GEW-Berlin: Und monatlich grüßt der Warnstreik?

Christian Gebhardt, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Unterhält man sich mit Kolleg:innen hier in Baden-Württemberg über die Streikbemühungen der Berliner Kolleg:innen rund um den Tarifvertrag Gesundheit (TV-G) kommt neben zustimmenden Antworten auch oft eine Frage zum Vorschein: „Wie viele Warnstreiks haben die Berliner Kolleg:innen eigentlich schon durchgeführt?“ Eine Frage, die einerseits die große Kampfbereitschaft der Kolleg:innen aufgreift und würdigt, aber gleichzeitig auch den Finger in die Wunde legt und indirekt die Frage stellt: „Bekommen sie eigentlich das, wofür sie auf die Straße gehen?“

Ruf nach Ausweitung

Solche Fragen stellen sich nicht nur Kolleg:innen im entfernten Baden-Württemberg, sondern auch direkt vor Ort in Berlin. Eindrucksvoll spiegelte sich dies in den Abstimmungen auf der letzten zentralen Streikversammlung Ende des vergangenen Schuljahres wider, stimmten dort in einer großen Mehrheit die Berliner Kolleg:innen doch für eine Veränderung der bisherigen Streikstrategie und die Radikalisierung des Arbeitskampfes. Die aufeinanderfolgenden Streiktage sollten auf 5 erhöht werden und eine offene Debatte sowie Abstimmung über einen notwendigen Erzwingungsstreik stattfinden. Hierbei sollte die Basis miteinbezogen und nicht nur die Entscheidung alleinig der Tarifkommission überlassen werden. Diese Abstimmung zeigte auch, dass die mühsame Basisarbeit einer Basisgruppe innerhalb der (Jungen) GEW in Berlin auf offene Ohren gestoßen ist, schlug diese Gruppierung doch eine Diskussion über genau einen solchen Kampagnenplan vor mit dem Ziel der Ausweitung der Streikaktivitäten und der offenen Diskussion über einen Erzwingungsstreik.

Auf fruchtbaren Boden fielen diese Vorschläge aufgrund des offensichtlichen Scheiterns der bisher befolgten Strategie der Tarifkommission und der Berliner GEW-Bürokratie. Diese will letztlich eine entscheidende Konfrontation mit dem Senat vermeiden. Daher scheut sie auch vor einem Erzwingungsstreik zurück, weil dabei alle Seiten ihre Karten auf den Tisch legen müssten.

Hier wird deutlich, dass die Führung der GEW Berlin nicht an die eigene Mobilisierungsstärke und damit verbunden auch nicht an den Erfolg des Tarifkampfes glaubt. Stattdessen versucht sie, den Fokus der Verhandlungen weg von einem Tarifvertrag und hin auf eine Gesetzesänderung zu lenken, welche die Klassengröße festschreiben soll. Jede/r Kolleg:in weiß aber, dass politische und dienstliche Zwänge schnell dazu führen, dass gesetzlich festgeschriebene Klassenteiler schnell unter den Tisch fallen, wenn die Anzahl der Lehr- und Betreuungskräfte nicht stimmt oder die Schule nicht genügend Räume zur Verfügung hat. Diese Vorstellung war schon unter Rot-Grün-Rot fragwürdig. Unter dem neuen CDU-SPD-Senat wird sie vollends zur weltfremden Chimäre.

Es kann daher als Erfolg gewertet werden, dass die Demobilisierungsversuche der GEW-Bürokratie ins Leere liefen und sie stattdessen damit konfrontiert wurde, dass die aktiven Kolleg:innen für die Ausweitung der Streikaktionen plus transparente Debatte stimmten! Ein Erfolg, der begleitet wird von der Forderung, die Basis des Streikes zu verbreitern, indem aktiv schwach organisierte Schulen besucht werden sollen, um Unterstützung im Aufbau von GEW-Aktionsgruppen, für Streikversammlungen, Mobiveranstaltungen etc. anzubieten, um somit die Streikkraft der Bewegung zu vergrößern. Ein vollkommen verständlicher Vorschlag, da die abnehmende Zahl an Streikenden über die letzten Streiktage hinweg durchaus die Gefahr birgt, dass die Kolleg:innen ausgebrannt werden und keinen Sinn mehr in den Streikaktionen sehen. Damit dies nicht dem Senat sowie der GEW-Bürokratie in die Hände spielen kann, sind solche Vorschläge von kämpferischen Gewerkschafter:innen positiv aufzugreifen und zu unterstützen.

Darüber hinaus dient die Verbreiterung der Basis auch gleichzeitig dazu, den Druck auf die GEW-Bürokratie sowie auf die Tarifkommission zu erhöhen, um zu verhindern, dass sie die Abstimmung der Streikversammlung einfach umgehen. Dies erkennen wir daran, dass vonseiten der GEW-Führung nun nur ein 3-tägiger und kein 5-tägiger Warnstreik ausgerufen wurde. Hier redet sich die Bürokratie damit heraus, dass die Streikversammlungen keine demokratische Legitimität besäßen und von dieser keine Mandate ausgehen könnten.

Dieses Manöver zeigt deutlich, dass der Einfluss des Teils der Basis, welcher für die Ausweitung der Streikbemühungen einsteht, noch zu gering ist, um die Mehrheit auf Streikversammlungen auch wirklich in Aktionen der Gewerkschaft zu übertragen. Klar muss dem Manöver der Bürokratie widersprochen werden. Gleichzeitig sollte aber auch der Unmut über diese Entscheidung innerhalb des aktiven Kreises dazu verwendet werden, um Basisstrukturen aufzubauen, die sich kritisch mit der Rolle der GEW-Bürokratie auseinandersetzen und auch offen die demokratischen, gewerkschaftsinternen Prozesse der Streikführung kritisieren und diskutieren. Darüber hinaus müssen diese Diskussionen eingebunden werden in die oben schon angesprochenen Bemühungen zur Ausweitung der Basisstrukturen, um sich in zukünftigen Entscheidungen auf Streikversammlungen wie auch in konkreten Aktionen danach manifestieren zu können.

Schließlich sollte während des dreitägigen Warnstreiks vom 10. – 12. Oktober eine gut vorbereitete Vollversammlung stattfinden, die über die weitere Vorgehensweise beschließt. Es gibt keinen Grund, das demokratische Mandat einer solchen Versammlung anzuzweifeln, wenn schon im Vorfeld an Schulen und in den gewerkschaftlichen Strukturen genau diese Fragen anhand von Anträgen an die Vollversammlung diskutiert werden.




Ver.di Bundeskongress: „Sagt nein! Gewerkschafterinnen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“

Georg Ismael, Infomail 1231, 17. September 2023

Berlin. Während sich im Hotel Estrel die rund 1000 Delegierten der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zusammenfanden, brachten rund 60 Kollegen und Kolleginnen ihren Protest gegen die Politik des ausgehenden Bundesvorstandes zum Ausdruck.

Im Vorhinein hatten sie bundesweit rund 12.000 Unterschriften gesammelt. Die Kampagne lehnt die Zustimmung ver.dis zur Kriegs-, Aufrüstungs- und Sanktionspolitik der deutschen Regierung ab. Hiergegen will sie eine Opposition in ver.di zusammenzubringen. So unterstützen bereits etliche Delegierte die Resolution „Sagt Nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden“.

Während die Leitanträge ver.dis weitestgehend zu Fragen der Inflation schweigen, wurde Bundeskanzler Scholz gegen Mittag das Wort erteilt. Dieser hatte kürzlich mit dem „Deutschlandpakt“ massive Einschnitte bei ökologischen und sozialen Ausgaben gerechtfertigt. Unterdessen stieg der Militärhaushalt für das Jahr 2024 auf mehr als 80 Milliarden Euro.

Der ver.di Kongress wird sich voraussichtlich wenig mit dem Versagen der Gewerkschaft beschäftigen, die Inflation für die Beschäftigten in den vergangenen vier Jahren unter Bedingungen von Covid19 und Kriegssanktionen abzuwenden. Stattdessen werden mit der Einladung Scholz (SPD) und Wegeners (Berliner Bürgermeister, CDU) die bürgerlichen Regierenden hofiert, deren Politik maßgeblich für diese Krise mitverantwortlich ist.

Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine alternative klassenkämpferische Politik seitens der Basis in den Gewerkschaften und Betrieben. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) Berlin lädt für den 20. September, 18.30 zum Treffen „Zwischen TV-L und ver.di Bundeskongress“ in der ver.di-Mediengalerie, Dudenstr. 10 (Nähe U-Bahn Platz der Luftbrücke) ein.

Die Dauer-Kundgebung vor der dem Estrel dauert bis Dienstag 20 Uhr an.




Runter mit der CDU vom CSD!

Jaqueline Katherina Singh, Infomail 1228, 20. Juli 2023

Klar, der Christopher Street Day ist schon seit Jahren eine einzige Kommerzveranstaltung. Einmal im Jahr packen Konzerne und Politiker:innen die Regenbogenfahne aus und spendieren einen Truck, von dem lauthals Musik tönt, während man die restlichen 364 Tage dann recht wenig im Betrieb von queerer Akzeptanz spürt. Beschwerdestellen, eigenständige Schulung zur Sensibilisierung der Mitarbeiter:innen und Auflösung des Gender Pay Gaps gibt’s nicht oder sind eine Seltenheit. Und das enttarnt dann meistens auch den Charakter der Beteiligung: Es ist eine Imagefrage, denn aktuell gehört es noch zum guten Ton, sich solidarisch zu zeigen. Queerness ist cool, ist in und größtenteils akzeptiert. Und solange man nicht ernsthaft was dafür machen muss und auch noch Geld daran verdienen kann, ist man eben gerne dabei.

Ein Schritt vorwärts?

Ja, es ist natürlich ein Schritt vorwärts, dass der CSD so groß ist, auch wenn’s eine riesige Party ist. Aber während einige die Party genießen und danach die Pridefahne wieder einrollen, wenn sie nach Hause gehen, klappt das nicht für alle. Dies wird vor allem sichtbar außerhalb der Großstädte. Beispielsweise in Bautzen, wo dieses Jahr die erste Pride stattgefunden hat – unter aktiven Drohungen durch Faschist:innen, während sich kurz vorher der Lesben- und Schwulenverband in Freiburg und die IG CSD in Stuttgart von Symbolen der Antifaschisten Aktion distanzierten. Darüber hinaus klappt es auch nicht für jene, die Angst haben müssen, wenn sie im eigenen Kiez Hand in Hand spazieren gehen wollen. Es klappt nicht für die, die immer „witzige“ Kommentare auf der Arbeit oder im eigenen Heterofreundeskreis hören. Es klappt nicht für alle, die sich überlegen müssen, ob es wirklich sicher ist oder sie die Blicke ertragen können beim Rausgehen, wenn sie sich schminken und ein Kleid anziehen. Und schon gar nicht klappt es für die, die der Hetze voll ausgeliefert sind.

Deswegen hilft eine Pride nicht viel, die solche Themen mittlerweile wenig zur Sprache bringt, während zeitgleich Firmen, die in Ländern, wo LGBTIA+ umgebracht werden, stummen Wortes produzieren, um ihre Profite zu sichern. Da helfen auch nicht die aktuellen Ermittlungen gegen Teile des Berliner CSD-Vorstands unter anderem aufgrund von Veruntreuung sowie Einbehaltung von Bargeldeinnahmen vom CSD 2022.

Vielmehr macht das nur deutlich, dass die Diskriminierung von LGBTIA+ zwar alle Queers trifft, aber halt nicht alle gleich. Neben der Tatsache, dass trans Menschen es in der Gesellschaft wesentlich schwerer haben, ist es auch eine Klassenfrage. Das ist keine Nebensache. Wer sich keine Gedanken machen muss, wie man sich in öffentlichen Verkehrsmitteln (nicht) verhalten oder (nicht) kleiden sollte, weil mensch doch auch einfach mit dem eigenen Auto umherfahren kann, dem sind halt andere Dinge wichtiger. Wer homosexuell, aber reich ist, der ist bereit, zugunsten der eigenen ökonomischen Lage „Kompromisse“ einzugehen. Oder anders gesagt: Der wählt halt CDU, weil das politische Programm die eigene Lage besser absichert, unabhängig davon, was das für die eigene Sexualität bedeutet. Deutlicher als an der Person von Alice Weidel, die nix Besseres zu tun hat, als als Lesbe ständig gegen das „Gender-Gaga“ zu reden, weil’s in die eigene Agenda passt, kann man es selten machen.

Ja, es ist nichts Schlimmes daran, wenn die Pride Spaß macht. Aber man sollte halt nicht vergessen, dass sie vor allem politisch ist. Oder sein sollte. Nicht nur, weil die erste Pride ein Riot gewesen ist, sondern aufgrund der aktuellen politischen Lage.

Kein Schritt zurück!

Eine der ersten Amtshandlungen der CDU im Berliner Senat ist es gewesen, das Gendern in den Berliner Behörden rückgängig zu machen. Rückschrittlich, bringt niemandem/r irgendetwas, aber man hat halt einen populistischen Wahlkampf gemacht und will zeigen, dass man auch liefert. Das Behördenchaos in Berlin gibt’s natürlich weiterhin, nur halt ohne :*_.  Hilft auch super bei der Wohnungskrise – oder nicht?

Das Ganze ist kein Ausrutscher von Kai Wegner, sondern fester Bestandteil der Politik der CDU, bedenkt man beispielsweise den Tweet von Frontmann Friedrich Merz. Dieser will dem Satz „Und rechts von uns ist nur die Wand!“ wieder neue Bedeutung geben und so hat er es geschafft, pünktlich zum Pridemonth einen Tweet in die Welt hinauszuposten, der vieles war: eine bewusste Provokation, ein „Mal beim AfD-Milieu“-Abgreifen und dazu noch strunzdumm. Das erste, was einem/r durch den Kopf geschossen ist, war: Nehmt dem alten, verwirrten Mann das Handy weg und lasst dessen Hirngespinste mal besser medizinisch abchecken. Doch leider ist das kein verwirrter Einzelfall, sondern die neue Masche der CDU unter Friedrich Merz. Denn auf den Tweet folgte nun die Ausweitung des Verbots von Gendern in sächsischen Schulen auf Kooperationspartner:innen und die Hetze der CSU in München gegen einen Vorleseabend der Münchner Stadtbibliothek, bei dem eine Dragqueen sowie ein Dragking geladen wurden.

Doch was bedeutet das für die Praxis? Angelehnt an die aktuelle Debatte in den USA um trans Rechte, versuchen nun auch hier Konservative queeres Leben und Selbstbestimmung weiter anzugreifen. Die CDU hetzt gegen Queers und die Berliner SPD trägt diese Koalitionspartnerin mit. Ganz einfach. Statt diese Kräfte ihre Regenbogenfahne am CSD auspacken und Wegener auch noch bei der Eröffnung reden zu lassen, sollten diese nicht die Möglichkeit bekommen, ihre Doppelmoral zur Schau zu stellen! Die Hetze von CDU und CSU zu dulden und sie dann in den eigenen Reihen mitlaufen zu lassen, ist wie, dem Wolf schon freiwillig den Schafspelz zu geben. Wir sind in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Akzeptanz ziemlich schnell drohen kann zu kippen – und es sind neben der AfD diese Kräfte, die ihr Bestes dafür tun, queeres Leben aus der Öffentlichkeit zu drängen, zu verurteilen und auch einen Anstieg von Gewalt gegen LGBTIA+ damit begünstigen. Ansonsten bedeutet das, in der Realität Politik gegen trans Menschen, gegen alle Non-Binaries und Menschen, die sich nicht in das binäre Geschlecht einordnen lassen wollen, mitzutragen und zu unterstützen. Die Pride gibt’s dann nur noch für Cis-Männer und -Frauen, Jens Spahn und Alice Weidel Hand in Hand, die geben bestimmt viel Geld und einen aus.

Statt so zu tun, als ob es was Gutes ist, dass sich augenscheinlich alle mit der Prideflag schmücken können, muss klar gemacht werden, dass Parteien, die aktiv gegen Queers hetzen, nichts auf der Pride zu suchen haben. Gleiches gilt für Institutionen und Firmen, die das aktiv mittragen oder finanzieren. Deswegen ist die Initiative des Hamburger CSD zu begrüßen, der die CDU aktiv ausgeladen hatte, nachdem deren lokale Parteigliederung der Initiative „Schluss mit Gendersprache in Verwaltung und Bildung“ 3.000 Unterschriften übergab, bei der Anfang des Jahres die Initiatorin Homosexuelle pauschal zur Gefahr für die menschliche Evolution erklärte (queer.de berichtete).

  • Lasst uns deswegen gemeinsam ein lautstarkes Zeichen gegen die CDU setzen!



Berliner GEW-Streik braucht einen Kampagnenplan

Martin Suchanek, Infomail 1224, 9. Juni 2023

Zum 14. Mal legten Berliner Lehrer:innen im Kampf für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz vom 6. – 8. Juni die Arbeit nieder. 14 Streiks, an denen sich jeweils Tausende Beschäftigte anschlossen; 14 Streiks, die vom Berliner Senat – zuerst von Rot-Grün-Rot und jetzt von CDU/SPD – ignoriert wurden. Über einen Tarifvertrag könne das Land Berlin leider leider nicht gegen den Willen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) verhandeln, so ließen bisher alle Senatsparteien verlauten.

In der Tat stellt der geforderte Tarifvertrag Gesundheitsschutz eine fortschrittliche Neuerung für den Bildungssektor dar. Die GEW Berlin fordert darin eine Reduktion der Klassengrößen, um die Beschäftigten zu entlasten und zugleich die Bildung für die Schüler:innen zu verbessern. Natürlich müsste das mit einer massiven Einstellung weiterer Lehrkräfte und verbesserter Bezahlung einhergehen – und genau das wollen weder der Berliner Senat noch die Tarifgemeinschaft der Länder. Um das heiße Eisen erst gar nicht anzufassen, weisen sie jede Zuständigkeit von sich.

Empörung

14 Streiks, die teilweise zwei oder gar drei Tage andauerten, beweisen, dass die Forderung nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Entlastung der Lehrkräfte und qualitativ besseren Lehrbedingungen ein reales Problem treffen – und zwar von Lehrenden, Lernenden und auch deren Eltern.

Daher beteiligten sich tausende Gewerkschaftsmitglieder seit Mitte 2021, also seit rund zwei Jahren, regelmäßig an den Arbeitskämpfen. Die Sympathie unter Eltern und Schüler:innen ist groß – schließlich sind sie selbst Hauptopfer der Unterfinanzierung des gesamten Bildungssystems.

Ursprüngliche Strategie gescheitert

Doch 14 Streiks werfen bei weiterhin ausbleibender Gesprächsbereitschaft seitens des Senats auch immer drängender die Frage auf: Mit welcher Kampfstrategie können die Forderungen durchgesetzt, ja überhaupt Verhandlungen erzwungen werden? Die CDU hat zwar im Wahlkampf eine Reform des Schulgesetzes ins Spiel gebracht, um der Streikbewegung die Spitze zu nehmen und die Lehrer:innen mit einigen Reförmchen abzuspeisen. Doch nicht einmal das wird bisher ernsthaft angeboten.

Zweitens aber sollten die Lehrer:innen ein solches „Angebot“ nicht ablehnen, jedoch dürfen sie sich davon auch blenden lassen und müssen an ihrem Ziel eines Tarifvertrages festhalten. Eine Reduktion der Klassengrößen per Schulgesetzänderung stellt allenfalls eine Willensbekundung des Senats dar, deren Nicht-Umsetzung sich mit Verweis auf den Lehrer:innenmangel leicht entschuldigen lässt. Ein Tarifvertrag hingegen holt die Entscheidung über Klassengrößen raus aus den verschlossenen Türen der Ministerialbürokratie an den Verhandlungstisch mit den Beschäftigten und bietet ihnen eine einklagbare Grundlage für Entlastung am Arbeitsplatz. Für die streikenden Lehrkräfte muss klar sein: Eine Schulgesetzänderung kann kein Ende ihres Kampfes bedeuten!

Das Ausbleiben jedes Angebots seit zwei Jahren verdeutlicht jedoch auch, dass die ursprüngliche Politik der GEW-Führung gescheitert ist, den Berliner Senat mittels einiger Warnstreiks an den Verhandlungstisch zu bringen und dann einen mehr oder weniger guten Kompromiss auszuhandeln. Ein Tarifvertrag Gesundheitsschutz ist durch befristete Tagesstreiks nicht zu haben. Alles andere bedeutet nur, sich selbst und den Streikenden etwas vorzumachen.

Entwicklung der Bewegung

Aber nach 14 Streiks steht die Frage im Raum, wie es weitergehen kann. Schon bei den letzten Arbeitsniederlegungen zeigte sich, dass die Zahl der Streikenden stagniert, an manchen Schulen sogar abnimmt, während andere dazustoßen. Bei den jüngsten drei Kampftagen vom 6. – 8. Juni stießen die Aktiven zusätzlich auf das Problem, dass sich viele  Gewerkschafter:innen nur an einzelnen Tagen beteiligten.

Generell kann gesagt werden, dass die Bewegung zahlenmäßig stagniert. Sie kann sich einerseits auf eine Schicht von mehreren Tausend zuverlässig Streikenden stützen. Doch die bilden bei rund 35.000 Lehrkräften nur eine Minderheit.

Das bedeutet aber auch, dass die bisherige Taktik, alle ein bis zwei Monate die Arbeit niederzulegen, nicht reicht, um den Senat auch nur zu Verhandlungen zu zwingen. Vom Standpunkt der Bildungsverwaltung und der regierenden Koalition ist es nur folgerichtig, die Aktionen weiter auszusitzen. Sie setzten, nicht ohne Grund, darauf, dass sich die Bewegung totlaufen wird.

Zugleich hat sich in den letzten beiden Jahren die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, die die Aktionen tragen, deutlich erhöht. Neue, vor allem junge Lehrkräfte wurden in die Bewegung gezogen, auf diese stützen sich viele Streiks, Demonstrationen und Streikcafés in den Bezirken und Kiezen. Letztere sind eine Form von Basisversammlungen aktiver Gewerkschafter:innen, die eine Vernetzung verschiedener Schulen darstellen und damit auch als Mittel zum Aufbau weiterer Basisgruppen und zur Gewinnung neuer Mitglieder dienen. Diese Schicht war bei der Berliner Streikversammlung am 8. Juni besonders stark vertreten, an der über 1.000 Menschen teilnahmen.

Während also die Zahl der Streikenden insgesamt stagniert, so hat sich die Zahl der aktiven, den Kampf vorantreibenden Gewerkschafter:innen erhöht und verbreitet. In diesem, qualitativen Sinne können wir keineswegs von einer Stagnation der Bewegung sprechen, weil sich mit der Vergrößerung der Aktivist:innen auch die Möglichkeiten zur Verbreiterung der Streikbewegung verbessert haben.

Wie weiter?

Dies geht jedoch nicht ohne innere Konflikte. Denn wir müssen auch klar festhalten, dass die Strategie der GEW-Führung in den letzten Monaten immer mehr an ihre Grenzen gestoßen, ja objektiv gescheitert ist. Es braucht eine klare Vorstellung, mit welchen Schritten der Streik ausgeweitet, wie letztlich ein unbefristeter Erzwingungsstreik vorbereitet werden kann.

Indirekt erkennt auch die Führung der GEW dieses Problem an. Angesichts von Monaten der Verhandlungsverweigerung braucht es natürlich Eskalationsschritte wie den dreitägigen im Unterschied zum eintätigen Streik. Doch das allein ist keine Strategie, keine wirkliche Perspektive.

Eine solche setzt nämlich nicht nur ein klares Ziel, den Tarifvertrag Gesundheitsschutz, sondern auch voraus, die notwendigen Kampfschritt offen zu benennen, um so unter den organisierten wie auch den noch nicht organisierten Lehrer:innen und Erzieher:innen deutlich zu machen, welche Kampfformen notwendig sind, um den Tarifvertrag durchzusetzen.

Das wird wahrscheinlich nur mit einem unbefristeten Erzwingungsstreik möglich sein. Das ist sicher mit dem aktuellen Organisationsgrad nicht möglich. Aber um diesen vorzubereiten, muss er auch schon heute klar als Mittel benannt werden.

Kampagnenplan

Vor dieser Frage drückt sich letztlich die GEW-Führung herum. Eine Gruppe von aktiven Gewerkschafter:innen, viele davon junge GEWler:innen, haben daher die Initiative ergriffen und in den Streikcafés, bei der Demonstration und Streikversammlung Flugblätter verteilt und einen Vorschlag für einen Kampagnenplan zur Diskussion gestellt.

Dieser empfiehlt für die ersten Wochen des nächsten Schuljahrs einen fünftägigen Warnstreik. Dieser soll zur Vorbereitung eines unbefristeten Streiks genutzt werden, um die Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, Streikversammlungen an den Schulen abzuhalten, Mobimaterialien herzustellen und zu verteilen, Veranstaltungen durchzuführen, schwächer organisierte Schulen durch stark organisierte zu unterstützen, kiez- und bezirksweite Demonstrationen durchzuführen. Darüber hinaus sollen auch Erzieher:innen in den Streik einbezogen werden.

Den Kern des Plans bildet aber auch eine Verbreiterung und Demokratisierung der Entscheidungsstruktur durch eine berlinweite Streikversammlung, die über die Strategie der Bewegung und die Politik der Tarifkommission bestimmt. Sie soll auch darüber entscheiden, wie der Streik fortgesetzt wird, falls sich der Senat auch nach der ersten fünftägigen Aktion nicht zu Verhandlungen bereiterklärt.

Damit formulieren die Streikenden ein Konzept zur Überwindung der aktuellen zahlenmäßigen Stagnation. Der Fokus auf Streikversammlungen und deren Entscheidungsbefugnis erlaubt auch eine viele breitere Einbeziehung aller, vor allem der aktiven Träger:innen des Streiks. Natürlich geht es dabei auch um stärkere Kontrolle der bestehenden Strukturen der GEW und der Tarifkommission. Aber das ist letztlich nur ein Aspekt.

Wenn es wirklich einen längeren, letztlich unbefristeten und auch viel breiteren Erzwingungsstreik geben soll, muss die GEW ihre Aktivenbasis vergrößern. Das wird letztlich aber nur möglich sein, wenn diese (a) praktische Verantwortung für den Kampf übernimmt (also Erstellen von Material, Streikposten, Verbindung zu Eltern und Schüler:innen, Kiezversammlungen mit Anwohner:innen usw.) und (b) auch real über die Streikstrategie und die Politik der Tarifkommission und einer etwaigen Verhandlungskommission bestimmt.

Dazu braucht es Massenversammlungen wie die Streikversammlung am 8. Juni. Damit diese über grundlegende Fragen entscheiden können, müssen sie natürlich auch besser vorbereitet und Anträge im Voraus über die GEW verschickt werden. So können Argumente und Gegenargumente über einen längeren Prozess ausgetauscht werden, was einer großen Versammlung wiederum erleichtert, rasch Entscheidungen zu treffen. Diese wären nicht nur viel demokratischer als jene einer wenig an die Basis gebundenen Tarifkommission. Sie würden viel direkter die Mehrheit der Mitgliedschaft zum Ausdruck bringen – und zwar vor allem des aktiven, engagierten kämpferischen Teils.

Wir rufen alle kämpferischen Gewerkschafter:innen auf: Unterstützt die Vorschläge für einen Kampagnenplan, tretet mit den Kolleg:innen in Kontakt!




Kampf der Homo-, Inter- und Transphobie weltweit!

Arbeiter:innenmacht-Rede bei der Kundgebung #idahobit in Berlin am 17. Mai, Infomail 1223, 18. Mai 2023

Der Kampf für die Rechte von Lesben und Schwulen, von bi, inter und trans Personen stellt weltweit für uns alle eine zentrale Aufgabe im Kampf gegen Unterdrückung dar.

Noch heute werden in 69 Staaten – also rund einem Drittel aller Länder der Erde – LGBTIA+-Personen allein wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität strafrechtlich verfolgt. In 11 Ländern droht Homosexuellen bis heute die Todesstrafe.

Doch auch in den meisten Ländern, wo LGBTIA+-Personen nicht direkt kriminalisiert werden, werden sie rechtlich benachteiligt, wenn es um die Anerkennung von Partner:innenschaften oder ihrer Geschlechtsidentität geht. Gerade trans Personen werden auch hier systematisch im Alltag diskriminiert, leiden verstärkt unter sozialer Ausgrenzung und ihren Folgen, haben schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt, geringere Einkommen.

In den letzten Jahren wurden zwar einige rechtliche Fortschritte und mehr Sichtbarkeit erkämpft, aber wir wissen: Von echter Gleichstellung sind wir noch weit entfernt. Mehr noch: In vielen Ländern – darunter in den auch ach so fortschrittlichen Demokratien wie den USA – findet ein Rollback auf etlichen Ebenen statt. Auch wenn es in den USA rechtliche Verbesserungen gab, so wurden vor allem in zahlreichen von den Republikaner:innen dominierten Staaten allein seit Beginn 2023 467 Gesetzesentwürfe eingereicht, die sich gegen LGBTIA+-Personen richten.

Michael Knowles, ein Sprecher der US-amerikanischen Konservativen, formuliert das Ziel mit einer reaktionären Offenheit, die deutlich macht worum es geht. Zitat: „Trans muss aus dem öffentlichen Leben vollständig ausradiert werden.“

Viele reaktionäre Gesetze richten sich gegen die Anerkennung der Geschlechtsidentität von Jugendlichen. Es geht dabei darum, ihnen jegliche Unterstützung zu versagen, was auch heißt, Eltern zu kriminalisieren oder das Sorgerecht zu entziehen, die ihren Kindern medizinische oder psychotherapeutische Unterstützung ermöglichen wollen.

Dafür nehmen Rechte, die sich ansonsten gern als „Lebensschützer:innen“ inszenieren, billigend Leiden und Ausgrenzung in Kauf.

Ein Blick in die USA – aber im Grund in jedes Land – verdeutlicht auch, wie eng die Unterdrückung von trans Personen mit der sozialen Frage verbunden ist. In den Vereinigten Staaten leben 29 % aller trans Personen in Armut gegenüber 14 % im Durchschnitt der Bevölkerung. Nach Untersuchungen waren rund 20 % aller jugendlichen LGBTIA+- Personen mindestens obdachlos (gegenüber 3 % aller Cisjugendlichen).

Doch was dagegen tun?

Wir müssen für unseren Kampf gleich mehrere Schlüsse ziehen:

Erstens findet die Unterdrückung von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität nicht zufällig statt. Sie bleibt bis heute ein wichtiger Bestandteil aller Unterdrückung im Kapitalismus.

Zweitens bildet der Angriff auf LGBTIA+-Personen ein wesentliches Merkmal des Programms reaktionärer Regime und des globalen Aufstiegs von rechten, populistischen bis hin zu faschistischen Organisationen, oft in Verbindung mit reaktionären religiös-fundamentalistischen Kräften jeder Art.

Drittens hat die Vergangenheit gezeigt, dass wir uns auf bürgerliche Regierungen und Kräfte nicht verlassen können. Ihre Reformen sind allenfalls halbherzig. Vor allem aber bieten sie keinen Schutz gegen das nächste rechte Rollback und ändern nichts am grundlegenden Problem.

Viertens sind Menschen aus der Arbeiter:innenklasse, rassistisch Unterdrückte und Jugendliche besonders betroffen. Armut und Ausbeutung treffen sie härter und somit ist der Kampf gegen Unterdrückung auch eine soziale Frage, gerade wenn es um Löhne, Einkommen, Wohnen und medizinische Versorgung geht.

Lasst uns also nicht dabei stehenbleiben, uns an den Angriffen der Rechten abzuarbeiten! Lasst uns in die Offensive gehen und eine Bewegung aufbauen, die den Kampf gegen die rechte Gewalt und das Rollback mit dem für Verbesserungen von LGBTIA+-Personen weltweit verbindet! Ob nun in den USA oder auch anderen Ländern wie Pakistan oder hier in Deutschland, wo die CDU auf die Hetze gegen queere Kultur aufspringt.

Statt nur darauf zu warten, ob mehr Bundesstaaten wie Florida sexuelle Selbstbestimmung aus den Schulen verbannen, brauchen wir die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze an Schulen, Arbeitsplätzen und im öffentlichen Leben!

Statt stumm zusehen zu müssen, wie die Programme, die es gibt, gestrichen werden, lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass Geschlechtsangleichungen kostenlos und ohne bürokratischen Aufwand stattfinden können. Statt Konzepten wie „Ehe für alle“ brauchen wir die rechtliche Gleichstellung aller Lebensgemeinschaften.

Statt die Hetze der Rechten ertragen zu müssen, immer mehr Gewalt und Polizeikontrollen zu erleiden, brauchen wir demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees zusammen mit der Arbeiter:innenklasse!

Um erfolgreich zu sein, müssen wir den Kampf dorthin tragen, wo wir lernen, studieren, arbeiten – an die Schulen, Unis und in die Betriebe. Wir müssen dafür kämpfen, dass Schüler:innenvertretungen, Betriebsräte und Gewerkschaften den Kampf aufnehmen – gegen Diskriminierung, Homo-, Inter- und Transphobie, aber auch reaktionäre Einstellungen unter Jugendlichen und Arbeiter:innen.

Das machen wir am besten, indem wir unsere Forderungen mit denen von anderen verbinden und gemeinsam für höhere Mindestlöhne oder kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem für alle wie in den USA eintreten und gleichzeitig gegen die Wurzel des Problems kämpfen: den Kapitalismus.

Lasst uns also den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft frei von jeder Ausbeutung und Unterdrückung gemeinsam aufnehmen! Für eine Welt, in der das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, über die eigene sexuelle Orientierung, über die eigene Geschlechtsidentität zur Selbstverständlichkeit wird!




Gemeinsam gegen Arbeitsrechtsverletzungen: Arbeiterinnen und Arbeiter von Wolt, Lieferando, Flink sitzen zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1223, 17. Mai 2023

„Zwei Tage nachdem meine sechsmonatige Probezeit am 8. Mai endete, wurde ich am 10. Mai per E-Mail entlassen. Ich brauchte das Geld für meine Studiengebühren.“

Dies ist die Geschichte des 22-jährigen K*, der an der Berlin School of Business Innovation den Master in Finance studiert. Er kam aus Kerala, Indien, nach Deutschland. „Meine Eltern haben mich dabei unterstützt, hierherzukommen, aber was kann ich noch mehr von ihnen verlangen“, sagt er. „Es ist auch für sie schwierig, mich von Indien aus zu unterstützen. Ich habe aus der Not heraus angefangen, bei Flink zu arbeiten, auch, weil mir die Idee gefiel, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Und jetzt, nach sechs Monaten guter Arbeit, wurde mir ohne Grund gekündigt.“

Versammlung

K* war am Montag, den 15. Mai, bei einer Versammlung der Wolt-Zusteller:innen anwesend. Das Treffen wurde mit dem Ziel organisiert, allen Zusteller:innen, die von Nichtbezahlung, Kündigungen ohne Grund, Entzug grundlegender Arbeitsrechte wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und anderen Problemen betroffen sind, Rechtsbeistand zu leisten. Martin, ein Rechtsanwalt, war anwesend, um die Beschäftigten aus rechtlicher Sicht zu beraten, da er über Erfahrungen mit Fällen von Lohnabhängigen bei verschiedenen Lebensmittellieferant:innen wie Gorillas, Lieferando, Flink und Wolt verfügt. Andere, die für andere Lebensmittellieferant:innen als Wolt arbeiten oder gearbeitet haben, sowie einige Aktivist:innen waren ebenfalls anwesend.

Laut K* behandelt Flink seine Mitarbeiter:innen seit einigen Monaten auf unfaire Weise. „Flink hat nicht so viel Geld verdient, wie es erwartet hatte, und jetzt wälzen sie die Last ihrer Verluste auf die Beschäftigten ab, indem sie sie entlassen“, sagte er. „Ich verstehe, dass ein Unternehmen das manchmal tun muss, aber das Mindeste, was sie tun können, ist, uns eine 30-tägige Kündigungsfrist einzuräumen.“

Er teilt sich ein Zimmer mit einem anderen Freund, weil die Miete ohnehin schon so schwer bezahlbar ist. Jetzt, da ihm plötzlich gekündigt wurde, macht er sich Sorgen, wie er in diesen prekären Zeiten seine Finanzen regeln soll. „In meinem Vertrag steht, dass man innerhalb der sechsmonatigen Probezeit jederzeit gekündigt werden kann“, sagte er. „Aber mich nur zwei Tage nach Ablauf der Probezeit fristlos zu entlassen, ist geradezu grausam.“

Der Fall von K* ist weder neu noch ein Einzelfall. Eine andere Person, die bei dem Treffen anwesend war, berichtete von einer ähnlichen Erfahrung mit Flink. Inzwischen haben Wolt-Mitarbeiter:innen wie Mohamed nicht einmal einen Arbeitsvertrag. Zusammen mit einem anderen Wolt-Arbeiter hat er im Juli einen Termin für die Anhörung ihrer Fälle vor einem Gericht.

Mohamed sagte, dass der Eigentümer von Mobile World, der die Arbeiter:innen des Fuhrparks von Wolt als Subunternehmer:innen beschäftigte und ihnen Löhne im Wert von 3.000 Euro nicht zahlte, jetzt neue Leute einstellt. „Es gibt eine Anzeige auf Ebay unter Alis Namen“, sagte er. „Diesmal sind es aber nur Autofahrer:innen, die er einstellt.“

Arbeiter:innen von Lieferando, Wolt und Flink diskutierten ähnliche Probleme. Einige beschwerten sich darüber, dass sie für ihre erste Bestellung überhaupt und auch für die erste nach einer Pause nicht für die gefahrenen Kilometer entschädigt werden. R* sprach darüber, dass Wolt von ihm erwartet, dass er nachts zu ungewöhnlichen Zeiten arbeitet, obwohl er einen „flexiblen“ Vertrag gewählt hat, um sich um sein Kind zu kümmern.

Es wurde auch über die Bildung (und die damit verbundenen Schwierigkeiten) eines Betriebsrats für die Wolt-Beschäftigten diskutiert, da die Lieferando-Beschäftigten bereits einen haben. Schließlich wurde beschlossen, eine weitere Protestaktion zu organisieren, um Druck und Bewusstsein zu schaffen. Beim nächsten Treffen am 22. Mai sollen die Aktionspläne konkretisiert werden.

Solidarität

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht erklärt ihre volle Solidarität mit allen Zusteller:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ihr Kampf ist gerecht und mehr denn je absolut notwendig. Die Lebensmittellieferant:innen sind sich der begrenzten Möglichkeiten bewusst, die auf migrantische Student:innen aus südasiatischen Ländern aufgrund von Sprachbarrieren existieren. Die meisten dieser Studierenden kommen aus nicht sehr wohlhabenden Verhältnissen und müssen als Lieferfahrer:innen arbeiten, um über die Runden zu kommen.

Internationale Lebensmittellieferant:innen nutzen ihre prekäre Lage aus und halten sich dabei nicht einmal an die deutschen arbeitsrechtlichen Vorschriften. Das liegt daran, dass die meisten Migrant:innen ihre Rechte nicht kennen und viele, die sie kennen, Angst haben, das Unternehmen zu verklagen. Nicht wenige haben mit ihrem Studium und mehreren Gelegenheitsjobs kaum Zeit, sich kollektiv zu organisieren. Das stille Leiden der Mehrheit hat dazu geführt, dass sich diese blutsaugenden Unternehmen zu einem Monster entwickelt haben, das völlig ungestraft agiert.

Die Auslieferung von Lebensmitteln ist ein fester Bestandteil des Lebens in Deutschland, was zeigt, wie wichtig diese Lohnabhängigen heute sind. Jeden Tag sieht man Hunderte dieser jungen Männer und Frauen, die sich auf unseren Straßen mit dem Fahrrad fortbewegen. Wir rufen alle Lohnabhängigen und Gewerkschaften auf, die Kämpfe dieser sogenannten informellen Arbeiter:innenklasse zu unterstützen. Der Kapitalismus hat sie zu einer Unterklasse degradiert, und es ist eine Schande, dass die deutschen Behörden dies direkt vor ihrer Nase zugelassen haben.

Wir als Arbeiter:innen sind stärker, wenn wir geeint und organisiert sind. Aber diese Einheit und Organisation wird sich nicht von selbst ergeben. Es ist die Pflicht aller Sozialist:innen und Kommunist:innen, die bereits in Gewerkschaften organisiert sind, das Thema der Solidarisierung mit den Beschäftigten des informellen Sektors aufzugreifen und in ihren bestehenden Gewerkschaften dafür zu streiten. Es ist unsere Pflicht, an den Treffen und Veranstaltungen unserer Klassenbrüder und -schwestern teilzunehmen, um ihnen zu zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir können nie wirklich wissen, wann solche „Ausnahmen“ zur Regel für alle werden könnten. Bereiten wir uns also schon jetzt darauf vor und stellen wir uns auf die richtige Seite der Geschichte.

Auch für die Beschäftigten des informellen Sektors wäre es von Vorteil, sich in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zu organisieren, aber auch Teil des klassenkämpferischen Netzwerks der Gewerkschaften, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) zu werden, das im Januar 2020, kurz vor Beginn der Pandemie, gegründet wurde. Diese ist zwar offiziell „vorbei“, aber unser kollektives Leid ist es noch lange nicht. Deshalb müssen wir uns zusammenschließen und streiken!

* Namen zum Schutz der Identitäten verborgen.




Sowjetische Fahne in Berlin verboten – Justiz schlägt zu

Martin Suchanek, Infomail 1222, 9. Mai 2023

Vorweg: Wir verurteilen den reaktionären russischen Angriff auf die Ukraine – und zwar von Beginn an. Wir stehen auf der Seite der russischen Antikriegsbewegung und der ukrainischen Bevölkerung, die die Hauptlast dieses Kriegs trägt.

Wir schicken das vorweg, wohl wissend, dass uns in einem Land der demokratischen Kriegstreiberei und des deutschen NATO-Patriotismus schon allein deshalb der Vorwurf der „Putin-Versteherei“ entgegengehalten wird, weil wir auch die Kriegspolitik und Ziele des Westens bekämpfen.

Und dieser Kampf findet statt – nicht nur mit einem Sanktionsregime und Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch mittels Aufrüstung, Umstellung auf Kriegsproduktion, NATO-Erweiterung. Und er findet natürlich auch auf dem Feld von Ideologie und vor Gerichten statt.

Verbote durch Oberverwaltungsgericht

Die Berliner Justiz setzte am 8. Mai ihrerseits ein Zeichen, dass sie bei dieser Konfrontation nicht abseitsstehen will. Auf Antrag der Berliner Polizei erklärte das Oberverwaltungsgericht das Verbot russischer Fahnen, von St.-Georgs-Bändern und -Fahnen sowie das von Flaggen der Sowjetunion (!) am 8./9. Mai für rechtens.

Zuvor hatte das Verwaltungsgericht das Fahnenverbot noch für rechtswidrig erklärt. Doch die höchste Instanz hob diesen Entscheid auf Antrag der Polizei Berlin auf, weil die Flaggen als „Sympathiebekundung für die Kriegsführung (Russlands; Anm. d. Red.) verstanden werden“ könnten und „Gewaltbereitschaft“ vermitteln würden.

Dass russische Fahnen für einige Träger:innen auch eine Sympathie für Putin zum Ausdruck bringen, mag ja sein. Dass diese Sympathie politisch kritisiert werden darf und soll, ist sicher zutreffend.

Aber ebenso gut gilt die russische Fahne für andere als Symbol der Befreiung vom Faschismus, ganz so wie die US-amerikanische, britische oder französische – und bislang hat noch niemand deren Verbot anlässlich reaktionärer imperialistischer Interventionen gefordert.

Dass es sich bei dem Urteil um einen leicht durchschaubaren, aber nicht minder symbolträchtigen Akt politischer Justiz handelt, zeigt das Verbot der sowjetischen Fahnen. Russland ist anerkanntermaßen Kriegspartei in der Ukraine, das aus dem Zarismus stammende Georgs-Symbol ein imperiales Zeichen. Doch die Sowjetunion? Führt die etwa auch Krieg in der Ukraine? Allenfalls in der Einbildung von Reaktionär:innen, für die der Kalte Krieg nie zu Ende ging, für die es weder einen Bruch zwischen der frühen Sowjetunion Lenins und Trotzkis mit der bürokratischen Diktatur Stalins als auch der neuen imperialistischen Diktatur Putins gibt.

Es ist aber bezeichnend für das Geschichtsbild von Polizei und Justiz, dass sie diese Verknüpfung mit Verbotsantrag und -begründung ebenfalls vorgenommen haben. Russland sei gleich der Sowjetunion – damit entsorgt oder relativiert man symbolisch auch die für den deutschen Imperialismus lästige Tatsache, dass die Rote Armee maßgeblich die Niederlage der Wehrmacht und des Naziregimes herbeigeführt, die Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung vom Faschismus getragen hat.

Das Verbot der sowjetischen Fahnen stellt nicht nur einen Akt politischer Justiz, sondern einen politischen Skandal, eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer des Faschismus dar.

Nein zu reaktionären Fahnenverboten!

Das aktuelle Verbot stellt leider keinen Einzelfall dar. Schon 2022 hatte die Berliner Polizei ein skandalöses Verbot russischer und ukrainischer Nationalsymbole für Demonstrationen und Kundgebungen am 8. und 9. Mai, zum Tag der Befreiung, durchgesetzt. In diesem Jahr hoben die Gerichte jedoch die Verbote in der ersten Instanz auf – und gegen jene von ukrainischen Fahnen wurde zum Glück nicht geklagt. Es stellte natürlich auch einen Skandal dar, dass ukrainische Geflüchtete 2022 ihre Fahnen ebenfalls nicht tragen durften – trotz aller medial zur Schau gestellten „Solidarität“ der Regierenden.

Doch wir kennen reaktionäre solche Verbote auch zur Genüge gegen Kräfte des antiimperialistischen Widerstandes, seien es PKK-Fahnen und -Symbole, seien es solche von palästinensischen Organisationen.

Es handelt sich dabei um gesetzliche, polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und jeder weitere Fall führt zur „Normalisierung“ dieser repressiven Praxis. Jedes weitere Verbot liefert der Polizei einen Vorwand zur Kontrolle und Schikane von Demonstrierenden. Die Angriffe auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht sind natürlich kein Zufall, sondern eine Ergänzung zur verschärften imperialistischen Konfrontation, zur Militarisierung, zum Rassismus, zu Preiserhöhungen und zunehmender Verarmung. Und es gehört zur ideologischen Begleitmusik der „demokratischen“ Öffentlichkeit, alle, die die Politik ihres Staates, ihres Imperialismus kritisieren, als „Agent:innen“ der Gegenseite, in diesem Fall als Putin-Versteher:innen zu diffamieren. Davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen! Daher müssen die Fahnenverbote wie jeder Angriff auf demokratische Rechte kritisiert und bekämpft werden.




Zwischen Hammer und Amboss – Gewerkschaftsbürokratie unter Druck

Jan Hektik, Infomail 1220, 20. April 2023

Die Schlichtungsempfehlung ist öffentlich und die Verhandlungen werden am 22. April geführt werden, um das Angebot zu besprechen. In einem scheinbar neuen Trend gibt es bundesweit diverse Treffen der ver.di-Mitgliedschaft, welche diskutieren, wie die Stimmung ist und welche Punkte sie der Bundestarifkommission (BTK) mitgeben wollen. Dabei hat es die Bürokratie auch nicht einfach …

Nach eisenharten Verhandlungen mit den sog. Arbeitgeber:innen, in denen man wenig gefordert und noch weniger bekommen hat, muss man sich nun der eigenen Mitgliedschaft stellen. Und diese teilt hart aus. Sowohl in Berlin als auch in Bonn wird weniger debattiert, wie man aus der Empfehlung ein Angebot rausholen kann, sondern ob man auf Grundlage der Schlichtungsempfehlung überhaupt eine Verhandlungsbasis hat oder nicht gleich die Verhandlungen für gescheitert erklären soll.

Treffen in Berlin und Bonn

Auf dem Treffen in Berlin, wo sich am 17. April etwa 100 Beschäftigte, größtenteils Teamdelegierte, u. a. aus den Vivantes-Kliniken, dem jüdischen Krankenhaus, der Charité, den Wasserwerken, der BSR und den Studierendenwerken versammelt hatten, wurden gleich mehrere Resolutionen vorgestellt, welche mehr oder weniger stark dafür eintreten, die Verhandlungen direkt als gescheitert zu erklären und eine Urabstimmung einzuleiten.

Insbesondere kritisiert wurde die lange Laufzeit, die mangelnde Einzahlung in die Sozialsysteme durch die Einmalzahlung und das Außer-Acht-lassen der hohen Inflation. Insbesondere die Tatsache, dass die versprochene Inflationsausgleichsprämie für 2022 nun für 2023 gelten und dafür eine Nullrunde in 2023 gefahren werden soll, stieß auf große Empörung. Auf der Veranstaltung in Bonn am 18. April mit knapp 40 Teilnehmer:innen unter anderem aus Stadtreinigung und Verwaltung sah es nicht großartig anders aus.

In beiden Fällen versuchten die Vortragenden immer wieder, darauf abzustellen, dass dies ja noch nicht das Angebot sei, die Dienstherr:innen schon zu diesem kaum bereit gewesen seien. In Berlin verwiesen sie auf eine mögliche Verschlechterung durch Arbeitskampf wie 1992. Doch es fruchtete wenig. Zwar gab es auf beiden Veranstaltungen Stimmen, die befürchten, man könne noch schlechter dastehen und nicht genügend Streikstärke aufbringen, bzw. argumentierten, man habe mit der Ausgleichsprämie wegen der Steuerfreiheit 2023 mehr in der Tasche. Doch die überwiegende Mehrheit auf den Versammlungen möchte in den Streik treten, wenn nicht ein wesentlich besseres Angebot am Samstag präsentiert wird.

Ein Teil am liebsten direkt. Insbesondere die Pflege, die Tochtergesellschaften von Vivantes und die Studierendenwerke erklärten, dass sie ein Angebot auf Grundlage dieser Empfehlung ihren Kolleg:innen gar nicht präsentieren könnten.

Um solchen Veranstaltungen auszuweichen, soll in München erst gar keine Mitgliederversammlung stattfinden. Alles in allem entwickelt sich nach dem Verrat bei der Post ein kritischer Trend unter den Mitgliedern. Am 20. April wird es für Berlin noch ein Treffen geben, auf welchem Resolutionen eingebracht werden können. Dort gilt es, den Druck auf die Bürokratie weiter aufrechtzuerhalten und auch Beschlüsse durchzusetzen. Es ist wichtig, so öffentlich wie möglich klarzumachen, dass die Mehrheit der Beschäftigten streikbereit ist und sich nicht so einfach abspeisen lässt. Nur so können wir die Bürokratie zwingen, von ihrer Hinhaltetaktik abzurücken oder sich als die Kollaborateurin mit dem Kapital zu entlarven, die sie in Wahrheit ist. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses, hat die Verhandlung noch nicht stattgefunden und es bleibt abzuwarten, ob es die Bürokratie schafft, ein Angebot mit dem „Arbeitgeber:innenamboss“ auszuhandeln, welches den Schlag des Hammers der Mitgliedschaft dämpft. So oder so bleibt uns keine Wahl, als den Kampf weiterzuführen – sei es bei einem Streik, falls es keinen Abschluss gibt, sei es beim Aufbau einer organisierten Basisopposition gegen den Apparat.




Arbeitsmigrant:innen aus Indien und Pakistan schließen sich in Berlin gegen Wolt zusammen

Minerwa Tahir, Infomail 1219, 5. April 2023

Habt ihr kürzlich in einem Restaurant Essen bestellt, weil ihr das kalte, regnerische Wetter in Berlin satt hattet? Dann solltet ihr wissen, dass die Leute, die euch das Essen an die Haustür gebracht haben, möglicherweise seit Monaten nicht mehr bezahlt werden.

Die Zusteller:innen von Wolt organisierten am 5. April eine Protestaktion gegen die monatelange Nichtbezahlung der Löhne. Die Aktion begann an der U-Bahn Karl-Marx-Straße, gefolgt von einer Fahrradrallye zur Wolt-Zentrale, wo die betroffenen Beschäftigten Reden hielten. Insgesamt nahmen 50 Personen teil, obwohl die Wolt-Geschäftsführung angeblich strafrechtliche Konsequenzen gegen die Teilnahme der Beschäftigten angedroht hatte.

Lage der Arbeiter:innen

Die meisten Arbeiter:innen sprachen über die Schwierigkeiten, mit denen sie als Migrant:innen konfrontiert sind, die Student:innen sind und Teilzeit in diesen prekären informellen Jobs arbeiten. Mohamed, der den Protest anführte, war mit seiner Frau anwesend. Beide stammten aus Pakistan. „Ich bin Student und die meisten Wolt-Arbeiter sind es auch“, sagte er. „Wie sollen wir Miete und Rechnungen bezahlen, wenn das Unternehmen, für das wir arbeiten, uns monatelang nicht bezahlt?“

Die Demonstration machte nicht nur auf die wirtschaftlichen Nöte aufmerksam, sondern war auch eine glänzende Demonstration der Einheit und Solidarität unter den aus Indien und Pakistan stammenden migrantischen Arbeiter:innen. Offensichtlich lassen die von den Regierungen im eigenen Land aufrechterhaltenen Animositäten schnell nach, wenn alle südasiatischen Arbeiter:innen in einem fremden Land als „braunhäutige Migrant:innen“ behandelt werden. Interessant war auch, dass die Arbeiter:innen die Manager:innen mit pakistanischem und indischem Hintergrund anprangerten, die sich weigerten, auch nur herauszukommen, um sich ihre Forderungen anzuhören, und die man dabei beobachten konnte, wie sie die Demonstrant:innen von ihren Glasfenstern aus ignorierten.

Einige Mitarbeiter:innen des Lieferdienstes Lieferando waren ebenfalls anwesend, um sich mit den Protestierenden zu solidarisieren. „Ihr habt etwas Besseres verdient. Euer Kampf ist unser Kampf“, sagte ein Lieferando-Beschäftigter, der auch in der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) organisiert war. Solidaritätsbekundungen gab es auch von jungen Migrant:innen aus Indien und Pakistan.

Gegen Ende der Demonstration waren die Protestierenden zu Recht verärgert über die Apathie der Wolt-Geschäftsführung, die sich weigerte, auch nur zu einem Gespräch mit den Arbeiter:innen herauszukommen. Sie versprachen, dass darauf eine härtere Aktion folgen werde. „Wenn ich bei -7° C rausgehen kann, um euer Essen auszuliefern, dann könnt ihr sicher sein, dass ich keine Skrupel haben werde, tagelang in der Kälte zu sitzen, um meinen Forderungen Gehör zu verschaffen, selbst wenn ich in einen Hungerstreik treten muss“, sagte Sami.

Subunternehmen

Die Gruppe Arbeiter:innenmacht unterstützt voll und ganz die Aktion und die Forderungen der protestierenden Arbeiterinnen und Arbeiter, zu denen die Zahlung der fälligen Löhne und die Beendigung des Systems der Untervergabe gehören. Seit September letzten Jahres beschäftigt Wolt Arbeit„nehmer“:innen über Subunternehmer:innen. Einer von ihnen ist Mobile World. Durch diese Art der Beschäftigung kann Wolt keine Verantwortung für die Verletzung von Arbeitsrechten geltend machen, da das Unternehmen behauptet, es habe den/die Subunternehmer:in bezahlt. Die Arbeiter:innen bestehen jedoch zu Recht darauf, dass die Verantwortung bei Wolt liegt, da sie im Namen des Unternehmens arbeiten und Gewinne erwirtschaften, die es einstreicht. Diese verabscheuungswürdige Beschäftigungsmethode ermöglicht es den Unternehmen auch, ihren Arbeiter:innen keine Sozialleistungen zu gewähren und zuweilen nicht einmal den Mindestlohn zu zahlen. Das ist Krieg gegen die Zusteller:innen! Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten der Menschen, die diese prekären und schlecht bezahlten Jobs annehmen, Migrant:innen sind, entweder Student:innen oder Asylbewerber:innen ohne Papiere. Der/Die Auftragnehmer:in ist sich ihrer prekären Bedingungen bewusst, was es ihm/ihr ermöglicht, aus der Arbeiter:innenklasse diese informelle Unterklasse zu schaffen. Wir fordern:

  • Wolt muss alle nicht gezahlten Löhne und Gehälter jetzt direkt an die Beschäftigten auszahlen!

  • Verbot der Auslagerung des Einstellungsprozesses an Auftragnehmer.

  • Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde für jede/n Arbeiter:in!

Wir rufen auch alle Arbeiter:innen in Wolt auf, sich in der Gewerkschaft NGG und dem Klassenkampfnetzwerk VKG zu organisieren. Gemeinsam, als gewerkschaftlich organisierte Klasse, können wir uns die Arbeitsbedingungen sichern, die wir verdienen, indem wir die Dinge selbst in die Hand nehmen, anstatt an die Bosse zu appellieren. Um dies zu gewährleisten, müssen wir aktiv darauf hinarbeiten, dass die Führung der Gewerkschaften gegenüber den Mitgliedern rechenschaftspflichtig und an die demokratischen Beschlüsse der Mitglieder gebunden ist, und die Führungen gewählt werden, abwählbar sind und einen Arbeiter:innenlohn erhalten. Der Aufbau einer solchen Gewerkschaft im ganzen Land ist der wichtigste Schritt zur Überwindung der Unterschiede zwischen den Bedingungen der einheimischen und der migrantischen Lohnabhängigen und zu ihrer Vereinigung zu einer revolutionären Klasse. Alle Macht den Arbeiter:innen!




Nein zur Berliner GroKo! Gemeinsamen Widerstand organisieren!

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 272, April 2023

Nach einer Panne mit Wahlwiederholung inmitten der Zeitenwende ist das politische Berlin erschüttert. Das erste Mal in über 20 Jahren ist die CDU die stärkste Kraft. Alle Parteien der rot-grün-roten Koalition haben an Stimmen verloren. Und nun? Nach Sondierungen zwischen CDU-Grünen, CDU-SPD und SPD-Grünen-Linken hat die SPD die Bombe platzen lassen. Ihr Berliner Parteivorstand ist gegen eine Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition. Die Partei befindet sich zurzeit in Unterredungen für eine Berliner Große Koalition. Auch wenn es sich mit den Grünen und der CDU in allen Varianten um Koalitionen mit offen bürgerlichen Parteien handelt und wir sowohl eine GroKo als auch RGR ablehnen, so handelt es sich nicht um gleiche Qualitäten von Angriffen auf soziale Errungenschaften in der Bundeshauptstadt.

Eine CDU-geführte Regierung bedeutet den finalen Todesstoß für den Enteignungsvolksentscheid in seiner aktuellen Form, führt zu einer „Mobilitätswende“, die auf Autos setzt, einer Ausweitung des Polizeiapparates, mehr rassistischen Polizeikontrollen, einer offeneren Zusammenarbeit mit dem Kapital und vielem mehr.

Konturen eines drohenden Regierungsprogramms

Mit dem Sondierungspapier beider Parteien wird erkennbar, was uns erwarten könnte. Franziska Giffey hatte alle Brücken für die Wiederaufnahme der RGR-Koalition damit eingerissen. Sie sagte gegenüber der Presse, die Grüne wollen nur ihre eigenen Themen durchsetzen und DIE LINKE sei zu zerstritten. Auch wenn es in Teilen nur Schlagworte sind, wollen wir hier eine erste Skizze der drohenden GroKo aufzeichnen.

Wohnen: Dass auf dem Mietenmarkt seit Jahren soziale Verdrängung stattfindet, ist bekannt. In den letzten fünf Jahren ist der Neuvermietungspreis um 48,2 % gestiegen – im letzten Quartal 2022 allein auf durchschnittlich 15,95 Euro pro Quadratmeter nettokalt. Unter den Großstädten ist nur noch München teurer. Die Mär der niedrigen Ausgangspreise ist also schon lange erzählt. Nur die Löhne sind weiterhin geringer als in vielen anderen Großstädten (etwa 10.000 Euro weniger verfügbares durchschnittliches Einkommen pro Jahr im Vergleich zu München). Trotzdem lautet der Lösungsansatz der drohenden GroKo Entlastung durch (v. a.) privaten Neubau. Das Ziel sind 20.000 Wohnungen pro Jahr (Leerstand etwa 0,9 %). Der Perspektive der Enteignung und Verstaatlichung großer privater Immobilienkonzerne wird ein erneuter Riegel vorgeschoben. Sollte (!) die sogenannte Expert:innenkommission zum Volksentscheid von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ ein positives Votum abgeben, soll ein Vergesellschaftungsrahmengesetz diskutiert werden. Ein solcher Rahmen war bereits seit Tag eins die legale Basis des Volksentscheids und nennt sich Grundgesetz.

Verkehr: Nicht erst seit den Aktionen der Letzten Generation bildet Verkehr in Berlin ein Streitthema. Die Grünen haben mit ihren sogenannten Popup-Radwegen eine Reihe von Straßen in der Stadt entschleunigt. Bei weitem decken diese nicht den Bedarf ab, stellen jedoch – neben der A100 – das bedeutendste Symbol der „Verkehrswende“. Jedoch fällt das Wort „Fahrradverkehr“ mit keinem Wort im Papier. Aber die Stadtautobahn soll vom Treptower Park bis zur Storkower Straße weitergebaut werden. Für 13 Berliner Clubs und zehntausende Berliner Mieter:innen bedeutet das das Ende.

Klima: Dieser Punkt schließt hier nahtlos an. Angesichts des Volksentscheids für ein klimaneutrales Berlin 2030 (26. März) sind hier mehr als warme Worte gefragt. So soll ein 5-Milliarden-Euro-Sondervermögen für den Klimaschutz aufgesetzt werden. Die Hälfte davon soll durch die Streichung der Coronarücklagen (2,6 Mrd. Euro) beglichen werden. Damit abgedeckt werden sollen Gebäudesanierungen, Mobilität und Energiegewinnung. Es ist unklar, inwiefern der Kauf von 51 % der Unternehmensanteile der GASAG davon beglichen werden soll. Die GASAG AG ist der größte lokale Energieversorger, ein Tochterunternehmen von Vattenfall und soll auf Initiative des Mutterkonzerns rekommunalisiert werden – zu überhöhten Preisen.

Innenpolitik und Migration: Einig ist man sich außerdem, dass ein Einbürgerungszentrum eingerichtet werden soll, dass das Antidiskriminierungsgesetz und der Mindestlohn nicht angetastet werden, dass die Polizei sogenannte Bodycams bekommt und dass Videoüberwachung in Modellprojekten getestet werden soll.

Die innere Sicherheit müsse man „ganzheitlich vom Senat aus angehen“, meint Marcel Kuhlmey von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und zuvor 25 Jahre bei der Polizei tätig. Er rechnet damit, dass der neue Senat Tasern und Bodycams gegenüber aufgeschlossen ist.

Law and Order ist also angesagt bei Aufstockung und weiteren Befugnissen der Repressionskräfte und zügiger Abwicklung von Asylanträgen, Einbürgerung und Abschiebung. Migrant:innen und Linke stehen vor schweren Zeiten. Diese Reaktion auf die Silvesterkrawalle war zu erwarten, schlug doch schon bei der Wiederholungswahl das Pendel zugunsten der CDU aus.

Weiteres: Bis 2026 soll es eine Verwaltungsreform geben. Die Polizei und Rettungsdienste sollen personell und materiell aufgestockt werden. Dabei sollen „Sicherheit und Sauberkeit“ zusammen gedacht werden – was wirklich nicht gesund klingt. Doch trotzdem hat die SPD Kleinigkeiten als Gewinne darzustellen. Das 29-Euro-Ticket (Tarifbereich AB) bleibt erhalten. Die CDU wollte noch den Berliner Mindestlohn und das Antidiskriminierungsgesetz abschaffen. Und auch in diesem Koalitionsvertrag steht erneut (!), dass die Tochterunternehmen der Berliner Krankenhäuser wieder eingegliedert werden sollen.

Koalitionsverhandlungen und Widerstand

Bis Anfang April soll ein Koalitionsvertrag vorgelegt werden. In 13 Fachgruppen wird verhandelt. Und diese haben es in sich, denn Lobbyist:innen sind hier fast überall dabei. Nachdem bekannt wurde, dass Tanja Böhm, die Leiterin von Microsoft Berlin, aus der Fachgruppe zur Digitalisierung ausgestiegen ist, wurde die Büchse der Pandora geöffnet. So ist beispielsweise in der Gruppe zu Gesundheit und Pflege Delia Strunz, ihres Zeichens Cheflobbyistin vom Pharmariesen Johnson & Johnson (Coronaimpfstoff). Daneben sitzt der Vorstand der Barmer Krankenkasse im Gremium. In der Verkehrs-AG sitzt der Bevollmächtigte für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern der DB-AG, Alexander Kaczmarek, ein Anhänger der S-Bahnzerschlagung.

Doch hiergegen regt sich Widerstand. Am Samstag, dem 18. März, fand eine Demonstration unter dem Titel „Rückschrittskoalition stoppen“ statt. Laut Veranstalter:innen nahmen etwa 2000 Menschen teil. Das Bündnis hatte sich in Reaktion auf die Sondierungsergebnisse gegründet und umfasst neben Einzelpersonen stadtpolitische, klimapolitische, antirassistische und migrantische Organisationen sowie die Jugendorganisationen von LINKEN und Grünen. Auch die Berliner Jusos haben sich gegen eine Beteiligung an Schwarz-Rot ausgesprochen und organisieren eine NoGroKo-Kampagne.

Die Aktionen richten sich vor allem an die 19.000 Berliner SPD-Mitglieder. Diese sollen Anfang April per Briefwahl über die Senatsbeteiligung abstimmen können – etwa 25 % davon sind Teil der Jusos, also unter 35 Jahren. Eine Auszählung der Stimmen wird am 23. April stattfinden. Bis 20. März hatten bereits drei der zwölf Kreisverbände sich gegen eine Beteiligung an der Koalition ausgesprochen (Neukölln, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf (!)). Im Parteivorstand sprachen sich 25 Personen für und 12 gegen Koalitionsverhandlungen mit der Union aus. Sollte die Parteimehrheit für Beteiligung stimmen, so könnte Kai Wegner am 27. April Berlins Regierender Bürgermeister werden. Die CDU will über die Frage der Koalition auf einem Landesparteitag entscheiden.

GroKo bekämpfen, aber wie?

Es ist ein Fortschritt, dass sich Widerstand formiert. Aber auch 2017 gab es den in der SPD gegen die Regierungsbeteiligung (auf Bundesebene). Auch beim Volksentscheid von DWE waren es die Jusos Pankow, die für eine Enteignung ab 20 Wohnungen eintraten! Doch weiterhin sind sie die Parteijugend der Sozialdemokratie. Der Kampf muss auch außerhalb der Urabstimmung geführt werden. Andererseits hat der Protest einen faden Beigeschmack, denn bereits Rot-Grün-Rot hat die Polizei ausgebaut, die Bahn zerschlagen, runde Tische mit der Immobilienlobby initiiert, Obdachlosencamps geräumt, abgeschoben, Demonstrationen zusammenknüppeln lassen und so vieles mehr. Rot-Grün-Rot hat sich als unfähig erwiesen, die sozialen Probleme der Berliner:innen zu lösen. Und schlussendlich schafft der Widerstand in der LINKEN eine gemeinsame Gegnerin, die „Giffey-SPD“, wie sie Katina Schubert nennt (LINKE-Landesvorsitzende). Jene Kräfte, die also den Kampf der Regierungsbeteiligung untergeordnet haben, sind nun verwundert, dass die SPD sich dadurch nicht nach links bewegt hat. Ein solcher falscher Frieden ist ein weiterer Fallstrick im Niedergang der LINKEN und eine Nebelkerze, die den Aufbau einer Fraktion der Linken in der LINKEN zu verhindern droht.