Landtagswahlen in Bayern: Wahldebakel für die Ampel, weiterer Rechtsruck

Helga Müller, Infomail 1233, 10. Oktober 2023

Diverse Wahlprognosen hatten ja schon vorausgesagt, dass die AfD und die Freien Wähler in Bayern von dem Verlust der SPD, FDP und Die Grünen/Bündnis 90, aber auch von der CSU profitieren werden. Auch wenn das Ergebnis nicht ganz so extrem ausfiel wie prognostiziert, bedeutet der Wahlausgang eine Niederlage für die gesamte Arbeiter:innenbewegung inkl. der Gewerkschaften, SPD und Die LINKE. Aber er offenbart auch die Schwäche der linken Kräfte insgesamt mehr als deutlich. Dieses Ergebnis kann nicht damit beschönigt werden, dass Bayern schon immer ein besonderes Bundesland war und ist. Auch bei der Landtagswahl in Hessen hat sich eine ähnliche Tendenz ergeben – mit Ausnahme der CDU, die noch gegenüber der letzten Wahl zugenommen hat.

Mit diesen beiden Wahlen hat nun die AfD endgültig den Sprung von Ostdeutschland in die Landesparlamente zweier großer westdeutscher Flächenstaaten geschafft, entsprechend frohlocken ihre Bundesgrößen in den Medien. Auch das Ammenmärchen von der besonderen Bindung der ostdeutschen Bevölkerung an sie ist damit Lügen gestraft worden.

Das Ergebnis

Doch bevor wir weiter in die Analyse einsteigen, zunächst einmal ein paar Worte zum vorläufigen Wahlergebnis der Landtagswahlen in Bayern vom 8.10.2023:

Die CSU bleibt zwar mit 37 % stärkste Partei, rutscht aber noch unter ihr desaströses Wahlergebnis bei der letzten Landtagswahl von 2018 mit 37,2 % – das schlechteste seit 1950. Eine stabile Regierung unter einer starken CSU ist damit in Frage gestellt. In Umfragen hatte das Ergebnis für sie noch schlechter ausgesehen. Sie konnte noch etwas zulegen, weil sie sich in der Frage der Zuwanderung zusehends an die Positionen der AfD angenähert hatte. CDU-Oppositionsführer Merz war sich auch nicht zu blöd in seiner Bilanz der beiden Landtagswahlen, seine rechtspopulistischen Aussagen zu Asylsuchenden, die zum Teil auch in seiner eigenen Partei umstritten waren, als Beitrag zum Wahlerfolg seiner Partei zu deklarieren. So weit zur Brandmauer der Union zur AfD! Zwar sah es lange in den Hochrechnungen so aus, dass die Grünen/Bündnis 90 die zweitstärkste Kraft in Bayern werden würden, aber dies schafften die Freien Wähler  mit 15,8 % der abgegebenen Stimmen und gewannen damit gegenüber 2018 4,2 % hinzu. Noch nicht einmal drittstärkste Kraft und damit Anführerin der Opposition im Bayerischen Landtag wurden sie, sondern die AfD mit 14,6 %! Sie erhöhe ihr Wahlergebnis um 4,4 % – der stärkste Zuwachs für eine Partei bei dieser Wahl. Sie hätte sicherlich wie in Hessen das Potential, zur zweitstärksten Partei in Bayern zu werden, wären da nicht die Freien Wähler mit der unsäglichen Aiwangeraffäre um das antisemitische Flugblatt und dem rechtspopulistischen Auftritt des stellvertretenden Ministerpräsidenten auf einer Kundgebung gegen das Heizungsgesetz im Juni in Erding bei München. Dies hat paradoxerweise zu einer Stärkung der Freien Wähler geführt, was aber auch zeigt, welche rechtskonservative bis -radikale Stimmung dort vorherrscht.

Die viertstärkste Kraft wurden die Grünen/Bündnis 90 knapp hinter der AfD mit 14,2 %. Sie verloren 3,2 % gegenüber ihrem Rekordergebnis von 2018.

Die SPD schaffte es zwar im Gegensatz zur FDP noch einmal in den Landtag mit lächerlichen 8,4 % und verliert somit „nur“ 1,3 %. Damit fuhr sie das schlechteste Wahlergebnis in Bayern aller Zeient ein. Dieser geringe Zuspruch ist eine Wahlschlappe und eine Ohrfeige für die SPD.

Die FDP kommt mit 3 % – einem Minus von 2,1 Prozentpunkten – nicht mehr in den Landtag. (Alle Zahlen nach „merkur.de“ vom 9.10.23).

Die LINKE wird in den meisten Veröffentlichungen gar nicht mehr aufgelistet und verschwindet somit vollends in der Bedeutungslosigkeit, auch wenn auf den Wahlplakaten trotzig „Bayerns Opposition“ stand. Sie lag bei 1,5 % und verlor 1,8 Prozentpunkte. (Zahlen nach sueddeutsche.de vom 9.10.23). Auch außerhalb des Landesparlaments kriegt man von der Partei nicht viel von Oppositionsarbeit mit.

Die Wahlbeteiligung fiel mit 73,3 % etwas höher als 2018 (72,4 %) aus. Trotzdem kann man sagen, dass diese Wahl anscheinend von vielen auch nicht als eine Entscheidungswahl gesehen wurde oder sie fühlen sich von keiner Partei angesprochen!

Kommentare und Bedeutung

Alle Kommentator:innen betonen, dass diese beiden Wahlen vor allem auch eine Abrechnung mit der Politik der Ampelkoalition in Berlin symbolisierten und diese ganz offensichtlich abgemahnt wurde. Zu denken geben natürlich sowohl in Bayern als auch bei den Landtagswahlen in Hessen, wo die AfD mit 18,4 % (einem Plus von 5,3 Prozentpunkten) zweitstärkste Kraft wurde, der hohe Zuspruch für die AfD auf der einen und der geringe für die SPD (in Hessen 15,1 %, ein Minus von 4,7 Prozentpunkten) und für DIE LINKE (in Hessen 3,1 % ein Minus von 3,2 Prozentpunkten) auf der anderen Seite. D. h. beide Parteien sind nicht mehr in der Lage, ihre eigentliche Klientel – die Lohnarbeiter:innenschaft, aber auch Frauen, Erstwähler:innen etc. – an sich zu binden. Das ist aber auch ein Trend, der schon länger zu beobachten ist.

Die SPD wird aufgrund ihrer seit Jahrzehnten andauernden unternehmerfreundlichen, Sozialabbau- und mittlerweile auch ihrer Aufrüstungspolitik schon lange nicht mehr als politische Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung wahrgenommen. Das Ergebnis der Bundestagswahl vor zwei Jahren erscheint im Lichte der beiden Landtagswahlen als ein überraschendes Zwischenhoch. Aber DIE LINKE, die ihre Entstehung der Krise der SPD zu verdanken hatte, kann von dieser Schwäche nicht profitieren. Sie ist aufgrund ihrer inneren Zerstrittenheit nicht in der Lage, eine Massenattraktivität für die Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Jugendlichen, Frauen, LGBTQIA+, Rentner:innen oder Migrant:innen aufzubauen (auch nicht mehr in Ostdeutschland). Aber nicht nur ihre Zerstrittenheit – z. B. die Diskussion um den linkspopulistischen Flügel von Sahra Wagenknecht –, sondern vor allem ihre harmlose reformistische Programmatik, um sie regierungsfähig zu machen, tragen massiv dazu bei.

Diese Krise des Reformismus zeigt sich auch an der Wählerwanderung: Für die AfD in Hessen macht Infratest dimap die Hauptunterstützer:innen in den (normalen) Arbeiter:innenschichten und Menschen mit einfacher Bildung aus. Man muss natürlich dazu sagen, dass vor allem Mittelschichten, die Angst vor einer sozialen Degradierung empfinden, die eigentliche Basis für die AfD darstellen.

Diese Schwäche kann die AfD mit ihren rechtsradikalen Themen wie der „massenhaften“ Zuwanderung besetzen und lenkt damit von der eigentlichen Ursache der Krise, die die Menschen weltweit – auch in den reichen Industrienationen – zu spüren bekommen, ab.

Auch die Gewerkschaften befinden sich in einer tiefgehenden Krise, stehen sie doch in allen wichtigen Fragen fest an der Seite der regierenden SPD.

Versagen des Reformismus

Auf die wirklichen Fragen, vor denen die Arbeiter:innenklasse steht wie die effektive Bekämpfung der Inflation, des Arbeitsplatzabbaus, der Klimaveränderung, der  Aufrüstung, des Sozialabbaus durch das 30-Milliarden-Sparprogramm der Ampelkoalition, des Pflegenotstands, der Bildungsmisere und nicht zuletzt der Umgang mit Asylsuchenden, finden weder DIE LINKE noch die Gewerkschaftsführung eine Antwort. Damit treiben sie letzten Endes die Kolleg:innen in die Hände rechtspopulistischer Kräfte wie die Freien Wähler und rechtsradikaler Kräfte wie eben die AfD mit ihren rassistischen, antisemitischen und Antiestablishment-Antworten.

Anstatt die wahren Verursacher:innen und Profiteur:innen der Krise und letzten Endes auch der Zunahme von Migration zu nennen – nämlich die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken – und gegen diese zu mobilisieren in großen Demonstrationen, aber auch konsequenten Streiks, setzen sie nach wie vor auf Sozialpartnerschaft und eine Bändigung des Kapitalismus – durch die Wiederbelebung einer grünen sozialen Marktwirtschaft.

Die Landtagswahlergebnisse haben gezeigt – wie wir es ja in Deutschland auch in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts erlebt haben –, dass es in Krisenzeiten immer eine Polarisierung nach rechts und links gibt. Wir erleben leider heute eine eindeutige Polarisierung nach rechts bis hin zu rechtsradikalen bis neonazistischen Kräften. Die linke Bewegung insgesamt dagegen steckt in einer tiefgehenden Krise.

Nach der Landtagswahl in Bayern wird sich die alteingesessene CSU aufgrund ihrer Wahlschlappe und des Anstiegs der Freien Wähler als auch der AfD noch stärker nach rechts bewegen und sich noch stärker populistischen Themen wie der Zuwanderung widmen.

Konsequente Arbeiter:innenpolitik statt Rechtsruck, „Einheit der Demokrat:innen“ und Sozialpartnerschaft!

Von daher stellt sich jetzt die Frage: Wie werden die Organisationen der Arbeiter:innenbewegung – allen voran die Gewerkschaften und DIE LINKE, aber auch Teile der SPD – mit diesem gefährlichen Rechtsrutsch umgehen? Schon einmal in unserer Geschichte haben diese Organisationen die Gefahr von ganz rechts unterschätzt und auf die Einheit der Demokrat:innen geschworen, um dann als Erste verfolgt, verboten und eingesperrt zu werden.

Einhalt gebieten kann man der AfD nicht mit Hochglanzbroschüren, um über ihren wahren Charakters aufzuklären, wie es der DGB Bayern in der Wahlkampagne angestellt hat oder mit schönen Wahlkampfreden und -veranstaltungen von SPD und Linken zur sozialen Frage (Mieten, Gesundheit, Bildung etc.) im Wahlkampf.

Auch nicht mit „Wohlfühl“kundgebungen gegen die AfD – wie in München auf dem Odeonsplatz kurz vor der Wahl mit immerhin 35.000 Teilnehmer:innen unter dem Motto „Zammreißen in Bayern gegen rechts“ –, zu der alle Demokrat:innen, auch die FDP, aufgerufen waren. Letztere will im Bund gerade einen Sparhaushalt gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen.

Sondern jetzt wäre es dringlicher notwendiger denn je, dass diese jetzt die Initiative ergreifen – nicht nur in Bayern oder Hessen, aber durchaus hier beginnend. Sie müssen aufgefordert werden, große und machtvolle Demonstrationen gegen Sozialabbau, Aufrüstung und Vorbereitung auf Kriege, für Klimaschutz, der seinen Namen auch verdient, und auch die Aufnahme aller Asylsuchenden mit entsprechender Ausstattung der Kommunen vorzubereiten. Zahlen sollen die vielen Krisengewinnler:innen – die großen weltweit agierenden Konzerne und Banken mit der Einführung einer progressiven Kapitalsteuer, der Wiedereinführung der Vermögensteuer usw. Die jetzt kommenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder muss dazu genutzt werden, Einkommenserhöhungen durchzusetzen, die die Inflation auch wirklich bekämpfen. Dafür ist es auch notwendig, sie dazu nutzen, um den Widerstand gegen Hochrüstung und Sozialabbau aufzubauen. Die zu erwartende Ablehnung der Forderungen der Kolleg:innen im öffentlichen Dienst durch die Länder kann nur ernsthaft bekämpft werden, wenn ver.di auch gegen die gesamte Politik der Regierung vorgeht!

Wir dürfen aber nicht abwarten, bis unsere Gewerkschaften aktiv werden, sondern müssen uns selbst für unsere Interessen organisieren und Kampfstrukturen aufbauen, um unseren Kampf zu diskutieren und zu lenken: gegen jeden faulen Kompromiss und Ausverkauf durch die Gewerkschaftsführungen! Wir müssen dies aber auch gegenüber den Gewerkschaftsverantwortlichen einfordern und diese nicht aus der Pflicht lassen!




Rechtsruck in Deutschland: Der Fall Aiwanger

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, so könnte man meinen, fällt ein Aiwanger Hubert mehr auch nichts ins Gewicht. Was ist schon ein Nazi-Pamphlet aus Gymnasialtagen, was ist schon ein Verhöhnen der Opfer des Holocaust im Flugblatt verglichen mit dem Mitmachen, Mitlaufen, Mitverwalten, Mitaburteilen, Mitdeportieren in der Nazi-Diktatur, dessen sich Aiwangers Eltern- und Großelterngeneration schuldig gemacht hat.

Auch diesen wurde schließlich vergeben – vorzugsweise durch sich selbst und einen Nachfolgestaat der NS-Diktatur, der im Kalten Krieg die alten Leistungsträger:innen der Gesellschaft, deutsche Unternehmer:innen, deutsche Beamt:innen, deutsche Offizier:innen, deutsche Intelligenz brauchte. Warum, also so fragen die Söders scheinheilig, sollten wir dem Aiwanger nicht seine Jugendsünden vergeben? Warum nicht, nachdem „wir“ auch unserer Eltern- und Großelterngeneration längst nichts mehr nachtragen? Schließlich hätten wir alle daraus irgendetwas gelernt. Und schließlich: haben „wir“ nicht alle in der Jugend „gesündigt“ haben? Warum nicht, nachdem sich der Aiwanger Hubert dafür sogar, wenn auch reichlich spät und wenig schlüssig, „entschuldigt“ habe?

Populistische Inszenierung

Geschickt, wenn auch nicht unbedingt originell, inszenieren Aiwanger, die Freien Wähler und, im Nachgang, Söder und die CSU, den Schulterschluss mit ihren spießbürgerlichen Anhänger:innen – und das sind bekanntlich viele, weit über dessen kleinbürgerlichen Kern hinaus. Klar, so gesteht der Aiwanger Hubert freimütig, habe er Fehler gemacht und diese auch zu spät gestanden. Aber er habe sich entschuldigt, er habe daraus gelernt. Jetzt würden ihn andere fertigmachen wollen, eine regelrechte Kampagne wäre ins Leben gerufen worden, um ihn, sein Lebenswerk und stellvertretend auch das aller anderen ehrlich schaffenden bayrischen und deutschen Menschen zu zerstören.

Die Freien Wähler bedienen sich hier einer für populistische Rhetorik typischen Stilfigur. Den „einfachen Menschen“, die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Bürgermeister, vom erfolgreichen Unternehmer zum Facharbeiter reichen, werden die besserwisserischen, arroganten, vom „wirklichen Leben“, das vorzugsweise auf bayrischen Volksfesten stattfindet, entrückten Kritiker:innen gegenübergestellt. So wird eine klassenübergreifendes „Wir“ konstruiert, das sich im Aiwanger Hubert personifiziert. Die Kritiker:innen schlagen darauf „von oben“ herab, geradezu gnadenlos ein. Sollen wir uns da nicht „wehren“ dürfen und dem Jugendsünder beherzt zu Seite springen?

Wer hat schließlich in seiner Jugend nicht gesündigt? Wer hat denn keine Äpfel vom Baum in Nachbars Garten gestohlen, wer hat nicht am Schulhof geraucht oder gar gekifft? Wer fuhr nicht alkoholisiert auf Bayerns Landstraßen? Und wer hat nicht Blödsinn verbreitet und geschmacklose Witze erzählt? Waren, ja sind wir nicht alle kleine Sünder:innen, die sich vom Aiwanger Anton nur durch die Art der Sünde, für die er sich sogar – durchaus im Gegensatz zu manch anderem ehrenwerten Spießer-Menschen – entschuldigt hat?

Solcherart wird unter der Rubrik „Jugendsünde“ das Nazi-Flugblatt entschuldet, zur Bagatelle unter Bagatellen. Dass sich der Aiwanger an nichts genaues mehr erinnern kann, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als skandalöser Vertuschungsversuch, sondern macht ihn nur noch menschlicher und volksnäher – und zwar nicht nur in den Augen seiner Fans von den Freien Wählern, sondern auch in denen der bayrischen Staatskanzlei. Auf die 25 Fragen Söders zur „Klärung“ des Falls Aiwanger, antwortet dieser nicht nur möglichst knapp, sondern vorzugsweise damit, dass er sich nicht erinnern könne oder nichts zur Frage wisse. Die Gedächtnislücken stehen im eigentümlichen Kontrast zu seiner Aussage: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ Welche das sind, führt Aiwanger nicht aus. Dafür stellt er am Ende nur fest: „Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden.“

Damit spricht er seinen Anhänger:innen aus der Seele. Mit dem „ewigen“ Anlasten müsse endlich Schluss sein, zumal sich – von wegen „ewig“ – auch in den letzten 30 Jahren niemand darüber aufgeregt habe. Die rechte, konservative, rechtspopulistische Gefolgschaft verharmlost nicht nur Faschismus und Antisemitismus, sie inszeniert sich zugleich als Gemeinschaft nachsichtiger und wohlwollender Menschen. Das Vergeben der Jugendsünde wird zum Bestandteil deutscher Leitkultur.

Gnadenlos, unbarmherzig, falsch sind nicht jene, die selbst nicht wissen, warum sie mit antisemitischen Flugblättern in der Schultasche rumliefen, sondern jene, die den armen Jugendsünder bis heute an den Pranger stellen wollen. Gnadenlos, unbarmherzig sind jene, die schon seit 1968 keinen Frieden geben können, sind die Linken, die rot-grüne „Elite“, kosmopolitische Intellektuelle, Gender-Wahnsinninge und „das Ausland“, das sich auch noch in Bayerns Staatskanzlei und in den Wahlkampf einmischen wolle.

Angesichts dieser brutalen Kampfansage „von oben“ auf die Leistungsträger:innen der bayrischen und deutschen Gesellschaft, auf „unsere“ Leitkultur, inszenieren sich CSU und Freie Wähler als Kräfte der Gnade, der Nachsicht, des Zusammenrückens und Verzeihens. Sicher wären auch AfD und verschiedene Nazigruppen bei dieser christlich-abendländischen Inszenierung der Nächstenliebe gern mit von der Partie, doch noch passen sie nicht so recht ins Sittenbild der konservativen „Mitte“.

Aber auch Gnade und Vergeben kennen, wie alles, ihre Grenzen. Das macht Aiwanger schon in seiner Antwort an die Bayrische Staatskanzlei deutlich: „Die Veröffentlichungen aus Lehrerkreisen sind ein massiver Verstoß gegen das Bayrische Dienstrecht. Gegen die Verdachtsberichterstattung mit überwiegend anonymen Aussagen und dem Weglassen entlastender Inhalte behalte ich mir rechtliche Schritte vor.“ So viel zur aufrichtigen Reue des Herrn Aiwanger.

Hier wird deutlich, dass Vergeben, Nachsicht, Großzügigkeit und das Verzeihen aller Jugendsünden längst nicht für alle gilt. Genauer, sie gilt, selbst der Phrase nach, nur für die Angehörigen der spießbürgerlichen Gemeinschaft echter deutscher Menschen, die die Freien Wähler und die CSU im Blick haben. Und hier zuerst natürlich ihren Spitzenexponenten wie Aiwanger, dessen „Lebenswerk“ als Regierungsmitglied zerstört werden soll. Geschickt präsentiert er diese wirkliche oder vermeintliche Gefahr für sich als hoch dotierten Spitzenpolitiker als ob die berufliche Zukunft seiner Wähler:innen auch zur Disposition stünde.

So verlogen diese imaginäre Einheit gegenüber den Anhänger:innen der Freien Wähler:innen, so wenig gilt das Nachsichtsversprechen für die Kritiker:innen Aiwangers.

Kritische Medien und erst recht verbeamtete Lehrer:innen dürfen auf Gnade nicht hoffen. Die Nachsicht gegenüber Aiwangers Jugendsünden darf niemand als Freibrief für wirkliche Bagatelldelikte missverstehen. Schwarzfahren oder kleiner Ladenklau dürfen „natürlich“ nicht entkriminalisiert werden.

Erst recht gilt das, wenn die Gegner:innen der rechtspopulistischen Freien Wähler:innen und der konservativen bis liberalen Mitte ins Visier genommen werden. Aiwangers Gedächtnislücken möge man nachsehen, Lücken in der Vita traumatisierter Geflüchteter – niemals. Abschiebung muss Abschiebung, Unrecht muss Unrecht bleiben. Ein Nazipamphlet an der Schule möge man verzeihen, aber keine antifaschistische und antirassistische Selbstverteidigung, keine Solidarität mit vom Imperialismus Verfolgten.

Die Entschuldung der eigenen Wähler:innen, der Träger:innen der deutschen Leitkultur bildet nur das Gegenbild zur umso brutaleren, menschenverachtenden Hetze gegen „Schein-Ayslant:innen“, „Überfremdung“, „Sozialscharozertum“, jugendliche und migrantische „Krimininelle“, die allesamt die volle Härte des Gesetze ohne jede Nachsicht und Gnade heute erfahren müssen und sollen.

Kulturkampf und Diskursverschiebung

Kein Wunder also, dass die Freien Wähler, CDU/CSU wie auch die AfD, die konservative und die extreme Rechte die Auseinandersetzung um Aichwanger als regelrechten Kulturkampf inszenieren. In der Tat geht es dabei um eine wirkliche grundlegende Diskursverschiebung im politischen Raum.

Bei der Verharmlosung des faschistischen und antisemitischen Pamphlets und der Rolle Aiwangers geht es nicht bloß um eine persönliche Entschuldung. „Jugendlicher“ Faschismus und Antisemitismus sollen insgesamt bagatellisiert, quasi-normalisiert werden.

Damit steht auch eine, wenn auch auf halben Weg steckgebliebene Errungenschaft der 68er-Bewegung entsorgt werden. Diese thematisierte nach Jahrzehnten des Unter-den-Teppich-Kehrens den Faschismus und die Kontinuität seiner Funktionsträger:innen in Staat und Wirtschaft. Blieb die Entnazifizierung auch aus, so hielt die Jugend den Eltern und Großeltern den Spiegel vor. Die wirklich Selbstgerechten mussten sich endlich rechtfertigen. Einmal verschoben sich das politische Geschehen, der öffentliche Diskurs und die Kultur in der Bundesrepublik nach links. Zweifellos: Die 68er sind gescheitert, nicht zuletzt an sich. Doch ihre Halbheiten, ihre Teilreformen, ihre partiellen Errungenschaften noch geben einen Geschmack von dem, was möglich wäre. Daher stehen sie auch im Visier des konservativen und rechten Rollbacks.

Die mit der 68er-Bewegung assoziierten und von Frauenbewegung, Studierenden, Jugend wie auch von der Arbeiter:innenklasse gemachten Errungenschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Das betrifft sowohl in Gang gesetzten soziale und demokratische Reformen. Auch wenn sie im Rahmen des Kapitalismus verblieben, in diesen mehr oder weniger integriert wurden, stellen sie oder ihre Überreste bis heute auch Errungenschaften, teilweise zur Selbstverständlichkeit gewordene Aspekte des sozialen Lebens dar, gegen die sich selbst hart gesottene Reaktionär:innen (noch) nicht anzugehen wagen (z. B. die Vergewaltigung in der Ehe).

Vielleicht noch bedeutsamer aber waren und sind die Errungenschaften der 68er auf der kulturellen und diskursiven Ebene. Dazu gehört auch, dass faschistische und anti-semitische Flugblätter an der Schule eben nicht mehr als landesüblicher „Lausbubenstreich“ durchgingen. Selbst Aiwangers mangelndes Erinnerungsvermögen deutet noch darauf hin. So wie die Beteiligung am Faschismus und seinen Verbrechen nach 1945 durch „Vergessen“ und Schweigen gesellschaftlich tabuisiert wurde, so soll über den jugendlichen „Fehler“ der Mantel des Vergessens geworfen werden. Wer nachfragt, wer nicht schweigt, ja wer bloß nicht jede Schutzbehauptung für bare Münze nehmen will, wird in der rechten Diskursverschiebung zum Täter, zum „elitären“ Besserwisser.

Längst geht es dabei nicht um Aiwanger. Schon gar nicht geht es, wie Sozialdemokrat:innen und Grüne gern entrüstet behaupten darum, dass dem Ansehen Deutschlands geschadet würde. Schließlich passt Aiwanger ganz gut zu einer Meloni und einem Orban, zu einem Erdogan und einer Le Pen. Und, betrachten wir die Diskussion über die Verschärfung des rassistischen Grenzregimes und die Aushebelung der verbliebenen Rechte der Geflüchteten, so sind die Grenzen zwischen Rechten, Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen und Grünen fließend, so reichen sich rechte und linke Populist:innen die Hand.

Vielmehr bildet der Fall Aiwanger nur einen weiteren Baustein zur Entsorgung des Faschismus für den deutschen Imperialismus. Es geht dabei nicht darum, dessen Existenz und Verbrechen zu leugnen, sondern vielmehr zu einem bloßen Stück Geschichte unter anderem herabzusetzen, um den Boden für eine reale Kontinuität imperialistischer Großmachtpolitik in der EU und international leichter zu begründen und hoffähig zu machen. Vor allem aber dient es auch als Klammer einer konservativen, großkapitalistischen und aggressiven Agenda, die durch rechten Populismus eine imaginäre, klassenübergreifende „Volkseinheit“ ideologisiert.




Mahle Neustadt/Donau: Geht der Kahlschlag bei den Autozulieferern weiter?

Mattis Molde, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

Der Personalabbau in der Autoindustrie ist voll im Gange: Von 850.000 Beschäftigten im Jahr 2019 sind noch 760.000 im Jahr 2022 übrig gewesen, also fast 100.000 weniger. Diese Entwicklung spielt sich vor allem in der Zulieferindustrie ab. Kleinere Unternehmen wie GKN, Dura und BCS wurden verkauft oder schlossen Standorte, größere Unternehmen wie Opel, Ford, MAN, Bosch, Conti und Mahle haben Personal in Größenordnungen von tausenden abgebaut und Standorte geschlossen.

Das ist keine Überraschung. Der Verband der Automobilindustrie, VDA, hatte dies schon im Juni 2021 angekündigt: „Die Transformation der deutschen Automobilbranche hin zu E-Mobilität kann mehr Arbeitsplätze kosten, als Beschäftigte in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen – und dies schon, ohne die Folgen der überstürzten aktuellen Diskussion um ein neues Klimaschutzgesetz absehen zu können. Bis zum Jahr 2025 sind mindestens 178.000 Beschäftigte betroffen, bis 2030 mindestens 215.000 Arbeitsplätze – und dies schon auf der Basis der bisherigen Klimaschutzgesetze.“

Auf die Presseerklärung des VDA erfolgte damals keine Reaktion der IG Metall. Jetzt titelt die Juli-Ausgabe der Gewerkschaftszeitung METALL: „Volle Kraft für die Transformation“. Die volle Kraft besteht unter anderem in „Zukunftstarifverträgen“, die die IG Metall für Bosch und Mahle fordert und bei ZF schon abgeschlossen hat: „An allen Standorten sollen Zielbilder entstehen, mit neuen Produkten, Geschäftsmodellen und der nötigen Qualifizierung. Die Beschäftigten sollen die Zielbilder mitgestalten.“

Der Artikel – und der entspricht völlig dem, was auch auf Konferenzen und Versammlungen derzeit von der Führungsebene der IG Metall verbreitet wird – tut so, als ob der Verlust von tausenden Arbeitsplätzen an fehlenden Zielbildern und nicht vorhandenen Zukunftstarifverträgen (ZTV) gelegen habe.

Die gab es jedoch, sie hießen nur anders. Erst nannte man sie Standortsicherungsvereinbarungen, dann wurden die Namen vielfältiger, oft z. B. Zukunftsvereinbarung. Übereinkünfte wurden erzielt bei Restgrößen von Belegschaften, Lohnverzicht oder unbezahlter Arbeitszeitverlängerung, gerne im Namen von Qualifizierung. Zunehmend wurden in diesen Betriebsvereinbarungen auch betriebliche Gesprächskreise für neue Produkte vereinbart. Unterschrieben wurden sie von den (Gesamt)-Betriebsräten und – wenn sie in Tarifverträge eingriffen – auch von der IG Metall. Jetzt sollen die ZTV von der Gewerkschaft verhandelt werden und von dazu gebildeten Tarifkommissionen, in denen wieder die Betriebsratsspitzen sitzen.

Der einzige formale Unterschied wäre: Für Tarifverträge dürfte gestreikt werden – falls die Gerichte das als tariffähig anerkennen. Aber bislang ist in der IG Metall von Streik keine Rede, ja laut METALL sind „Zukunftstarifverträge nicht erzwingbar“. Auch die letzten Tarifrunden wurden nirgends genutzt, um mit Streiks Druck auf für den Erhalt von Arbeitsplätzen aufzubauen.

Aus den neuen Produkten, die unter der Leitung von Werksleitungen und Betriebsräten gesucht wurden, ist selten was geworden. Die Konzerne behielten sich immer die Entscheidung vor, was und wo produziert wird. Es kam vor, dass die gefundenen Produktideen einfach anderswo platziert wurden und das Werk, wo sie entwickelt worden waren, haben sie dichtgemacht.

Die METALL-Zeitung führt zum x-ten Male das Beispiel Bosch in Homburg/Saar an. Dort wurde eine Wasserstoff-Brennstoffzellen-Produktion aufgebaut. „200 Beschäftigte arbeiten bereits daran.“ Als Ersatz für abgebaute 1.000 Arbeitsplätze.

Mahle Neustadt

Betriebsräte und Belegschaft  treffen dort eine etwas realistischere Einschätzung als die Artikel in der METALL. Sie haben erkannt, dass mit schönen Worten nichts von einer Geschäftsführung zu holen ist, die es noch nicht mal für nötig hält, mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Zweimal innerhalb weniger Wochen ging die Belegschaft vors Tor, was der METALL, die auch über Mahle berichtet, keine Erwähnung wert ist.

Erstmal geht es um gut 50 der 420 Arbeitsplätze. Sie sind in Gefahr, weil die Bosse Produktion verlagern. Aber zu Recht sehen die Kolleg:innen, dass das Problem größer ist. Nach dem Auslaufen der jetzigen Aufträge sind noch keine weiteren platziert worden. Es droht, dass die Produktion schlicht ausgetrocknet wird.

Auf der Kundgebung am 23.6. haben sich mehrere hundert Beschäftigte beteiligt, unterstützt von Solidaritätsdelegationen aus anderen Mahle-Werken. Auch Vertreter:innen von SPD und CSU waren anwesend. Es fielen warme Worte. Aber damit kann kein Kampf gegen eine so entschlossene Gegnerin wie die Mahle-Geschäftsführung gewonnen werden.

Die überbetriebliche Mahle-Betriebsgruppe MAHLE-SOLI verteilte einen Flyer, der reißenden Absatz fand. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Flugblatt. Der Widerstand bei Mahle Neustadt braucht die Solidarität aller Lohnabhängigen, vor allem aber von kämpferischen Gewerkschafter:innen in der IG Metall und der VKG. Denn die Erfahrung zeigt: Nur ein entschlossener Abwehrkampf, der sich auf die gesamte Belegschaft stützt, nur Streiks, Mobilisierungen und die Besetzung des Betriebes können letztlich den Druck erzeugen, der nötig ist, Personalabbau und Schließungen zu verhindern. Dazu können wir uns aber nicht auf den IG Metall-Apparat verlassen, dazu müssen die Beschäftigen selbst, ihren Kampf in die Hand nehmen, indem sie auf regelmäßigen Vollversammlungen ein Aktionskomitee zur Leitung zur Koordinierung des Widerstandes wählen, das ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

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Anhang: Auszüge aus Mahle Soli

Die IG Metall muss endlich aufhören, die Angriffe der Autokonzerne als Probleme der einzelnen Belegschaften und Betriebsräte zu behandeln!

Wenn die Tarifrunden der IG Metall, in denen Streiks möglich waren, auch genutzt worden wären, um andere Zugeständnisse zu erzwingen, wenn die IG Metall endlich alle bedrohten Belegschaften der Auto- und besonders der Zulieferindustrie zusammenbringen würde, um ein gemeinsames, verbindliches Kampfprogramm zu vereinbaren, anstatt auf Konferenzen „soziale und ökologische Transformation“ zu fordern, während die Konzerne das Gegenteil tun – dann kommen wir alle als Metaller und Metallerinnen wieder auf die Siegerstraße!

Auch Mahle ist groß darin, Arbeitsplätze dorthin zu verlagern, wo die Arbeitskraft billiger ist und der Umweltschutz weniger umgesetzt wird. „Sich seit einigen Jahren verschärfende Umweltauflagen“ hatte z. B. die GF als Gründe für die Verlagerung der Gießerei in Zell angegeben. Diese „Transformation auf Kapitalistenart“ geht auf Kosten der Arbeitenden und der Umwelt, sie ist unsozial und unökologisch.

Kämpfen statt betteln!

Die Autokonzerne haben bisher nichts dazu beigetragen, dass der Verkehr klimagerechter wird. Im Gegenteil, der CO2-Ausstoß beim Verkehr steigt. Sie haben beim Abgasmessen betrogen und ihre Werbung auf „grün“ getrimmt. Dafür haben sie noch Milliarden erhalten. Zurecht empören sich Millionen, vor allem junge Menschen, darüber. Warum kämpfen wir Metaller:innen nicht mit ihnen für eine ökologische Umstellung der Produktion auf klimagerechte Verkehrssysteme? Die Autokonzerne werden mit Milliarden subventioniert (für Forschung, Transformation, Kurzarbeit, nicht eingeforderte Strafen für Abgasbetrug, Verlagerung in andere EU-Länder …). Das Geld wäre besser aufgehoben für die Entwicklung und Produktion klimagerechter Produkte!

Verkehrswende und Arbeitsplatzwende

Die IG Metall-Spitze ist immer noch nur auf eine Antriebswende orientiert. E-Autos sollen die Weltmarktposition der großen deutschen Konzerne sichern, und damit verspricht man sich auch die Sicherung von Arbeitsplätzen in den Konzernen. Die Belegschaften der Zulieferer schauen dabei in die Röhre: E-Autos brauchen weniger Teile und die verbliebenen Teile für Verbrenner verlagern die Konzerne ins Ausland.

Eine Verkehrswende bringt andere Produkte in Spiel: mehr Straßenbahnen, Busse und Eisenbahnen. Die Verkehrswende bringt auch mögliche neue Verbündete ins Spiel. Auch wenn die Klimabewegung bisher ähnlich erfolglos bei den Regierungen war wie die IG Metall beim Durchsetzen ihrer Forderungen gegen die Konzerne, gemeinsam könnte sich eine Kraft entwickeln, die über Appelle an die eine oder andere Seite hinausgeht, die statt Kreuzungen zu blockieren, und gelegentlicher Proteste vorm Werkstor die Betriebe besetzt und die Produktion umgestaltet.




Nach den Landtagswahlen in Bayern – wie weiter?

Helga Müller, Infomail 1025, 17. Oktober 2018

Während die CSU mit ihren 37,2 % noch mit einem blauen Auge davongekommen ist – an ihr kommt niemand trotz ihres enormen Absturzes von 10,4 Prozentpunkten bei der Regierungsbildung vorbei – rutscht die SPD auf 9,7 %. Gegenüber den Landtagswahlen 2013 verlor sie 10,9 Prozentpunkte: eine wahlhistorische Niederlage, von der sie sich auch bundesweit nicht so schnell erholen wird. Die eindeutigen SiegerInnen sind die Grünen mit 17,5 % – einem Anstieg um 8,9 Prozentpunkte – und die rechtspopulistische AfD, die auf Anhieb auf 10,2 % kommt und nun als viertstärkste Fraktion in das 15. Länderparlament einziehen wird. Aber auch die Freien Wähler (FW) haben wieder Stimmen hinzugewonnen (+2,6 Prozentpunkte) und kommen auf 11,6 %. Diese werden sehr wahrscheinlich zusammen mit der CSU die nächste Regierung in Bayern stellen.

Woran liegt dieses schlechte Abschneiden von CSU und SPD?

Wie wir schon in den vergangenen Ausgaben unserer Publikation „Neue Internationale“ ausgeführt haben, hat die CSU vor allem mit ihren Gesetzesänderungen (Polizeiaufgabengesetz [PAG] u. a.), die einen autoritären Staat vorbereiten sollen, und den damit verbundenen extremen Einschränkungen von Grundrechten, aber auch mit ihrer Politik für die Reichen und die SpekulantInnen große Gegenwehr provoziert. Seit Mai gab es etliche Großdemos mit mehreren 10.000 TeilnehmerInnen. Die wahren Probleme wie bezahlbarer Wohnraum, LehrerInnenmangel, Pflegenotstand oder auch die extremen Klimaveränderungen, die auch Bayern getroffen haben, waren für die CSU kein Thema. Ihr Hinterherlaufen hinter der AfD hat sie noch weiter nach rechts getrieben, aber auch nicht geholfen, die AfD in die Schranken zu weisen. Im Gegenteil: Ein Grund für ihren Stimmenverlust ist u. a. die Abwanderung zur AfD, aber auch die SPD hat Stimmen an diese verloren.

In vielen Wahlanalysen wird immer wieder betont, dass die SPD auch nicht mehr in ihrer „Kernkompetenz“ – der „sozialen Gerechtigkeit“ –, und für was sie eigentlich steht, von den WählerInnen wahrgenommen wird. Kein Wunder, hat sich die Führung nach internem Widerstand doch wieder dazu entschlossen, in die Große Koalition zu gehen und ihre Politik gegen die Interessen der ArbeiterInnen, RentnerInnen, Arbeitslosen und Jugendlichen weiterzuverfolgen, anstatt wie von der innerparteilichen „Opposition“ gefordert, die nach dieser Entscheidung sehr schnell eingeknickt ist, in die Opposition zu gehen und sich dort inhaltlich zu erneuern. Dies zeigen auch Wahlanalysen: Die SPD hat vor allem bei ihrem eigentlichen Klientel –ArbeiterInnen/Angestellten und RentnerInnen – verloren.

Die Grünen und DIE LINKE

Die Grünen dagegen sind die eigentlichen GewinnerInnen der Bayernwahl. Auch sie haben Stimmen von der CSU, aber auch von enttäuschten SPD-WählerInnen erhalten. Viele ehemalige CSU-WählerInnen, die deren Radikalisierung nach rechts nicht mitgegangen sind, haben für sie gestimmt. Diese Entscheidung war auch nicht so schwer, sind die Grünen in Bayern noch konservativer als im Bund – sie sind z. B. auch dafür, dass die Polizei mehr Stellen erhalten soll, um die innere Sicherheit in diesem Bundesland weiter zu gewährleisten, und auch für eine Abschiebepolitik – nur auf „humane“ Art und Weise. Kombiniert haben die Grünen dies mit einer jungen dynamischen Führung, die „Hoffnung“ auf eine Neuorientierung machen soll.

Die LINKE hat zwar geringfügig Stimmen hinzugewonnen mit 1,1 Prozentpunkten, konnte aber den Sprung ins Parlament nicht erreichen. Sie konnte von der Krise der SPD nur wenig profitieren, weder in den Großstädten noch bei ArbeiterInnen/Angestellten und RentnerInnen. Im Gegensatz dazu zog die FDP nach 5 Jahren mit 5,1 % wieder in den bayerischen Landtag ein.

Interessant ist, dass die Grünen sowohl in den Großstädten punkten konnten – in München haben sie sogar das Mandat der CSU weggeschnappt – als auch bei den ArbeiterInnen und Angestellten. (siehe Zahlen nach Infratest dimap aus www.tagesschau.de vom 15.10.18)

Instabile Regierungsbildung in Bayern

Bisher sieht es so aus, dass Söder – zwar politisch angeschlagen – noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen ist. Er wird voraussichtlich den neuen, alten Ministerpräsidenten stellen, höchstwahrscheinlich zusammen mit den FW. Eine Koalition mit den Grünen lehnt er bisher ab, weil dies angeblich keine bürgerliche Regierung sei. Ob die bürgerliche Regierung mit den FW oder zusammen mit den Grünen zustande kommen wird, kann man bisher noch nicht letztendlich voraussehen. Nur eins ist klar: Dies wird keine stabile Regierung sein! Die CSU hat mit den Stimmverlusten einen klaren Dämpfer erhalten und die absolute Mehrheit verloren. Die Koalition mit den FW wird für viele WählerInnen – vor allem für die, die zu den Grünen abgewandert sind –, keine wirkliche Veränderung darstellen. Von daher ist noch nicht final entschieden, ob die weitere politische Entwicklung die CSU nicht doch noch dazu zwingen wird, eine offen bürgerliche Koalition mit den Grünen einzugehen.

Auswirkung auf die Große Koalition

Aber nicht nur für Bayern ist diese Wahl ein Einbruch, auch die Große Koalition kommt damit ins Wanken. Entscheidend, ob diese Regierung weiter machen kann oder nicht, wird sicherlich die Hessenwahl in 14 Tagen sein.

Nicht nur Bundesinnenminister Seehofer ist angezählt – es gibt Stimmen aus den eigenen Reihen in Bayern, die seinen Rücktritt bereits offen fordern. Gerade die SPD gerät mit dieser historischen Niederlage ins Wanken. Diese muss sich in den nächsten Wochen entscheiden, ob sie weiterhin in der Großen Koalition bleiben will, was bereits von den Jusos Bayern und ihrem Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert wieder angemahnt wird, und ob sie nicht ganz klar mit der Agendapolitik brechen muss, um wieder als die Partei des „kleinen Mannes“ wahrgenommen zu werden. Diese Wahl hat noch einmal ein Schlaglicht darauf geworfen, dass die SPD keine „normale“ Volkspartei ist und sein kann. Sie ist trotz Agenda 2010 immer noch eine bürgerliche ArbeiterInnenpartei – ihre Basis ist die ArbeiterInnenschaft, vermittelt über ihre organischen Verbindung zum Gewerkschaftsapparat –, sie verfolgt aber eine vollständig bürgerliche Politik. Je mehr sie diese Bindung zur ArbeiterInnenklasse verliert, desto uninteressanter wird sie auch für die Bourgeoise als Transmissionsriemen ihrer Politik über den Gewerkschaftsapparat in die ArbeiterInnenklasse hinein. Aber desto unattraktiver wird sie auch für die ArbeiterInnenklasse als „Vertretungsorgan“ gegen die Angriffe der UnternehmerInnen und ihrer Parteien.

Aber als antikapitalistische und revolutionäre Linke müssen wir auch feststellen, dass der Verschleiß der SPD nicht dazu führt, dass die linksreformistische Kraft – DIE LINKE – dadurch gestärkt oder es einen Trend nach links geben würde. Auch in Bayern profitierten vor allem die AfD und die Grünen, die auch nur eine Variante offen bürgerlicher Politik sind. Von daher gilt nach wie vor und darauf hin müssen wir die gesamte Linke drängen: Es ist notwendig, eine Aktionseinheit gegen die AfD und den Rechtsrutsch zu bilden, um gegen die Angriffe der UnternehmerInnen, aber auch gegen die Abschiebepolitik vorgehen zu können! Diese zu initiieren, ist die Verantwortung der Gewerkschaften, der Partei DIE Linke, aber auch von den Kräften in der SPD, die die Notwendigkeit sehen, mit der Großen Koalition und der Agendapolitik zu brechen. Dazu müssen wir sie jedoch zwingen!




Nach der Bayern-Wahl: Organisierung und Widerstand auf die Straße bringen!

Rede der Gruppe ArbeiterInnenmacht/München auf der „Demo zur Landtagswahl – den Rechtsruck zurückschlagen!“ am 14. Oktober in München, Infomail 1024, 15. Oktober 2018

Die Wahl ist gelaufen. Ihr Ergebnis ist keine Überraschung. Für viele ist es eine Genugtuung, dass die CSU für ihre rassistische Hetze und Law-and-Order-Politik abgestraft wurde – tschüss, Alleinregierung! Es geht bei dieser Wahl aber nicht darum, Parteien zu bestrafen. VerliererInnen sind nicht Söder und Seehofer, auch nicht die SPD und die Linkspartei. VerliererInnen sind wir alle, die Lohnabhängigen, die StudentInnen, Azubis, RentnerInnen, Refugees. Der neue Landtag wird vermutlich zu 90 % aus offen bürgerlichen, teils rechten Parteien bestehen. Eine wirklich linke Opposition sucht man vergeblich.

Auch mit der neuen Staatsregierung, egal ob CSU und Freie Wähler oder CSU und Grüne, wird es weiterhin rassistische Hetze geben, auf der Straße, in den Medien, im Parlament, in das die AfD mit über 10 % einziehen wird. Auch mit der neuen Staatsregierung werden Abschiebungen ins Kriegsland Afghanistan stattfinden. Auch mit der neuen Staatsregierung werden die Mieten in München weiter steigen. Das zeigt uns, dass eine Wahl eben nicht der einzige Moment ist, der politisches Handeln erfordert. Es reicht nicht, dass wir alle paar Jahre unsere Stimme abgeben. Lasst uns unsere Stimmen, so oft es geht, erheben und für unsere Forderungen eintreten – im Parlament wird dies keiner tun!

Umso wichtiger sind unsere Organisierung und unser Widerstand – auf der Straße, in den Betrieben, an Unis und Schulen. Für höhere Löhne, bezahlbare Mieten, mehr Pflegepersonal, eine sozialistische Gesellschaft, in der genug für alle da ist und wir eben nicht nur als WählerInnen mitbestimmen dürfen, sondern selbst Politik gestalten und selbst entscheiden, wie wir leben, wie wir lernen, wie wir wohnen und vor allem, was und wie wir produzieren und konsumieren.

The Workers United Will Never Be Defeated!




Landtagswahlen in Bayern: DIE LINKE wählen, aber organisiert den Kampf!

Helga Müller, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Die CSU wird bei dieser Wahl stark an Stimmen verlieren. Ende September lag sie bei 36 % (diese und folgende Zahlen nach www.merkur.de vom 24.9.). Die AfD kommt auf 13,2 %. Damit würde sie als drittstärkste Kraft in den bayrischen Landtag einziehen. Die SPD verliert weiterhin und käme auf 12,1 %. DIE LINKE würde mit 3,3 % erneut nicht in den Landtag kommen.

Die Grünen sind die einzige Partei, die kontinuierlich vom Verlust der CSU profitieren konnte. Sie würden demnach mit rund 18 % zweitstärkste Landtagsfraktion und es gilt mittlerweile als wahrscheinlich, dass es erstmals zu einer schwarz-grünen Koalition unter der CSU kommen wird.

Die Taktik der CSU, mit einer scharfen Konfrontation gegen Merkel, rassistischer Hetze und Sondergesetzen der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist in zweifacher Hinsicht gescheitert. Einerseits konnte sie die rechten WählerInnen nicht zurückgewinnen, andererseits verliert sie wertkonservative oder liberale WählerInnen an die Grünen.

Eine bürgerliche Koalition von CSU und Grünen würde in der Substanz – also vor allem hinsichtlich der Sicherung der Interessen des Großkapitals – zwar die CSU-Politik mit grüner Tünche weiterführen. Zugleich wäre sie jedoch auch eine instabile Konstellation. Die CSU müsste einerseits gewisse Zugeständnisse an die Grünen machen, andererseits würde sie weiter unter den Druck der rechts-populistischen AfD geraten. Die Grünen wiederum würden eine rechtere Politik betreiben als unter Kretschmann in Baden-Württemberg, müssten sie doch das neue PAG und den bayrischen „Grenzschutz“ mittragen.

SPD im Siechtum

Festzuhalten bleibt, dass weder die SPD noch DIE LINKE von der CSU-Krise profitieren können. Themenfelder gäbe es viele, mit denen sie gerade bei den Arbeitslosen, sozial Schwachen, aber auch der Masse der arbeitenden Bevölkerung punkten könnten: preiswerte Mieten, ausreichend Pflegepersonal, Schutz gegen Altersarmut, genügend LehrerInnen, Jugendfreizeiteinrichtungen etc…

Nach den großen Demos gegen das neue PAG, Grundrechtseinschränkungen und dem allgemeinen Unmut gegen den anhaltenden Rechtstrend haben am 15. September rund 11.000 Menschen gegen Mietspekulation und unbezahlbare Wohnungen im Ballungsraum München demonstriert. Es gibt auch im „reichen“ Bayern ein Potential, das sich zumindest gegen die extremsten Auswüchse des Kapitals zur Wehr setzen will.

Doch der SPD hängt die Große Koalition in Berlin wie ein Mühlstein um den Hals. Hinzu kommt, dass die Sozialdemokratie auch in Bayern unklare Antworten gibt. So fordert die SPD zwar eine Spekulationssteuer auf ungenutzten Boden oder die Schaffung von 100.000 neuen bezahlbaren Wohnungen in den nächsten 5 Jahren, 25.000 davon durch eine staatliche bayrische Wohnungsbaugesellschaft. Doch alle wissen, dass das nicht reicht. Wie die SPD konkret verhindern will, dass Spekulationssteuern nicht auf die MieterInnen abgewälzt werden, erfahren wir erst recht nicht. Kein Wunder also, dass die Grünen der SPD den Rang als stärkste Herausforderin der CSU abgelaufen haben. Sie erscheinen als glaubwürdigere, humanistische Partei der „Mitte“, die für liberale KapitalistInnen, humanistisches KleinbürgerInnentum und besser gestellte Schichten der Lohnabhängigen gleichermaßen wählbar ist.

Die LINKE?

Die Partei DIE LINKE geht in ihrem Wahlprogramm in vielen Punkten weiter als die SPD und wirft auch etliche richtige Fragen und Forderungen auf, wie z. B. die Beschlagnahme von Wohnraum, der aus Spekulationsgründen leer steht, oder die Forderung der demokratischen Kontrolle von Wohnungsbaugesellschaften durch MieterInnenräte. Aber sie gibt keine klare Antwort darauf, wie dies gegen den zu erwartenden Widerstand von VermieterInnen und SpekulantInnen durchzusetzen wäre.

Trotzdem rufen wir in den bayrischen Landtagswahlen zur Wahl der Partei DIE LINKE auf. Nicht, weil wir der Meinung sind, dass ihr Wahlprogramm die Lösung aller Probleme darstellt. Trotz vieler richtiger Forderungen ist es allenfalls linksreformistisch und gleicht eher einem Wunschkatalog als einer Anleitung zum Kampf.

Aber in der derzeitigen Konstellation bedeutet jede Stimme für DIE LINKE auch eine Ablehnung der aktuellen Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung, auf die Jugend, auf die RentnerInnen, Arbeitslosen und ImmigrantInnen. Sie stellt ein positives Signal gegen die AfD und den allgemeinen Rechtsrutsch dar. Als einzige Partei lehnt sie eine Koalition mit der CSU ab.

Genau aus diesen Gründen erblicken viele Jugendliche und die bewusstesten Teile der ArbeiterInnenklasse in der Wahl von DIE LINKE die Möglichkeit, ihren Protest und Widerstand zum Ausdruck zu bringen. Wir als RevolutionärInnen teilen zwar die Illusionen in die Programmatik und Strategie der Partei nicht. Aber wir teilen den Wunsch, jene Stimmen möglichst stark zu machen, die die Ablehnung aller offen bürgerlichen Parteien und der Koalitionspolitik der SPD zum Ausdruck bringen.

Zugleich fordern wir DIE LINKE dazu auf, konsequent für ihre Forderungen auf der Straße zu mobilisieren und in den Gewerkschaften den Kampf für ihre Verwirklichung zu führen. Gleichzeitig ist es aber notwendig, nicht nur DIE LINKE zu wählen, sondern für die Verteidigung der Arbeits- und Lebensbedingungen selbst den Kampf aufzunehmen.




#ausspekuliert-Demo in München: 10.000 Menschen demonstrieren für bezahlbaren Wohnraum

Veronika Schulz, Infomail 1020, 17. September 2018

Nachdem dieses Jahr bereits in anderen Städten Großdemonstrationen stattfanden, wurde es auch in München Zeit für Widerstand gegen InvestorInnen, Hedgefonds und die Wohnungspolitik der Landesregierung. Innerhalb nur weniger Wochen hat der „Münchner Mieterstammtisch“, gegründet von verschiedenen MieterInnengemeinschaften, die Themen bezahlbares Wohnen und soziale Ausgrenzung durch Immobilienspekulation fest in der öffentlichen Debatte verankert. Mittlerweile unterstützen mehr als 100 Organisationen, Parteien und Verbände das Bündnis unter dem Motto #ausspekuliert. Am Samstag, genau eine Woche vor dem Einzug der Wies’nwirtInnen, folgten mehr als 10.000 Menschen dem Aufruf zum symbolischen „Auszug der Münchner“ aus der teuersten Großstadt Deutschlands. Neben SPD und Linkspartei war auch die ver.di-Jugend in großer Zahl mit eigenem Demozug vertreten, der sich mit der #ausspekuliert-Demo verbunden hat. Unter dem Motto „Ohne Moos wohnungslos“ wurde auf die besonders prekäre Situation von Azubis und jungen Lohnabhängigen aufmerksam gemacht, für die ohne Bürgschaft von Eltern eine Wohnung schlicht nicht zu haben ist.

Die aktuelle Misere auf dem deutschen Wohnungsmarkt mit rasant steigenden Mieten ist das Resultat des stetigen Abbaus sozialer Förderprogramme bei gleichzeitiger Privatisierung. Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland hat sich innerhalb der letzten 10 Jahre von 200.000 auf 1,2 Millionen versechsfacht. In München haben sich die Mieten seit 2010 um 50 % erhöht. Im Schnitt kostet der Quadratmeter 17 Euro!

Es sind mittlerweile nicht nur GeringverdienerInnen, die sich die Mieten in München nicht mehr leisten können. Das Problem der explodierenden Quadratmeterpreise betrifft längst auch FacharbeiterInnen, junge Familien und RentnerInnen. Das bedeutet eine Verdrängung von den Menschen, die die Stadt beleben, am Laufen halten, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, in die Vororte. Dies führt nach und nach zu einem Verlust der städtischen Vielfalt und Kultur. Die ImmobilienspekulantInnen wie „Deutsche Wohnen“ machen Rekordgewinne – auf unsere Kosten. Die Filetgrundstücke luxussanierter Wohnungen teilen Immobilienverwaltungen und InvestorInnen untereinander auf, um sie einer kleinen, finanzkräftigeren Klientel als den bisherigen BewohnerInnen anzubieten.

Der Wohnungssektor ist Teil des kapitalistischen Gesamtsystems. Der MieterInnenkampf muss daher als Klassenkampf geführt werden (z. B. durch Einbeziehung der Gewerkschaften und anderer Organisationen, die sich auf die ArbeiterInnenklasse beziehen). Wir können uns nicht mit der Besetzung und Beschlagnahme vorhandenen Wohnraums sowie einer Mietpreisbremse begnügen, sondern schlagen auch ein Programm öffentlicher Wohnungsbau- und Sanierungsmaßnahmen zu Tariflöhnen und bezahlt aus Unternehmerprofiten vor:

  • Der Staat soll selbst sozialen Wohnungsbau betreiben, nicht das private Wohnungskapital subventionieren. Die Immobilienwirtschaft und WohnungsbauspekulantInnen müssen entschädigungslos enteignet werden – unter Kontrolle der MieterInnen und von ArbeiterInnenräten.
  • Kommunalisierung des Grund und Bodens, Baubetrieb in kommunale Hand für Neubau und Altbausanierung!
  • Bezahlung des Wohnungsbaus und von Sanierungen im Interesse der MieterInnen durch das beschlagnahmte Vermögen des Wohnungs- und Baukapitals und eine progressive Besteuerung der Profite!
  • Kontrolle der Wohnungsbaugesellschaften, Verwaltungen und der Mietpreise durch die MieterInnen, deren VertreterInnen und MieterInnengemeinschaften, begleitet von ArbeiterInnenkontrolle über das Wohnungsbauwesen.



Landtagswahlen in Bayern: Keine Wahl wie jede andere

Helga Müller, Neue Internationale 231, September 2018

Sollte es der CSU trotz anderslautender Prognosen gelingen, die absolute Mehrheit in Bayern zu verteidigen – wovon derzeit nicht auszugehen ist -, würde dies auch bundesweit den Rechtsschwenk weiter befeuern. Aber selbst in einer Koalitionsregierung – in welcher auch immer – wird die CSU ihren bundespolitischen Einfluss geltend machen.

Nicht nur in der Bundesregierung wird sich Innenminister Seehofer (CSU) weiterhin als Garant für „Sicherheit“ durch geschlossene Grenzen aufspielen und auch an Abschiebungen festhalten. Auch in anderen – vor allem den unionsregierten – Bundesländern muss mit Maßnahmen gerechnet werden, die verstärkte Repression ermöglichen. So ist zwar die Verschärfung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) die erste und härteste ihrer Art. Andere Länder wie NRW und Sachsen – die auch CDU-regiert sind – ziehen jedoch bereits nach.

Gerade von der CSU in Bayern und von ihrem Innenminister Horst Seehofer wird immer wieder die Debatte um die angeblich zu vielen Flüchtlinge, die unseren armen „Sozialstaat“ zusätzlich belasten, angeheizt und liefert den Vorwand, die angeblich daraus resultierende terroristische Gefahr mit einem neuen Polizeiaufgabengesetz bekämpfen zu können. Dieses wurde in einem Hauruckverfahren durch den Landtag gepeitscht. Ein PAG, von dem sogar liberale JuristInnen sagen, dass dieses die Grundrechte eines/r jeden BürgerIn dermaßen einschränkt, wie es die Bundesrepublik seit ihrer Existenz noch nicht erlebt hat. Dieses Gesetz diente wiederum den anderen CDU-geführten Bundesländern als Muster. Weitere werden nachziehen.

Konflikte und Prognosen

Momentan sieht es allerdings eher nach einem Debakel für die CSU aus, kommt sie bisher laut Umfragen „nur“ auf 37 %. Doch auch im Falle erheblicher Stimmenverluste bleibt zu erwarten, dass sich die CSU weiterhin an der AfD orientieren und deren Forderungen soweit wie möglich in die Tat umsetzen wird.

Aber die derzeitigen Umfrageergebnisse zeigen gerade, dass die maßlose Verschärfung des PAG und die Grundrechtseinschränkungen auch den Widerstand und die Empörung breitester Bevölkerungsteile provozieren: Die Demonstration gegen das neue PAG vom 10. Mai mit ca. 50.000 TeilnehmerInnen, die ein breites Spektrum umfasste, war eine der größten seit Jahren in Bayern. Auch die Demo #ausgehetzt gegen den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft und gegen Grundrechtseinschränkungen am 22. Juli – gerade mal einen Monat später – mit wiederum ca. 40.000 Menschen zeigt, dass in breiten Schichten – auch gerade bei CSU-AnhängerInnen – ein tiefes Misstrauen in die Politik des neuen Ministerpräsidenten Söder herrscht.

Aber auch Seehofer ist in der CSU nicht unumstritten. Risse über den zukünftigen Kurs – auch und gerade in der Flüchtlingspolitik – tun sich auf. Ein Indiz dafür ist, dass einige Vorsitzende in CSU-Bastionen Oberbayerns aufgrund der Flüchtlingspolitik von Seehofer und vor allem seiner Vorgehensweise zurückgetreten sind.

Dass die CSU – wenn sie auch eine sogenannte Regionalpartei ist – ein großes „Wörtchen“ im Bund mitzureden hat, zeigt die ganze Debatte um die „richtige“ Flüchtlingspolitik. Schon vor der Sommerpause geriet Merkels CDU unter Druck und Seehofer stellte ein Ultimatum nach dem anderen, um zu zeigen, dass an der CSU kein Weg vorbeiführt. Die SPD verhielt sich wahlweise passiv oder opportunistisch, keinesfalls kritisch oder kompromisslos in dieser Auseinandersetzung. Dabei sind die Grundrechtseinschränkungen und Erweiterungen polizeilicher Befugnisse nur ein Baustein im allgemeinen Rechtsruck der CSU in Bayern.

Die Landes-SPD war zwar in den Bündnissen gegen die Verschärfung des PAG dabei und hat auch RednerInnen auf den Demonstrationen gestellt, aber auf die drängenden Themen auch oder gerade im „reichen“ Bayern und in München wie steigende Mieten, Altersarmut und vor allem den Mangel an Pflegepersonal gaben sie keine Antwort. Folglich kann die Sozialdemokratie von der Krise der CSU nicht profitieren. Die bisherigen Wahlprognosen bestätigen dies: In aktuellen Umfragen liegt die SPD mit 12 % sogar hinter der AfD (13 %)!!

Auch DIE LINKE ist nur wenig in der Lage, aus dem Debakel der CSU Profit zu schlagen. Sie liegt in den Umfragen bei 4 % und könnte abermals an der undemokratischen Sperrklausel scheitern und nicht in den Landtag einziehen. Dies obwohl sie und ihre Jugendorganisation [’solid] an den Bündnissen gegen AfD aktiv – aktiver als die SPD – beteiligt waren. Dies auch, obwohl sie z. B. das bayerische Volksbegehren gegen Pflegenotstand (unsere Kritik am Volksbegehren ist in unserer Frauenzeitung „Fight“ unter „Druck machen muss anders gehen“! nachzulesen) – initiiert hat und aktiv vorantreibt. Die einzigen Parteien, die in der Lage sind, von der Wahlschlappe der CSU zu profitieren, sind die AfD und teilweise auch DIE GRÜNEN mit 17 %. Die AfD wird mit Sicherheit in den Landtag einziehen und zu befürchten ist, dass sie vor der SPD zur drittstärksten Partei in Bayern anwachsen könnte.

Themen

Themen gäbe es viele, mit denen sowohl die SPD als auch DIE LINKE gerade bei den Arbeitslosen und sozial Schwachen, aber auch beim Großteil der arbeitenden Bevölkerung in Bayern punkten könnten: preiswerte Mieten, ausreichend Pflegepersonal, Schutz gegen Altersarmut, ausreichend LehrerInnen, Jugendfreizeiteinrichtungen etc…

Um nur ein Beispiel herauszunehmen: Am 15. September wird eine Demonstration gegen die horrenden Mieten in München stattfinden, die von Mieterselbstorganisationen initiiert wurde. Diese wird sicherlich wieder die 10.000er-Marke überschreiten. Anstatt sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen und effektiv gegen Mietspekulation, die mit ein Grund für die exorbitanten Mieten in München ist, für einen bedarfsgerechten Ausbau des sozialen Wohnungsbaus im Bund, für eine effektive Mietpreisbindung zu kämpfen, kommt ein „Reförmchen“ von SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter. Dieses beinhaltet z. B., dass die soziale Zusammensetzung eines Stadtteils nicht durch Luxussanierungen auseinandergerissen werden darf. Noch schwerer wiegt, dass Reiter nach einem Protest von GrundstückseigentümerInnen gegen eine geplante städtebauliche Maßnahme im Münchner Norden, die auch die Möglichkeit von Enteignung vorsah, wenn sich diese gegen das Vorhaben der Stadt sträuben sollten, auf deren Durchsetzung verzichtet hat. So macht man sich natürlich gerade bei dem Bevölkerungsteil, der auf preiswerte Wohnungen angewiesen ist, keinen guten Namen.

Aber auch von der Partei DIE LINKE, die viele richtige Forderungen in ihrem Wahlprogramm hat – wie z. B. Beschlagnahme von Wohnraum, der aus Spekulationsgründen leer steht -, ist in dieser Frage nicht viel zu sehen. Und es gibt im Programm auch keine klare Vorstellung, wie dies durchzusetzen wäre im Falle des Widerstands von VermieterInnen und SpekulantInnen – was real passieren wird, wie am Beispiel oben geschildert. So bleibt diese Forderung in den Augen vieler – zu Recht – reiner Wunschtraum und ein bloßes Wahlversprechen.

Wahltaktik

Trotzdem rufen wir in den bayerischen Landtagswahlen zur Wahl der Partei DIE LINKE auf. Nicht weil wir der Meinung sind, dass das Wahlprogramm die Lösung aller Probleme in Bayern darstellt, trotz vieler richtiger Forderungen, die wir auch als RevolutionärInnen unterstützen können. Sondern erstens, weil in der derzeitigen Konstellation jede Stimme für DIE LINKE eine Ablehnung der aktuellen Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung, auf die Jugend, auf die RentnerInnen, Arbeitslosen und ImmigrantInnen und gegen die AfD und den allgemeinen Rechtsrutsch darstellt. Genau aus diesem Grund sehen zweitens gerade viele Jugendliche und die bewusstesten Teile aus der ArbeiterInnenklasse nur in der Wahl von DIE LINKE die Möglichkeit, auf Wahlebene ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Wir als RevolutionärInnen teilen diese Illusion nicht, deswegen fordern wir DIE LINKE dazu auf, konsequent für ihre Forderungen auf der Straße zu mobilisieren und in den Gewerkschaften den Kampf dafür zu führen. Das ist die beste Möglichkeit zu überprüfen, ob das Programm nur ein leeres Wahlversprechen ist oder Ausgangspunkt für einen Kampf gegen neoliberale Politik und Rechtsrutsch. Daher ist es notwendig, nicht nur DIE LINKE zu wählen und zu hoffen, dass sie ihr Programm wahrmacht, sondern für die Verteidigung der Arbeits- und Lebensbedingungen gemeinsam den Kampf aufzunehmen.

 




Nein zum Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz!

Martin Eickhoff, Infomail 1014, 15. August 2018

In Zeiten eines repressiver werdenden Staatsapparates werden in mehr und mehr Bundesländern sogenannte Polizeiaufgabengesetze eingeführt. Gegen diese regt sich aber auch Widerstand, wie die Demonstrationen von als 30.000 Menschen in München und rund 20.000 in Düsseldorf belegen.

Weniger bekannt sind jedoch andere reaktionäre Gesetzesvorhaben wie der bayerische Entwurf für das Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG), mit dem psychisch erkrankte Menschen stigmatisiert werden. Der Betrug beginnt hier schon beim Namen des Gesetzes. Viele Fachverbände kritisieren zu Recht, dass es hier nicht um Hilfe, sondern um Diskriminierung und Stigmatisierung geht. Der bekannte Münchner Sozialrechtsanwalt Dr. Rolf Marschner weist in seiner Kritik darauf hin, dass psychisch erkrankte Menschen in Kliniken gemäß den Regeln des Strafregelvollzugs oder der Sicherheitsverwahrung gehalten werden sollen.

Menschen, die z. B. wegen Depressionen oder Burn-out in stationärer Behandlung waren, sollen in einer zentralen Unterbringungsdatenbank erfasst werden. Diese sollen nach Regeln des Kriminalrechts festgehalten und der Polizei pauschal gemeldet werden. Entlassungen aus der Klinik sollen ebenfalls vorher der Polizei angezeigt werden. Wenn man davon ausgeht, dass in Deutschland ca. 10 Millionen Menschen an Depressionen leiden, kann nur erahnt werden, welche Unmengen an Daten von BürgerInnen gesammelt werden und ebenso, wie linke AktivistInnen auch auf diesem Weg ins Kreuzfeuer der staatlichen Stellen geraten können. Hierzu soll dann schon „eine Gefährdung der Allgemeinheit“, z. B. die Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration, das Beschädigen eines Müllcontainers oder eine Sitzblockade ausreichen, um mutige BürgerInnen einfach auf Verdacht hin aus dem Verkehr zu ziehen oder zu verhindern, dass diese auf eine politische Veranstaltung gehen können.

Allein in Bayern werden jedes Jahr ca. 12.000 Menschen wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht und behandelt. Statt die Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu benennen und zu beseitigen, geht es der CSU um eine gezielte Stigmatisierung von Menschen, die professionelle Hilfe brauchen und auf diese Weise abgeschreckt werden, diese in Anspruch zu nehmen. Die geplante Registrierung und zeitlich unbegrenzte Speicherung von Daten erinnert stark an die bereits vor Jahrzehnten aufgestellten Forderungen der Herren Gauweiler und Seehofer (beide CSU) zwecks Erfassung Homosexueller und HIV-Positiver sowie deren äußerlicher Kennzeichnung, die dabei bewusst Parallelen zum Nazi-Regime in Kauf genommen haben.

So werden medizinische, pädagogische und psychologische Fachkräfte in die Rolle von Hilfssheriffs gesteckt und Kliniken zu staatlichen Verwahranstalten. Zwar soll nach Kritik von Fachverbänden und Fachkräften das Gesetz noch einmal überarbeitet werden, im Kern soll es aber erhalten bleiben.

  • Nein zum Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz!
  • Gegen jede Kriminalisierung und öffentliche Stigmatisierung psychisch Kranker!
  • Gegen die unkontrollierte Sammlung und massenhafte Speicherung von PatientInnendaten!



Bayrisches Polizeiaufgabengesetz: Gefahr für uns alle

Veronika Schulz, Neue Internationale 228, Mai 2018

Im Vorfeld des bayerischen Landtagswahlkampfs profiliert sich die CSU einmal mehr als Vorreiterin in Sachen Repression und Überwachungsstaat. Eine für Mai geplante Reform des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) ebnet den Weg zu ihrer militärischen Aufrüstung und zum massiven Ausbau der Kontrolle über BürgerInnen und ihre Privatsphäre. Die neuen Befugnisse heben die ohnehin nur scheinbare Trennung von Polizei und Geheimdiensten weiter auf und reihen sich nahtlos in die bereits umgesetzten Einschnitte in Grund- und Bürgerrechte der letzten Jahre ein.

Repressionswelle

Pünktlich vor dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg durfte sich die Polizei in ganz Deutschland über eine Ausweitung ihrer Befugnisse freuen: von „Integrationsgesetzen“ über die Verschärfung von §114 StGB bis hin zum sogenannten „Gefährdergesetz“ wurden nach und nach die Hürden für Strafverfolgung gesenkt.

So ist nun schon bei einer nicht näher definierten „drohenden Gefahr“ die Eingriffsschwelle für die Polizei gegeben, um – ohne richterlichen Beschluss! – eine Fülle von Maßnahmen anzuwenden: Einsatz von Bodycams (auch in Wohnungen), Ausweitung von Online-Durchsuchungen und Betreten der Wohnung zur Installation von Überwachungssoftware, intelligente Videoüberwachung, erweiterte DNA-Analyse mit Bestimmung der „biogenetischen Herkunft“ (racial profiling), Einsatz von Explosivmitteln wie Blend- oder Handgranaten und Maschinengewehren. Alles, was technisch möglich ist, wird durch das geplante Gesetz legalisiert.

Der Freistaat verfügt zurzeit laut Landespolizeipräsident Schmidbauer über keine bewaffneten Drohnen, ihr Einsatz wird durch das neue Gesetz auch ermöglicht. Dies alles ergänzt die bereits eingeführte präventive „Unendlichkeitshaft“ bei bloßem Verdacht, wobei lediglich alle drei Monate ein neuer richterlicher Beschluss erfolgen muss, ohne dass tatsächlich ein Strafverfahren gegen den/die Beschuldigte/n eröffnet wird. Außerdem kann die Polizei Kontaktverbote, Aufenthaltsgebote und -verbote aussprechen, aber auch Kontenpfändungen vornehmen.

Bei Haftstrafen ab drei Monaten wird die Lage für die Beschuldigten schnell existenzgefährdend, da Verlust von Arbeitsplatz und Wohnung vorprogrammiert sind – wohlgemerkt, auf bloßen Verdacht hin. Wenn dann auch noch die Konten gepfändet werden, kann der/die Beschuldigte froh sein, wenn er/sie anwaltlichen Beistand bekommt, den er/sie zunächst nicht einmal bezahlen kann. Kurz: Menschen, denen in keinster Weise Straftaten oder deren Vorbereitung nachgewiesen werden können, sind um ein Vielfaches schlechter gestellt als Verdächtige in Strafverfahren, so betreffs Schadensersatz, sollte sich die Polizei „geirrt“ haben.

Auch das aktuelle PAG sieht keine Rechtsbeschwerdemöglichkeiten vor. Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung, die Maßnahmen greifen sofort.

Statt eines Strafprozesses wird im Verfahrensfall auf Basis des „Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) verhandelt. Ein Anspruch auf Pflichtverteidigung ist dabei nicht gegeben. Dadurch werden die Möglichkeiten für eine anwaltliche Verteidigung der Beschuldigten enorm erschwert. Während bei einem Strafprozess ein strenges Beweisverfahren vorgeschrieben ist und Ausnahmen begründet werden müssen, sieht das FamFG Ermessensentscheidungen vor, d. h. es bleibt den RichterInnen überlassen, ob sie Beweisen überhaupt nachgehen, wobei dies selbst dann nur „in geeigneter Form“ passieren muss. Auch die Akteneinsicht kann eingeschränkt werden, was eine Verteidigung und die Entkräftung von Vorwürfen schwer bis unmöglich macht.

Modell für die gesamte Bundesrepublik

Die CSU will sich vor der Landtagswahl, bei der ihre absolute Mehrheit auf dem Spiel steht, um jeden Preis als Garantin für innere „Sicherheit“ profilieren und versucht auf diesem Weg, sich die AfD als rechte Konkurrenz vom Hals zu halten. Landespolizeipräsident Schmidbauer rechtfertigt das geplante Polizeiaufgabengesetz als notwendig, Innenminister Herrmann und Ministerpräsident Söder rühmen die CSU als Vorreiterin, der es gelingt, das „härteste Polizeigesetz Deutschlands“ umzusetzen.

Bayern macht dabei nur den Anfang auf dem Weg zum deutschlandweiten Polizeistaat. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Sachsen planen ähnliche Gesetze. Horst Seehofer als neuer Bundesinnenminister hat seinerseits selbstbewusst angekündigt, sich bayerische Maßstäbe für ganz Deutschland zum Vorbild zu nehmen. Der Grad der inneren Aufrüstung hat sich schon im letzten Jahr zum G20-Gipfel gezeigt, als in Hamburg Einsatzkräfte aus ganz Deutschland erfolgreich und mit Duldung von Bundesregierung und Hamburger Senat den Ausnahmezustand geprobt haben.

Nicht nur das PAG ist ein Angriff auf uns alle. Anwaltsverbände kritisieren die bereits vollzogene Verschärfung des §114 StGB als Sonderrecht für eine Berufsgruppe, die im Dienst des Staates steht. Vorgeblich um PolizistInnen besser zu schützen, wurde im Mai 2017 – rechtzeitig vor Gipfelbeginn in Hamburg – der „tätliche Angriff“ gegen VollstreckungsbeamtInnen neu definiert. Die Mindeststrafe ist eine Haftstrafe, wobei weder eine Verletzung vorliegen noch der Versuch dazu nachgewiesen werden muss. Die Hamburger Staatsanwaltschaft legte dies wie folgt aus: „Schon das gemeinsame Zugehen im Pulk auf Polizeibeamte stelle eine erhebliche Kraftentfaltung dar, die auf einen unmittelbaren körperlichen Zwang gerichtet sei. Einer tatsächlichen Berührung bedürfe es nicht.“

Bei diesem Szenario liegt das Mindeststrafmaß sogar bei 6 Monaten Haft, da hier von einem „gemeinschaftlichen tätlichen Angriff“ ausgegangen wird. Diese Interpretation durch Staatsanwaltschaften und Gerichte zeigt, wie ein Gesetzestext mit Leben gefüllt wird und welch massive Repression gegen jede Demonstration, jede Versammlung, jede Protestaktion, jeden Streik bereits jetzt befürchtet werden muss. Daher ist es auch und gerade im Sinne aller Gewerkschaften, sich gegen weitere Gesetze dieser Machart zur Wehr zu setzen.

Widerstand ist notwendig

Mitte Mai sollen der bayerische Landtag und der Ausschuss für Innere Sicherheit das Gesetz beschließen – in beiden hält die CSU die Mehrheit. Grüne und auch die SPD bauen auf das Verfassungsgericht, das die grundgesetzwidrigen Vorhaben kassieren soll. Das mag zwar einzelne Änderungen einfordern, die Verschärfung des Gesetzes, geschweige denn die bestehenden Befugnisse der Polizei und anderer Repressionsorgane lassen sich so nicht verhindern.

Was wir brauchen, um die weitere Militarisierung der bayerischen Polizei zu stoppen, ist eine entschiedene Opposition auf der Straße, in Betrieben, Schulen und an den Universitäten. Die Gewerkschaften machen – natürlich mit Ausnahme der reaktionären Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) im Deutschen Beamtenbund (DBB), die das Gesetz unterstützt (!), so der Vorsitzende ihres bayerischen Landesverbandes Rainer Nachtigall – den Anfang, indem sie für den 10. Mai zu einer Demonstration in München aufrufen. Dennoch darf sich der Protest gegen das PAG nicht auf Bayern beschränken und auch die Gewerkschaften müssen bundesweit dagegen mobilisieren. Es gilt, diesem unverhohlenen Angriff auf demokratische Rechte mit der drohenden Entwicklung zum Polizeistaat entgegenzutreten.

Die „drohende Gefahr“ ist das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz selbst! Lassen wir uns also weder einschüchtern noch spalten, unsere Solidarität gilt allen, die bereits von Repression betroffen sind.

  • Nein zum Polizeiaufgabengesetz! Keine Sonderschutzrechte für PolizistInnen!
  • Gewerkschaft der Polizei (GdP) – raus aus dem DGB!
  • Gegen willkürliche Kriminalisierung und Überwachung!
  • Gegen Polizeistaat und Aufrüstung – innen wie außen!