Bahn: 35 Stunden für die 35-Stunden-Woche!

Martin Suchanek, Infomail 1246, 5. März 2024

Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der Bahn AG nimmt die GDL die Streiks zur Durchsetzung ihrer Tarifforderungen wieder auf. Die Arbeitsniederlegung beginnt am 6. März, 18.00, im Güterverkehr, am 7. März, 2.00 morgens, folgt der Personenverkehr.

Befristet ist der Streik auf 35 Stunden, um damit noch einmal der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für die Beschäftigten im Schichtdienst Nachdruck zu verleihen.

Warum scheiterten die Verhandlungen?

Nach gut einem Monat Geheimverhandlungen samt Friedenspflicht verließ die Gewerkschaft die bis zum 3. März terminierten Unterredungen am 29. Februar vorzeitig. Offizieller Grund: Der DB-Vorstand hätte Interna an die Bild-Zeitung weitergegeben und damit die vereinbarte „Vertraulichkeit“ gebrochen. Was immer man davon halten mag, so lässt diese Begründung tief in die Bürokrat:innenseele der GDL-Spitze um Weselsky blicken. Wie die GDL bei Tarifabschlüssen mit der privaten Konkurrenz selbst immer wieder hervorhebt, stellen für sie Geheimverhandlungen und Sozialpartner:innenschaft nicht das Problem dar, sondern der mangelnde „Respekt“ des Bahnvorstandes für ihre Gewerkschaft. Schon deswegen – aber noch vielmehr wegen ihrer unkritischen Haltung zur AfD, der Gründung einer eigenen GDL-Verleihfirma und ihrer Unterstützung der Bahnprivatisierung – ist ein unkritisches Abfeiern von Weselsky und Co. unangebracht.

Doch immerhin. Die Verhandlungen sind gescheitert, ein fauler Kompromiss konnte bei den Geheimgesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und „natürlich“ auch der GDL-Mitglieder nicht erzielt werden. Und das ist eine gute Nachricht für alle Gewerkschafter:innen und Linken.

Der Bahnvorstand, die bürgerliche Presse und die Bundesregierung schieben die Schuld dafür natürlich einseitig der GDL zu. Diese habe nur stur ihre Maximalforderungen wiederholt, statt diese am Verhandlungstisch aufzuweichen. Selbst das ist Unsinn. Die GDL hatte schon vor Beginn der Verhandlungen einen Kompromiss gegenüber einer sofortigen Umsetzung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ins Spiel gebracht – nämlich die Tarifvereinbarungen bei den Privatbahnen, die eine schrittweise Umsetzung der Forderung vorsehen.

So beinhalten die Abschlüsse bei Netinera Deutschland (u. a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead, dass dort ab 2028 die 35-Stunden-Woche kommt. Bis dahin sollen eine schrittweise Anpassung der Arbeitszeit, eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten, eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro und Zuschläge von +5 % erfolgen. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die Laufzeit der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.

Die GDL wäre sicher bereit gewesen, einen solchen Abschluss mit den dazu gehörigen Kröten auch bei der DB AG hinzunehmen und abzufeiern. Er hätte die Umsetzung der 35-Stunden-Woche deutlich gestreckt, die geforderte Laufzeit hätte sich von einem Jahr auf 2 Jahre verdoppelt und die Entgelterhöhung wäre klar unter den 550 Euro für alle geblieben.

Ebenso wie die Mär von der ultrasturen GDL können wir die psychologisierenden Einschätzungen beiseitelassen, die die Länge bzw. Kürze der Verhandlungen nur der Profilierungssucht des GDL-Vorsitzenden Weselsky zuschreiben.

Wirkliche Ursachen

Ein Licht auf die wirklichen Ursachen des Scheiterns wirft ironischer Weise die Erklärung des Bahnvorstandes. Die GDL, so heißt es, hätte sich seit Beginn der Verhandlungen Anfang Februar über Wochen nicht bewegt und „bis zuletzt dogmatisch auf der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich“ beharrt. Lassen wir einmal beiseite, dass die GDL so dogmatisch gar nicht war, so läuft der ganze Vorwurf darauf hinaus, dass die Gewerkschaft bei den Verhandlungen ihre eigenen Forderungen nicht gänzlich zurückgenommen hat oder jedenfalls nicht in einem für die DB akzeptablen Maß.

Nach Jahrzehnten sozialpartnerschaftlicher Tarifrundenrituale gilt es mittlerweile als normal, dass eine Gewerkschaft ohnedies nicht ernsthaft für ihre aufgestellten Forderungen eintritt. Das steht jetzt ein Stück weit infrage. Und das geht natürlich nicht. Daher rufen Unternehmerverbände und Unionsparteien einmal mehr nach Zwangsschlichtungen bei „kritischer Infrastruktur“. Dort sollten Streiks erst möglichst werden nach einer etwaigen gescheiteren Schlichtung und auch dann nur innerhalb enger Grenzen.

Dass sich die GDL bei der Bahn zu einer härteren Gangart gezwungen sieht, hat nichts mit einer grundsätzlich fehlenden Kompromissbereitschaft oder einem grundlegend anderen Charakter der Gewerkschaft zu tun, sondern damit, dass sie vor dem Hintergrund des reaktionären Tarifeinheitsgesetzes einen Existenzkampf nicht nur gegen das Management, sondern um ihre Anerkennung als Gewerkschaft führt. Daher muss sie sich gegen die größere und bei Lohnverhandlungen moderatere EVG zu profilieren versuchen.

Und das bringt Forderungen nach weiteren Einschränkungen des Streikrechts zutage, eine öffentliche Hetze gegen den Streik, der auf dem Rücken der Fahrgäste ausgetragen würde. Anders als bei früheren Arbeitskämpfen stimmt mittlerweile auch der Fahrgastverband Pro Bahn in diesen Chor ein. Bahn AG und GDL würden die Verkehrwende, die die Regierung ohnedies nur im Schneckentempo voranbringt und die Verkehrsminister Wissing sabotiert, wo er nur kann, kaputtmachen. Die Regierung müsse jetzt intervenieren, fordert Pro Bahn – ein Aufruf, das Streikrecht der GDL zu beschneiden!

Solidarität mit dem Streik!

In Wirklichkeit stellt der Vorwurf, die GDL (oder im Frühjahr 2023 auch die EVG) würde mit Streiks die Verkehrwende kaputtmachen und die Menschen von der Schiene vertreiben, reinen Zynismus dar. Schließlich sind die Gewerkschaften und die Beschäftigten ganz sicher nicht schuld, dass die Bahn seit Jahrzehnten kaputtgespart wird, ein unsinniger und chaotisierender Privatisierungsvorschlag dem nächsten folgt, die Preise stetig erhöht werden, statt den kostenlosen ÖPNV einzuführen oder wenigstens das Deutschlandticket für die nächsten Jahre bei 49 Euro zu fixieren. Selbst dazu sind jene nicht willens oder fähig, die jetzt über ein angeblich drohendes Streikchaos wettern.

Dabei macht die GDL nur, was jede ernstzunehmende Gewerkschaft tun sollte. Sie versucht, ihren Forderungen mit eskalierenden Streiks Nachdruck zu verleihen. Daher kündigt sie für die nächsten Wochen an, die Arbeitsniederlegungen nicht mehr längerfristig vorher bekanntzugeben, so dass die Bahn AG keine Notfahrpläne erstellen kann. Diese sog. Wellenstreiks sind eine durchaus kluge und naheliegende Taktik, um den Druck auf die Gegenseite zu erhöhen. Zugleich signalisiert sie auch, dass die GDL selbst vor einem unbefristeten Vollstreik zurückschreckt, ja, deren Vorsitzender Weselsky hat diesen wiederholt ausgeschlossen.

Die Bahn AG, die Regierung und sämtlich bürgerlichen Kräfte werden versuchen, die GDL durch öffentlichen Druck in die Knie zu zwingen – vor allem, indem sie sich als Vertreter:innen der Fahrgäste aufspielen. Die GDL hat zweifellos recht damit, wenn sie den Bahnvorstand für das Scheitern der Verhandlungen verantwortlich macht, weil dieser zu keinen substantiellen Zugeständnissen bei der 35-Stunden-Woche bereit ist.

Aber es reicht gegen eine offensive öffentliche Medienkampagne sicher nicht, das nur bei einer Pressekonferenz zu erklären. Damit die GDL den weiteren Arbeitskampf erfolgreich bestehen kann, muss sie auch anfangen, diesen anders als bisher zu führen. Es reicht nicht, dass die Mehrzahl der Streikenden einfach zuhause bleibt. Vielmehr wird es für einen längeren Arbeitskampf nötig sein, dass diese aktiv mit Infoständen, Demonstrationen, Flugblättern, auf sozialen Medien für ihren Streik werben und erklären, warum ein Sieg der GDL im Interesse aller Lohnabhängigen liegt. Der Kampf muss auch auf öffentlicher und politischer Ebene geführt werden, nicht nur auf einer rein gewerkschaftlichen.

Das erfordert auch, dass der Streik und erst recht die Verhandlungen nicht mehr als reine Top-Down-Veranstaltungen von Claus Weselsky geführt werden können oder sollen. Das liegt zum einen daran, dass die GDL-Spitze wie schon bei Aufnahme der Geheimverhandlungen Ende Januar durchaus auch faule Kompromisse einzugehen imstande ist und daher von den Beschäftigten kontrolliert werden muss. Es ist auch deutlich, dass ein längerer Streik nur durch die Aktivierung der Mitgliedschaft in Vollversammlungen und gewählten, abwählbaren und rechenschaftspflichtigen Streikkomitees durchhaltbar sein wird, also durch eine massive Verbreiterung der Basis der aktiven Gewerkschafter:innen.

Schließlich erfordert ein solcher Arbeitskampf die aktive Unterstützung durch die gesamte Gewerkschaftsbewegung und die Bildung von Solidaritätskomitees, um Gegenöffentlichkeit zu erzeugen und Solidaritätsaktionen und -streiks durchzuführen.

Und die EVG?

Die Solidarisierung mit der GDL wäre dabei zuerst die Aufgabe ihrer „Konkurrenz“ bei der Bahn AG. Doch was tut die EVG? Sie schweigt sich aus – bestenfalls!

Wer beim Angriff auf andere Gewerkschafter:innen, die für Arbeitszeitverkürzung und höhere Löhne streiken, nichts tut, der unterstützt letztlich die Kapitalseite! Im Tarifkampf „unparteiisch“ zu bleiben, hilft nur der Konzernleitung und sonst niemand.

Es schwächt letztlich sogar die EVG selbst, die bei ihren nächsten Tarifrunden und Arbeitskämpfen dem GDL-Vorstand schon jetzt die Argumente liefert, dann seinerseits die Füße stillzuhalten. Diese wechselseitige Entsolidarisierung stellt letztlich ein Kernproblem der Bahnbeschäftigten dar – und muss durchbrochen werden.

Die durchaus berechtigten und richtigen Kritikpunkte der EVG an der GDL, wie z. B., keine klare Kante gegen die AfD und gegen Rassismus zu zeigen und der von Unionsparteien, FDP und Grünen forcierten Zerschlagung der Bahn keinen Widerstand entgegenzubringen, werden letztlich hohl und verlieren ihre Wirkung, wenn sie nur als Vorwand dienen, der GDL jede Solidarität, jede Unterstützung zu versagen, wenn sie richtig, also im Interesse der Gewerkschaftsmitglieder handelt.

Die EVG-Spitze belässt es dabei keineswegs nur bei reiner Passivität. Sie geht vielmehr offen gegen eigene Gliederungen wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt vor, die sich offen mit dem GDL-Streik solidarisierte. Statt diese Solidarität zu verallgemeinern, drohen den Vorstandsmitgliedern der Betriebsgruppen jetzt Rügen und Funktionsverbote. In Wirklichkeit müssten solche gegen die Spitze der EVG wegen ihres unsolidarischen und gewerkschaftsschädigenden Verhaltens verhängt werden.

Bei der Bahn ist Solidarität eine unerlässliche Grundvoraussetzung für den laufenden Streik und zukünftige Kämpfe. Ein GDL-Erzwingungsstreik braucht die Solidarität aller Beschäftigen, aller Gewerkschafter:innen. In der EVG und unter den Bahnbeschäftigten braucht es Versammlungen von Abteilungen und Betriebsgruppen, um nicht nur die Solidarität mit der GDL zu erklären, sondern auch die Forderung zu erheben, selbst den Kampf um eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich für den gesamten Konzern aufzunehmen, so also den Kampf und die Streikfront direkt auszuweiten – und letztlich auch gemeinsame, gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees zu bilden.




Sieg dem GDL-Streik!

Martin Suchanek, Infomail 1243, 24. Januar 2024

Nichts oder jedenfalls fast nichts geht mehr. Der GDL-Streik steht und mit ihm der Bahnverkehr in ganz Deutschland. Sechs Tag wird der Ausstand dauern, der seit dem 22. Januar den Güterverkehr von DB Cargo und seit dem 23. Januar Personennah- und -fernverkehr lahmlegen wird.

Die Streikfront steht. Und zwar nicht, weil sich Claus Weselsky ein „Denkmal“ als besonders harter Gewerkschafter und Erzfeind des Bahnvorstandes setzen will. Wir wollen dabei keineswegs in Abrede stellen, dass er zum Abschied seiner Vorsitzendenlaufbahn noch einmal zeigen will, wo der Hammer hängt, persönliche Motive mit dem Kampf verbindet. Doch was wäre schon so schlimm daran, wenn auch alle anderen Gewerkschaftsvorsitzenden ihre Karriere mit einem harten Streik statt wachsweichem Verhandlungsgedöns ausklingen ließen.

Dass die GDL-Mitglieder Weselsky und ihrer Gewerkschaft folgen, hat schließlich vor allem leicht nachvollziehbare rationale Gründe – und diese kennen alle, die bei der Bahn arbeiten: Personalmangel, schlechte Arbeitsbedingungen, Schichtdienste, Überstunden. Hinzu kommt die Inflation angesichts von Gehältern, die auch bei der Bahn nicht üppig ausfallen, wenn man nicht gerade im Vorstand sitzt. Und schließlich müssen die Beschäftigten alle Mängel des wegen jahrzehntelanger Einsparungen ausgedünnten, ausgezehrten Systems Bahn auch noch ausbaden – sei es durch Überstunden und Stress, sei es, indem sie den berechtigten Unmut der Kund:innen stellvertretend für jene entgegennehmen müssen, die für die Misere der Bahn verantwortlich sind.

Am Scheideweg?

Die Verschärfung des Arbeitskampfes stellt zweifellos die richtige Antwort auf die Hinhaltetaktik des Bahnvorstandes dar. Die „großzügigen Verhandlungsangebote“ der Deutschen Bahn sollen vor allem in der Öffentlichkeit Entgegenkommen signalisieren. Von einer 35-Stunde-Woche und Verhandlungen für weitere Beschäftigtengruppen will sie partout nichts wissen – und ihre Ignoranz wird sie im Zweifel wahrscheinlich versuchen, vor Gerichten mit Verweis auf das Gesetz zur Tarifeinheit durchzusetzen.

Um selbst nicht als „stur“ dazustehen, hat die GDL ihrerseits noch am 22. Januar einen Kompromissvorschlag vorgelegt, den die Bahn jedoch als „Maximalforderung“ abgetan hat. Dabei geht es der GDL-Führung allem Verbalradikalismus Weselskys zum Trotz durchaus um einen Kompromiss, der sich an den Abschlüssen bei Netinera Deutschland (u. a. ODEG und vlexx; Töchter der italienischen Staatsbahn Trenitalia), metronom und Go-Ahead orientiert.

Ab 2028 kommen dort die 35-Stunden-Woche, bis dahin schrittweise Anpassung der Arbeitszeit, eine Inflationsausgleichsprämie über 3.000 Euro in zwei Schritten, eine Entgelterhöhung 2024 in zwei Schritten um brutto 420 Euro, Zuschläge +5 %. Die Entgeltlaufzeit beträgt 24 Monate, die Laufzeit der Arbeitszeit geht bis Ende 2027. Erkauft wird das Ganze wohl damit, dass das Wahlmodell mit zusätzlichem Urlaub wegfällt – die kürzere Arbeitszeit bringt unterm Strich zwar mehr Freizeit, aber eben bestimmt durch Dienstpläne und nicht nach den selbst ausgewählten Urlaubszeiträumen, wobei über diese letztlich auch die Disponent:innen und Personaleinsatzplaner:innen entscheiden.

Das zeigt, dass die GDL durchaus kompromissbereit wäre, und der Wegfall des Wahlmodells für zusätzlichen Urlaub wird sich für viele Kolleg:innen noch als echter Rückschlag entpuppen. Bei der Bahn wird der Kampf freilich heiß, weil die GDL auch in ihrem Wirkungsbereich durch das Tarifeinheitsgesetz eingeschränkt blieben soll. Während sie bei den Privatbahnen längst als „verlässliche“ und auf Geheimverhandlungen setzende Sozialpartnerin anerkannt ist, ist die EVG bei der Bahn Sozialpartnerin Nr. 1. Die GDL muss sich dort kämpferischer und militanter geben, als ihre Führung es letztlich sein will.

Doch genau deshalb birgt der Kampf Konfliktpotential, das ihn weiter treiben kann, als es beiden Seiten – Bahnvorstand und GDL-Führung – lieb ist. Nachdem beide Seiten der anderen Unversöhnlichkeit vorwerfen, lässt sich schwer vermitteln, wenn sie doch über die „Provokation“ der anderen Seite verhandeln. Ein Abschluss, den beide als „Sieg“ verkaufen können, rückt damit in die Ferne, auch wenn natürlich beide für solche „Wendungen“ jederzeit gut sind, beispielsweise durch eine „neutrale Vermittlung“, die „alles“ zum Gesprächsgegenstand erklärt.

Daher stellt sich für die GDL-Mitglieder und Streikenden, aber in Wirklichkeit für alle Beschäftigten bei der Bahn (und letztlich auch weit darüber hinaus), die Frage, wie es nach dem Streik weitergehen soll.

Die Taktik der GDL auf, wenn auch mehrtätige, so doch befristete Streiks zu setzen, wird früher oder später an eine Grenze stoßen. Ob der Bahnvorstand das ausreizen will, ist zwar ungewiss, aber nicht unmöglich. Hinzu kommt, dass sich die Führung der EVG bei der Bahn einmal mehr gegenüber den streikenden GDLer:innen extrem unsolidarisch verhält, diese bei den Kolleg:innen anschwärzt, und EVGler:innen, die sich mit dem GDL-Streik offen solidarisieren, wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt, madig macht.

Der EVG-Vorstand wiederholt die Politik der GDL-Führung, die auch jede Solidarisierung ablehnte mit den EVG-Warnstreiks ablehnte und diese trotz Streikverbots als „Schmierentheater“ denunzierte. Hinsichtlich der Spaltung der Belegschaft kann sich der DB-Vorstand jedenfalls auf „seine“ Gewerkschaftsführer:innen verlassen.

Volle Kampfkraft für die Forderungen!

Für die Streikenden der GDL stellt sich als die Frage, wie sichergestellt wird, dass die volle Kampfkraft für sämtliche Forderungen – 35 Stunden Woche, 555 Euro monatlich, 3.000 Euro Einmalzahlung bei einer Laufzeit von 12 Monaten – eingesetzt werden kann. Das erfordert einen unbefristeten Streik. Und es erfordert die Kontrolle der Streikenden über den Arbeitskampf und etwaige Verhandlungen – also regelmäßige Vollversammlungen, Wahl, Abwählbarkeit und Rechenschaftspflicht der Streikleitungen und vor allem auch der Verhandlungskommission. Schließlich müssen die Beschäftigen entscheiden, ob sie ihre Forderungen erstreiken wollen oder sich zu einem Kompromiss wie bei den Privatbahnen gezwungen sehen. In jeden Fall darf das nicht von der Verhandlungskommission oder Weselsky im Alleingang entschieden werden.

Für die Beschäftigen der Bahn und vor allem für die EVG-Mitglieder muss die Parole lauten: Solidarität mit dem GDL-Streik! EVG-Mitglieder können und sollen sich auch beteiligen, sie dürfen sich in keinem Fall als Streikbrecher:innen missbrauchen lassen. Kämpferische und solidarische Gewerkschafter:innen sollten in ihren Betriebsgruppen ähnliche Beschlüsse fassen wie die EVG-Betriebsgruppe DB Systel Frankfurt und den EVG-Vorstand mit der Forderung bombardieren, sich mit der GDL zu solidarisieren. Das gilt natürlich auch für sämtliche anderen DGB-Gewerkschaften.

Bei der Bahn ist das aber besonders wichtig, weil ein GDL-Erzwingungsstreik auch die Solidarität aller Beschäftigen, aller Gewerkschafter:innen brauchen wird. In der EVG und unter den Bahnbeschäftigten braucht es Versammlungen von Abteilungen und Betriebsgruppen, um nicht nur die Solidarität mit der GDL zu erklären, sondern auch die Forderung zu erheben, selbst den Kampf um eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich für den gesamten Konzerne aufzunehmen, so also den Kampf und die Streikfront direkt auszuweiten – und letztlich auch gemeinsame, gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees zu bilden.

Tarifauseinandersetzung zu gesellschaftlichem Kampf machen!

Eine solche Solidarisierung ist auch aus einem anderen Grund unerlässlich. Gegen den 6-tägigen Streik machen mittlerweile fast alle bürgerlichen Medien, die Vertreter:innen der Ampel wie die bürgerlichen und rechten Oppositionsparteien Stimmung. Täglich „erfahren“ wir, dass der Streik nicht nur „die Wirtschaft“ maßlos schädige, sondern auch die Mehrheit der Bevölkerung finde, dass das alles jetzt „zu weit ginge“.

Verkehrsminister Wissing macht sich für eine Schlichtung stark, so dass endlich verhandelt werden könne. Die Tagesschau fordert in einem Kommentar, „der Gesetzgeber sollte dem Treiben langsam Grenzen setzen, damit Millionen Bahnkunden nicht länger die Leidtragenden sind.“ Die CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Gitta Connemann, macht die GDL nicht nur als eindeutig Schuldige aus, sondern fordert auch gleich eine Einschränkung des Streikrechts durch verpflichtende Schlichtung bei kritischer Infrastruktur.

Diese Forderungen und Drohungen sind nur der Vorgeschmack darauf, was kommt, wenn die GDL einen unbefristeten Streik ausrufen würde. Diesem Druck können die GDL-Mitglieder und Streikenden letztlich nur standhalten, wenn sich die Bahnbeschäftigten, aber auch alle anderen Gewerkschaften mit ihnen solidarisieren und Solidaritätskomitees aufbauen, die gegen die Stimmungsmache der Herrschenden Gegenöffentlichkeit schaffen, die Pendler:innen, Kund:innen, letztlich die gesamte Bevölkerung durch Kundgebungen, Demonstrationen, Flugblätter, Arbeit in sozialen Medien aufklären.

Das würde aber erfordern, dass der Arbeitskampf nicht nur als reiner Tarifkampf betrieben wird, sondern als gesellschaftliche Auseinandersetzung, die auch jeder Privatisierung und weiteren kapitalistischen „Bahnreform“ den Kampf ansagt, für massive Investitionen in den Betrieb und in Personal sowie kostenlosen öffentlichen Nahverkehr eintritt, finanziert aus der Besteuerung der Reichen und Gewinne der privaten Großkonzerne!




Österreich: LINKS-Kampagne „Mach ma 30“ – Arbeitszeitverkürzung muss erkämpft werden!

Michael Märzen, Neue International3 258, September 2021

Die neue Wiener Partei LINKS ruft zur Arbeitszeitverkürzung auf. In einer zentralen Kampagne soll für die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche mobilisiert und über eine Petition an den Gemeinderat die Arbeitszeitverkürzung zunächst von der Stadt Wien für die eigenen Beschäftigten verwirklicht werden. Wir als Gruppe Arbeiter*innenstandpunkt sind am Aufbau von LINKS beteiligt und unterstützen die Kampagne. Wir rufen daher an dieser Stelle dazu auf, die Petition zu unterzeichnen. Wir wollen aber auch über die Ausrichtung, Strategie und praktische Umsetzung der Kampagne diskutieren.

Die Petition findet sich unter https://www.wien.gv.at/petition/online/ mit dem dem Titel „Stufenweise Verkürzung der Normalarbeitszeit für Bedienstete der Stadt Wien auf 30-Stunden-Woche“.

Ungleiche Verteilung von Arbeit im Kapitalismus

Eine der grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten im Kapitalismus ist die ungleiche und ungerechte Verteilung von Arbeit. Und dabei sprechen wir noch nicht einmal von der ungerecht verteilten unbezahlten Reproduktionsarbeit in Form von Pflege, Sorgeleistung, Erziehung und Hausarbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird! In der „gewöhnlichen“ Lohnarbeit sehen wir, wie auf der einen Seite versucht wird, aus den beschäftigten Arbeitskräften das Möglichste herauszupressen, während ein großer Anteil der Gesellschaft keine Beschäftigung findet. Für die einzelnen Unternehmen ist es effektiver und somit billiger, möglichst wenige ArbeiterInnen anzustellen, diese aber so lange arbeiten zu lassen, wie es das Gesetz hergibt. Die Erhaltungskosten für die Beschäftigungslosen werden auf den Rest der Gesellschaft abgewälzt, das heißt vor allem wieder auf die ArbeiterInnen. Dem Kapital insgesamt dient die Masse an Arbeitslosen aber auch dazu, einen ökonomischen Druck auf die lohnarbeitende Klasse auszuüben. Wer befürchten muss, ersetzt zu werden, ist eher bereit, schlechtere Arbeitsbedingungen hinzunehmen.

Forderungen der Petition

Die LINKS-Petition spricht das Problem der Überarbeitung bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit an und fordert korrekterweise die Arbeitszeitverkürzung als wichtigen Bestandteil zur Lösung dieses Problems. Die Arbeitszeit der 65.000 Bediensteten der Stadt Wien würde schrittweise reduziert werden, womit 20.000 neue Stellen frei würden. Das betreffe zu 60 % Frauen, wovon 2/3 im Pflege-, Gesundheits- und elementarpädagogischen Bereich arbeiten. Die Petition beinhaltet allerdings auch eine allgemeinere Ausrichtung. Die Stadt würde sich mit ihrer Annahme nämlich auch hinter die Forderungen der Gewerkschaften stellen, eine Arbeitszeitverkürzung in den Kollektivverträgen durchzusetzen und als langfristiges Ziel die 30-Stunden-Woche im Arbeitsrecht zu fordern.

Worin besteht die Strategie?

Eine Petition erhält ihre Schlagkraft selbstverständlich dadurch, dass sie von vielen Menschen unterstützt wird. Somit wird es darauf ankommen, ob LINKS auch noch nach den Wien-Wahlen in der Lage ist zu mobilisieren. Bisher ist die Kampagne noch nicht wirklich angelaufen. Aber auch die stärksten Petitionen werden nicht einfach umgesetzt. Das hat zuletzt das Frauenvolksbegehren 2.0 bewiesen, welches von 481.959 Menschen unterzeichnet und von der Regierung de facto ignoriert wurde. In einer Frage, wo es einen eindeutigen Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit gibt, ist es ohne ordentlichen ökonomischen und politischen Druck fast schon ausgeschlossen, dass eine bürgerliche Regierung einer radikalen Arbeitszeitverkürzung zustimmt. Zu stark wiegen die Interessen der KapitalistInnen in der Gesellschaft. Das klassische Mittel, um Forderungen der Arbeitenden gegen das Kapital durchzusetzen, wäre hingegen ein Streik. In einer allgemeinen politischen Angelegenheit kann das nur in Form eines politischen Massenstreiks geschehen. LINKS ist allerdings weit davon entfernt, einen solchen Kampf organisieren zu können. Die einzige Kraft, die dazu heute, wenn überhaupt, in der Lage wäre, ist der Österreichische Gewerkschaftsbund. Dieser reformistische, bürokratische Apparat macht aber lieber strategische Kompromisse mit den Interessenverbänden der KapitalistInnen, als die Arbeitenden für einen ernsthaften Kampf zu mobilisieren, was im Falle einer 30-Stunden-Woche ja eine heftige Konfrontation zwischen den Klassen bedeuten würde. Der Kampf für eine Arbeitszeitverkürzung ist strategisch betrachtet also auch einer um die Gewerkschaften und die Herzen und Hirne ihrer Mitglieder. Auch hier kann LINKS maximal Ansätze schaffen. Die „Mach ma 30“-Losung taugt somit vor allem als Einleitung zu einer Profilierungs-, Propaganda- und Organisierungskampagne.

Worum es gehen muss

„Mach ma 30“ wäre also ein gutes Mittel, um die 30-Stunden-Woche in die öffentliche Auseinandersetzung zu bringen und mittel- bis langfristig Kräfte zu gewinnen, die organisations- und parteiübergreifend für die Forderung aktiv werben. Dazu braucht es kämpferische Aktionen, die öffentliches Aufsehen erregen, sowie Aktivitäten und Strukturen, in denen sich ArbeiterInnen, Arbeitslose und GewerkschafterInnen als Teil eines breiteren AktivistInnennetzwerks organisieren können. Wenn das ansatzweise gelingt, können wir es auch schaffen, die Unterstützung von einzelnen BetriebsrätInnen und Gewerkschaftsgruppen zu gewinnen und die großen reformistischen Apparate der sozialdemokratischen Partei und des Gewerkschaftsbundes mit unserer Forderung zu konfrontieren.




IG Metall: Angleichung Ost – Niederlage 3.0

Mattis Molde, Neue Internationale 256, Juni 2021

Im Westen war die Tarifrunde zu Ostern erledigt worden. Das Ergebnis ist äußerst kompliziert und schwer verständlich. Gute Voraussetzungen, um es schönzureden. In ihrer neuesten Darstellung des Ergebnisses behauptet die IG Metall zwar nicht mehr wie ursprünglich, „es gäbe 2,3 % mehr Geld“, aber die ganze Struktur des Abschlusses ist so, dass die Beschäftigten sich nicht ausrechnen können, was sie wann eigentlich kriegen, ob die verschiedenen Sonderzahlungen fließen oder sie stattdessen damit ihre eigene Kurzarbeit finanzieren, Auszahlungen verschoben werden oder aus wirtschaftlichen Gründen ganz entfallen. Böse Überraschungen sind programmiert, wenn IG MetallerInnen klar wird, dass dieses Ergebnis einen kompletter Ausverkauf darstellt.

Im Tarifgebiet Berlin-Brandenburg-Sachsen war die Tarifrunde weitergegangen. Dort herrscht seit Jahren ein starker Druck von der Basis, die Arbeitszeit von 38 Stunden endlich an die tariflichen 35 Stunden im Westen anzugleichen.

In vielen Betrieben gab es bis zu 4 eintägige Warnstreiks. Mehr als 126.000 KollegInnen streikten, das ist fast die Hälfte der ostdeutschen MetallerInnen. Dann wurde der Kampf abgeblasen. Ergebnis ist eine „Gesprächsverpflichtung“ der KapitalistInnen. Statt Tarifergebnis ein sozialpartnerschaftliches Kaffeekränzchen ohne Folgen. Aber wie in der ganzen Tarifrunde war seitens des Vorstandes ein Sieg nie gewollt.

Die Mindestvoraussetzung dafür wäre gewesen, die Arbeitszeitangleichung zum Kampfziel für alle Tarifgebiete zu machen, und zwar von Beginn der Runde an. Stattdessen war die Arbeitszeit Ost im Westen nirgendwo ein Thema – erst nach dem Abschluss West sollten Vertrauensleute Soli-Schreiben verfassen. Mindestvoraussetzung wäre auch gewesen, keinen Abschluss im Westen zu machen, solange das Ost-Thema nicht geregelt ist.

2018 versteckte sich die Bürokratie hinter der Formel, dass in Nordrhein-Westfalen nur abgeschlossen werden könne, was dieses Tarifgebiet auch beträfe. Tatsache ist aber, dass es keinen Pilotabschluss bei der IG Metall gibt, ohne dass Gesamtmetall und die IG Metallspitze vor Ort sind.

Kein Blumentopf

Wie weit die Erwartungen der Beschäftigten und die Welt der BürokratInnen inzwischen auseinanderliegen, konnte man auf der zentralen Kundgebung in Berlin  am 26.4. erleben. Auf der Oberbaumbrücke – einem früheren Grenzübergang zwischen Ost- und Westberlin fielen viele warme Worte über Gleichheit und Gerechtigkeit. Der Regierende Bürgermeister war dabei sowie eine ganze Schar von wichtigen Leuten. Weiter vorne standen die KollegInnen von Mahle-Wustermark, die mit einem Autokorso zur Kundgebung gekommen waren. Sie hörten den warmen Worten nicht zu.

Mit warmen Worten war schon 2003 und 2018 kein Blumentopf zu gewinnen. 2003 war das klar. Die Forderung nach Angleichung stieß auf heftigste Ablehnung. Alle bürgerlichen Medien beschuldigten die IG Metall, das zarte Pflänzchen „Aufschwung Ost“ zu zertrampeln, nachdem Kapital und Regierung im Jahrzehnt zuvor die industrielle Struktur der ehemaligen DDR nach allen Regeln der Kunst, des Schachers und des Plünderns zerlegt hatten. Der Streik wurde erbittert geführt. StreikbrecherInnen wurden mit Hubschraubern eingeflogen, Streikposten aus dem Westen zur Unterstützung vor die Werke im Osten gebracht.

Als es zu ersten Produktionsausfällen in der Autoindustrie im Westen kam, stand die IG Metall vor einer Entscheidung: Eine „kalte Aussperrung“  – eine Aussperrung durch die Unternehmen aufgrund von streikbedingtem Materialmangel – stand an, bei der aber die Beschäftigten im Westen Kurzarbeitergeld erhalten hätten. Das hätte die IGM zur Mobilisierung und Ausweitung des Kampfes in der ganzen Republik nutzen können.

Sabotage aus den eigenen Reihen

Stattdessen setzten sich die GesamtbetriebsratsfürstInnen der Autokonzerne durch. Im Interesse der Absatzzahlen „ihrer“ Großbetriebe machten sie Druck auf ein Ende des Arbeitskampfes. Erich Klemm von Daimler sprach von „tarifpolitischen Geisterfahrern“ und meinte die kämpfenden KollegInnen. Klaus Franz von Opel rief öffentlich zum Streikabbruch auf. Der Streik wurde abgebrochen, satzungswidrig ohne Urabstimmung.

2018 kam die Forderung nach der Arbeitszeitverkürzung nur durch massiven Druck aus Berlin-Brandenburg-Sachsen überhaupt auf die Tagesordnung. Die KollegInnen aus den Betrieben nutzten alle Konferenzen und Veranstaltungen der Gewerkschaft für ihr Anliegen. Wider Willen mußte der Vorsitzende Hofmann die Forderung übernehmen. Die Rache der Apparate: In den Präsentationen und Reden des Vorstandes und der Bezirksleitungen im Westen tauchte das Thema höchstens ganz am Rande auf, meistens gar nicht.

Das Thema wurde vertagt, bis der Westen abgeschlossen hatte. Anstelle einer tariflichen Regelung wurde im Osten eine Gesprächsvereinbarung für Großbetriebe getroffen. Die Zusagen wurden im Nachgang auf Druck von Gesamtmetall zerrissen.

Was ist jetzt vereinbart worden?

Bis Ende Juni 2021 soll ein Rahmen ausgehandelt werden, der „betriebliche Schritte zur Angleichung“ ermöglicht.

Statt des Flächentarifs können jetzt Haustarife oder betriebliche Regelungen kommen – hätten sie aber auch schon immer können. Die Umsetzung auf betrieblicher Ebene ist weit schwieriger und die Erpressbarkeit von Betriebsratsgremien ist entsprechend größer.

Für einige Metallbetriebe (VW, ZF, SAS) gibt es eine Stufenregelung zur Angleichung. Bei VW z. B. wird die Angleichung ab 2022 in 3 Schritten eingeführt, so dass ab 2027 – also 38 Jahre nach der sogenannten „Wende“ – in den sächsischen Werken nur noch 35 Stunden in der Woche gearbeitet wird. Wie zu hören ist, bezahlen allerdings die KollegInnen einen Teil der Kosten aus der eigenen Tasche.

Die Beendigung des Flächentarifkampfes ist also ein Signal an die Kapitalseite: „Macht eure Verzögerungstaktik weiter wie bisher, wir sind bereit, dies wegen des Erhalts der Wettbewerbsfähigkeit der kleineren Betriebe und des Standortes Deutschland zu akzeptieren“. Die vom IGM-Vorsitzenden Jörg Hofmann als Durchbruch gefeierte „Verhandlungsverpflichtung“ ist eine dreiste Lüge angesichts der dritten Niederlage der IGM im Osten, der dritten selbstverschuldeten bzw. selbst gewollten.

Eine klassenkämpferische Basisbewegung ist nötig

Es könnte eine endgültige Niederlage sein. Nicht weil die Belegschaften Arbeitszeitverkürzung nicht weiter fordern würden. Aber erstens bröckelt die Front durch die Einzelabschlüsse in den starken Betrieben. Das tarifpolitische Unwesen, mit allen möglichen Verrechnungen im Osten wie im Westen Arbeitszeitverkürzung selbst zu bezahlen und flexibilisieren, entzieht die Arbeitszeit immer mehr einer gemeinsamen tariflichen Grundlage. Dazu kommt, dass auch im Westen in vielen Betrieben keine 35 Stunden mehr gelten, sondern betrieblich längere Arbeitszeiten. Die „35 in Ost und West“ ist unter den IG Metall-Chefs Huber und Hofmann zur Fata Morgana geworden.

Diese Niederlagenserie einmal in dieser Tarifrunde und zum Zweiten in drei Schritten in der Frage der Arbeitszeit Ost macht noch mal zwingend deutlich, dass es eine grundlegend andere Orientierung in der Gewerkschaft braucht, um ihren Niedergang aufzuhalten und umzudrehen. Die Niederlagen setzen sich fort in allen Betrieben, die gerade geschlossen werden, und wo die Bürokratie in keinem Fall eine Wende herbeiführen konnte und nirgendwo ernsthafte Versuche dahingehend unternimmt. Niederlagen, die die Kraft der Gewerkschaft nachhaltig beschädigen: allein in Baden-Württemberg 60.000 Austritte! Eine Führungsspitze, die den Sieg nicht will und den Kampf sabotiert, ist untragbar.




Österreich: 100.000 demonstrieren gegen Arbeitszeitverlängerung

Michael Märzen, Neue Internationale 230, Juli/August 2018

Der 30. Juni 2018 war ein bedeutsamer Kampftag und eine Machtdemonstration für die österreichische ArbeiterInnenbewegung. Über 100.000 Menschen gingen in Wien auf die Demonstration des Österreichischen Gewerkschaftsbunds (ÖGB) gegen den 12-Stundentag. Im Vorfeld der Demonstration fanden in allen Bundesländern Betriebsrätekonferenzen und Betriebsversammlungen statt, davon alleine bei den Privatangestellten über 700. In den Betrieben wurde mobilisiert und aus den Bundesländern wurden Busse nach Wien organisiert. Der ArbeiterInnenstandpunkt hatte sich zusammen mit der Jugendorganisation REVOLUTION mit einem gemeinsamen Block an der Demonstration beteiligt.

Angriffe der Regierung

Die Regierung von ÖVP und FPÖ plant die Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit auf 12 Stunden bzw. 60 Stunden pro Woche. Die gesetzliche Normalarbeitszeit von 40 Wochenstunden soll dabei nicht formell abgeschafft, sondern nur flexibler gestaltet, also de facto außer Kraft gesetzt werden. Schon heute ist sie für viele arbeitende Menschen aufgrund zahlreicher (auch unbezahlter) Überstunden und entsprechender Betriebsvereinbarungen längst nicht mehr Realität. Die Reform der Regierung wird diese Tatsache verschlimmern, insbesondere indem sie sogar formell die gesetzlich zulässige Anzahl an Überstunden ausweiten soll und die Betriebsräte entmachtet. Trotzdem beteuert die Regierung die Freiwilligkeit zur Mehrarbeit, was angesichts der Machtverhältnisse im Betrieb ein Hohn ist.

Der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbunds Wolfgang Katzian erklärte auf der Abschlusskundgebung, dass man „mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen“ Widerstand leisten werde. Einen Aufruf für Streikaktionen vom ÖGB bzw. von den Teilgewerkschaften gab es aber nicht. Auf der Demonstration war die Forderung nach Streiks hingegen weit und breit zu sehen. Tatsächlich wäre eine koordinierte, allgemeine Arbeitsniederlegung, ein Generalstreik, die einzige realistische Möglichkeit, um den Angriff der Regierung abzuwenden. Zugleich wäre das auch eine Möglichkeit, um in die Offensive zu gehen, um für eine Arbeitszeitverkürzung zu kämpfen und die Regierung der Reichen und KapitalistInnen zu Fall zu bringen. Letzteres hat sogar der Chef der Postgewerkschaft in den Raum gestellt, worauf der ÖGB-Chef Katzian seine Achtung vor der demokratisch gewählten Regierung betonte. Dass die Gewerkschaft auf Streiks setzen wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Das Gesetz soll schon kommende Woche beschlossen werden und danach ist das Parlament in Sommerpause. Das ist zwar kein Hindernis, aber wäre es der Gewerkschaftsführung ernst gewesen, hätte sie schon früher gegen die Arbeitszeitflexibilisierung mobilgemacht und spätestens jetzt Streiks vorbereitet. Stattdessen forderte Katzian nun eine Volksabstimmung. Die Gewerkschaftsführungen scheinen dagegen lieber auf Kämpfe um die Arbeitszeiten im Rahmen der Kollektivverträge zu setzen. Tatsächlich ist beides ein Verrat an der Bewegung, denn die ArbeiterInnenklasse ist jetzt in der Offensive. Eine Volksabstimmung, der Gesetzesbeschluss und die längeren Zeiten bis zu den nächsten Verhandlungen werden demobilisierend und resignierend wirken. Zusätzlich bedeutet ein Kampf im Rahmen von KV-Verhandlungen, ihn nicht allgemein als gesamte Klasse zu führen, sondern zersplittert und ungleichzeitig in den verschiedenen Branchen. Und schlussendlich würde man die Vorstöße der KapitalistInnen bei jeder Verhandlungsrunde aufs Neue abwehren müssen. Die Orientierung auf Kollektivvertragsverhandlungen ist also ein Rückzug auf einen geschwächten Posten und damit schon eine mehr als halbe Kapitulation. Das ist nicht verwunderlich, immerhin denkt die sozialdemokratische Gewerkschaftsführung nach wie vor in den Kategorien der SozialpartnerInnenschaft mit dem Ziel, Verhandlungen statt Klassenkämpfe zu führen. Dadurch möchte sich die Gewerkschaftsbürokratie eine Konfrontation mit der Regierung ersparen, um der Sozialdemokratie auf dem Rücken der ArbeiterInnen (am besten mit einem Kompromiss) die nächste Regierungsbeteiligung zu ermöglichen.

Die Frage nach einer Streikbewegung gegen den 12-Stundentag ist also tief verbunden mit der Perspektive des politischen Kampfes gegen die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie durch eine gewerkschaftliche Basisbewegung. In den nächsten Tagen und Wochen wird es also auf den Druck von unten auf die Gewerkschaftsspitzen ankommen. Dafür sind derzeit schon weiterhin geplante Betriebsversammlungen ein guter Anknüpfungspunkt, z. B. bei der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB), aber auch in zahlreichen anderen Betrieben der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft vida sowie auch in etlichen Betrieben der Produktionsgewerkschaft PRO-GE (Metall, Textil, Nahrung, Chemie). Auf diesen Betriebsversammlungen muss man die Perspektiven eines Arbeitskampfes diskutieren, die Wahl von Streikkomitees durchführen und eine Koordination für einen Generalstreik in Gang setzen, der den 12-Stundentag zu Fall bringen kann. Das würde der gesamten ArbeiterInnenbewegung in Österreich eine gewaltige Stärkung verleihen und den ArbeiterInnen aller Länder ein Beispiel liefern, wie sich die weltweiten neoliberalen Angriffe verhindern lassen!




Gut gekämpft! Guter Abschluss?

Frederik Haber, Infomail 986, 9. Februar 2018

Eine halbe Million Kolleginnen und Kollegen in ganztägigen, bezahlten Warnstreiks, mehrere hunderttausende schon vorher in mehreren Warnstreikwellen aktiv – an Kampfeswillen fehlte es nicht. Dann wurde erneut lange an einem Ergebnis gefeilt. Es ist ein Ergebnis, das nicht ganz einfach zu bewerten und somit für KollegInnen kaum noch zu durchschauen ist. Gleichzeitig macht der Abschluss auch Türen auf für eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten.

Entgelt

Man kann Tariferhöhungen unterschiedlich bewerten. Auf lange Sicht ist die Erhöhung der Tabellenwerte entscheidend, für den Lebensunterhalt das Volumen im laufenden Jahr das wichtige.

Die Tabellenerhöhung von 4,3 % klingt gut, ist aber die einzige Erhöhung der Entgeltgruppen während der gesamten Laufzeit von 27 Monaten. Das wäre also eine jährliche Erhöhung von weniger als 2 %. Dazu kommt aber das völlig neue Tarifliche Zusatzgeld (T-ZUG) ab dem Jahr 2019, das einmal jährlich im Juli ausbezahlt werden soll. Es setzt sich aus 400 Euro Festbetrag und 27,5 % eines Monatseinkommens zusammen. Die 400 Euro sollen zukünftig auch bei Tariferhöhungen steigen. Diese 400 Euro sind die erste Sockel-Erhöhung in der Metall- und Elektro-Industrie. Bisher wurde eine solche Forderung immer heftig bekämpft, wenn sie aus den Vertrauenskörpern kam. Andererseits haben 400 Euro im Jahr natürlich nur einen sehr bescheidenen Anteil am Jahreseinkommen. Die Schere, die zwischen niedrigen und hohen Einkommen immer größer wird, wird damit nicht wirklich geschlossen.

Die 400 Euro im Jahr entsprechen bei 13,2 Monatseinkommen rund 30 Euro im Monat. Das ist für die untersten Entgeltgruppen etwas mehr als ein Prozent, für die höheren fällt das auf ungefähr ein halbes.

Die 27,5 % selbst entsprechen einer Tariferhöhung von etwa 2 %, wenn man 13,2 Monatsgehälter zugrunde legt, die Tarifbeschäftigte nach 3 Jahren erhalten. Zusammen ergibt sich also eine Erhöhung der Tarifentgelte von 4,3% + 2% + 0,9% (geschätzter Mittelwert), also gut 7%  über 27 Monate.

Wieviel mehr im Geldbeutel?

Die Tariferhöhung von 4,3 % kommt ja erst am 1.4. Zuvor gibt es 2 Nullmonate und 100 Euro für den März 2018. Trotzdem errechnet die IG Metall in Baden-Württemberg, dass die Beschäftigten – je nach Entgeltgruppe – rund 4 % in diesem Jahr mehr im Geldbeutel hätten. Das stimmt dann, wenn man das Volumen 2018 mit dem Volumen 2017 vergleicht. Auch im letzten Jahr wurde die Tariferhöhung ja erst zum 1. April wirksam.

Wenn man aber das Volumen ab dem Zeitpunkt der Laufzeit – also ab 1. Jan. 2018 – rechnet, dann erhöhen 4,3 % in neun Monaten das Jahreseinkommen nur um knapp 3 %, zu denen dann noch 100 Euro Einmalbetrag kämen.

Die gleiche Betrachtung findet dann 2019 noch mal statt: Das T-ZUG erhöht das Volumen 2019 um gut 3 % im Vergleich zum realen Volumen 2018, im Vergleich zum dann existierenden Niveau sind es nur gut 2 %.

Nicht vergessen werden sollte, dass das T-ZUG bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten verschoben, gekürzt oder gestrichen werden kann. Die Formulierung „ … wenn dies dem Erhalt…der Wettbewerbsfähigkeit dienlich ist“ lässt wohl alles zu. Ebenso kann es Ausnahmen bei der sozialen Komponente geben „in Betrieben mit einem hohen Anteil unterer Entgeltgruppen“.

Generell scheint dieses T-ZUG gerade dazu vorherbestimmt zu sein, bei Standortsicherungen etc. als erstes geopfert zu werden. Seine eigentliche Bestimmung ist aber eine andere: Über diese Hilfskrücke können die Unternehmen einen ganz kleinen Beitrag zur individuellen Arbeitszeitverkürzung leisten ohne das zuzugeben.

Arbeitszeit

Durchgesetzt hat sich die IG Metall zwar mit dem Recht auf individuelle „verkürzte Vollzeit“, mit der die Arbeitszeit befristet auf bis zu 28 Stunden abgesenkt werden kann Umsonst hat sie dieses individuelle Recht aber nicht von den UnternehmerInnen bekommen. Dagegen sind aufzurechnen die Beschränkung auf Gewährung nur bis zu einer angezeigten Überlastquote von 10 %, Veto für die Unternehmen bei „Schlüsselqualifikationen“ der Beschäftigten und ähnliche Beschränkungen. Letztlich sind die UnternehmerInnen nicht generell gegen eine solche Regelung. Sie wollen sie halt nur dann gewähren, wenn sie es für nötig oder sinnvoll halten.

Der teilweise finanzielle Ausgleich für Beschäftigte, die Kinder betreuen, Pflegearbeit leisten oder hohe Belastungen durch Schicht haben, findet aber auf völlig anderem Weg statt als gefordert. Das war eines der Zugeständnisse der IG Metall Führung, um die individuelle Arbeitszeitreduzierung den UnternehmerInnen schmackhaft zu machen. Gegen eine Ausgleichszahlung sind sie ja bekanntlich Sturm gelaufen. Die Vier vor dem Komma schmerze, sagte Südwestmetall-Chef Stefan Wolf im Anschluss an die Verhandlungen. Immerhin habe man aber mit der langen Laufzeit von 27 Monaten für Planungssicherheit gesorgt. „Ich glaube das neue Tarifsystem ist vernünftig ausbalanciert.“ (zit. nach neues-deutschland.de vom 6.2.18)

Getrennt von dieser „verkürzten Vollzeit“ können diese Personengruppen ihr T-ZUG in 6 freie Tage umwandeln, auf die die Firma dann noch 2 weitere drauflegt. 14 Stunden im Jahr sind also das, was Unternehmen zukünftig in wenigen Einzelfällen gewillt sind, als Ausgleichszahlung für den Lohnverlust darzubringen.

Dazu stellt sich die Frage, wer die „verkürzte Vollzeit“ überhaupt in Anspruch nehmen wird, da die Regelungen, wer davon Gebrauch machen darf, restriktiv und kompliziert sind. Aber wie das T-ZUG gelten alle Arbeitszeitregelungen auch erst ab 2019.

Flexibilisierung

Der Preis, den die IG Metall gezahlt hat, sind vielfältige Möglichkeiten zur Flexibilisierung nach oben. Oder anders ausgedrückt: Die individuelle Arbeitszeitverkürzung können sie nicht nur ausgleichen, sondern durch Vereinbarungen mit den Betriebsräten die 40-Stunden-Stellen etc. auch erheblich ausweiten. So kann ins Arbeitszeitvolumen der Mehrstundenverträge, die in Baden-Württemberg 18 % der Belegschaft haben dürfen, das Minus an Teilzeitbeschäftigtenstunden im Vergleich zur tariflichen Vollzeit hinzugerechnet werden. Jede Teilzeitstelle, die durch die „verkürzte Vollzeit“ dazu kommt, ermöglicht dann weitere Mehrstundenverträge.

Das hat auch die IG Metall erkannt und ein Verhandlungspäckchen eingebaut, um diese weitere Flexibilisierungsmöglichkeit den Betriebsräten schmackhaft zu machen: Bisher haben Betriebsräte keine Eingriffsmöglichkeit, wenn Betriebe einfach mehr als 18 % der Beschäftigten längere Verträge geben. Jetzt können sie ein Ablehnungsrecht bekommen, aber dann steigt die Quote auf 22 %. Insgesamt gibt es sehr viele Varianten, aber sie laufen alle auf mehr Flexibilisierung und mehr Verträge jenseits der 35 hinaus.

Bewertung

Eine genaue Betrachtung des Ergebnisses, lässt wenig von der Begeisterung übrig, die die Verlautbarungen der IG Metall, aber auch viele BetriebsrätInnen und Vertrauensleute verbreiten. Die Erhöhung der Tariftabellen um rund 4,5 bis 5 % in 27 Monaten ist nicht der große Erfolg. Das gleicht kaum die Preissteigerungen aus, deren Rate zuletzt auf 1,8 % geklettert ist. Der Produktionsfortschritt geht weiter überwiegend in die Kassen des Kapitals. Die Kosten der 2 Tage für einige Wenige fallen ökonomisch überhaupt nicht ins Gewicht.

Die 28 Stunden verkürzte Vollzeit sind durchaus etwas, was vielen nützt, den zunehmenden Arbeitsstress oder private Belastungen zu bestehen – so es für sie finanziell verkraftbar ist. Wie weit diese Möglichkeit wie auch die 8 Tage für Belastete tatsächlich genutzt werden, bleibt abzuwarten. Das Gleiche gilt umgekehrt auch für die Flexi-möglichkeiten, die sich für die Unternehmen öffnen.

Nimmt man noch dazu, was eigentlich tarifpolitisch nötig wäre, sieht der Abschluss noch schlechter aus: Die Ausweitung der Arbeitszeiten, die in den letzten Jahren schon stattgefunden hat; der zunehmende Arbeitsdruck; bevorstehende Angriffe auf Arbeitsplätze und Standorte, wie es Bombardier und Siemens ankündigen; massive Arbeitsplatzverluste durch Digitalisierung und Industrie 4.0; die Ausdifferenzierung der Belegschaften in überausgebeutete LeiharbeiterInnen und Ausgegliederte und anderseits tarifliche Stammbelegschaften – all das wurde schon im Vorfeld bei der Debatte um die Aufstellung der Forderungen ausgeblendet. In der betrieblichen Wirklichkeit bestimmt dies viel mehr das Arbeiten und das gewerkschaftliche Handeln als eine individuell verkürzte Vollzeit. Bei einer Gesamtbewertung des Abschlusses muss dies die Perspektive sein. Als Mittel gegen die schon bestehenden und drohenden weiteren Arbeitsplatzverluste hätte die Forderung nach einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung erhoben werden müssen. Die Arbeitsproduktivität ist in den letzten Jahren gestiegen, so dass mit weniger KollegInnen in der gleichen Zeit mehr produziert werden kann. Von daher wäre es möglich und auch nötig gewesen, eine kollektive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich zu fordern. Natürlich hätte man das mit der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Abmilderung von Arbeitsdruck vor allem bei Schichtarbeit verbinden müssen. Kollektive Arbeitszeitverkürzung ist aber das einzige Mittel, um dem drohenden Arbeitsplatzabbau auf gewerkschaftlicher Ebene etwas entgegenzusetzen.

Dass dies bei Aufstellung der Forderungen nicht diskutiert werden konnte, zeigt auch, wie wenig die KollegInnen in den Betrieben über die endgültige Aufstellung der Forderungen in einer Tarifrunde entscheiden können. Und das Ergebnis zeigt auch, dass trotz des Kampfwillens, den die KollegInnen in der Warnstreikrunde gezeigt haben, die IG Metall-Führung nicht geneigt ist, die ganze Kampfkraft der KollegInnen in die Waagschale durch unbefristete Streiks zu werfen. Ihr ist ein Ergebnis, das die UnternehmerInnen nicht zu viel kostet, wichtiger, als die KollegInnen vor Arbeitsdruck, Arbeitsplatzverlust und prekärer Beschäftigung zu schützen. Dieses Ergebnis reiht sich ein in die Tarifpolitik der letzten Jahre: Die Kampfkraft der KollegInnen wird nicht ausgeschöpft, damit „Deutschland“ weiter Exportweltmeister bleibt. Auch die lange Laufzeit von 27 Monaten gibt den UnternehmerInnen Planungssicherheit wie ein Vertreter des Unternehmerverbandes ganz unverhohlen lobt. Sie ist auch ein Antrittsgeschenk für Deutschlands „neue“ Bundesregierung von Seiten der (un)heimlichen MitkoalitionärInnen im IG Metall-Apparat an ihre ParteifreundInnen von der Juniorkoalitionspartnerin SPD.

Auch der Kampf um die 35-Stundenwoche im Osten – eine Angleichung, die schon vor etlichen Jahren am Widerstand der westdeutschen Betriebsratsfürsten in der Automobilindustrie scheiterte – wird mit diesem Abschluss und der darauf folgenden Friedenspflicht untergraben. Von der IG Metall ist dazu nur zu hören, dass sie Vereinbarungen aushandeln wolle. Wie sollen hier Vereinbarungen auf reinem Verhandlungsweg erzielt werden, wenn die UnternehmerInnen schon jetzt sagen, alles solle im Osten so bleiben, weil die Produktivität dort nach wie vor geringer ist als im Westen.

Eine Angleichung der Arbeitszeit von 38 auf 35 Stunden wie im Westen wird von den Arbeit„geber“Innen weiterhin abgelehnt. Die IG Metall will sie zumindest dazu bringen, mit ihr zu verhandeln. Das müsse die Gewerkschaft „in unseren regionalen Übernahme-Verhandlungen für Berlin und Brandenburg sowie für Sachsen erreichen“, sagte Bezirksleiter Olivier Höbel am Dienstag. Doch die Arbeit„geber“Innen rühren bereits Beton an: „Der Osten braucht diesen Wettbewerbsvorteil weiterhin. Die längere Arbeitszeit muss bleiben“, stärkte Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger den Hardlinern in Sachsen den Rücken. (zit. nach neues-deutschland.de vom 7.2.18)

Die KollegInnen brauchen die Kontrolle über ihren Kampf von Anfang an – von Aufstellung der Forderungen, über die Durchführung, wo, wann und wie lange gestreikt wird, bis zum Abschluss der Verhandlungen. Es darf kein Übereinkommen geben, ohne dass die KollegInnen in den Betrieben über die genauen Bedingungen des Tarifvertrags auf Betriebsversammlungen und mit Aushängen eingehend informiert wurden und in einer Urabstimmung darüber entschieden haben.