin mit der Bourgeoisie unter einer Decke stecken und sich von Kerenski und Zereteli an der Nase herumführen lassen.“

Den klassenbewußtesten ArbeiterInnen war offenbar klar, dass weitere Schlachten bevorstanden. Aber nach dem Juli hatten sie gelernt, wie notwendig Disziplin und Organisation sind, dass verfrühte und sporadische Kämpfe zu vermeiden sind. In dieser Situation begann die Bourgeoisie ihre Offensive sowohl gegen die provisorische Regierung wie gegen die Errungenschaften des Proletariats. Die Julitage hatten ihr das Zutrauen eingeflößt, ihren Angriff durchstehen zu können.

Am 22. Juli wurde der rechte General Kornilow zum Oberbefehlshaber ernannt. Er erklärte, dass er nur „seinem Gewissen und dem ganzen Volk“ verantwortlich sei. Auf der Moskauer Staatskonferenz wurde er von Kerenski und den bürgerlichen Ministern als „erster Soldat der Revolution“ umschmeichelt. Kornilows Aufstieg fiel zeitlich zusammen mit dem lauter werdenden Geschrei der Unternehmer nach vollständiger Wiederherstellung ihres Rechts auf Einstellung und Entlassung von Personal, worüber die Fabrikkomitees nun verfügten. Es gab ausgeklügelte Pläne zur Errichtung einer Militärdiktatur, um die Ordnung herzustellen, welche die provisorische Regierung offenkundig nicht herbeizuführen vermochte.

Die Schwäche von Kerenskis Regierung trat klar zutage. Er versuchte, der organisierten Arbeiterschaft einen Schlag zu versetzen. Am 24.August verbot er erneut die bolschewistische Presse. Doch zur selben Zeit bereitete sich die Bourgeoisie darauf vor, ihn und seine Regierung des Amtes zu entheben. Nach dem Juli schien es den Unternehmern, dass sie ganz einfach keine Verwendung mehr für die provisorische Regierung hätten. Wie auf Verabredung traten die bürgerlichen Kadetten aus der Regierung zurück, und General Kornilow kündigte einen Marsch zur Wiederherstellung der Ordnung in der Hauptstadt am 27. August an. Die lange tief stehende Aktienbörse stieg steil an, da die Kapitalisten Zuversicht über den Sieg der Konterrevolution ausstrahlten.

Die Voraussagen der Bolschewiki treffen ein

Alles, was die Bolschewiki über die menschewistischen Versöhnler und Kerenski vorausgesagt hatten, sollte sich durch den Lauf der Ereignisse bewahrheiten. Diese Arbeiterverräter gaben den Kräften der Konterrevolution Gelegenheit, neue Energien zu schöpfen und zurückzuschlagen. Die Partei wurde nun einer Prüfung im Kampf gegen die Konterrevolution unterzogen. Kornilows Marsch auf Petrograd erschütterte die Ordnung, die sich nach den Julitagen in den Fabriken etabliert hatte. Auf Zusammenkünften schworen die ArbeiterInnen, die Stadt zu verteidigen und forderten dafür von der Sowjet-Exekutive Waffen. Die Arbeiter der alten Baranowski-Maschinenbau-Fabrik beschlossen:

„Wir fordern, daß der zentrale Exekutivausschuß (TsIK) den Arbeitern Waffen aushändigt. Die Arbeiter werden ihr Leben nicht schonen und wie ein Mann die gerechte Sache der revolutionären Demokratie verteidigen und werden zusammen mit unseren soldatischen Brüdern eine unpassierbare Schranke gegen die Konterrevolution aufrichten und der Schlange, die es gewagt hat, die große russische Revolution mit ihrem tödlichen Biß zu vergiften, die Giftzähne herausbrechen.“

Tausende Petrograder ArbeiterInnen warfen sich in den Kampf, um Kornilow Einhalt zu gebieten. Mindestens 25.ooo meldeten sich bei den Roten Garden, die vom revolutionären Militärausschuss der Sowjets aufgestellt wurden. Von Putilow wurden 8.000 entsandt, um Verteidigungs- und Agitationsaufgaben zu übernehmen. Die im Werk Verbliebenen erzielten in drei Tagen einen Produktionsausstoß an Kanonen, zu dem sie sonst drei Wochen benötigten, um die Revolution zu verteidigen!

Kerenski hockte ängstlich hinter der proletarischen Mauer, die das rote Petrograd verteidigte – er hatte keine Alternative. Bolschewistische Führer wurden aus dem Gefängnis entlassen, die bolschewistische Presse wurde wieder zugelassen. Bolschewistische Militante befanden sich in vorderster Linie bei allen Mobilisierungen, um Kornilow aufzuhalten. Das Problem der Bolschewiki war, wie man diese Mobilisierungen zu einer Abkehr der Arbeitermassen von ihrem Vertrauen in die Menschewiki und Kerenski nutzen konnte und wie man die Widersprüche zwischen den Menschewiki und den Sozialrevolutionären an der Basis und ihren kompromittierten Führern verschärfen konnte.

Für Lenin lag der Schlüssel dazu in einer „indirekten“ Kampagne gegen Kerenski mit der Forderung nach einem immer aktiveren wahrhaft revolutionären Krieg gegen Kornilow. Die aufgebrachten ArbeiterInnen mussten mobilisiert  werden, um Kerenski mit Teilforderungen unter Druck zu setzen, die die Stimmung und das Selbstbewusstsein an der Basis heben sowie die Schwäche und die Schwankungen ihrer Führungen bloßstellen. Ihre Forderungen mussten die Gefangennahme des Kadettenführers Miljukow und des Duma-Vorsitzenden Rodsjanko, die beide Kornilow unterstützten, enthalten. Enthalten waren auch Forderungen nach Landübergabe an die Bauern sowie die Arbeiterkontrolle über die Fabriken und über die Verteilung von Brot.

Die Bolschewiki forderten auch die Bewaffnung der Petrograder Arbeiter und die Verlegung der militanten Kronstädter, Wyborger und Helsinkier Garnisonen nach Petrograd. Die Arbeiter im Kampf für ihre Forderungen in der revolutionären Verteidigung von Petrograd – das war für Lenin das Mittel, sie politisch voranzubringen. Darum beharrte er darauf, die Forderungen nicht nur Kerenski, sondern v.a. auch den ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern, die durch den Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden waren, vorzulegen. Indem er Kornilow das Recht zum Sturz Kerenskis bestritt, schaufelte Lenin Kerenski und seinen Kompromißlern das politische Grab.

Dazu Lenin: „Wir ändern die Form unseres Kampfes gegen Kerenski. Ohne im mindesten in unserer Feindschaft nachzulassen, ohne ein einziges Wort zurückzunehmen, ohne auf die Aufgabe seines Sturzes zu verzichten, sagen wir, daß die gegenwärtige Lage berücksichtigt werden muß. Wir werden Kerenski nicht auf der Stelle stürzen. Wir werden die Aufgabe des Kampfes gegen ihn auf andere Art anpacken.“

Die Brücke zu den Massen

Diese Kampfmittel gegen Kornilow und Kerenski erwiesen sich als voller Erfolg. Kornilows Vormarsch wurde gestoppt, da seine Armee sich um ihn herum unter dem Druck der bolschewistischen Agitatoren und durch die Sabotage durch die militanten Eisenbahnarbeiter auflöste. Die Lage der Bolschewiki und ihr Einfluss in den Massen verbesserten sich nach der Niederlage Kornilows rasant. Ihre Anwendung der Einheitsfronttaktik, die sich auch an Kerenski und die Menschewiki und nicht nur an die Basis wandte, sicherte den Bolschewiki den Erfolg. Das Ziel war auf die Niederlage Kornilows beschränkt und wurde gerade darum von Tausenden ArbeiterInnen und Soldaten begeistert umgesetzt. Aber durch die Kombination aus Einheit in der Aktion und schonungsloser Kritik an Kerenski und der versöhnlerischen Sowjetführung bewiesen die Bolschewiki den Massen, dass sie die einzige konsequent revolutionäre Kraft waren.

Die Einheitsfront war eine Brücke zu den Massen und eine Waffe gegen die reformistischen Führer. General Kornilows Niederlage durch die Petrograder Arbeiter läutete die letzte Phase der russischen Revolution ein. Die ArbeiterInnen hatten wieder Waffen. Die Roten Garden hatten sich drastisch vergrößert. Ein neuer zuversichtlicher Ton prägte die Fabrikversammlungen überall in der Hauptstadt. Fabrik um Fabrik ersetzte ihre menschewistischen und sozialrevolutionären Sowjetdeputierten durch Bolschewiki. Resolution um Resolution auf den Massenversammlungen Anfang September machte sich die bolschewistische Forderung nach Machtergreifung der Sowjets und die Angriffe auf die Kollaboration der Sowjetführung mit der Kerenski-Regierung zu eigen. Die ArbeiterInnen von Langesiepen brachten dies sehr klar zum Ausdruck: „Wir vermuten, daß die Kornilow-Revolte euch eure schläfrigen Augen geöffnet hat und nun die Lage überblicken läßt, wie sie wirklich ist. Wir erklären, daß ihr lange für uns gesprochen habt, aber nicht unsere Meinung wiedergegeben habt; wir fordern: fangt an, die Sprache des Proletariats zu sprechen, sonst behalten wir uns die Freiheit der Aktion vor.“

Aber Kornilows Putschversuch hatte den Führern der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre nicht die Augen geöffnet, sondern sie sogar noch mehr verkleistert. Kerenski versuchte, seine Macht durch die Einrichtung eines fünfköpfigen Direktoriums zu stärken, aber die Sowjetführung unterstützte ihn weiter für ein Versprechen, ein Vorparlament einzuberufen.

Die Spannung zwischen den Ansprüchen der proletarischen Massen und den Absichten derjenigen, die sie einst als ihre Vertreter delegiert hatten, wuchs dramatisch. Im September nahm der Petrograder Sowjet zum ersten Mal eine eindeutig bolschewistische Entschließung für eine Regierung der „revolutionären Arbeiter- und Bauernschaft“ an. Der menschewistische Gegenantrag zugunsten der provisorischen Regierung konnte nur 15 von 1.ooo Delegiertenstimmen auf sich vereinen! Der Moskauer Sowjet verabschiedete vier Tage später eine bolschewistische Entschließung.

Menschewistische Spaltungen und Instabilität

Die anderen Konkurrenten um die proletarische Führung schrumpften oder waren, wie die Menschewiki, im Niedergang. Die Partei der Sozialrevolutionäre (SR) spaltete sich; ihr linker Flügel unterstützte die Forderung nach Sowjetmacht gegen ihre ehemaligen Führer. Die Mehrheit der Petrograder SR-Organisation stand hinter den Linken, die die Stimmung des roten Petrograd widerspiegelten. Dieser bedeutsame Stimmungsumschwung im Proletariat war geprägt durch die wachsende Identifizierung der aktivsten ArbeiterInnen mit der bolschewistischen Partei.

Die nimmermüde Agitation und Propaganda zur Aufdeckung des Verrats der Sowjetführung begann nun zu fruchten. In Petrograd zählten die Bolschewiki 43.000 Mitglieder, darunter 28.250 ArbeiterInnen und 5.8oo Soldaten. Die überwiegende Mehrheit der Partei war proletarisch. Das Gros der Intellektuellen jedoch ließ das Banner der Arbeiterklasse im Stich, je näher die Stunde der Entscheidung heranrückte. Jene Intellektuellen, die zur Arbeiterklasse hielten, gehörten zur Parteiintelligenz. Ihre Talente stellten sie in den Dienst der proletarischen Partei.

Der rasante Aufstieg der Bolschewiki

Der proletarische Kern der Partei wurde von der Mehrheit der ArbeiterInnen als ihre Vertretung in den Sowjets und Fabrikkomitees gewählt. Die Roten Garden bestanden im Oktober zu 44 % aus Mitgliedern der bolschewistischen Partei. Lenins Vorhutpartei umfasste nun die Massenavantgarde des russischen Proletariats. Der kometengleiche Aufstieg der Partei festigte sich im September und Oktober. Bei den Moskauer Duma-Wahlen holten die Bolschewiki 52 %, während die Menschewiki praktisch ins Nichts abstürzten. Im Oktober hatten die Bolschewiki im Moskauer Sowjet eine Mehrheit von 68 %, Menschewiki und SR kamen nur auf 16 bzw. 4 %. Die Bolschewiki waren zu einer nationalen Partei der gesamten russischen Arbeiterklasse geworden. Im September erlangten sie in Saratow die Mehrheit, in den folgenden Wochen auch in anderen Industriezentren.

Diese Tatsachen, die von bürgerlichen Historikern niemals widerlegt werden konnten, entlarven den Vorwurf, die Bolschewiki hätten als Minderheit über einen Putsch die Macht errungen, als Lüge und Verleumdung. Im Gegenteil: als Mehrheit leiteten sie eine Massenrevolution.

Die Bolschewiki hatten jene Schicht von ArbeiterInnen gewonnen, von der der Großteil des russischen Proletariats die Führung in ihren Kämpfen erwartete. Im Anschluss daran war es Aufgabe der Partei, diese Führungsposition zu nutzen, um zum Schlussangriff überzugehen gegen die Provisorische Regierung und die versöhnlerischen Arbeiterführer, die es sich in den Sesseln der Sowjet-Exekutiven bequem gemacht hatten.

Für jene ArbeiterInnen, die sich in die Partei eingereiht hatten, war es keine Frage, dass die sich verschärfende Krise nur durch die Machtergreifung der Sowjets gelöst werden konnte. Doch selbst nach dem Kornilow-Putsch lehnten die reformistischen Spitzen der Sowjets Lenins Angebot zur loyalen Opposition in den Sowjets im Falle ihrer Machtübernahem ab. So konnte die Machtübernahme durch die Sowjets nur noch in der Form einer von den Bolschewiki organisierten und geführten Machteroberung stattfinden. Eingedenk der Inbesitznahme von Land durch die armen Bauern, der Handlungsunfähigkeit der Kerenski-Regierung und angesichts der veränderten Stimmungslage in den  Sowjets beschloß die 3. Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki Anfang Oktober, dass der entscheidende Augenblick zum Handeln gekommen war. Die versammelten Abgeordneten der Arbeiterführung des roten Petrograd erklärten: „All diese Umstände machen klar, dass der Augenblick für die letzte Entscheidungsschlacht, die über das Schicksal nicht nur der russischen, sondern sogar der Weltrevolution bestimmen muß, da ist.“

Erinnerungen an den Juli

Zwischen der bolschewistischen Vorhut und der Masse der ArbeiterInnen bestand eine letzte Differenz. Die Mehrheit war für Sowjetmacht. In Petrograd stimmte lediglich eine einzige Fabrik-Massenversammlung gegen die Forderung, daß der bevorstehende 2. Allrussische Sowjjetdeputierten-Kongress die Macht übernehmen solle. Dieser Streit war entschieden.

Aber noch war nur eine Minderheit der ArbeiterInnen, vornehmlich jüngere, bereit zu einem „offenen Vorgehen,“ um das Ziel zu erreichen. Die Erinnerung an den Juli war noch lebendig. Ein Rotgardist aus der Petrograder Rohrfabrik beschrieb seine böse Vorahnung, als sein Kommando die letzte Nacht vor der Revolution in der Fabrik zubrachte: „Aber mir war nicht nach Schlafen zumute. Viele Gedanken schwirrten mir im Kopf herum; vieles, was jetzt so klar ist, verstand ich noch nicht. Die Julitage standen mir noch zu lebhaft vor Augen. Das Gezisch der kleinbürgerlichen Menge erschütterte meine Gewißheit.“

Seit Juli hatte aber eine einschneidende Verschiebung im Kräfteverhältnis der Klassen stattgefunden. In den anderen Industriezentren herrschte inzwischen auch die Stimmung von Petrograd vor. Auch die Bauernschaft regte sich. Die Bolschewiki erkannten dies und waren bereit, jetzt den entscheidenden den Kampf um die Macht zu führen. Alle Bedingungen für die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse waren vorhanden.

In dieser Situation konnte nur ein entschiedener Vorstoß der Vorhut den Massen die von der Mehrheit ersehnte entscheidende Auseinandersetzung herbeiführen, auch wenn viele davor zurückschreckten. Lazis, der Organisator des Wyborg-ßezirks, drückte dies treffend aus: „Der organisierte Apparat muß beim Vorstoß die vorderste Linie bilden; die Massen werden folgen. Es ist ganz anders als früher.“

Die Bolschewiki hatten im Juli gelernt, dass der Aufstand nicht nach dem Muster der bürgerlichen Revolution von 1789 in Frankreich ablaufen konnte, wo sich die große Masse des Volkes wie ein Mann gegen das alte Regime erhob. In der modernen kapitalistischen Gesellschaft bedarf die Kunst des Aufstands einer überaus sorgfältigen Planung. Die technische Vorbereitung muss sich an die politische Vorbereitung anschließen. Mit der Eroberung der Massen waren die Bolschewiki verpflichtet, die zum Sieg im Aufstand nötige geheime Vorbereitungsarbeit aufzunehmen. Die Partei musste die Waffen für den Aufstand schmieden. Trotzki bemerkte dazu: „Genau wie ein Schmied nicht das glühende Eisen mit der bloßen Hand ergreifen kann, so kann das Proletariat nicht direkt die Macht ergreifen; es muß über eine Organisation verfügen, die dieser Aufgabe angemessen ist. Die Koordination des Massenaufstands mit der Verschwörung zum Aufstand sowie die Organisation der Aufstände durch die Verschwörung bilden jenen vielschichtigen und verantwortungsvollen Teil revolutionärer Politik, den Marx und Engels ‚die Kunst des Aufstands‘ nannten. Sie setzt eine korrekte allgemeine Führung der Massen, eine wendige Orientierung unter sich wandelnden Bedingungen, einen durchdachten Angriffsplan, Vorsicht bei der technischen Vorbereitung und einen wagemutigen Schlag voraus.“

Die Führung des Proletariats hatten die Bolschewiki errungen – nun bereiteten sie sich darauf vor, diesen „wagemutigen Schlag“ zu führen und die Staatsmacht für die Sowjets zu erobern. Am 22. Oktober kamen die Petrograder ArbeiterInnen auf einer Reihe von Veranstaltungen zusammen, um den „Tag des Petrograder Sowjets“zu feiern. Arbeiter aus der Partei sprachen auf Versammlungen in Fabrikhallen, um Provokation und Konfrontation zu vermeiden. 30.000 wohnten einer Veranstaltung im zentralen Volkshaus bei, auf der Trotzki die Zuhörerschaft mit der Forderung, die Revolution bis zum Ende zu führen, elektrisierte. Ein Sozialrevolutionär beschrieb, dass auf Fabrikversammlungen jener Zeit „unsere Reden zum Scheitern verurteilt schienen.“ Der Menschewist Suchanow verließ das Volkshaus ganz benommen: „Außergewöhnlich schweren Herzens beobachtete ich diese wahrhaft majestätische Szenerie. In ganz Petrograd spielte sich dasselbe ab. Überall letzte Rückblicke und Schwüre. Streng genommen war das schon der Aufstand. Er hatte bereits begonnen.“

Diejenigen, die  die Brücken, Postämter und Bahnhöfe einnehmen und die die Provisorische Regierung gefangen nehmen sollten, wussten: die Masse der ArbeiterInnen stand hinter ihnen. Dies flößte den Bolschewiki das Vertrauen und den Mut zum Handeln und die Siegesgewissheit ein.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Lenins Kampf für den Aufstand

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 7, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Der Oktoberaufstand, der den ArbeiterInnen und den armen Bauern die Macht in die Hand gab, war kein historischer Zufall. Er ergab sich aus zwei für den Sieg jeder proletarischen Revolution ausschlaggebenden Faktoren.

Er entstand unvermeidbar aus der sich verschärfenden Krise im Herbst 1917. Die Februarrevolution, die den Zaren gestürzt hatte, führte zu einer instabile Periode der Doppelherrschaft. Die Bourgeoisie hatte mittels der provisorischen Regierung die formale Kontrolle über den Staatsapparat, aber nur, weil die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets es ihr erlaubten. Die Bourgeoisie lebte, atmete und versuchte zu regieren dank der reformistischen Sowjetführer, den Menschewiki und dem rechten Flügel der sich auf die Bauern stützenden Sozialrevolutionäre.

Im Lauf der Monate wurde die Situation der Doppelherrschaft immer unannehmbarer sowohl für die Kapitalisten wie für die arbeitenden Massen. Dies verursachte Krise auf Krise. So oder so musste die Frage gelöst werden. Entweder würde die Bourgeoisie einen zweiten Kornilow in Marsch setzen, um die Revolution zu zermalmen, oder das Proletariat würde die Gesellschaft aus der Sackgasse führen – durch die Errichtung seiner Herrschaft.

Im Herbst 1917 waren dies die Alternativen für die Klassen in Russland. Es war die objektive Voraussetzung für den Aufstand. Trotzki bemerkte dazu später: „Eine Massenerhebung ist kein isoliertes Unterfangen, das dann heraufbeschworen werden kann, wenn es einem passt. Sie verkörpert ein objektiv bedingtes Element in der Entwicklung einer Revolution, wie die Revolution einen objektiv bedingten Prozeß in der Entwicklung der Gesellschaft darstellt.“

Die Geschichte hat jedoch allzu oft gezeigt, dass günstige objektive Voraussetzungen wie eine zugespitzte revolutionäre Krise nicht allein eine Sieggarantie für das Proletariat sind. Dies hat sich mit tragischem Ausgang in Chile, Portugal oder im Iran erwiesen. Zur Mobilisierung der Arbeiterklasse für den direkten Kampf um die Macht und zum Zusammenschweißen in ein Kampforgan, das den bürgerlichen Staat zerstören kann, bedarf es einer bewussten Führung, eines subjektiven Faktors.

Der Oktoberaufstand bewies, dass die revolutionäre Partei, bewaffnet mit korrektem Programm, Taktik und Strategie und bereit, auch sich und die Klasse mit Gewehren auszurüsten, eine unverzichtbare Vorbedingung für den Sieg ist.

Unmittelbar nach der Kornilow-Episode glaubte Lenin, dass ein friedlicher Verlauf der Revolution wieder möglich sei. In seinem Artikel „Über Kompromisse“ erklärte er, falls „Alle Macht den Sowjets!“ unverzüglich verwirklicht werden könnte, d.h. falls die menschewistischen und SR-Führer in den Sowjets durch den Druck der Massen zum Bruch mit der Bourgeoisie gezwungen werden könnten, dann: „könnte [das] mit größter Wahrscheinlichkeit eine friedliche Vorwärtsentwicklung der ganzen russischen Revolution gewährleisten und außerordentlich viel dazu beitragen, daß die internationale Bewegung für den Frieden und den Sieg des Sozialismus große Fortschritte macht.“

Die geringe Chance zu diesem Kompromiss lag darin, dass die ArbeiterInnen der Bourgeoisie nach dem Kornilow-Putsch aufs Äußerste misstrauten. Ihr Druck war ein handfester Faktor. Er konnte vielleicht bis zu einem Punkt ausgedehnt werden, wo Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu einem zumindest formalen Bruch mit der Hauptpartei der Kapitalisten, den Kadetten, gezwungen sein würden.

Loyale Opposition wird abgelehnt

Doch noch ehe die Tinte seines Artikels getrocknet war, erfuhr Lenin, dass Kerenski vorhatte, sein fünfköpfiges Direktorium zu bilden und so seinem Drang nach Errichtung einer bonapartistischen Diktatur für die Bourgeoisie zu verstärken. Sogar jetzt weigerten sich Menschewiki und SR, den Vorschlag für eine rein „sozialistische“ Regierung, die sich auf die Sowjets stützt, zu erwägen. Darin würden die Bolschewiki die Rolle einer loyalen Opposition akzeptieren. Nach Erhalt dieser Nachricht schlug Lenin die Umbenennung des Artikels in „Nachträgliche Gedanken“ vor. Er schrieb: „Die wenigen Tage, in deren Verlauf eine friedliche Entwicklung noch möglich war, sind wohl auch schon vorbei. Ja, als allem ist ersichtlich, daß sie schon vorbei sind.“

Von da an konzentrierte Lenin seine Gedanken darauf, wie die Revolution unter bolschewistischer Führung voranzutreiben sei. Binnen 14 Tagen schloss er, dass der Aufstand eine unmittelbare Notwendigkeit war. Während der folgenden Wochen focht Lenin einen schonungslosen Kampf, um die Bolschewiki für diese Perspektive zu gewinnen. Er erfasste rasch, dass sich die objektive Lage binnen Wochenfrist dramatisch verändert hatte. Er kämpfte deshalb darum, die Partei entsprechend zu verändern und den subjektiven Faktor den objektiven Aufgaben anzupassen.

Die Krise der Doppelherrschaft vertiefte sich im September und Oktober immer mehr. Auf dem Land nahmen die Bauernmassen ihren grimmigen Krieg gegen die Landbesitzer wieder auf. Die Landfrage, von Trotzki „Untergrund der Revolution“ genannt, erhielt ausschlaggebende Bedeutung. Traditionell sahen die Bauern in den Sozialrevolutionären ihre Vertreter. Doch diese arbeiteten offen mit den Landbesitzern zusammen. Die provisorische Regierung, deren fester Bestandteil die SR waren, erklärte im September, als die Fälle von Gewalt gegen Grundbesitzer von 440 im August auf 958 anstiegen, dass: „jedermann alarmiert sein muss wegen der überall in den wildesten Formen herrschenden Unordnung.“

Um die Mistgabeln in den vollgefressenen Bäuchen der Grundeigentümer sorgten sich die SR weit mehr als um den riesigen Landhunger unter den Bauernmassen. Den Bauern konnten die Sozialrevolutionäre nur zu einem unbestimmten Zeitpunkt eine von der Bourgeoisie erfolgreich verhinderte konstituierende Versammlung anbieten, die dann die Landfrage lösen würde.

Unbeeindruckt davon setzten die Bauern ihren Landkrieg fort. Im Oktober fanden 42,1 % der Landbesetzungen seit dem Sturz des Zaren statt.

Natürliche BundesgenossInnen

Der von den Sozialrevolutionären verschmähte und von der Bourgeoisie bekämpfte bäuerliche Landkrieg hatte einen natürlichen Bundesgenossen im revolutionären Kampf der Arbeiterklasse gefunden. Das wiederum bestärkte das Proletariat als Führer aller Geknechteten in Russland ungeheuer. Trotzki sagte: „Damit der Bauer sein Land bebauen und einfrieden kann, muss der Arbeiter an der Spitze des Staates stehen: das ist die einfachste Formel für die Oktoberrevolution.“

Der Landkrieg und der Kampf des Proletariats wurden zunehmend verwoben mit einer Welle von Kämpfen um Autonomie der im Zarenreich gefangenen Nationalitäten. Im Osten kämpften BaschkirInnen und KasachInnen um Autonomie als ein Mittel, Land zu erhalten. Überall im Reich brachen nationale Kämpfe aus und richteten sich gegen Kerenskis entschlusslose Provisorische Regierung. Außerdem zeigte die unglaubliche Verbreitung von Sowjets in den Nationalitäten zusehends, dass Autonomie mit Sowjetmacht identifiziert wurde.

Die Fortsetzung des Krieges und die Gefahr einer Hungersnot steigerten unter den Soldaten, Seeleuten und ArbeiterInnen die Feindseligkeit gegen Kerenski. Die Ostseeflotte war von den Bolschewiki dominiert. Garnison um Garnison folgte ihnen. Die Sowjets wiesen allmählich immer klarere Mehrheiten für die Bolschewiki auf, als sich die Krise verschärfte. Der Prozess der Radikalisierung begann Anfang September. Als einige Bolschewiki Lenins „Über Kompromisse“ zu Gesicht bekamen, zeigten sie sich empört darüber, dass ein rechter Kurs eingeschlagen werden sollte. Slutzki vom Petrograder Komitee meinte am 7. September: „In den Fabriken und auch unter den armen Bauern beobachten wir eine Bewegung nach links (…) Wenn wir jetzt Kompromisse in Erwägung ziehen, ist das lächerlich. Keine Kompromisse! (…) Unsere Aufgabe ist die Klärung unserer Position und die bedingungslose Vorbereitung auf den militärischen Zusammenstoß.“

Doch Lenin selbst kam bald zu derselben Schlussfolgerung. Die Krise war ausgereift. Eine Verzögerung würde sich als unheilvoll erweisen. Die Bolschewiki mussten den Aufstand vorbereiten.

Lenins Ansichten wurden dem Zentralkomitee(ZK) in einer Reihe von Briefen übermittelt und am 15. September erörtert. Lenin legte dar, dass die kommende demokratische Konferenz, zu der die Bolschewiki eine starke Delegation entsenden wollten, nicht das anstehende Problem lösen würde: die Regierungsfrage. Er meinte, dass Menschewiki und SR die Konferenz schwerpunktmäßig auf das Kleinbürgertum ausrichten würden. Sie würde die Bauern und ArbeiterInnen täuschen.

Zur selben Zeit wuchs die Autorität des Bolschewismus stetig. Lenin schrieb:

„Wir haben die Chance eines sicheren Sieges, denn das Volk ist schon fast erschöpft, und nachdem wir ihm die Bedeutsamkeit unserer Führung in den Kornilow-Tagen gezeigt haben und den Block-Mitgliedern einen Kompromiss angeboten haben, den diese dann abgelehnt haben in einer Situation von seither andauernden Hin und Her, dann eröffnen wir dem ganzen Volk einen sicheren Ausweg.“

Dieser Ausweg war eine bolschewistische Regierung, die nur amtieren konnte, wenn die reformistische Führung und der gesamte bürgerliche Staatsapparat hinweggefegt sein würden. Alle Anstrengungen der Bolschewiki sollten auf die Fabriken und Kasernen, nicht auf die demokratische Konferenz angelegt sein. Lenin argumentierte, dass die demokratische Konferenz vor die Wahl gestellt werden sollte, entweder das bolschewistische Programm voll zu akzeptieren, anderenfalls würde es einen Aufstand geben.

In Erwartung von Opposition aus den eigenen Reihen eröffnete er die Auseinandersetzung mit den wankelmütigen Elementen durch die Erklärung, dass diese im „Lager der Zauderer“ gelassen werden sollten. Lenins neuer Kurs traf das ZK wie eine Bombe. Kopien der Briefe wurden vernichtet, aus Angst, sie könnten nach außen gelangen. In dieser Phase war niemand für eine sofortige Erhebung. Die Planungen der Bolschewiki für die demokratische Konferenz waren entlang der politischen Linie, wie sie in „Über Kompromisse“ dargelegt worden war, gelaufen.

Die Erklärung für die Konferenz rief die Versöhnler zum Bruch mit der Bourgeoisie und zur Übergabe der Macht an die Sowjets auf. Sie wandte sich mit einer Reihe von Forderungen an die Versöhnler, aber nicht, wie Lenin es wollte, in Form eines Ultimatums.

Stimmen für die Koalition

Die am 14. September eröffnete demokratische Konferenz war auch dazu bestimmt, mehr eigene Parteigenossen für Lenins Position zu gewinnen. Lenin sollte mit seinen Bedenken über die Zusammensetzung der Konferenz richtig liegen. Der Delegiertenschlüssel war sorgsam ausgeklügelt; die Bolschewiki, die schon die Mehrheit in den Sowjets errungen hatten, befanden sich am Eröffnungstag in einer verschwindenden Minderheit: 532 Sozialrevolutionäre (unter ihnen 71 Linke), 530  Menschewiki (davon nur 56 Internationalisten) und nur 134 Bolschewiki. Die Arbeiterklasse war damit klar unterrepräsentiert.

In dieser Zusammensetzung stimmte die Konferenz erwartungsgemäß für eine weitere Koalition der Sowjetparteien mit den Kadetten, die noch wenige Wochen zuvor Hand in Hand mit Kornilow gearbeitet hatten. Die Konferenz setzte sich fort mit der Einrichtung eines Rates, einem Vorparlament, das nur ein  Beratungsorgan für die Provisorische Regierung sein sollte.

Diese Erfahrung überzeugte Trotzki und Swerdlow, dass die Losung „Alle Macht den Sowjets“ nun nur noch gegen die Versöhnler zu verwirklichen war. Für sie wurde sie zur Aufstandslosung. In der Mitte der Konferenz näherten sie sich sichtlich Lenins Position.

Der Streit über den Aufstand wurde jetzt in Form der Frage ausgetragen, ob die Bolschewiki das Vorparlament boykottieren sollten. Trotzki war für einen solchen Boykott und trat dafür im ZK ein. Er erhielt 9 gegen 8 Stimmen, doch die Knappheit des Resultats legte es dem ZK nahe, die bolschewistische Konferenzdelegation zu befragen. Die Delegation repräsentierte stärker die Regional- und Stadtkomitees als die Parteibasis. Sie tendierten nach rechts. Zu Trotzkis und Lenins Verärgerung stimmten sie mit 77 bei 5o Gegenstimmen für eine Teilnahme am Vorparlament. Lenin schrieb: „Trotzki war für den Boykott. Bravo, Genosse Trotzki! Diese Position wurde in der bolschewistischen Gruppe auf der demokratischen Konferenz niedergestimmt. Lang lebe der Boykott. Wir können und dürfen uns unter keinen Umständen mit der Teilnahme abfinden (…) Es besteht nicht der leiseste Zweifel, dass es bemerkenswerten Wankelmut mit möglicherweise verheerenden Folgen an unserer Parteispitze gibt.”

Trotzdem wendete sich das Blatt in der bolschewistischen Partei zu Lenins Gunsten. Seine Briefe waren auch weiteren Parteikreisen bekannt geworden. Frische Kräfte von der proletarischen Parteibasis schalteten sich in die Diskussion ein und gaben Lenins Linie Rückendeckung. Seine Ungeduld, auch seine Drohung, aus dem ZK zurückzutreten, trug Früchte. Den ersten Sieg errang er, als das ZK am 5. Oktober doch noch beschloss, das zahnlose Vorparlament zu boykottieren. Das kündigte die bolschewistische Überzeugung an, dass die Zukunft der Revolution nun ausschließlich im Kampf um die Sowjetmacht lag.

Trotzki schrieb: „Wir verließen die Konferenz, um zu sagen, dass nur die Sowjetmacht die Losung des Friedens aufstellen und über die Köpfe der internationalen Bourgeoisie hinweg dem Proletariat der ganzen Welt zurufen kann. Lang lebe der direkte und offene Kampf für die revolutionäre Macht im Land.“

Dieser Auszug aus dem Vorparlament erhielt nahezu einhellige Zustimmung durch Resolutionen aus Fabriken aus ganz Russland. Es war das Zeichen, dass das Proletariat genug hatte vom Gemauschel ihrer Führer mit Kerenski und der Bourgeoisie. Jetzt war es Zeit für einen völligen Umschwung gekommen.

Eine neue Dimension

Am 10. Oktober trat das ZK erneut zusammen, um Lenins Positionen zu beraten. Diesmal kam er in seiner Verkleidung (laut Kollontai sah er aus wie ein evangelischer Geistlicher) und nahm teil, obwohl er Gefahr lief, von Kerenskis Polizei verhaftet zu werden. Lenins Resolution fügte seiner Einschätzung der Situation eine neue Dimension hinzu: eine Erhebung in Russland könnte einen europaweiten Aufruhr entfachen.

Lenin hielt die Nachricht von Unzufriedenheit unter den Matrosen der deutschen Flotte für so wichtig, dass er seine Resolution wie folgt begann: „Die internationale Lage, wie sie die russische Revolution betrifft“. Dieser Aspekt an Lenins Strategie ist später von den Stalinisten, deren Lehre vom „Sozialismus in einem Land“ einem wesentlichen Element von Lenins Marxismus widerspricht, systematisch heruntergespielt worden.

Lenins Resolution gelangte zur Abstimmung und es war klar, dass die Scheidelinie die beiden Positionen teilen würde, die das Schicksal der Revolution durch einen Aufstand in naher Zukunft lösen wollte oder die einen Aufschub des Aufstandes und die Anerkennung der „Oppositionsrolle“ in einem demokratischen (d.h. kapitalistischen) Russland wollte. Die Resolution war klar: „In der Erkenntnis, dass ein bewaffneter Aufstand unvermeidbar und die Zeit dafür absolut reif ist, weist das Zentralkomitee alle Parteigliederungen an, sich entsprechend zu verhalten und alle praktischen Fragen von diesem Standpunkt aus zu entscheiden.“

Die Resolution wurde mit 10 zu 2 Stimmen angenommen. Die Gegenstimmen kamen von zwei engen Vertrauten Lenins: von Sinowjew und Kamenew. Beide waren vom ersten Tag an, an dem Lenin den Aufstand befürwortete, bis zum schicksalhaften Tag selbst dagegen. Besonders Kamenew stand ständig auf dem rechten Parteiflügel und hatte sich nie wirklich mit Lenins Aprilthesen abgefunden. Bis in den August hinein versuchte er, die Brücke zur 2. Internationale zu schlagen, indem er sich offen für die Teilnahme an einer beantragten reformistischen Friedenskonferenz in Stockholm aussprach. Das war ein offener Bruch mit der abgestimmten bolschewistischen Politik gegen eine Teilnahme.

Nach Kornilows Putschversuch stürzte sich Kamenew auf Lenins „Über Kompromisse“ und schickte sich an, ihn äußerst rechts und konstitutionalistisch zu interpretieren. Als Lenin den Kurs änderte und für einen Aufstand eintrat, bezeugen die ZK-Protokolle folgenden Antrag Kamenews:

„Nach der Befassung mit Lenins Briefen weist das ZK deren praktische Vorschläge zurück, ruft alle Organisationen auf, sich allein an die Weisungen des ZK zu halten und bekräftigt abermals, dass das ZK jede Art von Demonstration in den Straßen für unstatthaft ansieht.“

Dieser Antrag wurde vom ZK abgelehnt, das Lenins Vorschläge noch nicht rundheraus verwerfen wollte.

Ängste

Kamenew nutzte die Angst aus, die „Zuckung des Zweifels“, wie Trotzki sie nannte, die sich in der Partei seit der Juli-Niederlage ausgebreitet hatte. Dadurch hatte Kamenew mehr Rückhalt als vor dem Juli. Vor allem nahm er Sinowjew für sich ein.

Sinowjew hing an der Idee, dass mit der Niederlage Kornilows Lenins Perspektive einer friedlichen Entwicklung zu „Alle Macht den Sowjets“ zeitlose Gültigkeit erhalten hatte. Im Fall, dass der bevorstehende 2. Nationalkongress der Sowjets stattfand, was beileibe nicht sicher war, würde der Einfluss des Bolschewismus immer mehr wachsen. Sinowjews Gradualismus, der sich mehr auf das politische Leben in den Sowjets orientierte als bei Kamenew, drückte sich in einem Artikel vom 27. September aus: „Nach unserer Meinung ist der am 20. Oktober beginnende Sowjetkongress die allmächtige Autorität über das russische Land. Wenn der Kongress zusammentritt, und falls es dazu kommt, wird die Erfahrung mit der neuen Koalition (unter Kerenski) gescheitert sein und zaudernde Elemente werden sich schließlich unserer Losung „Alle Macht den Sowjets“ anschließen. Von Tag zu Tag werden wir stärker werden.“ In dieser Perspektive werden tragende Entscheidungen dem Zufall oder Schicksal überlassen.

Einwände gegen den Aufstand

Sinowjew und Kamenew meinten, unterstützt von anderen prominenten Bolschewiki wie Nogin, Rykow und Rjasanow, dass Lenins Forderung nach einem Aufstand zu früh käme. Die Zeit wäre nicht reif dafür. Die Massen wären vermutlich noch nicht bereit. Besonders Kamenew glaubte, dass eine Koalition aus Sowjetparteien einschließlich Bolschewiki (was Lenin heftig befehdete) aus der demokratischen Konferenz entstehen könnte. Während Trotzki in jeder Wortmeldung bei der Konferenz auf die Notwendigkeit der Sowjetmacht pochte, meinte Kamenew: „Der einzig gangbare Weg besteht darin, dass die Staatsmacht in Demokratie übergeht, nicht in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sondern in jene Demokratie, die hier bestens vertreten ist. Wir müssen eine neue Regierung und eine Institution schaffen, der jene Regierung verantwortlich sein muss.“

Auf einer Konferenzpräsidiumssitzung fuhr er fort, die Menschewiki und SR des bolschewistischen Beistands für eine Regierung zu versichern, die ein „homogenes demokratisches Kabinett“ wäre. Er sagte: „Wir werden eine solche Regierung nicht stürzen. Wir werden sie insoweit unterstützen, wie sie eine rein demokratische Politik verfolgt und das Land zu einer konstituierenden Versammlung hinführt.“

„Unterstützung insoweit“ lautete die alte verrottete Formel, die er und Stalin im März verwendet hatten und gegen die Lenins Aprilthesen zielten. Auf der demokratischen Konferenz tauchte sie wieder auf. Selbst die Schlappe dieser Konferenz und des Vorparlaments konnte Kamenew nicht davon abbringen. Er sperrte sich bis zuletzt gegen einen Boykott.

Die entscheidende Auseinandersetzung mit Lenin und Trotzki kam eine Woche nach dem historischen Treffen vom 1o. Oktober. Eine stark erweiterte ZK-Sitzung fand am 16. Oktober unter Teilnahme auch von Vertretern verschiedener Komitees statt. Dort zeigte sich, dass die schwankenden Elemente eine starke Strömung in der Partei verkörperten. Obwohl Lenins Resolution für einen Aufstand erneut angenommen wurde (19 gegen 2 Stimmen), wurde ein Antrag von Sinowjew, bis zum 2. Sowjetkongreß zu warten, nur mit 15 gegen 6 abgelehnt. Bedenkt man, dass die Einberufung des Kongresses gar nicht sicher war, zeigte diese – Lenin schroff entgegenstehende – Resolution das Ausmaß des Rückhalts für Sinowjew. Diese Kräfte waren nur für einen Aufstand im abstrakten Sinne. Angesehene Persönlichkeiten wie Kalinin sprachen vom Aufstand wie von einem fernen Ereignis. Aber die Würfel waren dennoch gefallen.

Sinowjew und Kamenew verrieten angesichts dieses Beschlusses die Partei. Sie verbreiteten unverzüglich unter den Parteimitgliedern ein Schreiben gegen den Beschluss. Das enthüllte mehr denn je den opportunistischen Kern ihrer Perspektive. Sie fragten, ob Russland reif sei für den Aufstand und erwiderten: „Nein, tausendmal nein!“

Sie setzten all ihre Hoffnungen auf die „ausgezeichneten“ Chancen der Bolschewiki, die größte oppositionelle Kraft in der Konstituante zu werden. Sie argumentierten wie der Reformist Hilferding einige Jahre später, dass Sowjetmacht und bürgerliche Demokratie miteinander verbunden werden sollten: „Auch die konstituierende Versammlung kann sich nur auf die Sowjets in der revolutionären Arbeit verlassen. Die konstituierende Versammlung plus Sowjets, das ist der Mischtypus staatlicher Institution, auf die wir zusteuern.“

In der Konsequenz taten sie die Krise, die Russland überflutet hatte, als etwas ab, das eine noch einzuberufende konstituierende Versammlung lösen könnte. Trotzki schrieb später, dass diese Perspektive auf „schicksalsergebenem Optimismus“ beruhte, der „der Arbeitervorhut Hände und Füße bindet und sie mit Hilfe der ‚demokratischen‘ Staatsmaschinerie zu einem oppositionellen Schatten der Bourgeoisie namens Sozialdemokratie macht.“

Ihre Gegnerschaft zum Aufstand konnte noch als Fehler erklärt werden, und ihre Kampagne zur Rücknahme des Beschlusses vom 16. Oktober war ein Verstoß gegen den demokratischen Zentralismus; ihr nächster Schritt allerdings war, wie Lenin sagte, Streikbruch.

In einem Artikel für Gorkis unabhängige Zeitung „Nowaja Shisn“ erklärte Kamenew öffentlich seine Opposition gegen den ZK-Beschluss zum Aufstand – obwohl dieser Beschluss aus offenkundigen Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht worden war. Kamenew gab also Kerenski praktisch eine Vorankündigung des Plans der Bolschewiki.

Streikbrecher

Lenin war entschlossen, den Kampf gegen die unsicheren Elemente, die nun zu Streikbrechern geworden waren, auszufechten. Sinowjew hatte Kamenews Verrat beigepflichtet und wurde daher von Lenin als mitverantwortlich gebrandmarkt. Lenin beantragte ihren Parteiausschluss und schrieb: „Es ist nicht leicht für mich, dies über Leute zu schreiben, die einst vertraute Genossen waren, aber ein Zögern würde mir hier wie ein Verbrechen vorkommen, denn eine Partei von Revolutionären, die nicht prominente Streikbrecher bestraft, würde untergehen.“

Das ist eine Lehre für alle RevolutionärInnen heute. Die Partei hatte Kurs auf den Aufstand genommen. Die Entscheidung darüber war demokratisch gefallen. Sinowjew und Kamenew hatten ihre Argumente vorgetragen und verloren. Daraufhin haben sie die Partei verraten. Für Lenin konnte an diesem Punkt der Kampf gegen den Wankelmut nicht auf halbem Weg stehen bleiben, nur weil diese Männer Freunde und Genossen waren. Das Gut der Revolution, der Wille zum Sieg forderte ihren Ausschluss.

Am Ende wurden sie aber doch nicht ausgeschlossen. Stalin veröffentlichte sogar zu dieser Angelegenheit eine redaktionelle Notiz, worin er Lenins Ton kritisierte und sich mit Sinowjew solidarisierte. Aber mit ihrer Aktion zerstörten Sinowjew und Kamenew die Aussicht, den Parteibeschluss umzustoßen.

Danach drängte Lenin, der immer ungeduldiger wurde, darauf, den Angriff zu unternehmen. Am Vorabend der Revolution, an dem er jeden Aufschub als mögliche neue Unschlüssigkeit interpretierte, sagte er über das ZK: „Ich versteh sie nicht. Wovor haben sie Angst (…) Man frage sie, ob sie hundert treue Soldaten oder Rotgardisten mit Gewehren haben. Mehr brauche ich nicht.“

Tatsächlich hatte er gewonnen. Die Verzögerungen Ende Oktober waren eher technisch als durch politische Schwierigkeiten bedingt. Als er dann – ohne ZK-Erlaubnis – am Spätabend des 24. Oktober im Hauptquartier Smolny ankam, standen die Dinge gut. Lenin hatte den entscheidenden subjektiven Faktor, die revolutionäre bolschewistische Partei auf die Höhe der Aufgaben und des Potentials der objektiven Situation gebracht.




Russland auf dem Weg zum Roten Oktober – Der Oktoberaufstand

Workers Power, Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution, Kapitel 8, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Trotzki und Swerdlow vervollkommneten die Taktik zur proletarischen Machtergreifung, zu der Lenin die Partei drängte. Dieses Mittel sollte ein bewaffneter Aufstand sein, der durch den Revolutionären Militärausschuss (RMA) organisiert werden sollte. Zeitlich sollte er mit dem 2. Sowjetkongress zusammenfallen und diesem die Macht übertragen. Der harte Kampf Lenins und der Parteibasis sollten nun Früchte tragen.

Lenin bevorzugte eine Erhebung, die durch den Sowjetkongress in der Nordregion Mitte Oktober geführt werden sollte. Seine Ungeduld verleitete ihn jedoch zur Unterschätzung der Aufgabe der Vorbereitung des Aufstands. Seine Hauptverbündeten gegen die Unschlüssigen, Trotzki, Swerdlow, Antonow-Owsejenko, Bubnow und Sokolnikow, waren in der Frage, wann und wo der Aufstand durchzuführen sei, anderer Meinung.

Während Lenin die Stimmung der ArbeiterInnen für einen Aufstand gespürt hatte und danach handelte, begriffen diese GenossInnen, die in engerem Kontakt zu allen Teilen der Massen standen, die Umstände, unter denen die Massen einen Aufstand wirklich unterstützen würden.

Von Anfang an war es ihr Plan, die Macht dem 2. Allrussischen Sowjetkongress zu übertragen. Dies sollte durch einen Aufstand zur Verteidigung dieses Kongresses geschehen – gegen den Versuch der provisorischen Regierung, den Kongress  und somit die Revolution zu zerschlagen.

Der 16. Oktober zeigte die Richtigkeit ihres Vorgehens. Durch die Unterminierung von Kerenskis Autorität und militärischer Macht bis zum Wochenende des 21.//22. Oktober schufen sie die Voraussetzungen für einen sicheren Sieg am 24./25. Oktober.

Es war klar, dass die Massen die Sowjetmacht wollten. Swerdlow und Trotzki waren mit ihrer Kampagne, die Sowjets für den Kampf um die Macht zu vereinigen, so erfolgreich, dass Lenin die Korrektheit ihrer Linie anerkennen musste. Die ersten Schüsse in der Aufstandskampagne wurden während der Garnisonskrise, die am 9. Oktober begann, abgefeuert. Kerenski versuchte, den Hauptteil der Garnison aus Petrograd abzuziehen, weil dieser fast vollständig zu den Bolschewiki übergelaufen war.

Dieser Schachzug, der richtigerweise als Mittel zur Vorbereitung einer Konterrevolution beargwöhnt wurde, stieß auf Empörung. Auf einem Treffen des Egerski-Wachregiments wurde folgendes beschlossen: „Der Abzug der revolutionären Garnison aus Petrograd wird nur vom privilegierten Bürgertum als Mittel zur Erstickung der Revolution gebraucht.“ Das Treffen gipfelte in der Forderung nach Sowjetmacht.

Während der nächsten Woche nutzten die Bolschewiki diese Krise aus, um den Revolutionären Militärausschuss der Sowjets zu bilden. Seine Aufgabe war es, die Revolution zu verteidigen. Der RMA war mit Bolschewiki, linken SR und Anarchisten besetzt. Als sich die Krise aber zuspitzte, wurde ihre Leitung durch die Bolschewiki, v.a. von Trotzki, offenbar. Die Beziehung zwischen der bolschewistischen Militärorganisation und dem RMA war ein wesentlicher Faktor für den  Erfolg des Aufstandes. Erfolgreich brachte Trotzki auf dem ZK am 20. Oktober seine Meinung durch, dass der RMA das geeignete Aufstandsorgan wäre. Zur militärischen Organisation entschied das ZK: „alle bolschewistischen Organisationen können Teil des revolutionären Zentrums, das durch den Sowjet organisiert ist, werden.“

Lenin fürchtete die Rechtslastigkeit der militärischen Organisation der Partei. Sie wollte den Aufstand um zwei Wochen verschieben. Lenin unterstützte den Standpunkt, dass der RMA den Aufstand organisieren sollte und machte sich daran, die bolschewistischen Militärführer Newski, Podwojski und Antonow davon zu überzeugen. Die Partei löste sich nicht im RMA auf. Eine Vorbedingung für den Sieg war die bolschewistische Eroberung der Führerschaft in den Massenorganisationen der revolutionären Arbeiterklasse. In der Gestalt von Trotzki führte die Partei den RMA, und durch Swerdlow wurden die Organisationen von RMA und Bolschewiki miteinander verflochten.

Der Tag der Sowjets

Als der RMA gebildet war und er seine Verbindungen mit den 25.000 Rotgardisten und der Garnison gefestigt hatte, wurden die Bolschewiki aktiver. Am 22. Oktober wurde ein „Tag der Sowjets“ mit den Massen in Petrograd durchgeführt.

Auf Großkundgebungen in allen proletarischen Zentren der Stadt wurde der Ruf nach Sowjets laut. Im Volkshaus drängten die Massen zum letzten Gefecht, nachdem sie sich für Sowjetmacht ausgesprochen hatten. „Lasst eure Entscheidung euer Gelübde sein, mit all eurer Kraft und unter allen Opfern dem Sowjet Rückhalt zu geben, der sich die Ruhmeslast aufgeladen hat, den Sieg der Revolution zum Abschluss zu bringen und Land, Brot und Frieden zu geben!“

Ein verschreckter Journalist der reaktionären Zeitung „Rech“ berichtete: „Eine unübersehbare Menge streckte ihre Hände empor. Sie stimmte zu. Sie gelobte (…)“

Am 21. Oktober erklärte der RMA, dass alle Befehle an die Armee nur dann gültig seien, wenn sie vom RMA gegengezeichnet wären. Dies war ein Akt der Unbotmäßigkeit, den Kerenski nicht dulden konnte, wenn er überleben wollte. Tatsächlich drohte er, dessen Kommissare zu verhaften, als der RMA dem militärischen Befehlshaber in Petrograd diese Weisung übermittelte. Doch das war eine leere Drohung. Alle Garnisonseinheiten vertrauten dem RMA. Kerenski hatte nur Offiziere, Kadetten und das Frauenbataillon unter seinem Kommando.

Als der RMA diese Rebellion begann, bereiteten sich die baltischen Matrosen unter der Führung von Bolschewiki wie Dybenko und Raskolnikow auf den Schutz des Aufstandes vor. Auf das vereinbarte Signal „Sendet Befehle!“ sollten Kriegsschiffe mit revolutionären Matrosen in Petrograd einlaufen. Ein Teilnehmer schildert die Szene, als am 24. Oktober der Befehl kam: „Wie sah der Finnische Meerbusen um Kronstadt und Petrograd damals aus? Dies wird in einem damals beliebten Lied gut vermittelt: Von der Insel Kronstadt bis zur Newa fort, segeln Schiffe vieler Art mit Bolschewiki an Bord“

Kerenski war sich dessen bewusst, dass eine Erhebung bevorstand. Wissend, dass der Sowjetkongress seinem Regime die Totenglocke läuten würde, versuchte er, nochmals die Initiative zu ergreifen. Am 24. Oktober ordnete er die Festnahme des RMA und frisch freigelassener Bolschewiki sowie das Verbot der bolschewistischen Presse an. Seinen wenigen loyalen Truppen wurde befohlen, die Brücken, welche die Regierungsgebäude von den Arbeitervierteln trennten, hochzuziehen.

Mit gelassener Entschlossenheit setzte Trotzki den RMA in Bewegung. Die bolschewistischen Druckerei wurde durch Truppen und Rotgardisten wieder geöffnet. Der Smolny, das Hauptquartier des Sowjets und des RMA wurde in ein bewaffnetes Lager verwandelt.

Zwei Personen versinnbildlichen das Schicksal der Revolution zu diesem kritischen Zeitpunkt. Kerenski, ein Mann der theatralischen Gebärde, erflehte den Beistand der gestrigen Institutionen der Bourgeoisie, des Vorparlaments und der „befehlshabenden“ Offiziere von Petrograd. Lenin befand sich noch auf der Flucht und war auf dem Weg zum Smolny, als er die Freilassung mit einer Schaffnerin in der Straßenbahn diskutierte. Wenige Stunden später sprach Lenin vor dem Sowjetkongress, der neuen Macht im Land – und Kerenski war auf der Flucht.

Der Aufstand beginnt

Ungeduldig kam Lenin im Smolny an und sah, dass der Aufstand endlich begonnen hatte. Am Morgen des 25. schien der Sieg sicher. Die Stützpunkte waren schnell besetzt. Der Scheinwerferstrahl des Kreuzers „Aurora“ auf  die Nikolajewski-Brücke reichte aus, um die Kadetten zur Flucht zu bewegen. 2oo ArbeiterInnen und Seeleute sicherten sie sofort. Die Telefonzentrale, die Staatsbank und alle Schlüsselstellen waren von den Kräften des RMA eingenommen.

Am 25. Oktober, 10 Uhr erklärte das RMA: „Die provisorische Regierung ist gestürzt worden. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs der Deputierten der Petrograder Arbeiter- und Soldatensowjets, des revolutionären Militärausschusses an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Garnison übergegangen.“

Die Regierung harrte der Dinge im Winterpalast.  Immer  mehr  Aufständische  sammelten sich vor dem Palast. Der Sowjetkongress bereitete unterdessen seine Eröffnung vor. Der Winterpalias sollte gestürmt werden. Kerenski ging heimlich und verkleidet, um außerhalb Petrograds nach Unterstützung zu suchen. Nach einer Reihe von Verzögerungen (darunter auch komische, denn man hatte versäumt, eine rote Laterne mitzubringen, die als Angriffssignal verabredet, worden war) wurde der Palast praktisch ohne Blutvergießen eingenommen.

Eine Einheit von Rotgardisten und Matrosen stürmte den Palast, nachdem die „Aurora“ ein Signal mit Übungsmunition abgeschossen hatte. Die Kadetten und Junker gaben kampflos auf. Revolutionäre Disziplin verhinderte Plünderungen. Ein bürgerlicher Berichterstatter gab gezwungenermaßen zu, dass kein Mitglied des Frauenbataillons körperliche oder sexuelle Misshandlungen durch die Aufständischen erleiden musste.

Mit der Eroberung des Winterpalastes war der Aufstand in Petrograd abgeschlossen. Es folgten Siege in ganz Russland. Das war durch die Standhaftigkeit der Bolschewiki und der Bereitschaft des 2. Sowjetkongresses möglich, die Macht im Bewusstsein zu übernehmen, dass der RMA zur Rettung der Revolution handelte. Sein Beschluss rechtfertigte Trotzkis und Swerdlows Taktik und Lenins Strategie.

Die Betrüger gehen

Der letzte Kompromißler, der Menschewist Martow erklärte, der Aufstand sei ein bolschewistischer Staatsstreich gegen die Sowjets. Die ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern antworteten ihm mit Buh- und Spottrufen, als er den Sowjet verließ. Ein junger Soldat entkräftete die Behauptungen, die Bolschewiki hätten widerrechtlich die Macht an sich gerissen, indem er auf das Podium sprang und sagte:

„Die lettischen Soldaten haben oft gesagt: Keine weiteren Resolutionen, keine Reden mehr! Wir wollen Taten sehen, wir wollen die Macht! Diese verräterischen Delegierten sollen den Kongress verlassen. Die Armee steht nicht hinter ihnen!“

Hunderte von Delegierten spürten nun, welche Macht sie hatten  und wie richtig die bolschewistischen Vorschläge waren.

Die Machtübernahme durch den RMA war kein Staatsstreich. Auch ein Chaos, Schäden an öffentlichen Gebäuden usw. blieben aus – aber nicht, weil dem Aufstand der Massencharakter fehlte, wie ignorante bürgerliche Journalisten meinten. Es rührte eher daher, dass der Aufstand gut geplant war und hochdisziplinierte Aktionen von einem Apparat mit Massenrückhalt in Szene gesetzt wurden. Dass es anfangs nicht zu Blutvergießen und „Unordnung“ in Petrograd kam, war ein Reflex auf die Schwäche der Bourgeoisie. Es wäre jedoch gänzlich falsch, aus den Ereignissen des 24. und 25. Oktober zu schließen, der Aufstand sei friedlich verlaufen.

Sofort nach dem Aufstand machte die Konterrevolution mobil. Mit einer Einheit gefechtserprobter Kosaken unter Führung der Generäle Krasnow und Duchonin befahl Kerenski am 27. Oktober den „Marsch auf Petrograd“. Er folgte den Truppen auf einem Schimmel, als sie das 45 Kilometer vom Zentrum Petrograds entfernte Gatschina stürmten. Währenddessen wurden alle im Winterpalast gefangen genommenen Kadetten von den Bolschewiki freigelassen. Die Revolution war großzügig und vertrauensselig bis zum fehlerhaften Leichtsinn. Sie lernte aber bald von der blutdürstigen Heimtücke der Bourgeoisie im Kampf.

Die Kadetten bemächtigten sich sofort der Petrograder Telefonzentrale und nahmen Antonow-Owsejenko fest. In der Stadt begannen erbitterte Kämpfe. Etwa 200 Menschen wurden verwundet oder getötet.

Ein „Komitee für das Heil des Landes und der Revolution“ entstand. Auf einer öffentlichen Veranstaltung in Petrograd verlangte einer ihrer Sprecher die „gnadenlose Zerschlagung der Bolschewiki und Sowjetregierung“. Dieselben Leute, die immer von „Demokratie“ geschwätzt hatten, schwärmten nun von der Gewalt, die sie der Arbeiterklasse, deren Partei und Regierung antun konnten. Bezeichnenderweise schlossen sich nicht nur die offenen Parteien des Bürgertums dieser konterrevolutionären Verschwörung an. Auch die Menschewiki und SR bestätigten Lenins Einschätzung als konterrevolutionäre Parteien und wirkten bei den Versuchen mit, die Sowjets, in denen sie die Führung eingebüßt hatten, physisch zu vernichten.

Alle Zweifel am Rückhalt der Massen für das neue Regime zerstreuten sich aber, als Krasnow und Duchonin sich der Stadt näherten. Am 28. Oktober wurde über Petrograd der Ausnahmezustand verhängt. Abertausende ArbeiterInnen, Soldaten und Matrosen sammelten sich zur Verteidigung der Stadt. Sie hielten die Kosaken auf, bevor die roten Streitkräfte die Kräfte der Konterrevolution am 30. Oktober auf den Höhen von Pulkowo vernichtend schlugen. Zwei Tage danach wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet.

Kerenski war verschwunden. Die Revolution war gesichert. Doch wieder ging sie fahrlässig mit ihren Gegnern um. General Krasnow wurde freigelassen. Er ging sofort in den Süden, um Streitkräfte zu sammeln, denn die Bourgeoisie musste nun den Bürgerkrieg beginnen.

Der Moskauer Aufstand

In Moskau verlief der Aufstand blutig. Der Sowjet stimmte mit überwältigender Mehrheit für die Unterstützung des Petrograder RMA. Sofort bildeten die bürgerlichen Parteien mit den Menschewiki und den SR ein „Komitee zur öffentlichen Sicherheit“, dem 10.000 Soldaten zur Verfügung standen. Sie waren schlagkräftiger als die reaktionären Junker-Einheiten in Petrograd. Sie stellten den roten Streitkräften im Kreml eine Falle. Nachdem ihnen zugesichert worden war, dass es keine Vergeltungsmaßnahmen geben würde, ergaben sich, die pro-sowjetischen Verbände widerwillig. Sie mussten eine bittere Lektion einstecken. Obwohl sie das „Ehrenwort“ hatten,  dass ihnen nichts geschehen würde, mobilisierten die bürgerlichen Offiziere sogleich ihre Banden. Die gerade aus dem Kreml kommenden Rotarmisten wurden angegriffen und erschlagen. Überall in der Stadt wurden Bolschewiki getötet. So sah die Demokratie der bürgerlichen Demokraten aus!

Doch bald kam Verstärkung aus Petrograd, so dass das Blatt gewendet werden konnte. Die „Weißen“ wurden aus jedem Viertel der Stadt vertrieben und im Kreml eingekesselt. Rote Schützen nahmen sie schonungslos unter Beschuss. Schließlich ergaben sie sich. Die Bolschewiki versicherten ihnen, dass sie keine Vergeltung üben würden. Anders als die Reaktionäre einige Tage zuvor hielten sie ihr Versprechen.

Die Kapitalisten und ihre erbärmlichen reformistischen Verteidiger verbreiten oft genug Lügen über die grauenvolle Gewaltorgien der RevolutionärInnen und stellen ihre eigenen „friedliebenden“ Methoden entgegen. Die Moskauer Vorgänge sind ein – und nicht der einzige – Gegenbeweis. Militärische Gewalt spielt in jeder Revolution eine Rolle. MarxistInnen erkennen deren Bedeutung. Doch blutrünstige Akte von Brutalität blieben den Junkern und Kapitalisten sowie deren politischen und militärischen Lakaien vorbehalten.

Die wiederholten Ausbrüche solcher Gewalt bei den Kontingenten der Konterrevolution 1918 lehrten die Bolschewiki, dass ein „roter Terror“ zur Unterdrückung derer, die um jeden Preis den Arbeiterstaat zerstören wollten, notwendig war. Aber der „rote Terror“ war ein notwendiges Mittel, um zu gewährleisten, dass die Bauern ihr Land, die ArbeiterInnen die Produktionskontrolle und die Soldaten ihre demokratischen Rechte behalten konnten. Der weiße Terror hatte nur ein Ziel: die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit im Namen des Profits und der Habgier zu erhalten.

Revolution und keine Reform

Vor allem bewiesen die Ereignisse des Oktober die reale Möglichkeit der proletarischen Macht. Sie zeigten die Wahrheit der Maxime, dass keine herrschende Klasse kampflos aufgibt. Entgegen den heutigen Kerenskis, Lafontaines und Co. dieser Welt behaupten wir, dass alle Ausgebeuteten auf der ganzen Welt das unbedingte Recht und die Notwendigkeit haben, dem Beispiel der russischen ArbeiterInnen zu folgen. Versucht nicht das Unternehmer-System zu flicken – beseitigt es! Nur so eröffnen wir der Menschheit neue Horizonte.

John Reed, der Revolutionschronist schrieb im Anschluss an eine Moskauer Arbeitermassenkundgebung nach dem Sieg: „Allmählich verebbte die proletarische Welle auf dem Roten Platz. Ich erkannte plötzlich, dass das fromme russische Volk keine Priester mehr brauchte, die es in den Himmel beteten. Auf Erden baute es ein Königreich, strahlender als jeder Himmel, und für das es rühmlich war zu sterben.“

Heute sind 90 Jahre vergangen. Jenes Reich harrt immer noch seiner Erschaffung. Der Oktober 1917 hat es aber, mehr als jedes andere Geschichtsereignis in greifbare Nähe gerückt. Wir müssen seine Lehren verstehen lernen und danach handeln!




Den Worten folgen Taten – Trotzki und die bolschewistische Partei

Vorwort der Redaktion, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Mit diesem Beitrag wollen wir den im Folgenden abgedruckten Artikel Trotzkis „Den Worten folgen Taten“ würdigen. 9o Jahre nach seiner Veröffentlichung in der Zeitung „Wperjod“ (Vorwärts) am  28. Juni 1917 ist er in der Geschichte von Trotzkis Annäherung an Lenins Partei ein Schlüsseldokument. „Wperjod“ war die Zeitung der überregionalen Organisation der Vereinigten Sozialdemokraten, der „Meschrajonzi“. Sie wurde 1913 von Jurenew und anderen Mitgliedern der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR), die die Disziplin des bolschewistischen und des menschewistischen Parteiflügels ablehnten, gegründet. Jurenew schrieb später: „Wir weigerten uns v.a., die bolschewistische Konferenz von 1912 als Konferenz der gesamten SDAPR anzusehen.“ Ihr ursprüngliches Vorhaben war, die Bolschewiki und linken Menschewiki in einer Partei der ‚Vereinigten Internationalisten‘ zusammenzuschließen.

Dieses Ansinnen stand in Gleichklang mit dem Trotzkis zwischen 1907 und 1916. Seit der Spaltung 1903 hatte Trotzki eine Position auf dem äußersten linken Flügel des Menschewismus eingenommen, in der Hoffnung, dass der objektive Druck der revolutionären Ereignisse den Menschewismus in eine revolutionäre Richtung treiben würde (wie zeitweilig 1905). Nach 1914 wurde Trotzkis „menschewistisches Versöhnungsprogramm“ auf internationale Ebene ausgeweitet, was ihn in eine Position zwischen dem sozialpazifistischen „Zentrum“ und der revolutionär-defätistischen Linken auf der Zimmerwalder Antikriegskonferenz von 1915 manövrierte.

Aber der Krieg und die russische revolutionäre Erhebung zeigten in der Praxis die menschewistische Unfähigkeit, eine revolutionäre Orientierung zu entwickeln, immer deutlicher. Im Mai 1917, als Trotzki nach Russland zurückkam, waren die Menschewiki gemeinsam mit den kapitalistischen und kleinbürgerlichen Parteien eine Koalitionsregierung eingegangen, wo sie ihre Energie daran setzten, die erlahmende Unterstützung der ArbeirInnen für die kapitalistischen Kriegsanstrengungen wieder anzuspornen.

Bei seiner Rückkehr traf Trotzki ohne Umschweife den Meschrajonzi bei. 1914 zählten sie 350 Mitglieder, 1917 waren es nur noch 150. Sie wuchsen nicht so wie die Bolschewiki, obwohl einzelne linke Menschewiki und einige ex-Bolschewiki wie Lunatscharski, Joffe, Uritzki, Rjasanow und Wolodarski dazu stießen.

Während Stalin und Kamenew im April die Bolschewiki zur Unterstützung der bürgerlichen provisorischen Regierung und des Krieges führten, setzten sich die Meschrajonzi für einen neuen Aufstand und für Sowjetmacht ein. Als Trotzki in Petrograd ankam, hatte Lenin bereits den Kampf gegen die „alte bolschewistische Linie“ von Kamenew und Stalin zu Ende geführt und entwickelte in seinen „Aprilthesen“ die Losung „Alle Macht den Sowjets!“.  Es gab keine  politische Differenz zwischen den Meschrajonzi und den Bolschewiki mehr. Deutscher schreibt: „In öffentlichen Veranstaltungen wurden die Meschrajonzi dauernd gefragt, worin sie sich von den Bolschewiki unterschieden und warum sie sich nicht die Hände reichten. Auf diese Frage hatten sie in Wirklichkeit keine zufriedenstellende Antwort.“

Am 10. Mai trafen sich Lenin, Kamenew und Sinowjew mit Trotzki und den Meschrajonzi-Führern und schlugen die sofortige Fusion mit Beteiligung in den bolschewistischen Führungsgremien und der Redaktion der „Prawda“ vor. Trotzki sagte, dass er mit Lenin seit den Aprilthesen politisch völlig übereinstimme, machte aber trotzdem Ausflüchte. Doch im Mai und Juni wurde zusehends klar, dass das, was er als bolschewistisches Sektierertum („Cliquenwesen“) bezeichnete, durch den großen Zustrom von revolutionären ArbeiterInnen in die Partei ad absurdum geführt war.

Zur Zeit des Artikels bereitete sich Trotzki darauf vor, mit den Bolschewiki zu fusionieren und Jurenews Versöhnlertum zu bekämpfen. Dieser Prozess wurde verkürzt durch die Periode der Reaktion, die den  Julitagen folgte. Lenin floh in ein Versteck, während Trotzki verhaftet wurde. In dieser Zeit trat Trotzki den Bolschewiki bei. Von seiner Zelle aus erklärte er sich bereit, sich im August ins Zentralkomitee wählen zu lassen.

Am 1. November sagte Lenin auf einer ZK-Sitzung, dass es, seit Trotzki unter seine Versöhnungsversuche mit dem Menschewismus einen Trennungsstrich gezogen habe, „keinen besseren Bolschewiken“ gab. Trotzkis Artikel dokumentiert den klarsten Moment des Bruches. Sein Titel „Den Worten folgen Taten“ war nicht nur eine Ermunterung für die zögernden Meschrajonzi. Er war ein Sinnbild für Trotzkis eigene Handlung vom linksmenschewistischen Publizisten und Redner zum Führer einer revolutionären Kampfpartei.

Trotzki, „Den Worten folgen Taten“

Seit der Konferenz der Petrograder Bezirksverbund-Organisation sind schon anderthalb Monate vergangen, aber das Problem der Vereinigung der Internationalisten ist noch keinen Schritt vorangekommen. Mehr noch: jeder, der auf der Konferenz anwesend war und die vorherrschende Stimmung dort miterlebte, würde sagen, dass wir damals der Einigung näher waren als jetzt.

Damals erschien es in jeder Beziehung eine praktische Aufgabe zu sein. Heute wird es zu oft in eine fromme Floskel umgemodelt, die uns zu keiner praktischen Lösung zwingt. Auf der Konferenz wurde festgestellt, dass wir keine grundsätzlichen Differenzen zu den Bolschewiki haben. In allen Fragen, die durch den Krieg, die Revolution oder die Internationale aufgeworfen wurden, kamen wir zu ein und demselben Schluss. Doch eine separate organisatorische Existenz kann nur durch große programmatische oder praktische Differenzen gerechtfertigt werden. In Ermangelung solcher Differenzen folgt notwendigerweise die Konsequenz: totale organisatorische Fusion (Hervorhebung im Original)

Auf der Konferenz wurden die Probleme in Ableitung aus den Gewohnheiten und Methoden des bolschewistischen Cliquenwesens gesehen. Natürlich ist es unmöglich, diese Probleme abzustreiten, die auch jetzt nicht gerade selten mit äußerst abstoßendem Gehabe in der Organisationspolitik des Zentralkomitees und auf den Seiten der Prawda erscheinen. Gleichzeitig hat der Genosse Lunatscharski auf der Konferenz absolut korrekt gesagt, dass dieses Cliquenwesen unter der Bedingung der offenen Existenz einer Arbeitermassenpartei auf einen mächtigen Gegendruck stößt. Auf jeden Fall ist es unmöglich, gegen das Cliquenwesen anzugehen, wo es keine grundsätzlichen Differenzen gibt, es sei denn, man widersetzt sich ihm innerhalb der Schranken einer gemeinschaftlichen Organisation, d.h. durch demokratischere Methoden in der Parteiarbeit. Künstlich eine separate Organisation zum Zwecke des Kampfes gegen das Cliquenwesen zu erhalten, würde bedeuten, die Voraussetzungen für unser eigenes Sektierertum in kleinerem Umfang zu schaffen. Ohne Zweifel steht die Bezirksverbund-Organisation vor dieser Gefahr. In Wperjod Nr. 3 sah Genösse Jurenew einen der Vorteile, die Schritte zur Vereinigung zu verschieben, darin, sich auf die menschewistische Internationale zu beziehen. Er schrieb: „Vereinigung ist für uns in der Form einer separaten organisatorischen Fusion mit den bolschewistischen Genossen unannehmbar. Obwohl wir mit ihnen in der zentralen Frage der Revolution übereinstimmen, wäre es falsch, nicht alle Möglichkeiten für die Bildung einer einzigen revolutionären Sozialdemokratie auszunutzen, indem man sofort fusioniert. Nach Petrograder Maßstab wäre das ein Vorteil, nach einem gesamtrussischen Maßstab ein Nachteil. Wir sehen den Ausweg nicht in einer solchen Fusion, sondern in der gemeinsamen Vorbereitung auf eine allgemeine gesamtrussische Konferenz der Internationalisten.“

Es ist grundsätzlich falsch, die Streitfrage so zu stellen. Es geht nicht um eine separate Fusion mit den Bolschewiki, sondern gerade die Vereinigung mit ihnen. Diese Form der Vereinigung ist schon durch voraufgegangene Entwicklungen vorbereitet. Das grundlegende Fundament dafür ist in unseren Beschlüssen formuliert. Unsere gesamte Arbeit in Petrograd wird in Form einer separaten Kooperation mit den Bolschewiki vollführt. Das Problem ist nun, ob die organisatorische Trennung die gemeinsame politische Arbeit stört und zerschlägt. Genösse Jurenew hat selbst erkannt, dass diese Vereinigung für Petrograd ein Vorteil sein würde. Er denkt allerdings, dass es ein Nachteil für die Provinzen wäre. Die Bezirksverbund-Organisation ist v.a. eine Petrograder Organisation. Folglich wäre die Vereinigung der internationalistischen Kräfte zweifellos der größte Gewinn für die Petrograder Bewegung. Dies kann keineswegs mit den Schäden, die solch eine Petrograder Vereinigung für die Provinzen mit sich bringen würde, verglichen werden. Ein Vorteil für Petrograd unter den gegenwärtigen Bedingungen, wo „Petrograd“ eine wütende Verfolgung durch alle konterrevolutionären Elemente erfährt, kann für uns nur ein ausschlaggebendes Merkmal sein.

Wie könnte dies eine Gefahr für die Provinzen darstellen? Genösse Jurenew ist der Ansicht, es wäre offenkundig eine Gefahr. Die Provinzen hinken hinter Petrograd her. Die politischen Gruppen dort sind immer noch meist konturlos. Vielleicht können sich die Internationalisten in der Provinz, die mit den Defensisten brechen möchten, nicht entscheiden, sich den Bolschewiki anzuschließen, sondern würden sich lieber mit den vereinigten Internationalisten zusammentun.

Diese Logik wäre mehr oder minder überzeugend, wären wir ein einfacher Block von Internationalisten, der sich weder auf die Seite der Bolschewiki noch auf die der Menschewiki schlägt. Aber dies ist nicht der Fall. Wir scharen uns um eine bestimmte Plattform, die nicht von den Bolschewiki abweicht. Unter diesen Umständen kann sich die Aufrechterhaltung unserer von den Bolschewiki getrennten Organisation nur in Form von Rückschlägen und Verwirrung für die Provinzen auswirken. Das kann nie als ein Plus gerechnet werden. Im allgemeinen wäre es naiv gewesen, zu glauben, wenn alle Problemfragen sich so klar stellen, dass dann die politischen Gruppen in der Arbeiterklasse oder ihre sozialistische Vorhut auf zweitrangige Eigenschaften innerparteilicher Art gebaut werden könnten. Genosse Jurenew sagt: „Aber die Partei von sozialdemokratischen Internationalisten kann sich nicht selber als eine Sekte begreifen, die vollkommen ohne Menschewiki organisiert ist. Selbst wenn die menschewistischen Internationalisten von uns in der Frage der Organisation der Macht abweichen, besteht die Möglichkeit einer gemeinsamen Arbeit mit ihnen sowie die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Einheit.“

Dass die Partei keine Sekte sein sollte, ist absolut korrekt. Doch unglücklicherweise beantwortet dieser allgemeine Gedanke nicht die Frage, die sich uns stellt. Wenn jemand eine Wahl zwischen der Vereinigung mit den Bolschewiki und den menschewistischen Internationalisten oder nur mit den Bolschewiki vorschlüge und wir von diesen beiden die letztere Möglichkeit wählten, könnten wir von Sektierertum reden. In Wirklichkeit hat niemand von uns diese Wahl vorgeschlagen. Die menschewistischen Internationalisten haben nirgendwo ihre Bereitschaft angezeigt, sich mit uns zu vereinigen. Im Gegenteil, sie unterscheiden sich besonders von der Position, die uns und den Bolschewiki in der grundsätzlichen Frage der Revolution – der Machtergreifung – gemeinsam ist. Keineswegs brechen sie mit ihren Defensisten, um sich mit uns und den Bolschewiki zu vereinigen, sie betonen vielmehr in jeder Hinsicht das, was sie von uns getrennt hat. Sie schränken ihre Taktiken innerhalb der Formen der defensistischen Organisation ein und gestatten sich keine selbständige politische Handlung. Müssten wir wiederum unsere Arbeit für die Vereinigung auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen den menschewistischen Fraktionen stützen, würde dies bedeuten, dass wir den schon zu einer Gesinnung vereinigten Elementen im Namen der bevorzugten Kräfte, die keinen Willen zu einer Einigung mit ,uns zeigen, den Rücken zukehren. Jederzeit hätten die Unterstützer des Genossen Martow zur Vereinigung mit uns und den Bolschewiki finden können, was wir erfreut zur Kenntnis genommen hätten. Für uns und die Menschewiki hätte es keinen Unterschied gemacht, ob wir von den Bolschewiki getrennt oder in einer vereinigten Organisation wären, die auf der Grundlage einer Plattform revolutionärer Aktivität vereinigt ist.

Für uns ist die vergleichsweise breite Schicht von Arbeitern, die immer noch zu den Menschewiki und Sozialrevolutionären schauen, wichtiger. Wir können annehmen, dass diese mehr rückständigen Massen aufgrund der Logik ihrer Position auf die Seite des revolutionären Sozialismus gedrückt werden. Dabei stellen sie die Regierungspolitik auf die Probe, v.a. den Test der Offensive!

Jeden Tag wird die am stärksten unterdrückte Schicht der Bauern und des Kleinbürgertums, zuerst in der Armee, ihre Enttäuschung über die Politik der Koalitionsregierung auf die Probe stellen und eine revolutionäre Lösung suchen. Diese Massen brauchen klare, aufrichtige und einfache politische Gruppen. Dem Lager des kleinbürgerlichen Defensismus muss ein geeintes Lager des revolutionären Sozialismus entgegengestellt werden. Für die Provinzen, wenn wir über die provinziellen Massen und nicht über die provinziellen Zirkel reden, ist die getrennte Existenz der vereinigten Internationalisten und der Bolschewiki kein Vorteil, sondern ein Nachteil.

In der Frage der Einheit ist es Zeit, dass den Worten Taten folgen. Zusammen mit der gemeinsamen Vorbereitung eines Generalkongresses von Internationalisten ist es jetzt schon nötig, die organisatorische Einheit gesprochener und gedruckter Agitation und eine grundsätzliche Einheit politischer Aktion zu garantieren.

Genosse Jurenew sagt, dass die Vereinigung nicht von oben, sondern von unten hergestellt werden muss. Dies ist richtig, wenn Druck von unten benötigt wird, um die Vereinigung an der Spitze zu beschleunigen. Ich glaube, dass es für die Petrograder Arbeiter, Bolschewiki und Bezirksverbund-Organisation nun an der Zeit ist, voll Tatendurst zusammenzukommen.




Die Russische Revolution und ihre Kritiker

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

Vorwort der Redaktion

Im folgenden veröffentlichen wir eine ausführliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten Argumenten von bürgerlichen und kleinbürgerlich-linken Kritiker der russischen Oktoberrevolution 1917. Der Artikel wurde erstmals im Revolutionären Marxismus Nr. 23 im Jahre 1997 publiziert. Seitdem hat sich das ideologische Klima in der bürgerlichen Gesellschaft und der Arbeiterbewegung erheblich geändert. Damals war die Bourgeoisie weitaus selbstbewußter und viele hielten den Gedanken an eine anti-kapitalistische gesellschaftliche Alternative – oder gar eine Revolution – für altmodisch und endgültig passe. Heute hingegen prägen Krisen, Kriege und Zukunftsangst das Denken vieler und auch die bürgerlichen Intellektuellen sprechen nicht mehr so mutig vom „Ende der Geschichte“, das mit der kapitalistischen Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie erreicht worden wäre. Und der Begriff „Revolution“ ist von einem anrüchigen Fremdwort zu einem häufig anzutreffenden Schlagwort in politischen Diskussionen und auf Demonstrationen geworden.

Nichtsdestotrotz sind die Feinde der Oktoberrevolution in den Reihen der bürgerlichen und linken Intellektuellen zahlreich geblieben und auch ihre Argumente haben sich nicht geändert. Aus diesem Grund bleiben auch die von uns in diesem Artikel dargelegten Analysen und die Positionen von höchster Aktualität. Der Artikel wurde daher unverändert gelassen.

* * *

Die Oktoberrevolution 1917 stellt die mit Abstand wichtigste gesellschaftliche Umwälzung der letzten hundert Jahre dar. Sie verkörpert den ersten und bislang einzig erfolgreichen Versuch der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. In ihrer historischen Bedeutung innerhalb der Neuzeit kommt ihr nur die Französische Revolution 1789 gleich. Der Zusammenbruch der stalinistischen Herrschaft – dieser Antipode zum revolutionären Sozialismus – führte geradezu zwangsläufig zu einem Aufleben der Diskussion über die Legitimität der Oktoberrevolution. Unter dem Eindruck des scheinbar endgültigen Triumphes des Kapitalismus gewannen die bürgerlichen Ideologen, für die 1917 schon immer den Schandfleck des Jahrhunderts darstellte, weiter an Selbstvertrauen und die halbherzigen Freunde der Oktoberrevolution wurden noch halbherziger. Da nach 1991 für kurze Zeit die bislang geheimen Archive der KPdSU geöffnet wurden (1), bestand ein zusätzlicher Antrieb für die literarische Neuaufarbeitung dieser zentralen Frage. Es ist also nur allzu natürlich, daß in den letzten Jahren eine Reihe neuer Publikationen zum Thema Oktoberrevolution erschien. Wir werden uns im Folgenden mit einigen der wesentlichsten Einwände und Vorwürfe gegen die Revolution und die Bolschewiki auseinandersetzen.

Die Revolution im Feuer ihrer bürgerlichen Kritiker

Der Sturm auf das Winterpalais entfachte umgehend einen Sturm der Entrüstung und Verleumdung seitens der bürgerlichen und reformistischen Advokaten – in Rußland und weltweit. Die Oktoberrevolution erlitt im Grund genommen das gleiche Schicksal, das jeder großen Revolution wiederfährt: sie wird zuerst als utopisches Abenteuer denunziert und dann mit Greuelpropaganda überhäuft. So erging es dem englischen bürgerlichen Revolutionär Oliver Cromwell, so erging es natürlich auch den französischen Revolutionären nach 1789 und schließlich ebenso den Bolschewiki. Das ist nur allzu natürlich, findet der Klassenkampf nicht nur auf politischer und ökonomischer, sondern auch auf ideologischer Ebene statt – und Geschichtsfälschung gehört nun einmal zum Arsenal bürgerlicher Ideologen. Für die Vertreter der „alten Ordnung“ ist alles erlaubt, um die Entstehung einer neuen, revolutionären Ordnung zu verhindern. So wie uns heute die bürgerlichen Ideologen weiß machen wollen, daß der Kapitalismus das beste und einzig mögliche aller Gesellschaftssysteme und eine Revolution daher völlig utopisch und unnatürlich sei (2), so erging es schon damals den Bolschewiki. Nur ein Monat vor der Revolution spottete das Zentralorgan der Kadetten, der Hauptpartei des russischen Bürgertums: „Aber trotz ihres ganzen rhetorischen Draufgängertums, ihrer prahlerischen Phrasen, ihres zur Schau getragenen Selbstvertrauens sind die Bolschewiki, mit Ausnahme einiger weniger Fanatiker, bloße Maulhelden. Die ‚ganze Macht‘ zu übernehmen würden sie aus eigenem Antrieb nicht versuchen. (…) Genausogut wie wir alle verstehen auch sie, daß der erste Tag ihres endgültigen Triumphs zugleich auch der erste Tag ihres jähen Niederganges wäre. (…) Die beste Art, den Bolschewismus auf lange Jahre loszuwerden, sich seiner zu entledigen, wäre es, die Geschicke des Landes in die Hände seiner Führer zu legen.“ (3) Ohne Zweifel ein bemerkenswertes Zitat, wenn man bedenkt, daß die russische Bourgeoise kurz darauf für viele Jahrzehnte ihre Macht verlor und enteignet wurde. Gleichzeitig und gerade wegen ihrer Niederlage griffen die Bürgerlichen und die Sozialdemokraten zum Mittel der Verleumdung. Und heute fühlen sie sich noch sicherer – nach dem scheinbaren Endsieg des Kapitalismus, in Wirklichkeit aber seiner Niedergangsperiode – und es hagelt umso mehr Verdrehungen und Lügen. Letztlich bestätigen sie damit nur, was schon der marxistische Historiker Roman Rosdolsky feststellte: Die Unmöglichkeit des Historikers neutral zu bleiben (4).

War die Revolution ein Putsch?

Einer der beliebtesten Einwände gegen die Oktoberrevolution besteht in der Unterstellung, die Revolution sei nicht Ausdruck des Willens der Bevölkerung gewesen, sondern bloß ein Putsch einer kleinen, zu allem entschlossenen Verschwörergruppe. Der US-amerikanische Historiker Richard Pipes – einer der Voreiter der konservativen Diffamierung der Oktoberrevolution, des Bolschewismus und der Persönlichkeit Lenins – wiederholt diese These dutzendemale in seinen Publikationen. Für ihn gibt es nur den „Oktoberputsch“, bei dem es sich um einen „klassischen Staatsstreich“ einer gut organisierten „Verschwörergruppe“ handelte, die nur durch Terrormethoden an der Macht bleiben konnte (5). Selbst der vergleichsweise seriöse deutsche Historiker Helmut Altrichter spricht in seinem neuen Buch von einem „Putschversuch von links (6)”. All diese Anwürfe sind weder neu noch originell. Sie wurden in der langen Chronologie anti-kommunistischer Geschichtsschreibung regelmäßig vorgebracht. Nicht nur konservative, sondern auch sozialdemokratische Publizisten haben vom ersten Tag der Revolution an versucht, diesen Mythos zu verbreiten. Die menschewistische Tageszeitung „Rabocaja gazeta“ schrieb am Tag nach der Machtergreifung, daß es sich hier weder um eine Revolution noch um einen Aufstand, sondern um ein „Militärkomplott“ handle. Einen Tag später wiederholte sie noch einmal: „Keine Commune, kein Aufstand des Proletariats…, sondern eine kalt berechnete Verschwörung…“ Auch das sozialrevolutionäre Zentralorgan „Delo narodna“ bezeichnete die Revolution als bloßen „Militärputsch (7)“.

Bei dieser Charakterisierung sind die allermeisten bürgerlichen und reformistischen Historiker geblieben. Sie hat dadurch aber auch nicht mehr mit der Wahrheit gemein. Ohne Zweifel war der Akt der unmittelbaren Machtübernahme selber eine gut organisierte Aktion, die weitgehend unblutig verlief (8). Leider besitzen nur wenige Gegner der Oktoberrevolution die intellektuelle Integrität, die relative friedliche Machtübernahme durch die Sowjets als Beweis dafür anzusehen, daß die Revolution eben nicht auf breite Ablehnung in der Bevölkerung stieß. Wie ist eine relativ friedliche Umwälzung in einem Land möglich, in dem faktisch alle Parteien über bewaffnete Kräfte verfügten und daher die Möglichkeit hatten, gegen die Machtübernahme der Sowjets militärisch vorzugehen? Diese einfache Frage können die Verteidiger der bürgerlichen Ordnung nicht befriedigend beantworten. Dabei liegt die Erklärung auf der Hand: Die Parteien der alten Ordnung – die Kadetten (9), die Sozialrevolutionäre (10), die Menschewiki (11) – hatten politisch abgewirtschaftet und waren in den Augen der Massen  weitgehend diskreditiert. Die Kräfte, die sie unterstützten, fühlten diese Isolierung stärker als ihre Führer und waren daher auch nicht bereit, in den entscheidenden Tagen des Oktobers ihnen zu Hilfe zu kommen. „Die Kadetten, die in Petrograd bei den Wahlen Zehntausende Stimmen auf sich sammelten, konnten im Augenblick der Todesgefahr für das bürgerliche Regime nicht dreihundert Kämpfer aufbringen.“ (12) Auch der eingeschworene Feind der Revolution, Richard Pipes, muß sowohl die Schwäche als auch die enge Klassenbasis der Regierungsanhänger eingestehen: „Schließlich zeigte sich, daß die einzigen Bewohner der Stadt, die bereit waren, die Demokratie zu verteidigen, junge Männer von den Militärakademien, Universitäten und Gymnasien waren…“ (13)

Die Bolschewiki konnten dagegen nicht nur auf eine viel breitere und entschlossenere Unterstützung vieler Kämpfer vertrauen (14). Noch viel wichtiger und entscheidender ist die Tatsache, daß die große Mehrheit der Arbeiter und Soldaten in den Städten den Kurs der Bolschewiki unterstützten. Die Anhängerschaft der reformistischen Parteien dagegen schmolz dahin. In den Zentren des Landes gewannen die Bolschewiki im Laufe des Septembers die absolute Mehrheit in den Arbeiter- und Soldatenräten. Die Sowjets in Petrograd, dann Moskau und schließlich in einer Reihe anderer kleinerer und größerer Städte forderten in ihren Resolutionen „Alle Macht den Sowjets“, die Bildung Roter Garden, Arbeiterkontrolle über die Fabriken, Enteignung der Großgrundbesitzer und sofortige Beendigung des Krieges. Und sie wählten eine entsprechende Sowjetexekutive mit bolschewistischer Mehrheit (15). Je direkter und unmittelbarer die jeweiligen Organe die Basis vertraten, umso linker waren sie. Dies zeigte sich in dem noch stärkeren Einfluß der Bolschewiki in den Bezirkssowjets Petrograds oder im geradezu überwältigenden Übergewicht in den Fabrikskomitees. Im Anfang Juni von einer gesamtstädtischen Konferenz gewählten Zentralrat der Petrograder Fabrikkomitees stellten die Bolschewiki 19 von 25 Mitgliedern. Auf dem II. All-Russischen Kongreß der Fabrikskomitees unterstützten mehr als 80% der Delegierten die bolschewistischen Resolutionen. Auch bei den bürgerlich-parlamentarischen Wahlen kam das Anwachsen des bolschewistischen Einflusses unverkennbar zum Ausdruck. Noch im August – vor dem Kornilow-Putsch (16) und dem damit verbundenen Linksruck bei den Massen – vergößerten die Bolschewiki ihren Stimmenanteil bei den Wahlen zur Petrograder Stadtduma von 20.4% (Mai) auf 33.3%. Bei den Kommunalwahlen in Moskau errangen sie sogar die absolute Mehrheit mit 50.9%, während die Sozialrevolutionäre gegenüber den Wahlen zur Stadtduma im Juni von 56.2% auf 14.4% zurückfielen und die Menschewiki von 12.6% auf 4.1%. Ebenso wurden die Bolschewiki bei den zu dieser Zeit stattfindenden Stadtparlamentswahlen in Samara und Tomsk zur stärksten Partei.

Der Aufstand im Oktober war nicht das Projekt einer kleinen Verschwörergruppe, sondern drückte den tiefen, ja fast schon verzweifelten Wunsch der Arbeiter und Soldaten nach einer radikalen Umwälzung aus. Jahrelang mußten sie unter dem Zarenregime zu Hungerlöhnen schuften, mehrere Arbeiterfamilien teilten sich zumeist eine kleine Wohnung, Hunderttausende, ja Millionen starben an der Front, die Bauern erstickten unter der stetig wachsenden Last der Pacht und die unterdrückten Nationen waren nicht länger gewillt, die großrussischen Bajonette zu dulden. Als die Februarrevolution den Zaren stürzte und die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki an die Macht hievte, erwarteten die Massen, daß diese ihre Versprechen einhalten und die drängendsten Probleme lösen würden: die Beendigung des Krieges, soziale Sicherheit und die Aufteilung des Bodens. Alleine, diese erwiesen sich als komplett unfähig. Von Anfang an paktierten Sozialrevolutionäre und Menschewiki mit den Bürgerlichen, schoben die Landreform hinaus, unterstützten die Fortsetzung des Krieges (17) und scheuten vor der Enteignung der Kriegsgewinnler und der Banken zurück. Wenn wundert es, daß v.a. in der Hauptstadt – dem Zentrum des gesamten politischen Geschehens Rußlands – die Bolschewiki rasch an Unterstützung gewannen. Ihre zentralen Losungen „Nieder mit dem Krieg“, „Alle Macht den Sowjets“, „Raus mit den zehn kapitalistischen Ministern“ (18) spiegelten von Woche zu Woche mehr die Stimmung der Massen wider. Auf der Petrograder Großdemonstration am 18. Juni mit mehr als 400.000 Teilnehmern dominierten die Bolschewiki: „90% der Fahnen und Plakate trugen die Losungen des Zentralkomitees der Bolschewiki … Für die Provisorische Regierung waren nur drei Plakate.“ (19) Die Juli-Tage, bei denen wiederum viele Hunderttausende in der Hauptstadt mit der Waffe in der Hand für die Machtübernahme durch die Sowjets demonstrierten, spiegelten die wachsende Ungeduld der Massen mit ihrer offiziellen Führung in den Sowjets wieder. Und auch die militärische Niederschlagung dieser Demonstration und die Verfolgung der Bolschewiki (mit aktiver Unterstützung durch die reformistische Sowjetexekutive!) konnten nur kurz den ansteigenden Einfluß der Bolschewiki aufhalten. Als am 12. August eine sogenannte Staatskonferenz zur Unterstützung der Regierung in Moskau zusammentrat, organisierten die Bolschewiki gegen (!) den Willen der Mehrheit der offiziellen Sowjetführung einen erfolgreichen Generalstreik. Die gesamte Stadt folgte dem Aufruf: Alle  Betriebe, Straßenbahnen und Geschäfte standen an dem Tag still, als die Spitzen der herrschenden Klasse und der Reformisten zusammentraten. Sogar die Angestellten des Bolshoi-Theaters, wo die Konferenz stattfand, streikten, weswegen sich die Delegierten ungewohnterweise selber verpflegen mußten. Die Zeit war gekommen, wo selbst die Gegner der Bolschewiki eingestehen mußten: „…, daß die Bolschewiki keine unverantwortliche Gruppe sind, sondern eines der Elemente der organisierten revolutionären Demokratie, hinter denen die breite Masse steht …“ (20)

Der von den Bolschewiki organisierte bewaffnete Aufstand fußte nicht einfach auf irgendwelchen Umsturzplänen des Zentralkomitees, sondern auf dem expliziten Willen der wichtigsten Sowjets des Landes. Der Petrograder Sowjet stellte am 9. Oktober fest: „Die Rettung Petrograds und des Landes liegt im Übergang der Macht in die Hände der Räte.“ Und der Moskauer Sowjet machte zwei Tage später unmißverständlich klar: „Nur die sofortige Machtergreifung durch den Rat der Arbeiter- , Soldaten- und Bauern-Deputierten kann das Land und die Revolution vor dem Untergang retten.“ (21) All diese Tatsachen haben nicht nur die Sympathisanten der Bolschewiki, sondern auch ihre seriösen Gegner veranlaßt, die breite Massenunterstützung für den Oktoberaufstand einzugestehen. Martow, der Führer der Menschewiki, mußte feststellen: „Fast das gesamte Proletariat unterstützt Lenin“. (22) Ein anderer menschewistischer Zeitzeuge, Suchanow, schreibt in seinem „Tagebuch der russischen Revolution“: „Es ist sichtlich unsinnig, von einem Militärputsch statt von einem Volksaufstand zu sprechen, wenn hinter der Partei der überwältigende Teil der Bevölkerung steht und die Partei de facto die gesamte reale Macht und Autorität erobert hat.“ (23) In seiner berühmten Reportage der Oktoberrevolution zitiert der US-amerikanische Journalist John Reed einen der Führer des „Komitees zur Rettung des Vaterlandes“, welches von den Sozialrevolutionären und dem rechten Flügel der Menschewiki nach der Machtübernahme der Sowjets gebildet wurde und den bewaffneten Kampf gegen die neue Regierung organisierte: „Um die Wahrheit zu sagen, die Massen folgen zur Zeit den Bolschewiki. Wir können nicht eine Handvoll Soldaten auf die Beine bringen.(…) Bis zu einem gewissen Grade haben die Bolschewiki recht. Es gibt gegenwärtig in Rußland in der Tat nur zwei Parteien von nennenswerter Macht, die Bolschewiki und die Reaktionäre, die sich hinter den Rockschößen der Kadetten verbergen.“ (24) Und auch bürgerliche Historiker wie Oskar Anweiler müssen dies zugeben: „In den Arbeiterräten der weitaus meisten Industriestädte hatten die Bolschewiki die Mehrheit, ebenso in den meisten Soldatenräten der Garnisonsstädte.“ (25) Und schließlich kommt auch der oben zitierte deutsche Historiker Altrichter nicht umhin zuzugestehen: „Wieviel sie immer dazu beigetragen haben, der Ausgang (der Oktoberrevolution – d.A.) wurde in weiten Teilen der Arbeiterschaft auch als ‚ihr‘ Sieg empfunden.“ (26) Wir überlassen es den unverbesserlichen Demagogen wie Richard Pipes, die historische und politische Legimität der Oktoberrevolution zu bestreiten. Die russische Arbeiterklasse hat ihr Wort am Tage des Aufstandes klar und unmißverständlich gesprochen: Auf dem II. All-Russischen Sowjetkongreß, der während des Aufstandes tagte, stimmten æ aller Delegierten für Machtübernahme durch die Sowjets. Das ist die geschichtliche Wahrheit, die niemand ungeschehen machen kann.

Sowjetmacht und Demokratie

Ein weiterer fundamentaler Einwand der Kritiker des Oktobers besteht darin, dem Sowjet-System jegliche Legitimität abzusprechen. Die Räte wären nur Versammlungsorte eines radikalen und von den Bolschewiki manipulierten Mobs gewesen. Die wirkliche Demokratie dagegen hätte sich in den Wahlen der Konstituierenden Versammlung widergespiegelt und bei dieser haben die Bolschewiki bekanntlich keine Mehrheit erlangt. Zwar bereitet es so engagierten Gegnern der Sowjet-Macht wie Richard Pipes gewisse Kopfzerbrechen, wenn sie eingestehen müssen: „Der Auflösung der Konstituierenden Versammlung begegnete die Bevölkerung mit erstaunlicher Gleichgültigkeit“. Aber sie halten trotzdem an ihrer Verdammung der Rätedemokratie fest.

Dieser Einwand verfehlt den historischen Tatbestand sowohl auf grundsätzlicher als auch auf faktischer Ebene. Beurteilen wir zuerst die Frage der demokratischen Repräsentativität. Bekanntlich liegt der wesentliche Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Demokratie darin, daß sich bei ersterer die Mitbestimmung aller Bürger – unabhängig von ihrer Klassenposition – auf das Ausfüllen eines Stimmzettels alle paar Jahre beschränkt. Die proletarische Demokratie dagegen zeichnet sich durch eine permanente Beteiligung der Massen – also in erster Linie der Arbeiter (in Rußland natürlich auch der Soldaten und Bauern) – am Diskussions- und Entscheidungsprozeß aus. Räteorgane – unabhängig davon, welchen genauen Namen sie tragen (27) – fußen auf Vollversammlungen der Basis und die gewählten Vertreter, die den gleichen Lohn wie ihre Basis erhalten, sind jederzeit rechenschaftspflichtig und abrufbar. Das historisch Einmalige der Räte besteht darin, daß sich die Unterdrückten – jene, die ihr Leben lang im Betrieb und bei allen gesellschaftlichen Fragen immer nur Entscheidungen hinnehmen mußten, über deren Köpfe immer hinweg entschieden wurde – ,daß diese Unterdrückten zum ersten Mal nicht mehr rumgeschubst werden, sondern aus ihrer Rolle als passive Befehlsempfänger heraustreten und die Dinge, die sie betreffen, selber diskutieren und entscheiden. Die Räte sind der entscheidende Transmissionsriemen, durch die die Unterdrückten von Sklaven zu handelnden Subjekten werden.

Wenn man die konkrete Entwicklung der russischen Revolution betrachtet, kann man genau diese Herausbildung der Selbsttätigkeit der Arbeiter und Soldaten erkennen. Die Fabrikkomitees z.B. – das waren regelmäßige Vollversammlungen der Lohnabhängigen bzw. deren gewählte und jederzeit abwählbare Vertreter – nahmen von der Kontrolle über die Buchführung, über die Regelung der Arbeitsbedingungen bis zur Bildung von Arbeitermilizen viele wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in die Hand (28). Ebenso kümmerten sie sich, wie auch viele lokale Sowjets, um kulturelle Fragen – von der Alphabetisierung bis zu Theatervorführungen.(29) Wenn wir damit die bürgerliche Demokratie in Rußland vergleichen, so springt der Unterschied ins Auge. Erstens muß man an dieser Stelle erwähnen, daß die Provisorische Regierung – von der die Sowjets die Macht übernahmen – nie gewählt wurde. Sie versprach Wahlen zu einer Konstitutierenden Versammlung, aber zögerte diese wiederholt hinaus. Sie fürchteten diese Wahlen, weil sie große Verluste befürchteten (nicht zu Unrecht, wie die Wahlen zeigen sollten). Es war die Regierung der Sowjets, die umgehend nach der Machtübernahme die Wahlen ermöglichte.

Darüberhinaus liegt der zentrale Mangel der bürgerlichen Demokratie darin, daß sie aufgrund der Abgehobenheit gar nicht in der Lage ist, die Diskussionen, Meinungsumschwünge usw. unter den einfachen Wählern widerzuspiegeln. Man kann ja erst wieder in vier Jahren zur Wahl gehen. In einer Revolution wird die Zeit nicht nach Jahren, sondern nach Monaten und Wochen gemessen. Das konnte man besonders deutlich im Herbst 1917 erkennen. Während die parlamentarischen Stadtdumas in Petrograd, Moskau usw. nicht mit der Meinungsbildung der Arbeiter und Soldaten mithalten konnten, waren die Sowjets deren lebendiger Ausdruck. Die einen repräsentierten das Rußland von gestern, die anderen das Rußland von heute. Ebenso zeigte sich dies bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung. Die traditionelle Partei der Bauern, die Sozialrevolutionäre, ging mit 40% der Stimmen als stärkste Partei aus den Wahlen. Doch sie hatten sich kurz vor dem Umsturz gespalten. Der linke Flügel unterstützte die Machtübernahme durch die Sowjets sowie eine radikale Umverteilung des Bodens an die kleinen und landlosen Bauern. Sie bildeten daher eine Koalition mit den Bolschewiki. Der rechte Flügel dagegen unterstützte die alte Regierung und lehnte eine konsequente Agrarrevolution ab. Während der linke Flügel das Vorwärtsdrängen der verarmten Bauern widerspiegelte (in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 kam es zu einem explosiven Anwachsen der spontanen und gewaltsamen Aneignungen gutsherrlicher Güter durch die Bauern (30)), repräsentierte der rechte Flügel die konservative Einstellung des Kulaken. In der Realität war diese Partei durch eine soziale Trennwand gespalten (und diese sollte auch nie wieder überwunden werden), aber auf den Formularen der Wahllisten für die Konstituierende Versammlung erschien sie nach wie vor als eine gemeinsame Partei. Nur ca. 1/10 der sozialrevolutionären Abgeordneten konnten dem linken Flügel zugeordnet werden.(31) In den Sowjets konnte dies aufgrund der permanenten Abwählbarkeit rasch korrigiert werden, in der Konstituierenden Versammlung ihrer Natur entsprechend nicht (32).

Es ist weiters bemerkenswert, daß – wenn man von dem breiten und entgegengesetzte Positionen in sich vereinigenden Schwamm der Sozialrevolutionären Partei absieht – die anderen Parteien der Provisorischen Regierung eine herbe Abfuhr erlitten. Die Kadetten, die Hauptpartei der Bourgeoisie errangen knapp 5% der Stimmen und die Menschewiki überhaupt nur 3%. Die Bolschewiki dagegen konnten als zweitstärkste Partei nicht nur 25% aller Stimmen auf sich verbuchen, sondern gewannen auch die klare Mehrheit unter den Arbeitern und Soldaten sowie in der Mehrzahl der Städte.

Letztlich jedoch können die Ereignisse von 1917 und danach nur dann verstanden werden, wenn man sie in die gesellschaftliche Klassendynamik ihrer Zeit einordnet. Jeder ernstzunehmende Sozialwissenschaftler – auch die bürgerlichen – gesteht heute zu, daß sich das Bürgertum hinter die Kadetten und nach der Revolution die Weißen stellte. Ebenso unbestritten ist die Tatsache, daß das Proletariat in seiner großen Mehrheit die Bolschewiki unterstützte. Dies ist natürlich kein Zufall, sondern belegt vielmehr die alte marxistische These, daß Parteien der politische Ausdruck konkreter Klasseninteressen sind. Um es noch genauer zu formulieren, repräsentierten die Aktivisten der Kadetten und die militärischen Kader der Weißen die politische Avantgarde der bürgerlichen Konterrevolution, die Bolschewiki dagegen die proletarische Vorhut. Diese beiden Klassen stellen in der kapitalistischen Gesellschaft die sozialen Hauptkräfte dar, die sich in einem permanenten Kampf um die Aneignung des Mehrwerts und um politische Macht befinden. Die Bourgeoisie ist von Natur her eine numerisch kleine, aber aufgrund des Besitzes der Produktionsmittel ökonomisch eben bedeutsame Klasse (33). Das Proletariat ist dagegen eine große und wachsende Klasse, aber selbst diese Klasse repräsentiert nicht immer die Mehrheit in der Bevölkerung: In wirtschaftlich rückständigen Ländern wie einigen halbkolonialen Staaten oder eben auch dem damaligen Rußland stellen die kleinbürgerlichen Klassen, v.a. die Bauern den größten Teil der Bevölkerung. Diese Klasse ist von ihrer sozialen Natur – ihrer Zersplittertheit in Kleineigentümer, ihrer Gebundenheit an rückständige Produktionsformen etc. – nicht in der Lage, eine eigenständige politische Rolle zu spielen. Ein kurzer historischer Überblick über das Schicksal von Bauernparteien bestätigt dies. Sie sind dazu verdammt, sich einer der beiden Hauptklassen der Gesellschaft anzuschließen. So auch in der russischen Revolution. Den Sozialrevolutionären gelang es nie, die treibende Kraft in der Revolution zu werden. Es war immer die Stadt, die den Rhythmus der Ereignisse vorgab. In Petrograd und Moskau wurde der Zar gestürzt, in diesen Städten wurde das Schicksal der Revolution bestimmt und schließlich entschieden. Daher spalteten sich letztlich die Sozialrevolutionäre, und die bäuerlichen Oberschichten schlossen sich der Bourgeoisie an und die unteren Schichten gingen mit dem städtischen Proletariat, sprich mit den Bolschewiki. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die diese Dynamik erkannte und ihre Strategie darauf aufbaute. Ihre Politik der konsequenten Landaufteilung fand die natürliche Unterstützung der kleinen Bauern. Auch wenn sie noch mit dem Stimmzettel ihre traditionelle Partei wählten, in der Praxis gingen sie viel weiter und folgten unbewußt dem bolschewistischen Programm. Lenin formulierte dies treffend: „Die Bauern haben mit den Füßen abgestimmt“.

Damit ist auch ein ganz wesentlicher Teil des „Wunders“ benannt, warum die Russische Revolution siegreich der geballten weißen Konterrevolution, der militärischen Intervention von 21 ausländischen Staaten und der Hungerblockade, die diese Staaten über Rußland verhängten, trotzen konnte: Das ist die smytschka, das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft, unter Führung ersterer. Die Bauern, auch wenn viele nicht das volle Programm der Bolschewiki teilten, verstanden, daß nur die bolschewistische Herrschaft ihnen den neuerworbenen Landbesitz bewahren konnte, während die weiße Konterrevolution die Landwegnahme und Wiedereinsetzung der Gutsherrenherrschaft bedeutet hätte. Deswegen standen die Bauern, wenn auch z.T. widerwillig, auf Seiten der Roten Armee. Es war diese Erfahrung der Oktoberrevolution, die Trotzkis These der permanenten Revolution so eindrucksvoll bestätigte. Schon nach der Revolution von 1905 erkannte Trotzki, daß die bürgerlich-demokratischen Aufgaben (Landreform, demokratische Freiheiten etc.) in den rückständigen und halbkolonialen Ländern nur durch die Arbeitermacht, die Diktatur des Proletariats, gelöst werden können. 1917 zeigte, daß eine schematische Trennung in zwei voreinander getrennte und unabhängige Etappen – zuerst eine bürgerlich-demokratische Revolution unter Führung der Bourgeoisie und dann später eine sozialistische Revolution unter proletarischer Führung – ein illusionäres Hirngespinst ist, dem zuerst die Menschewiki und dann die Stalinisten anhingen.

Der rote Terror

Ein weiterer und vielleicht der schwerwiegendste Vorwurf faktisch aller Gegner der Oktoberrevolution – von den Bürgerlichen über die Reformisten bis zu den Anarchisten besteht in der Behauptung, daß die Bolschewiki die Sowjetdemokratie nur als Vorwand benutzten um eine Terrorherrschaft zu errichten. Der rote Terror wäre keine Reaktion, sondern von Anfang an geplantes Machtinstrument gewesen: „Hier wird auch deutlich, daß die These, der revolutionäre Terror sei nur gezwungenermaßen eine Antwort auf konterrevolutionäre Gewalt gewesen, eine Lüge ist.“ (34)

Entgegen all diesen Unterstellungen und Lügen, stand die bolschewistische Revolution unter dem Banner der Abschaffung jeglicher Unterdrückung. Dies war nicht bloß eine Phrase in irgendwelchen bolschewistischen Deklarationen, sondern die praktische Politik. Die Oktoberrevolution war zu Beginn durch eine fast schon naive Menschlichkeit gekennzeichnet. Die Junker in Moskau, welche während der Kämpfe des Oktoberaufstandes dutzende gefangene Rotgardisten massakrierten, wurden nach ihrer Gefangennahme und Entwaffnung auf freien Fuß gesetzt und mußten nur versprechen, nicht wieder die Waffen gegen die Sowjetmacht zu erheben. Die Führer der alten Ordnung wurden entweder nur kurzzeitig verhaftet, unter Hausarrest gestellt oder wiederum gegen ein Versprechen freigelassen. Ein bekanntes Beispiel zeigt, wie weit diese – man muß fast sagen allzu – humane Politik ging: Als in den Wochen nach der Oktoberrevolution Kerensky zu dem reaktionären Kosaken-General Krasnow floh, organisierte dieser einen Feldzug gegen Petrograd, um die Sowjet-Macht zu stürzen. Das Unternehmen scheiterte, da erstens die Rotgardisten entschlossenen Widerstand leisteten und zweitens die einfachen Soldaten keine Lust hatten, sich in dieses konterrevolutionäre Abenteuer hineinziehen zu lassen. Das Ganze endete damit, daß die Kosaken selber ihren General festnahmen und den Bolschewiki aushändigten. Anstatt die konterrevolutionären Aufrührer zu erschießen oder zumindest auf Jahre hin einzusperren, setzten sie ihn am Abend desselben Tages gegen das Versprechen, nicht mehr bewaffnet gegen die Sowjetmacht zu kämpfen, auf freien Fuß! General Krasnow „dankte“ diese Großmütigkeit der Revolution damit, daß er nur wenige Monate später erneut eine konterrevolutionäre Armee organisierte und in seinem Herrschaftsgebiet ein wahrhaftiges Terrorregime errichtete. Eine der ersten Maßnahem der neuen Sowjetregierung – des Rats der Volkskommissare – war die Aufhebung der Todesstrafe. Viele der Gefangenen wurden auf freien Fuß gesetzt.

Die Intentionen und die Praxis der Revolution war das genaue Gegenteil einer Terrorherrschaft. Und trotzdem kam es zu Unterdrückungsmaßnahmen und rotem Terror. Warum? Weil die herrschende Klasse und die Parteien der alten Ordnung nicht gewillt waren, freiwillig ihre Macht und Privilegien abzutreten. Faktisch vom ersten Tag an organisierten sie bewaffnete Unruhen, hetzten in ihren Zeitungen gegen die neue Regierung und verunsicherten die Bevölkerung mit Greuelpropaganda, sabotierten die Wirtschaft und organisierten einen Streik der Angestellten des Verwaltungsapparates, um so die Sowjetregierung lahmzulegen. Nicht nur das, die reaktionären Generäle, die Kadetten und die rechten Sozialrevolutionäre verbündeten sich offen mit den – damals auf russischem Gebiet stehenden – deutschen Truppen des Kaisers bzw. arbeiteten mit der französischen und britischen Armee  zusammen. Von Anfang an stand den Bolschewiki ein grimmiger und zu allem entschlossener Klassenfeind gegenüber (35).

Die Folgen dieser konterrevolutionären Tätigkeiten waren katastrophal. Die Sowjet-Macht sah sich des gesamten qualifizierten Fachpersonals in Verwaltung und Militär beraubt. Sie mußte faktisch aus dem Nichts eine Administration schaffen – aus hingebungsvollen aber fachlich oft wenig qualifizierten Kommunisten sowie aus Kadern des alten Regimes, die für eine Mitarbeit gewonnen werden konnten, dafür aber nicht immer zuverlässig waren. Die Unternehmer schlossen oft ihre Betriebe, da sie nicht gewillt waren, unter den kontrollierenden Augen der Fabrikkomitees weiterzuproduzieren. Die Auflösung und Demobilisierung der alten Armee verstärkten das Chaos. Die Transportverbindungen brachen vielerorts zusammen. In Petrograd lag die Arbeitslosenrate bei ca. 50%. Das Resultat war eine um sich greifende Hungerepidemie in den Städten. Dazu besetzte der deutsche Imperialismus lebenswichtige Teile des Landes wie die fruchtbare Ukraine und raubte dem Land seine Lebensadern. Nicht nur das: Im Fernen Osten landeten japanische Truppen und begannen sich Sibirien einzuverleiben. Und im nördlichen Murmansk und Archangelsk sowie im kaukasischen Erdölzentrum Baku landeten britische Truppen. Kurz: die junge Sowjet-Republik war von jeglicher Verbindung zur Außenwelt abgeschnitten. Alles schien auf das nahe bevorstehende Ende hinzudeuten (36).

Wir betonen hier, daß dies die Situation war, bevor der Bürgerkrieg im Sommer 1918 voll eskalierte! Man kann die Unterdrückungsmaßnahmen der Sowjets erst verstehen, wenn man sich diese handfeste Todesgefahr für die Revolution vor Augen hält. Kleinbürgerliche Autoren, die den Bolschewiki grundlose Repressionsmaßnahmen vorwerfen, sollten sich erst einmal diese Tatsachen vor Augen halten. Es ist aber kein Wunder, daß diese Probleme kaum Eingang in deren Beurteilung finden (37). Angesichts dieser Serie konterrevolutionärer Angriffe waren die Verteidigungsmaßnahmen der Sowjetmacht lange Zeit relativ milde. Nach der Revolution wurden nur einige der hetzerischsten bürgerlichen Blätter verboten, und auch das mit der ausdrücklichen Betonung auf der kritischen Situation und mit der Zusicherung: „Sobald die neue Ordnung sich gefestigt haben wird, werden jegliche administrative Einwirkungen auf die Presse eingestellt werden; sie wird völlige Freiheit im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit vor dem Gesetz erhalten …“(38) Erst nachdem die Kadetten mehrfach die bewaffnete Konterrevolution unterstützten, wurden sie verboten. Die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki durften weiterhin – trotz ihres teils offenen, teils versteckten Kokettierens mit der Konterrevolution in den Sowjets und dessen Exekutivkomitee gegen die Bolschewiki auftreten. In den Herrschaftsgebieten der Weißen wurden blutige Massaker verübt. In Finnland ermordeten die „Vertreter von Recht und Ordnung“ 23.000 Rote, in der Ukraine wurden ebenfalls viele Kommunisten sowie ca. 100.000 Juden hingeschlachtet. Und als die rechten Sozialrevolutionäre sich offen mit der vom Imperialismus unterstützten tschechoslowakischen Legion und den Monarchisten zusammenschlossen, auf die Zentren der Revolution vormarschierten, eine Gegen-Regierung in Samara bildeten und ein blutiges Regime in ihren Territorium errichteten, da mußte die Sowjetmacht handeln und diese Feinde aus den Sowjets ausschließen (39). Alles andere wäre in Wirklichkeit verbrecherischer Leichtsinn gewesen. Ähnlich auch die Menschewiki, deren rechter Flügel die bewaffnete Konterrevolution unterstützte und den westlichen Imperialismus zum Einmarschieren aufrief, und deren linker Flügel während der schrecklichen Hungerkatastrophe in Petrograd und der oben erwähnten Bedrohung versuchte, einen Generalstreik in Petrograd zu organisieren.

Nein, diese Parteien mußten verboten werden. Noch nie konnte die Revolution in ihrer Mitte das offen konterrevolutionäre Treiben dulden und wenn sie es in ihrer Unerfahrenheit doch tat, wurde sie dafür rasch bestraft (wofür die zehntausend massakrierten Kommunarden des revolutionären Paris 1871 ein tragisches Beispiel sind). Tatsächlich waren die Repressionsmaßnahmen der Sowjetmacht reagierend, eine Antwort auf die konterrevolutionäre Bedrohung und auf die blutigen Exzesse der Weißen und ihrer Unterstützer. So war auch der vielzitierte rote Terror eine Reaktion auf den schon viel früher einsetzenden weißen Terror. Es ist eine simple Tatsache, daß der rote Terror in der 2.Jahreshälfte und v.a. nach dem September 1918 einsetzte – also nachdem die Weißen (mit Unterstützung der Imperialisten) einen gnadenlosen Terrorfeldzug gegen die junge Sowjetmacht begannen und eine Serie von Attentaten (inklusive auf Lenin) organisierten. Der bolschewistische Führer Eugen Preobrashenski meinte: „Nie war die Rätemacht ihrem Sturze so nah wie im Sommer 1918.“ Victor Serge, ein großartiger Augenzeuge und Kämpfer der Revolution, faßte den schwierigen Entschluß der proletarischen Avantgarde gut zusammen: „Es bedurfte zehn Monate des blutigen und blutigeren Kampfes, der Verschwörungen, Sabotage, Hungers, Attentaten; es bedurfte ausländischer Interventionen, des weißen Terrors in Helsinki, Samara, Baku und der Ukraine; es bedurfte des Blutes von Lenin bevor sich die Revolution schließlich entschloß, die Axt fallen zu lassen! Und das in einem Land, wo die Massen in einer Schule der Autokratie mit Verfolgungen, Auspeitschungen, Erhängungen und Erschießungen aufgewachsen sind!“(40)

Oft wird die Tscheka, der sowjetische Geheimdienst, als besonders abschreckendes Beispiel für den roten Terror genannt (41). Ernest Mandel, der verstorbene Führer der zentristischen Vierten Internationale, meint in seinem Buch zur Oktoberrevolution – einer über weite Strecken gelungenen Verteidigung dieses historischen Ereignisses – sogar, daß die Gründung der Tscheka an sich schon ein Fehler war (42). Auch hier gilt es, nicht den Sinn für Proportionen zu verlieren. Die Aufgabe der Tscheka lag sowohl im Kampf gegen Saboteure und Konterrevolutionäre als auch gegen Kriminelle, Banden etc. Sie war nicht als Instrument des Massenterrors konzipiert. In der ersten Jahreshälfte führte die Tscheka in ganz Sowjet-Rußland nur 22 Exekutionen aus. Ohne Zweifel, als der rote Terror organisiert werden mußte, stiegen die Bedeutung und auch die Exekutionen der Tscheka. In den blutigen Monaten des volleskalierten Bürgerkriegs liquidierte die Tscheka tatsächlich tausende. Die offiziellen Zahlen für die gesamten Bürgerkriegsjahre liegen bei knapp über 12.000, die höchsten Schätzungen von bürgerlichen Historikern gehen bis zu 50.000. Es besteht kein Zweifel darüber, daß unter diesen auch eine Reihe Unschuldiger waren. Oft waren die Roten gezwungen, Geisel aus den Reihen der Bourgeoisie oder der Kulaken (und auch die Zarenfamilie) zu nehmen und auch teilweise zur Abschreckung zu erschießen. Solche Dinge sind nie schön, aber – und das gilt es zu verstehen – in einer Situation des Bürgerkrieges oft unvermeidlich, weil effektiv. Für unserereins, die in friedlichen, ruhigen Ländern aufgewachsen sind, mag dies nur schwer nachvollziehbar sein. Aber es ist eine simple militärhistorische Tatsache, daß in einem Bürgerkrieg, wo jede Seite überzeugt von ihrem bevorstehenden Sieg ist, daß in einer solchen Situation eine Gefängnisstrafe – und sei sie lebenslänglich – keine besondere Abschreckungskraft besitzt: Die Betreffenden glauben ja, daß sie nach dem Sieg ihrer Seite bald wieder frei kämen. Deswegen waren die Bolschewiki gezwungen, im Bürgerkrieg wieder die Todesstrafe einzuführen.

Aber die Bolschewiki sackten eben nicht zu bloßen Terroristen hinab. Dies konnten sie auch gar nicht, denn auf der Ebene der militärischen Machtmittel stand den Weißen ein viel größerer Gewaltapparat zur Verfügung (inklusive 21 ausländischen Armeen). Ihre wirkliche Kraft lag in der enthusiastischen Unterstützung vieler Arbeiter und armen Bauern sowie der passiven Sympathie der breiten Bauernmassen. Der Terror war nur ein untergeordnetes Beiwerk. Genau aus diesem Grund versuchten sie nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, die notwendige Repression zu lockern, soweit es möglich war. So wurde z.B. die Todesstrafe wieder aufgehoben, als der Bürgerkrieg vorüber schien. Als jedoch Sowjet-Rußland erneut im Mai 1920 von Polen angegriffen wurde, mußte diese Maßnahme rückgängig gemacht werden. Ebenso wurden im Herbst 1919 eine Zeitlang die Menschewiki wieder in den Sowjets zugelassen, doch erneut zwang der Bürgerkrieg die Rücknahme. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier der Übergangscharakter von solchen Unterdrückungsmaßnahmen im Konzept der Bolschewiki. Der rote Terror war letztlich ein notwendiges Mittel des Klassenkampfes – in erster Linie gegen die Bourgeoisie und ihre Unterstützer gerichtet. Trotzki faßte dies treffend in einem Disput mit dem deutschen General Hoffmann während der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk zusammen: „Was die Regierungen der anderen Länder an unseren Aktionen verwundert und alarmiert, ist, daß wir anstatt den Streikenden die Unternehmer verhaften, welche die Arbeiter aussperren; daß wir nicht die Bauern erschießen, die Land fordern, sondern die Gutsherren verhaften und erschießen sowie die Offiziere, die auf die Bauern schießen wollen …“(43) Und schließlich muß man auch die quantitativen Proportionen erkennen. All die unerbitterlichen Kritiker des bolschewistischen Terrors sollten zur Kenntnis nehmen, daß der rote Terror nicht nur eine Reaktion auf den weißen Terror war, sondern daß er auch weniger Opfer forderte als die bürgerliche Reaktion. Ganz abgesehen von den zehntausenden direkt Ermordeten sollte man auch nicht die Millionen Hungertoten vergessen, die Sabotage, aufgezwungener Bürgerkrieg und imperialistische Blockade zu verantworten haben. Die angeblich so skandalösen Zahlen von maximal 50.000 Opfern der Tscheka nehmen sich in mehr als drei Jahren Bürgerkrieg in einem mit Land mit 160 Millionen Einwohnern nicht so groß heraus, wie es uns die Gegner des Oktober darstellen wollen. Nur ein kleiner historischer Vergleich: Im revolutionären Frankreich, ein Land mit damals 25-30 Millionen Einwohnern, fielen in Paris alleine in den 9 Tagen nach dem „Dekret des 22 Prairial“ 1.376 Köpfe. Wieviele Terroropfer forderten die aufständischen Ketzer- und Reformationsbewegungen des Mittelalters, die englische Revolution usw.?! Letztlich kann sich der historische Fortschritt der Menschheit nicht ohne Blutvergießen den Weg durch all die – oft sehr gewalttätigen – Hindernisse der alten Ordnung bahnen. Wer die Revolution befürwortet, muß auch ihre Konsequenzen mittragen!

Aber wäre es denn nicht vielleicht ratsamer, die Revolution überhaupt zu lassen? Nun, wir haben in diesem Jahrhundert die tragischen Konsequenzen gescheiterter Revolutionen gesehen: 2 Weltkriege mit zusammen 70-80 Millionen Toten, Hungerkatastrophen, soziale Verelendung in großen Teilen der Welt usw. Nur eine erfolgreiche Revolution zumindest in den wichtigsten Ländern kann diesen gordischen Knoten von Hunger und Krieg endgültig zerschlagen.

Die ‚linken‘ Kritiker der Oktoberrevolution

Abschließend wollen wir noch auf einen Einwand der Anarchisten und anderer Ultralinker eingehen. Die Bolschewiki, so diese Kritiker, haben nicht nur die Bourgeoisie unterdrückt, sondern auch linke Parteien und manchmal auch Arbeiterkämpfe. Auch hier kann dieser Vorwurf nur im Lichte der konkreten historischen Bedingungen überprüft werden. Es ist bezeichnend, daß der anonyme anarchistische Autor des oben erwähnten neuerschienenen Artikels „Beyond Kronstadt“ am Ende eingesteht, daß eine abgerundete Kritik am bolschewistischen Kurs und die Präsentation einer Alternative seitens der Anarchisten noch immer nicht besteht und dies eine Aufgabe der Zukunft sei (nach 80 Jahren wird es wohl langsam Zeit!). Doch das hält den Autor nicht davon ab, mit umso mehr Selbstbewußtsein viele Zentralisierungs- und Repressionsmaßnahmen der Sowjet-Regierung in der Luft zu zerreißen.

Nehmen wir nur ein paar wichtige heraus. Einer der traditionellen und auch hier wiedergegebenen Kritikpunkte besteht darin, daß die Bolschewiki schon bald nach ihrer Machtübernahme die Fabrikkomitees, die ja eine ihrer Hochburgen waren, entmachtet hätten und stattdessen mit Kapitalisten verhandelt und einen Staatskapitalismus errichtet hätten. Tatsächlich stand die neu entstandene Sowjetrepublik vor ungeheuren Schwierigkeiten. Die bereits oben beschriebenen konterrevolutionären Gefahren wurden auch noch von einer zerfallenden Wirtschaft begleitet. In dieser Situation zeigten sich die Grenzen der Fabrikkomitees. Als in erster Linie betriebliche Organe tendierten sie v.a. in einer Situation des wirtschaftlichen Zerfalls zu einem gewissen Betriebsegoismus. Sie neigten dazu, den Betrieb in ihre eigene Hand zu nehmen und nach eigenen Wünschen zu führen. Man muß sich an dieser Stelle noch einmal vergegenwärtigen, daß durch diese Krise das Industrieproletariat selbst alleine in den ersten 5 Monaten 1918 sich mehr als halbierte. Das Problem verschärfte sich mit dem Hunger in den Städten, was zu einem Aufleben von Diebstahl von Fabriksgütern und sogar -maschinen führte. Das war natürlich in dieser Situation unakzeptabel. Eine Bündelung der bereits ausgezehrten wirtschaftlichen Ressourcen war unabdingbar, die Produktion mußte angekurbelt werden. Aus diesem Grund schlugen die Bolschewiki vor, die Fabrikkomitees mit den zentralisierteren Gewerkschaften zu fusionieren und gleichzeitig wurden Vertreter der Fabrikkomitees in den neugeschaffenen Volkswirtschaftsrat entsendet. Eine Zentralisierung und gleichzeitig auch eine bedingte Zusammenarbeit mit bürgerlichen Fachleuten war unvermeidlich, da die Arbeiter zumeist noch nicht über das erforderliche Spezialwissen verfügten.

Ebenso lehnt der anarchistische Autor die unumgängliche kriegskommunistischen Maßnahmen der Bolschewiki während des Bürgerkrieges ab, mittels derer sie die Versorgung der Städte auf Kosten der Mittelbauern und Kulaken sicherten. Der kleinbürgerliche Anarchist fühlt sich hier, wie auch die linken Sozialrevolutionäre, dem kleinbürgerlichen Bauern näher als dem proletarischen Städter. Und auch der russische Historiker Roy Medwedew behauptet in Verdrehung der Tatsachen: „In der sowjetischen Literatur wurde lange Zeit behauptet, Bürgerkrieg und Intervention hätten ‚Kriegskommunismus‘ und ‚Roten Terror‘ nach sich gezogen. Aber es war eigentlich umgekehrt. Die ausgesprochen harte Wirtschaftspolitik der Bolschewiki mündete in Terror und Bürgerkrieg.“(44) Wie kann man als Historiker nur ignorieren, daß zu dieser Zeit bereits von allen Seiten imperialistische Truppen aufmarschierten, sich weiße Generäle zum Angriff formierten, Unternehmer Sabotage betrieben, die Kulaken Getreide u.ä. horteten und die Städte hungerten?! Die Revolution mußte um ihres Überlebens willen zu drastischen Maßnahmen greifen. Die Kritik der Anarchisten setzt sich im Protest gegen die verschiedenen Formen der Unterdrückung von Sozialrevolutionären und Menschewiki fort, welche wie oben angeführt, mit Streiks und Gewalt die bedrohte Sowjetmacht attackierten.

Ebenso unverständlich scheint dem Autor, daß die Bolschewiki gegen die kleinbürgerlichen linken Sozialrevolutionäre vorgehen mußten, als sie im Juli 1918 einen bewaffneten Aufstand organisierten, um Sowjet-Rußland in einen neuen Krieg mit Deutschland zu stürzen. Der Aufstand konnte aufgrund der geringen Unterstützung innerhalb von 24 Stunden unter Kontrolle gebracht werden. Es gab nur wenige Repressalien und selbst der Bolschewisten-Hetzer Pipes muß feststellen: „In Wirklichkeit behandelten die Bolschewiki die Linken Sozialrevolutionäre mit höchst ungewöhnlicher Nachsicht.“(45) Doch unsere anarchistischen Freunde bleiben davon unbeeindruckt.

Schließlich führen sie die Ereignisse von Kronstadt, also der Niederschlagung des reaktionären Matrosenaufstandes 1921, an (46). „Beyond Kronstadt“ fügt keine wesentlich neuen Argumente zu den bereits bekannten anarchistischen Thesen. „Die Matrosen wollten einfach Demokratie, nur halt ‚Sowjets ohne Bolschewiki'“. Im wesentlichen wurde zu dieser Frage schon alles wesentliche von Lenin und Trotzki selber gesagt (47). Unabhängig von den Intentionen vieler einfacher Matrosen, die von ihren Führern ausgenützt wurden, stellte der Aufstand objektiv eine tödliche Gefahr für die nach drei Jahren Bürgerkrieg am Boden liegende Sowjet-Macht dar. Es sind unleugbare Tatsachen, daß der Führer des Aufstandes Petrichenko nachher offen mit den Weißen zusammenarbeitete, daß schon vorher zumindest einige der Führer wie der reaktionäre General Koslowski mit den Weißen in engem Kontakt standen, daß es konkrete Pläne gab, französische Kriegsschiffe nach dem Schmelzen des Eises nach Kronstadt zu holen (48) usw. Doch diese Tatsachen kehrt der hochgeistige anarchistische Autor unter den Tisch. Er setzt sich lieber mit abstrakten „demokratischen Prinzipien“ und der „mangelnden Demokratie der Bolschewiki“ auseinander. Dabei ignoriert er ganz einfache historische Fragen, die nebenbei die meisten „demokratischen“ Kritiker der Bolschewiki vergessen: Was für eine Demokratie ist in einem (rückständigen) Land möglich, das nach drei Jahren Weltkrieg, drei Jahren verheerenden Bürgerkriegs, 8 Millionen Toten und breitester Verwüstung am Boden liegt? Welche konkreten Kräfte existierten damals, um das Land führen zu können? Der Kronstädter Aufstand selber hatte außer ein paar Losungen weder ein Programm noch eine alternative nationale Kraft zu bieten. Wenn die Bolschewiki ihren Forderungen nachgegeben und die Macht an sogenannte „Sowjets ohne Bolschewiki“ übergeben hätten, dann hätte es bald weder Sowjets noch Bolschewiki, sondern eine ungezügelte weiße Diktatur gegeben, die grausamste Rache für die Enteignungen und Demütigungen ihrer Klasse seit dem Oktober 1917 genommen hätte.

Der ehemalige Anarchist Victor Serge drückte das Dilemma der russischen Revolution in dieser Situation gut aus: „‚Die III. Revolution!‘ sagten einige Anarchisten, die mit kindlichen Illusionen vollgestopft waren. Allein, das Land war völlig erschöpft, die Produktion stand fast völlig still, es gab keine Reserven irgendwelcher Art mehr, nicht einmal Reserven an Nervenstärke in der Seele der Massen. Die Elite des Proletariats, die in den Kämpfen mit dem Zarenregime geprägt worden war, war buchstäblich dezimiert. Die Partei, die durch den Zulauf derer, die sich mit der Macht ausgesöhnt hatten, angewachsen war, flößte wenig Vertrauen ein. Von den anderen Parteien waren nur noch winzig kleine Kader von mehr als zweifelhafter Fähigkeit vorhanden. Sie konnten sich natürlich im Laufe von Wochen neu bilden, aber nur dadurch, daß sie Verbitterte, Unzufriedene und Aufgebrachte aufnahmen – und nicht mehr wie 1917, Enthusiasten der Revolution. Der sowjetischen Demokratie fehlte es an Schwung, an Köpfen, an Organisationen und hinter sich hatte sie nur ausgehungerte und verzweifelte Massen.“(49) Damit spricht Victor Serge ein fundamentales Problem der russischen Revolution an: Die Rätedemokratie braucht eine materielle Basis – nämlich ein Proletariat, aus dessen Mitte eine Schicht politischer Aktivisten hervorgeht, welche die treibende Kraft der Diskussionen und Entscheidungen verkörpern. Alleine der von der Bourgeoisie aufgezwungene Weltkrieg und dann Bürgerkrieg dezimierte das Proletariat. Die politisch weitsichtigsten Teile starben entweder im Bürgerkrieg an der Front oder gingen in den enormen Aufgaben der Partei- und Staatsverwaltung auf – und wurden somit mehr und mehr von der Eigendynamik einer Bürokratie aufgesogen, ohne daß das notwendige Korrektiv einer proletarischen Klasse an der Basis bestanden hätte (50).

Hier mögen jene, die schon immer wußten, daß Rätedemokratie und Bolschewismus nichts mit einer wirklich demokratischen Mehrheit des Volkes zu tun haben, aufschreien und sagen: „Jetzt gebt ihr also zu, daß die Diktatur des Proletariats in Wirklichkeit zu einer Diktatur der Partei wurde.“ Natürlich ist dies kein sonderlich origineller Vorwurf, stellten doch schon Lenin und Trotzki diesen Tatbestand fest (51). Doch sollten gerade dieseKritiker etwas vorsichtiger mit ihren Vorwürfen sein, taten doch gerade die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien alles, damit dieser Bürgerkrieg sich möglichst in die Länge zieht und viele Opfer fordert.

Es überrascht kaum, daß der Vorwurf des Substitutionalismus zum Standardrepertoire der reformistischen Kritiker der Oktoberrevolution gehörte. Schon der Vordenker der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, wälzte diese These in mehreren Büchern breit (52). Tatsächlich wurde die Oktoberrevolution von einer Partei angeführt, die mehr aktive Unterstützung und Basisnähe sowie mehr lebendige innerparteiliche Diskussion als jemals ein reformistische Partei hatte (53)! Umso befremdlicher ist es, daß Ernest Mandel in seinem Buch zur Oktoberrevolution sich dem Vorwurf des Sustitutionalismus anschließt (54). Zwar seien Trotzki und Lenin davon weitgehend freizusprechen, aber die Partei als Ganzes…. Scheinbar hinterließ die heftige Abwendung vieler Ex-Stalinisten von der Oktoberrevolution gewisse Spuren in Mandels Einschätzungsvermögen.

Der Vorwurf „Diktatur der Partei vs. Diktatur des Proletariats“ verrät ein ziemlich schematisches Denken. Partei und Klasse sind keine entgegengesetzten Begriffe, sondern setzen einander voraus und sind aufs engste miteinander verwoben. Eine Partei ist der bewußte politische Ausdruck einer Klasse oder einer bestimmten Schicht. Die Bolschewiki, wie wir gezeigt haben, sammelten in ihrer Reihe die bewußten und aktiven Arbeiter – sprich die Vorhut der Klasse. Aufgrund der tragischen Entwicklung des Bürgerkriegs wurde das Proletariat dezimiert, teilweise strömten bäuerliche Elemente ohne Klassen-Tradition in die Fabriken usw. – kurz die Vorhut verlor ihre Basis. Letztlich bekämpften einander zwei Minderheiten – die proletarische Vorhut in Form der bolschewistischen Massenpartei gegen die bürgerliche Vorhut in Form der weißen Generäle und diverser kleinbürgerlicher Kader. Dazwischen stand nach Jahren des Hungers und der Entbehrung eine verzweifelte und erschöpfte Masse. Es ist wahr und nur allzu tragisch, daß die proletarische Vorhut manchmal gezwungen war, gegen rückständige Teile der Klasse, die sich zu schädlichen Streikaktionen u.ä. aufhetzen ließen, vorgehen mußte. Hier gibt es nichts zu beschönigen, aber die Gesetze der Revolution erzwingen manchmal solche tragischen Notwendigkeiten.

Aber was war die Alternative? Hätten die Bolschewiki stattdessen die Macht freiwillig den Weißen übergeben sollen? Nein, wir Bolschewisten sind keine Schönwetter-Marxisten, die den Sozialismus nur unter günstigen Bedingungen verteidigen. Nein, der Kampf für die proletarische Revolution muß unter allen, auch den ungünstigsten Bedingungen vorangetrieben und verteidigt werden. Und das erfordert eben manchmal harte Entscheidungen. Unsere Position läßt sich daher treffend mit den  Worten Karl Radeks zusammenfassen: „Wir gehen friedlich zu unseren Zielen wenn möglich, mit Gewalt wenn notwendig. Die historische Erfahrung des Proletariats sagen ihm, daß die Gewalt notwendig sein wird; es hängt von der Bourgeoisie ab, die Erfahrungen zu korrigieren.“(55)

Deswegen irritieren uns auch nicht all die von den Anarchisten zitierten Aussprüche von Lenin, wo dieser ein rücksichtsloses Vorgehen und Exekutionen gegen anti-sowjetische Aufständische fordert. Es ist kein Zufall, daß so erzreaktionäre Autoren wie Richard Pipes einen Gutteil seines neuen Buches „The Unknown Lenin“ ebenfalls mit solchen „entlarvenden“ Dokumenten füllen (56). Trotzdem existiert hier natürlich ein Unterschied. Während Leute wie Pipes damit beweisen wollen, daß eine sozialistische Revolution nur von terroristischen Fanatikern gemacht werden kann und daher abgelehnt werden muß, träumen die Anarchisten von einer „sauberen Revolution“ ohne Brutalitäten und Terror (57). Allein, es ist nicht möglich, wie die Geschichte großer Revolutionen wiederholt bewies. Wer wirklich auf Seiten der Oktoberrevolution steht, der kann ihr nicht das Recht auf Selbstverteidigung absprechen. Man darf nicht das abstrakte Prinzip einer erwünschten Revolution über die tatsächliche Revolution stellen. Die Anarchisten und Zentristen sind dazu nicht in der Lage – weswegen sie auch noch nie eine Revolution auch nur annähernd zustande gebracht haben, selbst wenn sie einen gewissen Masseneinfluß hatten. Sollten wir uns in einer zukünftigen Revolution in einer ähnlichen Situation wie die Bolschewiki befinden, wir würden nicht eine Sekunde zögern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das höhere Gut – die Revolution – zu retten. Jeder Marxist, der das Gegenteil behauptet, ist entweder ein Lügner und streut der proletarischen Avantgarde Sand in die Augen oder er ist realitätsferner Dogmatiker, der die Revolution abstrakten Prinzipien opfert. Beide Fälle haben nichts mit revolutionärem Marxismus, aber viel mit verbalem Revolutionarismus zu tun.

Anarchismus und Zentrismus in der Oktoberrevolution

Welche Rolle spielten nun die Anarchisten und Zentristen selber in der Oktoberrevolution? Diese Gruppierungen – wie auch ihre heutigen Nachfolger – wurden nicht müde, über die Fehler der Bolschewiki herzuziehen. Allein, was war ihre Praxis? Die Anarchisten waren heillos zerstritten und verfolgten völlig unterschiedliche Strategien. Teile von ihnen kämpften im Oktober mit den Bolschewiki, andere führende Anarchisten (58) erklärten noch 1918, daß sie schon immer gegen die Machtergreifung im Oktober gewesen seien. Viele lehnten die Sowjets ab, da sie doch auch nur eine Form staatlicher Autorität seien. Es liegt auf der Hand, daß ein solch wirrer, kleinbürgerlicher Pseudo-Radikalismus leicht gefährlich werden konnte. Der reaktionäre General Gopper berichtete später selber, daß konterrevolutionäre Untergrundorganisationen wie auch ausländischen Geheimdienste die diversen anarchistischen Grüppchen infiltrierten. Teile wollten 1918 einen bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht ausführen.

Nachdem die Tscheka diese anarchistischen Clubs relativ unblutig auflöste, ging ein Teil in die Ukraine, wo sie sich bald der Machno-Bewegung anschlossen. Diese Bewegung kämpfte teils gegen die deutschen Besatzer und deren Vasallen, teils gegen die Rote Armee. An ihrer Spitze standen wohlhabendere Bauern und diese kleinbürgerliche Bewegung ermordete nicht nur viele Kommunisten, sondern trägt auch die Verantwortung für diverse antisemitische Exzesse. Die besseren Teile der Anarchisten schlossen sich den Bolschewiki an.

Wir haben wiederholt auf die Unfähigkeit der Ultralinken hingewiesen, ihre Dogmen mit den praktischen Erfordernissen des konkreten Klassenkampfes in Einklang zu bringen. Wir wollen dies anhand einer Anekdote beleuchten, die Victor Serge überlieferte. Als die Weißen vor Petrograd standen, schickten sie eine Reihe von Saboteuren in die Stadt. Wenn die Tscheka ihrer habhaft wurde, wurden sie erschossen. Es ergab sich, daß sich ins Hauptquartier einer anarchistischen Gruppe, die die Verteidigung der Stadt mittrug, ein solcher weißer Agent einschlich. Er plazierte dort eine Bombe, die viele Anarchisten tötete. Nach einigen Nachforschungen entlarvten die Anarchisten ihn als Urheber des Attentats. Nun begann die Frage, was mit ihm tun. Sollten sie ihn exekutieren? Das widersprach aber ihren Idealen. Freilassen? Das konnte man wohl auch kaum nach diesem schrecklichen Ereignis. Man einigte sich schließlich darauf, diesen Agent der Tscheka auszuliefern, im Wissen, daß diese ihn sofort erschießen würde. Dadurch würde die Tat bestraft, aber sie müßten sich nicht die Hände schmutzig machen. Das ganze endete schließlich damit, daß den anarchistischen Soldaten, der ihn zur Tscheka hätte bringen sollen, auf der Mitte des Weges das schlechte Gewissen befiel und er den Mörder seiner Kameraden laufen ließ anstatt der Tscheka zu übergeben! Wohlmeinend, aber hoffnungslos naiv, kann man zusammenfassen.

Die Geschichte des Zentrismus in der russischen Revolution ist nicht viel besser. Die besten unter ihnen stießen im Sommer 1917 zur Bolschewistischen Partei (wie die Meshrayonzi um Trotzki, Joffe und Lunatscharski sowie einzelne linke Menschewiki). Doch die Menschewiki-Internationalisten um Martow sowie die Gruppe um Maxim Gorki und seine nicht uneinflußreiche Zeitung Novaya Zhizn spielten eine unglückliche Rolle in der Revolution. Sie protestierten heftig gegen den bewaffneten Aufstand im Oktober (übrigens lehnten auch die kleinbürgerlichen linken Sozialrevolutionäre den Aufstand ab). Als sich das Rad der Geschichte als mächtiger erwies, forderten sie vehement eine „sozialistische Allparteien-Koalition“, sprich eine Koalition aus Befürwortern der Losung „Alle Macht den Sowjets“ (den Bolschewiki) und ihren Gegnern (Sozialrevolutionäre und Menschewiki), die noch im Juli die Verhaftung und Unterdrückung der Bolschewiki unterstützten! Eine solche Koalition hätte sich in keiner einzigen Grundfrage der Revolution einigen können (Fortsetzung oder Beendigung des Krieges, Agrarrevolution, Arbeiterkontrolle über die Industrie usw.) und wäre daher höchst schädlich gewesen. Und auch als die Auflösung der Konstituierenden Versammlung notwendig wurde, widersprachen die Zentristen auf heftigste (die linken Sozialrevolutionäre unterstützten diese Maßnahme). Die Liste ließe sich beliebig weiter fortsetzen.

Was war der Grund dafür, waren die Zentristen etwa keine aufrechten Sozialisten? Nein, das war nicht der Grund. Aufrecht waren sie durchaus, nur ist bekanntlich der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Das zentrale Problem des Zentrismus war (und ist) jegliches Fehlen proletarischer Klassenunabhängigkeit. Das Fehlen eines klaren und konsistenten Programms überträgt sich in der praktischen Politik in den Unwillen, zu führen, den Mangel jeglicher Initiative und eigenständiger Positionen. So ist der Zentrismus gezwungen, sich als kritischer Unterstützer mal der reformistischen, mal der revolutionären Richtung anzubieten – im Zweifelsfall für den Reformismus. Keine klare Linie, sondern Zick-Zack, Zaudern und Unentschlossenheit. Sein größter Vorwurf an den Bolschewismus ist das „Sektierertum“ und die „Spaltung der Einheit der Arbeiterbewegung“. Seine Existenzberechtigung liegt daher in der Vermittlung zwischen den Fronten (damals hieß das „sozialistische Allparteien-Regierung“, heute heißt das „Einheit der Linken“). Die Angst vor der Isolation, dem Gezwungensein, auf eigenen Füßen zu stehen, treibt den Zentrismus dazu, die Nähe eines größeren Bündnispartners zu suchen und sich zu diesem Zwecke (meist unbewußt) an dessen Politik anzupassen.

Schluss

Ein Teil des heutigen Zentrismus versucht sich von diversen Konsequenzen der Oktoberrevolution zu distanzieren, da in dieser Frage von den erhofften linksreformistischen Bündnispartnern ein enormer Druck ausgeht. Wer möchte heute noch etwas mit dem Bolschewismus zu tun haben, ohne sich gleichzeitig ein für alle Mal die Chancen auf ein Regierungsamt zu vermasseln? Der inzwischen bereits verstorbene Mandel und das „Vereinigte Sekretariat“ haben bereits in den späten 1970er Jahren den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ gegen die „sozialistische Demokratie“ eingetauscht und den möglichen Gegensatz von Überlebensinteressen der proletarischen Revolution und bestimmten formal-demokratischen Grundsätzen weitgehend geleugnet.(59) Wie wir gezeigt haben, mag das zwar bei humanistischen Intellektuellen gut ankommen, aber in der Praxis kann es diesen Widerspruch manchmal geben. Andere Zentristen sind ganz orthodox in ihrer Verteidigung der Oktoberrevolution (60). Das können sie auch, denn dieses Ereignis ist mittlerweile schon 80 Jahre her. Wenn es aber darum geht, die wesentlichen Grundsätze des Bolschewismus in der aktuellen Politik und Programmatik zu berücksichtigen, springt der Unterschied umso mehr ins Auge.

Dabei bietet die Oktoberrevolution ein so reichhaltiges Arsenal revolutionärer Lehren: Von der Bedeutung einer revolutionären Kampfpartei, der Unabdingbarkeit der Orientierung auf eine sozialistische Revolution ohne eine künstliche Begrenzung auf „demokratische“ o.ä. Etappen, der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Isolation und der notwendigen Ausrichtung auf eine Internationalisierung der Revolution, der Stellenwert einer flexiblen Einheitsfront-Taktik mit reformistischen und zentristischen Kräften, ohne zu vergessen, daß diese die Revolution bei der nächstbesten Gelegenheit verraten können, der Unvermeidbarkeit eines bewaffneten Aufstandes, der Rolle der Gewalt in der Revolution usw (61).

Wenn wir nun die hier aufgerollte Kritik der bürgerlichen Historiker bilanzieren, müssen wir feststellen, daß sie sich im Grunde genommen nicht bloß gegen die Oktoberrevolution selber, sondern gegen den Gedanken der sozialen Revolution, des Aufbegehrens der Massen an sich, richtet. Manche von ihnen sind inkonsequent und verteidigen die bürgerliche Revolution (mit ihrer Gewalt und ihren Exzessen). Andere sind konsequenter und wollen auch die heroischen bürgerlichen Revolutionen der vergangenen Jahrhunderte aus unserem Gedächtnis streichen. Die bürgerliche Öffentlichkeit will ein für alle Mal den Gedanken des Aufbegehrens, der Revolution aus dem Bewußtsein der Arbeiter und der Jugend tilgen.

Allein, es wird ihnen nicht gelingen. Denn die materielle Misere der kapitalistischen Gesellschaft produziert unweigerlich den Willen zur Veränderung und Kampf. Daher sammeln wir Marxisten all die Erfahrungen der vergangenen Revolutionen, der erfolgreichen wie der erfolglosen, studieren und lernen daraus. Für uns sind die bürgerlichen Revolutionen nur der Beginn – und nicht das Ende – der Geschichte moderner Revolutionen. Die Oktoberrevolution ist vorläufiger Höhepunkt – nicht der Tiefpunkt – eines neuen geschichtlichen Abschnitts, in dem der Mensch sein Schicksal selber in die Hand nimmt. Die Oktoberrevolution war der erste, aber gewiß nicht der letzte erfolgreiche Versuch, die Misere des Kapitalismus ein für alle mal zu beenden. Wir, die Liga für die 5. Internationale, kämpfen für eine neue Oktoberrevolution. Noch erlaubt das politische Kräfteverhältnis dies nicht. Die damaligen Gegner und halbherzigen Unterstützer der Oktoberrevolution dominieren heute noch die Arbeiterbewegung. 1997 ist daher nur ein Jahr der weiteren Vorbereitungsarbeit für einen neuen Oktober. Aber wer weiß, vielleicht werden wir 2017 die Frage der Revolution nicht nur historisch und programmatisch diskutieren, sondern ganz praktisch erforschen!

Anmerkungen

(1) Bezeichnenderweise ließ der „Demokrat“ Jelzin die Archive wieder schließen bzw. sind diese nur in Einzelfällen gegen hohe Geldbeträge zugänglich.

(2) Wer erinnert sich noch an das Buch des liberalen US-Philosophen Francis Fukayama Anfang der 1990er Jahre, der das „Ende der Geschichte“ postulierte, weil nun die kapitalistische Demokratie auf immer und ewig gewonnen habe? Noch heute glaubt dieser Professor das! Siehe auch das Interview im Standard vom September 1997.

(3) Leitartikel in „Retsch“, 16.9.1917; zitiert in W.I.Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?, LW 26, S.73

(4) Roman Rosdolsky: Zur Russischen Revolution, in: Ulf Wolter (Hrsg.): Sozialismus-Debatte, Berlin 1978, S.204; Nichtsdestotrotz muß man auch hier differenzieren zwischen so reaktionären Hetzern wie Richard Pipes oder Francois Furet und hochqualifizierten und um Objektivität bemühte Historiker wie Edward H. Carr (The Bolshevik Revolution 1917-1923, Bd. I-III, London 1966) oder Robert V. Daniels (Das Gewissen der Revolution, Köln 1962). Letztere sind nach wie vor eine wichtige Quelle zum Studium der russischen Revolution.

(5) Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd. 1 und 2, Berlin 1992

(6) Helmut Altrichter: Rußland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997, S.212. Siehe z.B. auch S.230

(7) Zitiert bei Altrichter o.a., S.224

(8) Die Machtübernahme in Petrograd verlief weit unblutiger als die Februarrevolution. Während im Oktober nur einige dutzend Menschen ums Leben kamen, starben 8 Monate zuvor mehr als 1.200.

(9) Die Kadetten waren die Hauptpartei des republikanisch gesinnten russischen Bürgertums. Unter dem Zaren stellten sie eine kritische, aber loyale Opposition dar. Nach der Februarrevolution dominierten sie zuerst die Regierung und bildeten dann eine Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären. Nach der Revolution verloren sie rasch an Bedeutung. Die verzweifelt um ihre alte Macht und Privilegien kämpfende Bourgeoise wendete sich im Bürgerkrieg reaktionären, anti-semitischen Generälen wie Denikin, Koltschak oder Wrangel zu.

(10) Die Sozialrevolutionäre wurden 1902 gegründet und stützten sich auf die Tradition der Narodniki. Sie verkörperten v.a. den bäuerlichen und kleinbürgerlichen Radikalismus gegen den Zarismus, aber mit nur konfusen sozialistischen Zielen. Im Sommer 1917 spaltete sich die Partei in einen linken Flügel, der – wenn auch mit Schwankungen – mit den Bolschewiki zusammenarbeitete und einen rechten Flügel, aus dessen Reihen der Vorsitzende der bürgerlichen Provisorischen Regierung Kerenski stammte und der nach dem Oktober den bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht aufnahm.

(11) Der reformistische Flügel der Sozialdemokratie. Sie befürworteten eine bürgerliche Regierung, da sie die Überwindung des Kapitalismus für unmöglich hielten. Unterstützen nach der Revolution die militärische Intervention der imperialistischen Mächte.

(12) Leo Trotzki: Die Geschichte der Russischen Revolution, Bd. 2.2, Frankfurt a.M. 1973, S.915

(13) Pipes, o.a. S.281

(14) An den militärischen Operationen in Petrograd nahmen laut Trotzki ca. 25.-30.000 Rotgardisten und Soldaten teil.

(15) In Petrograd beispielsweise wurde eine Exekutive mit 13 Bolschewiki, 6 Sozialrevolutionären und 3 Menschewiki sowie Trotzki als Vorsitzender gewählt.

(16) Beim Kornilow-Putsch handelte es sich um einen versuchten Staatsstreich eines reaktionären Generals, der ursprünglich mit dem Regierungschef zusammenarbeitete, um die Sowjets zu schwächen und die Kriegsanstrengungen zu verstärken. In diesem gemeinsamen Vorgehen versuchte Kornilow dann allerdings erster zu werden – und wurde letzter; Kerenski mußte allerdings zwei Monate später ebenfalls aus dem Winterpalais flüchten.

(17) Die reformistisch dominierte Exekutive der Sowjets unterstützte sogar die Mitte Juni begonnene Großoffensive der russischen Armee gegen die Deutschen, die wenige Wochen später mit einer verheerenden Schlappe endete.

(18) Damit waren die Vertreter der Kadetten in der Regierung gemeint.

(19) Nadeshda Krupskaja: Errinnerungen an Lenin, Berlin 1959, S.406

(20) So die Izvestiia, die Zeitung der offiziellen Sowjetführung Moskaus; Zitiert bei Alexander Rabinovich: The Bolcheviks come to power, S.111f

(21) Beide Dokumente sind enthalten in der hervorragenden Dokumentensammlung von Richard Lorenz (Hrsg.): Die Russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten, München 1981, S.116 und 119

(22) zitiert bei Ted Grant: Russia – from Revolution to Counterrevolution, London 1997, S.62

(23) zitiert bei Ernest Mandel: Oktober 1917 – Staatsstreich oder soziale Revolution, S.20f

(24) John Reed: Zehn Tage die die Welt erschütterten, Berlin 1976, S.275

(25) So der deutsche antikommunistische Historiker Oskar Anweiler; zitiert bei E. Mandel o.a., S.21

(26) Altrichter o.a., S.299

(27) Dies ist wichtig zu betonen, da in unterschiedlichen Situationen Selbstverwaltungsorgane der Massen unterschiedliche Namen und Formen annehmen können. In Rußland z.B. gab es neben den Räte die Fabrikkomitees, während auf dem Land die sogenannten Gemeindekomitees lange Zeit die zentralen Organe waren. In der revolutionären Situation in Deutschland 1923 z.B. gab es zwar keine Räte, aber dafür erfüllten diese Rolle die Betriebstäte und Basisversammlungen der Gewerkschaften.

(28) Siehe dazu den hervorragenden Überblick über die Entwicklung der Fabrikkomitees in David Mandel: Factory Committees and Workers Control in Petrograd 1917, Montreuil 1993; weiters sind zu erwähnen Darstellung der Tätigkeit einiger Fabrikkomitees in Petrograder Großfabriken auf Basis der Auswertung hunderter Protokolle und Dokumente: Gert Meyer: Petrograder Betriebskomitees im Revolutionsjahr 1917; in: Peter Brokmeier/Rainer Rilling: Beiträge zur Sozialismusanalyse III, Köln 1981, S.33-56; und schließlich noch Reinhard Kösler: Überstunden für die Aurora – Betriebskomitees in der Petrograder Rüstungsindustrie 1917 zwischen Betriebsraison und Selbstbestimmung

(29) Nadeshda Krupskaja, die im Vyborger Distriktsowjet – der proletarischen und bolschewistischen Hochburg in Petrograd – tätig war, beschreibt die kulturellen Bemühungen der Sowjets recht anschaulich.

(30) Eine gute Zusammenfassung der Agrarrevolution im Jahre 1917 bieten L. Trotzki: Die Geschichte der Russischen Revolution, Bd.II, S.692-720 und H. Altrichter: Rußland 1917, S.330-366

(31) Der kanadische Historiker David Mandel meint, daß mehr als die Hälfte der Stimmen eigentlich den linken Sozialrevolutionären zugedacht waren. (David Mandel: Factory Committees and Workers Control in Petrograd 1917, Montreuil 1993, S.9)

(32) Siehe dazu auch Lenin: „Thesen über die Konstituierende Versammlung“ in LW 26, S.377-381; Leo Trotzki: The Principles of Democracy and Proletarian Dictatorship; in: Al Richardson (Hrsg.): In Defence of the Russian Revolution. A Selection of Bolchevik Writings 1917-1923, London 1995, S.99-101

(33) Die Bourgeoisie macht in der Regel nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus.

(34) Francois Furet: Die Illusion des Jahrhunderts, München 1996, S.140

(35) Eine Auswahl an Dokumenten aus der Zeit vor und während des Bürgerkrieges bietet: Martin McCauley (Hrsg.): The Russian Revolution and the Soviet State 1917 – 1921, London 1975

(36) Philips Price beschreibt in seinem Augenzeugenbericht, daß sich diese „Endzeitstimmung“ auch bei vielen Kommunisten breitmachte – v.a. den linken Kommunisten (um Bucharin, Radek, Pjatakow), die den Friedensvertrag mit Brest-Litowsk annullieren und einen revolutionären Krieg gegen das imperialistische Deutschland führen wollten. Sie dachten, daß die Revolution zur Niederlage verdammt sei und daß sie daher zumindest ein heroisches Ende finden sollte.

(37) Sie z.B. die neue anarchistische Streitschrift aus Großbritannien „Bolsheviks in Power: Beyond Kronstadt“, London 1997, S.3

(38) Dekret über die Presse, in: Horst Schützler/Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die ersten Dekrete der Sowjetmacht, Berlin 1987, S.63

(39) Auch im Don-Gebiet, wo der oben erwähnte General Krasnow eine konterrevolutionäre Armee sammelte, nahmen die rechten Sozialrevolutionäre an dessen Regierung teil. Diese „demokratische“ Alternative zu den terroristischen Sowjets sah folgendermaßen aus: Ernennung von General Krasnow zum Alleinherrscher mit allen Vollachten, Unantastbarkeit des Privateigentums usw. gleichzeitig appellierte dieser Gegner des „anti-nationalen Bolschewismus“ an den deutschen Kaiser, sich mit ihm Rußland aufzuteilen und gemeinsam militärisch vorzugehen. Besonders deutlich wird der Klassencharakter dieses Regimes an folgendem Telegramm deutlich. Als Krasnows Truppen die Industriestadt Juzovka eroberten, gab der Kommandeur folgenden Befehl: „Es ist verboten, Arbeiter zu verhaften. Es wird angeordnet, sie entweder aufzuhängen oder zu erschießen.“ Zitiert in Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.331

(40) Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.312

(41) Von stalinistischer Seite gibt es dazu folgendes Buch: P.G.Sofinow: Geschichte der Tscheka 1917-1922, Potsdam 1967

(42) Ernest Mandel: o.a., S.84

(43) Victor Serge: Year One of the Russian Revolution, London 1992, S.152

(44) Roy Medwedew: 80 Jahre Russische Revolution. Sieg und Niederlage der Bolschewiki; in: Wladislaw Hedeler, Horst Schützler, Sonja Striegnitz (Hrsg.): Die Russische Revolution – Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin 1997, S.44 45 Richard Pipes: Die Russische Revolution, Bd.II, S.514 46 Es ist nebenbei bezeichnend für die zentristische Schwammigkeit eines Ernest Mandel, daß er es in seinem Buch zur Oktoberrevolution vermeidet, eindeutig Position zu Kronstadt zu beziehen. Ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß seine Bewegung bisher immer, zumindest in Worten, die tragische Notwendigkeit der Niederschlagung dieses Aufstandes verteidigte, stellt er sich nichtsahnend: „Die Informationen, über die wir in dieser Hinsicht verfügen, erlauben aber keine definitiven Schlußfolgerungen.“ (E.Mandel, o.a., S.77)

(47) Siehe dazu die Broschüre „Kronstadt“, Frankfurt a.M. 1981, mit Texten von Lenin, Trotzki und Serge sowie einer guten Einleitung von Pierre Frank, dem damaligen führenden Funktionär des zentristischen „Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale“. Damals war der Zeitgeist noch nicht demokratisch-konterrevolutionär wie in der ersten Hälfte unseres Jahrzehntes, weswegen sich Frank im Unterschied zu Mandel 1992 durchaus zur Verteidigung der Bolschewiki durchringen konnte. Der Zentrist läßt sich in seinem Urteil leider von wandelnden Stimmungen und Zeitgeist treiben, anstatt sich ausschließlich an die objektiven Fakten zu halten. Denn diese veränderten sich wohl kaum zwischen 1976 und 1992!

(48) Kronstadt war eine Marinefestung, die strategisch zentral direkt in der Meereseinfahrt zu Petrograd lag. Alleine deswegen besaß die Frage, wer Kronstadt kontrolliert, enormes Gewicht.

(49) Victor Serge: Erinnerungen eines Revolutionärs 1901-1941, Hamburg 1977, S.147f

(50) Einen weitgehend korrekten Überblick über den Bürgerkrieg und die Entwicklung der bolschewistischen Partei bietet „ergebnisse&perspektiven“ Nr.8, Mai 1979, S.29-52; herausgegeben von den inzwischen aufgelösten Spartacusbund/IKL

(51) Siehe z.B. Leo Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky (1920), Dortmund 1978

(52) Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats, 1918; Terrorismus und Kommunismus, 1918; Von der Demokratie zur Staatssklaverei, 1921; alle in: Hans-Jürgen Mende (Hrsg.): Demokratie oder Diktatur, Bd.I und II, Berlin, 1990

(53) Zu den Diskussionen in der bolschewistischen Partei siehe u.a.: The Bolsheviks and the October Revolution; Central Committee Minutes of the Russian Social-Democratic Labour Party (bolsheviks) August 1917 – February 1918, London 1974; sowie Alexander Rabinovich: The Bolchevics come to power, s.o.

(54) Ernest Mandel: o.a., S.73-76

(55) Karl Radek: Proletarische Diktatur und Terrorismus, Berlin 1919, S.40

(56) Pipes entblödet sich nicht einmal, Lenin als Agenten des deutschen Kaiserreiches hinzustellen, nicht nur für die Phase vor dem Oktober 1917, sondern sogar noch im August 1918! Abgesehen von der lächerlichen Beweisführung aus einer unklaren Formulierung in einem Brief Lenins entgeht diesem „Wissenschaftler“ die kleine Tatsache, daß im August 1918 die deutschen Imperialisten gerade die Sowjet-Republik strangulierten und reaktionäre Truppen finanzierten, die gegen Moskau marschierten. Falls Lenin damals ein deutscher Agent war, so war er sicherlich ein äußerst unbrauchbarer Agent, denn die Bolschewiki propagierten ohne Unterbrechung den Sturz des Kaisers, was dann auch im November 1918 geschah und außerdem bekämpften sie erfolgreich die Handlanger des deutschen Imperialismus in Rußland selber. Richard Pipes: The Unknown Lenin; New York 1996, S.12 und 53

(57) Ein weiteres Beispiel für diese naive kleinbürgerliche Argumentation ist eine andere anarchistische Publikation: M. Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle – Der Staat und die Konterrevolution, Hamburg 1976

(58) So z.B. die Brüder Gordin, Herausgeber der größten anarchistischen Zeitung Anarkhiya

(59) Siehe „Sozialistische Demokratie und Diktatur des Proletariats“, in: Rote Hefte Nr. 15, herausgegeben von der Gruppe Internationale Marxisten

(60) Siehe z.B. Ted Grant: Russia – from Revolution to Counterrevolution, London 1997, S.41-92

(61) Siehe auch: Leo Trotzki: „Die Lehren des Oktobers“ (1924), in: Ulf Wolter (Hrsg.): Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928, Bd.II, 192-251. Unsere Tendenz hat dazu u.a. folgendes publiziert: Workers Power: 1917 – Rußland auf dem Weg zum roten Oktober. Die Taktiken der Bolschewiki in der Revolution; Die Übersetzung findet sich in der hier vorliegenden Ausgabe des Revolutionären Marxismus; in unserem internationalen Programm, dem Trotzkistischen Manifest, haben wir die Lehren der revolutionären Arbeiterbewegung ausgewertet und weiterentwickelt.




Leninistische Partei und demokratischer Zentralismus

Dave Stockton, Revolutionärer Marxismus 38, Oktober 2007

„Die Partei ist keine Arena für die Entfaltung der freien Individualität, sondern ein Instrument der proletarischen Revolution“. Diese Worte Trotzkis von 1939 bilden den Hintergrund, vor dem Lenin sich der Frage der Demokratie in der revolutionären Partei näherte. Wir wollen zeigen, wie Lenins Ansichten über das Gleichgewicht zwischen Zentralismus und Demokratie in der Partei im Kampf für ein revolutionäres Programm gegen den russischen Zarismus entstanden.

Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wurde es in der „extremen Linken“ modern, die Prinzipien des demokratischen Zentralismus in Frage zu stellen. Die radikalsten Kritiken schlagen vor, dass die Arbeiterklasse keine zentralistische Partei braucht, sondern vielmehr eine dezentralisierte amorphe Bewegung, von der Art einer „Bewegungen der Unterdrückten“. Andere meinen, dass, sogar wenn eine demokratische zentralistische Partei auf lange Sicht wünschenswert wäre, es unmöglich ist, sie jetzt aufzubauen. Was heute gebraucht werde, ist ihrer Ansicht nach die Neuformierung der großen Zahl linker Gruppen in ein wechselseitig tolerantes Forum für Diskussion und gemeinsame Aktion.

Den Sozialdemokraten und Liberalen folgten reumütige Stalinisten, die viele der Probleme hinsichtlich der Degeneration der Russischen Revolution den angeblichen demokratischen Unzulänglichkeiten der Bolschewistischen Partei in die Schuhe schoben. Sie behaupten, dass die Wurzeln des Sowjettotalitarismus in der leninistischen Partei und ihrem organisatorischen Grundsatz – dem demokratischen Zentralismus – zu finden wären.

Auch wenn ein Kritiker den demokratischen Zentralismus der Bolschewiki ehrlicherweise nicht mit dem stalinistischen bürokratischen Zentralismus in einen Topf wirft, wird er doch oft als eine Art Mittäter dargestellt – dem die Kontrollen und das Gleichgewicht fehlen, die föderalen und dezentralisierenden Elemente, die die Verbürokratisierung verhindern hätten können. In dieser Sichtweise müsse der Leninismus mit linksreformistischen oder liberalen Traditionen ergänzt werden, oftmals verkleidet als Feminismus.

In den Augen der Kritiker muss das Zentrum einer solchen Gruppierung per Definition von der lebendigen Erfahrung im Kampf und der Praxis abgeschnitten sein. Diese ergäbe sich nur in den lokalen Basiseinheiten, in der Peripherie. Anweisungen „von oben“ würden den demokratischen Selbstausdruck unausweichlich verkrüppeln. Sie würden die Spontaneität und das Selbstvertrauen behindern; ein Zentrum würde aus seiner Natur heraus dazu neigen, zu dominieren und zu unterdrücken.

Dieser Artikel versucht die Frage zu beantworten, ob Lenins Bolschewismus in irgendeinem Sinn für die Verbürokratisierung der Russischen Revolution und des ersten Arbeiterstaats verantwortlich war. Natürlich liegt ein wesentlicher Teil der Antwort in der Analyse der Degeneration dieses Arbeiterstaates. Doch ein gewichtiger Teil liegt auch in der Untersuchung des demokratischen Zentralismus in der bolschewistischen Praxis und wie er sich während der Geschichte der russischen Sozialdemokratie und des Bolschewismus entwickelt hat.

Das ist keine abstrakte historische Frage. Die Bolschewiki sind bis jetzt die einzige Partei, die eine Arbeiterrevolution erfolgreich geführt und die Macht in die Hände direkter Organe der Arbeiterdemokratie – der Sowjets – gelegt hat.

Eine Untersuchung der wichtigsten Stufen der Entwicklung der leninistischen Partei und des demokratischen Zentralismus ist notwendig, denn Beispiele bolschwistischer Praxis und Zitate Lenins werden oft als entscheidendes Argument aus dem Zusammenhang gerissen. Das geschieht sowohl bei übereifrigen Verteidigern des demokratischen Zentralismus wie bei seinen Kritikern.

Erstere verleihen ihnen eine bürokratische und sektiererische Interpretation, letztere einen opportunistischen, spontaneistischen und liberalen Drall. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass sie beide glauben, dass es eine stehende Formel für den demokratischen Zentralismus gibt, die gleichermaßen auf die kleine Propagandagruppe, die für ihre Ideen in einer Situation grundlegender ideologischer Konfusion kämpft, wie auch für eine Massenpartei, die die ArbeiterInnenorganisationen in eine revolutionäre Situation führen will, gilt.

Die klarste und prägnanteste Stellungnahme der Methode, die angewendet werden muss, um zu verstehen, was demokratischer Zentralismus heißt, ist Trotzkis kurzer Artikel „Über den demokratischen Zentralismus: Einige Worte über die Parteiordnung“:

„Eine Partei ist ein aktiver Organismus. Sie entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit äußeren Hemmnissen und inneren Widersprüchen. (…) Die Ordnung einer Partei fällt nicht fertig vom Himmel, sondern wird allmählich im Kampf gebildet. Eine politische Linie beherrscht die Ordnung. Zuallererst ist es nötig, strategische Probleme und taktische Methoden zu deren Lösung korrekt zu definieren. Die organisatorischen Formen sollen mit der Strategie und der Taktik übereinstimmen. Nur eine korrekte Politik kann eine gesunde Ordnung garantieren.“

Und später: „Demokratie und Zentralismus finden nicht in unveränderlichem Verhältnis zueinander. Alles hängt von den konkreten Umständen, von der politischen Situation im Land, von der Stärke der Partei und ihrer Erfahrung, vom allgemeinen Niveau ihrer Mitglieder und der Autorität, die die Führung vor einer Konferenz gewonnen hat, ab. Wenn das Problem das der Formulierung der politischen Linie für die nächste Periode ist, triumphiert die Demokratie über den Zentralismus. Wenn das Problem die politische Aktion ist, unterwirft der Zentralismus die Demokratie. Die Demokratie setzt ihre Rechte durch, wenn es für die Partei notwendig ist, ihre Aktionen kritisch zu betrachten. Das Gleichgewicht zwischen Demokratie und Zentralismus bildet sich im realen Kampf, in gewissen Momenten ist es gestört und dann wieder hergestellt (1).“

Die Fundamente für eine revolutionäre Partei in Russland

Eine Partei ist ein Teil einer Klasse, die die Notwendigkeit versteht, sich zu organisieren, um ins politische Geschehen zu intervenieren, um die Politik oder sogar den Charakter des Staats zu formen. Sie muss daher ein paar klar definierte Ziele haben, die das Programm bilden. Sie muss auch über Taktiken zur Erreichung dieser Ziele verfügen. Sie muss Prinzipien aufweisen, die ihre Konflikte oder die Zusammenarbeit mit anderen Parteien regeln.

Eine Partei der Arbeiterklasse muss das historische Interesse des Proletariats verfolgen, seine unmittelbaren oder begrenzten Interessen verstehen sowie die Taktiken zur Erlangung der strategischen Ziele. Keine marxistische Partei kann ohne programmatische Basis gegründet werden. Das Lebenswerk von Marx und Engels war der Entwicklung eines solchen Programms und seines organisatorischen Ausdrucks gewidmet. Ihre Arbeit in der Ersten Internationale fand ihren Höhepunkt am Londoner Kongress im September 1871, der erklärte, dass „die Arbeiterklasse gegen diese Gesamtgewalt der besitzenden Klassen nur als Klasse handeln kann, indem sie sich selbst als besondere politische Partei konstituiert, im Gegensatz zu allen alten Parteibildungen der besitzenden Klassen (2).“

Marx und Engels erarbeiteten kein Konzept der Form, die eine solche Partei annehmen sollte und auch keinen Ausblick auf die Beziehung zwischen Demokratie und Disziplin in der Partei. Das blieb dem russischen Marxismus und hier vor allem Lenin überlassen. Doch die Theorie und Praxis der leninistischen Partei bildet eine Kontinuität zu Marx‘ und Engels‘ Ausblick und gleichzeitig einen Sprung nach vorn.

Eine wichtige Übergangsfigur zwischen Marx und Engels einerseits und Lenin andererseits war Plechanow. 1883 war er bei der Gründung der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ dabei gewesen. Diese winzige Gruppierung konzentrierte sich über eineinhalb Jahrzehnte lang auf die Anwendung des Marxismus auf Russland. Mit der Produktion einer Reihe von Büchern, Pamphleten und Übersetzungen der wichtigsten marxistischen Texte legte sie die theoretische Basis für den russischen Marxismus und die zukünftige Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDAP).

Die Ausarbeitung der allgemeinen Perspektive, Strategien und Schlüsseltaktiken dieses Programms ist notwendigerweise die Aufgabe eines kleinen Kerns politischer Kader, Intellektueller oder proletarischer Intellektueller. Ein neues Programm, eine neue Partei kann nur im Kampf gegen bereits bestehende Parteien oder Bewegungen und deren Ideen und Programme entstehen und ihren Weg finden. Ein solcher Gründungskern muss daher die größtmögliche Homogenität entwickeln, um seine Ideen siegen zu sehen. Polemische Konflikte sind in diesem Gründungsstadium unvermeidlich.

Viele solche Kerne werden während dieser ersten Schritte untergehen. Jene, deren Ideen mit den fundamentalen Strömungen und Aufgaben der ArbeiterInnenklasse übereinstimmen, werden triumphieren – wenn sie von einer entschlossenen und kreativen Gruppe von Kämpfern getragen werden. In diesem frühen Stadium des Parteiaufbaus ist der Zentralismus zuerst vor allem programmatisch, d.h. alle Arbeit hat die mögliche Schaffung einer revolutionären Strategie zum Mittelpunkt. Die Demokratie ist die Freiheit der Ideen und Diskussion innerhalb einer solchen Organisation.

Dieses Stadium ist weit davon entfernt, unbeschränkt offen für alle Ideen und Theorien zu sein, die die kleinbürgerliche Intelligenzia umtreiben. Es ist hart, voller Konflikt, gegen jeden Fehler unduldsam; systematische Fehler zeigen den Einfluss der Bourgeoisie. Die ersten Jahre des russischen Marxismus waren von solchen Kämpfen geprägt.

Agitation und der Kampf gegen den Ökonomismus

Doch es war Vladimir Uljanow Lenin, der für die praktische und theoretische Ausarbeitung der Art und Weise des Aufbaus einer Arbeiterpartei unter russischen Umständen von zentraler Bedeutung war. 1890 war er Sozialdemokrat geworden. Seit Herbst 1893 war er in marxistischen Propagandazirkeln in St. Petersburg aktiv. Diese Entwicklung erforderte einen Bruch mit den Narodniki, den russischen Populisten, deren Politik eine Mischung aus revolutionärer Demokratie und utopischem Sozialismus war und deren Taktiken sich auf illegale Konspiration und den Gebrauch des individuellen Terrors konzentrierten.

Lenin zog aus dem revolutionären Populismus von 1880 eine Lehre: Ohne ernsthafte, professionelle, illegale Organisation würde die Sozialdemokratie in Russland keinen Fuß in die Tür setzen können. Für Lenin war es nur mit einer solchen Organisation möglich, Verbindung zu den russischen Arbeitern herzustellen. Und mit einer solchen Organisation, die in der Arbeiterklasse verwurzelt wäre, könnte und würde der Zarismus überwunden werden.

Lenin hatte eine aktive, kämpferische Vorstellung von der revolutionären Partei – eine, die sich in die aktuellen Tageskämpfe einlassen und sie entfachen sowie sie mit dem Ziel der Zerstörung des Zarismus und darüber hinaus der sozialistischen Revolution verbinden würde.

Doch in der zweiten Hälfte der 1890er führte der Erfolg der frühen Marxisten zu Konflikten innerhalb und zwischen den bestehenden Propagandazirkeln, Konflikte, die Fragen des Programms und der Organisation betrafen. In Bezug auf das Programm wurde die Frage gestellt: Braucht die Arbeiterklasse überhaupt ein Programm? Reicht es nicht, dass die spontane Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Richtung Kampf geht?

Wenn das die Grundlage der Politik ist, ist eine Partei entweder gar nicht notwendig oder sie hat lediglich die Rolle inne, Spontaneität zu ermutigen oder Verbindungen zwischen bestehenden Gruppen herzustellen. Wenn es aber die Aufgabe ist, den unmittelbaren Kampf der Arbeiter mit dem Kampf um die Macht zu verbinden, muss eine organisatorische Form entwickelt werden, die den Alltagskampf mit dem revolutionären Ziel verknüpft. Eine solche Partei wird, im jeweils möglichen Ausmaß, intern und in ihren Beziehungen zu anderen Massenorganisationen der Arbeiter demokratisch sein, doch in der Verfolgung ihrer Ziele wird sie zentralisiert und diszipliniert sein müssen.

Die Diskussion konzentrierte sich auf eine neue Methode sozialdemokratischer Arbeit, die kürzlich unter jüdischen (jiddisch sprechenden) Arbeitern um Vilna in Litauen entstanden war. Dort hatte Arkadi Kremer zusammen mit einem anderen jungen Intellektuellen, Julius Martov, ein kurzes Pamphlet geschrieben, „Über Agitation“

Dieses befürwortete einen entschlossenen Bruch mit der alten Methode der marxistischen Studierzirkel zu Gunsten der Produktion und Verteilung von Flugblättern vor den Betrieben, die die unmittelbaren Ärgernisse der Arbeiter aufarbeiteten. Das würde eher die kämpferischsten Proletarier als jene, die nur theoretisch interessiert waren, an die sozialdemokratischen Zirkel heranziehen. Die Aufnahme dieser Methode war ein größerer Schritt vorwärts und der junge Lenin begrüßte sie und wandte sie an.

Die „Agitatoren“ meinten, dass Marxisten nicht nur die Aufgabe hätten, einzelne Arbeiter im Marxismus zu unterweisen und auf die Revolution zu warten, sondern diesen Tag tatsächlich herbeizuführen, indem eine Massenbewegung der Arbeiterklasse mitaufgebaut wurde. Das ging über die illegale Verteilung von Schriften hinaus bis zur Werbung für direkte Aktionen durch die Arbeiter in den Fabriken. Dass das Sache einer sozialdemokratischen Organisation (im Gegensatz zu einer Gewerkschaft) war, war eine neue Idee.

Die neue Agitationsmethode breitete sich nach St. Petersburg aus. Martov brachte Kopien von „Über Agitation“ in die Hauptstadt. Hier traf er erstmals Lenin und beide stimmten über die neue Arbeitsweise überein. Im Herbst 1895 gründeten sie die “St. Petersburger Liga des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse.”

Dieser Schwenk verursachte notwendigerweise organisatorische Probleme. Er schloss Aktivitäten mit ein, die für das Spionagenetzwerk der Ochrana leicht zu entdecken waren. Die Frage war, wie sollte man sich geheim organisieren, um öffentlich zu intervenieren. Der Propagandazirkel allein konnte die Antwort darauf nicht geben. Tatsächlich war die Liga des Kampfes gerade dabei, ihre erste Zeitungsnummer herauszugeben, als die gesamte Führung verhaftet wurde. Lenin führte das später auf den eigenen Mangel an Professionalität in der konspirativen Arbeit zurück.

Nichtsdestotrotz zeigte das Wachstum der Massenkämpfe, dass die neue Methode funktionieren konnte. 1896/97 überschwemmte eine Streikwelle der Textil- und anderer Arbeiter für Neuregelung der Löhne und der Länge des Arbeitstags St. Petersburg, Moskau und andere Fabrikstädte. Die Sozialdemokraten wurden in den Fabriken freudig begrüßt.

Das verleitete einige der „Agitatoren“ wie Arkadi Kremer dazu, falsche einseitige Schlüsse zu ziehen, die von einer revolutionären Strategie wegführten. Begeistert von den Arbeitskämpfen um Löhne, Länge des Arbeitstags und Arbeitsbedingungen kamen sie zu dem Schluss, dass nur solche unmittelbaren ökonomischen Forderungen die Basis der Agitation sein könnten. Zumindest eine Zeit lang sollte der politische Kampf gegen den Zarismus den bürgerlichen Liberalen und den Intellektuellen der Narodniki überlassen werden. Die Arbeiter sollten sich darauf konzentrieren, „offenkundige Errungenschaften“ zu erzielen. Plechanow und dann Lenin nannten diesen Richtung „Ökonomismus“.

Im Sommer 1900, nach Diskussionen mit Martov in St. Petersburg, verließ Lenin Russland mit dem Projekt, Übereinstimmung mit Plechanow und Axelrod dahingehend zu erzielen, eine anti-ökonomistische Zeitung zu produzieren, die die programmatischen und organisatorischen Grundlagen für eine wirklich sozialdemokratische Partei in Russland schaffen würde. Diese Zeitung war die Iskra.

Lenin, Iskra und Was tun?

Die Iskra wollte sowohl ein Programm und taktische Prinzipien erstellen als auch die Untergrundkomitees und -zirkel quer durch das Russische Reich für ihr Projekt gewinnen. Das Ziel war ein Schritt vorwärts zu einer zentralisierten, notwendigerweise illegalen Partei. Die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDAP) war 1898 gegründet worden, doch die Polizei hatte den größten Teil der Führung verhaftet und um 1900 war sie nur noch fragmentarisch vorhanden.

Die Iskra war in Wirklichkeit eine offene Fraktion innerhalb der RSDAP und nach außen hin homogen – wie Fraktionen es sein müssen, denn sie kämpfen, um an die Führung der Partei zu kommen. Lenin stellte fest, dass die Leserschaft kaum erkennen konnte, wer welchen Artikel in der Iskra geschrieben hatte, so geschlossen und homogen arbeitete die Redaktion. Von Ende Dezember 1900 bis zum Juli 1903 führten 44 Nummern der Iskra den Kampf für eine einheitliche zentralisierte Partei für das gesamte Russische Reich auf Grundlage eines gemeinsamen Programms, mit einem zentralen, im Ausland produzierten, Parteiorgan, das der ganzen Partei die politische Richtung vorgeben sollte.

Die Zeitung verfolgte sowohl eine ideologische wie auch eine organisatorische Absicht. Sie startete eine wilde Schlacht gegen alle programmatische Konfusion, Heterogenität und Opportunismus. In der vierten Nummer der Iskra schrieb Lenin einen Artikel mit dem Titel „Womit beginnen (3)?“, der den Ökonomismus der Emigranten-Zeitung Rabochaja Mysl („Arbeitergedanke“) als „sehr bemüht, die Arbeit der politischen Organisation und Agitation zurückzustutzen und einzuengen“ definierte und attackierte.

Doch die halb-ökonomistische Zeitung Rabocheje Delo („Arbeitergrund“) greift er wegen ihrer Praxis des „prinzipienlosen Eklektizismus in organisatorischen und taktischen Fragen“ noch schärfer an und zeigt auf, dass sie „es nicht versteht, die Erfordernisse des Tages von den Grundaufgaben und den ständigen Bedürfnissen der Bewegung in ihrer Gesamtheit zu unterscheiden (4)“.

Lenin scheute sich nicht davor, offen für eine politische Organisation einzutreten, die vom Zentrum nach außen hin oder „von oben her“ strukturiert war, und die dazu imstande ist, jedes lokale Komitee zu mobilisieren und zu dirigieren und die notwendigerweise aus Parteikadern besteht. Als Zusammenfassung des gesamten Anspruchs der Iskra ist die berühmte Broschüre „Was tun?“, die 1902 erschien.

Hier griff Lenin den Kern der ökonomistischen Methode an, die Idee, dem spontanen Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse hinterher zu hinken. Lenin argumentierte, dass das sozialistische Bewusstsein nicht spontan und allmählich bei den Arbeitern wuchs. Wir wollen hier betonen, dass Lenin dabei nicht über den allgemeinen Klasseninstinkt, das Bewusstsein allgemeiner Interessen der Arbeiter als Arbeiter spricht, sondern vom sozialistischen Bewusstsein. Er beharrt, dass dieses von außen in die Arbeiterklasse hineingebracht werden muss – d.h. von außerhalb des alltäglichen, partikularen ökonomischen Kampfes.

Lenin geht natürlich davon aus, dass die Arbeiterklassse durch ihre jeweiligen Umstände der sozialen Existenz in den Kampf gegen das Kapital gezogen wird und dass solche Kämpfe mit dem Staat zusammenprallen und politische Fragen aufwerfen.

Seine Ansicht war, dass „das spontane Element nicht mehr und nicht weniger repräsentiert als Bewusstsein in einer embryonischen Form“, dass es „den Klassenkampf als Embryo. aber nur als Embryo“ repräsentierte, d.h. noch kein sozialdemokratisches Bewusstsein. Es ist keine Beleidigung oder Geringschätzung der Arbeiter und ihres Kampfes, dass sie „sich des unversöhnlichen Antagonismus ihrer Interessen zum gesamten modernen politischen und sozialen System nicht bewusst waren und nicht sein konnten“.

Lenins Anfangspunkt bei der Verteidigung einer Organisation „professioneller Revolutionäre“ sind die Bedingungen tiefer Illegalität, die in Russland herrschten. Organisierungsversuche waren während des gesamten vorangegangenen Jahrzehnts gescheitert, hatten Aktivisten zu langen Gefängnisstrafen, Exil oder in einigen Fällen zum Tod verdammt. Viele mehr wurden demoralisiert und verließen die aktive Politik. Nur Menschen, die ihr gesamtes Leben dieser Arbeit widmeten, konnten das angepeilte Ziel der Partei, die sogar unter Bedingungen der Illegalität und Repression überleben und wachsen konnte, erreichen.

Lenin dachte keine Minute daran, dass dieser Apparat ein eigenständiger, selbstgenügsamer „Repräsentant der Arbeiterklasse“ wäre. Seine Aufgabe war, sich auf die spontanen Kampfausbrüche zu beziehen, auf die zeitweilige Organisation des Kampfes, auf das Wachstum der halböffentlichen oder öffentlichen Körperschaften, die die Arbeiterbewegung bildeten oder in Zukunft bilden würden. Lenin verwechselte diese geheime Untergrundpartei niemals mit der Arbeiterbewegung. Ein wichtiger Teil ihrer Aufgabe war es, dieser Bewegung zu dienen, sie so weit wie möglich vor Störung durch die Polizei zu schützen:

„Die Zentralisation der konspirativsten Funktionen durch eine Organisation der Revolutionäre wird den Umfang und den Inhalt der Tätigkeit vieler anderer Organisationen, die auf ein breites Publikum berechnet und darum möglichst lose und möglichst wenig konspirativ sind, nicht vermindern, sondern vergrößern; dazu gehören sowohl die Gewerkschaftsverbände der Arbeiter als auch die Arbeiterzirkel für Selbstbildung und die Lesezirkel für illegale Literatur, ferner die sozialistischen und auch demokratischen Zirkel in allen übrigen Bevölkerungsschichten usw, usf. (5).“

Die „professionellen Revolutionäre“ wurden fast sofort ein Ziel der Angriffe professioneller Opportunisten und Karrieristen. Das wäre, sagten sie, ein bürokratisches Konzept, das die Massen von der Kontrolle ihrer eigenen Organisation ausschließen würde.

Trotz der Tatsache, dass „Was tun?“ für die russischen Bedingungen von der Revolution von 1905 geschrieben wurde, bleibt es ein Hauptwerk, sogar der Grundstein für die leninistische Partei. Sogar die Kapitel, die sich am stärksten auf den „illegalen Zusammenhang“ beziehen, sind weit davon entfernt, irrelevant in einer Epoche zu sein, in der Legalität für eine revolutionäre Partei auf dem Weg zur Ergreifung der Macht höchst unwahrscheinlich ist und in der nur kleine und höchst privilegierte Teile der Welt mehrere Jahrzehnte lang demokratische Freiheiten genießen können. Die Fähigkeit, sich geheim zu organisieren, bleibt in vielen Ländern und für alle internationalen Organisationen, die Kader in Ländern mit wenig verbürgten Rechten haben, zentral.

Das Konzept der professionellen Revolutionäre ist ein breiteres als das des Kampfes in der Illegalität. Es wurde, wie wir sehen werden, durch Lenins Entwicklung der Theorie des Parteikampfes unter halb- oder volllegalen Bedingungen, die volle interne Demokratie auf allen Parteiebenen erlauben, ausgeweitet und ergänzt.

Der Zweite Kongress und die Spaltung von 1903

Der zweite Kongress der RSDAP versammelte sich am 30. Juli 1903 in Brüssel. Der Kongress war das einzige voll demokratische Element, das in einer Untergrundpartei möglich war und es war klar, dass die Fraktion der Iskra unter den 70 Delegiertenstimmen die überwiegende Mehrheit hatte. Gegen die Iskra standen die ökonomistischen „öffentlichen Fraktionen“ um die Zeitungen Rabocheye Delo und Rabochaya Mysl, die mächtige jüdische Arbeiterorganisation „Der Bund“ und die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPLi).

Die Iskra schlug eine Einheitspartei vor, jedoch mit drei, nicht einer, zentralen Körperschaft: ein Zentralkomitee in Russland, eine Zeitungsredaktion im Ausland und einen Parteirat bestehend aus Repräsentanten dieser zwei Kreise.

Natürlich war das ein Kompromiss, viele Zentren statt eines einzigen. Doch das war unter den Umständen tiefgreifender Illegalität notwendig. Die zentralisierte Lenkung der lokalen Parteieinheiten musste innerhalb Russlands stattfinden. Doch die Freiheit und Freimütigkeit eines illegalen Parteiorgans konnte nur im Ausland erzielt werden. Diese zwei Gremien mussten jedoch koordiniert werden – daher der Parteirat. Die Iskra schlug also die Auflösung aller Emigranten-Zeitungen und Organisationen außer jener, die vom Kongress anerkannt würden, vor.

Doch von beiden Seiten völlig unerwartet zerfiel die Fraktion der Iskra im Laufe des Kongresses. Eine scheinbar kleinere Formulierungsfrage bei der Definition der Mitgliedschaft in den Parteistatuten wurde später durch einen schärferen Konflikt über die Zusammensetzung der Redaktion und des Zentralkomitees zum Streitpunkt.

Martov gewann mit Hilfe der Stimmen des Bundes und Rabocheye Delo bezüglich der Parteistatuten. Es gelang ihm, eine Mehrheit für die Definition der Parteimitgliedschaft als „persönliche Zusammenarbeit unter der Führung einer der Parteiorganisationen“ zu gewinnen, die Lenins Formulierung von „persönlicher Teilnahme in einer der Parteiorganisationen“ gegenüberstand.

Lenin und Plechanow kämpften hart gegen die zu weit gefasste und lockere Formulierung Martovs. Lenin bestand nicht darauf, wie einige Autoren immer noch behaupten, dass ein Parteimitglied ein Vollzeitrevolutionär sein müsse, geschweige denn, dass solch „professionelle Revolutionäre“ ausschließlich aus der Intelligenz kommen und keine Arbeiter sein dürften. Lenin und Plechanow argumentierten, dass unter den gegenwärtigen russischen Bedingungen ein Mitglied die Risiken und Gefahren der illegalen Parteiarbeit auf sich nehmen müsste: Produktion, Transport und Verteilung der Zeitungen und Flugblätter, Agitation in den Fabriken und Universitäten. Ohne diese Arbeiten hätte ein Mitglied kein Recht, an den Entscheidungen der Partei mitzuwirken.

Natürlich würde bei Bestehen legaler Rechte und einer Verfassung in Russland die Beengtheit einer illegalen Partei einer breiteren Massenorganisation weichen – wenngleich immer noch einer, die auf aktive Teilnahme an der Parteiarbeit bestand. Als Lenin die Abstimmung verlor, dachte er nicht, dass irgendeine Spaltung durchgeführt werden müsste. Er glaubte, dass der Kampf zeigte, das Martov und seine Unterstützer dem Opportunismus in der Frage der Organisation nachgegeben hätten.

Nach der Debatte über den Rest der Statuten verlangte „Der Bund“ mit den Worten des Hauptsprechers Lieber, „als einziger Repräsentant des jüdischen Proletariats in der Partei“ anerkannt zu werden. „Der Bund“ wollte völlig freie Hand in der Organisation und Repräsentation der jüdischen Arbeiter im zaristischen Reich. Die Iskra stellte sich dem entgegen, darauf beharrend, dass „Der Bund“ eine Organisation der RSDAP sein sollte und keine quasi nationale Organisation aller einzelnen jüdischen Arbeiter.

Die gesamte Iskra-Fraktion war in der Zurückweisung dieser föderalistischen Konzeption der Partei vereint. Martov und Trotzki sprachen beide sehr leidenschaftlich in der Diskussion. Als die Abstimmung stattfand, gingen „Der Bund“ und Rabocheye Delo hinaus.

Ihr Abgang verschuf Lenin und Plechanow eine Mehrheit ( auf russisch „bolschewik“). Sie konnten auf 24 Iskra-Anhänger gegen 20 Martov-Unterstützer (genannt „Menschewiki“ oder Minderheit) zählen. Lenin war entschlossen, aus politischen wie praktischen Gründen die Redaktion der Iskra und das Zentralkomitee auf je drei Personen zu beschränken. Die praktischen Gründe waren klar. Axelrod, Potresov und Zasulic hatten trotz ihrer bis dahin gegebenen Mitgliedschaft in der Redaktion außer der Verfassung einiger Artikel keine aktive Rolle gespielt und nie beim Herausgeben mitgemacht.

Martov wollte in der Redaktion eine Mehrheit. Lenin und Plechanow, die nur in der Frage der Parteimitgliedschaftsdefinition durch die Stimmen der nun abwesenden Bündler und Ökonomisten unterlegen waren, wollten eine geschlossene Linie. Sie kämpften für eine Mehrheit in der Iskra-Redaktion und im Zentralkomitee. Martov, Axelrod, Potresov und Zasulic opponierten dagegen mit dem Vorschlag, die alte Redaktion mit sechs Mitgliedern zu erhalten und erhoben außerdem der Forderung, bei Zwei-Drittel-Mehrheit neue Vollmitglieder kooptieren zu können.

Tatsächlich hätte das der Kongressminderheit eine Zwei-Drittel-Mehrheit über die Redaktion gegeben und die Macht, diese sogar durch Kooptierung anderer – wahrscheinlich Trotzki, der sie unterstützte, den Plechanow jedoch stark verabscheute – zu vergrößern. Die Lenin-Plechanow-Mehrheit wählte schließlich ordnungsgemäß ihre Drei-Personen-Variante (sich selbst und Martov) in die Iskra-Redaktion.

Der Protest, mit dem die Menschewiki Lenin als Diktator, Bonaparte, Robespierre verunglimpften, geschah in böser Absicht und verschleierte die ihrerseits beschämend undemokratischen Aktionen der Minderheit am Ende des Kongresses und danach. Als sie unterlagen, verweigerten sie jede weitere Teilnahme. Martov wies die Beteiligung an der Iskra-Redaktion zurück, wenn nicht drei seiner Unterstützer kooptiert würden. Er verweigerte auch die Beteiligung am Zentralkomitee. Somit erhielten Lenins und Plechanows Unterstützer alle drei Sitze im Zentralkomitee. Später boykottierten die Menschewiki die am Kongress gewählten Führungs- und Exekutivorgane. Dies war, wie Lenin sagte, „der Generalstreik der Generäle“.

Dieses Verhalten zeigte den kleinbürgerlichen, intellektualistischen Charakter der Menschewiki, ihre Entschlossenheit, am Zirkelgeist jener Tage vor der Parteiorganisation festzuhalten, als persönliches Engagement, persönliches Vertrauen und persönliche Beziehungen verständlicherweise eine zentrale Rolle gespielt hatten. Doch es war nötig, zur Stufe einer wirklichen Partei mit einem Programm, souveränen Kongressen, gewählten Führungen, einer regelmäßig erscheinenden illegalen Propagandazeitung zu gelangen. Unter diesen Umständen war der alte Personalismus fehl am Platze. Der konnte nur zur Amateurhaftigkeit, Ineffizienz und Nachgiebigkeit gegenüber dem Opportunismus führen – wie Martov es am Zweiten Kongress gezeigt hatte.

Die Spaltung der Partei selbst wurde von den Menschewiki, nicht den Bolschewiki, durchgeführt. Die Menschewiki wollten eine Mehrheit in der Redaktion der Iskra trotz der Entscheidungen des Kongresses, der die Repräsentanten der Partei in Russland wie im Ausland zusammengebracht hatte. Das war durch und durch undemokratisch und Lenin wies das richtigerweise zurück. Ein oder zwei Monate unterstützte ihn Plechanow, dann gab er Martovs Ruf an den Parteirat im Herbst 1903 zur Kooptierung der Primadonnen nach.

Das war eine klare Verletzung der Entscheidungen des Zweiten Kongresses und Lenin wollte unter diesen Umständen der Iskra nicht mehr länger angehören. Er organisierte daher eine öffentliche Fraktion und zog die Untergrundorganisationen in Russland, wo er auf eine Mehrheit zählen konnte, auf seine Seite.

Der Menschewismus wurde nach der Verabschiedung der alten Iskra-Arbeit der Sammelpunkt für alle früheren Ökonomisten, der Sozialdemokraten, die für den Föderalismus waren oder verschiedene Formen des Nationalismus anhingen. Ihre allgemeine Entwicklung ging nach rechts. Lenin zweifelte seit dieser Zeit niemals, was immer seine Sicht bezüglich einer einheitlichen oder zweier getrennter Parteien war, dass die Menschewiki einen opportunistischen Trend verkörperten, der bekämpft und niedergeschlagen werden musste und mit dem keine Kompromisse geschlossen werden oder Versöhnung stattfinden durfte. Hier unterschied er sich von zwei Personen, denen er in Bezug auf Ergebenheit an das Ziel der Arbeitermacht und revolutionäre Taktik am nächsten stand – Leo Trotzki und Rosa Luxemburg.

Ihr Zugang wies aktiven Spontanismus oder Objektivismus auf und zeigt zu jener Zeit ihr Versagen, die Beziehung zwischen dem Konzept der demokratisch zentralistischen Partei und der Erfüllung der revolutionären Strategie zu verstehen. Sie glaubten, dass das militante Vorwärtsdrängen des Proletariats in revolutionären Situationen opportunistische und sektiererische Abweichungen der Revolutionäre hinwegfegen würde. Sie teilten allerdings Martovs und Axelrods wachsende Tendenz nicht, die demokratische Revolution der Bourgeoisie zu überlassen, was eine Spaltung zwischen ihnen und den Menschewiki unausweichlich machte, als sich die revolutionäre Krise verschärfte. Doch sie verstanden Lenins Entwicklung des Konzepts einer aktiven Rolle der Partei als Sektierertum und Bürokratismus. Sie konnten sein spezifisches und zeitweiliges Beharren, dass Demokratismus (nicht Demokratie im Allgemeinen) unter illegalen Bedingungen „ein gefährliches Spielzeug“ für diktatorische undemokratische Grundsätze war, nicht verstehen.

Im Juli 1904 gelang es den Menschewiki, Rosa Luxemburg in den Disput zu verwickeln. Sie schrieb einen ausgedehnten Artikel, der in der Iskra wie im theoretischen Journal der Deutschen Sozialdemokratie Neue Zeit erschien. In den „Organisatorischen Fragen der russischen Sozialdemokratie“ attackierte sie Lenins vielbesprochenes Zitat, dass der Sozialdemokrat „der unauflöslich mit der Organisation des klassenbewussten Proletariats verbundene Jakobiner“ sei. Sie charakterisierte Lenins Position als Rückfall in den Blanquismus.

„Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sondern sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse. Der sozialdemokratische Zentralismus muß also von wesentlich anderer Beschaffenheit sein als der blanquinistische. Er kann nichts anderes als die gebieterische Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren verschiedenen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein ‚Selbstzentralismus‘ der führenden Schicht des Proletariats, ihre Majoritätsherrschaft innerhalb ihrer eigenen Parteiorganisation (6).“

Luxemburg lag falsch: die Tatsache, dass Opportunismus in Fragen der Organisation zu Opportunismus in Fragen der Taktik und später in Fragen des Programm führen kann, wurde in den Jahren 1904 und 1905 klarer. Die neue Iskra passte sich für Kampagnen und Aktivitäten der Linie der Liberalen an, was die Differenzen verstärkte. Die Iskra vertrat eine Position der Vermeidung des Verschreckens der liberalen Kampagnenführer, die sich um die Protestbanketts um die lokalen Regierungsorgane des Semstvo im Herbst 1904 versammelten.

In scharfem Kontrast dazu verbreiteten die Bolschewiki eine deutliche Warnung vor der Feigheit und der reaktionären Natur der liberalen Bourgeoisie und versuchten, das Maximum an politischer Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von den bürgerlichen Bankettiers sicherzustellen. Innerhalb eines Jahres nach der Spaltung wurden, wie Lenin sagte, „die taktischen Differenzen unüberbrückbar (7)“.

Im Frühling 1905 organisierten sich die zwei offenen Fraktionen getrennt, jede mit ihren eigenen Organen: die Menschewiki mit der Iskra und die Bolschewiki mit Vperyod (Vorwärts). Zu dieser Zeit hielten sie beide Kongresse, auf denen sie für sich beanspruchten, die RSDAP zu sein. Für die Menschewiki lag die Rolle des Proletariats darin, die Bourgeoisie zu ermutigen, ihre eigene Revolution durchzuführen. Das war klarerweise ein stillschweigender Verrat der alten „Emanzipation der Arbeit“ und der Iskra-Perspektive der hegemonischen Rolle des Proletariats in der bürgerlichen Revolution. Die Polemiken der bolschewistischen Zeitung Vperyod in den frühen Monaten von 1905 waren offen dagegen gerichtet. In einem Brief an Alexander Bogdanov und Sergej Gusev, zwei wichtige bolschewistische Führer in Russland, schrieb Lenin:

„Wir haben die Spaltung verkündet, wir rufen zu einem Kongress der Vperjod-Anhänger, wir wollen eine Partei im Sinne des Vperyod organisieren… (8)“

Lenins Versuch, die Bolschewiki als RSDAP neu zu beleben, war völlig gerechtfertigt. Wenn die russischen Arbeiter in der nahenden Revolution eine aktive Führungsrolle spielen sollten, eine, die nicht die unabhängige Aktion der Arbeiterklasse zu Gunsten der Reformbewegung zurückhielt, dann war Freiheit der Aktion und der Kritik essenziell.

Die Revolution von 1905 – von scharfen Trennungen zur Wiedervereinigung

Am 22. Jänner 1905 entfesselten die von den Regimentswachen auf zehntausende friedliche Demonstranten abgefeuerten Geschosse die Revolution. Diese Revolution sollte kurz gesagt die organisatorischen Pläne sowohl der bolschewistischen wie der menschewistischen Fraktion durcheinander wirbeln und sie auf den Weg der Wiedervereinigung führen. Warum? Weil die Perspektive der Menschewiki widerlegt und die der Bolschewiki bestätigt wurde.

Die Illusionen der Menschewiki in eine liberale Führung der Revolution wurden ganz einfach sehr rasch hinfällig, während die Ansicht der Bolschewiki über den revolutionären Charakter und das Potenzial der Arbeiter und Bauern bestätigt wurde. Im Sommer 1905 war der Menschewismus immer noch eine Form des Zentrismus – kleinbürgerliche Opportunisten oder in Lenins zeitgenössischer Terminologie Wendehälse. Sie konnten unter dem Druck der revolutionären Ereignisse nach links schwenken und taten es auch.

Einige der menschewistischen Führer wie Dan und Martinov waren fast so weit, Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution anzuerkennen. Im Oktober unterstützten die Menschewiki Aufrufe zum Aufstand. Die de facto vorhandene revolutionäre Legalität brachte ein „spontan“ revolutionäres Proletariat in Form der Sowjets, bei deren Errichtung die Menschewiki eine wichtige Rolle gespielt haben, auf die Bildfläche. Der Bolschewismus in Form der professionell revolutionären „Komiteeleute“ andererseits legte für kurze Zeit eine einseitige, möglicherweise sektiererische Feindseligkeit gegenüber den Sowjets an den Tag. Lenin musste einen politischen Kampf zur Korrektur des Bolschewismus durchführen.

Während des Sommers und Herbstes 1905 änderte Lenin seine Position zur Möglichkeit der Wiedervereinigung mit den Menschewiki. Als Ergebnis des Wirkens des revolutionären Proletariats auf die Fraktionen und wegen der Notwendigkeit einer möglichst großen Avantgardepartei zur Führung eines landesweiten Aufstands gelangte Lenin zu der Überzeugung, dass Einheit und voller demokratischer Zentralismus nötig und möglich waren.

Das bedeutete keine Verweichlichung seiner Linie gegenüber den opportunistischen Positionen der Menschewiki. Eine mit den Menschewiki vereinte Partei war weder absolut gut noch absolut schlecht. Es war ein Mittel zur Gewinnung der Arbeiterklasse für die revolutionäre Linie der Partei. Wenn es auch nur eine Minute die Unterordnung der revolutionären Kräfte unter die Strategie der Akzeptanz der Hegemonie der Liberalen in einer demokratischen Revolution bedeutet hätte, hätte er dies niemals unterstützt.

Im Oktober gab es einen landesweiten Eisenbahnerstreik und in Moskau und St. Petersburg wurden Sowjets gebildet. Am 17. Oktober war Nikolaus II. als Ergebnis eines von den Sowjets organisierten Generalstreiks gezwungen, ein Manifest herauszugeben, das eine öffentlich gewählte Duma und eine Reihe von demokratischen Rechten, Presse- und Parteifreiheit versprach.

Als Ergebnis der Fehleinschätzung ihrer Perspektive befanden sich die Menschwiki in einem Zustand fortgeschrittener politischer Verwirrung. Im Herbst 1905 wurde das Hauptorgan der Menschwiki, Nachalo, von Trotzki und Parvus, den Theoretikern der Permanenten Revolution, herausgegeben.

Lenin erkannte, dass nun Einheit möglich war, basierend auf den revolutionären Handlungen der Klasse. In einer Periode des Massenkampfes pflegt Druck auf die Menschewiki sie vor die Wahl zwischen Revolution und Opportunismus zu stellen – vorausgesetzt, die Bolschewiki würden nicht die Waffen abgeben, sondern nach der Führung in der vereinten Partei streben:

„Die Taktik der Epoche des ‚Wirbelsturms‘ hat die beiden Flügel der Sozialdemokratischie nicht voneinander entfernt, sondern einander näher gebracht. Anstatt der einstigen Meinungsverschiedenheiten kam es zu einer einheitlichen Auffassung in der Frage des bewaffneten Aufstands (9).“

Außerdem eröffnete sich eine nie dagewesene Periode der Legalität und unter solchen Bedingungen war es möglich, eine sozialdemokratische Partei mit Massenbasis aufzubauen, in der linke und rechte Flügel vertreten waren, wobei die Revolutionäre im Aufsteigen begriffen waren. Die Partei sollte sich den Massen sozialdemokratischer revolutionärer Arbeiter öffnen, die durch die Revolution „spontan“ zum politischen Leben gestoßen waren und mit eigenen Augen die Arbeit der Revolutionäre erlebt hatten. Um das umzusetzen, musste das demokratische Prinzip auf allen Ebenen der Partei angewendet werden.

Bereits im September 1905 stellte Lenin die Frage der Ausweitung des demokratischen Prinzips in Bezug auf Wahlen innerhalb der Partei. Wenn die Partei junge militante Arbeiter und Arbeiterinnen an sich und in den Kampf ziehen wollte, musste sie demokratische Strukturen mit fortgesetzter zentraler Führung verbinden. Lenin musste sich an die im Untergrundkampf angelernten sektiererischen Zweifel und Ängste der bolschewistischen Kader gegen die Menschewiki wenden:

„Eine Gefahr könnte man darin sehen, dass mit einem Mal Massen von Nichtsozialdemokraten in die Partei strömen. Dann würde die Partei in der Masse aufgehen, sie würde aufhören, der bewusste Vortrupp der Klasse zu sein, sie würde in den Nachtrag geraten. (…) Und diese Gefahr könnte zweifelsohne höchst ernste Bedeutung erlangen, wenn bei uns die Neigung zur Demagogie vorhanden wäre, wenn die Grundlagen des Parteilebens (Programm, taktische Regeln, organisatorische Erfahrung) völlig fehlten oder schwach und brüchig wären. Aber der springende Punkt ist eben, dass dieses ‚Wenn‘ gar nicht vorhanden ist. Bei uns Bolschewiki hat es nie keinerlei Neigung zu Demagogie gegeben, im Gegenteil, wir haben die ganze Zeit entschieden, offen und direkt selbst die geringsten Ansätze zu Demagogie bekämpft, von den in die Partei Eintretenden Klassenbewusstsein verlangt, die gewaltige Bedeutung der Kontinuität in der Parteientwicklung stets unterstrichen, Disziplin und Erziehung aller Parteimitglieder in einer Parteiorganisation propagiert (10).“

Ein Ausdruck des menschewistischen Schwenks nach links 1905 zeigte sich darin, dass sie nach über einem Jahr der Sabotage gegen die legitime Führung und die organisatorischen Strukturen, die am Zweiten Kongress beschlossen worden waren, nun wieder zur Einheit bereit waren. Tatsächlich waren es die Menschewiki, im Speziellen Axelrod, die den Terminus „demokratischer Zentralismus“ prägten. Auf einer gesamtrussischen menschewistischen Konferenz am 20. November 1905 verabschiedeten sie eine Resolution, die diese Worte beinhaltete: „Die RSDAP muss in Übereinstimmung mit dem Prinzip des demokratischen Zentralismus organisiert werden. Alle Parteimitglieder nehmen an der Wahl von Parteieinrichtungen teil (11).“

Nur drei Wochen später verabschiedete eine bolschewistische Konferenz eine ähnliche Reolution „Über die Neuorganisierung der Partei“.

„In Erkenntnis der Unbestreitbarkeit des Prinzips des demokratischen Zentralismus betrachtet die Konferenz die weite Umsetzung des Wahlprinzips als notwendig, und unter Gewährleistung der vollen Macht der gewählten Zentren in ideologischen und praktischen Führungsangelegenheiten sind diese gleichzeitig abwählbar, ihre Handlungen stehen unter breiter Beobachtung und sie sind für ihre Taten streng rechenschaftspflichtig (12).“

Die Geschehnisse in Russland erreichten einen Höhepunkt und zwangen die Menschewiki und Bolschewiki zu gemeinsamer revolutionärer Aktion. In St. Petersburg geriet der Sowjet unter die Führung Trotzkis, der mit den Menschewiki gebrochen hatte und sich selbst als „fraktionsloser Sozialdemokrat“ betrachtete. Ihm zur Seite stand Parvus, bislang Mitglied des linken Flügels der deutschen SPD und Co-Autor Trotzkis in Bezug auf die Theorie der Permanenten Revolution.

Mitte November musste ein weiterer Generalstreik in St. Petersburg abgebrochen werden, der Acht-Stunden-Tag konnte nicht gewonnen werden. Am 3. Dezember beschloss die Regierung, angesichts der Abnahme der Anzahl der Streikenden, die den Aufrufen der Sowjets zu Aktionen folgten, den gesamten Sowjet zu verhaften – und seine Mitglieder der Vorbereitung eines bewaffneten Aufstands anzuklagen.

Die Nachricht der Verhaftung des St. Petersburger Sowjet veranlasste den Moskauer Sowjet, den Generalstreik, der vom 7.- 11. Dezember dauerte, auszurufen. Er ging in einen bewaffneten Aufstand über, der Kontrolle über den Arbeiterbezirk Presnaya erlangte und ihn abriegelte und die Hauptbahnhöfe der Stadt eroberte. Aus St. Petersburg gesandte Truppen machten dem schließlich ein Ende.

Ohne dass es die Revolutionäre erkannten, war das der Höhepunkt der Revolution, wenngleich es weitere 18 Monate dauern sollte, bis der Zar wieder die Autokratie, die er vor dem Oktober 1905 ausgeübt hatte, erlangte. Die Jahre 1905-07 waren wesentlich für die Geburt und das Wachstum des vollen demokratischen Zentralismus. Ausgehend vom Zustrom der revolutionären Arbeiter in die Partei dehnte er sich auf Wahlen und Absetzbarkeit aller Führungsorgane der Partei, vom Lokalkomitee bis zum Zentralrat, aus. Grundlage waren jährliche souveräne Kongresse. Das demokratische Prinzip erlaubte die Existenz von Gruppierungen innerhalb der Partei, die Lenin „Tendenz“ nannte, die sich aber auch verhärten und verschärfen konnten, um Fraktionen zu bilden. Die Grundlage des demokratischen Zentralismus blieb jedoch die Disziplin in der Aktion.

Diese sehr demokratische Struktur wurde durch die revolutionäre Situation, die weitgehende de facto-Legalität, die Existenz legaler täglicher Zeitungen, großer öffentlicher Treffen und Debatten in den Fabriken und anderen Arbeitsstätten möglich und notwendig. Einige Kommentatoren – wie Marcel Liebmann – haben diese Situation zur ewig gültigen Norm idealisiert (13). Andere – wie die „Spartakist Arbeiterpartei“ – beharrten darauf, dass Lenin in Wirklichkeit eine Entrismustaktik in eine nicht-bolschewistische, nicht-leninistische Massenpartei durchführte und daher der demokratische Zentralismus dieser Periode überhaupt kein wahrer Leninismus war (14).

Beide liegen falsch. Wenn sich Lenins Ansichten über den Bereich der Parteidemokratie, die Möglichkeit des Austragens offener Parteikonflikte, verändert hatten und wieder verändern sollte, lag das in den Jahren 1908 – 1914 nicht an einem Rückfall ins Sektierertum oder den Bürokratismus (Liebmann) und auch nicht daran, dass sich der ausgereifte Bolschewismus erst 1912 entfaltete (Spartakisten). Der unvoreingenommene Beobachter wird unschwer erkennen, dass die bolschewistische Partei 1917 mit ihren heftigen internen Polemiken, die sich wiederholt in der Parteipresse wiederfanden, den häufigen Konferenzen, den Änderungen in der Strategie und Taktik, eine Partei umreißen, die sehr nahe an dem war, was Lenin in seinen Schriften über demokratischen Zentralismus 1905-06 dargestellt hatte.

Wenn es widersprüchliche Positionen gab, lag das daran, dass die Handhabung des demokratischen Zentralismus mit Trotzkis Worten vom „Kampf mit äußeren Hindernissen und inneren Widersprüchen“ abhängt. Natürlich kann das Modell von 1906 nicht für alle Zeiten gültig sein. Es „fiel nicht fertig vom Himmel“, sondern war selbst das Produkt des Kampfes und sollte sich im Kampf weiterentwickeln.

1906-1908: eine vereinte Partei mit zwei Fraktionen

Im April/Mai 1906 wurde die RSDAP wiedervereint, die Menschewiki hielten die Mehrheit der Mandate. Nichtsdestotrotz wurde Lenins umstrittene Formulierung von 1903 über die Mitgliedschaft in der Debatte über die Parteistatuten ohne Opposition angenommen!

„1. Ein Mitglied der Partei ist jemand, der das Parteiprogramm akzeptiert, die Partei finanziell unterstützt und zu einer Parteiorganisation gehört;

2. Alle Parteiorganisationen werden auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus errichtet (15).“

Die Statuten fassten die neuen Grundsätze des demokratischen Zentralismus zusammen und sie blieben die des Bolschewismus bis zur und nach der Russischen Revolution. In einem Aufruf an die Partei durch Delegierte zum Einheitskongress kommentierten die „ehemaligen Bolschewisten“ speziell die Minderheitenrechte:

„Alle waren wir einig über das Prinzip des demokratischen Zentralismus, über die Wahrung der Rechte jeder Minderheit und jeder loyalen Opposition, über die Autonomie jeder Parteiorganisation, über die Anerkennung der Wählbarkeit, Rechenschaftspflicht und Absetzbarkeit aller Parteifunktionäre. In der praktischen Einhaltung dieser Organisationsprinzipien, in ihrer aufrichtigen und konsequenten Verwirklichung sehen wir eine Garantie gegen Spaltungen, als Garantie dafür, dass der ideologische Kampf in der Partei mit der strengsten organisatorischen Einheit, mit der Unterordnung aller unter die Beschlüsse des allgemeinen Parteitags durchaus vereinbar sein kann und muss (16).“

Als kurz nach dem Kongress das Zentralkomitee versuchte, die Kritikfreiheit auf die Parteipresse und Parteitreffen zu beschränken und sie in öffentlichen Treffen zu verbieten, hielt Lenin dem entgegen:

„Das Prinzip des demokratischen Zentralismus und der Autonomie für lokale Organisationen umfasst universelle und volle Freiheit der Kritik, solange das nicht die Einheit einer bestimmten Aktion stört: das schließt alle Kritik aus, die die Einheit einer von der Partei beschlossenen Aktion stört oder erschwert … Kritik innerhalb der Grenzen des Parteiprogramms muss frei sein … nicht nur auf Partei-, sondern auch auf öffentlichen Treffen (17).“

Für Lenin schloss der demokratische Zentralismus während dieser Periode und unter diesen Umständen das Recht mit ein, Differenzen in den Parteipublikationen zu veröffentlichen, dass Minderheiten ihre eigenen Publikationen herausgeben, auf öffentlichen Treffen gegen die Partei zu sprechen. Doch es war nicht gestattet, sich einem beschlossenen Aktionsplan entgegenzustellen. Beispielsweise sollte kein Mitglied in der Öffentlichkeit zur Wahlenthaltung aufrufen dürfen, wenn eine Parteientscheidung zur Teilnahme an Wahlen getroffen worden war, „noch soll Kritik an der Entscheidung toleriert werden, bis alles vorbei ist“.

Der Kongress bestärkte die meisten revolutionären programmatischen Positionen der alten Partei. Die Menschewiki wagten unter dem Massendruck nicht, ihre opportunistische Position zur Rolle der Bourgeoisie vorzubringen. Dennoch war Lenin während und nach dem Kongress absolut offen bezüglich der fortgesetzten Existenz des Bolschewismus als ideologische Tendenz und drängte auf einen ideologischen Kampf gegen menschewistische Rückfälle weg vom historischen Programm der Partei, insbesondere in Bezug auf die führende Rolle der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution.

Das war wichtig, denn die Menschewiki ignorierten von 1906 an zunehmend die Vorbereitung auf den revolutionären Kampf und Aufstand zu Gunsten parlamentarischer Manöver. Lenin rief die Parteimitglieder offen auf, die Entscheidungen des menschewistsich dominierten Zentralkomitees sorgfältig zu beobachten und es zur Ordnung zu rufen, sollte es opportunistisch werden. Im Besonderen warnte er vor der menschewistischen Neigung, prinzipienlose Blocks mit den Kadetten (einer neugegründeten liberalen Partei) zu bilden, während die Trudoviki (eine radikale Bauernpartei) ignoriert wurden.

Lenins begrenztes Vertrauen in die Menschewiki zeigt sich auch in der Tatsache, dass er die Existenz der bolschewistischen Untergrundorganisation samt eigener Führung aufrechterhielt. Trotz der Tatsache, dass die Bolschewiki eine Mehrheit auf dem Londoner Kongress von 1907 und daher eine Mehrheit für sich selbst und ihre polnischen und lettischen Alliierten am Zentralkomitee gewonnen hatten, war die revolutionäre Periode, die sich im Januar 1905 aufgetan hatte, mit dem Putsch vom 3. Juni durch den Premierminister des Zaren, Stolypin, endgültig beendet. Seitdem wurden die Verhältnisse immer schlechter und die RSDAP wurde tiefer und tiefer in die Illegalität zurückgeworfen.

1909 – 1911: Erneute Bildung einer bolschewistischen Fraktion, schließlich einer eigenständigen Partei

Das Streben nach Einheit in der RSDAP dauerte nicht länger als die revolutionäre Periode. Die Menschewiki schwenkten unter den Auswirkungen sich mehrender Niederlagen wieder nach rechts, zurück zu ihren schlimmsten opportunistischen Positionen von 1904, zurück zu Axelrods Idee einer breiten legalen Arbeiterorganisation. Sie konnten die Vorstellung nicht ertragen, ins illegale Leben von Untergrundkomitees zurückgestoßen zu werden. Doch Legalität zu beanspruchen hieß, ausschließlich innerhalb des von Stolypins Gesetzen vorgegebenen Rahmens zu operieren. Axelrod begann von einer Labour Partei, ähnlich der britischen, die 1906 gegründet worden war, zu reden. Das war nicht nur nicht-sozialistisch und nicht- revolutionär, sondern in Russland in Lenins Worten eine „Stolypin-Arbeiterpartei“.

Im Dezember 1908 waren Lenin und fast alle anderen Führer gezwungen, in verschiedene westliche europäische Ländern ins Exil zu gehen. Die Menschewiki begannen in ihrer Verzweiflung, das legale, „normale“ Parteileben aufrechtzuerhalten, wieder politisch zu verkürzen und ihre Losungen abzuschwächen. Da sie die neue legale Organisation der alten Untergrundstruktur – in denen die Bolschewiki viel stärker waren – nicht unterordnen wollten, griffen sie wieder Axelrods alte Losung eines breiten demokratischen Arbeiterkongresses, um „die Partei zu restrukturieren“, auf. Das hätte ihnen eine überwältigende Mehrheit gegeben und hätte sie den „realistischen“ (d.h. pessimistischen) Druck der demoralisierten Nachhut der Arbeiter auf die Partei übertragen lassen.

Die Bolschwisten blieben bei der Position, die sie bei der Parteifusion 1906 vertraten, nämlich, dass ein illegaler Parteiapparat und illegale Publikationen so lange aufrecht erhalten werden mussten, so lange der Zarismus bestand. Doch auch sie bevorzugten legale oder halblegale Arbeit um die Dumaabgeordneten (die parlamentarische Immunität genossen) und versuchten, eine legale Presse, legale Gewerkschaftsarbeit und die Beibehaltung eines Netzwerks sozialdemokratischer Kultur- und Sportvereine zu bewahren.

Der politische Grund dafür war offensichtlich. Nur die illegalen Publikationen und Agitationen konnten das volle revolutionäre Programm und seine Taktik frank und frei verbreiten. Legale oder halblegale Agitation erforderte eine „Sklaven-Sprache“ wie Hinweise auf die „ungekürzten Ansichten aufrechter Demokraten“. Erfahrene Sozialisten konnten das als das interpretieren, was es war, doch die Massen konnten das oft nicht. Die Parteiarbeit dieser Art Agitation zu überlassen, gäbe den Opportunisten einen enormen Vorteil.

Doch die bolschewistisch-menschewistische fraktionelle Polarität wurde nun durch Spaltungen innerhalb der Bolschwisten und Menschenwisten noch verwirrender. Bald gab es vier halblegale Fraktionen plus die von Trotzki geführten Versöhnler (eine Gruppierung linker Menschewiki und einem früheren Bolschewiki).

1905-1907 wurde der Bolschewismus von Lenin, Krupskaya, Alexander Bogdanov und Leonid Krasin geführt. Bogdanov zog Leute wie Anatoly Lunacharsky, Maxim Gorky, M.N.Pokrovsky in die Partei und ihren bolschewistischen Flügel. Bereits im Juni 1907 gab es scharfe Differenzen innerhalb der bolschewistischen Fraktion, ob an den dritten Dumawahlen teilgenommen oder sie boykottiert werden sollten. Eine Mehrheit der von Bogdanov, Krasin und anderen geführten Bolschewiki favorisierten den Boykott. Sie weigerten sich zu akzeptieren, dass die Revolution niedergeschlagen worden war und dass eine konterrevolutionäre Situation bestand, in der die parlamentarische Tribüne (und die Immunität der Dumaabgeordneten) wichtige Verteidigungswaffen waren, so wie die Teilnahme in den Gewerkschaften.

Stattdessen blieben sie bei der Perspektive von 1905/06. Für sie war die Vorbereitung zum Aufstand zentral. Daher ihre Geringschätzung der Arbeit in den Gewerkschaften und ihre Forderung nach dem Boykott der Dumawahlen oder Wiedereinberufung der Dumafraktion. Mitte 1907 eskalierte der Konflikt in der bolschewistischen Fraktion. Eine neue Schicht bolschewistischer Führer trat ans Licht: Grigory Zinoviev, Lev Kamenev, Alexej Rykov und Mikhail Tomsky. Sie alle waren an Lenins Seite. Bogdanov ging in seinem sektiererischen Zynismus über die abgestimmte bolschewistische Linie über die Duma an die Öffentlichkeit, worauf Lenin Bogdanov und seine Unterstützer aus dem bolschewistischen Zentrum ausschloss.

Bogdanov forderte daraufhin eine Generalkonferenz der bolschewistischen Fraktion, was nicht umzusetzen war angesichts der Schwierigkeiten, Repräsentanten aus dem russischen Untergrund hervorzuholen. Statt dessen berief Lenin von 8. – 17. Juni 1909 eine erweiterte Redaktionskonferenz ein. Diese entschied sich gegen Bogdanov. Als Bogdanov sich weigerte, diese Konferenz anzuerkennen, wurde er endgültig aus der bolschewistischen Fraktion ausgeschlossen. Er gründete eine neue Fraktion um die wieder aufgelegte Vperyod. Der Kampf zwischen seiner Gruppe und den Bolschewiki innerhalb der fragmentierten RSDAP war nun ein offener – und drehte sich um fundamentale Fragen der Perspektiven und Taktiken.

Lenin erklärte seine Handlungsweise und bestand auf relativer Einheitlichkeit innerhalb des Bolschewismus, was auf die Differenz zwischen Fraktion und Partei hinweist. In einer Fraktion gab es keinen Raum für öffentliche Diskussionen über essenzielle Fragen über Perspektive und Taktik. Lenin erklärte, dass die Entscheidung nicht übereilt oder ohne ausreichende Debatte innerhalb der Fraktion getroffen wurde:

„Wir haben alle Möglichkeiten und alle Mittel ausgeschöpft, die abweichenden Genossen zu überzeugen, wir haben daran über 18 Monate gearbeitet. Doch als Fraktion, d.h. als Verbindung gleichgesinnter Leute in der Partei, können wir nicht ohne Einheit in fundamentalen Angelegenheiten arbeiten. Sich von einer Fraktion abzuspalten ist nicht dasselbe wie sich von der Partei abzuspalten. Jene, die von unserer Fraktion wegbrechen, sind der Gelegenheit, in der Partei zu arbeiten, in keinster Weise beraubt. Entweder werden sie „freischwebend“, d.h. kein Mitglied irgendeiner Fraktion und werden durch die allgemeinen Umstände der Parteiarbeit angezogen werden, oder sie versuchen, eine neue Fraktion zu gründen – das ist ihr legitimes Recht, wenn sie ihre besondere Sichtweise und Taktik aufrechterhalten und weiterentwickeln wollen (18).“

Im Jänner 1910 wandte sich Lenins Kampf wieder einmal den Menschewiki zu, als die Fünfte Gesamtrussische Konferenz der RSDAP in Paris zusammentraf. Sie verurteilte die Versuche, „die bestehende Organisation der RSDAP aufzulösen und durch eine formlose Verbindung zu ersetzen.“ Mittlerweile argumentierten Axelrod und Potresov offen für die Auflösung der alten RSDAP einschließlich ihres illegalen Untergrundapparats. Axelrod behauptete demagogisch, dass das das Proletariat befähigen würde „…der Revolution das Ziel der Auflösung des Regimes der Vormundschaft der Intelligenzia über die werktätigen Massen zu verleihen und … unser altes Parteiensystem aufzulösen und ein neues Parteiregime in den Reihen der Sozialdemokratie zu begründen (19).“

Lenin war sich zunehmend sicher, dass die menschewistischen Liquidatoren nie wieder als disziplinierte Minderheit zur Partei zurückkommen würden. Der Zugang Trotzkis, alle Fraktionen und Tendenzen zu vereinen und zu hoffen, dass der Klassenkampf, die Revolution sie alle schon das Richtige machen ließe, wie es zwischen Oktober und Dezember 1905 geschehen ist, war ein hoffnungsloser Objektivismus.

Die Liquidatoren hatten deutlich alle Verpflichtungen und Prinzipien der RSDAP hinter sich gelassen. Lenin beharrte darauf, dass die bolschewistische Fraktion der Kern der dem Programm der Partei gegenüber loyalen waren und wenn andere zurückkehren sollten, müsste ein klares Abkommen mit diesen Tendenzen und Fraktionen getroffen werden und keine Schein-Organisation, in der alle sagten und taten , was sie wollten:

„… Einheit mag zur gegenwärtigen Zeit nur durch die Wiederannäherung, die bereits begonnen hat, erreicht werden, zwischen bestimmten Fraktionen, die stark und einflussreich in den aktiv tätigen Arbeiterbewegungen sind und nicht durch moralisierendes Jammern nach ihrer Abschaffung. Mehr noch, diese Wiederannäherung muss stattfinden und sich auf Basis der revolutionären sozialdemokratischen Taktiken und einer organisatorischen Politik, die auf einen entschlossenen Kampf gegen den Liquidationismus sowohl der „linken“ wie der „rechten“ abzielt (vor allem gegen den letzteren, denn der „linke“ Liquidationismus, der bereits geschlagen wurde, ist eine geringere Gefahr), entwickeln (20).“

1912 – die Gründung der Bolschewistischen Partei

Im Herbst 1912 verschärfte Lenin die Kampagne gegen die bolschewistischen Versöhnler und begann mit Vorbereitungen für eine Parteikonferenz, die die Liquidatoren entfernen und die Versöhnler ignorieren sollte. Hunderte streikende MinenarbeiterInnen in den Goldlagerstätten von Lena waren von Soldaten brutal erschossen worden. Solidaritätsstreiks entstanden in allen Industriezentren Russlands, die ein Ende der dunklen Jahre der Konterrevolution (1908-1911) anzeigten. Im Jänner 1912 fand der Sechste Gesamtrussische Kongress der RSDAP in Prag statt. Eine kleine Versammlung von 18 Bolschewiki und zwei Nicht-Liquidatoren-Menschewiki konferierten vom 18. bis zum 30. Januar.

Als ein Kongress der Untergrundarbeiter Russlands war er sehr kritisch der fraktionellen Polemik aus dem Exil gegenüber eingestellt und Lenin musste mehrere Zurechtweisungen für das Versagen, im Ausland „für Arbeiter geeignete“ Literatur herzustellen, einstecken. Gegen seinen Willen entschied die Konferenz, eine Zeitung in Russland erst dreimal pro Woche und später täglich erscheinen zu lassen. Ganz deutlich war das keine Konferenz der Jasager. Doch über eines waren sich alle einig: die Liquidatoren sollten nicht mehr der RSDAP angehören.

Die Prager Konferenz wurde von allen anderen Fraktionen und Tendenzen der alten Partei verunglimpft: von den Versöhnlern, den Liquidatoren und den Vperyiodisten. Die Konferenz musste ihren Vertretungsanspruch gegenüber der Partei rechtfertigen, indem „die extrem dringenden praktischen Aufgaben der Arbeiterbewegung“, das enorme Bedürfnis „ein kompetentes, praktisch orientiertes Parteizentrum, das mit den lokalen Organisationen eng verbunden“ sein sollte, zu errichten, angeführt wurden, nachdem es nicht gelungen war, einen Kongress innerhalb von 2 Jahren einzuberufen.

Die von Trotzki geführten Versöhnler organisierten 1912 die berühmte Konferenz des „Augustblocks“ in Wien – eine buntgemischte Versammlung von Liquidatoren und Versöhnlern, die nur durch ihre Feindseligkeit dem Bolschewismus gegenüber zusammengekommen waren. Die meisten Versöhnler waren Lenin politisch näher, doch weigerten sie sich beharrlich, den Liquidationismus bis zum Ende zu bekämpfen. Daher charakterisierte Lenin sie und Trotzki im Speziellen als „Phrasendrescher“ und „Windbeutel“. Ihr Block gegen die Prager Konferenz war politisch prinzipienlos, daher die spezielle Boshaftigkeit in Lenins Beschuldigungen. Als Tendenz charakterisierte Lenin sie als das, was er später „Zentristen“ nennen sollte:

„Wo es eine Spaltung und im Allgemeinen einen erbitterten Kampf zwischen Tendenzen gibt, ist es unausweichlich, dass Gruppen sich bilden, die ihre Existenz auf fortwährendes Seitenwechseln und kleinliche Intrigen gründen (21).“

Lenin charakterisierte diese zentristische Haltung so: „Ich verurteile den Liquidationismus – doch ich sage nicht offen, wer die unverhohlenen und beständigen Liquidatoren sind. Ich gebe zu, dass der Liquidationismus die Existenz der Partei gefährdet – doch ich sage nicht offen, ob eine solche Gruppe in der Partei sein soll oder nicht (22)!“

Die Dringlichkeit des Bruchs mit dem Liquidationismus (und dem Versöhnlertum 1912) ergab sich aus dem Wiederaufschwung der Arbeiterbewegung und der Notwendigkeit, die illegale Organisation als Vorbereitung auf die bevorstehenden Kämpfe wiederaufzubauen. Bald war klar, dass ein neuer revolutionärer Aufschwung begann. Arbeiter strömten wieder in Massen in die Parteiorganisationen und -fronten. Eine bolschewistisch dominierte Tageszeitung – Prawda – wurde in St. Petersburg herausgegeben. Während der vierten Dumawahlen wurden fünf bolschewistische und sieben menschewistische Abgeordnete gewählt.

Unter den halblegalen Umständen, die in diesen zwei Jahren bestanden, kehrte die Partei zu einem beachtlich Grad der demokratischen Elemente, die in den Parteistatuten 1906 festgelegt worden waren (und sich niemals geändert hatten), zurück Doch in einer Frage waren die Regeln nun strenger. Lenin sagte nun, dass „die Minderheit das Recht haben soll, vor der gesamten Partei Unstimmigkeiten in Programm, Taktiken und Organisation in einem Diskussionsjournal, das eigens für diese Absicht produziert wird, zu diskutieren, doch sie soll nicht das Recht haben, in einer Konkurrenzzeitung Erklärungen, die die Aktionen und Entscheidungen der Mehrheit stören, zu veröffentlichen (23).“

Angesichts des Kampfes mit den Liquidatoren war es einem Mitglied der RSDAP nicht länger zu gestatten, Legalität um jeden Preis zu befürworten, die Losungen des Programms zu missbilligen usw. Offensichtlich war die Partei nach 1912 zentralisierter und disziplinierter als sechs Jahre zuvor. Doch diese Einmütigkeit und Disziplin sollte im Jahr der Revolution – 1917 – nicht bestehen bleiben.

Das Gleichgewicht musste sich einmal mehr der Demokratie zuwenden, um die hunderttausenden jungen revolutionären Arbeiter, die in die Partei strömten und die Revolution unterstützten, zu halten. Aber sie fanden hier einen stabilen Kern von Bolschewiki vor, die das Parteiprogramm und die Taktiken verstanden. Sie fanden auch eine lebendige interne Demokratie vor, die die Partei befähigte, ihr Programm wieder einmal zu überarbeiten, um schließlich auch mit Trotzkis Block, der schließlich die Essenz und Richtigkeit des Bolschewismus verstanden hatte, zu fusionieren.

Nur eine solche Partei, aufgebaut auf solchen Methoden der Organisation, konnte Millionen Arbeiter und Bauern, organisiert in Sowjets, nicht nur in einem Jahr der Revolution, sondern in drei Jahren des Bürgerkriegs führen. Dass dieser Krieg den demokratischen Zentralismus wieder verhärtete und einengte, kann nicht bezweifelt werden. Doch es war schließlich die von diesem Krieg, der Isolation und Blockade und dann der Öffnung für Korruption, die die Neue Ökonomische Politik mit sich brachte, verursachte Bürokratisierung, die die soziale Basis für die Zerstörung dieser Partei schuf.

Der tragische Fehler der Verbannung von Fraktionen in der Partei von 1921, wofür Lenin und Trotzki volle Verantwortung übernehmen müssen, beruhte auf der verfehlten Sichtweise, dass die Gefahr von außen, von den Kulaken, den NEP-Leuten und der Weltbourgeiosie größer war als die von innerhalb der Partei und des Staatsapparats. Der Prozess der Bürokratisierung führte zur Schwächung des selbstregulierenden Mechanismus der inneren Parteidemokratie und hemmte schließlich den Kampf Trotzkis und der Linksopposition dagegen.

Methode, nicht Blaupause

Die gesamte Geschichte der Partei bis 1917, wenn nicht 1921, war nicht nur eine des unerbittlichen Kampfes gegen den Kapitalismus (einschließlich nach 1914 gegen den imperialistischen Krieg), sondern der heftigen internen Debatten. Der Bolschewismus war weder bürokratisch noch monolithisch. Auch war er nicht sektiererisch; er gewann eine Führungsrolle an der Spitze der Massen und führte die Revolution.

Die leninistische Partei und der demokratische Zentralismus entsprang nicht fertig modelliert der Stirn Lenins. Keine einzige Arbeit, nicht einmal „Was tun?“ beinhaltet davon eine Blaupause. Nichtsdestotrotz wäre es falsch, daraus zu schließen, dass es keine leninistischen Organisationsprinzipien gäbe oder dass Lenin ein freischwebender Pragmatiker gewesen wäre – oder noch schlimmer, ein zynischer Manövrist in diesen Fragen. Praxis und Theorie erwuchsen im Klassenkampf und in scharfen internen und externen Schlachten und Polemiken zwischen Möchtegern-Sozialisten und Revolutionären über die drei Jahrzehnte Lenins politischen Lebens. Jedes Stadium trug etwas Wichtiges bei. Er dachte nicht daran, dass er „eine Partei neuen Typus“ erfände. Doch das war es letztlich, was er tat.

Er entwickelte eine Theorie und eine Praxis der Partei zur Organisierung der AvantgardekämpferInnen der Arbeiterklasse. Diese Kämpfer wurden an der Front aller Kämpfe der Arbeiterklasse, sowohl der ökonomischen wie der sozialen, gebildet. Sie waren die klassenbewusstesten Elemente, die in den Abschwüngen des Klassenkampfes genauso wie in den Aufschwüngen, zu Zeiten der Niederlagen und des Rückzugs genauso wie in jenen der revolutionären Aufwallung und Siege überleben und sich neu orientieren konnten. Diese Avantgardeelemente mussten während der unvermeidlich rapiden Wechsel im Bewusstsein der Arbeiterklasse stabil bleiben und der Passivität, Rückständigkeit und den reaktionären Ideen des jeweiligen Zeitgeistes widerstehen und die Klasse in Zeiten der militanten Offensive führen.

Lenin entwickelte seine Sicht der Partei in einer Reihe von Stadien des Aufbaus: beginnend bei einer Gründungsperiode von Zirkeln, die zuerst reiner Propaganda und dann der Teilnahme an Agitationen gewidmet waren, dann rivalisierende ideologische Strömungen in einem wilden Kampf beim Versuch der Entwicklung eines Programms, taktischer Prinzipien und einer zentralisierten Organisationsstruktur. Nur eine Organisation, die auf festen programmatischen und taktischen Prinzipien ruht und schließlich Wurzeln unter den AvantgardekämpferInnen der Arbeiterklasse schlägt, verdient die Bezeichnung Partei.

Lenin erlebte durch bittere Erfahrung, dass dieser Kampf ein unaufhörlicher war – in allen Stadien des Parteiaufbaus. Er erkannte, dass diese Stadien nicht eine ununterbrochen aufsteigende Kurve bildeten. Sie sind von Krisen, Zusammenbrüchen, Spaltungen genauso wie von Fusionen, Wiederkehr zu früheren Stadien und rapiden Fortschritten unterbrochen.

Lenin bemerkte, dass die kapitalistische (und vorkapitalistische) Gesellschaft nicht ein passiver Zuschauer in der Geschichte und Entwicklung der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen ist. Durch ihre verschiedenen Schichten, ihre akademische Wissenschaft, ihre Presse wie durch ihre Polizeikräfte, Parteien und Richterschaft übt sie enormen Druck auf die Arbeiterklasse und ihre Organisationen aus. Eine revolutionäre Partei aufzubauen ist nicht nur ein Kampf gegen die Unternehmer und ihre staatlichen Kräfte. Es ist ein Kampf gegen bürgerliche (und kleinbürgerliche) Einflüsse und jene, die diese Einflüsse in die Reihen der Arbeiter tragen – die objektiv oder subjektiv Agenten dieser fremden Klassen sind.

Was Lenin zu jeder Zeit suchte, war die schärfste ideologische Klarheit über die programmatischen Ziele, die taktischen Prinzipien und die Methoden der Organisation, die diese zu Leben erwecken sollten. Aus diesem Grund kritisierte er am schärfsten die Kompromissler, Konfusionisten und Versöhnler, die es den Arbeitern erschwerten zu sehen, wer ihnen Freund und wer ihnen Feind war. Das bedeutete keine Vorliebe für Spaltungen und Polemiken, sondern die Erkenntnis, dass mit passivem Optimismus darauf zu warten, dass die Arbeiter die Erfahrungen schon machen würden, die alles enthüllen, die Gelegenheit für offensichtliche Verräter und hoffnungslose Wendehälse ist, den Arbeiterkampf im wichtigsten Moment in Verwirrung und Niederlage zu stürzen.

Wenn interner Kampf und politische Festlegung eine konstante Komponente des politischen Lebens sind, wenn Spaltungen und Vereinigungen notwendig zur Schaffung einer politischen Führung für die Arbeiterklasse sind, die im entscheidenden Moment die Initiative ergreifen sollte, sollten die Prinzipien des internen Parteileben darauf Rücksicht nehmen.Diese Prinzipien, die 1905 als demokratischer Zentralismus bekannt wurden, ermöglichten die Ausarbeitung einer Strategie, die die Kämpfer vereinen und sie die Umsetzung lehren konnte.

Die LRKI steht auf diesen Grundsätzen. Wir wenden sie in jedem Stadium des Parteiaufbaus an. Wir wissen, dass wir den ersten Stadien des Leninschen Kampfes näher stehen als den letzteren. Daher muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine lebendige interne Demokratie mit einem hohen Grad an theoretischer und programmatischer Homogenität kombiniert werden. Wir weisen das gerade so moderne Bild des Parteiaufbaus als „Diskussionsforum“ entschieden zurück. Wir lehnen die Vorstellung, dass die Theorie und die Theoretiker völlige Freiheit im Ausdruck haben müssen, wohingegen die praktischen Anwender, insbesondere die Arbeiter, in Einheit in der Aktion arbeiten sollen, ab.

Für uns ist der Lenin von Iskra und Proletary ein legitimes Modell des Kampfes in der Verwirrung der Sekten und Fraktionen, die heute existieren. Doch wir machen aus der Not keine Tugend, wir bilden uns nicht ein, dass eine Avantgarde einer Massenarbeiterpartei ihr internes Leben wie eine Propagandagruppe, eine kämpfende Propagandagruppe, gestalten kann. Das zu tun, hieße, nicht den demokratischen, sondern den bürokratischen Zentralismus zu befürworten. Und das bedeutete das Ende jeden Versuchs eines Aufbaus einer revolutionären Arbeiterpartei.

Fußnoten

(1) L.Trotzki, „Über den demokratischen Zentralismus: Einige Worte über die Parteiordnung“ in „Writings of Leon Trotsky 1937/38“ (aus dem Engl. übersetzt), S.90

(2) Karl Marx, „Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation“, MEW 17, S.422

(3) V.I.Lenin, Werke, Band 5, S.5f

(4) ebd., S.5

(5) V.I.Lenin, Werke, Band 5, S.482f.

(6) R.Luxemburg, Werke, Band 1/2, S.429

(7) V.I.Lenin, Werke, Band 7, S.505f

(8) V.I.Lenin, Werke, Band 8, S.144

(9) V.I.Lenin, Werke, Band 10, S.249f

(10) ebd., in: „Über die Reorganisation der Partei“, S.15

(11) Paul LeBlanc, „Lenin und die revolutionäre Partei“, New Jersey 1990, S.128

(12) ebd., S.128/29

(13) Marcel Liebmann, „Leninismus unter Lenin“, London 1975, S.45-61

(14) siehe „Lenin und die Avantgardepartei“, New York 1978, S.49-53

(15) P.LeBlanc, ebd., S.129

(16) V.I.Lenin, Werke, Band 10, S.315f

(17) P.LeBlanc, ebda., S. 131

(18) V.I.Lenin, Band 11, S.361

(19) Abraham Ascher Harvard, „Pavel Axelrod und die Entwicklung des Menschewismus“, Harvard 1972, S.237

(20) V.I.Lenin, Band 16, S.77

(21) V.I.Lenin, Band 18, S. 409

(22) ebd., S.408f

(23) V.I.Lenin, Band 20, S.518f




100 Jahre Roter Oktober – Die Aktualität der Revolution

Tobi Hansen, Neue Internationale 223, Oktober 2017

Epochemachende Ereignisse prägen die Geschichte und das Denken ganzer Generationen. Die Oktoberrevolution war ein solches Jahrhundertereignis. Wie die Pariser Kommune als Beispiel für den Kampfeswillen des Proletariats galt, so die Oktoberrevolution für die Möglichkeit, den Kampf gegen Staat und Kapital zu gewinnen. Viele tausende Organisationen und Parteien wie auch Hunderttausende und Millionen Menschen werden sich an die Taten des russischen Proletariats, der Soldaten und BäuerInnen erinnern, die im Oktober 1917 die Grundlage für die Bildung der Sowjetunion legten.

In diesem Artikel wollen wir auch an die Geschichte erinnern. Wir verweisen an dieser Stelle für eine weit umfassendere Darstellung auf die letzte Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“, in dem wir ausführlich Programm, Methode und Lehren der bolschewistischen Politik behandeln. Erst in Bezug auf ihre Aktualität erhält das genaue Studium der Geschichte der Klassenkämpfe, der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung ihren politischen Sinn. Ansonsten droht sie zum historischen Andenken, zur bloßen Traditionspflege zu verkommen.

Das trifft nicht nur auf „wohlwollende“ bürgerliche Geschichtsbetrachtung zu, die den revolutionären Kern des Oktober als „Ausrutscher“ der Vergangenheit entsorgen will. Es trifft auch auf „VerteidigerInnen“ wie „KritikerInnen“ des Bolschewismus zu, die wie die StalinistInnen Lenin zum Vorläufer Stalins umdichten wollen oder, wie ultralinke Strömungen, die spätere Bürokratisierung der Revolution als unvermeidliche, wenn auch nicht unbedingt gewollte Folge der Politik von Trotzki und Lenin interpretieren.

1917-2017

Wenn wir uns die sonst übliche antikommunistische, antirevolutionäre Hetze vergegenwärtigen, ist bislang zumindest in Deutschland diesbezüglich nicht viel geschehen. Etwas Beileid mit den Romanows im Frühjahr auf den Kanälen, ansonsten relativ wenig bürgerliche Hetze gegen die Oktoberrevolution.

Das mag vor allem daran liegen, dass das System der bürgerlichen Klasse derzeit kein „Erfolgsmodell“ darstellt. Man könnte sagen, dass die objektiven Umstände, welche die Russische Revolution begünstigten, im großen Stil wieder Realität werden.

Erst neulich trat die Nr.1 der „freien“ Welt, der US-Präsident, vor die diplomatische Plauderrunde der UN, um in dort eher ungewohnter Wortwahl (vor diesem Gremium, nicht beim Präsidenten) dem „Schurkenstaat“ Nordkorea mit „vollständiger Zerstörung“ zu drohen, was auch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit einschließe.

Dies ist nur ein Beispiel für die aktuelle Phase des Imperialismus, in der sich die Fratze der Reaktion, des Rassismus, Nationalismus und des Faschismus wieder auf der Bühne der „Weltpolitik“ zeigen darf. Nach 1990 versprachen die westlichen Mächte Wohlstand, Frieden, Demokratie für alle, die sich unterwerfen bzw. denen sie im Zuge der kapitalistischen Restauration gerade die Segnungen der Marktwirtschaft verkündeten. Dazu waren auch die gewendeten BürokratInnen der UdSSR und Chinas bereit, nur folgte keine soziale Sicherheit, sondern „nur“ das globale Diktat des Imperialismus.

Unter dem Schlagwort „Globalisierung“ setzte er sein System weltweit durch, eine neue Ära der Konkurrenz, der Monopolisierung und der Marktdurchdringung wurde zur Realität. Mit der Krise 2007/2008 zeigte das kapitalistische System, was von seinen Versprechen nach 1990 übrig blieb – nämlich nichts. Die Verluste der Börsen, Banken und SpekulantInnen wurden als neue Staatsschulden „sozialisiert“, Billionen von Euro und US-Dollar in die Finanzmärkte gepumpt, und die Sparmaßnahmen kürzten die Löhne, Renten und Sozialleistungen weltweit. Nicht Frieden, Demokratie und Wohlstand, wie vorm Irakkrieg versprochen, waren angesagt, sondern Krieg, Elend und Verzweiflung. Der Arabische Frühling war eine Rebellion der Volksmassen gegen die Marionetten des Imperialismus. Die Niederlage dieser Bewegungen läutete eine globale Phase der Reaktion ein. Der Aufstieg des „Islamischen Staats“, die Konterrevolution in Ägypten, die Bürgerkriege in Syrien, Libyen und dem Jemen beendeten diesen „Frühling“ in den nordafrikanischen und arabischen Halbkolonien.

Die politische Reaktion zeigt sich im globalen Rechtsruck, auch in der EU. Nach Jahren der Schuldenkrise, der Spardiktate sind es jetzt die RassistInnen und NationalistInnen, welche sich als SystemgegnerInnen profilieren wollen, vor allem gegen die Geflüchteten, die MuslimInnen und sozialen Minderheiten.

Das imperialistische System ist in der Krise, in einer zugespitzten Konkurrenz miteinander. Die USA als Weltmacht Nr. 1 werden von China und der EU auf den globalen Märkten herausgefordert. Hier geht es um Profite, um Marktanteile, um Übernahmen – ein neuer Kampf um die Neuaufteilung der Welt ist entbrannt!

Diese globale Lage steuert auf die Verhältnisse ähnlich jenen vor 1917 objektiv zu. Nicht nur die ökonomischen Angriffe und die Konkurrenz werden schärfer, auch die Kriegsgefahr steigt. Natürlich wiederholt sich die Geschichte nicht (sonst wäre sie auch keine). Aber die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Widersprüche drängen heute, ebenso wie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, mit Macht an die Oberfläche, drohen, sich in eruptiven Krisen und Kriegen zu entladen. Damit aber entwickeln sich, wenn auch auf dem Boden neuer Technik, veränderter Klassenzusammensetzung, neuer Erscheinungsformen des Systems jene Widersprüche, die auch zur Oktoberrevolution und zur internationalen Krisenperiode nach 1917 geführt haben. In diesem Sinne hat die Machtergreifung der ArbeiterInnen und BäuerInnen, haben der Sturz von Zarismus und Kapitalismus sowie die Errichtung der Räteherrschaft bis heute ihre Aktualität behalten.

Umrüstung von Partei und Programm

Eine der wichtigen Lehren aus der Russischen Revolution betrifft die zentrale Rolle und den Charakter der kommunistischen Partei. Bekannt sind die Parteien stalinistischen Musters, ohne innere Demokratie, mit einem abstrakten Personenkult, welcher dann meist je nach Bürokrat auch wechseln kann. Im Vergleich zu dem, was die Bolschewiki in der Russischen Revolution taten und verkörperten, handelt es sich hier um komplett verschiedene Organisationen, abschreckende Beispiele.

Die Bolschewiki wuchsen im Jahr 1917 zu einer Massenpartei an. Von wenigen Tausend, die in der Illegalität des Krieges die Partei und Organisationsarbeit aufrechterhielten, wurden sie innerhalb weniger Monate zu einer Partei von Hunderttausenden. Gleichzeitig veränderte die Partei ihr Programm in grundlegenden Fragen, ihre Methode und Taktik im Angesicht der Februarrevolution und der Aufgaben, die auf sie zukamen.

In dem Artikel „Bruch und Wandel des Bolschewismus“ haben wir die Entwicklung der Bolschewiki von einer Partei, die zu Anfang 1917 in vielen Punkten immer noch die Methoden und Taktiken der Zweiten Internationale verinnerlicht hatte, zur Partei des Oktober nachgezeichnet.

Bekanntlich ging die große Mehrzahl der Bolschewiki vor 1917 davon aus, dass die russische Revolution ihrem Wesen nach eine bürgerliche Revolution sein müsse, dass sie nicht zur Diktatur des Proletariats, sondern zur „demokratischen Diktatur“ der ArbeiterInnen und BäuerInnen führen müsse. Dies im besten Fall widersprüchliche Formel erwies sich angesichts der realen Entwicklung der Revolution, der objektiv gestellten Aufgaben als unhaltbar. Sie musste entweder nach rechts, d. h. hin zu eine Anpassung an die bürgerliche Klasse, „gelöst“ werden, also zu einem strategischen Block mit Menschewiki oder Sozialrevolutionären – oder nach links, zur Übernahme der Konzeption der „permanenten Revolution“.

Die „Aprilthesen“ Lenins vollzogen diesen Schritt nach links. Als er sie nach seiner Rückkehr nach Russland präsentierte, waren sie auch unter der Mehrheit der Partei kein umjubeltes Dokument, sondern wurden scharf vom rechten Flügel, von führenden Genossen wie Kamenew, Sinowjew und Stalin kritisiert. Lenin musste Vorwürfe des „Blanquismus“ über sich ergehen lassen.

Lenins Politik war schließlich ein direkter Bruch mit der bisherigen Konzeption der Bolschewiki. Die „Aprilthesen“ stellten die Lösung der Doppelmacht zwischen Provisorischer Regierung und den Sowjets in den Mittelpunkt – und somit auch die Machtfrage zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Weil das Bürgertum seine historisch fortschrittliche, revolutionäre Rolle bereits ausgespielt habe, sei die kommunistische Partei verpflichtet, ein Programm für die proletarische Revolution, gestützt auf die Bauernschaft, zu entwerfen.

Diese Strategie war maßgeblich von der Beschäftigung mit der Analyse der imperialistischen Epoche geprägt, wie sie Lenin unter anderem in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ darlegt, und von der Vorstellung, dass der Erste Weltkrieg die internationale proletarische Revolution auf die Tagesordnung stellt. Hier konvergierte Lenins Theorie mit der Trotzkis von der permanenten Revolution. Beide vollziehen einen grundlegenden Bruch mit den alten Vorstellungen der Zweiten Internationale, deren geschichtliche Erben Sozialdemokratie und Stalinismus werden sollten.

Dieser Wechsel mit allen seinen Implikationen wie alle großen politischen Wendungen des Bolschewismus im Jahr 1917 wurden sehr aktiv in der Partei diskutiert. Bei den ArbeiterInnen in den Bezirksorganisationen, den VertreterInnen der Bolschewiki in den Räten, bei den Soldaten standen die Debatten um Programm und Taktik im Mittelpunkt.

Charakter der Partei

Vielfach wird das Bild der einigen, der einheitlichen Partei gezeichnet, welche, erleuchtet von Lenin, geschlossen marschierte. Auch wenn die Bolschewiki sicher viel einheitlicher waren als andere Parteien, so musste diese Geschlossenheit immer wieder im inneren Streit, in der offenen Auseinandersetzung um die politische Linie errungen werden.

„Die Vorstellung, dass Lenin ein ‚chemisch’ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des ‚Leninismus’ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden.

Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.“ (Bruch und Wandel des Bolschewismus, RM 49, Seite 32)

Eine solche Partei war in der Lage, von einer kleinen Minderheit zur Führerin der Klasse zu werden, diese für ihr Programm zu gewinnen und ihr Handeln zu bündeln.

„Das Programm der Partei muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes, eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handeln an.“ (Ebenda, S. 75)

Diese Tradition der Bolschewiki, als aktive Kampfpartei, nach außen wie nach innen, zu handeln, muss für uns heute die Hauptlehre aus der Russischen Revolution sein. Das ist das Vermächtnis, das zukünftigen kommunistischen Massenparteien Vorbild sein soll.

Programmatisches Erbe

Wir stehen heute am Beginn einer weltgeschichtlichen Periode, die in vielem der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, hinterlässt die Politik des Bolschewismus ein theoretisch-programmatisches Erbe, das auch heute noch, ja wieder aktuell ist und an das es anzuknüpfen gilt.

  1. Der internationale Charakter der Revolution

Der Kapitalismus ist schon immer ein internationales gesellschaftliches System gewesen. Seine inneren Krisen treiben notwendigerweise zu revolutionären Zuspitzungen – und zwar im globalen Maßstab. Kommunistische Politik darf daher den internationalen Klassenkampf nicht als Summe nationaler Kämpfe begreifen, sondern muss umgekehrt von den Gesamtinteressen der Klasse weltweit ausgehen. Der Sozialismus in einem Land hat sich im Stalinismus als das erwiesen, was er seinem Begriff nach schon immer war – eine reaktionäre Utopie.

  1. Anti-Imperialismus

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt droht der Menschheit mit neuen Handelskriegen, Zuspitzungen bis hin zum großen Krieg. Die ArbeiterInnenklasse darf in diesem reaktionären Ringen keine Gruppe imperialistischer Staaten und Mächte unterstützen, sondern muss sich im Konflikt der Methode des „revolutionären Defaitismus“ bedienen und des Klassenkampfes gegen die „eigene“ Bourgeoisie . Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ hat nichts an Aktualität verloren.

Antiimperialismus bedeutet nicht nur Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, er bedeutet auch die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe unterdrückter Nationen, von Aufständen und Klassenkämpfen gegen die ImperialistInnen und die „nationale“ Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern.

  1. Permanente Revolution

Der niedergeschlagene „Arabische Frühling“ war ein weiterer Beweis dafür, dass demokratische Forderungen im Zeitalter des Imperialismus nicht allein durch eine „demokratische Revolution“ errungen werden können. Die Abhängigkeit des Bürgertums in den Halbkolonien von den imperialistischen Bourgeoisien ist heute genauso gegeben wie die Abhängigkeit der russischen Bourgeoisie vom Großgrundbesitz und dem französischen und britischen Finanzkapital. Daher braucht das Proletariat eine unabhängige Klassenpolitik. Nur diese kann die Basis für ein Bündnis mit den ausgebeuteten Schichten von Stadt und Land, speziell den unteren Schichten der Bauernschaft in den Halbkolonien sein. Dies bedeutet auch, dass Proletariat, Bauernschaft und die städtische Armut nicht auf die Illusionen in eine „westliche“ Demokratie setzen dürfen, sondern stets deren Abhängigkeit vom Imperialismus berücksichtigen und für die proletarische Demokratie, die Rätedemokratie kämpfen.

  1. Verteidigung demokratischer Rechte

Gerade angesichts der reaktionären Züge unserer Zeit gewinnen die Verteidigung demokratischer Rechte und das Einstehen für demokratische Forderungen eine wichtige Bedeutung. Wir stehen an der Seite derjenigen, welche die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit auf gewerkschaftlicher und Parteiebene gegen staatliche Eingriffe und Repressionen verteidigen. Dabei ist uns aber auch klar, dass dieser Kampf nicht abstrakt für die parlamentarische Demokratie geführt werden kann, sondern auf eine proletarische Demokratie, eine Rätedemokratie abzielen muss.

  1. Soziale Unterdrückung

Die kapitalistische Ausbeutung stützt sich zusätzlich auf mannigfaltige Unterdrückung verschiedener Teile der Bevölkerung und insbesondere unter den ProletarierInnen. Rassismus, Sexismus, Homophobie werden benutzt, um die Spaltung der Klasse zu vertiefen und chauvinistische Vorurteile und rückständiges Bewusstsein zu stärken. Deswegen treten wir für besondere Rechte der unterdrückten Teile der ArbeiterInnenklasse ein, wollen die Selbstorganisierung von Frauen, von MigrantInnen, der Jugend und von sexuell Unterdrückten stärken. So können diese ihren Kampf als Teil des Proletariats führen, wie wir auch in der Klasse gegen Vorurteile und rückständiges Bewusstsein kämpfen. Der Kampf wie der gegen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte aller MigrantInnen und Flüchtlinge ist integraler Bestandteil des Klassenkampfes.

  1. Taktik der Einheitsfront

RevolutionärInnen suchen die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital, die Regierung, den bürgerlichen Staat. Diese Forderung richten sie – wie die Bolschewiki 1917 – an die ArbeiterInnenparteien und Massenorganisationen, deren Basis wie deren Führungen. Der gemeinsame Kampf für klar definierte Ziele darf dabei nie auf Kosten der Freiheit der Propaganda und Kritik an den zeitweiligen reformistischen, gewerkschaftlichen oder kleinbürgerlichen BündnispartnerInnen gehen. Eine revolutionäre Anwendung der Einheitsfronttaktik verfolgt nämlich immer zwei Ziele gleichzeitig – größtmögliche Einheit in der Aktion und die Ablösung der ArbeiterInnen und Unterdrückten von reformistischen, zentristischen oder kleinbürgerlichen Führungen.

  1. Zerschlagung des bürgerlichen Staats – Kampf um die Rätemacht

Ein entscheidendes Merkmal der erfolgreichen Russischen Revolution waren die Sowjets, die Räte, welche den gesammelten Willen des Proletariats, der Bauernschaft und der Soldaten 1917 repräsentierten und daher die wichtigste Stütze der Revolution verkörperten. Diese können nur in revolutionären und vorrevolutionären Situationen entstehen. So wichtig die Räte dabei als elementare Form der Selbstorganisation der Klasse sind, so können sie ihr Potential als Kampforgane und Kern einer zukünftigen proletarischen Staatsmacht nur verwirklichen, wenn sie von einer revolutionären Partei geführt werden. Alle Theorien, die die Räte der Partei entgegenstellen, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. Nur durch eine revolutionäre Führung kann die Klasse, gestützt auf Räte, auf Milizen – den bewaffneten Teil der ArbeiterInnenklasse – und in Räten organisierte Soldaten die Macht erobern, eine Doppelmachtsituation aufheben, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen.

  1. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Diese bekannte Losung aus dem Kommunistischen Manifest hat an Strahlkraft nichts von ihrer Bedeutung verloren, im Gegenteil. Ein revolutionärer Kampf, eine Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kann nur auf internationaler Basis stattfinden – oder eben nicht. Dies war die Erkenntnis von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki bis zu ihrem Tod. Die Entfremdung dessen, ja sogar völlige Verzerrung durch die Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ hat nicht nur die Degeneration und schließlich das Ende des ArbeiterInnenstaates eingeläutet, es hatte auch verheerende Folgen für den internationalen Klassenkampf und die politischen Organisationen. Letztlich führte dies zur Abschaffung der Komintern, welche zuvor den nationalen Bedürfnissen der Sowjetbürokratie untergeordnet wurde.

Deswegen ist der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, einer 5. Internationale heute die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Nur ein internationales Programm gegen den Imperialismus, welches die aktuellen Kämpfe weltweit via der Übergangsmethode mit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung verbindet, kann diesen auch herausfordern und stürzen.

  1. Für die revolutionäre Partei!

Wir treten ein für das methodische und taktische Rüstzeug der linken Opposition in der Sowjetunion, für die Theorie und Praxis der Bolschewiki-LeninistInnen. Mit ihrer Methode und ihren Analysen haben sie die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus betrieben und real die „Lehren des Oktober“ gezogen. An diesen Fundus knüpfen wir mit unserer Programmatik, unserer Strategie und Taktik an und wollen diese in den Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und Internationale einbringen, da nur auf dieser Grundlage eine lebendige kämpferische Organisation aufgebaut werden kann. Zu den Werkzeugen des Marxismus, des Leninismus wollen wir eine Herangehensweise entwickeln, die im folgenden Zitat gut wiedergegeben ist:

Und wenn irgendetwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.“

(Trotzki, Der Neue Kurs, in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band I, 1923-1924, Berlin/West [Olle & Wolter], 1976, S. 390)




Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen, und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, …“ (1)

Die bürgerlichen Revolutionen bedurften dieser Selbsttäuschung, dieser „Betäubung“ über den Inhalt der Revolution, ihren eigentlichen Zweck, gerade weil sich die Revolution des Bürgertums als Befreiungsakt aller Menschen, aller BürgerInnen proklamierte. Nur so konnte sie die Volksmassen gegen die alte Ordnung mobilisieren, nur so konnten die entschiedenen Teile des Bürgertums die Hindernisse für eine neue Gesellschaft zerstören. Sie verfolgten damit ihren eigenen bornierten Zweck: die Etablierung einer neuen herrschenden Minderheit über die Gesellschaft.

Daher wendet sich jede bürgerliche Revolution nicht nur an einem bestimmten Punkt gegen ihre radikalsten VerfechterInnen. Ein Mangel an Bewusstheit, die ideologische Verschleierung des grundlegenden Charakters der bürgerlichen Revolution, also ihres Klassencharakters, ist für sie ein Wesensmerkmal, dessen Nutzen für die Bourgeoisie und ihre ParteigängerInnen ebenso leicht verständlich ist wie die Problematik, die sich daraus für die Massen ergibt, die die Revolution vorangetrieben haben, die selbst die großen Parolen der bürgerlichen Umwälzung – egalité, liberté, fraternité (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) – ernster genommen haben als das zur Herrschaft kommende Bürgertum.

Hinzu kommt, dass  die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse schon im untergehenden Feudalismus – insbesondere im Absolutismus – mehr und mehr die feudale Produktionsweise zersetzten, an den Rand drängten, noch unter der alten Ordnung ein ökonomisches Übergewicht erlangten. Die bürgerliche Revolution setzt nur die Hindernisse für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise frei, die politische und soziale Machtergreifung durch die Bourgeoisie vollzieht gewissermaßen den ökonomischen Prozess nach, etabliert die dieser Entwicklung angemessenen politischen Formen. Daher kann auch die monarchische Konterrevolution diese Prozesse nicht mehr umkehren, der Bonapartismus eines Louis Napoleon, sein Kaiserreich, ist eine bürgerliche, keine feudale Herrschaftsform.

Anders die proletarische Revolution. Die ArbeiterInnenklasse kann keine eigene Produktionsweise im Rahmen des Kapitalismus herausbilden. Sie treibt nur den Widerspruch zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und deren privater Aneignung mehr und mehr auf die Spitze. Um eine neue Produktionsweise zu errichten, muss die ArbeiterInnenklasse zuerst die Staatsmacht erobern, um so die Gesellschaft auf neuer Grundlage überhaupt reorganisieren zu können.

Daher spielt die Bewusstheit in der proletarischen Revolution nicht nur eine größere, sondern vor allem eine qualitativ andere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (2)

Um diese Aufgabe zu bewältigen, um den „Inhalt über die Phrase“ zu stellen, braucht die ArbeiterInnenklasse auch eine Organisation, eine politische Partei, die diesen Inhalt theoretisch und praktisch verkörpert, weiterentwickelt, an  die neue Situation anpasst.

Ohne eine solche Partei, ohne eine Organisation, die in der Lage war, aus den vergangenen Klassenkämpfen, aus dem Arsenal eines wissenschaftlichen Verständnisses des Kapitalismus sowie der aktuellen weltgeschichtlichen Epoche zu lernen und die politischen Konsequenzen zu ziehen, wäre auch die Russische Revolution 1917 auf halbem Wege stecken geblieben. Sie hätte nicht zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse geführt und wäre auch nicht zum Fanal für eine ganze Periode bis 1923 geworden, die die proletarische Weltrevolution als geschichtliche Aufgabe gestellt hat. Sie wäre nicht zum Fanal für eine ganze Epoche geworden, die uns vor die Alternative „Sozialismus oder „Barbarei“ gestellt hat, von einer Epoche, die sich auch heute  krisenhaft im Kampf um die Neuaufteilung der Welt wieder geltend macht.

Wenn wir von der Aktualität der Russischen Revolution sprechen, so nicht im trivialen Sinne einer einfachen Wiederholung, die ohnedies niemandem vorschwebt, sondern vielmehr im Sinne des politischen und programmatischen Erbes des Bolschewismus.

Wenn Marx davon spricht, dass „die Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“ laste, so trifft das nicht nur die bürgerlichen Revolutionen, sondern auch die bürgerliche Epoche selbst. Auch auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse lastet dieser Alp und selbst auf jenen, die sich der Überwindung dieser Gesellschaft verschrieben haben.

Die Bolschewiki (und ihr opportunistisches und letztlich konterrevolutionäres Gegenstück, die Menschewiki) entwickelten sich selbst aus einer zur „Tradition“ gewordenen Interpretation des Marxismus, aus einer „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale, die am Beginn des 19. Jahrhunderts und selbst am Beginn der Russischen Revolution 1917 ihr politisches Verständnis und Handeln prägte.

In diesem Artikel werden wir uns daher mit der Entwicklung des Bolschewismus selbst, seinem Verständnis der Triebkräfte der Russischen Revolution sowie dem Bruch mit der Zweiten Internationale beschäftigen, die auch die Notwendigkeit einer „Erneuerung des Marxismus“ selbst am Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichen.

Wir wollen sodann die Entwicklung des Bolschewismus in der Oktoberrevolution, seine programmatische Umbewaffnung und Erneuerung, seine inneren Konflikte um die strategische und taktische Ausrichtung betrachten. Dabei geht es uns nicht um eine weitere „Geschichte der Russischen Revolution“, sondern darum, die Entwicklung des Programms nachzuvollziehen, dessen bleibende Errungenschaften zu beachten.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Revolution von 1905 markiert einen zentralen Referenzpunkt in der Geschichte nicht nur der russischen sozialistischen Bewegung. Die Frage der Machtergreifung des Proletariats trat erstmals seit Jahrzehnten als praktische Aufgabe zutage. Schon vor der Revolution hatten sich Bolschewismus und Menschewismus als organisierte Strömungen getrennt, aber die politischen Differenzen standen noch am Beginn ihrer Entwicklung.

Lenin charakterisierte in dieser Periode gelegentlich den Menschewismus als „Opportunismus in organisatorischen Fragen“. Diese Formulierung verdeutlicht, dass sich alle Fraktionen noch immer als Bestandteil einer sozialdemokratischen Bewegung betrachteten. Eine Wiedervereinigung wurde keineswegs kategorisch ausgeschlossen, sondern vielmehr immer wieder angestrebt. Beiden Strömungen waren damals die politisch-taktischen und programmatischen Implikationen ihrer organisatorischen Differenzen noch nicht in all ihren Konsequenzen bewusst, ja, diese hatten sich selbst noch nicht voll entfaltet. Der Kampf der Iskra-Gruppe und das offene Hervortreten des Bolschewismus 1903 nahmen zwar, wenn auch nicht bewusst, den Bruch mit der Parteiform der Zweiten Internationale vorweg. Das betrifft nicht nur die politischen Implikationen des Charakters der Partei, die Lenin vorschwebten, sondern auch ein grundlegend anderes Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Programm, Strategie, Taktik, organisatorischen Konsequenzen.

Heute erscheint Lenins These, dass „Klassenbewusstsein von außen“ in die Klasse getragen werden müsse, nicht nur den ReformistInnen, sondern auch den ZentristInnen aller Couleur als Affront, als Form des Substitutionalismus. Interessanterweise machen sich die Kritiken an Lenin 1903 kaum an dieser Formulierung fest, gerade weil es sich dabei um eine These handelte, die Teil der marxistischen Orthodoxie war.

Auch wenn die Formulierung von Kautsky stammte, so gab ihr Lenin einen anderen Sinn, weil er sie in den Kontext einer anderen, zuerst „nur“ für Russland angelegten Parteikonzeption stellte – nämlich in den Kontext einer disziplinierten Kampfpartei, einer Partei von Kadern, für die die revolutionäre Aktivität den Mittelpunkt ihres Lebens bildete.

Die Kautsky’sche Vorstellung vom „Hineintragen“ hingegen war in eine schon etablierte Arbeitsteilung innerhalb der deutschen und internationalen Sozialdemokratie eingepasst. Die Partei hatte schon lange eine Struktur entwickelt, in der die Theoretiker theoretisierten, die Gewerkschafter ihre routinemäßigen Kämpfe um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft führten, die PolitikerInnen, PropagandistInnen wie AgitatorInnen vor allem Wahlkämpfe organisierten. Der Fortschritt der Partei drückte sich durch Wachstum der Organisation und Stimmenanteile bei Wahlen plus Schulung aus.

Diese Partei wurde vom Kaiserreich stigmatisiert und beharrte auf ihrer marxistischen „Orthodoxie“, andererseits verrichtete sie aber jahrein, jahraus innerhalb eines halb-bonapartistischen Systems ihre gradualistische Oppositions- und Sammlungsarbeit. Jahrzehnte der evolutionären Entwicklung nach Aufhebung der Sozialistengesetze hatten die deutsche Sozialdemokratie geprägt. Ihre innere Struktur entsprach einer Partei, für die ihr Endziel, die sozialistische Revolution, und auch die Unabhängigkeit von allen Parteien des Bürgertums einerseits identitätsstiftend waren, andererseits aber zunehmend eine formale Hülle der Tagespraxis, für die die soziale Revolution keine unmittelbare Bedeutung hatte.

Programmatisch war diese Kombination von Organisationsarbeit, gewerkschaftlichen und politischen „Positionskämpfen“ kodifiziert in der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm.

Im Erfurter Programm, dem „Modell“ marxistischer Programme in der Zweiten Internationale, war diese exemplarisch ausgeführt. Mit dieser Vorstellung entwickelte sich auch die von einer langen Periode hin zur sozialistischen Revolution.

Diese gradualistische Methode reflektierte selbst die Entwicklung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern dieser Zeit, das Wachstum der Industrie und die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie sowie den Übergang zu einer imperialistischen Weltordnung, die aber erst mit dem Ersten Weltkrieg alle politischen Implikationen dieser Entwicklung offenlegen sollte. Um die Jahrhundertwende kündigten sich im Ministerialismus der französischen Partei und im Revisionismusstreit die Unhaltbarkeit dieser Kombination von „marxistischer Orthodoxie“ und aufklärerischer, parlamentarischer und gewerkschaftlicher, im Kern reformistischer, „Tagespolitik“ an.

Dass diese Form der legalen Parteiarbeit und Arbeitsteilung  für Russland nicht möglich war, begünstigte sicher die Entwicklung des Bolschewismus, ließ ihn aber andererseits auch als Sonderentwicklung vor dem Hintergrund der politischen Rückständigkeit Russlands erscheinen, so dass der politische Kampf in der russischen Sozialdemokratie in seiner internationalen, beispielhaften Bedeutung unterschätzt wurde.

Haltung zum liberalen Bürgertum

Für die Entwicklung der politischen Parteien fast noch wichtiger war die zur „Orthodoxie“ verkehrte Vorstellung, dass die sozialistische Revolution einen Reifegrad der Produktivkräfte im nationalen Rahmen voraussetze, die sie deshalb nur in den westlichen Ländern auf die „Tagesordnung“ setze: Länder wie Russland wären überhaupt noch nicht „reif“ für eine sozialistische Umwälzung. Zuerst stünde eine bürgerliche Revolution an, die Beseitigung des Zarismus und Feudalismus. Diese Umwälzung müsse nicht nur die Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus beseitigen, sondern folgerichtig zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie führen. Die Aufgabe des Proletariats habe darin zu bestehen, sich einerseits aktiv an der Revolution gegen die Selbstherrschaft zu beteiligen, andererseits die Interessen des Proletariats zu wahren, indem sich die Partei von der Regierung fernhält und die Position der „entschiedenen Opposition“ einnimmt.

Der Menschewismus reklamierte, anders als die Ökonomisten und erst recht als die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie, für sich, auf dem Boden des „orthodoxen Marxismus“ der Zweiten Internationale zu argumentieren, und warf seinerseits anderen Strömungen vor, in den Blanquismus und Voluntarismus zu verfallen und die „Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“ zu missachten.

Mit dem russisch-japanischen Krieg 1904 und der ersten russischen Revolution 1905 traten jedoch die Differenzen zwischen Menschewismus und Bolschewismus deutlicher hervor, auch wenn beide vom bürgerlichen Charakter der Revolution ausgingen.

Beide Fraktionen der russischen Sozialdemokratie waren 1904 gegen den Krieg gegen Japan, wie auch ein großer Teil des Bürgertums dieses Abenteuer ablehnte. In der Haltung zum Krieg traten allerdings schon erste wichtige Differenzen zum Vorschein. Der Menschewismus wollte eine pazifistische Opposition zum Krieg, der Bolschewismus trat für die Niederlage des Zarismus ein, weil das die Unzufriedenheit im Land fördern und die Revolution vorantreiben würde. Sinowjew stellt das in seiner Geschichte der KPDSU (B) folgendermaßen dar:

„Die Menschewiki betonten hauptsächlich seinen dynastischen Charakter und erklärten ihn ausschließlich aus dem Bestreben des Hauses Romanow, den Thron dadurch zu festigen, daß sie die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Ereignissen auf die äußeren abzulenken versuchten. Bis zu einem gewissen Grad war das natürlich richtig. (…) Aber durch das dynastische Moment wurde die Sache nicht erschöpft. Neben dem dynastischen Moment haben in diesem Krieg zweifellos auch rein imperialistische, annexionistische Bestrebungen, der Wunsch, neue Märkte zu erobern usw., eine bedeutende Rolle gespielt. Viele Parteikomitees, die in Rußland tätig waren, betonten gerade diesen Charakter des russisch-japanischen Krieges, aber die Menschewiki bekämpften diesen Gesichtspunkt (…) Und wenn man sich jetzt in die Evolution des Menschewismus hineinversetzt, so muß man sagen, daß schon in dieser Analyse der Ursachen des russisch-japanischen Krieges ein Anzeichen für ihr künftiges politisches Denken enthalten war.“ (3)

Die Unterschiede zwischen Bolschewismus und Menschewismus wurden 1904 vor allem hinsichtlich der Haltung zur liberalen Bourgeoisie deutlich.

Ende 1904 wuchs nicht nur die politische Empörung und Gärung im Land, die Liberalen forderten eine Einschränkung der Herrschaft des Zaren. Auf Banketten und lokalen „Semstwo“-Versammlungen (Volksversammlungen) wurden relativ radikale Reden geschwungen, Petitionen verabschiedet und Forderungen erhoben bis hin zu der nach einer Verfassunggebenden Versammlung. Auf den Vorschlag menschewistischer FührerInnen hin rief die Partei dazu auf, auch außerhalb der liberalen Bankette für breite demokratische Freiheiten und eine Verfassunggebende Versammlung zu demonstrieren. Dagegen hatten die Bolschewiki keine Einwände, wohl aber gegen die Position der Menschewiki, den Liberalen politische Zugeständnisse zu machen, um sie dabei „nicht zu verschrecken“. So heißt es in einem Brief menschewistischer Führer an die Parteiorganisationen vom November 1904:

„Im Rahmen des Kampfes gegen die Selbstherrschaft aber sollte besonders in der jetzigen Phase unsere Haltung gegenüber der liberalen Bourgeoisie darin bestehen, sie generell zu ermutigen und sie zur Unterstützung des von der sozialdemokratischen Bewegung geführten Proletariats zu bewegen.“ (4)

Um zu verhindern, dass große ArbeiterInnendemonstrationen die liberalen und halb-liberalen BürgerInnen einschüchtern, müssten Vorsichtsmaßnahmen durch die Parteiführung getroffen werden: „Um ein solches Fiasko zu vermeiden, muß die Vollzugskommission die liberalen Abgeordneten rechtzeitig über die bevorstehende Kundgebung und ihre wahren Ziele verständigen. Außerdem muss sie versuchen, eine Art Abkommen mit den Vertretern des linken Flügels der bürgerlichen Opposition zu treffen und sich, wenn nicht ihre aktive Unterstützung, so doch wenigstens ihre Sympathie für die politische Aktion zu sichern.“ (5)

Diese servile Haltung gegenüber dem liberalen Bürgertum unterzieht Lenin einer scharfen Kritik. Er kritisiert an den Menschewiki, dass sie der politischen Feigheit der bürgerlichen Kräfte in die Hände spielten, die letztlich nur auf einen Kompromiss mit dem Zaren und der Bürokratie hinarbeiten, um so eine revolutionäre Zuspitzung zu verhindern. Die Bolschewiki lehnten eine Zusammenarbeit und Bündnisse mit liberalen, bürgerlich-demokratischen Kräften gegen den Zarismus keineswegs ab. Aber sie lehnten es ab, das demokratische Programm selbst für ein solches Bündnis abzuschwächen, den Bedürfnissen einer bürgerlichen „Opposition“ anzupassen, die keinen konsequenten Kampf gegen den Zarismus führen wollte. Kurz gesagt, die Menschewiki ließen die ArbeiterInnen über den Charakter des russischen Bürgertums im Unklaren, das historisch schon nicht mehr fähig und willens für einen konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution war. Dies, so Lenin, sei umso fataler, als sich die politische Lage zu einer Konfrontation mit dem Zarismus, zu einer allgemeinen politischen Krise zuspitzte. Der Fokus durfte daher keinesfalls auf ein Bündnis mit Liberalen gelegt werden, die nicht verschreckt werden sollten, sondern auf die Entfachung einer Massenbewegung gegen den Zarismus.

„Die mit gütiger Erlaubnis der Polizei eröffnete Semstwokampagne, die sanften Reden Swjatopolk-Mirskis und der offiziösen Regierungsblätter, die starken Töne der liberalen Presse, die Belebung der sogenannten gebildeten Gesellschaft – all dies stellt die Arbeiterpartei vor die ernstesten Aufgaben. Diese Aufgaben werden jedoch in dem Brief der ‚Iskra‘-Redaktion völlig verkehrt formuliert. Gerade im gegenwärtigen Augenblick muß im zentralen Brennpunkt der politischen Tätigkeit des Proletariats die Organisation einer nachdrücklichen Einwirkung auf die Regierung und nicht auf die liberale Opposition stehen. Gerade jetzt sind Abkommen zwischen den Arbeitern und den Semstwoleuten über eine friedliche Kundgebung – Abkommen, die sich unvermeidlich in bloße possenhafte Effekthascherei verwandeln würden – weniger denn je angebracht, ist der Zusammenschluß der fortgeschrittenen Elemente des revolutionären Proletariats zur Vorbereitung des Entscheidungskampfes um die Freiheit mehr denn je vonnöten. Gerade jetzt, wo unsere konstitutionelle Bewegung die unausrottbaren Sünden jedes bürgerlichen und insbesondere des russischen Liberalismus – das Überwuchern der Phrase, den Mißbrauch des Wortes, das mit der Tat nicht übereinstimmt, das rein philiströse Vertrauen zur Regierung und zu jedem Helden der Fuchspolitik – kraß zu offenbaren beginnt, gerade jetzt sind die Redensarten über die Unerwünschtheit einer Einschüchterung der Herren Semstwoleute, über den Hebel für die Reaktion usw. usf. besonders taktlos. Gerade jetzt ist es am allerwichtigsten, im revolutionären Proletariat die unerschütterliche Überzeugung zu festigen, dass auch die gegenwärtige ‚Befreiungsbewegung in der Gesellschaft‘ sich ebenso wie die früheren unvermeidlich und unweigerlich als Seifenblase erweisen wird, wenn nicht die Macht der Arbeitermassen eingreift, die fähig und bereit sind zum Aufstand.“ (6)

1905

Die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus sollten sich in der Revolution 1905 phasenweise noch deutlicher darstellen. Die erste Russische Revolution zeichnete sich schon 1904 ab, aber wie viele Erhebungen der Massen entzündete sie sich an einem „zufälligen“, alltäglichen Ereignis, dem berühmten Funken, der alles in Brand setzte.

Dieser Funke ging nicht von den SozialdemokratInnen aus, sondern von einer dubiosen Organisation, die auf Initiative des Polizeichefs Subatow zurückging, der die Etablierung prozaristischer Gewerkschaften vorantrieb und der Versammlung der russischen Fabrik- und MühlenarbeiterInnen St. Petersburgs, geführt von dem orthodoxen Priester Vater Georgi Gapon. In der ersten Woche des Jahres 1905 erschütterte ein Streik St. Petersburg. Im Dezember war vier ArbeiterInnen (alle Mitglieder der Organisation Gapons) des Putilow-Waffen- und Schiffsbaubetriebes, einer der wichtigsten Fabriken St. Petersburgs, gekündigt worden. In Gapons Abwesenheit erhoben sich 600 ArbeiterInnen eines Treffens und stimmten für Streik. Er breitete sich schnell aus. Am 4. Januar kam Unterstützung durch andere ArbeiterInnen. Am nächsten Tag folgten die Stieglitz-Fabrik und die Newski-Werft. Am 7. Januar hatten 382 Fabriken und Büros ihre Arbeit niedergelegt – 100.000 ArbeiterInnen, zwei Drittel des St. Petersburger Proletariats, standen im Streik.

Die Revolution brach schließlich mit dem „blutigen Sonntag“ am 9. Januar aus. Eine riesige Demonstration zog durch die Straßen von St. Petersburg. Als die Spitze des Marsches den Palasteingang erreichte, feuerten die Soldaten in die Menge, Hunderte (nach manchen Schätzungen gar 1000) Menschen starben. Als nahezu zeitgleich zwei von Gapons Leibwächtern starben, prägte der Priester den berühmten Ausspruch: „Es gibt keinen Gott mehr! Es gibt keinen Zaren!“.

In der Folge entwickelte sich eine gewaltige Welle des Klassenkampfes, die Revolution weitete sich aus, ergriff die Massen in Stadt und Land. Das Jahr 1905 verzeichnete erfolgreiche Generalstreiks, Bauernaufstände und Landbesetzungen, Studentenrebellionen, nationale Befreiungskämpfe, Meutereien in Armee und Marine, die Entstehung hunderter neuer Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, die Etablierung von demokratischen Arbeiterkomitees und das Zusammentreten von Arbeiterräten („Sowjets“). Die SDAPR wurde von einer Propagandagruppe zu einer wirklichen Partei des Proletariats.

Der Zar war gezwungen, Zugeständnisse zu machen, und versprach die Einführung von Grundrechten und die Einberufung einer Duma (eines Parlaments). In Wirklichkeit waren das nur Mittel, um Zeit zu gewinnen und die Niederschlagung der Revolution vorzubereiten, die im Dezember mit dem Moskauer Aufstand ihren Höhepunkt erreichte, in dem die Bolschewiki die Führung innehatten. Dieser wurde von der Armee blutig zerschlagen, was zur Konsolidierung der Konterrevolution im Jahr 1906 führte. Zu den Ursachen der Niederlage gehörte sicherlich, dass die internationale Lage weniger zugespitzt war, aber auch, dass die Unzufriedenheit der Bauern geringer und die Zersetzung der Armee weniger fortgeschritten waren als 1917. So konnte die Regierung das Heer wieder einsatzfähig machen und gegen die Revolution nutzen und das Dorf leichter niederhalten, um so schließlich die ArbeiterInnen in den Städten zu besiegen.

Die dramatischen Ereignisse von 1905 waren vor allem aber das historische Vorspiel zur siegreichen sozialistischen Revolution von 1917.

Konzeption der Menschewiki

1905 wurden auch die strategischen, grundlegenden Konzeptionen einer russischen Revolution deutlich. Die Menschewiki gingen dabei vom vorherrschenden Verständnis der Zweiten Internationale aus.

„In den kapitalistisch entwickelten Ländern des Westens hat die Sozialdemokratie mit einer vollausgebildeten, mit einer reifen bürgerlichen Gesellschaft zu tun, in der das Proletariat und die Bourgeoisie einander unmittelbar Auge in Auge einander gegenüberstehen als unversöhnliche feindliche Kräfte; hier ist die Bourgeoisie konservativ und kämpft für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung; das Proletariat ist revolutionär und bestrebt, die Ordnung zu stürzen. In diesen Ländern werden die revolutionären und proletarischen Elemente von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer sozialistischen Revolution vorwärts gedrängt. (…)

Die geschichtliche Situation der Partei Rußlands dagegen wird gekennzeichnet durch gerade entgegengesetzte Tendenzen; diese Situation stellte unserer Partei als hauptsächliche unmittelbare Aufgabe, das Proletariat zu organisieren, nicht um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, sondern umgekehrt: um mit der Wurzel jene politisch-soziale Ordnung zu zerstören, die der vollen Herrschaft der Bourgeoisie im Wege steht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands sind noch nicht weitergelangt als bis zur Reife für eine bürgerliche Revolution, …“ (7)

Daher wäre ein unmittelbarer Kampf um die politische Macht für das Proletariat, den Menschewiki zufolge, aufgrund der Unreife des Klassengegensatzes  zwischen Kapital und Arbeit ausgeschlossen:

„Bei uns ist ein derartiger Kampf vorläufig ausgeschlossen durch den gesamten Konplex der historischen Bedingungen, die den Inhalt und die unmittelbaren Aufgaben unserer revolutionären Bewegung bestimmten, die nach einem Ausdruck von Marx die Bourgeoisie und das Proletariat durch das ‚gemeinsame Interessen‘ aneinanderschmieden, durch das gemeinsame Bedürfnis, sich vom gemeinsamen Feind zu befreien.“ (8)

Für die Revolution 1905 ergab sich daher zwingend die Schlussfolgerung, dass die politische Macht in der Revolution an die Bourgeoisie übergehen müsse und die ArbeiterInnenklasse nur als „extreme revolutionäre Opposition“ agieren dürfe.

„Unter solchen Bedingungen muß die Sozialdemokratie danach streben, während des ganzen Verlaufs der Revolution für die Aufrechterhaltung einer Situation zu sorgen, die einem Fortschreiten der Revolution am zweckdienlichsten ist. Es muß eine Situation geschaffen werden, in der ihr die Hände im Kampf gegen die inkonsequente und eigennützige Politik der bürgerlichen Parteien nicht gebunden sind und in der sie gleichzeitig vor einem Überlaufen in das Lager der bürgerlichen Demokratie bewahrt bleibt.

Deshalb sollte es nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein, die Macht in einer Provisorischen Regierung zu erobern oder sie mit anderen zu teilen, sondern sie muß eine Partei der extremen revolutionären Opposition bleiben.“ (9)

Zwei Taktiken

Lenin polemisierte scharf gegen diese abwartende Haltung. In „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ greift er die mechanische Übertragung der Kritik am Bernsteinianismus und am Eintritt in eine parlamentarische Regierung auf die Regierungsfrage in einer Revolution an.

„Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grundsatz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oder Opportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürgerrecht als rechtmäßige und notwendige Zurückweisung des ‚parlamentarischen Kretinismus‘, des Millerandismus, des Bernsteinianertums und des italienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neuiskristen haben diesen guten Grundsatz auswendig gelernt und wenden ihn eifrig dort an, wo er … völlig unangebracht ist. Kategorien des parlamentarischen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhältnisse geschrieben sind, unter denen es gar kein Parlament gibt. Der Begriff der ‚Opposition‘, der Widerspiegelung und Ausdruck einer politischen Situation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganz sinnlos auf eine Situation übertragen, da der Aufstand begonnen hat und alle Anhänger der Revolution über die Leitung des Aufstandes nachdenken und sprechen.“ (10)

Wie die menschewistischen Autoren gehen auch Lenin und die Bolschewiki 1905 davon aus, dass in Russland eine demokratische, bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Aber Lenin grenzt sich scharf von der im Grunde a-historischen Charakterisierung der russischen Bourgeoisie bei Martow, Axelrod und anderen ab. Diese folgen im Grunde dem einfachen Schema, dass eine bürgerliche Revolution von der Bourgeoisie geführt werden und diese zur politischen Macht bringen müsse.

Ob die Bourgeoisie dazu noch in der Lage ist, ob sie ihre revolutionäre Rolle nicht schon ausgespielt hat, ob es nicht „tiefere“ Ursachen für deren Feigheit gibt, als dass sie von größeren ArbeiterInnendemonstrationen „verschreckt“ werden könnte – diese Fragen stellt sich der Menschewismus erst gar nicht.

Dabei hatten schon Marx und Engels nach der Niederlage der Revolution von 1848 herausgearbeitet, dass das Bürgertum mehr Angst vor den plebejischen Klassen und einer sich herausbildenden ArbeiterInnenklasse hatte als vor der Niederlage gegen die monarchische Konterrevolution. Sie hatte ihre weltgeschichtlich fortschrittliche Rolle ausgespielt, zumal und gerade weil die kapitalistische Produktionsweise schon so fest etabliert war, dass auch Änderungen der Regierungsform dieser nichts anhaben konnten. Der Staatsstreich und das Regime eines Louis Bonaparte perfektionierten den bürgerlichen Staatsapparat, auch wenn  sich Bonaparte zum Kaiser krönen ließ. In Deutschland vollzogen sich die Reichseinigung und die Expansion der Großindustrie unter der Kanzlerschaft Bismarcks – eine Form des Bonapartismus, der eine enge Zusammenarbeit von Großkapital und Großagrariern zugrunde lag.

All dies zeigt, dass – erst recht mit der imperialistischen Epoche – das Bürgertum aufgehört hatte, eine revolutionäre Klasse zu sein.

An diese historischen Erfahrungen knüpft Lenin an. Er tut dies nicht bloß in Form einer generellen Verallgemeinerung der internationalen Entwicklung des Bürgertums und seines Verhältnisses zur Aristokratie, er untersucht insbesondere, wie und warum die russische Entwicklung diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck bringt.

Die Agrarfrage ist eine, wenn nicht die  Schlüsselfrage der demokratischen Revolution. Wer den Zaren stürzen will, muss die feudalen und halb-feudalen Verhältnisse am Land beseitigen und die Macht der Großgrundbesitzer brechen. Von diesem Ziel hat sich das Bürgertum längst verabschiedet. Jene Teile des russischen Kapitals, die Eigentum ausländischen Finanzkapitals sind und die maßgeblich zum fieberhaften Ausbau großindustrieller Zentren beigetragen hatten, waren ohnedies immer eng mit der zaristischen Herrschaft und der Staatbürokratie verbunden, die ihnen die Rahmenbedingungen für ihren Erfolg lieferten.

Was die russische Bourgeoisie betraf, so fürchtete diese eine revolutionäre, demokratische Umgestaltung am Land. Sie wollte auf keinen Fall eine politische Konfrontation mit dem adeligen Großgrundbesitz, sondern den Kampf vermeiden und seine Konsequenzen abschwächen, selbst wenn  sich die Bourgeoisie wie in der aufsteigenden Phase der Revolution von 1905 verbal-revolutionär gab.

Gerade deshalb, so Lenin, dürfe die ArbeiterInnenklasse, dürfe die Sozialdemokratie der „Angst“, den Feigheiten der Bourgeoisie keine Zugeständnisse machen, denn deren „Abschwenken“, ihr „Verschrecktwerden“ von der bürgerlichen Revolution sei vielmehr unvermeidlich.

„Die Bourgeoisie wird in ihrer Masse unweigerlich zur Konterrevolution, zur Selbstherrschaft übergehen und sich gegen die Revolution, gegen das Volk kehren, sobald ihre engen eigennützigen Interessen befriedigt sein werden. (…) Es bleibt das ‚Volk‘, das heißt das Proletariat und die Bauernschaft: Allein das Proletariat ist fähig, konsequent bis zu Ende zu gehen, denn es geht weit über die demokratische Umwälzung hinaus. Deshalb eben kämpft das Proletariat in den vordersten Reihen für die Republik und weist mit Verachtung die törichten und seiner unwürdigen Ratschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Bourgeoisie möglicherweise abschwenkt. Die Bauernschaft umfaßt eine Masse halbproletarischer Elemente neben kleinbürgerlichen Elementen. Dieser Umstand macht auch die Bauernschaft unbeständig, so daß das Proletariat genötigt ist, sich zu einer streng klassenmäßigen Partei zusammenzuschließen. Aber die Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der Unbeständigkeit der Bourgeoisie grundverschieden, denn die Bauernschaft ist gegenwärtig nicht so sehr an dem unbedingten Schutz des Privateigentums als vielmehr an der Enteignung des Gutsbesitzerlandes, einer der Hauptformen des Privateigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne aufzuhören, kleinbürgerlich zu sein, ist die Bauernschaft fähig, zum völligen und radikalsten Anhänger der demokratischen Revolution zu werden, (…) Die Bauernschaft wird unter der erwähnten Bedingung unweigerlich zur Stütze der Revolution und der Republik werden, denn einzig die zum vollen Sieg gelangte Revolution wird der Bauernschaft auf dem Gebiet der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: alles das, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich für sie notwendig ist, (nicht um den Kapitalismus zu vernichten, wie sich das die ‚Sozialrevolutionäre‘ einbilden, sondern) um aus dem Schlamm der halben Leibeigenschaft, aus dem Dunkel der Geducktheit und der Knechtschaft emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbessern, wie das im Rahmen der Warenwirtschaft überhaupt zu erreichen ist.“ (11)

Da die Bourgeoisie die demokratische Revolution nicht zum Sieg führen kann und die ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft ein gemeinsames Interesse haben, die Revolution konsequent zu Ende zu führen, folgt daraus, dass sie ein Bündnis eingehen müssen. Dieses soll durch den Aufstand zu einer Provisorischen, revolutionären Regierung, zur „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ führen.

Die Haltung der Menschewiki, sich in der demokratischen Revolution auf die Rolle der „extremen Opposition“ zu beschränken, führt unweigerlich dazu, die Lösung der Machtfrage der Bourgeoisie zu überlassen. Nachdem diese jedoch die Revolution nicht zu Ende führen will oder kann, früher oder später „abschwenkt“, bedeutet dies auch, die Revolution selbst zu verraten, sie der zaristischen, gutsbesitzerlichen Konterrevolution oder, was letztlich ebenfalls darauf hinausläuft, einem Kompromiss zwischen Zarismus und Bourgeoisie auszuliefern.

Die Polemik Lenins gegen die mechanische Vorstellung einer russischen Revolution durch die Menschewiki offenbart viele grundlegende Stärken des Bolschewismus. Er weist überzeugend nach, dass die Politik der „extremen Opposition“ darauf hinausläuft, dass die ArbeiterInnenklasse eigentlich eine Nachtrabpolitik betreiben muss. Wer in der Revolution keine Machtperspektive hat, kann den Sieg nur anderen überlassen. Statt zu überlegen, wie die ArbeiterInnenklasse, geführt von der Sozialdemokratie, zur hegemonialen Kraft werden kann, schlägt sich der Menschewismus mit der Frage herum, ob die ArbeiterInnenklasse überhaupt ohne Bourgeoisie siegen dürfe.

Im Versuch Lenins, eine eigenständige, aktive Politik in der „demokratischen Revolution“ zu verfolgen, knüpft er an die Kritik am Ökonomismus an, weist nach, dass die Menschewiki gewissermaßen dessen Stellung eingenommen hätten. Anders als später der Stalinismus ist Lenins Konzeption von der Zielsetzung geprägt, eine eigenständige, revolutionäre ArbeiterInnenpolitik zu formulieren.

Aber seine strategische Konzeption bleibt an einem wesentlichen Punkt im Schematismus der Zweiten Internationale befangen. Da die Revolution eine demokratische sei und Russland ein Bauernland, könne die Revolution nicht unmittelbar zu einer sozialistischen übergehen.

„Nur das Proletariat ist fähig, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen. Schließlich steht außer Zweifel, daß auch bei uns in Russland der Erfolg des Bauernkampfes, d. h. der Übergang des gesamten Grund und Bodens an die Bauernschaft, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeuten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein wird, keineswegs aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die ‚Sozialisierung‘, von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, reden. Der Erfolg des Bauernaufstandes, der Sieg der demokratischen Revolution wird erst den Weg ebnen zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik.“ (12)

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Konzeption selbst von einem tiefen inneren Widerspruch geprägt ist. Die Revolution von 1905 wurde jedoch geschlagen, bevor die Unzulänglichkeiten dieser Formel wie auch der Konzeption des Menschewismus mit allen Konsequenzen praktisch sichtbar wurden.

Es ist aber kein Wunder, dass 1917, nach der Februarrevolution, viele bolschewistische Kader weiter von dieser Konzeption geprägt waren und diese umzusetzen versuchten.

Permanente Revolution

1905 wurde aber auch eine dritte Konzeption der russischen Revolution entwickelt, die Theorie der Permanenten Revolution. Diese wurde von Leo Trotzki, damals in enger Zusammenarbeit mit Parvus, entwickelt. (13)

Trotzkis „Permanente Revolution“ knüpfte an frühe Überlegungen von Marx, wie sie auch im Kommunistischen Manifest zu finden sind. Dies enthält  schon erste Vorstellungen eines Übergangsprogramms, das die schematische Vorstellung in Frage stellt, dass zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Umwälzung eine lange, eigenständige Entwicklungsperiode liegen müsse, wie sie aus Lenins Schriften 1905 durchaus zum Vorschein kommt und wie sie später in der „Etappentheorie“ des Stalinismus, im Grunde eine Neuauflage der menschewistischen Vorstellungen der bürgerlichen Revolution, formuliert wurde.

Marx entwickelt zudem schon in den Briefen an Sassulitsch (14) Grundlagen der Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwickelung. Diese Schriften waren jedoch 1905 nicht öffentlich zugänglich und Trotzki nicht bekannt.

Trotzki stieß zur Entwicklung der Theorie der Permanenten Revolution, indem er die „Eigenheiten“ der Entwicklung in Russland im Zusammenhang mit einer russischen Revolution zu Ende zu denken versuchte und diese von vornherein in den internationalen Kontext stellte.

Wie auch Lenin ging er davon aus, dass die Bourgeoisie zur Führung der demokratischen Revolution schon nicht mehr bereit gewesen sei, dass sie ihr revolutionäres Potential erschöpft habe, bevor der Zarismus abgetreten war. Trotzki sieht die verspätete, ungleiche Entwicklung des Kapitalismus in Russland als eine der zentralen Ursachen für eine besonders unrevolutionäre Bourgeoisie:

„Der russische Absolutismus entwickelte sich unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.

Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom ,Volk‘ isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.“ (15)

Lenin und der Bolschewismus bleiben jedoch, anders als Trotzki, einer schematischen Vorstellung der demokratischen Revolution verhaftet, indem sie jede Möglichkeit kategorisch bestritten, dass die ArbeiterInnenklasse die Eigentumsverhältnisse umwandeln könne. Das würde nur zu einem voluntaristischen „Überdehnen“ der Revolution führen. Es ist daher kein Wunder, dass  das Programm der „demokratischen Diktatur“ zwar auch wichtige Forderungen der Lohnabhängigen enthielt wie den Acht-Stunden-Tag, jedoch nicht über ein radikales bürgerlich-demokratisches Programm hinausging.

1906 stellte Trotzki seine Konzeption in „Ergebnisse und Perspektiven“ systematisch dar. Er wendet sich dabei offen gegen den vorherrschenden Schematismus bezüglich des Charakters der russischen Revolution:

„Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft … Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. 1871 nahm es bewußt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten –  aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten ‚ökonomischen‘ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die Russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“ (16)

Diese Möglichkeit, so Trotzki, wird durch die Entwicklung des Kapitalismus in Russland selbst begünstigt. Einerseits kommt die Bourgeoisie spät und bleibt, auch wegen ihre Abhängigkeit von Investitionen aus anderen Ländern, politisch und gesellschaftlich schwach. Das Proletariat ist hingegen hochkonzentriert und, trotz seiner im Vergleich zur Landbevölkerung geringen Größe, eine sehr kompakte soziale Klasse. Die politischen Implikationen sind folgende:

„Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Rußland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann.“ (17)

Und weiter:

„In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende ‚Episode‘ sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?“ (18)

Für Trotzki hat die Revolution 1905 auf diese Frage eine Antwort geliefert:

Die ArbeiterInnenklasse kann, ja muss unter deren spezifischen Bedingungen, zur führenden Kraft der Revolution werden. Um diese demokratische Revolution konsequent zu Ende zu führen, darf sie sich jedoch nicht auf deren demokratische Aufgaben beschränken, sondern muss auch die eigenen Klasseninteressen des Proletariats verfolgen, selbst zur führenden Kraft im Bündnis mit der Bauernschaft werden. Anstelle der „demokratischen Diktatur“ Lenins tritt jedoch die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats ist.

Auch wenn das Proletariat numerisch die kleinere Klasse als die Bauernschaft darstellt, so ändert das nichts daran, dass letztere als kleinbürgerliche Klasse gezeigt hat, dass sie zwar zur revolutionären Aktion, nicht jedoch zu einer selbstständigen Politik in der Lage ist, die ein Land neu organisieren kann.

Daher unterscheidet sich Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“ auch programmatisch vom Menschewismus und Bolschewismus des Jahres 1905.

„Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat -, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. Selbst eine nur vorübergehende politische Herrschaft des Proletariats wird den Widerstand des Kapitals, das immer der Unterstützung durch die Staatsgewalt bedarf, schwächen und dem ökonomischen Kampf des Proletariats grandiose Dimensionen verleihen. Die Arbeiter können gar nicht anders, als von der revolutionären Macht die Unterstützung der Streikenden zu verlangen, und die Regierung, die sich auf die Arbeiter stützt, kann diese Hilfe nicht versagen. Das aber heißt, den Einfluß der Reservearmee der Arbeit lähmen, und ist gleichbedeutend mit der Herrschaft der Arbeiter nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich und bedeutet die Verwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in eine Fiktion. Diese unvermeidlichen sozial-ökonomischen Folgen der Diktatur des Proletariats werden sehr schnell eintreten, noch lange bevor die Demokratisierung der politischen Ordnung beendet ist. Die Schranke zwischen dem ‚minimalen‘ und dem ‚maximalen‘ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt.“ (19)

Das Überleben und die Entwicklung eines solchen Regimes ist zugleich mit einer entschlossenen Lösung der Agrarfrage verbunden und dieser Aspekt ist in den Rahmen der internationalen Revolution einzubetten:

„Sollte sich das russische Proletariat an der Macht befinden, wenn auch nur infolge eines zeitweiligen Aufschwungs unserer bürgerlichen Revolution, so wird es der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ (20)

Zweifellos hat die Theorie der Permanenten Revolution mehr als jede andere Konzeption die Ursachen, Grundlagen und die strategische Ausrichtung der Oktoberrevolution von 1917 vorausgesehen und bestimmt. Trotzki selbst weist im Vorwort zu dieser Schrift 1919 darauf hin, dass sich seine Position in denen des Bolschewismus von 1917 nach der Annahme der Aprilthesen wiederfinde, dass die Geschichte die Theorie der Permanenten Revolution bestätigt habe.

Er verweist auch zu Recht darauf , dass Bolschewismus und Menschewismus 1905 von einem engen schematischen Verständnis der „bürgerlichen Revolution“ ausgingen, was natürlich auch programmatische Auswirkungen gehabt habe: Beide gingen über ein demokratisches Programm nicht hinaus.

Rolle der Räte

Diese Konzeption einer russischen Revolution erklärt aber auch, warum für Menschewismus und Bolschewismus die Rolle der Arbeiterräte 1905 politisch unterentwickelt blieb. Teile der Bolschewiki standen am Beginn der Revolution – im Gegensatz zu Lenin und Bogdanow – den Sowjets überhaupt  skeptisch, sogar ablehnend gegenüber.

Aber auch in Lenins Auffassung von der Rolle der Arbeiterräte spiegelten sich noch Ende 1905 die Schwächen der „demokratischen Diktatur“ wider. Einerseits bestimmt er in „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ die Aufgabe des Exekutivkomitees der Sowjets, sich zu einer „Provisorischen revolutionären Regierung“ zu proklamieren. Aber er hält ihn zugleich auch für eine zu enge Organisation, die um VertreterInnen der Soldaten, Bauern, der revolutionären Intelligenz und aller revolutionären Demokraten ergänzt werden müsse.

„Wir fürchten eine solche Breite und Buntscheckigkeit der Zusammensetzung nicht, sondern wünschen sie, denn ohne Vereinigung des Proletariats und der Bauernschaft, ohne Kampfgemeinschaft der Sozialdemokraten und der revolutionären Demokraten ist ein voller Erfolg der großen russischen Revolution unmöglich. Das wird ein zeitweiliges Bündnis zur Lösung der klar umrissenen nächsten praktischen Aufgaben sein; die noch wichtigeren, grundlegenden Interessen des sozialistischen Proletariats, seine Endziele, aber werden von der selbstständigen und prinzipienfesten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands unbeirrt wahrgenommen werden.“ (21)

Lenin hebt zwar die große Bedeutung der Räte hervor. Er betrachtet sie aber nicht als  Formen für eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung oder Kernformen der proletarischen Selbstorganisation. Diesen Gedanken lehnt er vielmehr in „Sozialismus und Anarchismus“ (22) explizit ab. Den Aufstand, der zur Diktatur der Arbeiter und Bauern führen sollte, stellte er sich vor allem als Aufstand vor, der von der Partei initiiert und geführt wird. Die Räte spielten für ihn nur eine Rolle als zusätzliche Aktionsorgane für die demokratische Umwälzung, nicht als Formen der Organisation einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung.

Das ist kein Wunder. Auf dem Boden einer demokratischen Revolution, die den Kapitalismus nicht abschaffen soll/kann, gibt es auch keine längerfristige Existenzberechtigung für ArbeiterInnenräte, allenfalls einen gesellschaftlich untergeordneten Platz.

Wie Marx in der Analyse der Pariser Commune zu Recht schreibt, ist die Commune eine Form der ArbeiterInnenregierung, eines proletarischen Halbstaates, auf dessen Basis die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur vor sich gehen kann. Trotzki greift 1905/6 dies auf, indem er darauf hinweist, dass die Räte die zukünftige Form sind, auf die sich eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung stützen muss. Daher verbindet er die Aufstandsfrage auch viel enger als die Bolschewiki mit der Frage des Generalstreiks – und umgekehrt diese Frage viel enger mit der Machtfrage als beispielsweise Rosa Luxemburg.

Wie Trotzki selbst anerkennt, erwies sich seine geniale Konzeption an einem entscheidenden Punkt als falsch. Er unterschätzte damals die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus, wie überhaupt die Differenzen innerhalb der sozialistischen Bewegung. Er ging vielmehr davon aus, dass der Druck der revolutionären Ereignisse die Sozialdemokratie dazu zwingen würde, den Weg für den Kampf um eine ArbeiterInnenregierung zu beschreiten.

Die Theorie der Permanenten Revolution – so richtig und bahnbrechend sie war – war noch nicht frei von einem Objektivismus. Folglich verkannte er den grundlegenden Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus.

Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass diesem Verkennen auch  eine gewisse Konvergenz der Politik von Menschewiki und Bolschewiki im Laufe des Jahres 1905 zugrunde lag. Trotzki wurde Redakteur der menschewistischen Zeitung „Nachalo“ und prägte mehr und mehr deren Blattlinie, sehr zum Leidwesen von Martow und anderen prominenten Menschewiken (23). Das spiegelte eine Radikalisierung der ArbeiterInnenavantgarde wider, die  in der gesamten Sozialdemokratie stattfand. So ging z. B. die Gründung des Petersburger Sowjets im Oktober 1905 sogar auf menschewistische Initiative zurück.

Und schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass gegen Ende des Jahres der Druck auf eine Vereinigung der Sozialdemokratie immer größer wurde und die Bolschewiki offensiv für diese eintraten (24).

1917 korrigiert Trotzki selbst diesen schweren zentristischen Fehler und bewertete auch die Politik von Menschewiki und Bolschewiki in der ersten russischen Revolution neu:

„Die Menschewiki waren so fanatisch darauf aus, eine führende bürgerliche Demokratie zu finden, damit der ‚gesetzmäßige‘ bürgerliche Charakter der russischen Revolution sichergestellt sei, daß sie es während der Revolution, als keine führende bürgerliche Demokratie in Erscheinung trat, selbst mehr oder minder erfolgreich übernahmen, deren Pflichten zu erfüllen. (…)

Umgekehrt war der Bolschewismus nicht im geringsten angesteckt vom Glauben an die Macht und die Kraft einer revolutionären bürgerlichen Demokratie in Rußland. Er erkannte von Anfang an die entscheidende Bedeutung der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution, aber sein Programm beschränkte er in der ersten Zeit auf die Interessen der Millionen bäuerlicher Massen, ohne – und gegen die – die Revolution vom Proletariat nicht zu Ende geführt werden konnte. Daher die (einstweilige) Anerkennung des bürgerlich-demokratischen Charakters der Revolution.“ (25)

Wie die Auseinandersetzungen 1917 zeigten, war es für die Bolschewistische Partei, wenn auch erst nach inneren Kämpfen, möglich, sich von diesem Schema zu befreien. Dieser Übergang zum Kurs auf die sozialistische Revolution wäre unmöglich gewesen, wenn die inneren Widersprüche der Konzeption nicht über sie hinaus gedrängt hätten und die Partei nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Politik anhand von Analyse und Erfahrung zu korrigieren.

Schließlich versuchten die Bolschewiki schon 1905 die Revolution auf der Basis einer unzulänglichen Theorie  voranzutreiben, die ArbeiterInnenklasse zur führenden Kraft der Massen zu machen und dabei eine eigenständige Klassenpolitik zu vertreten. Darin lag ihr grundlegend revolutionärer Impuls.

Das darf aber nicht über die tiefe Verwurzelung der Konzeption der „demokratischen Revolution“ in der Theorie der Zweiten Internationale und die inneren Widersprüche der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ hinwegtäuschen, die sich nicht einfach „organisch“ überwinden ließen, sondern einen inneren Bruch in der Entwicklung der Bolschewismus erforderten. Dieser war jedoch nicht nur ein Resultat der russischen Entwicklung. Der Ausbruch der Ersten Weltkrieges und der Verrat der Sozialdemokratie stellten vielmehr grundsätzlich die Frage nach der Neubestimmung revolutionärer ArbeiterInnenpolitik, der sich der Bolschewismus konsequenter und folgerichtiger als jede andere Kraft stellte.

Wandel des Bolschewismus im Krieg

Seit 1903, seit der ersten Spaltung der russischen Sozialdemokratie, stand der Bolschewismus am linken Flügel der Sozialistischen Internationale. Das wurde auch im Auftreten auf Kongressen deutlich, insbesondere am Stuttgarter Kongress 1907, der im Gefolge der russischen Revolution auch einen Höhepunkt des Agierens des linken Flügels in der Zweiten Internationale darstellte.

Lenin und die Bolschewiki betrachteten außerdem die opportunistischen Tendenzen in den europäischen sozialistischen Parteien oder gar den Labour-Parteien in Britannien und Australien keineswegs unkritisch. Wie die Mehrheit der russischen Sozialdemokratie – also auch die Mehrheit der Menschewiki und erst recht Rosa Luxemburgs Sozialdemokratie Polens und Litauens – standen sie am linken Flügel der Sozialistischen Internationale.

Lenin und die Bolschewiki sahen sich dabei jedoch eher als die Vertreter des „orthodoxen“, von Kautsky maßgeblich ideologisch geprägten Teils der Zweiten Internationale in Russland denn als eigene Strömung. Für Lenin (und auch für Trotzki) war Kautsky eine bedeutende politische Autorität, eine Art „Lehrmeister“ in theoretischen und ideologischen Fragen. Er galt als theoretischer und programmatischer Inspirator einer ganzen Generation von MarxistInnen. Das Erfurter Programm, dessen Grundsatzabschnitt er verfasst hatte, galt als Modell sozialistischer Programme. Kautsky genoss innerhalb der Internationale eine enorme Autorität, die nach 1905 kurzfristig noch zunahm,  er selbst rückte nach links.

Seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ stellte einen Referenzpunkt für alle Linken in der Zweiten Internationale dar, nicht zuletzt, weil sie den Beginn einer revolutionären Periode begründete, die die Machtfrage aufwerfen würde. Die Rechten in der Sozialdemokratie betrachteten die Broschüre als Kampfansage, weil sie mit gutem Grund als eine Absage an die Vorstellung einer weiteren friedlichen, graduellen Entwicklung des Kapitalismus betrachtet wurde, die den Boden für eine Fortführung der im Kern längst reformistischen Gewerkschafts- und Wahlpolitik abgab.

All das erklärt, warum die Schwächen des Kautskyianismus auch den Linken in der Sozialdemokratie, einschließlich Lenins und Trotzkis, vor dem Ersten Weltkrieg wenig bewusst wurden. Rosa Luxemburg erkannte zweifellos schon Jahre vor Lenin viele der Übel in der deutschen Sozialdemokratie und durchschaute auch Kautskys Tendenzen zum Versöhnlertum, zur Rechtfertigung der alles andere als revolutionären Alltagspraxis der Partei und der Gewerkschaften mithilfe marxistischer Phrasen.

Vor dem Ersten Weltkrieg trat der Gegensatz der revolutionären Linken und des „marxistischen Zentrums“ um Kautsky in der deutschen Sozialdemokratie offen zu Tage. Einen Höhepunkt bildete die Generalstreikdebatte zwischen Luxemburg und Kautsky 1910 in der Kontroverse um die Generalstreikstaktik, um Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie (26). In dieser Kontroverse ergriff Lenin jedoch nicht die Seite Luxemburgs, sondern Kautskys (27).

Lenins grundlegend falsche Einschätzung wurde zweifellos dadurch mitverursacht, dass er die Debatte vor allem durch die Brille des Fraktionskampfes in Russland betrachtet und orthodox klingende Formulierungen Kautskys für bare Münze nahm.

Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass die Kautsky`sche Lesart des Marxismus und überhaupt das Sein der Zweiten Internationale  Lenins Verständnis des Marxismus selbst geprägt hatten. Das Insistieren darauf, dass eine Russische Revolution demokratischen Charakter haben müsse, verdeutlicht, dass auch die Theorie des Bolschewismus von dieser „Orthodoxie“ durchdrungen war. Andererseits verweist das Bestehen darauf, dass die Sozialdemokratie eine Antwort auf die Machtfrage einer russischen Revolution, unabhängig von der Bourgeoisie, geben müsse, auf die Tendenz, über die Formel der „demokratischen Diktatur“ hinauszugehen.

Ähnliche Widersprüchlichkeiten einer unvollständigen Ablösung von dem mechanischen Materialismus und der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale finden sich bei Trotzki und Luxemburg. Luxemburg bekämpft zwar viel früher als Lenin nicht nur die Rechten, sondern auch das „marxistische Zentrum“ – aber sie versäumt es umgekehrt im Gegensatz zu den Bolschewiki, dem Kampf eine politisch-programmatische und organisatorische Form zu geben und eine eigene Fraktion aufzubauen.

Trotzki entwarf mit der „Theorie der Permanenten Revolution“ eine geniale Einschätzung und Vorwegnahme der Dynamik der Revolutionen der 20. Jahrhunderts – andererseits spielte er vor dem Ersten Weltkrieg eine beschämende Rolle bei der Bildung prinzipienloser Blöcke gegen den Bolschewismus.

Der Bolschewismus nimmt gegenüber allen anderen Flügeln der Linken in der Zweiten Internationale insofern eine Sonderstellung ein, als er sich seit 1903 de facto als eigene fraktionelle Strömung auf Basis politisch-programmatischer Grundsätze formierte (28).

Dieser Formierung liegen – bei all ihren organisatorischen Wendungen, taktischen Änderungen – zwei Elemente zugrunde, die ihrerseits eine unerlässliche Voraussetzung dafür boten, dass die Bolschewiki eine proletarische Revolution zum Sieg führen konnten:

  • erstens das Bestehen auf einer programmatisch bestimmten Klarheit der politischen Konzeption;
  • zweitens das Konzept einer darauf aufbauenden Kampfpartei, einer Partei von politisch bewussten, aktiven Mitgliedern.

Imperialismus

Schon vor 1914 bereitete sich der Bruch des Bolschewismus mit der verknöcherten Konzeption der Zweiten Internationale vor. Der Verrat der Zweiten Internationale und deren Überlaufen in das Lager der imperialistischen Bourgeoisien erforderten jedoch eine bewusste politische „Umrüstung“ des politischen Arsenals aller revolutionären MarxistInnen. Standen vor 1914 oft die Fragen des Charakters einer künftigen russischen Revolution, der revolutionären Taktik im Kampf gegen die Selbstherrschaft im Zentrum der bolschewistischen Diskussion und der Schriften Lenins, wurde nun erforderlich, alle Fragen vom Standpunkt der internationalen Revolution zu betrachten. Der Bolschewismus musste sich deshalb als internationale Strömung konstituieren.

Schon vor 1914 hatten verschiedene sozialistische TheoretikerInnen einen Wandel des Kapitalismus konstatiert. Der erste marxistische Theoretiker, der versuchte, diese neuen, Epoche machenden Veränderungen auf den Begriff zu bringen, war Rudolf Hilferding im „Finanzkapital“ (29). Auch Rosa Luxemburg versuchte schon vor dem Ersten Weltkrieg in „Die Akkumulation des Kapitals“ (30) die veränderte Lage auf den Punkt zu bringen und entwickelte eine eigene Krisen- und Imperialismustheorie.

Der Erste Weltkrieg und das Versagen der ArbeiterInnenbewegung zwangen in jedem Fall auch den Bolschewismus, der Frage nachzugehen, welche Faktoren zum Ausbruch des Krieges geführt hatten, welchen Charakter dieser hatte und welche Implikationen dies für die Zukunft des Kommunismus und eine Neubestimmung des revolutionären Marxismus hat. Schon in den ersten Arbeiten zum Krieg, wird der Erste Weltkrieg als imperialistischer Krieg bestimmt, als Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.

„Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Der Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Inneren der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges.“ (31)

In den weiteren Schriften und insbesondere in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ versucht Lenin knapp, seine Sicht des Imperialismus als eine neue Epoche, eine Entwicklungsphase des Kapitalismus als Weltsystem herzuleiten. Aus der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals entsteht an einer bestimmten Entwicklungsstufe eine neue Form des Kapitalismus, das Finanzkapital. Dieses wird bei Lenin nicht im landläufigen Sinne als „Finanz“ bestimmt, sondern als Verschmelzung von Industrie- und Banken- oder zinstragendem Kapital unter der Dominanz des letzteren. Imperialismus bedeutet aber auch eine bestimmte globale „Ordnung“, eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus nicht nur auf ökonomischer Ebene, sondern als Gesellschaftsform.

Die Welt ist unter Großmächte, die ihrerseits vom jeweiligen nationalen Finanzkapital ökonomisch dominiert werden, aufgeteilt. Eine Veränderung der Kräfteverhältnisse, eine Neuaufteilung kann daher nur erfolgen durch die ökonomische Konkurrenz und politische, letztlich auch durch militärische Konfrontation.

Im September 1914 traten die Bolschewiki mit einer umfassenden Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Einschätzung und im Zusammenhang mit den Kongressen der Zweiten Internationale vor dem Krieg entwickeln Lenin und die Bolschewiki die Position, dass der imperialistische Krieg zu einem Bürgerkrieg gegen die kapitalistische Herrschaft zu entwickeln sei und dass der Kampf gegen den Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setze:

„Die Bourgeoisie aller Nationen betrügt die Massen, indem sie den imperialistischen Raubzug mit der alten Ideologie des ,nationalen Krieges‘ verbrämt. Das Proletariat entlarvt diesen Betrug und verkündet die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (32)

Lenin verbindet diese politische Stoßrichtung mit einer Analyse des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche: „Der Krieg ist kein Zufall, keine,Sünde‘, wie die christlichen Pfaffen glauben (die nicht schlechter als die Opportunisten Patriotismus, Humanität und Frieden predigen), er ist vielmehr eine unvermeidliche Etappe des Kapitalismus, eine ebenso gesetzmäßige Form des kapitalistischen Lebens wie der Frieden. Der Krieg unserer Tage ist ein Volkskrieg. Aus dieser Wahrheit folgt indes nicht, dass man mit dem ,Volks’strom des Chauvinismus schwimmen soll, sondern daß die Klassengegensätze, von denen die Völker zerfleischt werden, auch zur Kriegszeit, auch im Krieg und dem Krieg angepaßt, fortbestehen und in Erscheinung treten werden. Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum von unbewaffnetem Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, ein Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne erbitterten Bürgerkrieg oder eine Reihe solcher Kriege. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit.“ (33)

Hier formuliert Lenin knapp die politische Ausrichtung der Bolschewiki als Aufgabe aller RevolutionärInnen. Sie besteht in der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg gegen die eigenen herrschende Klasse, in dessen Umwandlung zu einer internationalen sozialistischen Revolution.

Das ist der Sinn und Gehalt des „revolutionären Defaitismus“. Es geht nicht „nur“ darum, den Krieg zu beenden, sondern Lenin sieht die einzige realistische Chance, die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu wahren, darin die globale Machtfrage, die der Krieg selbst als Kampf um die Neuaufteilung der Welt aufwirft, zu beantworten.

Pazifistische Programme, Programme, die den Kampf gegen Imperialismus und Krieg nicht mit dem für den Sozialismus verbinden, sind letztlich Programme, die zur Nachtrabpolitik hinter einen Flügel der imperialistischen Bourgeoisie und damit auch zum Versöhnlertum mit den Sozialchauvinisten führen.

Der revolutionäre Defaitismus als internationale Politik des Proletariats im Weltkrieg bedeutet auch, dass die „Vaterlandsverteidigung“ eine reaktionäre Parole geworden ist, selbst in Ländern, die für sich betrachtet Opfer der Politik der Großmächte wurden (Serbien, Belgien). Ihre „nationalen Rechte“ sind in dem Gesamtkontext des Krieges von untergeordnetem Rang, und sie zu vertreten, würde ein Absinken in den Sozialchauvinismus bedeuten, weil die „Verteidigung“ Belgiens selbst nur  eine Rechtfertigung der imperialistischen Ziele der Entente war.

Minimal- und Maximalprogramm

Lenins Verbindung der Kriegsfrage mit dem Kampf um die sozialistische Revolution darf aber nicht als ein Fallenlassen der Forderungen des Minimalprogramms missverstanden werden. Vielmehr zeichnet sich bei ihm und der bolschewistischen Politik im Krieg eine Überwindung der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm ab:

„Für die Bourgeoisie ist die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen zu einem Betrug geworden. Für uns wird sie eine Wahrheit sein, durch die wir den Anschluss und die Beschleunigung der Gewinnung aller Nationen für die Revolution bewerkstelligen werden. Ohne effektiv demokratisch organisierte Verhältnisse zwischen den Nationen, ohne die Freiheit zur Abtrennung ist der Bürgerkrieg der ArbeiterInnen und der arbeitenden Klassen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich.“ (34)

Lenin verteidigt gegen Luxemburg und ultra-linke Teile der Bolschewiki, dass z. B. der Kampf um das nationale Selbstbestimmungsrecht weiter Bestandteil des revolutionären Programms bleibt, ja in gewisser Weise sogar wichtiger wird als zuvor.

„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner‘ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern“ (35)

Der irische Aufstand 1916, Rebellionen und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialvölker sind für Lenin Bestandteil des Klassenkampfes. Die ArbeiterInnenklasse hat ein Interesse, sie zu fördern, zu unterstützen, um so die imperialistischen Bourgeoisien zu schwächen. Die Unterstützung von Kämpfen unterdrückter Nationen ist ein integraler Bestandteil des „revolutionären Defaitismus“, ein Moment der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie.

Das trifft, wie Lenin immer wieder betont, auch auf andere demokratische Fragen zu, nicht nur jene der kolonialen Unterdrückung. In der gesamten imperialistischen Epoche gibt es eine grundlegende Tendenz zur Einschränkung demokratischer Rechte und zunehmender Überwachung und Kontrolle.

Eine besonders wichtige Stellung nimmt dabei die Landfrage ein. Lenins große Stärke bestand zweifellos schon 1905 darin, die Bedeutung der Bauernrevolution gegen die Gutsbesitzer für die Russische Revolution erkannt zu haben. Sie wird auch eine entscheidende Rolle für die Revolution 1917 und später für die Wendung der Kommunistischen Internationale in der Kolonialfrage spielen – allerdings eingebettet in ein Programm der sozialen Umwälzung.

Lenins programmatische Wende geht aber auch einher mit einer veränderten Charakterisierung des Opportunismus. Der Sozialchauvinismus ist nicht nur eine falsche, konterrevolutionäre Politik, er hat eine soziale Grundlage in der Veränderung des Gesamtsystems des Kapitalismus. In der imperialistischen Epoche schafft dieses Weltsystem, die Etablierung einer internationalen Arbeitsteilung, auch die Möglichkeit, dass Teile der ArbeiterInnenklasse der Kernländer des Kapitalismus relativ privilegiert, d.h. „bestochen“ werden können. Diese Schichten der Klasse bildeten sich zuerst in Britannien im 19. Jahrhundert heraus, werden jedoch im 20. Jahrhundert zu einem Phänomen in allen imperialistischen Staaten.

Damit bietet Lenin eine Erklärung für die Verankerung und Verwurzelung reformistischer Parteien in der ArbeiterInnenklasse, von Parteien, die selbst eng mit dem Herrschaftsapparat der Bourgeoisie verbunden sind, deren Apparat und Führungen als politische Agenten der Bourgeoisie in der ArbeiterInnenklasse wirken.

Diese Parteien, also jene der Zweiten Internationale, sind mit der Burgfriedenspolitik, der Politik der Vaterlandsverteidigung, der sich nicht nur die deutsche Sozialdemokratie verpflichtet hat, sondern in Russland auch die große Mehrheit der Menschewiki und die Sozialrevolutionäre,  kleinbürgerliche „sozialistische“ Parteien geworden.

Zugleich bestimmt Lenin den Imperialismus als eine Epoche des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. So fasst er im 10. Kapitel seiner Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ dessen historische Stellung folgendermaßen zusammen:

„Wir haben gesehen, daß der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren Gesellschaftsformation.“ (36)

Aktualität der Revolution

Der Kapitalismus selbst ist reaktionär geworden – und damit ist auch die Basis für eine ganze Epoche des Übergangs gelegt worden. „Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß nahezu der ganze Erdball unter diese ,Kapitalgewaltigen‘ aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ,Groß’mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“ (37)

Damit und in diesem Sinn  – (eine über die ganze Geschichtsperiode hinweg vorherrschende Tendenz zur Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus) – ist die imperialistische Epoche eine von Kriegen und Revolutionen. Für Lenin und sein Denken tritt die „Aktualität der Revolution“ ins Zentrum:

„Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx‘ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, ‚welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird‘, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen.“ (38)

Aus allem ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit, mit der vom Opportunismus und Nationalismus zerstörten Zweiten Internationale zu brechen und eine neue, die Dritte Internationale, aufzubauen. „Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisien alle Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (39)

Die Politik der Bolschewiki geht nach 1914 daher nicht nur vom internationalen Charakter der Revolution aus. Sie verbindet diesen bewusst mit der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale, die ihrerseits in mehrfacher Hinsicht von der Zweiten Internationale vor dem Weltkrieg unterschieden sein soll. Sie muss nämlich nicht nur einen Bruch mit den offenen Sozialchauvinisten vollziehen, sondern auch mit den zentristischen VersöhnlerInnen à la Kautsky, die eine Einheit mit der Sozialdemokratie weiter verfolgten und damit die Illusion einer möglichen „Gesundung“ der Zweiten Internationale schürten.

Lenin stellt sich dabei eine neue, kommunistische Internationale nicht als einfache Verlängerung des Bolschewismus, sondern als politische Vereinigung aller InternationalistInnen vor, die mit dem Sozialchauvinismus und dem Versöhnlertum brechen wollen. In der ersten Phase des Krieges, in der die revolutionären KriegsgegnerInnen auf eine verschwindende Minderheit der Klasse ins Stadium von Propagandagesellschaften zurückgeworfen sind, betont Lenin die Notwendigkeit, die zukünftige Revolution vorzubereiten – und das heißt vor allem auch Klärung der Positionen der bewussten kommunistischen Kräfte und der Avantgarde.

Das zeigt sich nicht nur in den verschiedenen Resolutionen der Bolschewistischen Partei, ihrem Wirken bei Anti-Kriegskonferenzen und Tagungen, sondern vor allem darin, dass Lenin es für notwendig hielt, illegale Propaganda zu verbreiten, die die ArbeiterInnenklasse nicht nur allgemein über den Charakter des Kriegs aufklärt, sondern auch konkret bestimmt, welche Aktionen, welche Taktiken, welche Haltung zu einzelnen Fragen notwendig sind.

In Zimmerwald vertrat die bolschewistische Delegation die Losung der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg und wollte dies auch zur Basis der Sammlung der Kräfte für eine neue Internationale machen. Für die Zentristen wie den USPD-Delegierten Ledebour und die meisten TeilnehmerInnen war das unannehmbar. Über einen Aufstand würde man erst reden, wenn er stattfindet. Dem widerspricht Lenin entschieden:

„Die notwendigen Kampfmittel müssen den Massen bekannt gemacht werden, damit sie erklärt und diskutiert werden können.. Wenn wir an der Schwelle zu einer revolutionären Epoche sind, in der die Massen in revolutionäre Kämpfe übergehen, dann müssen wir auch klar sein in Bezug auf die notwendigen Kampfmittel. Vom Standpunkt der Revisionisten ist dies natürlich überflüssig, weil sie nicht glauben, dass wir in einer revolutionären Epoche leben. Wir, die wir das glauben, müssen anders handeln. Man kann keine Revolution machen, ohne die revolutionäre Taktik zu erklären. Es war genau eine der schlechtesten Eigenschaften der II. Internationale, dass sie beständig solche Erklärungen vermieden hat… In Deutschland müsst ihr jetzt mehr machen als legale Arbeit, wenn ihr wirkliche Aktion wollt. Ihr müsst legale und illegale Arbeit kombinieren. Die alten Methoden sind nicht mehr adäquat für die neue Situation“ (40)

Hier zeigt sich konkret, worin Lenin den Unterschied zur „alten Internationale“ sieht. Die revolutionäre Partei muss ein Zentrum strategischer Diskussion und ihrer taktischen und organisatorischen Konkretisierung sein. Sie muss diese Debatten mit der Klasse führen, deren Aufmerksamkeit (und das heißt zuerst der klassenbewussten ArbeiterInnen) auf diese Fragen lenken, selbst wenn sie ihnen noch fern erscheinen mögen.

Die „Aktualität der Revolution“, deren Vorbereitung kann sich nicht mit allgemeinen oder abstrakten Revolutionsprognosen begnügen oder der „Erkenntnis“, dass der Imperialismus reaktionär sei. Diese Bestimmungen müssen vielmehr mit der konkreten Entwicklung vermittelt werden. Daher lehnt er auch jeden doktrinären Schematismus ab, der sich beispielsweise bei Luxemburg und den „imperialistischen Ökonomisten“ in der nationalen Frage zeigt.

Das revolutionäre Programm muss von einem allgemeinen zu einem Aktionsprogramm konkretisiert werden, das – wie später die Aprilthesen in der Russischen Revolution – die Hauptaufgaben der Revolution zusammenfasst und diese in die Machtfrage münden lässt.

Der zweite wichtige Aspekt in Lenins Kampf um eine neue Internationale findet sich schon im Krieg und erst recht bei Gründung der Dritten Internationale darin, dass er sich nämlich durchaus eine revolutionäre Internationale (und Parteien) vorstellte, die verschiedene Strömungen des Kommunismus, des revolutionären Internationalismus inkludieren sollte. Das zeigt sich recht deutlich darin, dass er trotz der sehr heftigen Polemiken gegen Pjatakow und die „imperialistischen Ökonomisten“ keine Spaltung von dieser Minderheit des Bolschewismus wollte. Luxemburg und den Spartakusbund wollte er – trotz ihrer Kritik – für die Dritte Internationale gewinnen, ebenso wie er die Gewinnung Trotzkis und der Zwischengruppe befürwortete, trotz der massiven Differenzen in der Vorkriegsperiode.

Die Vorstellung, dass Lenin ein „chemisch“ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des „Leninismus“ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Dem widerspricht überhaupt nicht, dass Lenin hart um politische Klarheit gekämpft hat und vor Spaltungen nicht zurückschreckte. Darin liegt jedoch nichts spezifisch „Leninistisches“, sondern ein allgemeines Merkmal jedes ernsthaften Revolutionärs. In Grundfragen der Revolution – seien es Fragen ihres Charakters, des Programms, der Taktik – können revolutionäre MarxistInnen nicht auf „Pluralismus“ und Unklarheit setzen. Jede solche Halbheit – mag sie auch eine imaginäre Parteieinheit retten – muss sich in einer Krisensituation bitter rächen.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das  unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden. Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.

Der Bolschewismus hat sich seit 1903 eine solche Flexibilität und gleichzeitig eine Prinzipienfestigkeit und vergleichsweise große Disziplin und Einheitlichkeit erarbeitet, auf deren Basis er nicht nur die Parteikader im engeren Sinne, sondern über mehr als ein Jahrzehnt mal offener, mal in der Illegalität eine Verbindung zur Avantgarde der Klasse herzustellen vermochte.

Sicherlich finden sich auch bei anderen Strömungen der internationalistischen Linken Aspekte dieser Entwicklung. So hatten Luxemburg und Liebknecht eine politische Bedeutung für die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse in Deutschland, die sicher weit über die Größe des Spartakusbundes und auch der KPD hinausging – aber sie kamen, verglichen mit den Bolschewiki, zu spät bei der Formierung eines Kaders, einer Faktion, einer Vorstufe zu einer eigenständigen Partei. Das „Sektierertum“ der Bolschewiki, dessen sie von ihren GegnerInnen in der russischen und internationalen Sozialdemokratie vor dem Krieg beschuldigt worden waren, sollte sich in der Russischen Revolution als unersätzliches politisches Kapital erweisen.

Diese wäre jedoch selbst nicht zur Geltung gekommen, wäre nicht schon während des Kriegs eine theoretische, programmatische und taktische Neuausrichtung des Bolschewismus erfolgt.

Die Imperialismustheorie, der  „Revolutionäre Defaitismus“ und die Ausrichtung, den Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen zu verwandeln, verweisen auf diese grundlegende Umrüstung des Kommunismus. Sie stellte nicht nur die Orthodoxie der Zweiten Internationale, sondern implizit auch die ursprüngliche bolschewistische Konzeption einer russischen Revolution in Frage. Hinzu kommt, dass die Erneuerung des Bolschewismus, die Lenin im Exil vornahm, keineswegs in ihrer Gänze in die Reihen der Partei drang und in ihren Implikationen verstanden wurde.

Die Revolution selbst offenbarte diese inneren Widersprüche – und sie erzwang zugleich eine Vertiefung der Neubestimmung der bolschewistischen Politik und Programmatik, deren „Umrüstung“, um die Partei auf die Machtergreifung im Oktober vorzubereiten und zu dieser zu befähigen.

Die Februarrevolution

Der Ausbruch der Februarrevolution überraschte alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung. Russland wurde als „schwächstes Glied“ in der Kette der kriegführenden, imperialistischen Nationen erschüttert. Wie keine andere europäische Großmacht war es vom Krieg gebeutelt worden. Das Zarenreich erwies sich gerade gegenüber dem deutschen Imperialismus als militärisch schwach. Was seine Armeen zeitweilig gegen die österreichisch-ungarischen errungen, verloren sie, sobald die deutschen Truppen in die Kampfhandlungen eintraten.

Die Niederlagen gingen mit einem enormen Blutzoll einher. Fünf Millionen EinwohnerInnen verloren während des Krieges ihr Leben, weitere Millionen wurden verwundet, zermürbt. An der Front und in der Armee breiteten sich Desillusionierung, Kriegsmüdigkeit, Hunger aus. Allein 1916 desertierten rund 1,5 Millionen Soldaten.

Die desolaten Verhältnisse an der Front gingen mit einem Niedergang im Inneren einher. Die kleinbäuerlichen Betriebe konnten nicht mehr oder kaum noch bewirtschaftet werden. Während die Söhne an der Front starben oder verwundet wurden, hungerten die Familien und verloren ihre Existenzgrundlage.

Das wiederum führte, kombiniert mit Ausrichtung auf die, wenn auch schlechte, Versorgung der Armee und Spekulanten, zu einer drastischen Steigerung der Lebensmittelpreise und zur Inflation. 1916 betrug sie 400 Prozent. Das Land konnte nicht produzieren und die ArbeiterInnen in den Städten nicht kaufen. Die Zahl an Streiks und Demonstrationen stieg wie die Unzufriedenheit, während sich die Lage der Bevölkerung weiter verschlechterte, weil selbst die Erfolge  von einzelnen Kämpfen durch die Inflation, Versorgungsengpässe, Niedergang der Infrastruktur und allgemeine Zerrüttung rasch zunichte gemacht wurden.

Der imperialistische Krieg trieb zugleich die politischen Widersprüche auf die Spitze. Der Zarismus hatte den Krieg geführt und wurde nun zum Fokus des Volkszorns, zum Symbol der Unfähigkeit, Dekadenz und Volksfeindlichkeit.

Zugleich offenbarte sich mehr und mehr, dass der russische Imperialismus den Krieg nur mit Krediten der Führungsmächte der Entente, mithilfe französischen und britischen Geldes weiterführen konnte.

Obwohl ein Agrarland, war die Industrie Russlands hochkonzentriert. In den städtischen Zentren, v. a. in St. Petersburg, gab es Großbetriebe mit tausenden, wenn nicht zehntausenden ArbeiterInnen vor. Diese bildeten eine mächtige soziale Kraft, die in der Februarrevolution wie schon 1905 ihre eigene Stärke zur Geltung brachte.

Schon gegen Ende 1916 kam es besonders in der Maschinenbau- und metallurgischen Industrie zu Versammlungen, politisch motivierten Streiks und schließlich zur Organisation in ersten räteähnlichen Strukturen. Am 18. Februar legten die ArbeiterInnen des wichtigsten Rüstungswerks in Petrograd die Arbeit nieder. Die Direktion verhängte eine Aussperrung über 30.000 Belegschaftsmitglieder. Die Antwort waren Solidaritätsstreiks in weiteren Betrieben und Demonstrationen. Die sozialistischen Organisationen zauderten unter den Bedingungen des Kriegsrechts jedoch, zu einem Massenstreik aufzurufen, weil sie ein Eingreifen von in der Nähe stationierten Soldateneinheiten befürchteten.

Dennoch traten am 23. Februar auch andere Bereiche wie die Textilfabriken im Wyborg-Bezirk spontan in den Ausstand. Während des Krieges war der Anteil weiblicher Arbeitskräfte v. a. im Textilsektor stetig gestiegen und betrug allein in Petrograd 129.000. Mit der Zeit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein. Die hervorstechendste Eigenschaft war die Unerschrockenheit, mit der die Arbeiterinnen die Quartiere der Soldaten aufsuchten und sie zur Schießbefehlsverweigerung aufforderten und so die Verbindung von ArbeiterInnen und Soldaten überhaupt erst möglich machten (41). Die Frauen führten auch eine Demonstration mit der Losung „Gebt uns Brot!“ an, der sich viele BewohnerInnen der Arbeiterviertel anschlossen.

In den folgenden Tagen schwoll die Streikbewegung an. Zwar war die Regierung bestrebt, Ordnung zu schaffen, doch die Repressionskräfte schritten zunehmend weniger ein und verbrüderten sich sogar mit den Protestierenden. Schon am 27. Februar hatten sich die meisten Soldaten auf die Seite der Aufständischen geschlagen. Dies griff tags darauf auf andere Zentren wie Moskau über. Die ArbeiterInnen entwaffneten mit Hilfe von übergelaufenen Soldateneinheiten die zarentreue Polizei, stürmten die Waffenarsenale und formierten sich ihrerseits in ArbeiterInnenmilizen, die auch zaristische Würdenträger verhafteten. Die RevolutionärInnen besetzten zentrale Schaltstellen wie Bahnhöfe und Telegrafenämter. In den Betrieben fanden Wahlen zu ArbeiterInnenräten statt, was der Auftakt zu einer Bewegung von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, die den Petrograder Sowjet als Vertretung anerkannten, war.

Die Revolution siegte im Februar rasch, der Zar wurde zur Abdankung gezwungen. Der Sieg wurde im Wesentlichen in St. Petersburg errungen, das Land zog mit. Insgesamt wurden 1443 Tote ermittelt, was von der Bourgeoisie als „unblutig“ bezeichnet wurde. Das ist sicher übertrieben, aber es trifft zu, dass – verglichen mit dem Völkergemetzel des Krieges – die Februarrevolution relativ friedlich verlief.

Die politischen Parteien waren von der Umwälzung überrascht worden. Das trifft nicht nur auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch auf die Bolschewiki zu.

„Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer: die ehemaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. Schljapnikow, der längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher Verbindung gestanden hatte, war der politisch reifere und aktivere der drei, die das Büro des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow, einer der Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: ‚Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren … Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.‘

Die Schwäche der unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen Vernichtungsfeldzuges, der der Regierung dank der zu Beginn des Krieges herrschenden patriotischen Stimmung ganz besondere Erfolge gebracht hatte. Jede Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen der Bolschewiki hatten sich zu Beginn des Jahres 1917 von Niedergeschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh der revolutionären Empörung Platz machte.“ (42)

Elementarereignis?

In der „Geschichte der russischen Revolution“ verweist Trotzki aber nicht nur auf die Schwäche der RevolutionärInnen und erst recht der anderen „linken“ Parteien. Er entkräftet auch die These, dass die Februarrevolution „rein“ spontan gewesen sei und überhaupt keine Führung hervorgebracht habe. Vielmehr stelle sich die Frage, wer die Menschen gewesen seien, die bei einem immerhin fünf Tage dauernden Kampf die Initiative ergriffen?

„Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit anderen Worten, es war nicht Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905, der an dem Semjonowski-Garderegiment zerschellte; es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den anderen zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen der Garnison fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda erfaßt oder mindestens berührt worden waren.“ (43)

Hier zeigt sich das vorwärtstreibende Streben der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, die ihrerseits durch die vorbereitende Arbeit von RevolutionärInnen politisch geprägt war, auch wenn sie über eine ganze Periode isoliert, demoralisiert oder zeitweilig gar dem Taumel des Patriotismus erlegen war.

Zugleich zeigte sich aber auch die Unreife der Revolution. Die ArbeiterInnen bildeten mit dem Petrograder Sowjet ein eigenes Machtorgan, den Sowjet, und einen Monat später wurde auch ein landesweites Exekutivkomitee einer gesamtrussischen Sowjetkonferenz gewählt (44). Aber in den Räten hatten die Sozialpatrioten die Mehrheit. Diese war schon in Petersburg sehr groß, landesweit waren die Kräfteverhältnisse noch günstiger für die Menschewiki und vor allem die Sozialrevolutionäre.

Auch wenn die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution nicht voraussahen und angeführt hatten, so entsprach ihre Politik der vorherrschenden Stimmung der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft. Die Sozialrevolutionäre waren die mit Abstand  stärkste politische Organisation unter der Bevölkerung, weil sie das Land dominierten. Aber sie waren unfähig, eine eigenständige Politik zu entwickeln. Ihre Vertreter hängten sich entweder direkt der Bourgeoisie  an oder vermittelt über die Menschewiki.

„Die erdrückende Mehrheit des Volkes, und durch die Soldaten auch die physische Gewalt, hatten die Sozialrevolutionäre. Rechts von ihnen stand die bürgerliche und links die sozialistische Minderheit. Dennoch übernahmen die Volkstümler die Macht nicht. Sondern sie waren genauso wie die russischen Sozialdemokraten von der Überzeugung erfüllt, daß die Russische Revolution, die den Zaren stürzte, eine bürgerliche sein müsse. Sie waren deshalb bereit, dem liberalen Bürgertum die Macht zu überlassen. Sie selbst wollten in der Rolle einer loyalen Opposition die Regierung kontrollieren und im Sinne der Demokratie vorwärtsdrängen.“ (45)

Die Russische Revolution hatte zwar eine Situation der Doppelmacht geschaffen – letztlich eine zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aber diese konnte nur verzerrt zum Ausdruck kommen aufgrund der Unreife der revolutionären Klasse und der damit verbundenen Dominanz von Menschewiki und Sozialrevolutionären in der Bewegung.

Diese sorgten dafür, dass sich der Petersburger Sowjet „freiwillig“ einer Provisorischen Regierung unter dem Fürsten Lwow unterordnete. Ein diesbezügliches Abkommen schloss das Exekutivkomitee des Petersburger Sowjets am 1. März, das auch in einen Aufruf zur Unterstützung der Provisorischen Regierung mündete. Die „Sowjetparteien“ selbst entsandten keine Parteivertreter in die Regierung, nur der Sozialrevolutionär Kerenski nahm als „Privatperson“ daran teil.

Die Menschewiki verteidigten die Unterstützung der Provisorischen Regierung, da diese nicht nur „provisorisch“, sondern „revolutionär“ sei. Am 7. März veröffentlichte das menschewistische Zentralorgan „Rabotschaja Gaseta“ eine Stellungnahme zur Haltung gegenüber der „Provisorischen Regierung“, die in einem Appell an ebendiese gipfelte:

„Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten von Euch unverzüglich Befehle zur Festigung der Revolution und zur Demokratisierung Rußlands. Von Euch hängt unsere Unterstützung ab. Je rascher und entschlossener Ihr handeln werdet, umso rascher und gründlicher wird eine Konstituierende Versammlung vorbereitet werden können, deren Beschlüsse das weitere Schicksal Rußlands bestimmen werden. Auf zur Tat, auf zur Zerstörung des alten und zur Unterstützung des neuen Russlands! Wir fordern von Euch die unverzügliche Verwirklichung Eures Programms.“ (46)

Das Programm der Provisorischen Regierung war in Wirklichkeit das Programm der imperialistischen Bourgeoisie, die sich aufgrund der Doppelmacht und ihrer fehlenden Kontrolle über die Soldaten gezwungen sah, phrasenhafte Zugeständnisse wie das Versprechen bürgerlicher Freiheiten und einer Konstituierenden Versammlung zu machen, um im Gegenzug den Krieg fortzusetzen zu können und auf die Zersetzung der Revolution zu hoffen.

Die Politik der „extremen Opposition“ von 1905 war über den Weg der Vaterlandsverteidigung bei der Politik der Unterstützung einer bürgerlichen, imperialistischen Regierung angelangt.

Bolschewiki im Februar

Wie aber reagierte die Bolschewistische Partei? Vor der Rückkehr aus dem Exil versuchte Lenin die Partei aus der Schweiz zu dirigieren, wie sich in den „Briefen aus der Ferne“ (47) zeigt.

Aber er scheiterte mit diesem Vorhaben, wie das von seiner Linie  abweichende, ja der Konzeption Lenins gar entgegengesetzte Agieren verschiedener Strömungen in der Partei zeigt. Zugleich werden in den Texten aus dieser Zeit, wie den „Briefen aus der Ferne“, schon die grundlegenden Züge der Strategie Lenins deutlich. Die Aufgabe die ArbeiterInnenklasse und Volksmassen bestünde darin, von der ersten Etappe der Revolution, der bürgerlich-demokratischen, zur sozialistischen überzugehen. Es heißt dort:

„Über die taktischen Aufgaben unseres Verhaltens gegenüber dieser Regierung in der nächsten Zeit werden wir in einem anderen Artikel sprechen. Dort werden wir zeigen, worin die Eigenart des gegenwärtigen Zeitpunkts, des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution, besteht, warum die Losung, die ,Aufgabe des Tages‘, in diesem Zeitpunkt sein muß: Arbeiter! Ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldentum, an Volksheldentum vollbracht. Ihr müßt Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.“ (48)

In seinem zweiten Brief lehnt er die Unterstützung der Provisorischen Regierung kategorisch ab und erhebt zugleich die Forderungen nach der Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse und der Bildung einer proletarischen Miliz. Er bezieht sich positiv auf die geplante Einrichtung eines „Ausschusses zur Überwachung der Provisorischen Regierung durch die Proletarier und Soldaten“ als Weg zur Hebung des Bewusstseins und der Organisierung der Klasse.

In den Briefen 3-5 werden diese programmatischen Aufgaben präzisiert. Nicht Unterstützung, sondern Vorbereitung des Sturzes der Provisorischen Regierung sei die Aufgabe. Dazu muss das Proletariat gemeinsam mit der Bauernschaft die Macht übernehmen, die Zerschlagung des Staatsapparates zu Ende bringen und seine Macht auf einen proletarischen Halbstaat, auf den Rätestaat stützen. Die Staatsmacht muss dazu in die Hände der Sowjets übergehen. In den „Briefen aus der Ferne“, vor allem im 5. Brief, werden zentrale Aspekte der Aprilthesen von Lenin vorweggenommen.

Lenin konzipiert die Russische Revolution als Teil der sozialistischen Weltrevolution. Auch wenn sie noch keinen Sozialismus schaffen wird, so soll sie doch den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft in Angriff nehmen. Er nähert sich damit Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution an. Abgesehen von terminologischen Unterschieden konvergieren die Vorstellungen der beiden – was auch die Grundlage für den Eintritt Trotzkis in die Bolschewistische Partei legt. Schon vor dem formalen Vollzug dieser Vereinigung im August 1917 arbeitet Trotzki eng mit Lenin zusammen.

Die Bolschewiki in Russland hingegen waren in verschiedene Strömungen hinsichtlich ihrer Haltung zur Provisorischen Regierung gespalten, die allesamt die Doppelherrschaft mit der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ in Einklang zu bringen versuchten.

Das Distriktskomitee von Wyborg vertrat ein Programm von Forderungen, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung ausdrückte,  und zugleich glaubte es, dass die Revolution strikt demokratisch wäre. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung gemäß der Linie der bolschewistischen Losungen von 1905 zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.

Es ist kein Zufall, dass das Wyborger Komitee eine linke Position einnahm. Es war eng mit der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, den FührerInnen und AktivistInnen der Februartage verbunden, die durch ihre Aktionen schon über die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution hinausdrängten. Wie real dieser Druck und das Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung, aber auch gegenüber dem menschewistisch-sozialrevolutionären Exekutivkomitee des Sowjet waren, zeigen Stellungnahmen von ArbeiterInnenversammlungen in Fabriken vom März 1917. So erklärt eine „Resolution der Arbeiter der Fabrik ‚Dinamo’“ nach dem 5. März, dass sie sich dem Rat der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten nicht unterwerfe, weil er die Revolution nicht vorantreibe und keine konsequente Politik zur Beendigung des Krieges und Verbrüderung mit den deutschen Soldaten betreibe (49). Versammlungen proletarischer Frauen erhoben grundlegende Forderungen wie volle Gleichstellung, den 8-Stunden-Tag, Frauen- und Mutterschutz und riefen zur Organisierung der Frauen auf (50). Andere berichten davon, dass betriebliche Räte und ArbeiterInnenkontrolle errichtet worden seien, die bis zur „Entfernung“ der Fabrikleitung und zur Übernahme durch die Fabrikkomitees ging. Solche Forderungen und Aktionen gingen über eine rein demokratische Umwälzung hinaus, und das Wyborger Komitee versuchte, die Machtfrage mit der Doktrin von 1905 zu lösen.

Das Petrograder Komitee wurde hauptsächlich von früheren politisch Verbannten, die durch die Februarrevolution befreit worden waren, gebildet. Sie nahmen einen konservativeren Standpunkt ein. Am 3. März entschlossen sie sich, „der Macht der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen.“ (51)

Diese Position implizierte keine unmittelbare Herausforderung gegenüber der vorherrschenden menschewistischen Linie im Exekutivrat des Sowjets. Sie ließ vielmehr offen, ob die Provisorische Regierung nicht doch den tatsächlichen Interessen der Massen diene, und ähnelte der Position einer „kritischen Unterstützung“ der bürgerlichen Regierung durch die Menschewiki.

Das russische Büro des exilierten Zentralkomitees (Schljapnikow, Molotow und Zalutsky) schwankte. Zuerst forderten sie, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von oben herab von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte, also eine Koalition aus Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki. Ihre programmatische Agenda beschränkte sich darauf, die drei Schwerpunkte des sozialdemokratischen Minimalprogramms, den Achtstundentag, die demokratische Republik, die Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft, sowie die Vorbereitung einer konstituierenden Versammlung durchzusetzen.

Auch hier finden wir die Perspektive einer rein demokratischen Etappe, über die die Revolution nicht hinausgehen könne. Diese Perspektive führte sie anfänglich dazu, Flugblätter des „linkeren“ Wyborg-Distrikts, die zur Bildung einer auf den Sowjets basierenden Regierung von unten her aufriefen, in Acht und Bann zu legen.

Die Perspektive eines Paktes mit den anderen Sowjet-Parteien stieß jedoch auf das Problem, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Regierung nicht mit den Bolschewiki teilen wollten. Diese Erkenntnis trieb das russische Büro bald nach links. Vom 22. März an bezeichnete es die Sowjets als Embryos einer neuen Staatsmacht. Andererseits betonte es weiter, dass die Revolution nicht auf den Fall der Kapitalherrschaft abziele, sondern auf den der Selbstherrschaft des Zaren und des Feudalismus. Hinter diesen Schwankungen vollzog diese Strömung generell eine Linksentwicklung und entwickelte sich schon vor Lenins Rückkehr in seine Richtung, auch wenn sie nicht in der Lage war, die Fesseln der traditionellen Konzeption zu lösen. (52)

Den rechtesten Standpunkt innerhalb des Bolschewismus nahm die Redaktion der Prawda ein. Herausgegeben wurde sie damals von Stalin, Muranow und Kamenew. Die „Prawda“ erklärte so am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ (53)

Diese Position verfolgte Stalin konsequent weiter, indem er argumentierte, dass, „die Provisorische Regierung in der Tat die Rolle des Verteidigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes angenommen hat. Gegenwärtig ist es nicht in unserem Interesse, Ereignisse herbei zu zwingen, die den Ausschluss von bürgerlichen Schichten, die unvermeidlich eines Tages sich von uns trennen werden, beschleunigen.“ (54)

Am 15. März benutzte Kamenew die „Prawda“, um eine bedingte Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen, da nun die Autokratie gestürzt worden war. So verwundert es wenig, dass Mitte März die Arbeiterbasis im Wyborger Distrikt für Anträge stimmte, die „Prawda“-Führung aus der Partei auszuschließen.

Die Prawda-Redaktion repräsentierte zwar nicht die Mehrheit der Bolschewiki, aber nutzte bzw. missbrauchte ihre redaktionellen Rechte, um ihre Linie zur vorherrschenden zu machen. Dabei kam ihr zugute, dass sie, im Gegensatz zu den drei anderen Strömungen, eine in sich folgerichtige, schlüssige Linie verfocht. Das Wyborger Komitee, das Petersburger Komitee und das exilierte Zentralkomitee waren in den inneren Widersprüchen der Politik von 1905 gefangen. Einerseits drängten sie in Richtung einer unabhängigen ArbeiterInnenpolitik, andererseits waren sie an die Vorstellung gebunden, dass die Revolution nur eine demokratische sein könne.

Vor Lenins Ankunft drängte daher die Prawda-Richtung die Partei nach rechts. Ende März äußerte sich Stalin auf einer Parteikonferenz wie folgt zur Frage der Provisorischen Regierung und ihres Verhältnisses zu den Räten:

„Die Macht ist auf zwei Organe aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt widerstrebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes, die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem wir den Prozeß der Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in der Folge unvermeidlich von uns trennen müssen.“ (55)

Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, Provisorische Regierung und Räte teilten sich die Arbeit, der Klassenkampf wurde zu einer Frage des „Drucks“ auf eine Regierung, deren Ablösung nicht weiter forciert werden sollte.

Aufgrund kritischer Stimmen schwächten Stalin und Kamenew zwar ihre Formulierungen etwas ab, um sie am nächsten Tag jedoch in der Substanz  beizubehalten:

„So weit die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution festigt, so weit müssen wir sie unterstützen; aber so weit sie konterrevolutionär ist, ist die Unterstützung der Provisorischen Regierung unzulässig. Viele GenossInnen, die aus den Provinzen ankamen, haben die Frage aufgeworfen, ob wir unmittelbar die Frage der Machtergreifung stellen sollten. Aber die Zeit ist nicht reif, die Frage jetzt zu stellen.“ (56)

Auf derselben Konferenz wurde die Frage einer Vereinigung mit den Menschewiki aufgeworfen und die Tagung wurde mehrmals für gemeinsame Sitzungen mit den Sozialpatrioten unterbrochen. Auch wenn es widersprechende Stimmen gab, so zeigte sich, dass in vielen Städten schon Verhandlungen über die Vereinigung geführt wurden. Delegierte, die auf der Notwendigkeit einer programmatischen Klärung und Übereinstimmung als Voraussetzung für eine Fusion beharrten, wurden von jenen überstimmt, die die alten Differenzen als nicht mehr so wichtig betrachteten, zumal Menschewiki und Bolschewiki, formell betrachtet, noch immer dasselbe Parteiprogramm hatten. Die Konferenz optierte mehrheitlich für Vereinigungsdiskussionen. (57)

Jene Delegierten, die auf der programmatischen Abgrenzung beharrten, folgten zweifellos einem richtigen Impuls. Aber sie selbst hatten mit dem Dilemma zu ringen, dass sie einerseits programmatische Klarheit forderten, andererseits aber keine klare Alternative zum „traditionellen“ Bolschewismus zu formulieren imstande waren.

Dieses Dilemma konnte im Rahmen der Konzeption von 1905 nicht gelöst werden – deren innere Widersprüche konnten nur durch einen politischen Bruch mit ihren Beschränkungen überwunden werden.

Eine solche programmatische Umrüstung und Neuausrichtung erfolgte im April 1917 mit Lenins Rückkehr. In These 9 der berühmt gewordenen Aprilthesen weist er selbst auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Programms hin.

„Änderung des Parteiprogramms, in der Hauptsache in folgenden Punkten:

1. Imperialismus und imperialistischer Krieg;

2. Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ‚Kommunestaates‘;

3. Berichtigung des veralteten Minimalprogramms;“ (58)

Die Aprilthesen

Die Aprilthesen verfasste Lenin am 4./5. April bei seiner Rückkehr nach Russland, nachdem er auf ersten Versammlungen seine grundlegende Linie dargelegt hatte. Nicht nur Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch die Mehrzahl der Bolschewiki waren schockiert. Das Petersburger Komitee lehnte nach einer ersten Diskussion die Aprilthesen mit 2 gegen 13 Stimmen ab, auch Komitees aus Moskau und Kiew wiesen sie zurück. Die Prawda veröffentlichte die Thesen am 7. April nur mit einer redaktionellen Distanzierung,, in der Kamenew schreibt:

„Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, …so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung der Revolution in eine sozialistische berechnet ist…“ (59)

Kamenew, der konsequenteste und theoretisch versierteste Wortführer des rechten Flügels der Partei, drängte im Namen der Prawda-Redaktion selbst auf eine Überwindung der Widersprüchlichkeiten der „demokratischen Diktatur“. Er ging somit nach rechts, was ihn letztlich ins Lager des Menschewismus geführt hätte.

Lenin bekämpfte diese Richtung im April 1917 scharf  und konnte auch die Mehrheitsverhältnisse in der Partei zu seinen Gunsten ändern. Sie wurde politisch „umgerüstet“. Worin bestand nun diese Neuausrichtung?

Die Aprilthesen („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“) (60) gehen von der internationalen Lage aus. Der Krieg ist auch auf Seiten des von der Provisorischen Regierung geführten Russlands noch immer ein imperialistischer Krieg. Der revolutionäre Defätismus, den der rechte Flügel der Partei ad acta legen wollte, behält auch unter der neuen Regierung seine Gültigkeit, weil es eine Regierung der Kapitalisten ist, die einen imperialistischen Raubkrieg führt.

„Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat seine Zustimmung nur unter folgenden Bedingungen geben: a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.“ (61)

Damit erfolgte nicht nur eine klare politische Ablehnung der Regierung. Zugleich wurde auch deutlich, dass jede Vereinigung mit den Sozialpatrioten nur Verrat am internationalen Proletariat sein könne, weil dies den Wechsel ins Lager der Vaterlandsverteidiger bedeuten würde.

Statt die Provisorische Regierung „kritisch zu unterstützen“, gehe es darum, ihren Sturz vorzubereiten, von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution überzugehen. Dass sie sich noch halten könne, liege vor allem an der „mangelnden Organisiertheit des Proletariats“ und „Vertrauensseligkeit der Massen“. Es gehe daher nicht um die unmittelbare Machtergreifung, sondern auf deren Vorbereitung durch Aufklärung der Massen, Unterstützung von deren Initiativen, Enthüllung des wahren Charakters des Krieges, der Regierung und des Versöhnlertums. Solange die Bolschewiki nicht die Führung der ArbeiterInnen und ländlichen Massen errungen hätten, müssten sie ihre Politik darauf ausrichten,  diese von der Notwendigkeit der Machtergreifung zu überzeugen.

Lenin macht deutlich, dass eine solche Regierung nicht unmittelbar den Sozialismus einführen würde oder könnte, sondern dass sie durch die „Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates“ unterliege und durch „sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat“ den Übergang zu einer solchen Gesellschaftsordnung einleiten würde.

Diese Forderungen, die die Voraussetzung für den Sozialismus in Verbindung mit der internationalen Revolution schaffen können, müssten mit dem Kampf für die wirkliche Beendigung des Kriegs durch die Revolution, die ohne Sturz des Kapitalismus unmöglich sei, der Verbrüderung mit den deutschen Soldaten und der Agrarrevolution als Kernfrage der „demokratischen Revolution“ verbunden werden.

Übergangsmethode

Lenin entwirft hier ein Programm von Übergangsforderungen. Die wichtigsten, grundlegenden Fragen der ArbeiterInnenklasse wie aller Unterdrückten dürfen dem Kampf für die soziale Revolution, dem Kampf gegen das Kapital nicht entgegengestellt werden, sondern müssen vielmehr zu einem Aktionsprogramm gebündelt werden, das die brennendsten Fragen der Massen – „Land, Brot, Frieden“ – mit der Lösung der Machtfrage verbinde.

Dieser Bruch mit der Programmmethode der Zweiten Internationale entspricht Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution und verweist auf die Entwicklung der Übergangsmethode auf den ersten vier Kongressen der Komintern und durch die frühe Vierte Internationale. Lenins eigenes Denken hatte sich schon vor 1917 in diese Richtung entwickelt, wie z. B. eine Polemik gegen Radek (Parabellum) aus dem Jahr 1915 verdeutlicht:

„Bei Gen. P. kommt es so heraus, daß er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht, indem es mit jedem Schritt seiner Bewegung die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus, einer der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, entgegenzustellen. Wir müssen umgekehrt den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolutionären Programm und mit der revolutionären Taktik in bezug auf alle demokratischen Forderungen verbinden: die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte für Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und zudem nicht vollständig, nur verstümmelt zu verwirklichen. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie stützen, indem wir die Unvollständigkeit derselben unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als eine notwendige Basis für die Abschaffung des Massenelends sowie für die volle und allseitige Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen. Einige dieser Maßnahmen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie begonnen werden, andere im Gange dieser Niederwerfung, wieder andere nach derselben. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um alle Fragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. Eben im Namen dieses Endzieles müssen wir einer jeden unserer demokratischen Forderungen eine konsequent revolutionäre Formulierung geben. Es ist denkbar, daß die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, bevor sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, daß das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär entschiedensten Demokratismus.“ (62)

Diese Methode findet sich in den Aprilthesen eindeutig wieder. Sie stand in einem grundlegenden Gegensatz zur Position der rechten Bolschewiki wie Kamenew, gegen die Lenin heftig polemisierte. In „Briefe über die Taktik“ geht er auf dessen Position ein und weist ihm ein Festhalten an überlebten Formeln nach.

Überlebte Formeln

Kamenews Insistieren darauf, dass die „demokratische Revolution“ noch nicht abgeschlossen sei, verdeutliche, dass er die Frage nach dem Charakter der Revolution schon „falsch gestellt“ hätte, weil er unterstellt, dass es überhaupt eine klar abgetrennte und abgeschlossene „demokratische Etappe“ geben könne. Eine lupenreine Trennung der beiden Etappen wird vorausgesetzt, statt die Wirklichkeit danach zu untersuchen, ob diese Vorstellung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt.

„Die Wirklichkeit zeigt uns sowohl den Übergang zur Macht an die Bourgeoisie (‚abgeschlossene‘ bürgerlich-demokratische Resolution von gewöhnlichem Typus) als auch die Existenz – neben der eigentlichen Regierung – einer Nebenregierung, die die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ verkörpert. Diese letztere ‚Auch-Regierung‘ hat selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat sich selber an die bürgerliche Regierung gekettet.

Erfaßt die altbolschewistische Formel des Gen. Kamenew ‚die bürgerliche Revolution ist nicht abgeschlossen‘ diese Wirklichkeit?

Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie mit neuem Leben zu erwecken.“ (63)

Noch deutlicher wird Lenin mit einem weiteren Argument. Er stellt in Frage, ob es „eine besondere, von der bürgerlichen Regierung losgelöste ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ geben kann.“

Wenn überhaupt, dann sei sie nur auf Basis der „sofortige[n], entschiedene[n], unwiderrufliche[n] Loslösung der proletarischen, kommunistischen Elemente der Bewegung von den kleinbürgerlichen Elementen“ (64) möglich.

Diese Trennung wird zur unbedingten Notwendigkeit, weil das Kleinbürgertum nicht „zufällig“ für den Sozialchauvinismus anfällig ist, sondern aufgrund seiner Klassenlage. Daher muss die ArbeiterInnenklasse eine führende Rolle einnehmen – was  auch eine Trennung von und eben nicht Verschmelzung mit den kleinbürgerlichen Parteien erfordert.

Gerade in der Frage der „Vaterlandsverteidigung“ hätten sich die Interessen von Proletariat und Kleinbürgertum getrennt, daher sei der „alte Sinn“ der „demokratische(n) Diktatur“, die eine zeitweilige Interessengleichheit unterstellt, obsolet geworden. Jetzt gehe es um die Zukunft, den Kampf gegen das Privateigentum, den Kampf der LohnarbeiterInnen gegen das Kapital.

Auch in den Aprilthesen findet sich die „demokratische Diktatur“ nicht mehr, weil sie bestenfalls eine zwiespältige Formel geworden ist. Stattdessen heißt es: „5. Keine parlamentarische Republik -von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts -, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben.

Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft.“ (65)

Die Februarrevolution hatte zwar begonnen, den zaristischen Staatsapparat zu zerbrechen, doch dieses Werk musste durch eine zweite Revolution zu Ende gebracht werden. Ähnlich wie Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“ knüpft er dabei an Marx‘ Schriften zur Revolution von 1848 und die Schriften zur Commune an.

Die „Briefe aus der Ferne“, die Kommentare und Erklärungen zu den Aprilthesen betonen immer wieder die Notwendigkeit, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen Rätestaat zu ersetzen. Noch vor seiner Rückkehr aus dem Exil verfasste Lenin einen großen Teil der Schrift, die später unter dem Titel „Staat und Revolution“ (66) veröffentlicht werden wird.

Hier zeigt sich eine weitere Seite der Abwendung Lenins von den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. In seinem Denken spielen die Räte in der Revolution 1917 eine qualitativ andere Rolle als 1905. Das ist kein Zufall, denn in einer Revolution, die eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung an die Macht bringt, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats darstellt, müssen die Räte eine zentrale Rolle spielen – nicht nur für den Sturz des bestehenden Systems, sondern auch für die Etablierung eines proletarischen Halbstaates.

Die enorme Bedeutung von „Staat und Revolution“ besteht für Lenin sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. 1917 steht die Entwicklung vor der Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Daher sei die Aufklärung der Massen darüber eine unmittelbare Aufgabe. Theoretisch geht es um den Bruch mit den Entstellungen der marxistischen Auffassung vom Staat durch die Theoretiker der Zweiten Internationale. „Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.“ (67)

Diese Wiederherstellung des Marxismus ist mit den Aprilthesen und der gesamten Strategie der Bolschewiki eng verbunden. Methodisch stehen sie hinsichtlich der Analyse der Russischen Revolution, ihrer Triebkräfte, ihrer Zielsetzung auf demselben Boden wie Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“.

Es ist kein Zufall, dass sich Trotzki und seine kleine Organisation, die Meschrajonzy, den Bolschewiki anschlossen und Trotzki gemeinsam mit Lenin einer der Strategen und zentralen Führer der Russischen Revolution wurde. Erst im Zuge des Fraktionskampfes mit der Troika und später mit dem Stalinismus wurde diese Übereinstimmung der Ideen, Konzepte und Politik in Frage gestellt werden. Die Behauptung, dass es grundlegende Differenzen zwischen Trotzki und den Aprilthesen gegeben habe, dass Lenin eine andere Strategie verfolgt habe, ist, historisch betrachtet, eine Fälschung und Entstellung. Sie entstammt nicht wissenschaftlichen Forschungen, sondern den Bedürfnissen der Troika im Kampf um die Nachfolge Lenins und dem Bemühen um Ausschaltung Trotzkis, der Suche der Bürokratie nach einer Legitimation ihrer Herrschaft und der Rechtfertigung der eigentlich menschewistischen Etappentheorie des Stalinismus. Es ist kein Wunder, dass diese (Mach-)Werke über Scholastik nicht hinauskommen und gerade den Bruch Lenins mit den Schwächen der „altbolschewistischen Tradition“ relativieren.

Eine Lektüre der wichtigsten Schriften Lenins und Trotzkis im Jahr 1917 offenbart die Gemeinsamkeit der strategischen Ausrichtung, der Einschätzung des Charakters der Revolution, der Hauptaufgaben der ArbeiterInnenklasse und der revolutionären Partei. Mehr noch als jedes Textstudium beweist das der Verlauf der Revolution selbst.

Alle Macht den Räten und Taktik gegenüber der Koalitionsregierung

Mit den Aprilthesen hatte Lenin programmatisch den „gordischen Knoten“ des „alten“ Bolschewismus zerschlagen. Im April 1917 gelang es ihm, einen größeren Teil der Führung von seiner Position zu überzeugen. Die Fusionsabsichten mit den Menschewiki waren vom Tisch. Die Petrograder Stadtkonferenz stimmte den von ihm verfassten Thesen zu. Der gesamtrussische Parteitag der Bolschewiki Ende April nahm in etlichen Punkten Lenins Position an. Aber der Widerstand der Parteirechten war beträchtlich und die Strömung um Kamenew stellte während der gesamten Russischen Revolution eine bedeutende Gruppierung dar, die immer wieder mit Positionen rechts von der Mehrheit aufwartete. Auch die Beschlüsse der Konferenz spiegelten teilweise ihre Stellung wider. So standen 5 von 9 gewählten Mitgliedern des Zentralkomitees dem rechten Flügel nahe.

Dennoch ist es bemerkenswert, wie rasch Lenin aus der Position der Minderheit die „Umbewaffnung“ der Partei durchsetzen konnte. Der entscheidende Grund war sicherlich, dass seine politische Konzeption in der realen Entwicklung und in den Stimmungen der Avantgarde der Klasse einen Nährboden fand, dass sie ihrem Streben nach einer Lösung der von der Revolution gestellten Fragen einen in sich schlüssigen, folgerichtigen Ausdruck verlieh. Die praktischen Erfahrungen und die Logik ihres eigenen Handelns, nicht zuletzt die Errichtung der Räte, die Einführung von Formen der ArbeiterInnenkontrolle, die Doppelmacht und ihre inneren Widersprüche warfen Fragen auf, die die Aprilthesen verknüpfen und als Gesamtheit beantworten konnten. Sie waren eine Anleitung zum Handeln. Zum anderen zeigten sie auch jenen Bolschewiki, die sich schon politisch-konzeptionell nach links entwickelt hatten, jedoch noch nicht die Konzeption der „demokratischen Etappe“ zu überwinden vermochten, einen Ausweg, indem sie ihnen vor Augen führten, dass das alte Schema des Bolschewismus selbst gesprengt werden musste.

Der Gedanke konnte nur zur materiellen Wirklichkeit werden, Fuß fassen, weil auch die Wirklichkeit in diese Richtung drängte.

Dazu tat schließlich auch die reale Entwicklung das Ihre. Die Provisorische Regierung erwies sich als unfähig und unwillig, auch nur eines der Probleme des Landes zu lösen. Der imperialistische Krieg wurde fortgesetzt und neue Offensiven wurden vorbereitet. Die wirtschaftliche Desorganisation des Landes nahm weiter zu. Die soziale Frage in der Stadt und die Agrarfrage blieben ungelöst und wurden wie die demokratische Umwälzung auf die lange Bank geschoben. Die Kapitalistenklasse und die bürgerliche Regierung waren politisch bei den Massen diskreditiert.

Es gab im Grund schon Ende April/Anfang Mai 1917 nur drei Möglichkeiten, die Lage zu klären: Erstens: Die Bourgeoisie beendet mit diktatorischen Mitteln die Doppelmacht. Dazu war sie jedoch (noch) zu schwach und unentschlossen. Zweitens: Die Räte übernehmen allein die Macht. Dazu waren jedoch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht gewillt, obwohl sie von Seiten der Bourgeoisie daran nicht gehindert werden konnten. Die dritte Möglichkeit bestand in einer Fortsetzung der Kollaboration von Bourgeoisie, Generalität und kleinbürgerlichen „Sozialisten“ in einer anderen Form. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die als Parteien offiziell außerhalb der Regierung standen, entschlossen sich zum Eintritt – natürlich, „um die Revolution zu retten“.

„Trotz aller politischen Gefahren, die mit dem Eintritt der Sozialisten in die bürgerliche Regierung verbunden sind, hätte unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Weigerung der revolutionären Sozialdemokratie, auf Grundlage eine festen demokratischen Plattform in bezug auf die Außen- und Innenpolitik aktiv an der Provisorischen Regierung teilzunehmen, die Revolution zu Scheitern verurteilt und wäre den Interessen der Arbeiterklasse und der gesamten revolutionären Demokratie zuwidergelaufen. Der Eintritt der Sozialisten in die Regierung auf Grundlage einer Plattform, die sich auf eine aktive Politik mit dem Ziel eines frühestmöglichen allgemeinen Friedensschlusses auf demokratischer Basis richtet, soll ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Krieges gemäß der internationalen Demokratie sein.“ (68)

Die Koalitionsregierung zwischen bürgerlichen Parteien und den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie war geboren. Der Krieg wurde fortgesetzt, die Bauern und ArbeiterInnen weiter vertröstet. Die beginnenden und zunehmenden Landnahmen, also Enteignungen des Großgrundbesitzes, sollten unterbunden und nicht legalisiert werden, die Tendenzen zur ArbeiterInnenkontrolle sollten gestoppt und die Armee wieder kampffähig werden. So sollte die Konterrevolution zum „Wohl der Revolution“ wirken.

Die Bolschewiki kritisieren die Koalition von Beginn an scharf und ohne Rücksichtnahme auf ihre „sozialistischen Minister“. Sie tun dies allerdings aus der Position einer wachsenden Minderheit der ArbeiterInnenklasse und in den Räten. Lenin selbst hatte in den Aprilthesen darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Partei nicht darin bestehen könne, unmittelbar selbst die Macht zu ergreifen. Vielmehr müssten als nächster Schritt die ArbeiterInnenklasse und die Bauernschaft über die Notwendigkeit der Machtergreifung aufgeklärt, darauf vorbereitet werden.

Die von der Regierung geplante erneute Offensive an der Front bildete dabei im Mai und Juni 1917 ein, wenn nicht das Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Mit dem Regierungseintritt hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf den ersten Blick ihre Macht gefestigt, andererseits aber auch ihre Stellung gegenüber den Massen weiter gefährdet, weil sie den Machtinstitutionen beider Seiten, der Doppelmacht, angehörten. Das lähmte einerseits die Sowjets und führte zur Verschlechterung der allgemeinen Lage – es führte den Massen aber auch vor Augen, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution nicht weiterbrachten.

Genau hier setzten die Bolschewiki an. Sie entlarvten alle bürgerlichen, arbeiterfeindlichen, bauernfeindlichen und imperialistischen Maßnahmen der Regierungssozialisten.

Sie beließen es aber nicht dabei, sondern versuchten, die inneren Widersprüche der Politik von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Spitze zu treiben. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ diente dazu, die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen mit der Frage der Macht zu verknüpfen. Sie war aber auch direkt an die Mehrheit in den Räten, an Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gerichtet, die Doppelmacht zugunsten der Sowjets zu beenden. Eine solche Mehrheit der „kleinbürgerlichen Demokratie“ hätte die Räte keineswegs schon zu einer sozialistischen Politik gebracht, aber sie hätte bedeutet, dass sich diese Parteien auf  radikalisierte (und sich weiter radikalisierende) Massen aus ArbeiterInnen, Soldaten, Bauern und Bäuerinnen hätten stützen müssen.

Die Bolschewiki hatten dabei keineswegs nur eine theoretische Kritik vor Augen. Sie wollten den Rätekongress im Juni 1917 selbst massiv unter Druck setzen.

„Während des ersten Allrussischen Kongresses der Sowjets schlug der erste erschreckende Donner ein, der die künftigen Geschehnisse ahnen ließ. Für den 10. Juni hatte die Partei eine bewaffnete Demonstration in Petrograd beschlossen. Diese sollte unmittelbar auf den Allrussischen Kongress einwirken: ‚Ergreift die Macht‘, wollten die Petrograder Arbeiter den aus dem ganzen Land versammelten Sozialisten-Revolutionären und Menschewiki zurufen: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, verwerft die Koalition und ergreift die Macht´. Uns war klar, dass ein Bruch der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie sie gezwungen hätte, eine Stütze in den entschlossensten vorderen Reihen des Proletariats zu suchen; sie hätten sich somit auf Kosten der letzteren eine führende Stellung gesichert. Aber gerade davor schraken die klein-bürgerlichen Führer zurück.“ (69)

Die Losungen „Alle Macht den Räten!“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“, „Raus mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ wurden nicht nur von den Bolschewiki popularisiert, sondern erwuchsen auch aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse, vor allem der ArbeiterInnenvorhut in Petersburg und anderen städtischen Zentren. Hinzu kam, dass sich auch größere Teile der Matrosen und der Garnison deutlich nach links entwickelten.

Wie Trotzki im Übergangsprogramm darlegt, war die Losung letztlich eine frühe Form der Anwendung der Losung der ArbeiterInnenregierung:

„Von April bis September 1917 forderten die Bolschewiki, die Sozial-Revolutionäre und die Menschewiki sollten mit der liberalen Bourgeoisie brechen und die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und den Sozial-Revolutionären, als den kleinbürgerlichen Vertretern der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Unterstützung gegen die Bourgeoisie; sie lehnten es jedoch kategorisch ab, sowohl in die Regierung der Menschewiki und Sozial-Revolutionäre einzutreten, als auch die politische Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wenn die Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre wirklich mit den (liberalen) Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen hätten, dann hätte die von ihnen geschaffene ‚Arbeiter- und Bauernregierung‘ nur die Errichtung der Diktatur des Proletariats beschleunigen und erleichtern können. Aber gerade aus diesem Grund stemmten sich ja die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit aller Gewalt gegen die Errichtung ihrer eigenen Regierung. Die Erfahrung Rußlands hat gezeigt, und die Erfahrung Spaniens und Frankreichs bestätigt es von neuem, daß selbst unter günstigsten Bedingungen die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) unfähig sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung, d. h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung, zu schaffen.

Trotzdem hatte die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Forderung der Bolschewiki: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure eigenen Hände! ‚ einen unschätzbaren erzieherischen Wert für die Massen. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so tragische Weise offenbar wurde, verurteilte sie endgültig in der Meinung des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.“ (70)

Die Forderung an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, war eine Form der Einheitsfronttaktik, die die Bolschewiki systematisch immer wieder in der Russischen Revolution – nicht nur im Kampf gegen Kornilow – anwandten. Die Losung „Weg mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ bezog diese formal auf die Provisorische Regierung. Die Parole „Alle Macht den Räten“ war, solange diese eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Dominanz hatten, auch eine Parole der Einheitsfront.

Die Bolschewiki vermieden dabei im Großen und Ganzen zwei grundlegende Fehler: Opportunismus und Linksradikalismus, auch wenn sie davon keineswegs frei waren, aber sie vermochten, diese im Zaum zu halten. Zweifellos hatte der rechte Flügel mit Kamenew und anderen beredte Vertreter einer opportunistischen Entstellung der Einheitsfrontpolitik. Dieser Flügel strebte eine Regierung aller Sowjetparteien, also eine Koalition der Bolschewiki mit den Sozialchauvinisten an (und trat dafür kurzzeitig auch noch nach dem Oktoberaufstand ein). Die linksradikale Neigung, aufgrund der Dynamik der Avantgarde vorschnell auf die Machtergreifung zuzustreben, sollte sich in den kommenden Wochen jedoch auch bemerkbar machen.

Die Julitage

Die Koalition aus Bürgerlichen, Sozialrevolutionären und Menschewiki war bald von denselben Problemen gebeutelt wie ihre Vorgängerin. Auch sie konnte keine grundlegende Frage lösen, setzte aber den Krieg fort, um endlich das Schicksal an der Front wenden. Die Bolschewiki planten für den Sowjetkongress eine bewaffnete Demonstration, welche eine Einstellung der Planung für eine Offensive gegen Österreich-Ungarn und die Bildung einer Räte-Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki (nicht der Bolschewiki) forderte. Diese wurde verboten und die Partei sah sich gezwungen, die Demonstration abzublasen. Um dem Unmut der ArbeiterInnen und Soldaten in Petersburg entgegenzukommen, setzte die Sowjetführung selbst für den 18. Juni eine „Einheitsdemonstration“ an. Diese wurde entgegen der Absicht ihrer Initiatoren zu einem Zeichen der Kräfteverschiebung in der Hauptstadt.

„Am vorgesehenen Tag mussten die gemäßigt-sozialistischen Sowjetführer mit ansehen, wie die Arbeiter und Soldaten aus nahezu sämtlichen Petrograder Fabriken und Militärregimentern, mehr als 400.000 an der Zahl, in langen Reihen an ihnen vorbeimarschierten und dabei purpurrote Transparente in die Luft hielten: ‚Nieder mit den zehn Minister -Kapitalisten!“, „Nieder mit der Politik der Offensive!“ und „Alle Macht den Sowjets!“ Im Meer der bolschewistischen Banner und Plakate, darin stimmen alle Zeitzeugen überein, waren die offiziellen Parolen des Kongresses nur vereinzelt zu sehen.“ (71)

Dies entsprach auch einem rasanten Wachstum der Bolschewistischen Partei. So hatte sie in Petersburg, dem Zentrum der Revolution, im Februar gerade 2000 Mitglieder, Ende April 16.000 und Ende Juni 32.000. Ihre Mehrzahl war proletarisch, darüber hinaus gewann sie größeren Einfluss unter den Matrosen und begann, sich bei den Soldaten zu verankern.

Diese unerfahrenen, radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse, einschließlich vieler neu gewonnener Parteimitglieder, drängten aufgrund ihrer Erfolge darauf, die Massenmobilisierung zur Machteroberung, zum Aufstand zuzuspitzen. Die Sache wurde durch eine weitere Regierungskrise verschärft.

Am 3. und 4. Juli demonstrierten bewaffnete Matrosen, ArbeiterInnen und Soldaten. Hinter ihnen stand ein großer Teil der Avantgarde der Revolution in Petrograd und auch der Baltischen Flotte. Die vorwärts drängenden Massen wollten die Räte zur Macht zwingen, endlich ihre brennenden Fragen lösen. Zweifellos mag es auch Provokateure, Abenteurer usw. gegeben haben, die eine frühzeitige Machtprobe – und deren Niederlage – wollten. Allein, das könnte diese Entwicklung nicht erklären.

Die Triebkräfte, die zur Revolution geführt hatten, führten auch dazu, dass ihre entschiedensten Trägerin, eine radikalisierte, aber politisch wenig erfahrene Avantgarde, nicht länger warten wollte. Vertröstet war sie in den letzten Monaten von der Regierung und den Sowjetführungen schon genug geworden.

Die Führung der Bolschewistischen Partei um Lenin wollte eine solche Machtprobe nicht, sondern hatte ihre Parteikader im Juni vor einer vorzeitigen Zuspitzung gewarnt, weil die Kräfteverhältnisse im Land weitaus ungünstiger waren als in Petrograd. Die Bauernschaft war noch von den Sozialrevolutionären dominiert, die Armee auch. Hinzu kam, dass eine bolschewistisch geführte Machtergreifung im Land als Putsch gegen die Räte wahrgenommen worden wäre.

Der Vorwurf an die Bolschewiki, dass sie einen Umsturz geplant hätten, ist, wie die Hetze gegen die Partei und ihre Führung, eine Konstruktion, die faktisch nicht standhält.

Der Druck der Avantgarde machte sich jedoch auch unter den Bolschewiki, z. B. unter den Führern der Wyborger Parteisektion und der Militärsektion bemerkbar, die zum entschiedenen Handeln drängten bzw. durch ihre eigene Basis gedrängt wurden. Das führte auch dazu, dass diese durchaus eigenmächtig agierten und die Partei mit zum verfrühten Aufstand „schieben“ wollten.

Schließlich entschieden die Bolschewiki nach der Manifestation vom 3. Juli, dass sie die Demonstrationen am 4. Juli in geordnete Bahnen lenken und so einen organisierten Rückzug durchführen wollten. Dies war jedoch nur bedingt möglich, weil die Aktionen schon über eine reine Demonstration hinausgegangen waren und es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Gegen Ende des 4. Juli gewannen die loyal zur Regierung und Sowjetführung stehenden Armeeeinheiten die Oberhand.

Die Linie der Bolschewiki, einer Machtprobe, so gut es noch ging, auszuweichen, war zweifellos korrekt. Die Partei hätte, selbst wenn der Sieg in Petersburg errungen worden wäre, die Stadt nicht halten können. Die „Vorbereitungsarbeit“, die Gewinnung der Armee und des Dorfes, war noch nicht abgeschlossen.

Bei aller Militanz gab es aber auch eine innere Widersprüchlichkeit in der Massenbewegung selbst, auf die die radikale Avantgarde keine Antwort hatte, die ihr z. T. in den Julitagen erst vor Augen geführt wurde. Die Demonstrationen und die bewaffneten Kontingente waren eine Fortsetzung der Aktionen der Zeit vor Juni und liefen unter denselben Zielsetzungen (raus mit den Kapitalisten-Ministern, brecht mit der Bourgeoisie, alle Macht den Sowjets). Sie richteten sich an jene Sowjetführer und „Sozialisten“- Minister, die selbst nicht die Macht ergreifen wollten. Auf dieses Problem – selbst ein Resultat der Doppelmacht unter kleinbürgerlich-demokratischer Sowjetführung – hatten die DemonstrantInnen und auch die Avantgarde keine Antwort. Dass sich diese FührerInnen nicht zur Machtergreifung führen ließen, paralysierte und zersplitterte eine Bewegung, die zwar massenhaft und bewaffnet war, aber auch mit einem undurchführbaren Ziel in die Konfrontation ging. Neben der Lage im Land war es auch diese innere Unklarheit, die zeigt, dass ein Kampf um die Macht verfrüht gewesen wäre.

„Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch der Demonstration aufzurufen. Jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf, fast keinen Widerstand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen. Sie fühlten nun, daß es sich mit der Frage der Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie gedacht.“ (72)

In diesem Sinn hatten die Julitage auch einen „erzieherischen“ Wert. Aber sie hätten zu einem weit schwereren Rückschlag werden können, wenn sich die Lage der Regierung nach dem Zusammenbruch der Offensive nicht selbst bald wieder verschlechtert hätte. Für den Juli und großen Teil des August musste die Bolschewistische Partei ihre Strukturen, ihre Presse wieder neu aufbauen, ihr Innenleben war sehr geschwächt.

Unmittelbar nach der Niederlage der Juli-Aktionen entfachten Reaktion und Regierung Verleumdungs- und Hetzkampagnen gegen die Bolschewiki. Ihnen wurde die Verantwortung für die Julitage und die Planung eines Aufstandes in die Schuhe geschoben. Vor allem aber wurde ab dem 5. Juli eine konzentrierte Hetze gegen Lenin und weitere Parteiführer eröffnet. Die rechte Presse veröffentliche fabrizierte Dokumente und andere angebliche „Beweise“, dass jene gekaufte Agenten des deutschen Kaiserreichs wären. Lenin, Sinowjew und andere Parteiführer mussten in den Untergrund, hunderte Kader wurden festgesetzt, die Gefängnisse füllten sich mit RevolutionärInnen.

Die konterrevolutionäre Agitation, die Niederlage schüchterten die ArbeiterInnen und Soldaten ein. Die Bolschewiki verloren an Anhang und Rückhalt, wie umgekehrt die Zuversicht der Reaktion stieg.

Der Schlag gegen die Bolschewiki ermutigte die offene Konterrevolution. Der Schlag gegen die konsequenten RevolutionärInnen sollte und musste, vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet, auch gegen die Räte geführt werden. Verhaftungen von radikalen ArbeiterInnen und Entwaffnungen der Milizen, Einschränkung der Soldatenrechte und Abschaffung des Kommissarswesens, Wiedereinführung der Todesstrafe, Niederschlagung der Bauernrevolten und, als Krönung all dessen, die nächste militärische Offensive bildeten das Programm der Koalitionsregierung, das von der Sowjetmehrheit freudig oder protestierend akzeptiert wurde.

Für die Konterrevolution ging es darum, das Kräfteverhältnis nicht nur zu verschieben, sondern die Doppelmacht selbst zu beseitigen. Für die Kapitalistenklasse, die Kadettenpartei, den Generalstab war klar geworden, dass eine „demokratische“ Entwicklung untragbar geworden war. Ordnung musste geschaffen werden, und dies erforderte eine harte Hand, die Konzentration der Macht.

Die innere Logik der Koalitionsregierung – einer Form dessen, was später als „Volksfront“ bezeichnet wurde – drängte nicht nur zur Verschiebung der Macht nach rechts, sie drängte zur Einführung eines bonapartistischen, diktatorischen Regimes. Im Juli und August nahm das politisch die Form zunehmender Repression an. Die Ernennung Kornilows zum Oberkommandierenden der Armee, permanente Regierungskrisen und ein Wettlauf darum, wer der Bonaparte Russlands werden sollte, kamen hinzu.

Die Armee und die Bourgeoisie hatten dazu Kornilow ausersehen – Kerenski und seine engeren Berater waren in diese Machenschaften verstrickt, umgekehrt wollte der Regierungschef aber selbst die Position des „Retters des Vaterlandes“ einnehmen.

Die Alternative „Diktatur des Proletariats oder Diktatur des Kapitals“ spitzte sich im Sommer 1917 zu, wobei der erste Schlag von der Konterrevolution kam. Der Putsch Kornilows zeigt deutlich, dass unter den konkreten Bedingungen Russlands eine demokratische Stabilisierung von oben vollkommen ausgeschlossen war. Hätte die Niederlage Kornilows nicht zum Oktober geführt, hätten die Bolschewiki nicht den Weg des Aufstandes beschritten und durchgeführt, so hätte die Entwicklung nur zur offenen staatsterroristischen Diktatur führen können.

Der Sommer 1917 war ein günstiger Moment für die Konterrevolution, insofern die Bolschewiki geschwächt, die ArbeiterInnenklasse und die Soldaten im Zentrum der Revolution desorientiert, die herrschenden Kreise moralisch gestärkt waren.

Die Misserfolge der Regierung, vor allem die desaströse „Offensive“, unterminierten jedoch wieder rasch deren eigene Position. Die ArbeiterInnen und Soldaten leisteten, wenn auch anfänglich hinhaltenden, Widerstand gegen reaktionäre Maßnahmen wie die Entwaffnung. Das Handeln der Regierung und die Katastrophe an der Front erschütterten die letzten Reste der „Vertrauensseligkeit“ der Massen. Die Lügen über den Bolschewismus griffen immer weniger, nicht nur, weil die Bolschewiki versuchten, so gut sie konnten, gegenzuhalten, sondern weil die Lügen von jenen kamen, die täglich und immer offensichtlicher die Massen belogen und betrogen.

Hinzu kam als weiteres wesentliches Moment die Agrarrevolution, die Welle „wilder“ Enteignungen. Die Regierungskoalition, vor allem die Spitze der Sozialrevolutionäre, widersetzte sich diesen, obwohl sie die „Bauernpartei“ war. Sie unterminierte selbst ihre Basis und spaltete sich. Nur die Bolschewiki unterstützten ohne Wenn und Aber die Revolution um Land, was ihre eigene Verankerung ausweitete, vor allem aber die linken Sozialrevolutionäre auf die Seite der proletarischen Revolution zog.

Diese Prozesse verdeutlichen, dass sich die Machtfrage nach dem Juli zuspitzte und innerhalb weniger Monate zugunsten von Kapital oder ArbeiterInnenklasse gelöst werden musste.

Zugleich zeigen die Monate vom Juli bis Oktober auch, dass die Entscheidungsfragen der Revolution der „Politik der Mitte“, der Politik der Zusammenarbeit von reformistischen und kleinbürgerlichen Kräften mit dem Kapital selbst, den Boden entzogen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki hatten über Monate die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, kontrollierten die Räte und über die Soldatenräte auch die bewaffneten Kräfte. Ihre scheinbare Machtfülle entpuppte sich jedoch als Ohnmacht, weil sie die Macht nicht ergreifen, sondern einer anderen Klasse überlassen wollten.

All das sind die Gründe, warum sich die Bolschewistische Partei von den Schlägen der Julitage relativ rasch wieder erholen konnte.

Ende Juli hielt die Partei einen „Vereinigungsparteitag“ ab, an dem  Trotzki und die Meschrajonzy den Bolschewiki beitraten. Formal war es eine Vereinigung der beiden Organisationen, die  nur mit Trotzkis Gruppierung vollzogen werden konnte, jedoch  eigentlich auch an andere internationalistische Kräfte, als deklarierte GegnerInnen der Vaterlandsverteidigung, gerichtet war, insbesondere auch an Martows „Menschewiki-Internationalisten“.

Im August begann ein Wiederaufstieg der Bolschewiki auch zahlenmäßig.  Bis zum Oktober sollte die Partei auf rund 400.000 Mitglieder anwachsen. Ihr Einfluss in den Räten stieg, bei den Wahlen zu den Stadtparlamenten (z. B. in Petersburg) wuchsen ihre Stimmenzahl und Anteile erheblich. Menschewiki und Sozialrevolutionäre beklagten Übertritte. Die Bolschewiki gewannen schon vor der Niederlage des Kornilow-Putsches und trotz der Illegalität und Gefangennahme zentraler Führer der Partei an Einfluss und politischer Stärke.

Räte und Doppelmacht

In der Bolschewistischen Partei erhob sich die Frage, welche Bedeutung die Niederlage für den weiteren Verlauf der Revolution habe. Lenin kommt hier zu entschiedenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Doppelmacht und damit auch der Räte, indem er die Situation vor den Julitagen mit der von ihnen geschaffenen neuen Lage vergleicht.

„Damals, in dieser vergangenen Periode der Revolution, bestand im Staate die sogenannte ‚Doppelherrschaft‘, die materiell wie formal den unbestimmten Übergangszustand der Staatsmacht zum Ausdruck brachte. (…)

Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Auf Grund eines freiwilligen gegenseitigen Übereinkommens teilten sich die Provisorische Regierung und die Sowjets die Staatsmacht.“ (73)

Nun sei die Doppelmacht beendet. „Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.“ (74)

Die Räte seien praktisch zu ihren Erfüllungsgehilfen geworden. Eine „friedliche Entwicklung“ der Revolution sei nicht mehr möglich. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ würde zum Hohn werden, stattdessen müsse der nächste Anlauf der Revolution neue Organe schaffen: „Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie.“ (75)

Bevor wir zur Frage der Sowjets übergehen, müssen wir noch kurz die Frage streifen, in welchem Sinne Lenin davon spricht, dass vor dem Juli (und dann wieder für eine kurze Phase nach dem Kornilow-Putsch) eine „friedliche Entwicklung der Revolution möglich wäre.“ Die erste Voraussetzung war, dass die Februarrevolution schon einen weiten Weg gegangen war, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerbrechen (wenn auch nicht vollständig), die Armee zu paralysieren, Soldatenräte zu schaffen, zu beginnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und Organe zu bilden, die ihrer Form nach solche der Diktatur des Proletariats waren:

„Die Sowjets waren, ihrer Klassenzusammensetzung nach, Organe der Bewegung der Arbeiter und Bauern, waren die fertige Form ihrer Diktatur. Hätten sie die ganze Fülle der Macht innegehabt, so wäre der Hauptmangel der kleinbürgerlichen Schichten, ihr Hauptfehler, die Vertrauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, in der Praxis überwunden worden, wäre der Kritik der  aus ihren eigenen Maßnahmen gewonnenen Erfahrungen unterzogen worden. Der Wechsel der an der Macht stehenden Klassen und Parteien hätte innerhalb der Sowjets, auf dem Boden ihrer Alleinherrschaft und Allgewalt, friedlich vor sich gehen können; die Verbindung aller Parteien der Sowjets mit den Massen hätte fest und unerschütterlich bleiben können. Man darf keinen Augenblick außer acht lassen, daß nur diese enge, frei in die Breite und Tiefe wachsende Verbindung der Parteien der Sowjets mit den Massen dazu hätte verhelfen können, die Illusionen des kleinbürgerlichen Paktierens mit der Bourgeoisie friedlich zu überwinden. Der Übergang der Macht an die Sowjets hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht verändert und hätte es auch nicht ändern können, er hätte an dem kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft nichts geändert. Doch mit dem Übergang wäre rechtzeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch zum Zusammenschluß mit ihnen.“ (76)

Lenin hat also keinesfalls eine versöhnlerische Perspektive im Auge, wenn er von einer „friedlichen Entwicklung“ spricht. Die Losung „Alle Macht den Räten“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“ hat den Charakter einer Übergangsforderung. Lenin forderte von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, selbst die Macht zu übernehmen und eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung zu bilden. Diese wäre noch immer eine bürgerliche Regierung, weil sie auf dem Boden kapitalistischer Eigentumsverhältnisse stehen würde. Insofern wäre ihr Bruch mit der Bourgeoisie notwendig immer halbherzig, an einem entscheidenden Punkt nicht vollzogen. Durch systematische Aufklärung und Anwendung der Einheitsfrontpolitik könnten jedoch die Massen lernen, dass sie ihre eigene Vertrauensseligkeit überwinden und auch mit den Halbheiten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre brechen müssten – und sie hätten in den Räten und mit der Bewaffnung der ArbeiterInnen und Bauern schon einen Tatbestand geschaffen, der die eigentliche Machtergreifung auch ermöglichen könne.

Allein durch den Bruch mit den Kapitalisten-Ministern, die Erklärung der Räte als alleinige Macht wäre letztlich auch die Doppelmacht noch nicht überwunden, solange die Räte eine menschewistisch – sozialrevolutionäre Mehrheit hätten und eine dementsprechende Politik verfolgten. Sie würde jedoch nicht mehr die Form zweier entgegengesetzter Institutionen annehmen, sondern als Kampf der Programme verschiedener Klassen und Parteien im Rahmen der Sowjetdemokratie, der Räteform ausgefochten werden. Ein solcher Kampf könnte natürlich auch kein Dauerzustand sein, sondern müsste gerade in einer revolutionären Krise rasch zugunsten der einen oder anderen Klasse gelöst werden – sprich entweder, indem die Doppelmacht wirklich zugunsten des Proletariats und der Bauernschaft überwunden wird, oder indem es zu deren Degeneration und Inkorporation in das bürgerliche System kommt, die Macht also wieder der Bourgeoisie „voll“ überantwortet wird.

Auch wenn sich Lenin in der Einschätzung im Juli geirrt hatte, so zeigen seine Analysen, dass ihm, ähnlich wie Marx, ein Fetisch der Sowjetform fernlag. Dass auch Räte von der Konterrevolution befriedet und inkorporiert werden können, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Betriebsräte in Deutschland.

Vereinigungskonferenz

Die Thesen Lenins bildeten einen zentralen Diskussionsgegenstand der „Vereinigungskonferenz“ Ende Juli. Er selbst konnte ebenso wenig wie Trotzki und etliche andere ParteiführerInnen teilnehmen. Das Bild, das sich auf der Parteikonferenz präsentiert, zeigt in jedem Fall einen Reifungsprozess der Bolschewiki. (77)

Bubnow, Sokolnikow, Stalin, Swerdlow und andere vertreten Lenins Position, wenn auch mit Akzentuierungen. Die Stärke ihrer Position besteht sicher darin, dass sie den Kurs auf die Machtergreifung  betonen. Ihnen wird entgegengehalten, dass sie das Kind mit dem Bad ausschütten würden. Etliche RednerInnen verweisen darauf, dass die Räte selbst noch nicht vollständig ins Lager der Konterrevolution übergegangen seien, dass sich eine Kräfteverschiebung abzuzeichnen beginne. Die Absetzung von den Räten als zentralem Arbeitsfeld würde die Gefahr mit sich bringen, sich von den Soldaten und Bauern zu isolieren (weniger von ArbeiterInnen, weil es dort z. B. in Form der Fabrikkomitees potentiell andere Formen für eine alternative Macht geben könnte). Einige Redner wie Jurenew, ein Mitarbeiter Trotzkis, stellen auch die Frage in den Raum, warum die Losung „Alle Macht den Räten“ an das friedliche Stadium der Revolution gebunden sein müsse.

Der Kongress überarbeitete die von Stalin im Auftrag Lenins eingebrachten Thesen gründlich. Die Losung „Alle Macht den Räten!“ wird bis Ende August, also bis zum Kampf gegen den Kornilow-Putsch praktisch fallengelassen und in der Resolution durch die Parole „Vollständige Abschaffung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie“ ersetzt. Gleichzeitig solle die Partei die führende Rolle im Kampf gegen die Konterrevolution einnehmen und dazu weiter in den Räten als zentralem Arbeitsfeld tätig sein und auch die Einheitsfronttaktik gegenüber anderen Sowjetparteien anwenden.

Es war sicher korrekt, die Agitation für „Alle Macht den Sowjets!“ in der bislang gebräuchlichen Weise zurückzuziehen, sobald die Parteien der Mehrheit darin ihre totale Komplizenschaft mit den Konterrevolutionären bloßgelegt hatten.

Der drohende Kornilow-Putsch zeigte aber auch, dass Lenin mit der Einschätzung falsch lag, dass die Räte nicht erneuert oder wiederbelebt werden könnten. Im Gegenteil, der Kampf erfüllte sie mit neuer Energie – und veränderte sie auch:

„Die Sowjet-Organisationen zeigten überall, an der Front wie im Hinterland, ihre Lebensfähigkeit und ihre Macht gerade im Kampf gegen den Kornilow’schen Aufstand. Bis zu einer Schlacht ist es fast nirgends gekommen. Die revolutionäre Masse fegte den Putsch des Generals auseinander. Wie die Vermittler im Juli in der Petrograder Garnison keine Soldaten auftreiben konnten, so fand auch jetzt Kornilow auf der ganzen Front keine Soldaten gegen die Revolution.“ (78)

Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch ist das berühmt gewordene Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik. In „An das Zentralkomitee der SDAPR“ (79) skizziert Lenin sehr anschaulich, wie die Bolschewiki gegen Kornilow kämpfen sollten.

Dabei richtet er sich gegen eine rechte Abweichung von der Einheitsfronttaktik, wie sie von Teilen der Bolschewiki wie Wolodarski vertreten wurde. Diese schlugen einen Block mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zur Unterstützung der Provisorischen Regierung vor. Die von Kamenew stark beeinflusste Sowjetfraktion steuerte in diese opportunistische Richtung. Zweifellos zeigt sich daran das Bestreben des rechten Parteiflügels, eine Einheitsfront gegen die Konterrevolution als Schritt zur Bildung einer Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu betrachten.

Der linke Flügel der Partei andererseits wies durchaus ultralinke Tendenzen auf, selbst bis hin zur Ablehnung jeder Form der praktischen Zusammenarbeit mit den Sowjetorganen, die von deren Mehrheit zu Verteidigungszwecken eingerichtet worden waren. Diese Haltung stieß aber angesichts der realen Entwicklung rasch an ihre Grenzen und war relativ leicht zu überwinden. Die rechte Abweichung stellte die größere politische Gefahr dar.

Lenin kritisiert sie scharf, weil es eine Aufweichung in der Frage der Landesverteidigung, einen Übergang zum Sozialpatriotismus mit sich bringen würde und damit eine Absage an den Internationalismus. Er führt die notwendige Taktik dabei folgendermaßen aus:

„Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik‘ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen.

Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche.“ (80)

Und weiter:

„Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, aber jetzt ist das die Hauptsache geworden; darin besteht die Änderung.“ (81)

Lenin verdeutlicht hier, wie die Einheitsfrontpolitik in eine Strategie zur Machtergreifung eingebettet ist. Der Opportunismus des rechten Flügels der Bolschewiki in der Frage hängt umgekehrt eng mit deren Opportunismus in der Regierungsfrage zusammen.

Lenin führt im selben Brief auch noch aus, wie er sich den aktuellen Kampf gegen Kerenski vorstellt.

„Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt verstärkte Agitation für gewisse ‚Teilforderungen‘ an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf.“ (82)

Im Gegensatz zu vielen „radikalen Linken“, denen bis heute die Einheitsfronttaktik ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist, betrachtet Lenin die Forderungen an Kerenski, an die menschewistisch-sozialrevolutionäre Regierung und Sowjetführung als Mittel zum Kampf gegen diese. Setzen sie die Forderungen um, wird das die Dynamik der Bewegung steigern. Widersetzen sie sich, verschleppen sie diese usw., entlarvt das die Schwäche, den Unwillen und den konterrevolutionären Charakter Kerenskis. Lenin hält eine solche Taktik für notwendig, für eine „Hauptsache“, um so den schon vor sich gehenden Ablösungsprozess der Massen von den kleinbürgerlichen Kräften zu beschleunigen. Die Revolution wie jede revolutionäre Politik braucht – gerade weil sie auch ein Wettlauf gegen die Zeit ist – eine aktive, vorwärtstreibende Politik und kein passives Warten, bis sich die falsche Führung ohnedies diskreditiert hat.

Die Forderungen an die Führung müssen schließlich mit solchen an die Basis, an die Massen kombiniert werden.

„Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, daß sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die ‚Retsch‘ und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die ‚linken‘ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.“ (83)

Auf dem Weg zur Macht

Diese Politik, wie sie in der Taktik der Partei und ihrer Propaganda zum Ausdruck kommt, hat den Weg zur Machtergreifung beschleunigt, ja in gewisser Weise überhaupt erst möglich gemacht.

Die Niederlage Kornilows schafft in Lenins Augen noch einmal eine Situation, in der eine „friedliche Machtübernahme“ möglich werden könnte. In „Über Kompromisse“ (84) bietet er den Menschewiki und Sozialrevolutionären an, auf einen gewaltsamen Sturz zu verzichten, wenn sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ verwirklichen, indem sie „eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki“ (85) bilden. Diese Bedingung präzisiert Lenin noch dahingehend, dass die Regierung nicht nur einzig und allein den Sowjets verantwortlich sein, sondern auch die ganze örtliche Macht auf die Sowjets übergehen müsse.

Im Gegenzug würden die Bolschewiki auf die Eroberung der Macht mit „revolutionären Mitteln“ verzichten, wenn ihnen volle Propaganda und Agitationsfreiheit zugesichert würde. Sie würden für ihre Politik und für die Machtübernahme innerhalb der Sowjetdemokratie kämpfen. Die Möglichkeit für die Verwirklichung eines solchen Kompromisses schätzt Lenin schon beim Verfassen des Schreibens sehr gering ein und hält sie schon wenige Tage später für unmöglich, sie zeigt aber seine taktische Flexibilität, die Form des Kampfes um die Macht sich rasch verändernden Bedingungen anzupassen.

Die Schrift selbst stieß den linksradikalen Flügel der Partei durchaus vor den Kopf. Die radikalen UnterstützerInnen Lenins fürchteten eine Rechtsentwicklung. Umgekehrt versuchte der rechte Flügel „Über Kompromisse“ für seine Zwecke zu missbrauchen. Ihm schwebte nämlich eine strategische, langfristige Allianz aller Sowjetparteien vor. Für Kamenew war letztlich Russland noch nicht reif für eine sozialistische Umwälzung. Dieser menschewistische Standpunkt wiederum bildete eine organische Basis für den Opportunismus. Lenin, Trotzki und andere Parteiführer hingegen sahen selbst in „Über Kompromisse“ eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Räteregierung nur als ein Übergangsstadium zur Diktatur des Proletariats, zu einer Sowjetregierung unter bolschewistischer Führung, an.

Die Bedingungen für den „Kompromiss“ wurden durch die Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki selbst zunichte gemacht. Deren Spitzen dachten nicht daran, eine Kursänderung vorzunehmen. Nach dem Kornilow-Putsch sollte die Regierung umgebildet werden, Kerenski weiter an ihrer Spitze bleiben, das Bürgertum sollte weiter vertreten sein, wenn auch ohne Kadetten, die durch ihre Kollaboration mit dem Putschversuch zu diskreditiert schienen. Die „kleinbürgerliche Demokratie“ versuchte,  die Koalition mit der Bourgeoisie um jeden Preis fortzusetzen – notfalls auch nur mit dem „Schatten der Bourgeoisie“.

Zugleich vollzogen sich entscheidende Veränderungen, die die Machtübernahme unter Führung der Bolschewiki und die Notwendigkeit des Aufstandes auf die Tagesordnung setzten.

Dazu gehörte erstens eine immer größere Linksentwicklung in den Räten. Anfang September ging die Mehrheit in Petersburg an die Bolschewiki über, im Laufe des Monats vollzog sich diese Entwicklung in vielen anderen Städten. Nicht nur die ArbeiterInnenklasse drängte auf Entscheidung und radikalisierte sich. Auch die Stimmung in der Garnison in Petersburg wie an der Front ging mehr und mehr nach links.

Die Partei der Sozialrevolutionäre spaltete sich, der linke Flügel näherte sich den Bolschewiki an. Das spiegelte auch die Stimmung in der Armee, vor allem aber in der Bauernschaft und die sich ausweitende Agrarrevolution wider.

Die Bolschewiki hatten die Russische Revolution immer als Bündnis zweier Klassen, von ArbeiterInnen und Bauern konzipiert. Anders als 1905 jedoch betonten sie – ähnlich wie Trotzki in der Theorie der Permanenten Revolution – die Notwendigkeit, sich der unterschiedlichen Klasseninteressen von ArbeiterInnenschaft und Bauern bewusst zu sein, weil in der proletarischen Revolution diese – selbst im Falle eines Bündnisses – von Beginn an auch zur Geltung kommen müssten. Das geht auch damit einher, dass es eine stärkere Betonung auf die Organisierung des Landproletariats, der halb-proletarischen Schichten, wie der Klassendifferenzierung in der Bauernschaft gab. (86) Für das Landproletariat und die halb-proletarischen Schichten sollen eigene Organisationsformen, Verbände geschaffen werden, um auf dem Land eine hegemoniale Stellung und ein enges Bündnis mit der Masse der Kleinbauern zu erwirken.

Die Unterstützung der Landrevolution im Sommer 1917 war ein entscheidendes Mittel, die Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen – zumal sich die Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen die Enteignung des Gutsbesitzes von unten stellten.

Einen weiteren wichtigen Aspekt bildet auch die nationale Frage, die in etlichen Teilen Russlands eng mit der Landfrage verbunden war. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – einschließlich ihres Rechtes auf Lostrennung – verteidigte.

Schließlich hat sich die Lage auch dadurch geändert, dass die Zerrüttung durch den Krieg, die instabilen Verhältnisse usw. die Gefahr einer allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Katastrophe (Blutzoll an der Front, Hunger, Stillstand der Betriebe, weiterer Zerfall des gesellschaftlichen Austausches) hervorbrachten.

Ende September 1917 bringt Lenin dieses Problem deutlich auf den Punkt in „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (87), das ein Aktionsprogramm zur Abwendung des Niedergangs präsentiert. Lenin setzt sich darin mit allen Grundfragen der Revolution auseinander und propagiert eine Reihe von Übergangsforderungen, die allesamt die Machtübernahme, die Beendigung der Doppelmacht erfordern. Nur so könne die Katastrophe abgewendet werden

„Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Treiben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt werden und die Arbeit der demokratischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski und seiner Regierungsmehrheit vereitelt wird, wieder in Gang gebracht werden.

Die Bolschewiki – das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit – handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern entgegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, …“ (88)

Aufstand

In einer Situation des Zerfalls des Landes, der Bauernrevolution, nationaler Unruhen, des weiteren Verlustes des Einflusses von Sozialrevolutionären und Menschewiki, der Diskreditierung der Bourgeoisie vsuchte die Konterrevolution verzweifelt nach einer neuen Basis für ihre Macht. Dies wurde zusätzlich dringlicher, als die Mehrheit in den Räten immer häufiger nach links, zu den Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären überging.

Beratungen wie die „Demokratische Staatskonferenz“, die aus VertreterInnen aller Klassen, von Räten, Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Wirtschaftsvertretern, Militärs, bürgerlichen Wissenschaftern usw. bestand und Ende September tagte, sollten den Rahmen für eine „Verständigung“ und eine neue Koalition bilden. Die Anhänger einer Koalitionsregierung, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hofften, so eine neue Grundlage für eine Regierung der Klassenzusammenarbeit zu finden, während die Kapitalistenklasse und die Stäbe des russischen Imperialismus auf einen Diktator als letzte Rettung hofften und sogar erwogen, Petrograd dem deutschen Imperialismus zu überlassen, um die Revolution zu vernichten. Diese Mischung aus Reaktion und Verzweiflung äußerte sich in einer instabilen Regierung und drängte zu einem weiteren Versuch, eine bonapartistische Herrschaftsform zu etablieren.

Die Entwicklung stellte auch die Bolschewiki vor die Frage, wie auf die geänderte Lage zu reagieren sei. Von Beginn bis Mitte September hatte Lenin die Möglichkeit einer „friedlichen Entwicklung“ der Revolution, eines Kompromisses mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki als Schritt zu einer Machtergreifung ins Auge gefasst, bald jedoch verworfen. Der rechte Parteiflügel orientierte sich hingegen auf eine solche Entwicklung, auf eine Allianz der „Sowjetparteien“.

Dessen Stärke verdeutlicht die Abstimmung über die Frage des Austritts aus der Staatskonferenz und des Boykotts des „Vorparlaments“, das der sog. Staatskonferenz folgen sollte.

Kamenew und seine Anhänger waren für einen Verbleib, um die Koalitionspolitik zu denunzieren und ein Bündnis mit den schwankenden Elementen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu bilden und so den Grundstein für einen „sozialistischen Block“ am Sowjetkongress zu schaffen.

Der linke Flügel um Trotzki trat für einen demonstrativen Auszug aus der Staatskonferenz ein und für den Boykott des Vorparlaments, um damit den Bruch mit den Versöhnlergruppen zu unterstreichen und mit der Agitation für die Machtübernahme der Sowjets durch alle revolutionären Gruppierungen zu verbinden.

Beide Strömungen waren für die Einberufung eines Sowjetkongresses – allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Zielen. Das Zentralkomitee stimmte zwar mit 9:8 Stimmen für den Boykott des Vorparlaments, entschied aber auch, die endgültige Beschlussfassung einer gemeinsamen Sitzung der Führung und der Delegierten zur Demokratischen Konferenz zu überlassen. Dort unterlagen die Linken mit 50:77 Stimmen. Der Verlauf des „Vorparlaments“ hatte zwar eine korrigierende Wirkung und führte zu einem öffentlichkeitswirksamen Auszug, dem das gesamte Zentralkomitee außer Kamenew zustimmte (89), aber trotzdem zeigten sich hier tiefe, strategische Differenzen.

Auf der anderen Seite hatte Lenin schon zuvor entschieden auf eine Neuorientierung der Partei, auf den Kurs in Richtung Aufstand gedrängt. Er betonte dabei zu Recht, dass die Frage des Aufstandes praktisch gestellt sei. „Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.“ (90)

Er betont die Dringlichkeit der Aufgabe, weil eine Preisgabe Petrograds drohe, der Sowjetkongress selbst verschoben oder sabotiert werden könne. Die Bolschewiki, so Lenin, hätten die Pflicht, die Macht durch einen Aufstand in Petrograd und Moskau zu errichten und dürften dabei auch nicht auf den Sowjetkongress oder eine formelle Mehrheit warten.

Lenins entschiedener Kurs auf einen raschen Aufstand verschreckte nicht nur die Partei-Rechte, auch viele Aufstandsbefürworter waren im Gegensatz zu ihm der Meinung, dass er die politische Vorbereitung des Aufstandes unterschätze, und traten dafür ein, diesen unter Ausnutzung der Sowjetorgane durchzuführen.

Lenin umgekehrt befürchtete, angesichts der Stärke und Hinhaltepolitik des rechten Flügels, dass der Aufstand verschleppt würde. Er trat daher sehr entschieden für die Anhänger des Boykotts des Vorparlaments ein. So notiert er am 23. September:

„Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!

Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. (…)

Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung.

Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen außerordentlichen Parteitag herbeiführen. Man muß sofort die Frage des Boykotts zur Plattform für die Wahlen zum Parteitag und für sämtliche Wahlen innerhalb der Partei machen.“ (91)

Aus diesen Zeilen wird deutlich, dass er den Fehler in der Boykottfrage im Kontext der grundsätzlichen Ausrichtung betrachtete, als Zeichen für die Ablehnung des Kurses der Machtergreifung durch den rechten Flügel und die „,parlamentarischen‘ Spitzen der Partei“.

Sein Drängen auf den Aufstand trägt ohne Zweifel maßgeblich dazu bei, dass die Partei den Kurs auf den Oktober einschlägt. Lenin wendet sich dabei auch an „untere“ Parteifunktionäre, kämpferische Regionalkomitees, um das „lasche“ Zentralkomitee unter Druck zu setzen. An bestimmten Punkten droht er sogar mit einem Austritt aus der Parteiführung, um nicht an deren innere Loyalität gebunden zu sein, und sich direkt an die Parteibasis wenden zu können.

Bei der historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober tragen die Aufstandsbefürworter einen politischen Sieg davon. Die Revolution Lenins wird mit 10 zu 2 (Kamenew, Sinowjew) Stimmen angenommen.

„Das Zentralkomitee stellt fest, dass sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarischen Partei – daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) – daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.“ (92)

In ihrer schriftlichen Begründung (93) zeigen Kamenew und Sinowjew, wie tief ihre Differenzen sind, wie weit sie sich von den Aprilthesen und dem Kurs auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht entfernt haben. Nachdem sie darlegen, dass sie einen Aufstand für abenteuerlich halten, weil er zum Ruin der Partei und der Revolution führen würde, erklären sie, dass ihre zentrale Zielsetzung die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sei, die von der Bourgeoisie immer weniger blockiert werden könne. Die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie würden von links unter Druck kommen und gezwungen sein, eine Allianz mit dem Proletariat gegen die Kadetten einzugehen. Das bilde nicht nur die Basis für eine Allianz mit diesen Parteien, sondern auch für die Kombination der Konstituierenden Versammlung mit den Sowjets.

„Die verfassunggebende Versammlung kann natürlich nicht aus sich heraus das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändern. Aber sie wird verhindern, dass dieses Verhältnis weiter verschleiert wird. Es gibt kein Loswerden der Sowjets, die im Leben Wurzeln geschlagen haben. Die Räte üben schon jetzt vielerorts praktisch die Macht aus.

Die Konstituierende Versammlung kann sich in ihrer revolutionären Arbeit auch nur auf Sowjets stützen. Konstituierende Versammlung plus Sowjets – das ist die Kombination von staatlichen Institutionen, auf die wir uns zubewegen. Auf dieser Grundlage erhält unsere Partei eine riesige Chance auf einen wirklichen Sieg.“ (94)

Diese Stellungnahme der Partei-Rechten offenbart, dass sie noch immer der „demokratischen Revolution“ von 1905 verhaftet waren. Die Doppelmacht solle nicht zugunsten des Proletariats und der Masse der unteren Schichten der Bauernschaft gelöst, sondern in neuer Form weitergelebt werden, als „Mischung“ zwischen bürgerlichen und proletarischen Organen. Dieses Echo der historisch überholten Position des „alten“ Bolschewismus ist zugleich ein Vorbote des Rechtszentrismus der USPD, des hoffnungslosen Versuchs, Formen des bürgerlichen und proletarischen Staates zu ergänzen. Lenin denunziert die „Verfassungsillusionen“ Kamenews und Sinowjews entschieden. Ihre Perspektiven hätten nicht der Revolution, sondern der Konterrevolution zugearbeitet.

Der rechte Flügel der Partei hatte nicht vor, sich dem Beschluss für den Aufstand zu fügen und er war sicher auch einflussreicher, als das Stimmverhältnis am 10. Oktober nahelegt. Teile hofften, dass der Entscheidung keine praktischen und organisatorischen Maßnahmen folgen würden. Je konkreter jedoch die Aufstandsvorbereitungen und die praktischen Schritte wurden, desto illoyaler wurde die rechte Minderheit, die auch vor dem „offenen Streikbruch“, also der öffentlichen Distanzierung vom Kurs der Bolschewiki in der parteifeindlichen Presse nicht zurückschreckte. Lenin forderte daher den Ausschluss von Sinowjew und Kamenew – einen Schritt, den die Parteiführung jedoch ablehnte, weil sie eine Spaltung und damit noch größeren Schaden befürchtete.

Differenzen unter den AufstandbefürworterInnen

Unter den AufstandsbefürworterInnen gab es zwar keine Differenzen über das Ziel, wohl jedoch über den Weg zur Machteroberung. Lenin vertrat von Beginn an, dass die Bolschewiki selbst den Aufstand initiieren und dann die Macht auf die Räte übertragen müssten. Er lehnte es strikt ab, auf einen Rätekongress zu warten.

„Der Sowjetkongreß ist auf den 20. Oktober verschoben worden. Das entspricht angesichts des Tempos, in dem Rußland lebt, benahe einem Aufschub auf den Sankt-Nimmerleinstag.“ (95)

In einem Brief an Smilga, einen der linkesten Bolschewiki dieser Tage, betont er die Notwendigkeit des sofortigen Handelns.

„Meines Erachtens muß man zur richtigen Orientierung der Geister sofort folgende Losung in Umlauf setzen: Die Macht muß sofort in die Hände des Petrograder Sowjets übergehen, der sie dem Sowjetkongreß übergeben wird. Denn wozu soll man noch drei Wochen des Krieges und der ‚kornilowschen Vorbereitungen‘ Kerenskis hinnehmen“. (96)

Noch nachdrücklicher:

„Man muß ‚aussprechen was ist‘, die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muß niedergekämpft werden. (…)

Den Sowjetkongreß ‚abwarten‘ ist Idiotie, denn der Kongreß wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!“ (97)

„Zögern wäre ein Verbrechen. Den Sowjetkongreß abwarten wäre kindische Formalitätsspielerei, schändliche Formalitätsspielerei, wäre Verrat an der Revolution.“ (98)

im Zentralkomitee noch eine dritte Gruppierung in der Aufstandsfrage. Während die Rechten durch die Logik ihrer Argumentation gezwungen waren, von der Losung „Alle Macht den Räten“ abzurücken und Lenin in Anlehnung an die Julitage die Überrumpelung durch den Feind befürchtete (99), setzte die dritte Strömung um Trotzki, darauf, die bestehenden Sowjetinstitutionen für den Aufstand zu nutzen, diesen als „defensive“ Aktion durchzuführen.

„Eine andere Haltung, die taktisch vorsichtige Bolschewiki einnahmen – vor allem diejenigen, die in den Sowjets oder in anderen typischen Einrichtungen an der Basis aktiv und daher besonders gut mit der vorherrschenden Stimmung der Massen vertraut waren – sah folgendermaßen aus: (1) Die Sowjets (wegen ihres Ansehens bei Arbeitern und Soldaten) und nicht die Organe der Partei sollten beim Sturz der Provisorischen Regierung zum Einsatz kommen. (2) Um die breitest mögliche Unterstützung zu erhalten, sollte jeder Angriff auf die Regierung als Verteidigungsaktion im Auftrag der Sowjets dargestellt werden. (3) Aus diesem Grund sollte eine solche Aktion solange aufgeschoben werden, bis sich ein passender Vorwand für den Aufbruch zum Kampf bot. (4) Um potenziellen Widerstand zu unterlaufen und die Erfolgschancen zu erhöhen, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, die Macht der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege zu untergraben. (5) Der formelle Sturz der Regierung sollte durch die Entscheidungen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses legitimiert werden.“ (100)

Eine für die Revolution wichtige und auch beispielhafte Form der Ausnutzung der Sowjetorgane war das „militärische Revolutionskomitee“, eine ursprünglich von den Menschewiki vorgeschlagene Institution, die von den Bolschewiki unter Einbeziehung der linken Sozialrevolutionäre zur Aufstandsvorbereitung verwendet wurde:

„Indem es die Kommission zur Ausarbeitung der Verordnung für das ‚Komitee der Verteidigung‘ ins Leben rief, hatte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets für das Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit der Nordfront und dem Stab des Petrograder Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem Distriktsowjet von Finnland zur Klärung der militärischen Situation und der notwendigen Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes der Garnison von Petrograd und Umgebung, wie auch der Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Disziplin in den Soldaten- und Arbeitermassen. Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten sich fast sämtlich an der Grenze zwischen Verteidigung der Hauptstadt und bewaffnetem Aufstande. Aber diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das Element der Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen worden, sondern ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des Vorabends des Aufstandes.“ (101)

Während  die Anschläge der Regierung auf die Petersburger Garnison und deren drohende Verlegung in Lenins  Augen  die Notwendigkeit eines Losschlagens ergaben, sahen die Anhänger Trotzkis gerade darin eine Möglichkeit, die Sowjetorgane zu nutzen.

„Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im Sowjet die Verordnung über das Militärische Revolutionskomitee. Aber jenen Standpunkt, der sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte Krylenko, der soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko den Sowjetkongreß des Norddistrikts geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß ‚das Wasser genügend siedend ist‘; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen, ‚wäre der größte Fehler‘. Er geht jedoch mit Lenin auseinander ,in der Frage, wer beginnt und wie beginnen‘. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur Zeit noch unzweckmäßig. ‚Doch die Frage des Abtransports der Truppen bildet gerade jenes Moment, wo der Kampf einsetzen wird … Die Tatsache, daß wir angegriffen sind, ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden … Sich darum sorgen, wer beginnen soll, ist überflüssig, denn der Beginn ist bereits da.‘ Krylenko legte dar und verteidigte die Politik, die das Fundament des Militärischen Revolutionskomitees und der Garnisonberatung bildete. Der Aufstand entwickelte sich in der Folge just auf diesem Wege.“ (102)

Lenins Konzeption hatte zweifellos einen Vorzug – die Schnelligkeit. Aber sie hatte auch einen offenkundigen politischen Nachteil. Eine Aufstandsbewegung, die nicht aus den Sowjetorganen erwächst, verfügt über eine weitaus geringere gesellschaftliche Basis.

Lenins langes und letztlich vergebliches Insistieren auf einen von der Partei ausgelösten oder ausgerufenen Aufstand hatte neben berechtigten Befürchtungen und geringer Nähe zur Basis eine weitere Ursache. Im Gegensatz zu Trotzki erkannte er nicht die Möglichkeiten, die sich aus den Institutionen der Doppelmacht für den Aufstand ergaben, die ihn erleichterten und schwer angreifbar machten. Lenin beschreibt die Räte in seinen Artikeln vor dem Aufstand oft als „machtlos“, „schwächlich“, als Organe der Selbstorganisation, auf die erst durch den Aufstand die Macht übertragen werden könne. Für ihn müssen die Räte vor die Tatsache der erfolgreichen Machtübernahme gestellt werden, der erfolgreiche Aufstand könne zwar Räteorgane zu Hilfe nehmen, der Aufstand sei aber ein militärisch-politischer Ansturm von außen.

Zweifellos ist die von Lenin immer wieder dargelegte Schwäche oder Ohnmacht der Räte, gerade unter nicht-revolutionärer Führung, ein reales Moment. Aber er blendet zugleich aus, dass die Sowjets im Bewusstsein der Massen auch schon legitime Machtorgane sind, solange es eine Doppelmachtsituation gibt. Daran knüpft die erfolgreiche Aufstandstaktik im Oktober an.

„Den Februaraufstand nennt man elementar. An anderer Stelle haben wir in diese Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls richtig, daß im Februar niemand die Wege der Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand hat in Fabriken und Kasernen über die Frage der Revolution abgestimmt; niemand von oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte, zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.

Ganz anders verhielt sich die Sache im Oktober. Während der 8 Monate hatten die Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse, sondern lernten auch deren Zusammenhänge begreifen; nach jeder Tat erwogen sie kritisch deren Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks, Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden, konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in der Frage des Aufstandes etwa verzichten?“ (103)

Das Militärische Revolutionskomitee zum Organ des Aufstandes zu machen, die Sozialrevolutionäre einzubeziehen war ein genialer Akt, dessen Stärke aus einem richtigen Verständnis der Möglichkeiten der Sowjets erwächst.

Dass der Aufstand dabei relativ unblutig vonstatten ging, dass er relativ „ruhig“ erschien, ist im Übrigen auch ein Resultat der Tatsache, dass die Revolution den Staatsapparat schon weitgehend zerbrochen hatte. Die Soldaten waren über die Sowjets ins Lager des Oktober übergetreten, der Aufstand war – wie jeder Aufstand – erfolgreich, weil er eine breite gesellschaftliche Basis hatte. Ansonsten hätte sich die Sowjetmacht nicht halten und erst recht nicht die Eigentumsverhältnisse im Land umwälzen können.

Die Bedeutung der Räte, Milizen, der Roten Garden für die Revolution ist eng mit dem Oktober verbunden. In der Tat liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres Erfolges wie auch für die revolutionären Politik unserer Zeit gerade darin, das Verhältnis von Klasse, Partei und Räten richtig zu verstehen.

„Wäre es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen der Partei aufzurufen? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Doch vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden: die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die andere, zahlreichste, die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.

Diese Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau, sondern im großen Maße auch nach der sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier. Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen, ging die Mehrheit der Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon oder obwohl darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten der Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile der Armee einschließlich der Kosaken; die Bauern, die sich von der Führung der sozialrevolutionären Partei befreit hatten und sich an deren linken Flügel klammerten.

Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der Bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt. Es ist dahinter nichts Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein richtig angewandter Hebel verleiht der menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige Hand ist der Hebel nur eine tote Stange.“ (104)

Mit dem Sieg des Aufstandes geht die Macht an die von den Bolschewiki geführten Räte über, die Doppelmacht wird beendet. Der Rat der Volkskommissare wird gebildet, erste Dekrete der Sowjetmacht werden erlassen.

Die Oktoberrevolution hat nicht nur eine Bresche in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschlagen, ihre Entstehung, ihr Verlauf, ihr späterer Niedergang, vor allem aber die Strategie und Taktik der Bolschewistischen Partei sind bis heute ein Bezugspunkt für alle, die für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse, für die sozialistische Weltrevolution kämpfen.

Klasse, Partei, Räte

Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. In ihnen konzentrieren sich politische, wirtschaftliche und ideologische Klassenkämpfe und Widersprüche einer Gesellschaft, die über ganze Perioden die Verlaufsformen ihrer inneren Auseinandersetzung, Entwicklung und Nicht-Entwicklung prägen.

Diese geschichtlichen Perioden stellen die Verhältnisse in Frage, die der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, den Angehörigen der herrschenden wie beherrschten Klassen als „Gewissheiten“ erscheinen. Die inneren Widersprüche, die sich in den „Tiefen“ der Gesellschaft über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entwickelt haben, die jedoch an deren Oberfläche als „reguliert“ erschienen, treten dann offen hervor. Revolutionen sprengen diesen inneren Zusammenhang, treten eruptiv als gesellschaftliche „Explosionen“, als Sprünge in Erscheinung. Obwohl, ja weil sie aus den gesellschaftlichen Gegensätzen erwachsen, die für lange Zeit auch die Basis jener politischen, staatlichen, sozialen Formen bildeten, in deren Rahmen das politische, wirtschaftliche und soziale Leben reproduziert wurde, „überraschen“ Krisen und erst recht deren revolutionäre Zuspitzung alle Klassen und ihre Parteien.

Revolutionen scheinen die Verhältnisse „auf den Kopf“ zu stellen. Sie erscheinen nicht nur den direkten Parteigängern der alten Ordnung als „Wahnsinn“, sondern auch den AnhängerInnen einer „vernünftigen“, schrittweisen, graduellen „Reform“ der Gesellschaft. Dieser Schein wird zusätzlich dadurch genährt, dass sie  die in Bewegung geratenen Massen wie auch die entschlossensten GegnerInnen der bestehenden Ordnung „überraschen“.

Dabei treten die unterdrückten Klassen als Subjekte, als Akteure hervor. Diejenigen, die gestern noch bloßes Ausbeutungsmaterial oder Kanonenfutter waren, die allenfalls über gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf ihre Interessen vertreten mussten oder konnten, werfen sich in den Kampf um eine Neuordnung der Gesellschaft, werfen die Machtfrage auf. Sie scheinen in eine andere Welt katapultiert zu werden. Sie machen wirklich Geschichte, wenn auch nicht aus freien, selbst gewählten Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Die zur revolutionären Aktion Gestoßenen agieren zwar ohne klares Bewusstsein der Verhältnisse, die sie treiben, kombinieren daher unvermeidlich Vergangenes mit Zukünftigem, Fortschrittliches mit Reaktionärem. Wie die Gesellschaft selbst ist ihr Bewusstsein im Fluss, weil ihr Handeln über das Bestehende hinausdrängt, ja schon hinausgegangen ist.

Das trifft letztlich auch auf diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse zu, die politisch-ideologisch und theoretisch die Revolution vorweggenommen, gewissermaßen durchdacht haben, die sich schon als Avantgarde formierten oder dabei waren/sind, diesen Schritt zu unternehmen.

Auch sie können von der Revolution „überrascht“ werden. Selbst Lenin fürchtete gelegentlich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dass seine Generation eine tiefe, längerfristige konterrevolutionäre Entwicklung durchleben müsse, dass die russische und internationale Revolution in weite Ferne gerückt wäre und ihm „nur“ die Vorbereitung der Zukunft verbliebe.

Dabei hat er mehr als andere die Triebkräfte analysiert und verstanden, die zum Ausbruch der Russischen Revolution geführt haben. Die ganze strategische Ausrichtung der bolschewistischen Politik, die Politik des „revolutionären Defaitismus“ zielte auf die Umwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie. Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung – einschließlich der meisten linken oder pazifistischen KriegsgegnerInnen – charakterisierte der Bolschewismus die imperialistische Epoche als eine von Krieg und Revolutionen.

Die episodischen Unsicherheiten Lenins bezüglich des Tempos der Entwicklung und erst recht die Tatsache, dass die Bolschewiki wie alle anderen Parteien von der Februarrevolution überrascht wurden, scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass Revolutionen letztlich nicht „vorhersehbar“ sind.

In Wirklichkeit sprechen solche Fakten nicht gegen das marxistische Verständnis von Revolution und Konterrevolution. Vielmehr vermag der Marxismus selbst die Notwendigkeit des Auftretens solcher „Zufälle“ zu erklären, zu verstehen.

Blinde Gesetzmäßigkeiten

Die Grundstruktur des Kapitalismus selbst führt nämlich dazu, dass Revolutionen auf der Oberfläche der Gesellschaft als etwas „Zufälliges“, „Irrationales“ erscheinen müssen. In der kapitalistischen Gesellschaft können sich ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und ihre Dynamik nur „blind“, hinter dem Rücken unabhängiger Privatpersonen vollziehen. In einer Gesellschaftsformation, die auf allgemeiner Warenproduktion basiert, machen sich diese den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend, die immer nur im Nachhinein zeigen, welches Handeln erfolgreich, welches Produkt nützlich, welche Unternehmung profitabel war. Alle politischen, staatlichen Strukturen, Unterdrückungsverhältnisse, vorhergehende Produktionsweisen usw. sind letztlich von der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt, mögen sie auch noch so „autonom“ erschienen.

Auch wenn sich die bürgerliche Gesellschaft im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung oft als sehr anpassungsfähig und „elastisch“ erwiesen hat, so kann sich staatliches und politisches Handeln nie vom prägenden anarchischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise frei machen. Akute gesellschaftliche Krisen sind daher nicht nur „bloß“ ökonomische Krisen. Das liegt erstens daran, dass auch den ökonomischen Widersprüchen immer ein Klassenwiderspruch zugrunde liegt, dass sich in einer allgemeinen ökonomischen Krise daher notwendigerweise die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Klassen erhebt. Zweitens liegt der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwar ein Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im Bereich der gesellschaftlichen Produktion zugrunde, aber dieses stellt eben nur die Basis für die Gesamtheit des politischen, ideologischen Überbaus der Gesellschaft dar, kann durchaus andere Produktionsweisen noch beinhalten. Drittens ist die kapitalistische Gesellschaftsformation immer schon ein internationales System, die Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems ist daher immer auch eines zwischen nationalen Kapitalien und Staaten, die bei einer Zuspitzung der Krisentendenzen notwendig um die Neuaufteilung der Welt kämpfen müssen.

Schließlich hat die Tatsache der Trennung von Ökonomie und Politik, wie sie auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft notwendig erscheint, zur Folge, dass sich „grundlegende“ Krisen, zentrale Konflikte vermittelt oder an scheinbaren „Nebenfragen“ entzünden. So entzünden sich viele Revolutionen an Fragen der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Würde, was dazu verführen mag, ihnen ihren „grundlegenden“ Charakter abzusprechen. In Wirklichkeit zeigt der Verlauf vieler dieser Umstürze, dass dahinter immer auch „handfeste“ ökonomische Fragen stehen. Zweitens stellen letztlich auch die Fragen der Gleichheit, demokratischer Rechte, von Krieg und Frieden, der sozialen Unterdrückung auch Fragen des Klassenkampfes dar, die in bestimmten Situationen sogar zu den Kernfragen der Revolution werden können.

So entflammte die verzweifelte Selbstverbrennung eines deklassierten jungen Menschen die arabischen Revolutionen.

Auch die russischen Revolutionen 1905 oder 1917 brachen gewissermaßen „zufällig“ aus. Oberflächliche Gemüter ziehen daraus gern den Schluss, dass diese geschichtlichen Erdbeben durch klügeres Handeln, frühzeitigere Reformen vermieden hätten werden können. Wäre 1905 nicht in die Demonstrationen geschossen worden, hätte der Zar die Petitionen der ArbeiterInnen zur Kenntnis genommen, wäre der Zar 1917 oder noch früher abgetreten, hätte es demokratische Reformen gegeben, wäre die Zivilgesellschaft entwickelter gewesen – die russischen Revolutionen wären uns erspart geblieben.

Solche hoffnungsvollen Erwägungen beschränken sich natürlich nicht auf ein Land. Ein ganz ähnliches Räsonieren liegt der Vorstellung zugrunde, dass  der Faschismus in Deutschland hätte verhindert werden können, wenn alle auf die Weimarer Verfassung geschworen hätten… All das läuft letztlich darauf hinaus, dass große geschichtliche Umwälzungen – Revolutionen wie Konterrevolutionen – durch „vorausblickendes“, rationales politisches Verhalten von Regierung und Bevölkerungsmehrheit hätten vermieden werden können.

Sicherlich lag etwas „Zufälliges“ darin, dass bestimmte Ereignisse zum offenen Ausbruch von Revolutionen führten. Das bedeutet aber nur, dass politisches Handeln den Ausbruch und die Verlaufsform bestimmter Krisen verändern kann, nicht jedoch die grundlegenden Widersprüche, die zu ihrem offenen politischen Ausbruch drängen. Das würde nämlich erfordern, dass  in einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der großen Mehrheit beruht, in einer globalen Krisensituation, die den Spielraum für Kompromisse eng begrenzt, alle Klassen im Interesse einer „höheren“, über der Gesellschaft stehenden vernünftigen Ordnung auf die Verfolgung ihrer jeweiligen eigenen Interessen verzichten müssten. Sie müssten den Klassenkampf einstellen, wenn er  seine akuteste Form annimmt.

In revolutionären Krisen bedeutet es, die Revolution selbst auf einen Kompromiss zwischen den Klassen beschränken zu wollen, im Falle Russlands auf die Etablierung der bürgerlichen Demokratie, auf eine langfristige demokratische Etappe. Das Programm der kleinbürgerlichen Demokratie ist ein Programm, das nur in Verzicht auf die Machtergreifung enden und auf  Verrat und Unterordnung der unterdrückten Klassen, von Proletariat und Bauernschaft unter jenes der imperialistischen Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes hinauslaufen kann.

Es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse, mag sie auch in aufstrebenden Phasen einer Revolution gezwungen sein, auf die Kräfte der klein-bürgerlichen Demokratie (oder des sozialdemokratischen oder stalinistischen Reformismus) zu setzen, früher oder später entschiedene Maßnahmen gegen die revolutionären Kräfte fordern muss und durchzusetzen versucht. So wie die Revolution kann auch sie nicht auf halbem Wege stehenbleiben, kann sich auch die herrschende Klasse nicht mit halben Lösungen zufrieden geben. Sie will nicht nur, sie braucht eine ganze Konterrevolution.

Weil die Revolution alle Elemente der Gesellschaft, ihre ökonomische Basis wie ihren politischen Überbau in den Grundfesten erschüttert und in ihrer Zuspitzung Formen der Doppelmacht hervorbringt, die nur zugunsten einer der beiden Hauptklassen gelöst werden kann, führt sie unvermeidlich dazu, dass sich auch jene Institutionen, die dem gemeinen, „demokratischen“ Verstand als Mittel des Ausgleichs, der „friedlichen“ Beilegung des Konflikts erscheinen, rasch abnutzen, verbrauchen, als ungeeignet erweisen. Das trifft auf alle Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts zu, auch, und gerade auf jene, die als demokratische Revolutionen beginnen.

Auf den Kopf gestellt

Die bürgerliche – und dazu gehört auch die sozialdemokratische – Geschichtsschreibung stellt diese Zusammenhänge in der Regel auf den Kopf. Selbst wenn sie tiefe ökonomische Ursachen, soziale Verwerfungen für revolutionäre Ausbrüche anerkennt, so erblickt sie im Radikalismus der konsequent revolutionären Kräfte wie der entschlossenen Reaktion keinen gesetzmäßigen Ausdruck des Klassenkampfes, sondern den Hort der „Unvernunft“, eine irrationale Überspitzung, die durch institutionelle Arrangements, Demokratie, Zivilgesellschaft usw. eigentlich zu verhindern wäre. Allen gesellschaftlichen Zuspitzungen, der Revolution wie der Konterrevolution, wird ein grundlegend irrationaler Charakter zugesprochen. Revolutionen erscheinen nicht als Motoren, sondern als Betriebsunfälle der Geschichte, hervorgerufen letztlich durch subjektive „Fehlentwicklungen“.

Die unterdrückten Klassen geraten in ihren Augen in vor-revolutionären oder revolutionären Situationen in eine Phase des politischen „Fieberwahns“, der „Unvernunft“ und „überzogener Erwartungen“. Sie erscheinen nicht als Klassensubjekte, die damit beginnen, die Last des Vergangenen abzustreifen, sondern als von den Radikalen „verführte“, „irregeleitete“, „radikalisierte und manipulierte“ Masse. Wo die Massen der Unterdrückten zu Subjekten werden und beginnen, den Alp des herrschenden Bewusstseins abzustreifen, spricht ihnen die bürgerliche Geschichtsschreibung ihre Bewusstheit ab. Der Unterdrückte gilt ihr nur als systemkonformer „Mitbürger“ als „vernünftig“. Wenn die ArbeiterInnen oder die bäuerlichen Massen, nationale und rassistisch Unterdrückte, Frauen, Jugendliche usw. ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, selbst den Rahmen bürgerlicher Herrschaft, ob nun in offen diktatorischer oder fürsorglicher, bürgerlich-demokratischer Herrschaft, sprengen, wenn sie in der revolutionären Aktion ihren Hass auf die bestehende Gesellschaft zum Ausdruck bringen, dann schlägt ihnen unvermeidlich der Klassenhass nicht nur der Herrschenden entgegen und zwar  nicht nur durch die äußerste Reaktion zu, sondern auch durch die Sozialdemokratie.

Die Oktoberrevolution erscheint in den primitiveren Varianten der bürgerlichen Kritik als „Putsch“ des Bolschewismus, in den etwas umsichtigeren als Resultat einer geschickten „Machtpolitik“, kluger Taktiererei der RevolutionärInnen. Das Programm und dessen taktische und organisatorische Konkretisierung erscheinen nicht als Antwort auf die brennenden gesellschaftlichen Probleme, die die Revolution erst hervorbrachten und auf die die Partei eine zusammenfassende Antwort gibt, sondern als geschicktes Mittel der Manipulation. Diese Auffassung geht bis weit in die „radikale“ Linke unserer Tage hinein, was neben den Entstellungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Geschichtsschreibung auch der stalinistischen Legendenbildung um die Partei Lenins zu verdanken ist.

In beiden werden Lenins Partei und ihr Programm zu einer sich immer gleich bleibenden Einheit. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse, zu deren Avantgarde, zu den anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft erscheint als ein undialektisches, in dem die „Partei“ immer schon recht hatte und einfach nur einheitlich und geschlossen das Richtige macht. Im Stalinismus tritt letztlich die Partei an Stelle der ArbeiterInnenklasse als Subjekt der Revolution.

Bewusstsein, Spontanität und Programm

Ein marxistisches Verständnis der Rolle der Partei muss von einem korrekten Verständnis des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse ausgehen. Aus sich heraus kann die ArbeiterInnenklasse nicht „spontan“ revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln. In nicht-revolutionären Perioden wird sie als ausgebeutete Klasse „spontan“ nur gewerkschaftliches und darauf aufbauendes reformistisches Bewusstsein entwickeln. Revolutionäres Klassenbewusstsein muss von außen in die Klasse getragen werden, auf Basis einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus und der Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrungen im Klassenkampf. Die unmittelbaren Erfahrungen des rein ökonomischen Kampfes oder des Kampfes um politische Reformen führen nicht nur nicht zu revolutionärem Bewusstsein, sie stehen dessen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad sogar entgegen, da sie, gerade wenn sie erfolgreich sind, eine graduelle Verbesserung der Klassenlage als möglich erscheinen lassen.

In revolutionären Perioden und Krisen wird dieser rein ökonomische und auch politisch-reformerische Horizont in Frage gestellt. Je nach Vorgeschichte der Klasse und internationaler Konstellation kann in diesen Phasen auch rasch über den Reformismus oder Ökonomismus hinausgehendes Bewusstsein entstehen. Die Klasse insgesamt, und vor allem ihre Avantgarde wird vor Fragen – nicht zuletzt die Machtfrage – gestellt,  die praktisch nach einer sozialistischen Antwort verlangen. Die in Bewegung geratenen Massen setzen Taten, die über den bestehenden Rahmen hinausgehen, selbst wenn sie das nicht „vorhatten“. Das heißt auch, dass sich in bestimmten Phasen auch ideologisch zentristische Stimmungen oder gar ultralinke, ultrarevolutionäre Einstellungen in der Klasse oder deren Avantgarde ausbreiten. In solchen gesellschaftlichen Ausnahmezuständen kann sich durchaus mehr als tradeunionistisches Bewusstsein entwickeln. Damit sich diese Tendenzen zu einer bewussten, politisch klaren revolutionären Kraft entwickeln können, braucht es jedoch die Fusion von wissenschaftlichem Sozialismus und ArbeiterInnenvorhut – die Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei.

Die spontanen revolutionären Tendenzen der Klasse, die Tatsache, dass die Tat zum revolutionären Programm drängt, macht das Programm nicht obsolet, wie Spontaneisten denken, sondern begründet erst dessen Unverzichtbarkeit, dessen Notwendigkeit und die Möglichkeit, dass das Programm wirklich zum Wegweiser für die Aktion, für die Lösung der Machtfrage, der entscheidenden Frage aller Revolutionen, wird.

Die revolutionäre Partei ist Ausdruck dieser geschichtlichen und internationalen Erfahrung. Ihre Politik muss auf einer wissenschaftlichen, nicht ideologischen Grundlage basieren.

Das Programm der Partei  muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes,  eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handel an.

Für den Bolschewismus und insbesondere für Lenin war letztlich das politische Programm der entscheidende Bezugspunkt, nicht die organisatorische, statuarische Form der Partei. So wichtig der „demokratische Zentralismus“ für die Parteikonzeption auch ist, er bleibt gerade aufgrund seines großen Formwandels im Laufe der Entwicklung unverständlich, wenn er nicht im Kontext sich verändernder Situationen, einer sich wandelnden Partei und deren programmatischen Erfordernissen betrachtet wird.

Die revolutionäre Partei – die Verschmelzung von Wissenschaft und Avantgarde der ArbeiterInnenklasse – kann selbst nur zur Führerin der Klasse und unterdrückten nicht-proletarischen Massen werden, wenn sie es vermag, deren Bedürfnisse zu verallgemeinern und mit der Einsicht in den allgemeinen Werdegang der proletarischen Revolution zu verbinden. Nur so kann die Partei ihre Rolle erfüllen und zur Führerin der ArbeiterInnenklasse werden.

Das Verhältnis von Klasse und Partei, von FührerInnen  und Geführten, von Bewussteren und weniger Bewussten darf dabei jedoch nicht als LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis betrachtet werden, so das Wissen, jedenfalls der Vorstellung des Lehrenden nach, auf einer Seite monopolisiert ist.

Die ArbeiterInnenklasse selbst kann zwar im Kapitalismus nicht spontan revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln, in ihren Lebensverhältnissen und Klassenkämpfen wird sie jedoch immer wieder auch auf die inneren Widersprüche der Gesellschaft gestoßen, hin in eine sozialistische Richtung. Sie drängt zur Revolution, zum Sozialismus. Der Kommunismus ist der bewusste Ausdruck der proletarischen Bewegung, also auch, wenn seine wissenschaftliche Ausformung von außen in die Klasse getragen werden muss: Er ist nichts Äußerliches, da er die Stellung der ArbeiterInnenklasse und ihren Befreiungskampf einfach nur bewusst macht, zum Ausdruck bringt.

Dabei übernimmt die ArbeiterInnenklasse selbst keinen passiven Part. So hat Marx aufgrund der Erfahrungen der Revolutionen von 1848 und vor allem des Bonapartismus in Frankreich herausgearbeitet, dass die ArbeiterInnenklasse den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss. Die Form, wie dies geschehen kann, hat nicht Marx im Studierzimmer entworfen, sondern haben die Kommunarden 1871 in Paris aufgezeigt. Das zeigt besonders deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse ein tätiges, spontan zu ihrer eigenen Befreiung drängendes revolutionäres Subjekt ist.

Zugleich zeigt aber Marx` Analyse der Kommune auch die Grenzen dieses Drängens. Die Charakterisierung der Kommune als die „geschichtliche Form zur Befreiung der Klasse“ und als ArbeiterInnenregierung erfolgte keineswegs „automatisch“ aus den Kämpfen der Kommunarden – und erst recht nicht, welche Maßnahmen notwendig waren, um die von der Kommune geschaffenen Möglichkeiten auch zu realisieren. Im Gegenteil. Die Einschätzung und die Lehren aus den Klassenkämpfen in Frankreich offenbarten eine tiefe Spaltung der ArbeiterInnenbewegung in einen revolutionären, marxistischen Flügel, den kleinbürgerlichen Anarchismus (Bakunisten) und die Vorläufer des Reformismus (britische Gewerkschafter).

Die theoretische Verallgemeinerung und die programmatischen Schlussfolgerungen aus der Kommune konnten nur auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus gezogen werden – nicht bloß aus der unmittelbaren Erfahrung des Kampfes. Sie mussten selbst den BarrikadenkämpferInnen „von außen“ vermittelt werden. Schließlich zeigt dieses Beispiel aber auch, dass eine Neubestimmung des Programms der revolutionären ArbeiterInnenbewegung selbst erfolgte. Im Kommunistischen Manifest hieß es noch, dass die nächste Aufgabe der ArbeiterInnenklasse die „Eroberung der Demokratie“ sei und sie so zur Herrschaft gelangen würde.

Mit der Kommune war diese Formel ungenügend geworden. Das Festhalten  an der alten Formel in großen Teilen der Zweiten Internationale und das „Vergessen“ der Lehren der Kommune hatten natürlich materielle Ursachen in einer relativ stabilen, „friedlichen“ Entwicklung des Kapitalismus nach der Niederlage des Jahres 1871. Zugleich aber begünstigte diese  Verflachung des Marxismus den Übergang der Zweiten Internationale in das Lager der Konterrevolution.

Wie wir auch am Beispiel des Bolschewismus gesehen haben, bedarf ein revolutionäres Programm, bedürfen revolutionäre Erkenntnisse nicht nur ihrer Anwendung und Überprüfung in der Praxis. Die revolutionäre Partei selbst tritt mit einem Fundus an Programmatik und Erkenntnis in neue geschichtliche Kämpfe, die – selbst auf ihrem höchsten Entwicklungsstand – immer nur die Verallgemeinerung vergangener Erfahrung sein können.

Klassenkampf und Entwicklung des Programms

Jede revolutionäre Krise erfordert aber nicht die mechanische Anwendung des Programms, sondern seine Anwendung muss immer auch mit der aktuellen Situation verbunden, in die Sprache der Taktik übersetzt sein. Dieselben Losungen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Revolution im Mittelpunkt stehen, können auf einer anderen nicht mehr angemessen bzw. falsch sein. Das trifft nicht nur auf die inneren Veränderungen in einer revolutionären Situation und auf Fragen der Taktik zu, sondern bezieht sich auch auf die strategische Grundausrichtung der revolutionären Partei.

Ohne Bolschewistische Partei hätte es sicherlich nie die Oktoberrevolution, die Errichtung der Diktatur des Proletariats gegeben. Umgekehrt aber wäre diese Partei nie dazu in der Lage gewesen, Kurs auf den Oktober zu nehmen, hätte sie nicht selbst im Frühjahr 1917 ihre strategische Ausrichtung geändert, was letztlich in die Aprilthesen Lenins mündete. Diese „Umbewaffnung“ der Partei, wie es Trotzki ausdrückte, war von entscheidender Bedeutung dafür, dass sie überhaupt Kurs auf den Oktober nehmen konnte.

Um diese Umbewaffnung zu verstehen – und damit auch Kontinuität wie Bruch innerhalb des Bolschewismus – ist es unerlässlich, auch dessen „Vorgeschichte“ zu betrachten. Die russische Sozialdemokratie konnte in der Revolution 1905 ihre politischen Konzeptionen erstmals erproben. Auch wenn die Revolution 1905  niedergeschlagen wurde, so war sie für die weitere Entwicklung des Bolschewismus von unschätzbarem Wert. Alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung stellten ihre Programme, ihre Politik vor.

Einen zweiten Wendepunkt für die programmatische Formierung des Bolschewismus markieren der Ausbruch des imperialistischen Krieges und der Verrat der Sozialdemokratie. Hier entwickelten sich die Bolschewiki – auf den Status einer relativ kleinen Propagandaorganisation zurückgeworfen – zu einer internationalen Strömung, die nicht nur politisch-organisatorisch mit den Parteien der Zweiten Internationale, den Vaterlandsverteidigern, bricht, sondern auch eine politisch-programmatische Erneuerung des Marxismus beginnt.

Diese wird im Jahr 1917 mit der Machtergreifung und dann mit Gründung der Kommunistischen Internationale weiter vertieft. Sowohl die entwickelte Programmatik des Bolschewismus und der ersten vier Kongresse der KomIntern als auch die Formierung dieser Dritten Internationale zur Kampfpartei der Weltrevolution stellen einen bis heute unerreichten Höhepunkt der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung dar, den auch die Vierte Internationale, bis zu ihrer Degeneration Ende der 40er Jahre, aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Propagandaorganisation, nicht zu erreichen vermochte.

Jede neue, revolutionäre Internationale muss daher das Erbe des Bolschewismus bis zu seiner Degeneration und Pervertierung zu einem zentralen Anknüpfungspunkt ihrer eigenen Politik machen.

 

Endnoten

(1) Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MEW 8, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1973, S. 115

(2 ) Ebenda, S. 117

(3) Grigori Sinowjew: Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) (1923), Erlangen [Politladen], S. 97

(4) In: Junius Verlag [Hrsg.]: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, Hamburg, 1981, S. 26

(5) Ebenda, S. 28

(6) Lenin, W. I.: „Die Sewstwokampagne und der Plan der „Iskra“, in: LW 7, Berlin/Ost [Dietz], 7. Auflage, 1976, S. 522)

(7) Axelrod, Pawel Borissowitsch: „Rede auf dem Vereinigungsparteitag 1906, April/Mai 1906“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 32

(8) ders.: ebenda, S. 35

(9) Martow, Julius: „Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 30

(10) Lenin, W. I.: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: LW 9, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1957, S. 65

(11) Ebenda, S. 87 f.

(12) Ebenda, S. 126 f.

(13) Siehe: Trotzki, Leo: „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“ [1939], in: ders., „Stalin – Eine Biographie“, Band II, Anhang, Reinbek [Rowohlt], Juni 1971

(14) Marx, Karl: „Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch“, in: MEW 19, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1974, S. 384- 406

(15) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven – Die Permanente Revolution“, Frankfurt a. M. [EVA], 1971, Seite 51 f.

(16) Ebenda, S. 64 f.

(17) Ebenda, S. 68

(18) Ebenda, S. 70

(19) Ebenda, S. 106

(20) Ebenda, S. 120

(21) Lenin, W. I.: „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“, in: LW 10, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 8)

(23) ders.: „Sozialismus und Anarchismus“, in: LW 10, a. a. O., S. 57 ff.

(23) Siehe: Le Blanc, Paul: „Lenin and the Revolutionary Party“, Amherst/New York [Humanity Books], 1993, S. 107

(24) Siehe z. B. Lenin, W. I.: „Über die Reorganisation der Partei“, in: LW 10, a. a. O., S. 13 ff.

(25) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, Vorwort [1919], in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven…“, a. a. O., S. 122

(26) Siehe: Laszer, Max: „Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910“, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin, 2010, S. 193 ff.

(27) Frölich, Paul: „Rosa Luxemburg – Gedanke und Tat“, Berlin [Dietz], 1990, S. 164 ff.

(28) Vgl.: Workers Power: „Party and Programme“: http://www.workerspower.co.uk/1977/10/party-programme-pt-1/; http://www.workerspower.co.uk/1978/10/party-and-programme-lenin-and-luxemburg-against-opportunism-and-centrism-part-3/; Le Blanc, „Lenin and the Revolutionary Party“, a. a. O.

(29) Hilferding, Rudolf: „Das Finanzkapital“ [1910], Dietz-Verlag, Berlin/Ost 1953

(30) Luxemburg, Rosa: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, in: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1985, S. 5 ff.

(31) Lenin, W. I.: „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“, in: LW 21, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1970, S. 1

(32) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, in: LW 21, a. a. O., S. 26

(33) Ebenda, S. 27

(34) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 369; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(35) Lenin, W. I.: „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 22, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 149.

(36) Lenin, W. I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: LW 22, a. a. O., S. 304

(37) Lenin, W. I.: „Sozialismus und Krieg“, in: LW 21, a. a. O., S. 301 f.

(38) Lukács, Georg: „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, Neuwied und Berlin, 3. Auflage, 1969, S. 9.

(39) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, a. a. O., S. 28

(40) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 304; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(41) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 1; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007: http://www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm

(42) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, Berlin/West [S. Fischer], 1960, S. 132

(43) Ebenda, S. 137

(44) Siehe ebenda, S. 187

(45) Rosenberg, Arthur: „Geschichte des Bolschewismus“, Frankfurt a. M. [EVA], 1966, S. 123

(46) „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 49

(47) Lenin, W. I.: „Briefe aus der Ferne“, in: LW 23, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 309-357

(48) Ebenda, S. 321

(49) Lorenz, Richard [Hrsg.]: „Die russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten“, München [Nymphenburger Verlagsbuchhandlung], 1981, S. 51

(50) Ebenda, S. 52

(51) Zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 256, eigene Übersetzung

(52) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“,Essen [Mehring Verlag], 2012, S. 536

(53) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 2; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007, S. 15

(54) Ebenda, S. 15

(55) Zitiert nach: Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, a. a. O., S. 243

(56) Protokoll der Konferenz, zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 258 f.

(57) Ebenda, S. 259 f.

(58) Lenin, W. I.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, in: LW 24, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 6)

(59) Zitiert nach: Lenin, W. I.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 32 f.

(60) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 1-8

(61) Ebenda, S. 3 f.

(62) ders.: „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 21, a. a. O., S. 415 f.

(63) ders.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 33

(64) Ebenda

(65) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 5)

(66) ders: „Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution“, in: LW 25, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 393 – 507

(67) Ebenda, S. 397

(68) Iswestja, 63, 11.5.1917, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 51

(69) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, Frankfurt a. M. [ISP], 1983, S. 22

(70) ders.: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm)“, Essen [Verlag Ergebnisse und Perspektiven], o. J., S. 26; (Fehler stillschweigend korrigiert; d. Red.)

(71) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Einleitung zur englischen Ausgabe, Essen [Mehring Verlag], 2012, S. LVII

(72) Trotzki, „Geschichte der russischen Revolution“,

 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b2-kap02.htm

(73) Lenin, W. I.: „Zu den Losungen“, in: LW 25, a. a. O., S. 181

(74) ders.: „Die politische Lage“, ebenda, S. 174

(75) ders.: „Zu den Losungen“, a. a. O., S. 188

(76) Ebenda, S. 182 f.

(77) Für eine ausführliche Darstellung der Diskussion siehe Rabinowitch, a. a. O., Kapitel 5, S. 121 ff.

(78) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, a. a. O., S. 37

(79) Lenin, W. I.: „An das Zentralkomitee der SDAPR“, in: LW 25, a. a. O., S. 292 ff.

(80) Ebenda, S. 294 f.

(81) Ebenda, S. 295

(82) Ebenda

(83) Ebenda

(84) ders.: „Über Kompromisse“, in: LW 25, a. a. O., S. 313 ff.

(85) Ebenda, S. 314

(86) ders.: „Resolution zur Agrarfrage“, April 1917, in: LW 24, a. a. O., S. 283

(87) ders.: „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“, in: LW 25, a. a. O., S. 327-377

(88) Ebenda, S. 363

(89) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution: minutes of the Central Committee of the Russian Social-Democratic Labour Party (Bolsheviks) August 1917-February 1918“, London [Pluto Press], 1974, S. 78

(90) Lenin, „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen“, in: LW 26, Berlin/Ost [Dietz], 2. Auflage, 1970, S. 1

(91) ders. „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, ebenda, S. 40 f.

(92) ders. „Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B), 10. (23.) Oktober 1917“, in: LW 26, a. a. O., S. 178

(93) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution“, S. 89 -95

(94) Ebenda, S. 90

(95) Lenin, W. I.: „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, in: LW 26, a. a. O., S. 41

(96) ders.: „Brief an Vorsitzenden des Gebietskomitees der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands I.T. Smilga“, ebenda, S. 54

(97) ders.: „Die Krise ist herangereift“, in: LW 26, a. a. O.,  S. 65 f.

(98) ders.: „Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau“, in: LW 26, a. a. O., S. 125

(99) Siehe dazu Trotzki, Über Lenin, EVA, Frankfurt/Main 1964, S. 71 ff.

(100) Rabinowitch, Alexander: Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, a. a. O., S. 329 f.

(101) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, a. a. O., S. 571 f.

(102) Ebenda, S. 618 f.

(103) Ebenda, S. 708

(104) Ebenda, S. 709




Die Revolution der Bolschewiki 1917

Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 1

Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Der Untertitel des ersten Bandes  „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ findet eine einfache Erklärung: Es geht Rabinowitch  nicht um eine umfassende Darstellung des Revolutionsjahres 1917 von der Februarrevolution bis zur Oktoberrevolution. Er fokussiert sein Werk  ganz auf die Rolle der Bolschewiki und auf den Zeitraum vom sogenannten „Juli-Aufstand“ bis zur Oktoberrevolution (Zum zeitlich anschließenden 2. Band „Das erste Jahr“ siehe die weitere Besprechung), wobei  sich Rabinowitch so weit wie möglich auf die Ereignisse in Petrograd (Petersburg) beschränkt. Man mag diese Beschränkung bedauern, aber sie ermöglicht Rabinowitch (R.) eine sehr detaillierte und atmosphärisch dichte Darstellung, die durch zahlreiche Quellen gestützt wird. Nicht zuletzt zeigen seine Bücher, dass wissenschaftliche Darstellungen durchaus spannend erzählt werden können.

R. schreibt: „Mein Hauptziel bestand darin, die Entwicklung der Revolution ‚von unten‘ so vollständig und genau wie möglich zu rekonstruieren und dabei die Ansichten, das Handeln und die Lage der bolschewistischen Parteiorganisationen…auf allen Ebenen zu beleuchten. Dabei habe ich mich bemüht, den entscheidenden Zusammenhang zwischen diesen beiden zentralen Aspekten der Revolution und dem Erfolg der Bolschewiki herauszuarbeiten.“ (S. xxxviii)

R. hatte ursprünglich vor, ein anderes Werk zu schreiben, nämlich eine Biografie des Menschewistenführers Zereteli, aber er stellte  bald fest, „dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen.“ (S. xx) Erst Anfang der neunziger Jahre  öffneten sich für R. die sowjetischen/russischen Archive, die ihm durchaus neue, bisher unbekannte Einzelheiten enthüllten, jedoch nach seinen eigenen Worten seine grundlegenden Ergebnisse „nicht wesentlich verändern würden.“ (S. xxix)

Der Erkenntnisgewinn, den das Werk „Die Revolution der Bolschewiki 1917“  bringt,  besteht nicht zuletzt darin, dass die Russische Revolution nur verstanden werden kann, „wenn man eine breite Schicht von Führern auf mittlerer Ebene und von Institutionen mittlerer Bedeutung und vor allem auch die Bestrebungen und politischen Stimmungen der einfachen Leute in die Analyse einbezieht…“ (S. xxi). Durch die Berücksichtigung  dieser „mittleren Ebene“ der Bolschewiki ergeben sich neue Sichtweisen auf die bolschewistische Partei, – das Bild wird bunter, vielfältiger.

Noch ein paar Worte zum Autor selbst. Er ist ein (emeritierter) amerikanischer Professor, der in einer russischen Emigrantenfamilie aufgewachsen ist. Sein Vater ging 1921 nach Westeuropa und von dort aus am Ende des 2. Weltkrieges in die USA. Im Hause Rabinowitch verkehrten  prominente Exilrussen, u. a. der Literat Nabokow und auch, man beachte, Kerenski. Es wurde dort natürlich viel über Russland diskutiert und bei allen Differenzen, über eines war man sich einig: „Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden.“ (S. xix)

Es ist doch angenehm, einmal feststellen zu können, dass es auch seriöse bürgerliche Wissenschaftler gibt,  die in der Lage sind, ihre eigenen ideologischen Vorurteile offen zu revidieren, was  diese Buchbesprechung zeigen soll.

Putsch oder Revolution

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt R.: „Vor dem Erscheinen dieses Buches war der gescheiterte Aufstand  vom Juli 1917 (die ‚Julitage‘) von sowjetischen Historikern als spontane Massendemonstration gegen die unpopuläre Politik der Provisorischen Regierung gewertet worden, die im Zaum zu halten die Bolschewiki sich ehrlich bemühten. Für westliche Historiker stellte sie einen ersten Versuch Lenins dar, die Macht zu erobern (‚Generalprobe für den Roten Oktober‘).“ (S. xx f.) Das Buch erschien in den USA bereits 1976. Dass die Auffassung vom Juli-Aufstand als „gescheitertem Putsch“ hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit weit verbreitet war, spricht Bände über die deutsche Wissenschaftslandschaft sowie über die vorherrschende Medien- und Verlagspolitik. Was nicht ins eigene ideologische Weltbild passt, wird ignoriert. So ist es auch kein Wunder, dass erst einem kleinen linken Verlag, dem Mehring Verlag, das Verdienst zukommt, dass dieses bedeutsame Buch 2012 (d. h. 36 Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung) auf Deutsch erschien.

Ebenso wenig wie der Juli-Aufstand war die Oktoberrevolution ein Militärputsch einiger russischer Fanatiker ohne Massenanhang. Für die Putschthese werden häufig drei Aspekte angeführt. Erstens, dass sich der Sturz der bürgerlichen provisorischen Regierung  relativ unspektakulär vollzogen habe. Der „Sturm aufs Winterpalais“, wo sich die provisorische Regierung mit bewaffneten Anhängern verschanzt hatte, erscheint in der Tat wenig bedeutsam. Auch R. schreibt: „Im Gegensatz zu den meisten Berichten in der Sowjetunion wurde das Winterpalais nicht gestürmt. Antonow (der bolschewistische Führer der Aktion, M. E.) selbst erzählte später, dass ‚der Angriff auf den Palast…vollkommen desorganisiert war’…dass nicht mehr viele Kadetten übrig waren…Als wir eintraten, leisteten die Kadetten keinen Widerstand.“ (S. 439).

Zweitens wird angeführt, es hätten nur kleinere militärische Geplänkel stattgefunden, die Massen  hätten abseits gestanden.

Und drittens, das eigentliche Aufstandszentrum bzw. Putschzentrum, das Militärische Revolutionskomitee (des Petrograder Sowjets) sei als Organ als eine „reine Frontorganisation zu sehen, die vom bolschewistischen Zentralkomitee oder der Militärorganisation kontrolliert wurde.“ (S. 349)

Der erste Einwand ist an Dummheit kaum zu überbieten. Mit der gleichen Logik müsste man der Französischen Revolution den revolutionären Charakter absprechen, denn auch der „Sturm auf die Bastille“ hat so nie stattgefunden. In der Bastille saßen am 14. Juli 1789 ganze sieben Gefangene, und nach einer kurzen Auseinandersetzung übergab die kleine Besatzung die Festung schließlich an die „Aufständischen“. Die Bedeutung  besteht in beiden Fällen, dem „Sturm auf die Bastille“ und dem „Sturm auf das Winterpalais“, jedoch nicht darin, dass heroische Kämpfe der Massen stattgefunden hätten, sondern in der revolutionären Symbolik der Machtübernahme. Der „Sturm auf das Winterpalais“ bildete den vorläufigen Schlusspunkt nach monatelangen Massenkämpfen, und schließlich bedeutete er die Festnahme der provisorischen Regierung, die verhaftet werden musste, um einer Sowjetregierung Platz zu machen.

Zum zweiten Einwand, am Umsturz seien keine Massen beteiligt gewesen, es habe keine Massenkämpfe gegeben: Dazu ist zu sagen, dass in Petrograd die provisorische Regierung inzwischen gesellschaftlich so isoliert war, die unterdrückten Massen derart geschlossen hinter den Räten/Sowjets standen, dass die Machtübernahme auch ohne heroische Straßenkämpfe o. ä. weitgehend schmerzlos möglich war. R. zitiert hier einen Führer der  Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS),  der erklärte, dass „es denen von uns, die in den unteren Klassen Petrograds arbeiteten, klar war, dass Kerenski in der Petrograder Garnison kein Dutzend Leute finden würde, die ihn als Vertreter der Koalitionsregierung verteidigen würden.“ (S. 377)

Und zum dritten Einwand, das Militärische Revolutionskomitee (RMK) sei eine reine Frontorganisation der Bolschewiki gewesen, bemerkt R: „Doch eine solche Einschätzung ist ungenau. Bolschewiki spielten innerhalb des Komitees die führende Rolle. Sie waren aber nicht seine einzigen aktiven Teilnehmer, und sogar die bolschewistischen Teilnehmer stimmten in ihrer Auffassung der Aufgaben des Komitees nicht alle überein.“ (S. 349)

Insgesamt bleibt festzuhalten: Hätte es sich bei der Oktoberrevolution wirklich nur um einen Putsch gehandelt,  bei dem sich eine kleine Minderheit an die Macht geputscht hätte, dann wären die folgenden tiefgehenden gesellschaftlichen Umwälzungen nicht zustande gekommen und auch der folgende Bürgerkrieg wäre verloren gegangen.

Kadavergehorsam oder selbstbewusstes Handeln

Ein sich hartnäckig haltender Mythos über die bolschewistische Partei lautet in etwa: Die bolschewistische Partei sei hierarchisch aufgebaut, stark zentralisiert gewesen, über ein institutionalisiertes Befehlssystem sei die Partei von einer Parteiführung straff geführt worden und die unteren Kader hätten die befohlene Linie lediglich nach außen zu vertreten. An der Spitze der Partei habe  ein autoritärer, nicht antastbarer Lenin gestanden.

Mit der Realität hat dieser Mythos kaum etwas gemeinsam. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie, in der August Bebel als eine Art Ersatzkaiser fungierte, musste Lenin häufig um seine Positionen kämpfen. Es gab, so stellt R. fest, „innerhalb der Petrograder bolschewistischen Organisation auf allen Ebenen durchgängig freie und lebhafte Diskussionen über Grundfragen von Theorie und Taktik. Führer, die nicht mit der Mehrheit übereinstimmten, durften offen für ihre Ansichten eintreten, und nicht selten ging Lenin aus diesen Auseinandersetzungen als Verlierer hervor.“ (S. 456 f.) Die bolschewistischen Kader verstanden sich in aller Regel nicht als bloße Befehlsempfänger.

Am Punkt „Parteidemokratie und Parteistrukturen“ zeigt sich bei R. allerdings zweierlei:  einerseits, wie unbefangen und vorurteilsfrei seine Untersuchungen zur Revolution 1917 in Petrograd sind, aber andererseits auch Rabinowitchs begrenzte Kenntnis der bolschewistischen Parteigeschichte. Er hebt zwar an der bolschewistischen Partei 1917 hervor, sie sei charakterisiert durch „relativ demokratische, tolerante und dezentralisierte innere Struktur und Arbeitsweise… wie auch ihre grundsätzliche Offenheit und ihren Massencharakter“ (S. 456) , dann aber schreibt er, dass dies „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht.“ (S. 456)

Aber die gesamte Geschichte der bolschewistischen Partei, selbst in den finstersten Phasen der Reaktion und Illegalität, war geprägt von offenen und kontroversen Diskussionen. Selbstverständlich muss eine kleine Kaderorganisation in der Illegalität anders strukturiert sein als eine Massenorganisation im revolutionären Aufschwung. Demokratische Strukturen ließen sich unter den Bedingungen der Illegalität natürlich nur z. T. aufrechterhalten, aber von einem neuen Parteimodell zu reden, das „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht“ ist zumindest eine arge Verkürzung.

Aber zurück zum Mythos. Man könnte umgekehrt sagen, hätte der Mythos über die bolschewistischen Parteistrukturen der Realität entsprochen, hätte die bolschewistische Partei niemals die Petrograder Arbeiterklasse  in den Oktoberumsturz führen können. Schon ein paar Zahlen verdeutlichen dies. Die bolschewistische Partei Petrograds hatte in der Stadt bei Ausbruch der Februarrevolution 1917 2 000 Mitglieder, Anfang April 16 000, Ende Juli 32 000 und Ende Oktober 50 000 Mitglieder (weit überwiegend FabrikarbeiterInnen). D. h., gerade einmal 4 % der Parteimitglieder Petrograds im Oktober waren erfahrene, in der Illegalität geschulte und geprägte Kader. Die Zahlen zeigen, dass die Partei eng verbunden mit, ja ein Bestandteil der Petrograder Arbeiteravantgarde war. Die Vorstellung, dass eine solche Partei durch bloße Befehlsstrukturen geführt werden könnte, ist naiv.

Rabinowitch weist „in detektivischer Kleinarbeit“ (so der französische Historiker Marc Ferro) nach, dass die bolschewistische Partei 1917 in strategischen Fragen uneins war und durch relativ selbständige Parteizellen innere Spannungen und Spaltungen aufwies. (S. xxiii)

Zentrale Forderungen im revolutionären Prozess wurden also von bzw. in der Arbeiteravantgarde eigenständig formuliert (häufig in Fabrikkomitees und in den Arbeiterräten) und fanden so, vermittelt über die bolschewistische Arbeiterbasis, ihren Weg in die Partei. Die Programmatik und Taktik der bolschewistischen Partei sind nur zu verstehen, wenn man sie in Wechselwirkung mit der Arbeiteravantgarde Petrograds sieht.

Revolutionäres Programm und Klassenkampf

Zugleich muss jedoch unbedingt betont werden, dass es ohne die bolschewistische Partei und ohne ihre programmatisch-strategische Umrüstung in Lenins Aprilthesen (Ausrichtung auf die sozialistische Revolution) keine siegreiche Oktoberrevolution  gegeben hätte. R sagt zu Recht, dass er „einen Sieg der Bolschewiki ohne Lenin für undenkbar“ (S. xIiii) hält.

Und mehr noch. Es war, auch darauf weist R. hin, „fast ausschließlich auf Lenins Eingreifen zurückzuführen, dass die Vereinigungsgespräche zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki alsbald scheiterten.“ (S. xIviii) und zwar bekämpfte er diese Linie u. a. deshalb, weil diese „vereinigte Partei“ die russischen Kriegsanstrengungen hätte unterstützen müssen, d. h., die Politik des revolutionären Defätismus, die  Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg und eine internationale sozialistische Revolution hätte aufgegeben werden müssen.

Aber es war nicht nur Lenins Härte gegen die politisch überholte und kompromisslerische Linie der bolschewistischen Parteiführung, die die innerparteiliche Durchsetzung der Aprilthesen ermöglichte. Die Partei war zwar im Petrograder Sowjet noch eine kleine Minderheit, aber sie hatte inzwischen in Petrograd 16 000 Mitglieder. Diese Mitglieder waren, wie gesagt, ein Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds und trugen die „Stimmungen der Massen“, zumindest der fortgeschrittensten Teile, in die Partei. Lenins Aprilthesen sind gewissermaßen auch Ausdruck dieses Verhältnisses zwischen Arbeiteravantgarde und Partei, und zwar inhaltlich („Forderungen“) als auch strategisch (Ausrichtung auf eine sozialistische Revolution durch eine revolutionäre Regierung der Arbeiterräte). Dies war auch der Grund, warum Lenin erfolgreich mit der Mobilisierung der Parteibasis gegen große Teile der Parteiführung drohen konnte, um die Partei umzurüsten. D. h., es zeigte sich, dass zumindest zeitweise ein Teil der Arbeiteravantgarde weiter war als die Partei, genauer: die Parteiführung (wie schon in der Revolution 1905).

Es wird hier nicht nur die Wichtigkeit eines revolutionären Programms (Aprilthesen) und einer revolutionären Führung deutlich,  es zeigt auch, dass die Entstehung eines solchen Programms kein bloßer theoretischer Akt ist, dessen Ergebnisse dann der Klasse zu vermitteln sind, sondern dass die Entwicklung eines solchen Programms nur in Wechselwirkung mit den Klassenkämpfen und mit der Verankerung der RevolutionärInnen in diesen Kämpfen verstanden werden kann.

Wir müssen uns heute vor Augen halten, dass wir weit davon entfernt sind, ein revolutionäres Programm zu haben. Wir sind heute weitgehend darauf zurückgeworfen, revolutionäre Prinzipien (inhaltlich und taktisch) zu propagieren/verteidigen und uns mit unseren begrenzten Kräften an Kämpfen zu beteiligen und dies dann programmatisch zu verarbeiten.

Arbeiteravantgarde und Partei

Alle angesprochenen Probleme zeigen sich besonders in den „Juli-Tagen“. Deshalb lautet nicht zufällig die Überschrift des 1. Kapitels (nach Vorwort bzw. Einleitung zur deutschen und englischen Ausgabe) „Der Juli-Aufstand“. Wie unter einem Brennglas fokussiert,  kann man hier besonders den Aspekt des Verhältnisses  Arbeiteravantgarde Partei betrachten. Ende Juli hatte die bolschewistische Partei noch nicht die Mehrheit der Petrograder  ArbeiterInnenklasse hinter sich, aber die Partei war schon eine bedeutende Kraft in Petrograd. Sie hatte in der Stadt 32 000 Mitglieder, hinzu kamen 2000 Soldaten der bolschewistischen Militärorganisation, die wiederum einen „parteilosen“ Club von 4000 Soldaten führte.

Abgesehen von den z. T. chaotischen und schnell wechselnden Umständen war das Zentralkomitee der Bolschewiki nur bedingt in der Lage, diese Partei zu lenken und zu führen. R. schreibt dazu im Vorwort der deutschen Ausgabe, dass „die Julitage zwar ein authentischer Ausdruck des Volkszorns über die mageren Ergebnisse der Februarrevolution waren, dass aber zugleich radikale Teile des bolschewistischen Petersburger Komitees (das meint die Petersburger Partei, M. E.) und der Militärischen Organisation der Partei auf den Druck ihrer militanten Anhängerschaft in den Fabriken und Garnisonen Petrograds hin den Aufstand aktiv vorantrieben – entgegen dem ausdrücklichen Willen Lenins und des Zentralkomitees der Partei. Das Zentralkomitee, so stellte sich heraus, hatte bewaffneten Aktionen gegen die Regierung eine eindeutige Absage erteilt.“ (S. xxii) Die einfachen Parteimitglieder, zur überwältigenden Mehrheit der Partei erst nach der Februarrevolution beigetreten, waren keine marxistisch geschulten Kader, sie wollten revolutionäre Aktionen, so dass der Druck auf die Partei erheblich war, und diesem Druck konnte auch die zentrale Parteiführung nur mit Mühe widerstehen.

Ein Schlaglicht: Als Lenin am 4. Juli gedrängt wurde, auf einem Balkon zu einer bewaffneten Demonstration zu reden, lehnte Lenin zunächst „in der Hoffnung ab, dass seine Weigerung seine Ablehnung der Demonstration ausdrücken würde. Aber auf Drängen der Kronstädter Bolschewiki-Führer hin stimmte er schließlich zu. Als er auf den Balkon im zweiten Stock hinaustrat, um sich an die Matrosen zu wenden, knurrte er einige Funktionäre der Militärorganisation an: ‚Man sollte euch dafür verdreschen‘ .“ (S. 13 f.)

Z. T. mussten Führungskader der Petrograder Partei ihren militanten Mitgliedern auch entgegenkommen, um ihre Hinwendung zu den Anarchisten zu verhindern.

Weil die Arbeiterbasis Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds war und eben alles andere als ein bloßer Befehlsempfänger des ZK, gab es nicht nur Auseinandersetzungen in der Parteiführung (z. B. mit dem rechten Flügel um  Kamenjew, aber auch z. B. zwischen Lenin und den praktischen Aufstandsführern vom Oktober), sondern die bolschewistische Basis in Petrograd wurde in den Juli-Tagen förmlich zerrissen zwischen der Parteilinie des ZK und der vorpreschenden Arbeiteravantgarde Petrograds. Nur das hohe Ansehen einzelner Parteiführer (insbes. Lenins) und die Tatsache, dass es links der Bolschewiki keine bedeutende organisatorische Kraft gab, verhinderten den (halben) Aufstand und vermutlich auch eine Spaltung der Partei.

Wie sich bald herausstellte, war die taktische Linie des ZK richtig. Sie verhinderte einen  vorzeitigen Aufstand und damit eine vom übrigen Land isolierte „Petrograder Kommune“. Nichtsdestotrotz waren die Ergebnisse dieses mühsam verhinderten Aufstandes ein Rückschlag. R. schreibt: „Die ungeduldigen Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen, die sich bisher um die Bolschewiki geschart hatten, gingen aus den Juli-Ereignissen geschwächt und zumindest vorübergehend demoralisiert hervor“ (S. 23) Auch die Partei wurde in die Defensive gedrängt, unterlag Repressionen, verlor vorübergehend an Einfluss und hatte „zumindest bei einigen bolschewistischen Organisatoren in den Fabriken den Glauben in ihre eigene höhere Parteiführung untergraben“. (S. 92) Allerdings gab es keine Massenaustritte.

Insgesamt zeigen die Juli-Ereignisse, dass der Einfluss der Arbeiteravantgarde auf die revolutionäre Partei ambivalent ist und durchaus nicht immer und automatisch positiv zu werten ist. Und diese Ereignisse zeigen auch exemplarisch, dass die  Partei gezwungen sein kann, aus übergeordneten taktischen Erwägungen, sich sogar der Arbeiteravantgarde entgegenzustellen. Dazu ist es auch bei kleinen Organisationen nötig,  Kader herauszubilden, die zur Standhaftigkeit, zur Fähigkeit, auch gegen den Strom (in der organisierten Linken und/oder der ArbeiterInnenbewegung) zu schwimmen,  in der Lage sind.

ArbeiterInnenklasse, Taktik und Partei

Die Oktoberrevolution zeigt aber auch, dass auf dem Gebiet der Taktik, genauer gesagt der Taktik der revolutionären Machtergreifung, die revolutionäre Partei durch nichts zu ersetzen ist. Die zentrale Bedeutung der Taktik zeigte sich in jeder Phase zwischen der Februar- und Oktoberrevolution. Die verschiedenen Wendungen und Auseinandersetzungen in der bolschewistischen Partei werden von Rabinowitch akribisch nachgezeichnet.

In revolutionären Situationen (nicht nur dann, aber da entscheidend) sind revolutionäres Bewusstsein der ArbeiterInnenmassen und Programm notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für den Sieg des revolutionären Aufstandes. Dieser setzt  voraus, den richtigen Zeitpunkt, den der tiefsten Schwäche der Bourgeoisie, zu erkennen (hier geht es u. U. um Tage, ja selbst Stunden). Der Schlag muss weiter am richtigen Ort gegen das entscheidende Machtzentrum des Klassenfeindes geführt werden. Nicht zuletzt ist eine richtige Einschätzung der Gesamtlage des Landes mit all ihren Ungleichzeitigkeiten vonnöten, um Spaltungen im Lager der Herrschenden zu erkennen und auszunutzen und zu verhindern, dass sich Spaltungen im eigenen Lager zur Katastrophe auswachsen. Beispielsweise gibt es fast immer Gegensätze zwischen den großstädtischen Zentren der Revolution und dem übrigen Land  (siehe die Julitage in Petrograd).

All  dies können z. B. Räte prinzipiell nicht leisten, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil revolutionäres  Bewusstsein allein noch kein Handlungskonzept umfasst (was für einen Aufstand lebensnotwendig ist), sondern weil sie ja auf der einen Seite gerade die Heterogenität der Unterdrückten widerspiegeln, was wiederum auf der anderen Seite aber ihre Stärke ist.

Revolutionäre Politik bedeutet in einem solchen Moment, aufgrund politischer Erfahrungen und organisatorischer Strukturen die Mehrheit in den Räten in den Aufstand zu führen. All dies ist ohne revolutionäre Partei unmöglich.

Um die Partei darauf vorzubereiten, hatte Lenin im April 1917 gekämpft und  der bolschewistischen Partei ab April 1917 eine neue Ausrichtung gegeben. In der 4. These der Aprilthesen steht unmissverständlich, dass „die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form  der Revolutionsregierung sind“,  und die generelle taktische Ausrichtung wird gleich mitgeliefert: „Solange wir in der Minderheit sind, ist unsere Arbeit die Kritik und Aufdeckung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den unerlässlichen  Übergang der gesamten Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte propagieren, damit die Massen ihre Fehler durch Erfahrung überwinden.“

Alles scheint klar zu sein. Trotzdem musste die Partei z. T. abrupte taktische  Wendungen vornehmen. Von Rabinowitch wird aufgezeigt, wie die bolschewistische Partei vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und schwerer innerparteilicher Konflikte diese Wendungen vollzog. Häufig war Lenin die treibende Kraft, aber er setzte sich nicht immer durch. Die taktischen Wendungen waren dabei z. T. so scharf, dass  z. B. sogar die Losung „Alle Macht den Räten“ vorübergehend fallengelassen wurde.

Auffällig ist bei diesen taktischen Wendungen vor allem zweierlei: 1. Der Druck der  Massen war z. T. so stark, dass Parteibeschlüsse nicht durchzuhalten waren. Es „sahen viele Massenorganisationen in Petrograd, ungeachtet der Parteibeschlüsse, in einer revolutionären Sowjetregierung die Lösung ihrer dringendsten  Probleme. Zur Zeit der Kornilow-Affäre (der Versuch eines reaktionären Putsches, M. E.) Ende August wurde das Ziel einer ausschließlich sozialistischen Regierung von fast allen Petrograder Arbeiter und Soldaten geteilt; so waren auch die Bolschewiki gezwungen, formell ihren alten Schlachtruf ‚Alle Macht den Sowjets!‘ wiederzubeleben.“ (S. 130 f.)

2. Lenin, der sich lange Zeit versteckt halten musste, kam durch seine Isolierung in Teilen zu Fehleinschätzungen der „Massenstimmung“. Er forderte z. B. (ab Mitte September) einen „sofortigen bewaffneten Aufstand vorzubereiten“ (S. 263) Die Organe des Aufstands sollten die Fabrikkomitees sein. Rabinowitch schreibt dazu: „Zum Teil wegen ihres ständigen Kontakts mit Arbeitern  und Soldaten verfügten Führer wie Trotzki, Bubnow, Sokolnikow und Swerdlow über eine, wie es scheint, realistische Einschätzung darüber, wo die Grenzen des Einflusses der Partei und ihrer Autorität bei den Massen lagen…Folglich begannen sie jetzt, die Eroberung der Macht und die Bildung einer neuen Regierung mit der baldigen Einberufung eines nationalen Sowjetkongresses in Zusammenhang zu bringen – und zwar, um sich die Legitimität der Sowjets in den Augen der Massen zunutze zu machen.“ (S. 275 f.) Dieser Konflikt zwischen Lenin und den eigentlichen Organisatoren des Oktoberumsturzes blieb bis kurz vor dem Umsturz bestehen.

Taktisches Manövrieren hat immer zwei Hauptgefahren: a) dem Druck von Massenbewegungen bzw. Massenstimmungen nachzugeben. Um sich nicht zu isolieren, werden Zugeständnisse gemacht, die  der revolutionären Orientierung mittel- und langfristig schaden. b) Ein „gegen den Strom Schwimmen“ birgt immer die Gefahr, prinzipienfest, aber taktisch unflexibel zu sein und dadurch die Isolierung  von den Massen noch zu verstärken. Diese Gratwanderung ist nicht zu vermeiden.

Sicherlich kann Rabinowitchs Werk die Lektüre von Trotzkis dreibändiger „Geschichte der Russischen Revolution“ nicht ersetzen. Trotzkis Werk ist nicht nur umfangreicher, sondern ganz anders politisch gewichtet. Aber, die Schwerpunktsetzung Rabinowitchs  auf die „mittlere Ebene“ der Bolschewiki bereichert die Kenntnisse und das Bild von der Oktoberrevolution ungemein.

 

Bibliografische Angaben

Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd.1, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag, Essen,  2012, ISBN  978-3-88634-097-2