Resolution des Palästina-Kongress 2024: Wir klagen an!

Resolution des Palästina Kongress 2024, Berlin, den 14. April 2024, Infomail 1251, 17. April 2024

Vorwort: Der Palästina-Kongress wurde am 12. April von der Berliner Polizei aufgelöst. Dennoch konnten am 14. April die geplanten Beiträge als Live-Stream übertragen und die Resolution-Resolution vorgestellt werden, die vorab mit unterstützenden Organisationen abgesprochen worden war. Wir veröffentlichen das Dokument, das ursprünglich auf https://palaestinakongress.de/ publiziert wurde, und rufen zur Unterzeichnung der Resolution auf. You can sign the resolution here!

Wir klagen an.

Die Palästinenser:innen erleiden einen Völkermord.

Israel vernichtet Gaza und seine Bevölkerung. Mehr als 40‘000 Palästinenser:innen wurden bis Ende März durch das israelische Militär getötet. In Gaza starben seit Oktober 2023 mehr Kinder als in allen weltweiten Konflikten von 2019 bis 2022. Fast alle Bewohner:innen Gazas wurden aus ihren Wohnorten vertrieben. Mehr als eine Million Menschen leiden an schwerem Hunger. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser und Medizin ist unterbrochen. Infrastruktur, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, Verwaltungsgebäude und Wohnblocks wurden zerbombt.

Die Ermordung Zehntausender und die Vertreibung Hunderttausender konstituieren einen Genozid. Die israelische Kriegsführung zielt auf die Zerstörung der palästinensischen Nation und darauf, deren mit der Nakba 1948 begonnene Vertreibung aus Palästina zu vollenden und zur Flucht nach Ägypten oder in andere Länder zu zwingen.

Die Bundesregierung leistet Beihilfe zum Völkermord.

Deutschland ist der zweitwichtigste Waffenlieferant für den Genozid. Seit Oktober 2023 verzehnfachte der Bundessicherheitsrat bestehend aus Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt, Annalena Baerbock, Boris Pistorius, Christian Lindner, Nancy Faeser, Marco Buschmann, Robert Habeck und Svenja Schulze, sowie seinen Beisitzern Carsten Breuer, Dörte Dinger, Steffen Hebestreit und Günter Sautter die Waffenlieferungen an Israel.

Deutschland leugnet den Genozid. Nach der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes, der Anzeichen für genozidale Bestrebungen seitens des israelischen Staates sah, war es Vizekanzler Robert Habeck, der erklärte, dass der Vorwurf des Völkermordes „jeglicher Grundlage entbehre“. Die Mehrheit der privaten und öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender, als auch deutscher Zeitungen beteiligt sich an einer Desinformationskampagne.

Deutschland unterstützt die genozidale Hungerpolitik der israelischen Regierung. Während sich bereits im Januar 2024 die Hungersnot in Gaza ausbreitete, erklärte die Ministerin für Zusammenarbeit Svenja Schulze, die humanitäre Unterstützung Deutschlands an die Palästinenser:innen und die UNRWA einzustellen. Die westliche „Notversorgung“ durch eine Luftbrücke und auf dem Seeweg fungieren letztlich als humanitäre Flankendeckung für den Krieg.

Die Versammlungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Freiheit von Presse und Wissenschaft werden eingeschränkt, um Proteste für einen Waffenstillstand zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht durch Verordnungen der Innenminister. Es geschieht auch mit der Unterstützung regionaler und lokaler Politiker:innen, sowie der bereitwilligen Ausführung deutscher Polizist:innen und Verwaltungsbeamt:innen. Dass viele dieser Verordnungen „legal“ sind, zeigt, wie groß der repressive und antidemokratische Spielraum in Deutschland bereits seit Jahrzehnten ist. Heute werden Gesetze in Bundes- und Landesparlamenten debattiert, die fundamentale demokratische Rechte für jede und jeden dauerhaft und tiefgreifend einschränken werden.

Nie Wieder für alle.

Der Genozid in Gaza stellt daher ähnlich wie der Vietnam Krieg eine Zäsur in Deutschland dar. Die Regierung unterstützt schamlos und vor der Weltöffentlichkeit einen Völkermord. Der Lärm der Bombardements in Palästina wird nur durch das Verharmlosen, ja das vielfach dröhnende Schweigen zu den Kriegsverbrechen übertroffen. Deutsche Politiker:innen bemühen eine zynische Neuinterpretation der Geschichte und rechtfertigen im Namen des „Nie Wieder“ ihre Unterstützung eines Genozids.

Wer mit der Tötung von israelischen Zivilist:innen am 07. Oktober die Zerstörung und Ermordung der gesamten palästinensischen Zivilisation in Gaza rechtfertigt, begräbt auch jeden Anspruch auf Menschlichkeit und Demokratie. Die deutsche Regierung versucht diesen Genozid mit dem Recht auf „Selbstverteidigung“ zu rechtfertigen. Gleichzeitig spricht sie allerdings den Palästinenser:innen, die seit 76 Jahren Entrechtung und Vertreibung erleben, jedwedes Recht ab. Diese werden vielmehr rassistisch diffamiert, Protest wird unter den Generalverdacht des „importierten Antisemitismus“ gestellt. Hinter dieser Hetze und Diffamierung steht ähnlich wie zu Zeiten des Vietnam-Kriegs kalte geo-strategische Berechnung, insbesondere des deutschen und US-amerikanischen Imperialismus. In solchen Berechnungen gelten nicht alle Menschenleben gleichviel. Wir stellen uns gegen diese Entmenschlichung und die hinter ihnen stehenden Interessen.

Widerstand ist gerechtfertigt.

Wir, die Teilnehmer:innen des Palästina Kongresses erklären unseren Widerstand gegen diese aggressive und verbrecherische Politik. Wir verpflichten uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Vollendung des palästinensischen Genozids und damit eines weiteren Genozids unter deutscher Beihilfe zu verhindern.

Wir erklären, die Namen der Verantwortlichen deutschen Entscheidungsträger:innen nie zu vergessen. Ihre Schuld ist nicht reinzuwaschen. Heute klagen wir sie moralisch an. Doch wir werden nie ruhen, bis sie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Wir wissen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Waffenlieferungen an Israel und die Kriegstreiberei der Regierung ablehnt. Trotz Lügen, Diffamierung und Hetze wird mehr und mehr Menschen bewusst, dass die Politik der deutschen Regierung zum Völkermord und zur Vertreibung von Millionen Menschen führt. Wir wenden uns an diese Menschen, unsere Kolleg:innen, Nachbar:innen, Mitschüler:innen: Erheben wir uns gemeinsam, damit der Genozid gestoppt wird, damit die Menschen Gazas, die Menschen Palästinas leben können. Durchbrecht gemeinsam mit uns das Schweigen und erhebt diese Forderungen. Schließt euch unserer Bewegung gegen Genozid und Krieg an.

Vereinen wir unsere Kräfte mit den Palästinenerser:innen, die für ihre Freiheit kämpfen und mit der internationalen Bewegung gegen den Genozid. Schließen wir uns Millionen von Menschen an, die weltweit auf die Straße gehen, um ihre Regierungen unter Druck zu setzen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Protesten von Arbeiter:innen in Katalonien, Italien, Belgien und Indien, die sich geweigert haben, an Flughäfen und Häfen Kriegsgeräte zu beladen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Aktivist:innen, die in England Blockaden und Besetzungsaktionen gegen die britische und israelische Rüstungsindustrie organisiert haben.

Unser Kampf für die Lebenden, für die Befreiung und Selbstbestimmung Palästinas!

  • Sofortiger Waffenstillstand, sofortiger Rückzug der israelischen Armee · Vollständige Aufarbeitung aller begangener Kriegsverbrechen.

  • Sofortige Aufhebung jeglicher Beschränkungen humanitärer Hilfe nach Gaza und die volle Ausfinanzierung der UNRWA.

  • Sofortige Öffnung aller Grenzübergänge von Rafah bis Allenby. Reißt die Apartheidsmauern ein.

  • Vollständige Reparationen Israels, Deutschlands und weiterer Verbündeter an das palästinensische Volk.

  • Sofortige Einstellung jeglicher militärischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Unterstützung Israels durch den deutschen Staat sowie ein umfassendes Militärembargo.

  • Sofortiger Rückzug der Bundeswehr, der US-Armee und aller NATO-Truppen aus dem Roten Meer und dem Nahen Osten! Nein zu Aufrüstung und Sondervermögen der Bundeswehr für den Krieg!

  • Nein zu der Verwendung der zionistischen IHRA-Definition durch jegliche Institutionen oder staatliche Behörden, nein zur Legitimierung des Genozids im Schulunterricht. Stoppt die Exmatrikulation von Studierenden und Entlassungen von Lohnabhängigen, die sich mit Palästina solidarisieren!

  • Schluss mit der Kriminalisierung und Repressionen der Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland. Sofortiger Stopp jeder Kriminalisierung palästinensischer Organisationen und Individuen sowie aller Abschiebungen. Öffnung der Grenzen und Aufnahme aller Geflüchteten bei vollem Recht auf Wohnen, Bildung und Arbeit.

  • Durchsetzung des Rückkehrrechts der palästinensischen Geflüchteten sowie Ende des seit über 76 Jahren andauernden zionistischen Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung des gesamten besetzten Palästinas.

Wir rufen dazu auf, diese Forderungen in Vereinen, Parteigliederungen, Gewerkschaften, Betriebsversammlungen, Studierenden- und Schüler:innenvertretungen, in Kollektiven und Clubs einzubringen, zu diskutieren und zu unterstützen.

Denn die Verantwortung liegt bei uns. Zur Verwirklichung dieser Ziele rufen wir zu einer breiten Kampagne von Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen den israelischen Staat in Deutschland auf. Wir fordern die Offenlegung aller Geschäftsbeziehungen und Verträge deutscher Unternehmen mit Israel!

Wir rufen Gewerkschaften, Beschäftigte und die Bevölkerung dazu auf, Waffenlieferungen aus Deutschland zu stoppen. Wir fordern die Gewerkschaften auf, dem Aufruf ihrer palästinensischen Schwesterorganisationen zu folgen und eine international koordinierte Kampagne gegen das Morden zu organisieren. Jegliche Rechtfertigung und Unterstützung des Genozids in jedweder Form sind durch Streiks, Blockaden, Besetzungen oder zivilen Ungehorsam zu stoppen.

Beteiligt euch an der bundesweiten Aktionswoche vom 15.-22. April anlässlich des Tages der palästinensischen Gefangenen. Heute hält der israelische Staat weit über 10’000 palästinensische Menschen, darunter viele Minderjährige, im Verstoß gegen internationales Recht und Kriegsrecht als Geiseln.

Mobilisiert und organisiert gemeinsam mit uns zentrale Großdemonstrationen am 15. und 18. Mai in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und weiteren Städten. Wir rufen euch auf, die europaweite Nakba-Demonstration am 19. Mai in Brüssel zu unterstützen. Lasst uns anlässlich des 76. Jahrestages der Nakba, der Vertreibung des palästinensischen Volkes aus ihren Heimstätten und Dörfern, bundesweit und international koordiniert ein Zeichen gegen Genozid, Vertreibung und Spaltung setzen.

Denn wir, palästinensische und jüdische, deutsche und internationale Stimmen wissen: Frieden kann es nur auf Basis von Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, nur wenn die Unterdrückung der Palästinenser:innen voll und ganz beendet ist. Wir kämpfen für ein Ende des zionistischen Siedlerkolonialismus und seiner Apartheidpolitik vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer, einschließlich des Rückkehrrechts aller palästinensischen Geflüchteten.




Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Polen vor der Wahl

Markus Lehner, Infomail 1233, 6. Oktober 2023

Die Parlamentswahlen am 15. Oktober in Polen werden allgemein als Schicksalswahl bezeichnet. Nicht dass es wie 1989 um grundlegende Fragen der Eigentumsverhältnisse ginge, aber ein dritter Wahlerfolg der rechtsnationalistischen PiS (Partei für Recht und Gerechtigkeit) würde die schon bestehenden autoritären Tendenzen verschärfen, wenn nicht für längere Zeit unumkehrbar machen.

Bilanz der PiS

Die PiS-Regierungen schafften es in den letzten Jahren, wesentliche Merkmale liberaler Demokratie zu unterhöhlen. Bekannt sind vor allem die Justizreform (direkter politischer Einfluss auf die Ernennung von Richter:innen) und die Kontrolle über die öffentlichen Medien. Beides entscheidend, um die nationalkonservative „Wende“ durchzusetzen, die sich z. B. in einer de facto Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, von Rechten von LGBTIAQ-Menschen, von nationalen Minderheiten und Geflüchteten etc. ausdrückt. Sie beinhaltet auch eine weitere Stärkung der gesellschaftlichen Rolle der besonders konservativen katholischen Kirche in Polen. Bezeichnend ist die jüngste Episode um die Enthüllung eines Privatsenders über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die vom ehemaligen Papst Johannes Paul II. als Erzbischof von Krakau gedeckt worden waren. Diese Enthüllungen führten zu reaktionären Massendemonstrationen gegen diesen „Angriff auf das Andenken des Heiligen“ und darauffolgend zu einer Gesetzesinitiative der PiS-Regierung, die solche Angriffe auf den Geheiligten unter Strafe stellt (wie auch schon früher Veröffentlichungen über polnische Beteiligungen an der Verfolgung der Jüd:innen im Zweiten Weltkrieg gesetzlich mit schweren Strafen verbunden wurden).

Diese eindeutig reaktionäre Charakteristik der PiS hat allerdings sozialpolitisch eine Kehrseite: Die oppositionelle PO (Bürgerplattform) unter dem damaligen Ministerpräsidenten (2007 – 2014) Donald Tusk zeichnete sich durch besonders neoliberale Angriffe auf soziale Bedingungen von Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen aus, z. B. Erhöhung des Renteneintrittsalters, Verschlechterung von Gewerkschaftsrechten, Streichung von Sozialleistungen, radikale Privatisierungen. Dies führte nicht nur zu einer weiteren Verschlechterung der sozialen Lage vieler Rentner:innen und der Verschlechterung des Zugangs zum Gesundheitssystem, sondern auch zu wachsenden sozialen Protesten gegen die PO-Regierung.

Die Situation der polnischen Arbeiter:innenklasse war seit der Wende 1989 durch das Problem der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung geprägt (heute gibt es drei mittelgroße Gewerkschaftsverbände bei einem niedrigen Organisationsgrad von 12 %). Die großen Illusionen in „Solidarnosc“ als gewerkschaftliche und politische Kraft (mit über 10 Millionen Mitgliedern bei ihrer Gründung und rund 2 Millionen im Jahr 1989) zerbrachen schnell in der Periode der Schocktherapie. Während sie in den frühen 2000er Jahren als politische Gruppierung in der Bedeutungslosigkeit versank, ist sie als NSZZ Solidarnosc (Unabhängige selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität) heute eher eine typisch „christliche Gewerkschaft“ und mit 600.000 Mitgliedern auf das Niveau der ehemaligen Staatsgewerkschaft OPZZ (Bundesweiter Gewerkschaftsbund) gesunken, die der Linken nahesteht und zumeist in Arbeitskämpfen radikaler auftritt. Der dritte Verband FZZ (Gewerkschaftsforum) versteht sich als „neutrale“ Gewerkschaft zwischen den beiden Blöcken. Gegen die Tusk-Regierung waren sich allerdings alle Gewerkschaften erstmals einig und mobilisierten auch erfolgreich, was zum Sturz der neoliberalen PO-Regierung 2015 beigetragen hat. Allerdings ist es seitdem mit ihrer Einheit auch wieder vorbei, nachdem Solidarnosc offensiv die PiS unterstützt. Dies ist auch verbunden damit, dass die PiS einige Forderungen der Gewerkschaft aufgegriffen hat, insbesondere was das Zurückdrehen der Rentenreform betrifft, aber auch den Ausbau bestimmter Sozialleistungen, z. B. Das 500+-Kindergeld, das im gegenwärtigen Wahlkampf auf 900+ auszudehnen versprochen wird (ein Zloty entspricht zurzeit 0,22 Euro).

Polens Wirtschaft bis zur Pandemie

Diese Politik der „sozialen Wohltaten“ für „echte Pol:innen“ war möglich geworden durch die zeitweise günstige wirtschaftliche Entwicklung seit etwa 2005. Selbst während der „Großen Rezession“ gab es in Polen positive Wachstumszahlen, anders als in den meisten anderen europäischen Ländern. Diese Entwicklung basierte auf erhöhten Ausbeutungsraten der polnischen Arbeiter:innenklasse (längere Arbeitszeiten, niedriges Lohnniveau, geringe betriebliche Rechte etc.), einem trotzdem gewichtigen Binnenmarkt, günstigen Energiekosten (Kohle und Öl auch aus Russland!) und einem Anschluss an die Lieferketten insbesondere der deutschen Industrie. Das kräftige Wirtschaftswachstum über mehr als ein Jahrzehnt schien Polen auf ein Niveau mit den großen westeuropäischen Ökonomien zu führen.

Die sozialen Zugeständnisse der PiS-Regierung seit 2015 und die weiterhin günstige wirtschaftliche Entwicklung stärkten sowohl ein neues nationales Selbstbewusstsein im Kleinbürger:innentum, als auch Illusionen vieler Arbeiter:innen in die PiS als „kleineres Übel“ angesichts der Erfahrungen mit der PO und der sozialdemokratischen SLD (Bund der Demokratischen Linken). Die PO führte im Wesentlichen die „Reformen“ der SLD-Regierungen der 2000er Jahre fort. Dies erklärt auch den Erfolg der PiS bei den letzten Wahlen 2019. Damals gewann sie 6 Prozent hinzu und siegte mit 43,6 % klar vor dem Wahlbündnis der PO (27,4 %). Das Linksbündnis Lewica (Linke) konnte sich mit 12,6 % (+1,4 %) leicht verbessern und insgesamt stabilisieren. In diesem Bündnis trat neben der SLD auch erstmals die 2015 gegründete „Razem“ („Gemeinsam“) an. Insgesamt errang die PiS im Rahmen der Fraktion „Vereinigte Rechte“ eine Parlamentsmehrheit und war nicht auf Koalitionspartner:innen, z. B. die rechtsextreme „Konfederacja“ (Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit; 6,8 %), oder eine Allianz mit der Bäuer:innenpartei PSL (8,6 %) angewiesen.

Veränderung der ökonomischen Lage

Inzwischen hat sich die ökonomische Lage wie auch die außenpolitische Situation vollständig gewandelt. Polen wurde spätestens durch die Coronakrise schwer getroffen wie auch von der folgenden Lieferkettenkrise und den weltweiten Inflationstendenzen. Es weist die höchste Inflationsrate in Europa (derzeit bei 12 %) auf, ist weit von einem Wiedererreichen des Vorcoronaniveaus entfernt (das letzte Quartal zeigt sogar einen Einbruch von – 8,5 %). Insgesamt leidet die Ökonomie sowohl unter steigenden Energiekosten seit dem Beginn des Ukrainekriegs als auch unter allgemeinen Transformationsproblemen. Dazu zählen z. B. die Auflagen zum Ausstieg aus der Kohleförderung wie auch der Umbau der Automobilindustrie (einige deutsche Automobilfirmen haben in diesem Jahr Personal in polnischen Werken abgebaut).

Kein Wunder, dass die PiS-Regierung nicht nur zur Justizreform, sondern auch zum EU-Transformationsprogramm mit Brüssel, dem Green Deal, auf Konfrontationskurs steht. Inzwischen haben sich die Strafzahlungen an die EU auf über eine halbe Milliarde Euro angesammelt. Gravierender ist aber die Einbehaltung von 35 Milliarden aus dem Coronawiederaufbaufonds der EU. Polen ist nicht im Euro und muss daher seine Währung durch besonders hohe Zinsen abfangen, auch um ein weiteres Steigen der Inflation zu vermeiden. Dies und das Zurückhalten der billigen EU-Kredite aus dem Fonds führt zu stark verschlechterten Finanzierungsbedingungen, was sich insbesondere im Baubereich und bei der Verschuldung im privaten Sektor stark bemerkbar macht. „Innovative“ Regierungsgeschenke wie „Kreditferien“ (Aussetzen von Ratenzahlungen) tragen ihrerseits nicht zur Bonität des polnischen Finanzsystems bei. Die Regierung steht wirtschaftlich derartig unter Druck, dass sie seit einiger Zeit einen Kompromiss mit der EU in Bezug auf die Justizreform anstrebt, um die Freigabe des Coronafonds zu erreichen. Sie scheitert damit aber an ihren Verbündeten in der rechten Fraktion, insbesondere dem Justizminister. Ergebnis ist weitere nationalistische Propaganda in Bezug auf „deutschen Kolonialismus“, der aus Brüssel betrieben würde. Insbesondere der Führer der oppositionellen PO, der nach seiner Zeit als EU-Ratspräsident (2014 – 2019) nach Polen zurückgekehrte Donald Tusk, wird inzwischen systematisch als „deutsche Marionette“ auch und insbesondere in den Staatsmedien verunglimpft.

Konfrontation PiS-PO

Höhepunkt der Kampagne war sicherlich die Verabschiedung des allgemein als „Lex Tusk“ bezeichneten sogenannten „Antiagentengesetzes“. Dieses sollte vordergründig Menschen, die Agententätigkeit für Russland betrieben hatten, aus Staatsämtern und insbesondere auch Kandidaturen für solche ausschließen. Dabei wurde jedoch in den ersten Entwürfen des Gesetzes „Agententätigkeit“ so weit gefasst, dass auch „nachgiebige Politik“ gegenüber Russland als solche bezeichnet werden konnte – und zufälligerweise wurden vor allem Beispiele von Vereinbarungen mit Russland aus der Regierungszeit von Tusk bzw. seiner Zeit im EU-Rat zitiert. Es war mehr als offensichtlich, dass man ihn – als möglichen Hauptgegner bei den jetzigen Parlamentswahlen – aus dem Rennen nehmen wollte. Für ihn und die PO war dies andererseits eine gelungene Vorlage, um die wachsende Zahl der Menschen, die von den autoritär-reaktionären Wendungen der PiS abgestoßen sind, hinter sich zu versammeln und mehrere Massenkundgebungen zu organisieren. Alleine im Juni waren etwa eine halbe Million Menschen auf der Protestversammlung; die letzte fand jetzt am 1. Oktober statt. Nach Intervention aus Brüssel und auch der US-Regierung musste das Gesetz wesentlich entschärft werden.

Die PiS konterte diese Oppositionsmobilisierungen mit den schon erwähnten Demonstrationen zur Verteidigung von Johannes Paul II. und dem Schüren von Hass gegen Migrant:innen. Dazu kam man auf die „geniale“ Idee, die Wahl am 15. Oktober mit einer Volksabstimmung zu verbinden, bei der man beantworten kann, ob man dafür ist, dass tausende „Illegale“ wie von der EU gefordert in Polen aufgenommen werden müssten. Mit dieser Scheinfrage kann man in den Staatsmedien auf Steuerkosten billige Wahlkampfsendezeit verbraten. Peinlich nur, dass vor Kurzem ein Korruptionsskandal in Bezug auf den Verkauf von EU-Migrationsdokumenten aufflog, an dem führende PiS-Funktionär:innen maßgeblich beteiligt waren. Tatsächlich ist dies auch nur einer von vielen Skandalen, in die die PiS-Partei inzwischen verwickelt ist – so dass auch von dieser Seite her viele in Polen inzwischen die Nase von dieser Partei voll haben.

Trotzdem verfängt sowohl ihre nationalistische wie soziale Demagogie weiterhin – und anhaltend gibt es berechtigte Ablehnung des Wirtschafts- und Sozialprogramms der PO von Donald Tusk. Daher steht die Wahl nach den jüngsten Umfragen weiterhin Spitz auf Knopf. Die PiS wird wohl einige Prozentpunkte verlieren. Umfragen prognostizieren 38 %, womit sie nicht mehr weit entfernt von einer gestärkten PO wäre, deren Wahlbündnis etwa 32 % erwarten kann.

Andere Parteien

Lewica dürfte angesichts der Polarisierung etwas verlieren, aber mit um die 10 % weiterhin sicher im Parlament vertreten sein. Bedenklich sind auch die prognostizierten 10 % der inzwischen immer rechtsextremer auftretenden Konfederacja, die als einzige der aussichtsreichen Parteien für einen Austritt aus der EU wirbt (und damit selbst für die PiS schwer als Koalitionspartnerin infrage kommt). Wahlentscheidend dürfte das Abschneiden des Zentrumsblocks aus PSL und der Polska 2050 (eine Partei des „dritten Lagers“, meist aus ehemaligen PO-Mitgliedern). Sollte er die 8 %-Hürde, die in Polen für Wahlbündnisse besteht, überwinden, hätte die PiS wahrscheinlich verloren. Sollte es das Bündnis jedoch nicht schaffen, könnte die PiS wohl wie bisher weitermachen.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass in den letzten Wochen vor allem um die Basis der PSL, die Bäuer:innenschaft gekämpft wird.  Deren Bedeutung lässt sich an der Tatsache ablesen, dass in Polen noch 12 % der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt sind. Insbesondere die Proteste gegen Billiggetreide aus der Ukraine führten offenbar bei der PiS zu Panik, da sie um ihre satte Unterstützung auf dem Land und vor allem im Osten von Polen fürchtete. Prompt begann die polnische Regierung, das EU-Getreideabkommen mit der Ukraine zu torpedieren und sogleich, überhaupt (nicht nur polnische) Waffenlieferungen, wenn auch nur als Verhandlungsfaustpfand, infrage zu stellen. Nichts davon hat wirklich Substanz, zeigt aber, wie leicht in Polen mit den historischen antiukrainischen Ressentiments Politik gemacht werden kann – und wie fragil selbst die „unumstößliche“ Unterstützung Polens für die bedrängte Ukraine ist.

Drohende Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse

Die polnischen Arbeiter:innen wie auch die Millionen ausgebeuteten Ukrainer:innen, die nicht erst seit dem Krieg in Polen als Billigarbeitskräfte eingesetzt werden, haben jedenfalls angesichts der ökonomischen und politischen Lage weder von einer PiS noch einer PO-geführten Regierung irgendetwas anderes als massive Angriffe zu erwarten. Sicherlich würde eine Fortsetzung der PiS-Regierung eine weitere Verstärkung autoritär-reaktionärer Repression bedeuten, der so oder so massive gesellschaftliche Mobilisierung entgegengesetzt werden muss. Beide politischen Lager wären aber angesichts der Verschuldung und der ökonomischen Einbrüche auch zu weiteren Verschlechterungen bei Arbeitsbedingungen und sozialen Leistungen bereit. Wie weit die PiS-Regierung hier gehen kann, hat sie schon beim jüngsten Lehrer:innenstreik gezeigt.

Insofern erscheint das reformistische Wahlbündnis Lewica als einzige Alternative und insbesondere Razem als einzig sichtbare linke Kraft in den größeren Mobilisierungen. Schon im Februar hatten sich 5 größere Gruppierungen für ein erneutes gemeinsames Antreten als „Nowa Lewica“ (Neue Linke) zusammengefunden: die SLD, Wiosna („Frühling“), die PPS (Polnische Sozialistische Partei), Unia Pracy (Arbeitsunion) und Razem. Razem ist international durch eine stärker jugendliche Basis und Verbindungen in Deutschland etwa zur IL oder zur Linkspartei bekannt. International war sie lange Zeit im Rahmen der „Progressiven Internationale“ von Varoufakis und Sanders aktiv. Aus letzterer trat sie allerdings nach Beginn des Ukrainekrieges wegen der mangelhaften Solidarisierung mit der vom russischen Imperialismus überfallenen Ukraine aus. Razem hatte (stärker noch als die anderen genannten Organisationen) eine wichtige Rolle in den gesellschaftlichen Mobilisierungen gegen die reaktionäre PiS-Politik gespielt, insbesondere in den radikaleren Protesten der Frauenbewegung (v. a. zum Abtreibungsrecht), den Kämpfen um LGBTIAQ-Rechte, aber auch bei Protesten rund um die wachsenden Sektoren prekärer Beschäftigung (was man auch in Deutschland jüngst bei denen der LKW-Fahrer in ihrem Kampf gegen Lohnraub wahrnehmen konnte).

Lewica

Lewicas Wahlprogramm fokussiert sicherlich auf richtige Themen: Gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf eine 35-Stundenwoche, gleitende Inflationsanpassung von Renten und Sozialleistungen, Anpassung der Gehälter der öffentlich Beschäftigten, Abschaffung der Bestimmungen, die prekäre Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen, sowie der reaktionären Beschränkungen von Abtreibungen, Rückgängigmachung der Justizreform, Abschaffung der Sonderrechte der katholischen Kirche und vieles mehr. Razem stellt zwar einige der Spitzenkandidat:innen wie Adrian Zandberg und Magdalena Biejat, ist aber ansonsten vor allem weiterhin als „Bewegungspartei“ in den verschiedenen Protesten aktiv. Wahlkampf wird nur als „Lewica“ betrieben.

So richtig viele dieser Forderungen sind, so undeutlich werden die verschiedenen Strömungen darin, wie diese umgesetzt werden können angesichts der Machtverhältnisse nicht nur in Parlament und den politischen Strukturen. Nicht nur der polnische Kapitalismus wird zunehmend aggressiver, auch verschiedene Rechtsorganisationen unterhalten immer militantere Milizen, die nicht nur gegen Minderheiten und Migrant:innen verstärkt mit Gewalt vorgehen. Auch Streiks werden mit bewaffneten Streikbruchorganisationen bekämpft (wie auch jüngst auf deutschen Autobahnraststätten gegen LKW-Fahrer zu sehen war). Angesichts der Schwäche der polnischen Gewerkschaftsbewegung (nur die OPZZ unterstützt offen die Lewica-Forderungen) braucht es eine entschlossene und breite Mobilisierung der Arbeiter:innen, Jugendlichen und der armen Landbevölkerung, um jede einzelne dieser Forderungen auch konsequent durchzukämpfen und die Bewegung gegen die Widerstände der Rechten und des Kapitals zu schützen.

Richtigerweise werden die Verteidigung demokratischer Rechte und insbesondere des Abtreibungsrechtes und von LGBTIAQ-Rechten in den Vordergrund gestellt und andererseits die Wirtschaftspolitik der PO angeprangert. Zugleich wird offen eine Möglichkeit der Koalition mit diesen Neoliberalen angedeutet und völlig offengelassen, was dann mit den Forderungen geschehen soll.

In Bezug auf den Ukrainekrieg gibt es eine eindeutige Stellungnahme gegen die imperialistische Aggression Russlands. Angesichts der Millionen ukrainischer Arbeiter:innen im eigenen Land kann man sich auch die Ignoranz eines Teils der westeuropäischen Linken gegenüber den Opfern des russischen Imperialismus nicht leisten. Razem (und Lewica insgesamt) unterstützen jedoch nicht nur das Recht auf Selbstverteidigung der Ukrainer:innen.

Razem kritisiert zwar richtigerweise die NATO als imperialistisches Militärbündnis. Aber die Vorstellung, die NATO sei in diesem Konflikt „ein notwendiges Übel“, ist im besten Fall naiv zu nennen. Auch wenn diese derzeit nicht direkt interveniert, so stellt ihr Eingreifen in den Krieg keinen zu vernachlässigenden Neben-, sondern vielmehr einen bestimmenden Faktor im Krieg dar. Das Eingreifen der westlichen imperialistischen Mächte und ihrer Militärallianz sowie der Wirtschaftskrieg gegen Russland werden durch deren geostrategische und ökonomische Interessen motiviert, nicht durch die Sorge um „Demokratie“ und „Selbstbestimmung“. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sie daran arbeiten, die halbkoloniale Abhängigkeit der Ukraine zu festigen, diesmal also durch EU- und US-Imperialismus. Mit den ukrainischen Arbeiter:innen auch in Polen sollte vielmehr gemeinsam dafür gekämpft werden, dass die Ukraine die Mittel zu ihrer Verteidigung ohne westliche Diktate und Bedingungen erhält und die ukrainischen Lohnabhängigen darin unterstützt werden, eine eigene, vom reaktionären Zelenskyj-Regime und vom ukrainischen Nationalismus unabhängige Arbeiter:innenpartei aufzubauen.

Kritische Unterstützung für Lewica

Auch wenn wir also in Polen keine Partei sehen, die mit ausreichender Verankerung für ein revolutionäres Programm der Arbeiter:innenklasse zur Wahl antritt, so ist es sicherlich so, dass Lewica (und insbesondere Razem darin) tatsächlich diejenigen Teile der Arbeiter:innenklasse und der Jugend hinter sich vereinigen, die den kommenden Angriffen auf demokratische und soziale Rechte aktiv und teilweise auch militant entgegentreten wollen. Natürlich müssen wir angesichts der Erfahrungen insbesondere mit der SLD vor Illusionen in dieses reformistische Wahlbündnis warnen. Insbesondere geht es darum, jegliche Koalition mit den zwei bürgerlichen Hauptparteien aufs Schärfste zu bekämpfen (auch die Razem-Führung redet mehr oder weniger deutlich von möglichen Koalitionen). Andererseits werden eine Wahlenthaltung und ein weiterer Sieg der Rechten die Dynamik der Abwehrkämpfe in keinem Fall verbessern. Auch wenn Lewica bei den Wahlen nur 10 % erringen wird, so werden die kämpferischsten Teile der Arbeiter:innenbewegung, der linken Jugend und die politisch fortschrittlichsten Teile der Frauen- und LGBTIAQ-Aktivist:innen beim Urnengang dieser Partei ihre Stimme geben. Es ist auch klar, dass sich unter diesen Schichten auch jene Arbeiter:innen und Jugendliche befinden, die am ehesten für den Aufbau einer revolutionären Alternative zum Reformismus gewonnen werden können.

Eine kritische Wahlunterstützung für Lewica sollte dazu genutzt werden, Kräfte für weitere Mobilisierungen zu gewinnen und vor allem in den unterstützenden Gewerkschaften für die Vorbereitung betrieblicher und gewerkschaftlicher Abwehrkämpfe zu werben und diese zu verstärken. Bei einer entsprechenden Vertiefung und Radikalisierung solcher Kämpfe kann dies vorangetrieben werden bis zur Frage der Bildung einer auf Organe des Kampfes gegründeten Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung. Eine solche Perspektive muss zugleich damit verbunden werden, den Bruch mit den verräterischen Bürokratien innerhalb von Lewica und der OPZZ voranzutreiben – und gleichzeitig den Kampf für die Bildung einer neuen revolutionären Arbeiter:innenpartei in Polen zu führen.




Archiv: Das Siedlungs-, Bau- und Wohnungsprogramm der Kommunistischen Partei Deutschlands (1922)

Programm-Entwurf der KPD (1), Infomail 1158, 5. August 2021

1. Die Grundlage aller Kommunalpolitik ist die Ansiedlung von Menschen. Im kapitalistischen Zeitalter vollzieht sich die Siedlung planlos; im wesentlichen folgt sie den Zufallsbedürfnissen der Industrie; sie nimmt keine Rücksicht auf die natürlichen Siedlungsmöglichkeiten, auf industrielle Standortsökonomie, keine Rücksicht auf Sicherstellung der Ernährung, auf Tauschmöglichkeit, Hygiene, Verkehr, keine Rücksicht auf den proletarischen Menschen.

In der kommunistischen Wirtschaft wird die Industrie von ihrem Zufallsstandort gelöst, nach natürlichen Standorten umgepflanzt und gegliedert, und die Siedlung der Menschen zu der Industrie  in eine planmäßige Beziehung gebracht, die sowohl den Notwendigkeiten der industriellen und agrarischen Produktion wie den verkehrstechnischen, hygienischen und ästhetischen Erfordernissen gerecht wird. In der kommunistischen Wirtschaft entscheidet über jede Siedlungsfrage ausschließlich das Interesse der werktätigen Menschen.

Da die Frage des natürlichen industriellen Standorts nicht im Grenzrahmen der kapitalistischen Staatengebilde gelöst werden kann, wird sich die endgültige Planregelung der menschlichen Siedlung erst in der internationalen kommunistischen Weltwirtschaft vollziehen.

2. Innerhalb der planlos erstandenen kapitalistischen Siedlungsorte wird planlos gebaut. Erst in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege entstand eine Wissenschaft vom Städtebau, wurde der Städtebau durch Vorschriften der Bebauungspläne, der Baupolizei, der Veranstaltungsgesetze usw. in einigen Städten planmäßig geregelt, ansatzweise sogar in interlokalem Umfange, doch diente diese Regelung fast restlos den Interessen des behaglichen Wohnens der Bourgeoisie; selbst diese Ansätze zur Planmäßigkeit sind mit dem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems durch den Weltkrieg fast restlos zunichte gemacht.

Die kommunistische Gemeinde macht sich alle Erkenntnisse der Städtebauwissenschaft zu eigen, verwendet sie aber ausschließlich im Interesse des Proletariats, insbesondere in Abkehr vom Massenmietkasernenbau zur Gartenstadtsiedlung, in der Anlage von Spiel- und Erholungsplätzen für Arbeiter und Arbeiterkinder, und ordnet ihre Baupläne sorgsam den allgemeinen interlokalen Siedlungsplänen unter.

3. Innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft und der kapitalistischen Siedlung ist die Beschaffung des Baugrunds und die Erstellung von Wohnungen der privaten Willkür als Geschäft überlassen. Der Kapitalist betreibt den Hausbau und das Vermieten von Wohnungen wie eine Schnapsfabrik  und eine Destille, den Grundstückshandel wie einen Handel mit Aktien oder Altmetall. Bringt der Hausbau und das Vermieten von Wohnungen nicht den genügenden Profit, so wird das Geld in anderen Geschäften angelegt, der Bau von Häusern eingestellt, die obdachlose Familie dem Elend überlassen. Der Bodenwucher hat seine Grenzen.

In der kommunistischen Gemeinde ist der Wohnungsbau kein Geschäft, sondern eine  Aufgabe der Gemeinwirtschaft. Die Zahl der Häuser und Wohnungen ergibt sich lediglich aus dem Bedarf  der Menschen und den technischen Möglichkeiten. Bodenspekulation ist in der kommunistischen Gesellschaft nicht möglich.

4. Schon im kapitalistischen Staat der Vorkriegszeit lebte das Proletariat in bitterster Wohnungsnot. Nur kam es ihm nicht sonderlich zum Bewusstsein. Während die reichen Bourgeois in luxuriösen Villen mit Parks, Autogaragen und allem „Komfort“ ein Leben in Luxus führen konnten, während selbst das Kleinbürgertum in bescheidenen Räumen sein behagliches Spießbürgeridyll zu leben vermochte, hauste das Proletariat in seinen elenden Höhlen der Keller- und Dachgeschosse, der Hinterhäuser, der Massenmietkasernen, der Landarbeiterställe,  bis zu 15 Personen, Männer, Frauen, Kinder, Tuberkulöse, Schlafgänger, Prostituierte, Sterbende, Gebärende in einem Raume, auf einem Strohsack, oft ohne Luft, ohne Licht – fiel es jeder Seuche und dauernd der Tuberkulose zum Opfer.

5. Seit dem Weltkriege hat sich die Lage des Proletariats dahin verschlechtert,  dass Hunderttausende nicht einmal mehr diese Elendshöhlen haben. Die Militärgewalt verbot das Bauen, wenn es nicht militärischen Zwecken diente, die Zivilgewalt glaubte die Frontsoldaten damit beruhigen zu können, dass sie daheim die Mieten niedrig hielt: die Folge war, dass so gut wie keine neuen Wohnungen erstellt wurden. Weil auch die „Demokratie“ die Niedrighaltung der Mieten als Beruhigungsmittel nicht entbehren konnte, legte der Kapitalist auch nach der Revolution kein Geld im Miethausbau an. Versuche, mit Reichs-, Staats-, Gemeindegeld Wohnungen zu erstellen, blieben belanglos, weil der kapitalistische Staat seien Einnahmen zur Erfüllung  der Reparationsverpflichtungen und zur Niederhaltung der infolge der Erfüllungspolitik in Hunger und Verzweiflung geratenen Proletariermassen durch Militär, Schupo, Justiz und Polizei verbrauchte.

Die Wohnungsnot wuchs aber nicht nur durch den Ausfall von Neubauten bei gleichzeitiger starker Vermehrung der Familienzahl, sondern auch durch den baulichen  und hygienischen Verfall der vorhandenen Wohnungen. Der Hausbesitzer stellte die Reparaturen ein.

Das Ergebnis dieser Entwicklung sind die furchtbaren Erscheinungen in fast allen Städten und Dörfern: den Proletariern fallen die Wohnungen über dem Kopfe zusammen, die Tuberkulose fordert Woche um Woche größere Opfer, mehr und mehr gehen Obdachlose freiwillig ins Gefängnis, noch häufiger mit ihren Kindern in letzter Verzweiflung in die Fluten oder vor den geöffneten Gasschlauch. Vor den Wohnungsämtern aber stauen sich Tausende auf Tausende und heischen immer energischer, immer drohender Obdach.

6. In dieser gefährlichen Situation kam der kapitalistische Staat auf den Ausweg, den er schon bei der Bezahlung von Militär, Schupo, Polizei und Justiz gegangen war: die Kosten der Mörder und Mordmaschinen vom Opfer selbst tragen zu lassen. Die ruchlose Politik des 10prozentigen Lohnabzugs und der indirekten Massensteuern bei nahezu völliger tatsächlicher Steuerfreiheit der Besitzenden wurde wiederholt. In zwei großen Gesetzen wälzte der kapitalistische Staat die  gesamten Lasten der Wohnungserstellung auf die schwachen Schultern der Proletarier: durch das Reichsmietengesetz wurden die Kosten aller Wiedereinstandsetzung der zerfallenen Häuser sowie aller künftigen Reparaturen restlos den Mietern auferlegt; durch das Gesetz einer Abgabe zur Förderung des Wohnungsbaus (Mietsteuergesetz) aber auch die Kosten der Erbauung aller neuen Wohnhäuser.

7. Die Wohnungsnot lässt sich mit Reichsmietengesetz und Mietsteuergesetz jedoch nicht beseitigen. Der Mieter ist völlig außerstande, die ungeheure Milliardenlast der Wiederherstellung der alten und der Erbauung der neuen Wohnungen zu ertragen.

Die Notlage der Mieter ist umso schlimmer, als in Deutschland schon die Miete im Frieden für das Quadratmeter Wohnfläche umso höher war, je kleiner die Wohnung und der Wohnraum, je ärmer und kinderreicher der Mieter. Da sowohl das Reichsmietengesetz wie auch die Reichswohnungsbauabgabe den Mietern die Steuerlast in Anteilszuschlägen zur Friedensmiete auferlegt, bedeuten beide Gesetze eine besonders furchtbare Belastung gerade der kinderreichen Proletarierfamilien.

In allen Ländern und Gemeinden haben die Kommunisten gegen die Versuche, aufgrund dieser Gesetze den Mietern Lasten aufzubürden, den schärfsten Kampf zu führen, in dem sie von den in immer tiefere Not und Verzweiflung geratenden proletarischen Mietermassen von Monat zu Monat  kräftigere Unterstützung finden werden.

8. Wird durch diesen Kampf auch der Ausweg einer Abwälzung aller Lasten auf die Mieter ungangbar, so verbleibt im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt kein Weg mehr zum Bau von ausreichenden Wohnungen, zur Behebung der Wohnungsnot. Immer mehr wird diese Erkenntnis steigen; immer mehr auch die Erkenntnis, dass die Wohnungsnot erst in der sozialistisch-kommunistischen Gemeinschaft behoben werden kann. Die Wohnungsnot wird selber so eine der Haupttriebkräfte zum Sturz der kapitalistischen und der Herbeiführung der  sozialistisch-kommunistischen Wirtschaftsordnung.

9. Im kapitalistischen Staat kann aber wohl eine Milderung der Wohnungsnot erkämpft werden.  Doch auch dieser Kampf ist nicht in den Parlamenten auszufechten, sondern erfordert die Anteilnahme der gesamten proletarischen und halbproletarischen Mietermassen, die sich gegen das Hausagrariertum und seinen Schirmherrn, den kapitalistischen Staat, in Bewegung setzen müssen. Auch der Kampf um Milderungen der Wohnungsnot im kapitalistischen Staat kann nur in einen Kampf zur Zertrümmerung des kapitalistischen Staates ausmünden.

In diesem Kampfe sind die Forderungen der Kommunisten folgende:

A. Wohnungsstatistik.

1. Die statistischen Ämter des Reiches, der Länder, der Kommunalverbände und Kommunen haben sorgfältige Kataster der vorhandenen Wohnungen und des Wohnungsbedarfs mit besonderer Rücksichtnahme auf Rauminhalt und Familiengröße einzurichten.

2. Daneben haben die statistischen Ämter der Kommunen und Kommunalverbände zunächst laufend wohnungsstatistische Untersuchungen insbesondere über die Preisgestaltung der Grundstücke und Häuser, über das Verhältnis zwischen Einkommen und Miete, über die Beschaffenheit der Wohnungseinrichtungen, über das Verhältnis zwischen Wohnungslage, Krankheit und Sterblichkeit anzustellen und zu veröffentlichen.

B. Beschlagnahme der vorhandenen Wohnungen.

1. Das Recht des Vermietens und Mietens von Wohnungen, Eigenhäusern und möblierten Zimmern wird der Privatwirtschaft entzogen und der Gemeinwirtschaft überantwortet.

2. In jeder Gemeinde wird ein Gemeindebeauftragter mit der Durchführung der Gemeinwirtschaft des Wohnungswesens betraut, in allen größeren Gemeinden werden zu diesem Zweck Wohnungsämter eingerichtet.

3. Den Wohnungsämtern werden Wohnungsnachweise eingegliedert.

4. Alle privaten Wohnungsnachweise und Wohnungstauschbüros werden geschlossen.

5. Keine Wohnung darf ohne den gemeindlichen Wohnungsnachweis vermietet, getauscht oder sonstwie veräußert oder bezogen werden. Eigenhäuser und möblierte Zimmer sind dabei den Mietwohnungen gleichzustellen.

6. Die Wohnungsnachweise der Gemeinden werden nach Wirtschaftsgebieten zu einem Gebietswohnungsnachweis mit Meldeaustausch aufgegliedert, die Gebietswohnungsnachweise zu einem Reichswohnungsnachweis zusammengefasst.

7. Der Wohnungsnachweis ist unentgeltlich. Soweit noch Gebühren erhoben werden, sind sie nach Einkommen und Familienstärke unter Freilassung der kleinen Einkommen zu staffeln.

8. Die Verwaltung der Wohnungsämter wird in die Hände von Beamten gelegt, welche von den Mieterorganisationen gewählt werden.

9. Die Wohnungsämter haben nicht wie bisher nur überschüssige Räumlichkeiten zu beschlagnahmen, sondern grundsätzlich sämtliche Mieter nach Maßgabe der Familienstärke und der  wirtschaftlichen Notwendigkeiten umzusiedeln, dergestalt, daß die kinderreichen Familien in die  Großvillen, die Kleinfamilien (auch die wohlhabenderen) in die Mietskasernenkleinwohnungen   umgesiedelt werden. Als Hauptgrundsatz bei der Umsiedlung gilt: große Wohnungen für die kinderreichen Familien, kleine Wohnungen für kinderarme und kinderlose Mieter. Die Kosten der  Umsiedlung tragen die Gemeinden.

10. Solange der Hausbesitz noch nicht enteignet ist, ist die Miete im Gemeindebezirk zwangsweise nach Kinderzahl und Einkommen abzustufen, dergestalt, daß die Familien mit mehreren Kindern und geringerem Einkommen geringere Miete zu zahlen haben, ohne Rücksicht auf die Zahl der ihnen zugewiesenen Räume. Soweit durch höhere Mieten der Familien mit geringerer Kinderzahl und höherem Einkommen ein Ausgleich des so entstandenen Mietausfalles  nicht erreicht werden kann, geht die Differenz zu Lasten der Gemeinde. Die Verrechnung und Verteilung des Ausgleichs auf die einzelnen Hausbesitzer erfolgt durch das Wohnungsamt.

11. Solange die Forderung der Umsiedlung sich noch nicht durchsetzen lässt, werden die Wohnungen kontigentiert. Wieviel Räume dabei den einzelnen Familien in den Großwohnungen verbleiben, richtet sich nach den örtlichen Verhältnissen. Für die Großstadt kann dabei  etwa folgendes Schema Richtlinie sein:

Eine Familie ohne Kinder behält Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Zubehör und je nach Tätigkeit des Ehemannes oder der Ehefrau noch ein Arbeitszimmer. Für je zwei Kinder unter 10 Jahren oder für zwei gleichgeschlechtliche Kinder über 10 Jahren oder je ein Kind über 10 Jahren bei verschiedenen Geschlechtern wird ein weiteres Schlafzimmer zugestanden. Für Hauspersonal ist ein besonderes Zimmer im Wohngeschoss zu belassen, jedoch zu kontrollieren, ob dieses Zimmer auch tatsächlich dem Hauspersonal zur Verfügung steht. Für mehr als einen Dienstboten werden nur in ganz besonderen Ausnahmefällen (besondere Krankheitsverhältnisse) Räume genehmigt.

12. Die überschüssigen Räume sind den Wohnungssuchenden zur Verfügung zu stellen, die in einer Dringlichkeitsliste aufgeordnet werden.

13. Die Aufstellung der Dringlichkeitsliste obliegt den Mieterorganisationen oder den Ausschüssen der Wohnungslosen; zumindest haben die Mieterorganisationen an der Aufteilung und Kontrolle der Dringlichkeitsliste mitzuwirken. Die bisherige Bevorzugung entlassener Heeresangehöriger, aus Oberschlesien usw. vertriebener Chauvinisten usw. wird sofort beseitigt.   Entscheidend für die Höhe in der Dringlichkeitsliste muss vielmehr sein: Dauer der Wohnungslosigkeit und Zahl der Kinder, ferner Schwangerschaft und Krankheit. Schwerkriegsbeschädigte sind zu bevorzugen.

14. Die überschüssigen Räume sind zu Notwohnungen auszubauen. Diese müssen mindestens Kochgelegenheit, Wasserentnahme und Abort enthalten, in Ausnahmefällen ist Abortbenutzung mit einer zweiten Familie zulässig. Die Kosten des Ausbaues der Notwohnungen trägt die Gemeinde,  welche sie je nach den örtlichen Verhältnissen und der Vermögenslage des Hausbesitzers auf diesen ganz oder teilweise abwälzen kann. Die Mieten der Notwohnungen sind nach Einkommen und Kinderzahl abzustufen.

15. Der Ausbau von Kellerräumen zu Notwohnungen ist strikt zu verwerfen; ebenso der Ausbau von Dachgeschossen, Bodenkammern und ähnlichen Räumen, sofern die so entstandenen Wohnräume nicht massive Wände erhalten und gegen die Hitze und Kälteeinflüsse des Daches unbedingt geschützt sind.

16. Die privaten Neubauten, ebenso die Gebäude des Reichs, der Länder und der Kommunalverbände sind in das Beschlagnahmerecht der Gemeinden einzubeziehen.

17. Alle Anträge der Großwohnungsbesitzer auf Befreiung von der Wohnungsbeschlagnahme  durch freiwillige Hergabe von Geld oder durch anderweitige Wohnungserstellung sind abzulehnen.   Wo aus technischen Gründen Großwohnungen nicht aufgeteilt werden können und die Umsiedlung noch nicht durchführbar ist, sind in die überzähligen Räume solcher Großwohnungen Einzelmieter (Untermieter) einzuquartieren.

18. Neben den Großwohnungen müssen in erster Linie für Wohnzwecke beschlagnahmt werden:  alle Kasernen, Klöster und Schlösser (soweit nicht höhere Kunstzwecke gefährdet sind), ehemalige Lazarette usw. Weiter sind alle Bars, Kabaretts, Animierkneipen, Likörstuben, Bordelle und ähnliche Vergnügungsstätten zu schließen und zu Wohnungen umzubauen, soweit das technisch unzweckmäßig ist, jedoch mindestens mit solchen Geschäfts- und Gewerbebetrieben zu belegen, die ihrerseits Wohnräumen Platz machen können. Schulen dürfen dagegen nicht zu Wohnräumen ausgebaut werden.

19. Gebäude wie Kasernen usw., die nur schwierig zu Kleinwohnungen aufgeteilt werden können,  sind nach Möglichkeit  zu Asylen, Ledigenheimen, Zentralküchenhäusern usw. umzubauen.

20. Der Umbau von Wohnungen zu Gewerbezwecken oder die Benutzung von Wohnungen zu gewerblicher Tätigkeit, welche die bisherige Wohnmöglichkeit ausschließt, wird verboten.

21. Die unhygienischen Viertel der großen Städte (Altstadt) sind zu sanieren. Bis zur Durchführung der Sanierung sind auch in diesen älteren schon bebauten Stadtteilen so zahlreich  wie möglich Grünflächen, Kinderspielplätze und Sandbecken anzulegen.

22. Alle Wohnungen sind einer strengen Wohnungsaufsicht zu unterstellen.

23. Vorhandene Kellerwohnungen sind zu beseitigen.

24. Räume, in denen Lebensmittel verarbeitet werden, dürfen nicht als Schlafräume benutzt werden.

25. Überall ist für ausreichende Belüftung und Belichtung zu sorgen, die Zahl der Abortanlagen zu vermehren, die Kanalisation mit Spülklosetts aufs Schnellste zu fördern.

26. Das Schlafstellenunwesen ist durch Einquartierung von Einzelmietern in überschüssige Einzelzimmer der Großwohnungen zu beseitigen.

27. In allen Städten sind aus den Reihen der Baugenossenschaften, der Bauarbeiter usw. Arbeiter und Arbeiterinnen in größerer Zahl zu Wohnungsaufsichtsbeamten und Wohnungspflegerinnen auszubilden und mit der Aufsicht über die vorhandenen Wohnungen zu beauftragen. In den ländlichen Gemeinden sind neben den Vertretern ländlicher Wohnungsbaugenossenschaften insbesondere Beauftragte der Landarbeiterorganisationen mit der Wohnungsaufsicht zu betrauen.

28. Die Wohnungsaufsicht wird den Wohnungsämtern eingegliedert.

29. Die Wohnungsaufsichtsinstanzen erhalten das Recht der Anordnung von Um- und Neubauten zu Lasten des Hausbesitzers.

30. In den Arbeitermassenquartieren auf dem Lande ist unbedingt für getrennte Wohnmöglichkeit der einzelnen Familien und für Schaffung menschenwürdiger Wohnverhältnisse Sorge zu tragen.

31. Die Wohnungsämter sind in ihrem Gesamtaufgabenkomplex interlokal zu Gebietswohnungsämtern zusammenzufassen, die ihrerseits zu einem Reichswohnungsamt aufgegliedert werden. Aufgaben der Gebietswohnämter sind:

31.1. Interlokale Umsiedlung nach wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten, z.B. von Altersrentnern, nicht an bestimmte Orte gebundenen Erwerbstätigen usw. aus Orten mit großer Wohnungsnot in abseitige Gemeinden mit geringerer Wohnungsnot, in bisherige Landhausgemeinden, Kurorte, Badeorte usw.

31.2. Beschlagnahme und Ausbau von ländlichen Schlössern, Klöstern, Kurhäusern, Hotels, Landsitzen, Villen usw. zu Zwecken der Aufnahme von Kinderheimen, Pflegeheimen, Blindenanstalten usw., die jetzt in Städten untergebracht sind und nach der Umsiedlung  hrerseits in den Städten für Wohnungsgelegenheit Raum schaffen können.

C. Beschaffung neuer Wohnungen.

1. Die gesamte Neubautätigkeit wird in Gemeinwirtschaft überführt. Träger der Gemeinwirtschaft können sowohl Reich, Länder und Gemeinden wie auch Bau- und Produktivgenossenschaften sozialen Charakters sein. Die Gemeinwirtschaft hat bei den Urstoffen für die Bautätigkeit zu beginnen. In erster Linie sind daher zu vergesellschaften: Steinbrüche, Ziegeleien, Zement- und Glasfabriken, Kohlen- und Eisenindustrie, Forsten, Sägewerke und der Baumaterialienhandel. Zumindest ist ein Verbot des Stilllegens, des Abbruchs oder der Produktionsbeschränkung in diesen Gewerken sofort zu erwirken.

2. Der zur Siedlung benötigte Grund und Boden wird zugunsten der gemeinwirtschaftlichen Siedlung kostenlos enteignet. Bis zur Durchführung der Enteignung haben die Gemeinden einen möglichst umfangreichen gemeindeeignen Grundbesitz durch Kauf zu erwerben. Jeden Verkauf gemeindlichen Grundbesitzes an Private, Betriebe, Handelsgesellschaften usw. lehnen die Kommunisten ab. Grundstücksaustausch mit Privaten usw. ist zulässig, Grundstücksverpachtung jedoch nur, wenn die Gemeinde am Erträgnis des auf dem Grundstücke anzulegenden Betriebes ausreichend prozentual beteiligt wird. Wegen Erbpacht s.n.I. Nr. 26.

3. Die Bautätigkeit selbst wird ebenfalls der privaten Willkür entzogen und nach städtebaulichen, volkswirtschaftlichen, hygienischen und verkehrstechnischen Gesichtspunkten gemeindeweise konzentriert. Träger dieser Aufgabe sind die gemeindlichen Bauämter. Wo Baubetriebe für einzelne Gemeinden unrationell sind, schließen sich mehrere Gemeinden zum Betrieb eines gemeinwirtschaftlichen Bauunternehmens zusammen.

4. Reich, Staat und Kommunen haben möglichst hohe Summen für die Neubautätigkeit zur Verfügung zu stellen. An private Bauunternehmer sowie für private Werkswohnungen dürfen jedoch Zuschüsse in keiner Form gewährt werden.

5. Kasernen- und Kirchenbauten sind abzulehnen.

6. Die Neubauten sind dem gegenwärtigen Stande des Baumaterials anzupassen; sie dürfen aber in keiner Weise den sozialhygienisch und ästhetisch notwendigen städtebaulichen Gesichtspunkten , insbesondere dem allmählichen Übergang vom Massenmietskasernenbau zur Gartenstadtsiedlung entgegenstehen.

7. In kleineren Gemeinden und großstädtischen Außenvierteln ist für ausreichende Stallung zu sorgen.

8. Die bestehenden Bauvorschriften sind auf das technisch und hygienisch Notwendige zu mildern. Ausreichende Besonnung, Straßenbreite und Raumhöhe sind jedoch unumgänglich.  Wellblechbaracken und ähnliche primitive Bauten sind für Wohnzwecke abzulehnen.

9. Die Wohnfläche der einzelnen Wohnung soll möglichst nie weniger als 70 bis 80 qm betragen. Die vielfach üblichen Zwergwohnungen („Vogelkäfige“) sind zu verwerfen.

10. Wo im bebauten Gelände zwischen Hochhäusern Baulücken klaffen, können diese durch Hochhäuser ausgefüllt werden; höhere als dreigeschossige Häuser sind jedoch auch in diesen Fällen nicht zu genehmigen.

11. Außerhalb des bereits bebauten Geländes sind stets nur freistehende Einzelhäuser oder Häuser  in Reihenflachbau zu bewilligen.

12. Neue Wohnungssiedlungen sind möglichst an der Herkunftsseite, industrielle Neuanlagen, ebenso Schlachthöfe, Müllabfuhrhaufen, Klärbecken usw. möglichst an der Abzugsseite der vorherrschenden Winde anzulegen, so dass die Wohngebiete von der industriellen Rauch- und  Geruchsbelästigung möglichst verschont bleiben. Soweit angängig sind alle industriellen Anlagen in besonderen von den Wohngebieten abgetrennten Industrievierteln zusammenzufassen.

13. Alle Neusiedlungen sind zu kanalisieren und mit Gas und Elektrizität zu versorgen, die Entwicklung zur Zentralbewirtschaftung (Zentralküchen, Zentrallesezimmern usw.) zu fördern. Voraussetzung dafür ist die Beseitigung der jetzigen völlig planlosen und willkürlichen Zersplitterung der Neusiedlungen und die Einordnung sämtlicher Neusiedlungen in eine streng planmäßige lokale und interlokale Bebauung.

14. Soweit planmäßige Siedlungstätigkeit auf Hemmungen durch Orts- und Kreisgrenzen stößt, sind Umgemeindungen, Eingemeindungen, Siedlungsverbände usw. zu Zwecken einheitlicherer Bautätigkeit schnellstens zu erwirken.

15. Das Reich, mindestens die Länder und Provinzen, haben einheitliche Versuchsbauten nach neuen Bauweisen auszuführen, damit den einzelnen Gemeinden die jetzigen kostspieligen Versuche  beim Erproben neuer Bauweisen erspart bleiben. Die Baubestandteile sind zu normalisieren und typisieren. Für die einzelnen Landesteile sind bodenständige Einheitsbauweisen und Einheitsbaupläne aufzustellen.

16. Alle Straßenbaukosten sowie die Kosten der Leitungen für Elektrizität, Gas und Wasser zu den Siedlungen trägt die Gemeinde. Die Verkehrsstraßen sind zu hoher Leistungsfähigkeit auszubauen, die Wohnstraßen weit mehr als bisher zu vereinfachen.

17. Bei allen Neubauten ist ist für genügende Freifläche und Gartenanlage, für Spiel- und Erholungsplätze, Sand- und Planschbecken der Arbeiter- und Arbeiterkinder Raum zu schaffen.

18. Die Aufteilung von Stadtwäldern oder Teilen von Stadtwäldern zur Anlage von bourgeoisen Villenkolonien ist abzulehnen, die Anlage von Spiel- und Erholungsplätzen, Unterkunftsräumen, alkoholfreien Wirtschaften und Milchschankhäuschen in den Stadtwäldern dagegen zu fördern. Aus Spazierparks für Müßiggänger sind die Waldungen zu Volksparks umzugestalten, die den freien Aufenthalt, das Lagern und Spielen außerhalb der Wege ermöglichen.

19. Wälder, Parks, Friedhöfe, Wiesen und Gartenanlagen sind durch breite Grünstraßen miteinander zu verbinden, rings um die Siedlungen zusammenhängende Grüngürtel zu belassen, Seen, Teiche, Fluss- und Kanalläufe in die Grünanlagen einzubeziehen. Wo irgend angängig, sind öffentliche Luft- und Wasserbäder einzuschalten. Die Ufer der Wasserflächen dürfen nicht besiedelt oder an Privateigentümer verpachtet werden.

20. Die Anlage von Plätzen, Straßenerweiterungen, künstlerischen Raum- und Straßenfluchtwirkungen ist Sorgfalt zu widmen.

21. Die Arbeitersiedlungen als ganzes sind ihres jetzigen leblosen Aussehens zu entkleiden und städtebaulich zu reizvoller Gesamtwirkung zusammenzufassen.

22. Die Ausgestaltung des Verkehrswesens ist besondere Sorgfalt zu widmen durch Anlagen von Straßen, Hoch- und Untergrundbahnen sowie durch Ausgestaltung des Eisenbahnwesens in Hinsicht auf möglichst schnelle Verbindung zwischen Arbeits- und Wohnstätte. Aus hygienischen, technischen und wirtschaftlichen Gründen sind alle Dampfbahnen zu elektrifizieren.

23. Die Beförderung zwischen Arbeits- und Wohnstätte muss grundsätzlich unentgeltlich erfolgen. Wo diese Forderung nicht durchführbar ist, sind als Mindestanforderungen zu erwirken: unentgeltliche Beförderung der Arbeitslosen vom und zum Arbeitsnachweis, erhebliche Preisermäßigungen für Arbeiter, Angestellte, Beamte, Schulkinder, Fortbildungsschüler,  Besucher von Mütter- und Säuglingsberatungsstellen, Außensiedler und Laubenkolonisten.

24. Die Kommunen und Kommunalverbände haben bei allen Bauämtern Auskunftsstellen für Siedler einzurichten.

25. Sämtliche Bauarbeiten sind in Eigenregie auszuführen. Der private Bauunternehmer ist bei allen Bauarbeiten auszuschalten.

26. Die Veräußerung von Bauten an Private ist verboten. Die gemeinnützig erbauten Wohnungen bleiben im Eigentum des Reichs, der Länder, der Gemeinden oder Baugenossenschaften. Ausnahmsweise, z.B. an Genossenschaften der Arbeiter, Beamten und Kleinbauern kann Erbpacht zugestanden werden. Die völlige Überlassung der Bautätigkeit und Bauten an Genossenschaften ist unzulässig, weil dadurch oft die ärmsten, kinderreichsten Proletarierfamilien, die nicht imstande  sind, die Genossenschaftsbeiträge aufzubringen, ohne Wohnung bleiben.

27. Den Baugenossenschaften sind die Zuschüsse stets in voller Höhe der Überteuerung auszuzahlen. Reich, Staat und Gemeinde haben ihnen zinslose Baugelder zur Verfügung zu stellen. Die Baupläne sind ihnen von den städtischen Bauämtern oder den Bauberatungsstellen der Länder und Provinzen unentgeltlich zu liefern.

28. Die Verwaltung aller erstellten Neubauten obliegt den Mieterausschüssen (Mieterräten).

29. Aus Mitteln des Reiches, der Länder und der Gemeinden sind allen Unbemittelten Möbel,  und sonstige Hausgerätschaften zur Wohnungseinrichtung unentgeltlich zu liefern. Soweit sich dieses nicht erreichen läßt, ist zu fordern, dass Reich, Staat, Kommunalverbände und Kommunen Möbel und Hausgerätschaften nach Normaltypen herstellen oder doch aufkaufen und diese Minderbemittelten zu ermäßigten Preisen übereignen.

30. Aller unbebaute Grundbesitz einschließlich der Pferderennbahnen ist acker- oder gartenmäßig zu bestellen. Soweit die Bestellung nicht durch die Gemeindeverwaltung selber erfolgt, ist der Grundbesitz an Vereinigungen von Laubenkolonisten, Baugenossenschaften und ähnliche proletarische Organisationen pachtweise zur Bestellung zu überlassen. Sollen die bestellten Grundstücke bebaut werden, so sind die Pächter mindestens ein Jahr zuvor davon zu benachrichtigen und zu kündigen. Soweit irgend möglich, ist ihnen rechtzeitig anderes Pachtland zur Verfügung zu stellen. Die Pachtpreise sind nach Einkommen und Kinderzahl der Pächter zu staffeln und soweit wie möglich in Naturalform zu entrichten. Erwerbslose bleiben von der Pacht befreit. Die Straßenbahnen, Hoch- und Vorortbahnen haben den Kleinpächtern Tarifermäßigungen zu gewähren.

31. Die Kommunisten haben die Pächterorganisationen zu fördern und in ihnen wie in den Mieterorganisationen (s. Absatz in D.) zu wirken.

D. Mieterschutz

1. Der wirksamste Mieterschutz ist die völlige Enteignung des Haus- und Grundbesitzes und die Überführung der Eigentums- und Besitzrechte auf Reich, Staat, Gemeinde unter Mitbestimmungsrecht und Selbstverwaltungsrecht der Mieterorganisationen und Mieter. Soweit diese Forderung noch nicht durchführbar ist, muss wenigstens der Grund und Boden in Gemeineigentum überführt werden. Die Enteignung des Grund und Bodens erfolgt erfolgt ohne Entschädigung. Bei der Enteignung der Gebäude ist jedoch allen Minderbemittelten eine Entschädigung zu gewähren.

2. Bis zur Durchführung der Enteignung ist darauf hinzuwirken, daß der Häuserhandel verboten und die Gesetzgebung zugunsten der Mieter und Pächter ausgebaut wird. Die gesamte Mieterschutzgesetzgebung ist dabei zu vereinheitlichen. Die Pachten sowie das Mieten möblierter Zimmer und die Hauswirtverträge sind in die Mieterschutzgesetzgebung einzubeziehen.

3. Für die Mieteinigungsämter ist insbesondere zu fordern: Wahl der Beisitzer durch die Mieterorganisationen; Verbot der Veränderung jeglicher Miet- oder Pachtverhältnisse zuungunsten der Mieter oder Pächter ohne Genehmigung des Mieteinigungsamtes; Verbot jeglicher Räumungsvollstreckung ohne Genehmigung des Mieteinigungsamtes und ohne ausreichende Bereitstellung anderer Unterkunftsmöglichkeiten.

4. Die kommunistischen Beisitzer der Mieteinigungsämter haben stets die Interessen der unter der allgemeinen Wohnungsnot und unter den Verhältnissen des besonderen Streitfalles am meisten Leidenden wahrzunehmen, nach Maßgabe des kommunistischen Siedlungs-, Bau- und Wohnungsprogrammes stets den Schwachen gegen den Kapitalkräftigen zu schützen.

5. Sämtlicher Reparaturarbeiten werden unter städtischer Regie zu Lasten der Hausbesitzer oder, soweit diese Minderbemittelte sind, zu Lasten der Gemeinde ausgeführt. Die Reparaturen erfolgen lediglich nach Zweckmäßigkeit und nach den Wünschen der Mieter unter Begutachtung der städtischen Bauämter.

6. Die im Reichsmietengesetz vorgesehenen Zuschläge für Reparaturen zugunsten der Hausbesitzer sind abzulehnen.

7. Die Gemeinden haben die Mieten in ihren eigenen Häusern nicht nach der Zahl und Größe der Räume, sondern nach der Kinderzahl und dem Einkommen der Mieter zu staffeln, dergestalt, daß die Familien mit größerer Kinderzahl und kleineren Einkommen die kleineren Mieten zu zahlen haben.

8. Die Gemeinden und Mieteinigungsämter dürfen keinerlei Anträgen der Hausbesitzer auf Erhöhung der Mieten über die Friedensmiete hinaus oder auf Neufestsetzung der Friedensmiete über den tatsächlichen Stand der Friedensmiete hinaus ihre Zustimmung erteilen.

9. Die Gemeinden haben alle Anträge auf Sonderberechnung öffentlicher Steuern, Gebühren und Beiträge, von Abgaben, Versicherungen, Hypothekenzinsteigerungen sowie von Verwaltungskosten  der Hausbesitzer für ihre Mieter abzulehnen.

10. Die Kommunisten dürfen nur dann für einen von irgendwelcher Seite eingebrachten niedrigeren Zuschlagsantrag stimmen, wenn vorher ihre Anträge auf Ablehnung jeglichen Zuschlages und jeglicher Sonderberechnung abgelehnt sind und höhere Zuschläge nur durch ihre Zustimmung zum niedrigeren Zuschlage verhindert werden können.

11. Durch Reichsgesetzgebung ist zu bestimmen, dass die Verwaltung der Häuser den Hausbesitzern genommen und Mieterausschüssen (Mieterräten) des einzelnen Hauses oder der einzelnen Häuserblöcke übertragen wird.

12. Auch über die gesetzlichen Rechte der Mieterschutzbestimmungen hinaus haben die Mieter einzelner Häuser oder Häuserblocks von sich aus Mieterräte zu bilden und diesen Mieterräten möglichst weitgehende Rechte gegenüber dem Hauseigentümer zu erkämpfen. Die Kommunisten in den Gemeindeverwaltungen haben diese Kämpfe in jeder Hinsicht (Übertragung von Befugnissen, Zuziehung zu einschlägigen Tagesordnungspunkten usw.) zu unterstützen.

13. Möglichst oft rufen die Mieterräte die Hausbewohner zu „Hausversammlungen“ zusammen. Die Kommunisten haben sich in den Hausversammlungen das Vertrauen der Mitbewohner zu erwerben und für das kommunistische Wohnungs- und Allgemeinprogramm zu wirken.

14. Dem Schutz der Untermieter und Schlafgänger gegen Mietwucher haben die Kommunisten in den Gemeindeverwaltungen, Mietseinigungsämtern und Mieterorganisationen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

E. Mieterorganisation

1. Eine wesentliche Förderung kann den Forderungen der KPD zur Wohnungsfrage durch die Mieterorganisationen zuteil werden.

2. Überall, wo bei Behörden, Schiedsinstanzen usw. Wohnungsfragen und Mieterfragen behandelt werden, haben unsere Genossen zu beantragen, dass Vertreter der Mieterorganisationen neben den von der Behörde bestimmten mit entscheidender Stimme zugezogen werden.

3. Die örtlichen Parteivorstände haben der Mieterbewegung besondere Aufmerksamkeit zu widmen und einen oder mehrere besondere Beauftragte für die Arbeit der Kommunisten in der Mieterbewegung zu bestimmen.

4. Es ist nicht Aufgabe der örtlichen Parteileitung, etwa alle Mitglieder der KPD zum Eintritt in die Mieterorganisationen zu veranlassen; es ist nur erforderlich, dass die für dieses Gebiet besonders interessierten Genossen zum Eintritt in die Mieterorganisationen angehalten werden, daß diese in ihnen geschlossene und zielklare Fraktionen bilden, dass diese Fraktionen in engster Fühlung mit der Parteiorganisation vorgehen, dass überall die kommunistischen Forderungen vertreten und zur Anerkennung gebracht werden, dass also nicht durch einfache Abstimmungsmehrheit, sondern durch den Wert der programmatischen Forderungen und praktischen Bestätigung ihrer Mitglieder in den Mieterorganisationen die kommunistische Partei die Mieterorganisationen entscheidend beeinflusst.

5. Die als Mieterräte sowie die in den Mieteinigungs- und Wohnungsämtern tätigen Genossen sdin zum Eintritt in eine Mieterorganisation verpflichtet.

6. Bestimmte Mieterorganisationen werden von den Kommunisten nicht bevorzugt. Die Kommunisten treten vielmehr in alle Mieterorganisationen ein. In diesen sorgen sie in organisatorischer Hinsicht für einen möglichst schnellen Zusammenschluss aller bestehenden Mieterorganisationen sowohl örtlich wie auch in den Bezirken und im ganzen Reich mit dem Ziele, einer einzigen einheitlichen großen Mieterorganisation, die sich einheitlich nach Wirtschaftsbezirken und Ortsgruppen gliedert.

7. Neugründungen von Mieterorganisationen, auch von „reingewerkschaftlichen“, neben den bestehenden Organisationen, werden von den Kommunisten bekämpft. Kommen solche Neugründungen trotzdem zustande, treten die Kommunisten in sie ein und arbeiten in ihnen für eine Verschmelzung mit den bestehenden Verbänden.

8. Zu Kongressen, Verbandstagen usw. der Mieterverbände sind überall Kommunisten in Vorschlag zu bringen. Auf die Verbandspresse ist entscheidender Einfluss zu erstreben.

9. Die Fraktionen der verschiedenen Mieterorganisationen eines Ortes treten von Zeit zu Zeit zu gemeinsamen Besprechungen zusammen, um ein einheitliches Vorgehen in den Einzelfragen zu gewährleisten und ihre Erfahrungen auszutauschen.

10. Die Organisation der Fraktionen ist bezirksweise und darüber hinaus länderweise und schließlich für das ganze Reich aufzugliedern. Die Zentrale der Partei beruft zu gegebener Zeit einen Reichskongress der kommunistischen Mieterfraktionen.

11. Die Hauptaufgabe der Kommunisten in den Mieterorganisationen beruht in der Verbreitung der Erkenntnis, dass eine Lösung der Wohnungsfrage im rahmen des kapitalistischen Staates unmöglich, sondern nur nach Maßgabe der kommunistischen Forderungen in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft durchführbar ist, und die aufgrund dieser Erkenntnis vollziehende Einreihung der Mieterschaft in die Kampffront des revolutionären Proletariats.

Endnote

(1) Dieser Text wurde veröffentlicht in „Die Internationale, Zeitschrift für Theorie und Praxis des Marxismus“, Jahrgang 4, Heft 18, 20. April 1922, herausgegeben von der Zentrale der KPD. Reprint: Verlag Neue Kritik, Frankfurt/Main 1971




Grundzüge der aktuellen Weltlage

Teil 1, Martin Suchanek, Infomail 1156, 18. Juli 2021

Während die dritte Welle der Pandemie den globalen Süden regelrecht überrollt, üben sich Wirtschaftsforschungsinstitute und die Regierungen der führenden kapitalistischen Staaten in (Zweck-Ooptimismus.

US-Präsident Biden verkündet, dass die schlechten Trump-Jahre vorbei seien und die USA wieder die Führungsrolle auf dem Globus übernommen wollten. Vorbei seien die Jahre des Unilateralismus, des Ausstiegs aus dem Pariser Klimaabkommen und des öffentlichen Vorführens der europäischen Verbündeten. Die Welt soll wieder hegemonial nach Wunsch und Vorstellung der USA geordnet werden, natürlich zum Wohl von Freiheit und Demokratie, von Marktwirtschaft und Wettbewerb.

Doch auch der chinesische Imperialismus, der neue Hauptrivale im globalen Kampf um Märkte und Einflusssphären, stellt seine Ansprüche offen zur Schau. Anlässlich des hundertjährigen Bestehens der KP Chinas präsentiert er sich einmal mehr als Alternative zur US-dominierten Weltordnung. So wie die etablierten westlichen Führungsmächte, die USA, aber auch ihre PartnerInnen und RivalInnen aus der EU ihre ökonomischen und geostrategischen Interessen gern mit demokratischen Versprechen verschleiern, geriert sich Peking noch immer als weniger imperialistischer Imperialismus, der sich in innere Angelegenheiten seiner VasallInnen vergleichsweise wenig einmische, solange sie den Zielen Chinas nicht entgegenstehen.

Selbst die krisengeschüttete EU beschwört einmal mehr den neuen Aufbruch. Vorzugsweise Deutschland und Frankreich müssten mehr Verantwortung für die Welt übernehmen und offensiver ihre Interessen vertreten – sei es gegenüber Russland und China, aber auch  den USA und Britannien. Vor allem aber müssten sie ihren eigenen Block endlich neu ordnen und die EU voranbringen – auf dem eigenen Gebiet wie auch im Mittelmeer und in Afrika.

Weitaus verhaltener fallen die politischen Proklamationen und Ambitionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern aus. Hier ist weder ein Ende der ökonomischen Krise noch der Pandemie in Sicht. Während Letztere im Jahr 2020 die globale Rezession  synchronisierte, erleben wir jetzt eine Auseinanderentwicklung der Weltwirtschaft.

Konjunkturprognosen

Dies drückt sich auch in den Prognosen der konjunkturellen Entwicklung für die Jahre 2021 und 2022 aus. In seinem vierteljährlichen Bericht geht der IWF im April 2021 von einer Steigerung der globalen Wirtschaftsleistung von 6,4 % aus – und rechnet damit sogar mit einer noch stärkeren Erholung der globalen Ökonomie als am Beginn des Jahres.

Getragen wird der Aufschwung wesentlich vom Wachstum in den imperialistischen Zentren, d. h. vor allem von China und den USA, die zur Zeit beide als Lokomotiven der Weltwirtschaft fungieren. Für die USA prognostiziert der IWF ein Plus von 6,4 %, für China gar 8,4 %. Für die Eurozone werden hingegen lediglich 4,4 %, für Deutschland 3,7 %, für Japan 3,3 %, für Britannien um die 5 % veranschlagt. Damit liegen diese Länder unter dem erwarteten globalen Durchschnitt von 6,0 %. Diese Zahlen müssen natürlich vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass das höher erwartete Wachstum in Britannien oder den USA gegenüber Deutschland und der EU natürlich auch das unterschiedliche Tempo reflektiert, in dem die Staaten Impfungen gegen Pandemie durchführten und damit Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufrechterhalten und auf die Krise des Gesundheitswesens reagieren mussten. Insofern sind sie nur bedingt vergleichbar. Sie verdeutlichen aber die entscheidende konjunkturelle Entwicklungstendenz.

Grundsätzlich können wir jedoch von einem Wachstum der imperialistischen Ökonomien im Jahr 2021 und 2022 ausgehen, das die Weltwirtschaft insgesamt stimulieren wird. Gleichzeitig dürfen diese kurzfristigen Prognosen nicht über deren weitere Krisenhaftigkeit hinwegtäuschen, ebenso wenig wie über die weiter grassierende Pandemie, die vor allem in den Ländern des globalen Südens wütet.

Wie wir sehen werden, stellt die ungleichmäßige Entwicklung der Weltökonomie ein zentrales Merkmal der aktuellen Lage und Form dar, die der konjunkturelle Aufschwung annimmt. Die Ungleichzeitigkeit zwischen den verschiedenen Regionen und der imperialistische Charakter des globalen Kapitalismus treten nicht nur während der Rezession, sondern insbesondere auch in der gegenwärtigen Erholung besonders deutlich hervor. Der Aufschwung der einen bedeutet Stagnation, Niedergang und Dauerkrise der anderen.

Gründe für den Aufschwung

Um die Ursachen für die zunehmende Ungleichzeitigkeit zu verstehen, müssen wir uns mit den kurzfristigen, konjunkturellen Ursachen der Entwicklung beschäftigten.

a) China und einige andere Länder wie Australien oder Südkorea  waren in der Lage, die Pandemie, wenn auch mit sehr drastischen staatlichen Zwangsmaßnahmen, relativ erfolgreich einzudämmen. Chinas BIP wuchs daher auch 2020, wenn auch nur um 2,3 %. Die USA und Britannien führten energische Impfkampagnen durch und konnten so rascher das öffentliche Leben und den Konsum wieder ankurbeln.

Die Länder der EU lagen hier lange zurück, doch auch diese werden bis September 2021 einen großen Teil der Bevölkerung geimpft haben. Darüber hinaus monopolisieren diese Länder sowie China und Russland faktisch den verfügbaren globalen Impfstoff, einschließlich der Produktion von und Verfügung über modifizierte/n Vakzine/n, um die Bevölkerung gegen neue Virusmutationen zu schützen. Indien besitzt zwar auch enorme Produktionskapazitäten, über die Patente verfügen jedoch die westlichen Konzerne.

Die Konzentration von Impfstoffen und der Mittel für den Gesundheitsschutz auf die imperialistischen Zentren und einige wenige Halbkolonien bedeutet aber auch, dass die meisten Länder des Planeten weiter von der grassierenden Pandemie heimgesucht werden. Hinzu kommt, dass sie, anders als die reichsten Länder, kaum oder jedenfalls nicht längerfristig über die Mittel verfügen, die Wirtschaft zeitweilig herunterzufahren und die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Daher fehlt es nicht nur an Impfstoffen und medizinischer Versorgung. Die Masse der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen ist weiter gezwungen, ohne nennenswerten Gesundheitsschutz unter prekärsten Bedingungen ihrer Arbeit nachzugehen – und somit das Risiko schwerer chronischer Erkrankungen oder eines Massensterbens in Kauf zu nehmen (siehe Lateinamerika, Afrika, aber auch Indien und weitere große Teile Asiens). Diese Lage stellt nicht nur einen Schritt zur Barbarisierung mit Millionen Toten dar – sie geht auch mit einer wirtschaftlichen Dauerkrise in diesen Ländern einher, die durch andere Faktoren wie z. B. ökologische Katastrophen verschärft wird.

b) Alle großen imperialistischen Staaten und von ihnen geführte Blöcke (EU) griffen während der Pandemie zu, wenn auch begrenzten, staatlichen Lenkungsmaßnahmen, um den Gesundheitssektor einigermaßen zu zentralisieren und den verheerenden Folgen neoliberaler Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte entgegenzuwirken. Ein Resultat dieser Maßnahmen stellt auch die relativ rasche Entwicklung von Impfstoffen dar, deren Entwicklungskosten die privaten Konzerne zum größten Teil auf die Staaten und SteuerzahlerInnen abwälzten, während sie jetzt (insbesondere BioNtech/Pfizer und Moderna) Milliarden Extraprofite einstreichen.

Generell stützen die imperialistischen Staaten während der Rezession ihr Großkapital, ihre Finanzinstitutionen (und dem untergeordnet auch kleinere Unternehmen und Teile der ArbeiterInnenklasse) mit Milliardensubventionen, um die Ökonomie zu stabilisieren und die Kapitale vor dem Ruin oder Zusammenbruch zu retten. Diese Politik wird nun mit gigantischen Konjunkturprogrammen – allein das der US-Regierung unter Biden entspricht rund 8 % des US-amerikanischen BIP – fortgesetzt.

Aufschwung für wen?

Die Konjunkturprogramme sind jedoch auf die imperialistischen Metropolen beschränkt. Für die vom imperialistischen Finanz- und Großkapital ausgebeuteten Staaten und Regionen in Afrika, Lateinamerika und in den größten Teilen Asiens sind sie nicht wiederholbar. D. h. die aktuelle Konjunkturpolitik der führenden kapitalistischen Staaten und vor allem der Großmächte verstärkt die globalen Ungleichheiten und festigt die Dominanz der imperialistischen Mächte. Diese zeigt sich auf verschiedenen Ebenen:

Erstens hängt der konjunkturelle Aufschwung der Weltwirtschaft insgesamt von der Akkumulationsdynamik und der Nachfrage in den imperialistischen Zentren ab. Zweitens führt deren Aufschwung generell zu einem Kapital- und Investitionsabfluss zu den imperialistischen Zentren, was auch die Schwellenländer unter Druck setzt. Drittens trifft die gigantische Zunahme staatlicher und privater Verschuldung imperialistische und halbkoloniale Länder unterschiedlich. Erstere können so ihr weltbeherrschendes Großkapital retten und sogar versuchen, den Kapitalstock in Richtung Zukunftstechnologie zu erneuern. Die Verschuldung der halbkolonialen Länder hingegen hat solche Ausmaße angenommen, dass sie vor allem als Hebel zur Vertiefung der Abhängigkeit von den imperialistischen Kapitalen dient, zu verstärkter Unterordnung führt und ein zentrales Mittel zum Abfluss von Extraprofiten in die imperialistischen Länder darstellt.

Damit sind wir bei einem ersten zentralen Charakteristikum der gegenwärtigen Entwicklung der Weltwirtschaft angelangt: Krise, Pandemie und auch der konjunkturelle Aufschwung vertiefen die halbkoloniale Abhängigkeit. Es ist daher kein Wunder, dass zahlreiche Länder – darunter auch Staaten wie Indien, Südafrika, Brasilien, die Türkei – von einer chronischen Krisenhaftigkeit geplagt sind, deren wichtige Merkmale steigende Schuldenlast, drohender oder wirklicher Kapitalabfluss, Inflation, offene oder verdeckte Massenarbeitslosigkeit bzw. Unterbeschäftigung darstellen. In der extremsten Form führt dies zu einem dramatischen Anstieg von Mangel- und Unterernährung und zu Millionen Hungertoten.

Der wesentlich auf imperialistische Kernländer beschränkte Charakter der gegenwärtigen Erholung der Weltwirtschaft bedeutet auch, dass es zwar nicht sicher ist, welche Großmächte und führenden Kapitale als SiegerInnen aus dieser Krise hervorgehen werden. Es ist aber deutlich absehbar, welche Länder geschwächt und als Verlierer aus der Krise hervorgehen werden: die Masse der Halbkolonien inklusive Länder wie Brasilien. Unter diesen liefert Indien das widersprüchlichste Bild. 2020 erlebte das Land einen historischen Einbruch des BIP von –8 %). Für 2021 wird jedoch ein extrem großes  Wachstum von bis zu 12,5 % prognostiziert – allerdings unter der Voraussetzung, dass das Land die Pandemie erfolgreich in den Griff bekommt. Davon kann beim besten Willen nicht die Rede sein.

Neben den halbkolonialen Ländern werden auch einige imperialistische Staaten auf ökonomischer Ebene Verlierer der aktuellen Entwicklung sein – allen voran Russland. Der Kurs Putins und die Verstärkung des bonapartistischen und autoritären Charakters seines Regimes stellen auch eine präventive Aktion gegen mögliche Massenproteste dar, die neben der bürgerlichen Opposition auch die ArbeiterInnenklasse in Bewegung bringen könnten.

Die Ungleichzeitigkeit der ökonomischen Entwicklung trifft schließlich auch die EU/Eurozone weit stärker als die USA und China. Die Krise verschärft die Ungleichgewichte und zentrifugalen Tendenzen in der EU noch einmal dramatisch. Imperialistische Länder wie Italien und Spanien verlieren weiter an ökonomischem/r Gewicht und Konkurrenzfähigkeit, sind zugleich jedoch viel zu groß und bedeutsam, als dass die EU sie fallen lassen könnte.

Risiken

Wenn wir vom gegenwärtigen konjunkturellen Aufschwung der Weltwirtschaft sprechen, dürfen wir auch die Unsicherheitsfaktoren nicht vergessen, auf die auch die bürgerlichen Institutionen wie IWF, Weltbank oder OECD und nationale Wirtschaftsforschungsinstitute hinweisen: Dazu gehört zuerst die Pandemie. Auch wenn diese zur Zeit in vielen westlichen Ländern einigermaßen zurückgedrängt wurde, so können wir selbst in diesen von einer infolge der Massenimpfungen wahrscheinlich  schwächeren vierten Welle ausgehen. Die halbkoloniale Welt befindet sich jedoch im freien Fall. Eine wirksame Pandemiebekämpfung, die ohne massiven Ressourcentransfer aus der imperialistischen Welt kaum möglich erscheint, ist nicht in Sicht.

Ein zweites massives Risiko stellt die Inflationsgefahr dar, vor allem in den halbkolonialen Ländern, deren Währungen aufgrund der Krise massiv unter Druck geraten. Doch die Rückkehr der Inflation, die in den imperialistischen Ländern über Jahre verschwunden zu sein schien, wird auch in den Zentren der Weltökonomie zu einer zunehmenden Gefahr.

Drittens haben die Antikrisenmaßnahmen und die gigantischen Konjunkturpakete zwei miteinander verbundene Probleme massiv verschärft: die gigantische Verschuldung von Staaten, Unternehmen und privaten Haushalten einer-, das Anwachsen spekulativer Blasen andererseits.

Überakkumulation

Letzteres ist eng mit der Entstehung neuer Formen des Finanzkapitals verbunden. Die gigantische Zunahme von fiktivem Kapital hängt aber ursächlich damit zusammen, dass die Politik der großen imperialistischen Staaten seit 2007 wesentlich auf die Rettung des Großkapitals, sei es des zinstragenden, des industriellen oder kommerziellen abzielte. Dies bedeutet wiederum, dass die für eine grundlegende Erholung der Profitraten notwendige Vernichtung von überschüssigem Kapital nicht oder jedenfalls nicht in dem Ausmaß stattfand, um eine neue Akkumulationsdynamik im produktiven Bereich in Gang zu setzen.

Die aktuelle Politik der USA, der EU und auch Chinas zielt zwar unter Schlagworten wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz und ökologische Erneuerung auch auf eine stoffliche Ersetzung und Modernisierung des Kapitalstocks ab, und alle greifen daher auch zu diesem Zweck auf staatliche Konjunkturpolitik zurück.

Doch in allen Fällen – insbesondere in den tradierten westlichen Staaten – wird letztlich die Quadratur des Kreises versucht. Einerseits sollen nämlich staatlicherseits eine Erneuerung des Kapitalstocks forciert, andererseits jedoch die bestehenden Großkapitale geschützt werden. Da das bestehende industrielle Anlagekapital in allen führenden imperialistischen Staaten auch gigantische Vermögenswerte darstellt, die kein/e EignerIn freiwillig aufgeben und vernichten lassen will, wird der gesamte „Umbau“, jede „Modernisierung“ zu einem widersprüchlichen Unterfangen, das letztlich auf massive Subventionen des Großkapitals hinausläuft, dessen mehr oder weniger große stoffliche Erneuerung weitgehend vom Staat finanziert wird, also zu einem großen Teil aus den Steuern der ArbeiterInnenklasse.

Hinzu kommt, dass der Stoffersatz des Großkapitalstocks, wie sehr er auch mit den Etiketten „ökologisch“ und „erneuerbar“ versehen wird, vor allem auf die gesteigerte Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten abzielt.

Das lässt sich leicht anhand der Automobilindustrie darstellen. Der Umstieg auf E-Mobilität bedeutet natürlich nicht den auf die Schiene oder andere nachhaltigere Formen des Güter- und Personenverkehrs, sondern vor allem von PKWs mit Verbrennungsmotoren auf solche mit Elektroantrieb. Ökologisch ist dieses Unterfangen ein Weg in die Sackgasse. Es wird zwar fälschlich als nachhaltig verkauft, faktisch werden jedoch gigantische Summen zur Subvention der großen Konzerne aufgewendet, so dass diese pseudoökologische Transformation vor allem die Profite der bestehenden Großkapitale sichert.

Diese Form staatlicher Intervention dient also in erster Linie der Neuformierung der Kapitale und Stärkung ihrer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Dort verschärft sie jedoch längerfristig die Krisenhaftigkeit der globalen Ökonomie. Nehmen wir wieder die Autoindustrie. Sollten die Pläne der EU, USA, Japans und anderer Herstellerländer erfolgreich sein und die jeweiligen Konzerne konkurrenzfähig halten, so würde sich natürlich an der Überakkumulation von Kapital in der Branche nichts ändern. Früher oder später würde sich dies in Überkapazitäten und Überproduktion äußern, zumal wenn es China gelingen sollte, einen oder mehrere weltmarktfähige E-Auto-Konzerne hervorzubringen und auch auf diesem Gebiet als Konkurrenz zu den westlichen Monopolkapitalen aufzutreten. Was für die Automobilindustrie gilt, gilt natürlich für alle anderen wichtigen Branchen auch.

Die „Transformation“ der kapitalistischen Wirtschaft stößt somit auf zunehmende Schranken, die aus der Akkumulation des Kapitals selbst erwachsen und nur über eine gewaltige Eskalation dieses inneren Widerspruchs – also eine gigantische Vernichtung von bestehendem, überschüssigem Kapital – überwunden werden können.

Schon seit 2007/8 befinden wir uns im Grunde in einer Periode der Entwicklung dieses Widerspruchs und Vorbereitung einer solchen Eskalation. Wie lange es noch dauern wird, bis diese ausbricht, der Widerspruch auf die Spitze getrieben ist, kann niemand genau vorhersagen. Schließlich ist dies nicht einfach Resultat einer rein ökonomischen Bewegung, sondern der politisch-ökonomischen Gestalt des Weltkapitalismus, also insbesondere auch der Entwicklung des Klassenkampfes auf verschiedenen Ebenen – zwischen Lohnarbeit und Kapital, aber auch zwischen den verschiedenen Bourgeoisien.

Auch wenn die aktuellen Konjunkturprogramme zentrale Nationalökonomien und die Weltwirtschaft kurzfristig beleben können, so werden sie nicht zu einer nachhaltigen Dynamisierung der Weltwirtschaft insgesamt führen können. Vielmehr wird sich der innere Widerspruch der Kapitalbewegung aufgrund dieser Programme weiter zuspitzen. Fallende Profitraten sind durch den Rückgriff auf neokeynesianische Konzept längerfristig  nicht zu stoppen, vielmehr wird die Masse an überschüssigem und fiktivem Finanzkapital weiter anwachsen.

Kampf um den Weltmarkt

Die aktuelle Politik aller großen Mächte ist dabei nicht auf eine protektionistische Politik ausgelegt. Es wäre ein grobes Missverständnis, die durchaus bedeutenden Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik in den USA, der EU und auch Deutschlands (vom Staatsinterventionismus Chinas ganz zu schweigen) als eine Abschottung oder Absetzbewegung vom Weltmarkt zu verstehen.

Im Gegenteil. Zur Zeit zielen alle führenden kapitalistischen Staaten darauf ab, Bedingungen zu schaffen, die ihrer Industrie, ihren großen Dienstleistungsunternehmen und vor allem ihren Finanzinstitutionen Erfolg auf den globalen Märkten sichern sollen. Die Politik der USA, Chinas und der führenden imperialistischen Mächte in der EU geht natürlich damit einher, ganze Regionen der Welt zur Investitions- und Anlagesphäre vor allem ihres Kapitals zu gestalten. Deutschland und andere imperialistische Staaten versuchen dabei, Nachteile gegenüber den USA und China durch Anbindung ganzer Länder an die EU als halbkoloniale Märkte und Produktionsstandorte im Rahmen internationaler Wertschöpfungsketten wettzumachen. Dies geht zugleich Hand in Hand mit Kapital- und Warenexport in die ganze Welt, nicht zuletzt auch nach China selbst, von dem sich Deutschland (und andere europäische Staaten) sicher nicht abschotten wollen.

China setzt seinerseits nicht nur auf innere Dynamik, sondern treibt mit der sog. Neuen Seidenstraße seinen Griff nach Märkten und Anlagesphären für sein Kapital voran.

Die USA wollen eine neue westliche Allianz nicht einfach wiederbeleben, um China von ihren Märkten abzuschotten und die EU als untergeordnete Verbündete einzugemeinden, sondern auch um verlorene Weltmarktpositionen zurückzuerobern.

Dem Kipppunkt entgegen

Aufgrund der inneren Dynamik dieser Weltmarktkonkurrenz, zu der sich neben den USA, China, führenden EU-Ländern auch noch Japan, Britannien, Russland und selbst gewichtige Halbkolonien wie Indien, Südkorea, Taiwan … gesellen, ist natürlich früher oder später eine Ablösung dieser verschärften Weltmarktkonkurrenz durch eine protektionistische Politik, die Abschottung des eigenen Wirtschaftsblocks vorhersehbar.

Die Handelskonflikte und wechselseitigen Strafzölle zwischen den USA und China wie der EU unter Trump müssen als Vorboten einer möglichen Veränderung der vorherrschenden Wirtschaftsstrategie betrachtet werden. Auch die US-Politik der Eindämmung Chinas und Russlands, das Hineinziehen der EU und anderer Verbündeter in eine immer offenere Konfrontation mit ihnen kann natürlich in eine Fragmentierung des Weltmarktes und die Abschottung ganzer Regionen gegenüber der Konkurrenz umschlagen.

Auch wenn wir uns auf einen solchen Kipppunkt zubewegen, so ist dieser noch nicht erreicht. Diesem Umschlag steht der erreichte Stand der Weltmarktintegration, der Bildung globaler Produktions- und Verwertungsketten, also der Entwicklung der Produktivkräfte entgegen, die bei einer Abschottung vom Weltmarkt und beim Übergang zu einem protektionistischen System vernichtet werden würden. Umgekehrt werden diese inneren Tendenzen der Kapitalakkumulation selbst nicht nur an die inneren Hindernisse von Überakkumulation und fallenden Profitraten stoßen. Auch die nationalstaatliche Verfasstheit des Weltkapitalismus wird sich einmal als Hürde der Entwicklung erweisen.

Das Grundproblem der aktuellen Wirtschaftspolitik aller Großmächte zeigt sich darin, dass sie einerseits auf Momente der Krisenhaftigkeit reagieren und versuchen, ihnen Rechnung zu tragen (z. B. durch vermehrte Staatsintervention), andererseits jedoch nur auf Mittel zu ihrer Lösung zurückgreifen können, die selbst die Konkurrenz und Krisenanfälligkeit verschärfen müssen.

Wirtschaftspolitik und politische Herrschaftsform

Es ist daher kein Zufall, dass die herrschende Klasse – und damit auch ihre Wirtschaftspolitik wie überhaupt ihre längerfristige Strategie – selbst in die Krise geraten sind. Dies drückt sich in inneren Konflikten und Schwankungen aus, wie wir sie nicht zuletzt in den USA beobachten können, wie anhand der Doktrin und Politik eines Trump und Biden ersichtlich wird. Im Grunde lassen sich solche inneren Gegensätze in allen großen imperialistischen Staaten beobachten. Sie spiegeln unterschiedliche Interessen gegensätzlicher Kapitalfraktionen, den Widerspruch zwischen kurzfristigen Profitzielen der Einzelkapitale und einer langfristigen Politik zur Sicherung des Gesamtkapitalinteresses wider.

Niederlagen in den Klassenkämpfen des letzten Jahrzehntes, vor allem des Arabischen Frühlings, aber auch von Syriza in Griechenland hatten eine tiefe, desillusionierende und demoralisierende Auswirkung auf die Massen. Nicht die Linke, sondern die populistische Rechte präsentierte sich in den letzten fünf Jahren immer wieder als pseudoradikale Alternative zur Herrschaft der tradierten „Eliten“.

Die Basis für den Aufstieg des Rechtspopulismus bildeten einerseits das Versagen der reformistischen und gewerkschaftlichen ArbeiterInnenbewegung, eine progressive Antwort auf die Krise des Kapitalismus zu liefern, andererseits die zunehmende reale oder befürchtete Deklassierung des KleinbürgerInnentums, der Mittelschichten, aber auch der ArbeiterInnenaristokratie und der Masse der Lohnabhängigen. Drittens bringen diese rechtspopulistischen Bewegungen um bürgerliche Führungsfiguren wie Trump, Salvini, Modi, Bolsonaro usw. auch den Standpunkt jenes Flügels des Kapitals zum Ausdruck, der die tradierten Herrschaftsformen der westlichen, bürgerlichen Demokratie – und das heißt vor allem die errungenen Stellungen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten – schleifen und durch autoritäre und plebiszitärer Systeme ersetzen will.

Die Abwahl Trumps, die Regierung Biden, aber auch die meisten europäischen Regierungskoalitionen präsentieren sich gegenüber dem Rechtspopulismus als „vernünftige“ bürgerliche Alternativen, die auf Demokratie, einen gewissen sozialen Ausgleich, die Integration der VertreterInnen der ArbeiterInnenklasse und der gesellschaftlichen Unterdrückten setzen. Der Green New Deal bildet deren ideologisches Aushängeschild.

Dabei darf keinesfalls übersehen werden, dass auch die „demokratischen“ ImperialistInnen wie Macron in Frankreich oder die deutsche Regierung einen Kurs des Abbaus demokratischer Rechte, von rassistischen Gesetzgebungen und der Ausweitung der Polizeibefugnisse und des Überwachungsstaates verfolgen. Die Situation an den Flüchtlingslagern an der US-amerikanischen Grenze und die Toten im Mittelmeer verdeutlichen diese Realität des „demokratischen“ Imperialismus.

Umgekehrt stellen bonapartistische, auf eine starke, zentralisierte Führung ausgerichtete Regime wie in Russland oder China auch nur eine sehr begrenzte Antwort auf die Krise bürgerlicher Politik und Herrschaft dar. Sie funktionieren nur so lange, wie sich die bonapartistische Spitze als erfolgreiche Vermittlungsinstanz zwischen verschiedenen sozialen Interessen und Klassenfraktionen erweist. Scheitert diese, so wankt auch die Herrschaft, wie wir am Beispiel Putins sehen können.

Vor allem ändert das jeweilige politische Regime nichts an den grundlegenden Widersprüchen, die es zu bewältigen vorgibt. Die verschärfte globale ökonomische Konkurrenz geht unvermeidlich mit einer politischen Konfrontation zwischen den Großmächten einher – zur Zeit vor allem mit dem Versuch der USA unter Biden, eine globale Allianz gegen China/Russland zu bilden und die westlichen Verbündeten in diese unter ihrer Führung einzugliedern. Damit werden im Grunde zwei Ziele verfolgt. Erstens die Eindämmung Chinas, zweitens die Wiederherstellung und Befestigung der US-Führung gegenüber den anderen westlichen imperialistischen Staaten. Auch wenn alle wie auf dem jüngsten G7-Gipfel die wiedergewonnene Einheit der Werte, die gemeinsamen Interessen und Ziele beschwören, so können diese nicht über handfeste gegensätzliche Interessen z. B. in der Wirtschaftspolitik gegenüber China hinwegtäuschen. Während die USA im Grunde eine stärkere Konfrontation mit Russland sucht, betrachten Deutschland und Frankreich diese Konfrontation auch als Hindernis für ihre eigenen längerfristigen Interessen.

In jedem Fall wird sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt weiter verschärfen – und damit auch Aufrüstung, Interventionen in anderen Ländern sowie Nationalismus und Rassismus zur ideologischen Rechtfertigung dieser Politik vor der eigenen Bevölkerung.

Klassenkampf

Die konjunkturelle Entwicklung wie auch die unterschiedlichen, vorherrschenden Konstellationen bürgerlicher Politik werden jedoch für die nächste Periode wichtige Auswirkungen auf den Klassenkampf in den verschiedenen Ländern zeitigen.

Mit Schlussfolgerungen für den Klassenkampf werden wir uns im 2. Teil des Artikels beschäftigen.




Britannien: Unionismus nach Angriffen nordirischer LoyalistInnen in der Krise

Bernie McAdam, Infomail 1146, 18. April 2021

Seit über einer Woche greifen probritische LoyalistInnen die Polizeikräfte Nordirlands (PSNI) bei Ausschreitungen in Belfast, Derry und anderen Teilen Nordirlands an. Trotz ihrer relativ geringen Anzahl gelang es den Protestierenden, die Molotowcocktails, Ziegelsteine und Feuerwerkskörper einsetzten, über 70 PolizistInnen zu verletzen. Am 7. April versuchten sie in Belfast, am Lanark Way/Springfield Road – Kontrollposten in nationalistische Gebiete einzudringen, wurden aber von mehreren hundert nationalistischen Jugendlichen zurückgeschlagen.

In der folgenden Nacht versammelten sich größere nationalistische Menschenmengen. Um sie zu zerstreuen, setzte die Polizei Wasserwerfer, Plastikgeschosse und Hunde ein, was in deutlichem Kontrast zu ihrem Vorgehen mit Samthandschuhen bei den weitaus gewalttätigeren Ausschreitungen der LoyalistInnen Anfang der Woche steht. Eben dies bot den Medien wiederum die Gelegenheit, zu ihrem alten Narrativ vom „sektiererischen Konflikt“ zurückzukehren. Das Anzünden eines Translink-Busses durch LoyalistInnen wurde am folgenden Tag mit einem Streik und Protest der BusarbeiterInnen in Belfast beantwortet.

Manche mögen es als Ironie empfinden, dass in diesem Jahr die Hundertjahrfeier zur Gründung des nordirischen Staates begangen wird. Andere, NationalistInnen und SozialistInnen, werden sich daran erinnern, dass der Six-County-Statelet (County = Grafschaft) in einer Orgie von Pogromen geboren wurde, bei denen Hunderte katholische ArbeiterInnen, Männer, Frauen und Kinder getötet oder von ihren Arbeitsplätzen und aus brennenden Häusern vertrieben wurden. Und das war bei weitem nicht das letzte Mal, dass Mobs der LoyalistInnen Amok liefen.

Das reaktionäre Lager

Jetzt gehen die entschlossensten AnhängerInnen des Loyalismus auf die VerteidigerInnen „ihres eigenen Staates“ los. Die LoyalistInnen, die fanatisch für den Brexit waren, begründen ihre Proteste damit, dass das Nordirland-Protokoll, also die Vereinbarung mit der EU über die Wirtschaftsgrenze entlang der Irischen See, ein „Verrat“ sei und dies in ihren Augen ein vereintes Irland immer näher kommen lasse.

Die Democratic Unionist Party (DUP) unter Arlene Foster – wichtigste unionistische Akteurin im Norden und ebenfalls pro-Brexit – schürt diese Ängste. Zwei Jahre lang konnte sie die britische Tory-Minderheitsregierung von Theresa May in Sachen Brexit in Schach halten, aber Boris Johnsons erdrutschartiger Sieg im Dezember 2019 gab ihm die Möglichkeit, einen Deal mit der EU auf Kosten der UnionistInnen auszuhandeln. Infolgedessen wird die DUP von Jim Allisters Traditional Unionist Voice (Traditionelle Unionistische Stimme) und dem Loyalist Communities Council (LCC = Loyalistischer Gemeinderat) als von Johnson über den Tisch gezogen betrachtet – und damit für einen gigantischen „Ausverkauf“ verantwortlich gemacht.

Obwohl der britische Premierminister Johnson als ausgesprochener Lügner bekannt ist, glaubten ihm die unglückliche Arlene Foster und die DUP im letzten August, als er sagte: „Es wird keine Grenze an der Irischen See geben, nur über meine Leiche!“

Das LCC umfasst die paramilitärischen Gruppen Ulster Defence Association (UDA), Ulster Volunteer Force (UVF) und Red Hand Commando – allesamt berüchtigt für Morde an KatholikInnen und ihre Verwicklung in verfeindete Drogenbanden. Das hat die DUP aber nicht davon abgehalten, sich kürzlich mit ihnen zu treffen und sie für ihre eigene Agenda zu benutzen. Wie schon 2012, als die DUP eine Kampagne lostrat, um den Stadtrat von Belfast davon abzuhalten, das Hissen der Unionsflagge von jedem Tag auf 18 Tage im Jahr zu reduzieren, peitschte auch diesmal ihre Kampagne die LoyalistInnen auf den Straßen auf und endete unweigerlich mit großen Krawallen.

Das LCC/DUP-Treffen war es, dass die Aktionen gegen das Nordirland-Protokoll geplant hatte: Die Schließung von Hafenbüros wurde von der DUP organisiert, und ihr Landwirtschaftsminister, Gordon Lyons, stoppte die Arbeit an neuen permanenten Grenzkontrollposten. Sammy Wilson, DUP-Abgeordneter, sagte, er werde sich dem Protokoll „mit allen Mitteln, die wir haben“ widersetzen, und das schließe „Guerillakrieg“ ein. Er behauptete später, dass dies nur metaphorisch gemeint war, aber es passt allzu gut in die nicht so verschlüsselten Botschaften, die sie typischerweise an die loyalistischen Mobs und Paramilitärs aussenden, um danach zu handeln. Trotzdem wurde Wilsons Büro mit „Verräter“ beschmiert, was einer von mehreren hundert Vorfällen krimineller Beschädigung und Graffiti gegen das Protokoll seit Januar war, inklusive Angriffen auf Büros der Sinn Fein und der Allianz-Partei Nordirlands.

Die DUP wird insbesondere von zwei Kräften unter Druck gesetzt: der loyalistischen Rechten, aber auch durch die EU-freundlichen liberalen UnionistInnen der Allianz-Partei. Die LCC drohte bei ihrem Treffen mit der DUP, dass sie die nordirische Parlamentsversammlung im Stormont zusammenbrechen lassen und sich aus dem Karfreitagsabkommen zurückziehen würde, wenn das Protokoll nicht abgeschafft werde. Die DUP leugnete hernach, dies diskutiert zu haben, aber natürlich ist das eine Option, die sie in Betracht gezogen haben, für den Fall, dass alles andere fehlschlägt.

Zur Wiederherstellung ihrer Glaubwürdigkeit forderte Arlene Foster (DUP) dann den Rücktritt des Polizeipräsidenten der Provinzen, Simon Byrne. Der Vorwand dafür war, dass die Polizeikräfte Nordirlands die FührerInnen der Sinn Fein nicht strafrechtlich verfolgt hatten, obwohl sie an der 2.000 Menschen großen Trauerfeier des ranghohen Republikaners Bobby Storey teilgenommen und dabei die Corona-Beschränkungen missachtet hatten. Dies war dann auch wirklich der Funke, der die Lunte entzündete und die Ausschreitungen der LoyalistInnen gegenüber der Polizei entfachte. Natürlich wird sich die  DUP –  wie immer  – von der eigentlichen Gewalt distanzieren und sie sogar verurteilen, aber die Krawalle der letzten Woche trägt doch unübersehbar ihre Handschrift.

Verteidigung

Trotz der stürmischen Verurteilung der loyalistischen Attacken auf die Polizei – ironischer Weise leugnete sogar die LCC eine Beteiligung – sind weitere Straßenkämpfe erwartbar. LoyalistInnen hatten bereits angekündigt, dass weitere Proteste an mehreren Kontrollposten stattfinden würden, um Auseinandersetzungen mit NationalistInnen zu provozieren. Sollte  sich dies bewahrheiten ist es natürlich wünschenswert, dass sich die nationalistischen Jugendliche nicht dazu hinreißen lassen in die loyalistische Falle zu tappen.

Die Logik der loyalistischen Mobilisierungen war schon immer, nationalistische Gebiete für Einschüchterungen und Terrorismus ins Visier zu nehmen, die Frage der Verteidigung ist daher entscheidend. Das NationalistInnen sind nicht nur an randalierende Mobs von Seiten der LoyalistInnen gewöhnt, sondern auch daran, Angriffen von Polizei und Armee ausgesetzt zu sein. Sie haben gelernt, sich zu verteidigen und sich nicht auf den Schutz des Staates zu verlassen. Während die „Paradesaison“ näher rückt, die Zeit von April bis August, in der NationalistInnen und KatholikInnen zum Ziel hässlicher und aggressiver Demonstrationen protestantischer AnhängerInnen werden, haben die LoyalistInnen bereits angekündigt, dass sie sich nicht an die Anordnungen der Paradekommission halten werden, welche die Aufmarschrouten eingeschränkt hat.

Eine Gemeindegruppe, die bereits Erfahrung mit der Verteidigung ihres Gebiets gegen Aufmärsche des protestantischen Oranier-Ordens hat, ist das Greater Ardoyne Residents Collective (GARC = EinwohnerInnenkollektiv der Greater Ardoyne-Region). Es wurde über die Konfrontationspläne der LoyalistInnen informiert. Sein Ratschlag konzentrierte sich vor allem darauf Eltern aufzufordern ihre Kinder von Brennpunkten fernzuhalten, aber es war sich  auch klar über die Notwendigkeit zur Verteidigung: „Wie immer haben die BewohnerInnen das Recht, ihre Häuser gegen Angriffe zu verteidigen, und das GARC unterstützt diese Verteidigung voll und ganz, sollte sie notwendig sein.“

Es wird berichtet, dass GemeindearbeiterInnen, politische AktivistInnen und Jugendorganisationen eine entscheidende Rolle bei der „Entschärfung“ von Konfrontationen mit LoyalistInnen gespielt haben. Dies mag zwar dazu beigetragen haben, die Spannungen in einigen Gebieten zu verringern, ist aber an sich kein Ersatz für organisierte Verteidigungstrupps, welche Übergriffe abwehren und die Militanz der Jugend auf disziplinierte Weise nutzen können. Andere politische AktivistInnen vor Ort wiederum, etwa Sinn Fein und die SDLP (Sozialdemokratische und Labour-Partei), verlassen sich auf die Polizeibehörden und würden wohl jede Form der Selbstverteidigung vereiteln. Nicht ganz unähnlich ist die Gruppe People before Profit (Menschen vor Profite), die lieber die Straßen freihalten würde, anstatt eine sinnvolle Verteidigung zu organisieren.

Die Reaktion der nationalistischen Jugend auf den Übergriff am Lanark Way war lobenswert und keine sektiererische. Die Frage der Verteidigung könnte in den kommenden Monaten durchaus noch drängender werden. Die Wiederauferstehung der BürgerInnenverteidigungskomitees, die gegen die Pogrome der LoyalistInnen in den späten 1960er Jahren organisiert wurden, wäre eine willkommene Entwicklung, und solche Verteidigungsgremien sollten demokratisch organisiert und politisch unabhängig vom Staat sein.

Die Geburt des Oranier-Staates

Einmal verglich Boris Johnson die Grenze durch Irland mit den Grenzen der Londoner Verkehrstarifzone und demonstrierte damit die Ignoranz und Verachtung, die das irische Volk von britischen PolitikerInnen zu erwarten hat. Die sogenannte „irische Grenze“ ist ein Problem, das Britannien Irland auferlegt hat. Es ist eine britische Grenze. Sie hatte nie eine demokratische Legitimation durch das irische Volk als Ganzes. Der überwältigende Sieg von Sinn Fein bei den Parlamentswahlen 1918 war der Wunsch nach einer vereinigten und souveränen irischen Republik.

Die BritInnen wollten dies nicht akzeptieren und so kam es zu einem Guerillakrieg für die Unabhängigkeit, der 1921 mit der Unterzeichnung eines Vertrages endete, der die RepublikanerInnen spaltete und wiederum zu einem Bürgerkrieg führte. Jenes „Abkommen“ blieb weit hinter einer unabhängigen Republik mit 32 Countys zurück, es führte zur Schaffung eines kolonialen „Nordirlands“ mit sechs Countys und einer durch die entsprechende Wahlkreisfestlegung begünstigten protestantisch-unionistischen Mehrheit einerseits und eines irischen Freistaats mit 26 Countys andererseits. Die „Selbstverwaltung“ (engl. „Home-Rule“) geht also mit einem britischen Abhängigkeitsstatus und einem Eid auf die Krone einher. Beide Staaten waren reaktionär und konfessionell, und beide fühlten sich dem britischen Empire verpflichtet.

James Connolly, der große irische Sozialist, der 1916 von den Briten ermordet wurde, schrieb, dass die Teilung einen Karneval der Reaktion sowohl im Norden als auch im Süden bedeute, das Rad des Fortschritts zurückdrehe, die sich anbahnende Einheit der irischen ArbeiterInnenbewegung zerstören und alle fortschrittlichen Bewegungen lähmen würde, solange sie andauert.

Er hatte Recht. Die Grenze störte und hemmte das wirtschaftliche Leben der gesamten Insel. In den Grenzgebietsgemeinden wurden Familien und Bauernhöfe auseinandergerissen, und sie gehören noch heute zu den verarmtesten Teilen Irlands. Der Oranier-Staat förderte die systematische Diskriminierung von KatholikInnen in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Bildung und sogar beim Wahlrecht und verfügte über ein Sonderermächtigungsgesetz, um das ihn das südafrikanische Apartheidsystem beneidet hat. Er degradierte die katholischen BewohnerInnen zu BürgerInnen zweiter Klasse, was zu einem 30-jährigen Widerstandskrieg gegen den sektiererischen Staat und seine britisch-militärischen UnterstützerInnen führte, der 1968 durch die BürgerInnenrechtsbewegung eröffnet wurde.

Im Freistaat, der Rumpfrepublik Irland sorgte die Teilung im Bildungs-, Kultur- und Gesundheitswesen wiederum für enorme Machtbefugnisse auf Seiten der katholischen Kirche, worunter Frauen und Kinder jahrzehntelang zu leiden hatten.

Zuguterletzt war es dem britischen Imperialismus durch den Konflikt möglich, die ArbeiterInnenklasse in Nordirland auf der Grundlage marginaler Privilegien für protestantische ArbeiterInnen und einer Überlegenheitsideologie, die sowohl anti-katholisch als auch anti-irisch war, effektiv zu spalten und zu beherrschen. Das heutige Beharren darauf, dass die Oranier-Märsche durch die katholischen Gebiete gehen dürfen, ist eine direkte Folge jenes reaktionären Imperialismus und nicht weniger erklärt es die jüngste ethnische Säuberungsaktion der Ulster Volunteer Force (UVF), die die Entfernung katholischer Familien von einem Landgut in Carrickfergus anordnete.

Karfreitagsabkommen und Brexit

Als 1998 der Frieden durch das Karfreitagsabkommen besiegelt wurde, erschien es Einigen, als würde Oranier-Staat verschwinden. Die Machtteilung zwischen allen großen Parteien war eine Reform, die sich von der historischen Führung des Nordens durch die UnionistInnen unterschied. Viele in der DUP haben dies nie wirklich akzeptiert. Einige der krassesten Diskriminierungen waren seit 1968 abgeschwächt worden und sogar einige Oranier-Märsche waren umgeleitet worden. Das aber lag nicht an dem Friedensabkommen, sondern an den Massenkämpfen der KatholikInnen über dreißig Jahre hinweg, einschließlich des bewaffneten Kampfes der IRA (Irische Republikanische Armee) von den ’70ern bis in die 1990er Jahre.

Der Oranier-Staat war jedoch nicht zerschlagen worden, und, was entscheidend war, das Karfreitagsabkommen erkannte das Recht des Nordstaates an, so lange zu existieren, wie die dortige Mehrheit es wollte – ein großes Zugeständnis seitens der Republikanischen Bewegung. Denn, es verurteilt die Minderheit und ihre politischen VertreterInnen zu einer permanenten untergeordneten Rolle und sicherte das Veto der UnionistInnen gegen ein vereinigtes Irland ab. Somit verweigert das Abkommen dem irischen Volk als Ganzes das Recht selbst über die Zukunft der sechs nördlichen Countys zu bestimmen.

Die daraus resultierende Exekutive mit geteilter Macht stützte sich auf eine gewählte und dezentralisierte Versammlung mit sektiererischer Sitzverteilung im Stormont-Parlament, von der die UnterstützerInnen des Karfreitagsabkommens in beiden irischen Teilen profitierten. In Übereinstimmung mit ihrer arbeiterInnenfeindlichen Natur hat sie treu die Sparmaßnahmen der britischen Regierung umgesetzt. Das Sektierertum hat seit dem Karfreitagsabkommen nicht abgenommen. Der Teilstaat und die „Friedensmauern“ bleiben bestehen, und es hat keine „Friedensdividende“ für die ArbeiterInnenklasse gegeben.

Und trotzdem schwören alle blind auf das Karfreitagsabkommen. Von Joe Biden bis Tony Blair, von Sinn Fein bis zu den Tories, von der DUP (zähneknirschend) bis zur EU wird es uns als der Deal präsentiert, an dem in keiner neuen Vereinbarung mit der EU nach dem Brexit gerüttelt werden darf. Seit dem Karfreitagsabkommen, bei dem das Veto der UnionistInnen gegen ein vereinigtes Irland gesichert war, haben der britische und irische Kapitalismus mit Hilfe der EU für eine „unsichtbare“ Grenze gesorgt, um reibungslose und profitable Geschäfte zu ermöglichen. Der Brexit wird diesen Handel immer stören, aber der Brexit wurde ja auch nicht mit Blick auf Irland konzipiert.

Was heute bleibt ist die Erkenntnis, dass die Mitgliedschaft in der EU offenbarte wie sinnlos eine Grenze auf der irischen Insel ist. Der Brexit hat nun – ganz ungewollt – die Grenze zurück in die irische Politik gebracht. Er schlägt das nächste Kapitel des „Karnevals der Reaktion“ auf, vor dem internationalistische SozialistInnen während des Brexit-Referendums und in den Jahren der Verhandlung gewarnt haben. Es ist die Ironie der Geschichte: Das aufflammende Interesse an einem vereinten Irland war es nicht gewesen, was die fanatischen Brexit-BefürworterInnen der DUP mit ihren Tory/UKIP-Verbündeten erreichen wollten, als sie ihre Brexit-Kampagne vorantrieben.

Das Dilemma für die Tories besteht nun darin, dass sie entweder einen Brexit mit einer Grenze in der Irischen See oder einen Brexit mit einer harten Landgrenze quer durch Irland bekommen. Ersteres wird die LoyalistInnen verärgern, letzteres Biden, die EU und die irische Regierung. Bisher hat Johnson auf den erstgenannten Plan gesetzt, und die Reaktion darauf spielt sich jetzt auf den Straßen ab. Aber die LoyalistInnen sind nicht loyal zum britischen Staat oder zu Westminster, geschweige denn zu einer Tory-Regierung. Sie sind nur sich selbst gegenüber „loyal“, ihren schwindenden Privilegien, ihrer Vorherrschaft über die katholische Minderheit. Zweifellos werden das „Vereinigte Königreich“ und die EU versuchen einen kosmetischen Deal zusammenzuschustern um die Auswirkungen des Nordirland-Protokolls abzufedern, da jede Rückkehr einer harten Landgrenze noch explosiver wäre.

Die Tories müssen ihre Pläne der DUP schmackhaft machen und die DUP den LoyalistInnen  – jedoch haben letztere dem Protokoll bereits die Unterstützung entzogen. Es liegt eine ungewisse Zukunft vor uns, und das nächste Opfer könnte das Karfreitagsabkommen sein samt Zusammenbruchs seiner Versammlung/Exekutive, welche erst kürzlich nach dreijähriger Aussetzung 2020 wieder einberufen wurde.

Labour

Der neue Vorsitzende Keir Starmer von der Labour-Partei kann die Gewalt nur einschmeichelnd verurteilen und Johnson auffordern, „vorwärtszugehen“ und parteiübergreifende Gespräche einzuberufen. Unterm Strich verteidigt Labour das Karfreitagsabkommen genauso wie es Jeremy Corbyns (Starmers Vorgänger) törichter Optimismus tat. Doch das Abkommen hat weder den sektiererischen Charakter des Staates verändert noch die Vormacht der UnionistInnen in Frage gestellt. Corbyn erklärte zwar, dass sein ultimatives Ziel ein vereinigtes Irland wäre, aber eben dies wurde durch das Karfreitagsabkommen mit Absicherung des unionistischen Vetos über ein vereinigtes Irland eingeschränkt.

Die Labour-Linke scheint weitgehend zu den Gewalttaten der LoyalistInnen zu schweigen und setzt damit das traditionelle Schweigen über Großbritanniens Besetzung des Nordirlands fort. Echte SozialistInnen und InternationalistInnen müssten ihren Mund auf machen und sagen: Es ist Zeit, dass die Grenze verschwindet! In der Tat sind wir ebenso gegen eine Wirtschaftsgrenze in der Irischen See, die wirtschaftlichen Niedergang, Arbeitsplatzverluste und Hindernisse für die Freizügigkeit der ArbeiterInnen bedeuten würde.

Die UnionistInnen, eine Minderheit sowohl in Irland als auch in Großbritannien, sollten kein Veto über irgendetwas haben, sei es Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe, den Brexit oder die Grenze selbst. Das irische Volk auf der Insel Irland muss entscheiden und die britischen Streitkräfte sollten sofort aus dem Norden abgezogen werden. Wie mies ihre Bilanz in Sachen Irland auch sein mag, Labour sollte jetzt das Richtige für die IrInnen tun und ein für alle Mal mit ihrer pro-imperialistischen und überparteilichen Politik brechen!

Für eine ArbeiterInnenrepublik

Nach einem Jahrhundert der Unterdrückung und Repression taumelt Großbritanniens oranger Gefängnisstaat weiterhin von einer Krise zur nächsten. Der britische Imperialismus ist für dieses kleine Monster genauso verantwortlich wie für die Spaltung der ArbeiterInnenklasse im Norden. Angesichts der drohenden wirtschaftlichen Verwüstung durch den Brexit und die Pandemie sieht die ArbeiterInnenklasse auf beiden Seiten der „Friedensmauern“ einer Zukunft von Not und Arbeitslosigkeit entgegen.

Natürlich ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Einheit der ArbeiterInnenklasse um ein kämpferisches Aktionsprogramm geschmiedet wird, damit Lebensstandard und Arbeitsplätze verteidigt werden können. Es gibt viel mehr Einigendes als Trennendes für die ArbeiterInnen. Gegen jeden Arbeitsplatzverlust und jede Kürzung muss mit Solidaritätsaktionen Widerstand geleistet werden, und die Gewerkschaften müssen von der Basis aufgerüttelt werden, ihre FührerInnen müssen durch demokratische Versammlungen am Arbeitsplatz zur Verantwortung gezogen werden. Aktionen der ArbeiterInnenklasse sind der Schlüssel zum Widerstand gegen die Angriffe, die von jeder DUP/Sinn Fein-Exekutive auf Befehl aus Westminster kommen werden.

Das Erbe des britischen Imperialismus in Irland zeigt, dass die Einheit der ArbeiterInnenklasse nicht allein durch gemeinsame wirtschaftliche Interessen gefördert werden kann. Klassenbewusstsein entspringt nicht spontan oder automatisch aus wirtschaftlichem Kampf. Es ist unaufrichtig zu glauben, dass die Ignoranz gegenüber  Diskriminierung und nationaler Unterdrückung es leichter machen wird, ArbeiterInnen zu vereinen. Die pro-imperialistische Ideologie der protestantischen ArbeiterInnen ist ein Hindernis für den Klassenkampfes und eine mächtige Waffe in den Händen der reaktionären LoyalistInnen.

Es gibt ein tiefes Unbehagen innerhalb der protestantischen und unionistischen Gemeinschaft, da sie spürt, dass ihr die Mehrheit entgleitet und sie verteufelt wird. Sie fürchtet, dass sie ihre britische Identität in einem vereinigten Irland verlieren wird. Wir müssen ihr klar machen, dass die britische Regierung, wenn sie es will, genau so auf sie einschlagen wird, wie sie es mit der nationalistischen Gemeinschaft getan hat. Wenn ihre sogenannten besten Verbündeten sich nicht um sie kümmern, dann ist es an der Zeit, neu über ihre wahren Klasseninteressen nachzudenken.

In der Tat, im Kampf um ihre wirtschaftlichen Interessen können wir von den kapitalistischen Regierungen im Norden und Süden die gleichen Angriffe erwarten. Deshalb brauchen wir eine Einigkeit über die konfessionelle Kluft hinweg, um uns so besser gegen die Bosse organisieren zu können. Wir teilen das Los mit den ArbeiterInnen in ganz Irland und Britannien. Es braucht den Kampf für eine Gesellschaft, die der ArbeiterInnenklasse gehört und von ihr kontrolliert wird. Es braucht eine irische ArbeiterInnenrepublik als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.




USA: Die Wurzeln des grassierenden antiasiatischen Hass

Benji Weiss, Workers Power USA, Infomail 1144, 31. März 2021

In dem Jahr seit der Ermordung von George Floyd trat einmal mehr die harte Realität des Rassismus zutage, den AfroamerikanerInnen 150 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei und ein halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtsbewegung immer noch erleben.

Auch Trumps Unterstützung durch und Billigung von weißen RassistInnen, seine Beschimpfung derjenigen, die Grenzen im Süden der USA überqueren wollen, und der sogenannten Illegalen als „krankheitsübertragende Kriminelle“ unterstrichen die Tatsache, dass auch viele andere Gemeinschaften heute Zielscheibe von Rassismus sind.

Gewalt bis zum Mord

Eine Serie von Schießereien in drei Massagesalons und Kurbädern in Atlanta, Georgia, am 16. März, lenkte die Aufmerksamkeit auf die rassistische Gewalt gegen Menschen asiatischer Herkunft. Sechs der 8 Opfer waren Migrantinnen aus diesem Kontinent. Dies wiederum unterstrich die Tatsache, dass verbale Beschimpfungen und körperliche Angriffe, die manchmal sogar in Mord gipfeln, eine allzu regelmäßige Erfahrung für AmerikanerInnen chinesischer, koreanischer, philippinischer, japanischer, vietnamesischer und anderer asiatisch-pazifischer Herkunft sind.

Die Tragödie von Atlanta hat eine landesweite Debatte ausgelöst, der sich der Staat und die Medien nicht entziehen können. Im Januar wurde der 84-jährige Vicha Ratanapakdee, thailändischer Herkunft, bei seinem Morgenspaziergang in San Francisco zu Boden gestoßen; zwei Tage nach dem Überfall starb er. In New York City wurde einem 61-jährigen Mann , der von Philippinen stammte, mit einem Paketmesser das Gesicht aufgeschlitzt, während in Oakland, Kalifornien, ein 91-jähriger Mann zu Boden geworfen wurde. In diesem Jahr wurden dort bereits 20 solcher gewalttätigen Angriffe gemeldet.

Ein Anfang des Monats veröffentlichter Bericht des „California State University’s San Bernadino Center for the Study of Hate and Extremism“, einem Institut für Studien zu Hass und Extremismus, verweist auf einen 150-prozentigen Anstieg antiasiatischer Hassverbrechen in den größten Städten Amerikas im Verlauf der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020.

Laut dem Bericht sind nicht nur diese Fälle um 150 Prozent gestiegen, von 49 im Jahr 2019 auf 120 im Jahr 2020, sondern dies geschah, während die Hassverbrechen insgesamt um 6 Prozent zurückgingen, von 1.877 im Jahr 2019 auf 1.773 im Jahr 2020. Ein Bericht der politischen Gruppe „Stop AAPI Hate“ (Stopp dem Hass gegen asiatische AmerikanerInnen und Leute von den pazifischen Inseln) katalogisierte außerdem rund 3.800 rassistische Vorfälle, die sich gegen asiatische Menschen in den USA richteten, darunter auch schwere Verbrechen.

Antichinesische Hetze

Dieser rasante Anstieg hängt eindeutig damit zusammen, dass Donald Trump die Tatsache aufgriff, dass die weltweite Pandemie in Wuhan begann, um auf Fox News zu behaupten, dass das Virus im Institut für Virologie in dieser Stadt begann und dass die Weltgesundheitsorganisation dies vertuscht habe, weil China sie irgendwie in der Tasche habe. Von da an nannte Trump Covid-19 regelmäßig „chinesische Grippe“ oder „das chinesische Virus“. QAnon und andere VerbreiterInnen wirrer Verschwörungstheorien behaupteten, es handele sich tatsächlich um einen chinesischen Bazillus der biologischen Kriegsführung, der die US-Wirtschaft absichtlich zu Fall bringen solle. All dies half bequem, um die eigene unverantwortliche Weigerung der Regierung zu vertuschen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, was dazu führte, dass die USA den schlimmsten Ausbruch der Welt verzeichneten.

Damit verbunden ist die sowohl von offen reaktionären als auch von vermeintlich „progressiven“ Elementen der herrschenden Mächte verbreitete Darstellung, dass China eine Bedrohung für „unsere Lebensweise“ darstellt. Es ist viel über Chinas Aggression gegenüber Taiwan und im Südchinesischen Meer gesagt worden. Es wurde viel über die Verfolgung der UigurInnen, der TibeterInnen und derjenigen, die für demokratische Rechte in Hongkong kämpfen, gesagt. Natürlich sind diese Anschuldigungen wahr, aber wenn sie von einer Regierung und den einflussreichen Medien kommen, die ebenso schändliche Verbrechen vertuschen, die von Amerikas eigenen Verbündeten begangen werden, ist das einfach die reinste Heuchelei.

Um nur einige Beispiele zu nennen, gibt es den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, der einen völkermörderischen Krieg im Jemen führt, oder Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi, der 70.000 – 100.000 politische Gefangene in seinen Gefängnissen gefangen hält. Trotz dieser Verbrechen unterzeichneten die USA 2017 einen 110-Milliarden-Dollar-Deal für Waffenlieferungen an die Saudis und schicken jährlich etwa 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe nach Ägypten.

Dann ist da noch Amerikas engster Verbündeter, Israel, mit seiner unerbittlichen Verfolgung der PalästinenserInnen, die zum Teil von den USA finanziert wird. Washington könnte all diese Barbarei stoppen, indem es den Hahn der militärischen und wirtschaftlichen Hilfe und Investitionen zudreht, aber es tut es nicht. Warum nicht? Weil keine imperialistische Macht sich von den Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte leiten lässt oder jemals ließ, sondern ihre eigene Ausbeutung anderer Völker auf der ganzen Welt mit allen Mitteln verteidigt und ausweitet.

In der Tat war der Rassismus untrennbar mit dem Kapitalismus seit seiner frühesten Phase verbunden, als Millionen von AfrikanerInnen als SklavInnen nach Amerika transportiert wurden und der europäische Kolonialismus einen großen Teil der indigenen Völker von Gebieten auf der ganzen Welt auslöschte. Auch im industriellen Kapitalismus wurde er eine riesige Anzahl von chinesischen KontraktarbeiterInnen verwendet, um seine Eisenbahnen und Kanäle zu bauen. Er rechtfertigte diese verschiedenen Formen der Superausbeutung und Zwangsarbeit mit der Behauptung, dass seine Opfer von Natur aus unzivilisiert seien, in der Tat, weniger als gleichwertige menschliche Wesen. Ja, die Nazis hatten VorgängerInnen in den sogenannten demokratischen Nationen.

Imperialistische Rivalität und Rassismus

Jahrzehntelang war die amerikanische Bourgeoisie glücklich, hochprofitable Geschäfte mit China zu machen, da sie es als einen Markt für US-Produkte sah, einen Ort, an den sie die Produktion ihrer Konzerne auslagern konnte, während sie gleichzeitig die Restauration des Kapitalismus als Beweis für ihre globale Überlegenheit bejubelte. Warum also die zunehmende Hysterie und Feindseligkeit gegenüber China im letzten Jahrzehnt, beginnend mit Obamas militärischer Schwerpunktorientierung nach Asien, über Trumps Handelskrieg bis hin zu Bidens Menschenrechtskreuzzug?

All dies hat wenig oder nichts mit den sehr realen Verfehlungen der chinesischen Regierung zu tun. Vielmehr geht es darum, die imperialen Interessen der USA zu schützen und auszuweiten, die Dominanz der amerikanischen multinationalen Konzerne gegen die aufstrebende Wirtschaftsmacht China zu schützen. Die einzigen, die von der Verschärfung dieses Konflikts profitieren, der jetzt nicht mehr nur eine Frage des Handels ist, sondern einen militärischen Aspekt annimmt, sind Amerikas KapitalistInnen.

Wenn die USA die Leiden der UigurInnen oder die Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong anprangern oder die wachsende chinesischen Wirtschaftskraft in der sog. Dritten Welt „entdecken“, so werden diese nur als propagandistische Werkzeuge benutzt, um die eigene wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft der USA in der Welt aufrechtzuerhalten. Solche Propaganda hilft dem berechtigten Widerstand gegen Xi Jinpings Verbrechen wenig bis gar nicht.

US-KommentatorInen und -PolitikerInnen haben den wachsenden Einfluss Chinas als Großinvestor im globalen Süden, insbesondere in Afrika, hervorgehoben, manche nennen dies sogar Imperialismus. Damit haben sie Recht. Was wir sehen, ist in der Tat die Entwicklung eines neuen Rivalen zum US-Imperialismus. Dass sich die USA darüber beschweren, ist angesichts der Rolle, die sie den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts über gespielt haben, in der Tat dreist.

Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die USA zusammen mit Britannien, Japan und Frankreich, China zu zerschlagen. Dann blockierten sie nach der Revolution von 1949 die Volksrepublik und stärkten später effektiv Mao Zedongs stalinistisches Regime. Nachdem sich dieses Regime mit dem Tiananmen-Massaker und der Restauration des Kapitalismus vor dem Zorn des eigenen Volkes gerettet hatte, pumpten US-Konzerne Milliarden hinein, um die neuen Profitmöglichkeiten zu nutzen. Was sie jetzt ablehnen und hassen, sind nicht die Verbrechen von Xi Jinping, sondern die aufsteigende Macht und Rivalität des chinesischen Imperialismus.

Xi Jinping stellt keine größere Bedrohung für die amerikanische ArbeiterInnenklasse dar als „unsere eigene“ Regierung und die großen Konzerne, ja sogar weniger. Indem sie den Hass auf das Fremde im Ausland und auf die Menschen asiatischer Herkunft zu Hause schüren, wollen unsere Bosse, dass die arbeitenden Menschen ihnen die Lüge abkaufen, dass die USA eine gutartigere, demokratischere Form der Unterdrückung und des Imperialismus sind, nur weil sie im eigenen Land gewachsen ist. Das treibt die Menschen nur dazu, ihre eigene Unterdrückung zu verstärken, indem sie Menschen hassen, die nur oberflächlich anders sind als sie selbst und dabei ihre/n wahre/n FeindIn nicht erkennen. Aber, wie Karl Liebknecht 1914 in berühmten Worten sagte: „Der Hauptfeind steht in unserem eigenen Land.“

Wurzeln des antiasiatischen Rassismus

Der Rassismus gegen asiatische AmerikanerInnen hat tiefe Wurzeln. Chinesische ArbeitsmigrantInnen kamen in den späten 1840er Jahren in die Goldminen und spielten dann in den 1850er Jahren eine große Rolle beim Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien. Teile der weißen ArbeiterInnenschaft, die selbst erst kürzlich vor der Unterdrückung in Europa eingewandert waren, wurden aufgepeitscht und forderten, dass die „Coolies“ (TagelöhnerInnen) ausgeschlossen oder zurück in ihre Heimat geschickt werden sollten. In Kalifornien entschied der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates, dass ChinesInnen nicht vor Gericht aussagen durften, weil sie „eine Rasse von Menschen sind, die von der Natur als minderwertig gezeichnet wurde und die unfähig zu Fortschritt oder intellektueller Entwicklung sind.“

In den Jahren 1875 und 1882 wurden antichinesische Einwanderungsgesetze erlassen, die bis 1942 in Kraft blieben, als das nationalistische China ein Verbündeter der USA gegen Japan war. Zur gleichen Zeit wurden 120.000 japanische AmerikanerInnen, 62 Prozent von ihnen vollwertige US-StaatsbürgerInnen, für die Dauer des Krieges in unwirtlichen Wüstenlagern interniert. In den 1890er Jahren wurde eine heftige sinophobe Kampagne rund um die Idee der „gelben Gefahr“ aufgepeitscht. Ihr Ursprung lag im zaristischen Russland, von wo aus sie schnell vom kaiserlichen Deutschland aufgegriffen und dann in die „Great Republic“ (Großartige Republik) exportiert wurde. Hier wurde sie nicht nur von nativistischen (Nativismus: Lehre von den unveränderlichen Erbanlagen; die Red.) und Jim-Crow-ReaktionärInnen (Jim Crow: segregationistische Rassengesetzgebung in den US-Südstaaten; die Red.), sondern auch von Teilen der ArbeiterInnenbewegung eifrig aufgenommen. Sie ist ein wahrer geborener Zwilling des Antisemitismus.

Einige GewerkschafterInnen, vor allem in den FacharbeiterInnengewerkschaften, die bereits versucht hatten, irische EinwanderInnen und dann schwarze ArbeiterInnen auszuschließen, argumentierten, dass chinesische ArbeiterInnen „unfähig seien, sich zu organisieren“. Samuel Gompers, der berüchtigte antimarxistische Führer der American Federation of Labour, schrieb 1902 ein Pamphlet mit dem Titel „Meat vs. Rice. American Manhood versus Asiatic Coolieism: Which shall Survive?“ („Fleisch gegen Reis. Amerikanische Mannhaftigkeit gegen asiatisches Kulidasein: Was wird überleben?“) Die Bilanz der 1901 gegründeten Socialist Party of America war jedoch nicht viel besser. Sie war „farbenblind“ gegenüber dem Rassismus gegen schwarze ArbeiterInnen, ignorierte Jim Crow im Süden und prangerte die Ankunft von eingewanderten ArbeiterInnen aus China oder Japan an.

Als die Zweite Internationale auf ihren Konferenzen in Amsterdam (1904) und Stuttgart (1907) Einwanderungskontrollen verurteilte, wurde dies von einer Mehrheit der US-Delegierten entschieden abgelehnt, insbesondere von einem der wichtigsten Führer der Partei, Morris Hilquit. Er schloss sich den holländischen und australischen Delegierten an und unterstützte eine Resolution, die sich gegen die Einreise von ArbeiterInnen aus „rückständigen Rassen“, also ChinesInnen und JapanerInnen, in die USA und nach Europa aussprach. Victor L. Berger, ein weiterer führender Sozialist und selbst ein österreichisch-jüdischer Einwanderer, forderte, dass die USA „ein Land des weißen Mannes“ bleiben müssten.

Sogar ein prominenter Marxist aus der Zeit vor 1914, Gerhard Ernest Untermann Sr., der Übersetzer der drei Bände von Marx‘ Kapital, war ein unverhohlener weißer Rassist und sagte: „Ich bin entschlossen, dass meine Rasse in diesem Land und in der Welt die Oberhand haben soll.“ Es bedurfte eines harten Kampfes, zuerst von den revolutionären SyndikalistInnen der IWW (Industriearbeiterinnen der Welt), dann von den US-KommunistInnen in den 1920er Jahren und den TrotzkistInnen in den 1930er Jahren, um den Rassismus gegen Schwarz und AsiatInnen unter Teilen der weißen ArbeiterInnen zu bekämpfen. Das ist ein Kampf, den wir heute wieder führen müssen.

Den antirassistischen Kampf und den Kampf der ArbeiterInnenklasse vereinen

Glücklicherweise hat die „Black Lives Matter“-Bewegung jedoch bereits eine große Anzahl weißer AntirassistInnen, insbesondere junge Menschen, Frauen und die anschwellenden Reihen der Democratic Socialists in antirassistische Mobilisierungen einbezogen.

Als KommunistInnen müssen wir für den Schutz der demokratischen Rechte aller unterdrückten Menschen kämpfen: von Frauen, vo rassistisch, national und ethnisch Unterdrückten, ImmigrantInnen und LGBTQI+-Menschen. Wir müssen gegen die reaktionären, nativistischen und anderweitig chauvinistischen Elemente kämpfen, die zeitweise die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen durchdrungen haben, und die Kämpfe der asiatischen sowie aller unterdrückten ethnischen und nationalen Gruppen gegen rassistische Angriffe und Diskriminierung unterstützen.

Am 21. März fand in Birmingham eine Kundgebung mit dem Slogan „Stop Asian Hate“ (Stopp dem Hass gegen AsiatInnen) statt, die von Weißen, Schwarzen, Latinx (Latinos/Latinas) unterstützt wurde, aufgerufen von, der Alabama Asian Cultures Foundation (Asiatische Kulturstiftung Alabama), Black Lives Matter, Hispanic Interest Coalition of Alabama (Hispanische Interessenkoalition Alabama), die Vietnamesische Studentische Assoziation an der Universität von Alabama in Birmingham und anderen. Die RednerInnen setzten den antiasiatischen Rassismus in Beziehung zu den Erfahrungen schwarzer Menschen und der Notwendigkeit, gegen alle Formen von Rassismus und weißer Vorherrschaft zu kämpfen. Aber wir müssen auch alle Versuche bekämpfen, von welcher Seite auch immer, verschiedene Teile der rassistisch Unterdrückten, wie AsiatInnen und Schwarze, gegeneinander aufzuhetzen.

Wir können nicht auf den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft hinarbeiten, ohne alle Systeme der Unterdrückung anzugreifen. Die gesamte ArbeiterInnenklasse muss die Aufstachelung unserer HerrscherInnen zum Kampf gegeneinander zurückweisen. Der wahre Feind von uns allen sind die KapitalistInnenklasse und alle Systeme, die ihr dienen. Das bedeutet nicht, dass wir in irgendeiner Weise „farbenblind“ gegenüber den verschiedenen Formen von Rassismus und Unterdrückung und deren Bedeutung sind. Wir müssen alle Beispiele von Unterdrückung und Ausbeutung bekämpfen, um ein unbesiegbares Instrument des Kampfes aufzubauen: eine unabhängige Partei der ArbeiterInnenklasse und eine neue Internationale zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus. Das Wachstum der DSA, die Bestrebungen, Amazon gewerkschaftlich zu organisieren, geben auch dafür Hoffnung.

Die ArbeiterInnen müssen für die Niederlage des Imperialismus und Kapitalismus in allen anderen Ländern ebenso kämpfen wie in unserem eigenen. Wie Marx in jenem grundlegendsten Dokument der revolutionären Arbeiterbewegung, dem Kommunistischen Manifest, sagte, haben die arbeitenden Menschen kein eigenes Land: Wir können und müssen uns vereinigen.




Die Ermordung von Leo Trotzki

Simon Hardy und Dave Stockton, Infomail 1114, 21. August 2020

Anlässlich des 80. Todestages von Leo Trotzki veröffentlichen wir hier erneut einen Text von Simon Hardy und Dave Stockton über die Geschichte der Ermordung Leo Trotzkis.

Trotzki lebte in einem Haus in Coyoacán, in Mexiko-Stadt, und war nicht nur ein Exilant, sondern auch ein Flüchtling vor den MörderInnen von Stalins Geheimpolizei, dem NKWD (Innenministerium der UdSSR, auch politische Geheimpolizei). Tatsächlich war das „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (Vorläufer des Innenministeriums in der RSFSR und UdSSR) insofern etwas falsch benannt, als es insbesondere seit dem spanischen BürgerInnenkrieg (1936 – 1939) ein ausgedehntes Netz von AgentInnen in Westeuropa und Amerika aufgebaut hatte.

Trotzki war in den Moskauer Prozessen von 1936 – 1938 wiederholt als der ultimative Organisator und Inspirator von Verbrechen gegen die Sowjetunion angeprangert worden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Stalin versuchte, sein Leben zu beenden. In der Tat sagte Pawel Sudoplatow, Leiter der Verwaltung für Sonderaufgaben des NKWD, noch in dem Monat, als Trotzki in das Haus in der Calle Viena (Wiener Gasse) einzog, im März 1939, als sein Chef Lawrenti Beria ihn zu Stalin brachte: „Trotzki sollte innerhalb eines Jahres eliminiert werden“.

Damit fügte Stalin dem riesigen Gemetzel der Säuberungen, die nicht nur alle MitarbeiterInnen Lenins, sondern auch viele seiner eigenen AnhängerInnen in der Zeit der Degeneration des Sowjetstaates vernichtet hatten, einschließlich der talentiertesten Chefs der Roten Armee und zahlloser völlig unschuldiger Menschen, einfach das krönende Verbrechen hinzu.

Allein Trotzkis Anwesenheit bedeutete, dass Mexiko-Stadt von NKWD-AgentInnen durchsetzt war. Viele von ihnen waren aus Spanien gekommen, als Franco schließlich triumphierte, wegen der gemeinsamen Sprache. Tatsächlich haben sich Beweise dafür ergeben, dass es in Mexiko-Stadt zwei aktive GPU-Netzwerke (GPU: Geheimpolizei der UdSSR ab Ende 1922) gab, die beide aktiviert werden sollten, um die Ermordung Trotzkis auszuführen.

Netzwerk

Das eine Netzwerk wurde „Pferd“ genannt, der Codename für den berühmten mexikanischen Wandmaler David Alfardo Siqueiros, ein führendes Mitglied der Kommunistischen Partei. „Pferd“ wurde von einem GPU-Agenten namens Josef Grigulewitsch geleitet, der von Alexander Orlow, einem General im NKWD, rekrutiert worden war. Sie waren beide Mitglieder der GPU-„Spezialeinheit“, die in Spanien die Folter am prominenten Führer der POUM, Andreu (Kastilisch: Andrés) Nin, durchführte. Im Sommer 1938 wurde letzterer nach Moskau zurückgerufen, wo er wegen seines Wissens um Stalins Verbrechen Gefahr lief, selbst liquidiert zu werden. Er lief daraufhin über und versuchte tatsächlich, Trotzki vor den AgentInnen zu warnen, die ihm auf den Fersen waren.

Siqueiros war zu dieser Zeit ein fanatischer Antitrotzkist, der den StalinistInnen gegenüber völlig loyal war. Er hatte die Verbindungen und konnte andere dazu bringen, bei einem Angriff zu helfen. Aber was die GPU brauchte, war ein Weg ins Haus. Am 1. Mai organisierten die StalinistInnen einen 20.000 Menschen starken Marsch durch Mexiko-Stadt, in dem die Vertreibung Trotzkis gefordert wurde, und ein Teil der Menge forderte auch seinen Tod. Die stalinistische Politik bestand darin, maximalen Druck auf die mexikanische Regierung auszuüben, um den russischen Dissidenten auszuweisen. Ihre Presse griff Trotzki regelmäßig an und behauptete, er sei in den Versuch verwickelt, entweder die Regierung zu destabilisieren oder, alternativ, unter Verletzung seiner Visa-Vereinbarungen, die Regierung zu beeinflussen.

Um 4 Uhr morgens am Morgen des 25. Mai schlug Siqueiros‘ Bande zu. Als PolizistInnen verkleidet, überraschten sie die PolizistInnen draußen, fesselten und knebelten sie und klopften an die Tür. Die AngreiferInnen betraten das Gelände des Hauses, nachdem einer der amerikanischen WächterInnen, Robert Sheldon Harte, die Tür geöffnet hatte. Als sie in den Innenhof gingen, stellten sie Maschinengewehrposten auf und eröffneten das Feuer auf das Haus, wobei sie über 300 Kugeln durch die Fenster und Wände jagten. Trotzki und Natalja Sedowa (2. Ehefrau Trotzkis) warfen sich unter das Bett, um in Deckung zu gehen. Ihr 14-jähriger Enkel tat das Gleiche und verletzte sich dabei nur leicht an herumfliegenden Glasscheiben.

Einer der Angreifer könnte sogar ins Schlafzimmer gegangen sein, um Schüsse durch die Matratze abzufeuern. Als die Angreifer zur Flucht durch das Tor ansetzten, warf einer von ihnen eine Granate in das Haus und verursachte ein Feuer. Es wurden auch drei Bomben geworfen, aber sie explodierten nicht richtig. Schließlich gelang es Otto Schüssler (Pseudonym: z. B. Oskar Fischer) und Charles Curtiss, zwei der Wach-SekretärInnen, das Haus zu betreten und zu Trotzkis Familie zu gelangen. Als sich der Rauch verzogen hatte, wurde wie durch ein Wunder niemand ernsthaft verletzt, aber sie entdeckten bald, dass Harte verschwunden war.

Kurz nach Ankunft der Polizei wurden Verdächtigungen über den Angriff geäußert. Einen Tag später verhaftete sie einige von Trotzkis Wachen und beschuldigte sie, einen „Selbstangriff“ organisiert zu haben, um zu versuchen, den StalinistInnen etwas anzuhängen. Dies wurde energisch bestritten. Wie Trotzki behauptete, wäre der Preis, der zu zahlen gewesen wäre, zu hoch für das Ansehen der Vierten Internationale gewesen und hätte seinen Aufenthalt in Mexiko gefährdet, wenn diese Verschwörung aufgedeckt worden wäre.

Bald richtete die Polizei ihr Augenmerk auf die Suche nach Harte. Hier wurden in der Folge eine Reihe interessanter Details bekannt. Mehrere Quellen haben auf Beweise hingewiesen, die darauf hinzudeuten scheinen, dass Harte ein NKWD-Agent war. Erstens behauptete Hartes Vater in einem Interview mit der mexikanischen Polizei, dass im Zimmer seines Sohnes ein Bild von Stalin an der Wand hinge. Andere Beweise deuteten darauf hin, dass Harte bei seiner Ankunft in Mexiko Zugang zu einer beträchtlichen Geldsumme hatte, sicherlich viel mehr als sein bescheidenes Gehalt als Wachmann ihm gegeben hätte. Es wurde vermutet, dass Harte von seinen FührungsoffizierInnen angewiesen worden war, die AngreiferInnen ins Haus zu lassen, und dass er dann in einem der Autos weggefahren worden war.

Noch schwerwiegender sind die Behauptungen einiger der AngreiferInnen, die ebenfalls implizieren, dass Harte sie zumindest kannte. Eine Untersuchung der mexikanischen Polizei führte zur Verhaftung mehrerer Personen, die alle in irgendeiner Weise mit der mexikanischen KP verbunden waren. Während des Verhörs gab einer der an dem Angriff beteiligten Männer zu, dass Harte beteiligt gewesen sei, er sei der Insider gewesen, der die Tür öffnen sollte. Nestor Sanchez Hernandez, Mitglied der Kommunistischen Partei und Veteran der Internationalen Brigaden, gab gegenüber der Polizei zu, dass er Harte mit einem nicht identifizierten „französischen Juden“, der einer der Organisatoren des Angriffs war, „nervös und freundlich“ sprechen gesehen habe.

Ein anderer Bericht identifiziert den Mann als Josef Grigulewitsch und beschreibt einen gewaltigen Streit, der zwischen ihm und Harte ausbrach, der sehr aufgeregt und verärgert wurde. Harte war verärgert und behauptete, ihm sei gesagt worden, dass die Absicht der Razzia nur darin bestand, die Archive zu zerstören. Als sie sich davonmachten und erkannten, dass die Absicht des Angriffs tatsächlich darin bestanden hatte, den alten Mann zu ermorden, fühlte sich Harte verraten. Vermutlich entschied die GPU, dass Harte eine tickende Zeitbombe sei und man ihm nicht trauen könne, seinen Mund zu halten. Seine Leiche wurde einen Monat später entdeckt, erschossen und auf dem Gelände einer Villa auf dem Land vergraben.

Trotzki schrieb einen Nachruf auf Harte und dementierte die bereits kursierenden Anschuldigungen, er sei ein stalinistischer Agent gewesen. Die Wahrheit wird vielleicht nie bekannt werden, aber ob Harte ein Agent war oder nicht, es ist klar, dass sich der Kreis um Trotzki schloss. Trotz offizieller Dementis seitens der Kommunistischen Partei Mexikos schickte David Siqueiros einen Brief an die Presse, in dem er erklärte: „Die Kommunistische Partei versuchte mit diesem Angriff lediglich, Trotzkis Vertreibung aus Mexiko zu beschleunigen; alle FeindInnen der Kommunistischen Partei können eine ähnliche Behandlung erwarten.“

Es war zweifellos nur eine Frage der Zeit, bis die amateurhafte Sicherheitsarbeit im Haus wieder überwunden war und die AttentäterInnen ihr Ziel trafen.

Das Haus wird zur Festung

Zu diesem Zeitpunkt wurde Trotzki von mehreren Mitgliedern der SWP bewacht, die für einen längeren Besuch nach Coyoacán entsandt wurden, bewaffnet und als Wachposten organisiert waren. Zu diesen WächterInnen gehörten Jake Cooper, Walter O’Rourke, Charles Cornell und Robert Sheldon Harte. Eine weitere Wache war Joseph Hansen, später ein wichtiger Führer der SWP. Er beschreibt die neuen Maßnahmen, die seit dem verpfuschten Versuch im Mai ergriffen wurden:

„Die Garde wurde verstärkt, schwerer bewaffnet. Es wurden kugelsichere Türen und Fenster eingebaut. Es wurde eine Feldschanze aus bombensicheren Decken und Böden gebaut. Doppelte Stahltüren, die durch elektrische Schalter gesteuert wurden, ersetzten den alten hölzernen Eingang, wo Robert Sheldon Harte von den GPU-AngreiferInnen überrascht und entführt worden war. Drei neue kugelsichere Türme überragten nicht nur den Innenhof, sondern auch die umliegende Nachbarschaft. Stacheldrahtverhaue und bombensichere Netze waren in Vorbereitung.“

Hansen sollte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Führer der SWP in den USA werden, aber sein erstes Treffen mit Trotzki verlief nicht gut. Als Hansen gebeten wurde, einen Teil des Haushalts durch die Stadt und in die Wüste zu fahren, verirrte er sich hoffnungslos und ließ Trotzki mit der Frage zurück, ob der junge Amerikaner für seinen Posten in Mexiko geeignet sei.

Eine/r der US-TrotzkistInnen empfahl, die Wache nach dem Angriff im Mai zu professionalisieren. Er/Sie schlug einen neuen Anführer der Garde vor, Ray Rainbolt, einen Sioux-Indianer von Abstammung, ehemaligen Soldaten, der der Hauptmann der Teamster von Minneapolis gewesen war. Trotzki legte gegen diese Entscheidung ein Veto ein, da er mit zu vielen Wachen und mit einem Schutz, den er für übermächtig hielt, unzufrieden war.

Alles stand auf dem Spiel, der Tod des alten Mannes wäre eine Katastrophe für die Vierte Internationale gewesen, die damals unter den Hammerschlägen der unvermeidlichen Repression des Zweiten Weltkriegs litt.

Zu diesem Zeitpunkt lebten etwa acht oder neun Menschen dauerhaft in dem Haus, darunter Trotzki, Natalja, ihr Enkel Wsewolod Platonowitsch Wolkow, die Rosmers und andere. Manchmal hielten sich bis zu zwanzig Personen dort auf. Normalerweise gab es etwa vier Wachen.

Ramón Mercader

Nach dem Scheitern des Pferd-Netzwerks wurde ein zweiter Versuch gestartet. Die GPU wandte sich an Ramón Mercader, um die wichtigste Aufgabe von allen zu erledigen. Es war klar, dass Cárdenas (mexikanischer Präsident 1934 – 1940) in der Frage der Abschiebung Trotzkis nicht umkippen würde, und die Kommunistische Partei war in den Skandal um den Angriff im Mai verwickelt worden, nachdem Siqueiros stolz ihre Beteiligung daran zugegeben hatte. Die GPU wandte sich an Mercader, um die Sache zu Ende zu bringen.

Mercader verbrachte viel Zeit damit, sich Trotzki zu nähern. Er war mit Sylvia Ageloff in die USA gereist, mit einem gefälschten kanadischen Pass unter dem Namen Franc Jacson. Sie heirateten und hatten vor ihrer Reise nach Mexiko gemeinsam Zeit in New York verbracht. Er wartete auf den richtigen Augenblick, wartete monatelang, reiste oft zum Haus, um sie abzuholen, ging aber nie hinein. Er behielt seine Fassade als jemand bei, der kein Interesse an Politik hatte, obwohl er immer noch ein Anhänger der Vierten Internationale war.

Er nahm Kontakt zu anderen GPU-AgentInnen auf, die nach Mexiko entsandt worden waren, um mit der mexikanischen KP zusammenzuarbeiten und das Attentat zu orchestrieren. Ramón Mercader war nicht aktiv in die Kommunistische Partei Mexikos involviert, seine Undercover-Identität bot ihm Zeit, ohne jeglichen Druck der Polizei zu handeln. Lynn Walsh (Socialist Party, englische und walisische Sektion des CWI/Komitees für eine ArbeiterInneninternationale, KAI; vorher: Militant Tendency) schreibt 1980:

„Die Kampagne zur Vorbereitung der mexikanischen KP auf die Ermordung Trotzkis wurde von einer Reihe stalinistischer FührerInnen durchgeführt, die bereits Erfahrung darin hatten, die Befehle ihres Herrn in Moskau rücksichtslos auszuführen: Siqueiros selbst, der in Spanien aktiv gewesen war, wahrscheinlich ein GPU-Agent seit 1928; Vittoria Codovila, eine argentinische Stalinistin, die in Spanien unter [Oberst] Eitingon operiert hatte, wahrscheinlich an der Folterung und Ermordung des POUM-Führers Andrés Nin beteiligt; Pedro Checa, ein Führer der Kommunistischen Partei Spaniens im mexikanischen Exil (sein Name basierte auf einem Akronym des Wortes Tscheka); und Carlos Contreras (auch bekannt als Vittorio Vidali), der in der ,Sondereinheit‘ der GPU in Spanien aktiv gewesen war. Ihre Bemühungen wurden von dem allgegenwärtigen Colonel Eitingon koordiniert.“

Die Operation wurde von Pawel A. Sudoplatow, einem hochrangigen Offizier der GPU mit Sitz in Moskau, geleitet und vorbereitet. Er behauptete in seiner Biografie, er habe Ramón Mercader persönlich für die Durchführung des Attentats ausgewählt.

Durch Sylvia Ageloff begann Mercader die langsame und bewusste Aufgabe, sich seinem Ziel zu nähern, indem er sich zunächst bei Alfred und Marguerite Rosmer einschmeichelte. Durch kleine Gefälligkeiten, z. B. indem er die Rosmers herumfuhr oder Botengänge für sie erledigte, kam er seinem Ziel immer näher. Ageloff war jedoch immer sehr vorsichtig, wenn es darum ging, ihm jeglichen Kontakt mit dem Haushalt zu gestatten, wie Deutscher betont:

„Sylvia war vorsichtig genug, ,Jacson‘ [Mercader] niemals in Trotzkis Haus zu bringen – sie sagte Trotzki sogar, dass sein Besuch Trotzki unnötig in Verlegenheit bringen könnte, da ihr Mann mit einem falschen Pass nach Mexiko gekommen war. Tatsächlich wurde sein Zögern an den Türen des Hauses und sein Widerstreben hineinzukommen irgendwann von Trotzki bemerkt, der, da er ,Sylvias Mann‘ gegenüber nicht unhöflich erscheinen wollte, sagte, er solle ins Haus eingeladen werden.“

Mercader war ein geduldiger Mann und wartete seine Zeit am Rande des Trotzki-Kreises ab, um später Zugang zu ihm zu erhalten. Ageloff hegte sogar einige Bedenken gegen ihn. Als sie versuchte, ihn unter der Geschäftsadresse, die er ihr gab, zu kontaktieren, stellte sich diese als fiktiv heraus. Als sie ihn damit konfrontierte, erklärte er, er habe ihr eine alte Adresse gegeben und händigte ihr eine neue aus. Ein Freund besuchte das Objekt eines Tages und erfuhr, dass das Büro „Jacson“ gehöre. Erleichtert, dass seine neue Geschichte wahr zu sein schien, missachtete sie ihren Verdacht.

Mercader besuchte das Haus in Coyoacán zehnmal, wobei er nie versuchte, sich hineinzudrängen oder sich zu Trotzki zu weit vorzudrängen. Er näherte sich den Wachen, freundete sich mit ihnen an, und als er schließlich von den Rosmers eingeladen wurde, trank er bei zwei Gelegenheiten mit Trotzki Tee. Hansen erinnert sich an ein bestimmtes Gespräch:

„In einem Gespräch mit Jacson, an dem Cornell und ich teilnahmen, fragte Trotzki Jacson, was er von der ,Festung‘ halte. Jacson antwortete, dass alles gut arrangiert zu sein schien, aber ,beim nächsten Angriff wird die GPU andere Methoden anwenden‘. ,Welche Methoden?‘ fragte einer von uns.“

Hansen erinnerte daran, dass Mercader bei dieser Frage nur mit den Achseln zuckte.

Nach einiger Zeit machte Mercader seinen Zug. In den Monaten vor dem Angriff war er wiederholt geschäftlich in die USA zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn er wiederkam, schien er noch verzweifelter und nervöser zu sein, und er begann auch, verschiedene Wege auszuprobieren, um Trotzki nahezukommen. Trotzki hatte ihn nie gemocht. Er fand „Jacson“ oberflächlich und abrupt, war aber bereit, ihn wegen seiner Beziehung zu Sylvia zu tolerieren. Mercader begann, ein Interesse an der Politik und den Debatten der Vierten Internationale vorzutäuschen. Er erörterte die Möglichkeit, einen Artikel zu schreiben, den er dann Trotzki bat, sich damit zu befassen. Trotzki stimmte dem zu.

Mercader kam am 20. August mit einem maschinengeschriebenen Manuskript eines Artikels ins Haus, einer Polemik gegen die dritte Lagerposition Shachtmans. Er sah Natalja im Garten und bat um ein Glas Wasser. Sie fragte ihn, ob er ihr seinen Hut und seinen Mantel aushändigen wolle, aber er lehnte ab. In seiner Hand, unter dem Mantel, umklammerte er den Eispickel, den er als Mordwaffe benutzen wollte. Er verbarg auch einen Dolch und eine Pistole, als er sich in Trotzkis Arbeitszimmer begab.

Nach dem Angriff gaben die Wachen zu, dass Vorkehrungen getroffen worden waren, um alle BesucherInnen zu durchsuchen und Trotzki nie mit einem Gast allein zu lassen, aber diese Verfahren waren nicht umgesetzt worden. In einem Interview mit Alan Woods im Jahr 2003 gab Trotzkis Enkel zu:

„ … die Vorkehrungen für Trotzkis Verteidigung waren äußerst mangelhaft. Im Augenblick der Wahrheit wurde Leo Dawidowitsch mit einem relativ Unbekannten allein gelassen, dem die Wachen im August in einem schweren Regenmantel, in dem ein Eispickel, ein langer Dolch und eine Pistole versteckt waren, in unglaublicher Weise erlaubt hatten, das Gebäude zu betreten. Die Wachen machten sich nicht einmal die Mühe, ihn zu ,filzen‘, bevor sie ihn in Trotzkis Arbeitszimmer ließen. Eine solch elementare Vorsichtsmaßnahme hätte ausgereicht, um die gesamte Mission abzubrechen. Aber diejenigen, die angeblich Trotzki verteidigen sollten, trafen nicht die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen.“

Da nur die beiden im Büro waren, stand er hinter Trotzki. Als der alte Mann begann, den Artikel durchzulesen und Korrekturen vorzunehmen, zog er die Waffe heraus und stieß ihre Spitze gewaltsam in Trotzkis Kopf. Trotzki stieß einen lauten Schrei aus. Mercader beschrieb ihn anschließend der Polizei: „Ich nahm den ,Eispickel‘. Ich hob ihn hoch. Ich schloss meine Augen und schlug mit all meiner Kraft zu … Solange ich lebe, kann ich seinen Schrei nicht vergessen … “

Natalja beschreibt auch, wie sie einen „schrecklichen, markerschütternden Schrei“ hörte und in den Raum stürmte. Als die Wachen den Raum betraten, sahen sie, dass Trotzki Mercader zu Boden gerungen hatte. Charlie Cornell stürmte mit einer Pistole herein. Trotzki rief ihm zu: „Nein … es ist unzulässig zu töten, er muss zum Reden gezwungen werden.“ Hansen, Robins und Cornell hielten Mercader auf dem Boden fest, während die Polizei gerufen wurde. Natalja wiegte Trotzkis Kopf in ihrem Schoß, als sie versuchten, die Blutung zu stoppen. Trotzki flüsterte seiner Frau zu, dass er sie liebte, und sagte: „Jetzt ist es geschehen.“

Im Krankenhaus stand Hansen neben Trotzkis Bett. Der alte Mann rief ihn herbei und flüsterte seinem amerikanischen Genossen einige seiner letzten Worte ins Ohr. Die Worte waren langsam, schwankend und schwierig, er sprach sie auf Englisch, weil Hansen kein Russisch sprach. „Ich bin dem Tod nahe durch den Schlag eines politischen Attentäters … der mich in meinem Zimmer niedergestreckt hat. Ich kämpfte mit ihm … wir gingen hinein, sprachen über französische Statistiken … er schlug mich … Bitte sage unseren FreundInnen … ich bin mir des Sieges der Vierten Internationale sicher. Geht vorwärts!“ Natalja fragte Hansen, was ihr Mann gesagt hatte. Da er sie nicht mit etwas beunruhigen wollte, von dem er wusste, dass es wahrscheinlich Trotzkis letzte Worte sein würden, antwortete er: „Er wollte, dass ich eine Notiz über die französischen Statistiken mache“, und verließ den Raum.

Die ÄrztInnen arbeiteten hart, aber seine Wunde war zu tief und seine Jahre waren zu weit fortgeschritten. Trotzki starb am 21. August. Sein Körper wurde zwischen dem 22. und 27. August durch etwas geehrt, das einer „öffentlichen Aufbahrung“ nahekam. Etwa 300.000 Menschen kamen, um ihn zu sehen. Am 27. August wurde sein Leichnam eingeäschert. Er wollte seinen Leichnam vernichtet sehen, wie Hansen es beschreibt, so dass nur seine revolutionären Ideen übrigblieben. Schon der Gedanke an eine Mumifizierung, wie Stalin den Leichnam Lenins präparieren ließ, hätte den bekennenden Materialisten angewidert. Seine Asche wurde auf dem Gelände des Hauses in Coyoacán beigesetzt, dem Ort, der fast ein Gefängnis gewesen war, aber auch sein endliches Zuhause in den letzten Jahren seines Lebens.

Damit hatten die StalinistInnen den Mann niedergeschlagen, der sein ganzes Erwachsenenleben der Revolution gewidmet hatte. Den jungen Revolutionär, der Lenin am frühen Morgen aufgeweckt hatte, als er zum ersten Mal nach London kam, der während der Revolution von 1905 im Alter von 25 Jahren zum Vorsitzenden des ersten Petrograder Sowjets gemacht worden war. Er hatte für die Revolution drei Perioden Gefängnis und Exil erleiden müssen. Er war der populärste Redner der Bolschewiki unter dem Proletariat bei großen Versammlungen im Cirque Moderne in Petrograd 1917. Er leitete auch das Militärische Revolutionskomitee, das den Sturz der Provisorischen Regierung organisierte und die Losung Lenins verwirklichte: „Alle Macht den Sowjets!“

Trotzki hatte die Bildung der Roten Armee beaufsichtigt und ihre Verteidigung der Revolution gelenkt, als sie die vereinten Kräfte der ImperialistInnen und der Weißen Armeen besiegte. Während der Revolution und zum Zeitpunkt des BürgerInnenkriegs waren Lenin und Trotzki sich so nahe, dass während des größten Teils eines Jahrzehnts, wenn FeindInnen und FreundInnen von der Oktoberrevolution und dem jungen Sowjetstaat sprachen, sie sich immer auf Lenin und Trotzki bezogen. Dennoch war Trotzki das prominenteste Opfer der bürokratischen Degeneration der Russischen Revolution und erklärte eine unnachgiebige Opposition gegen Stalin, den er als den „Totengräber der Revolution“ bezeichnete und später als Kain, den Mörder seines Bruders, beschrieb.

Für diese Opposition bezahlte er mit seinem Leben, aber auch seine Kinder und viele seiner FreundInnen und GenossInnen. Zu seiner von „Kain Stalin“ getöteten Familie gehörte auch seine erste Frau Alexandra Sokolowskaja, die ihn 1897 für den Marxismus gewonnen hatte und 1938 erschossen wurde. Dann gab es seinen unpolitischen Sohn Sergei, der 1937 erschossen wurde, und Trotzkis engsten politischen Mitarbeiter, seinen anderen Sohn, Leo Sedow, der im Februar 1938 mit ziemlicher Sicherheit vom NKWD in einer Pariser Klinik ermordet wurde. Zu seinen jungen politischen KollaborateurInnen in den 1930er Jahren gehörten Erwin Wolf, der 1937 auf einer Mission in Spanien ermordet wurde, und Rudolf Klement, der Sekretär der Vierten Internationale, der im Juli 1938 in Paris ermordet wurde, als er die Gründungskonferenz der Vierten Internationale vorbereitete.

Die SWP organisierte am 28. August ein Treffen in New York. Cannon hielt eine Rede, die von dem tiefen Gefühl um den Verlust ihres politischen Führers und Leiters geprägt war und in der er die festeste Überzeugung der FührerInnen der Vierten Internationale von der Richtigkeit und Gerechtigkeit ihrer Sache darlegte. Cannon erklärte, wie wichtig die Ideen waren, für die Trotzki kämpfte:

„Er erklärte sie uns viele, viele Male. Einmal schrieb er: ,Nicht die Partei macht das Programm, sondern das Programm macht die Partei‘. In einem persönlichen Brief an mich schrieb er einmal: ,Wir arbeiten mit den korrektesten und mächtigsten Ideen der Welt, mit unzureichenden zahlenmäßigen Kräften und materiellen Mitteln. Aber richtige Ideen erobern auf lange Sicht immer die notwendigen materiellen Mittel und Kräfte und stellen sie sich selbst zur Verfügung‘.“

Cannon fuhr fort und verwies auf die Kontinuität des revolutionären Denkens von Marx, über Lenin bis hin zu Trotzki und zur gegenwärtigen Vierten Internationale:

„Wollen Sie eine konkrete Veranschaulichung der Macht der marxistischen Ideen? Denken Sie nur daran: Als Marx 1883 starb, war Trotzki erst vier Jahre alt. Lenin war erst vierzehn Jahre alt. Keiner von beiden konnte Marx oder irgendetwas über ihn wissen. Dennoch wurden beide durch Marx zu großen historischen Persönlichkeiten, weil Marx Ideen in der Welt verbreitet hatte, bevor sie geboren wurden. Diese Ideen lebten ihr eigenes Leben. Sie prägten das Leben von Lenin und Trotzki.“

Mit Absicht sprach Cannon über seinen Glauben an die Zukunft, über die Hoffnung, die er und die anderen RevolutionärInnen in die jüngeren Generationen setzten:

„Ebenso werden die Ideen Trotzkis, die eine Weiterentwicklung der Ideen von Marx sind, uns, seine JüngerInnen, die ihn heute überleben, beeinflussen. Sie werden das Leben weitaus größerer JüngerInnen prägen, die noch kommen werden, die Trotzkis Namen noch nicht kennen. Einige, die dazu bestimmt sind, die größten TrotzkistInnen zu werden, spielen heute auf den Schulhöfen. Sie werden von Trotzkis Ideen genährt werden, wie er und Lenin von den Ideen von Marx und Engels genährt wurden.“

Das Schicksal von Mercader

Mercader wurde für zwanzig Jahre ins Gefängnis gesteckt. Die mexikanischen Behörden waren unglücklich über russische AttentäterInnen, die in ihrem Land operierten, und wollten an ihm ein Exempel statuieren. Seine Mutter, selbst eine Schlüsselagentin der GPU in Spanien, die mit der Geheimpolizeieinheit in Verbindung stand, die auf die „Liquidierung von TrotzkistInnen“ spezialisiert war, erhielt eine Medaille, ebenso wie Mercader, als er schließlich nach Osteuropa zurückkehrte.

Eitingon und andere planten den Versuch, Mercader 1944 aus dem Gefängnis auszubrechen, wie aus den Akten der Nationalen Sicherheitsbehörde hervorgeht. Dieser Versuch hatte offensichtlich keinen Erfolg. Als er schließlich 1960 freigelassen wurde, flog er nach Havanna, wo er von Castros neuer Regierung willkommen geheißen wurde. Danach flog er in die UdSSR und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet, dem „Helden der Sowjetunion“. Den Rest seines Lebens lebte er zwischen Osteuropa und Kuba. Celia Hart, eine Marxistin, die sich nach den 1960er Jahren sowohl mit der Kubanischen Revolution als auch mit dem Trotzkismus identifizierte, war besonders entsetzt über die Verbindung von Mercader mit ihrer revolutionären Heimat. „Ich kann nachts immer noch nicht schlafen, wenn ich daran denke, dass Mercader nach dem Triumph der Kubanischen Revolution in mein Land kam“.

Die StalinistInnen hatten eine Spur des Todes hinterlassen, um zu Trotzki zu gelangen, um zu versuchen, seine Ideen und seine kleine Organisation zu zerschlagen: zwei seiner Kinder, seine Ex-Frau, sieben seiner SekretärInnen und schließlich den alten Mann selbst. Dabei wurden die Zehntausenden von linken Oppositionellen, die in Russland ihr Leben verloren, nicht einmal mitgezählt. Nicht mitgezählt sind auch die vielen hundert TrotzkistInnen, die im kommenden Zweiten Weltkrieg ihr Leben verlieren würden, getötet entweder von den FaschistInnen oder den StalinistInnen.

Es ging darum, dass die Bewegung um Trotzki keine Sekte oder eine einfache Gruppe von „AnhängerInnen“ war, die in ihn verliebt waren, als sei er eine Berühmtheit. Sie waren kritisch denkende MarxistInnen, die in Trotzkis Kampf gegen Stalin die Fortsetzung einer marxistischen Politik angesichts einer ungezügelten politischen Reaktion sahen. Der Verlust Trotzkis war ein schwerer Schlag, ja der schwerste, den man sich vorstellen kann, da er der letzte Überlebende der großen Generation klassischer MarxistInnen und RevolutionärInnen war. Aber es war nicht der tödliche Schlag, den sich Stalin erhofft hatte, es war nicht der Gnadenstoß für die Vierte Internationale, so winzig und verfolgt sie auch war.

Während die StalinistInnen jahrzehntelang an der Spitze von Massenparteien und sogar siegreichen bürokratischen Revolutionen in China, Vietnam und Kuba aufblühten, stellten sie die TrotzkistInnen als eine pathetische Irrelevanz dar. Auch AkademikerInnen und westliche KommentatorInnen schlossen sich diesem Urteil an. Wenn Trotzki und die TrotzkistInnen jedoch wirklich keine Gefahr für Stalin gewesen waren, warum hatte er dann seit 1936 alles getan, was er konnte, um zu versuchen, sie durch die politischen Prozesse zu diffamieren, und um dann 1937 zu einer Politik der physischen Liquidierung überzugehen? War es einfach die Paranoia eines geistesgestörten Tyrannen? Wenn ja, warum setzten Stalins NachfolgerInnen diese Diffamierung des Trotzkismus fünfzig Jahre lang fort? Warum verlieh Leonid Breschnew 1961 Ramón Mercader bei einer Zeremonie im Kreml den Goldenen Stern des Lenin-Ordens für die Ausführung einer „besonderen Aufgabe“, der Ermordung Trotzkis?

Es war ganz einfach, weil Trotzki den revolutionären Geist und das befreiende Programm der bolschewistischen Partei, der Oktoberrevolution, der ersten Jahre des Sowjetstaates und der Kommunistischen Internationale repräsentierte. Er repräsentierte Zehntausende von linken Oppositionellen, die gegen die bürokratische Konterrevolution Stalins kämpften und bei dem Versuch umkamen. Nicht zuletzt hatte er das Erbe Lenins in den Kämpfen gegen den Faschismus während der 1930er Jahre weiterentwickelt.

Verkörpert in der 1938 erfolgten Gründung der Vierten Internationale und ihrem Programm „Der Todeskampf des Kapitalismus“ bleibt diese Tradition trotz der politischen Verzerrungen und Verbrechen, die viele so genannte TrotzkistInnen gegen sie begangen haben, ein wertvolles Vermächtnis für all jene, die in den kapitalistischen Krisen, Kriegen und Revolutionen des 21. Jahrhundert revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale wieder aufbauen wollen.




Gesellschaftliche Unterdrückung und linke Organisationen

Jonathan Frühling, Infomail 1108, 24. Juni 2020

Gesellschaftliche Unterdrückung ist nahezu allgegenwärtig und auch als AktivistInnen in linken Organisationen sind wir nicht frei davon, weil wir durch eben diese Gesellschaft geprägt werden. Wir alle sind durch das Schulsystem gegangen, welches bekanntermaßen neben Bildung auch die Funktion hat, ein bürgerliches Bewusstsein zu vermitteln. Rassistische und sexistische LehrerInnen, Konkurrenzkampf und Mobbing sind hier einige Schlagworte, die den meisten Menschen bekannt sind. Doch auch die Hetze gegen Geflüchtete in den Zeitungen, die Darstellung von Frauen in untergeordneten Rollen in Filmen und Serien oder ein sexistischer Kommentar durch ArbeitskollegInnen hinterlassen in unserem Denken ihre Spur. Diese Prozesse finden praktisch ständig und überall um uns herum statt. Zwar kann man linke Tageszeitungen lesen, explizit sexistische Filme vermeiden und dem Arbeitskollegen seine Meinung sagen, aber ganz entziehen kann man sich der Gesellschaft natürlich nicht.

Natürlich bestehen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse grundlegend unabhängig vom subjektiven Verhalten einzelner Menschen oder erst recht der Mitglieder linker politischer Gruppen. Sie lassen sich daher auch nur durch den gemeinsamen Kampf und letztlich nur durch den Sturz des kapitalistischen Systems selbst überwinden und die Errichtung einer Gesellschaftsordnung, die der Unterdrückung nicht mehr bedarf. Letzteres deutet nicht, dass die Unterdrückungsverhältnisse wie auch Unterschiede innerhalb der ArbeiterInnenklasse – z. B. zwischen Hand- und Kopfarbeit – mit einer sozialistischen Revolution automatisch verschwinden, aber die Enteignung des Kapitals und die bewusste gesellschaftliche Planung stellt eine notwendige Voraussetzung für ihre Überwindung dar.

Der Kampf gegen die Reproduktion unterdrückerischen Verhaltens in der ArbeiterInnenbewegung schafft also nicht die Wurzeln der gesellschaftlichen Unterdrückung aus der Welt, ist aber unerlässlich, um diesen überhaupt bewusst führen zu können.

Es versteht sich deshalb von selbst, dass es auch innerhalb linker Organisationen Probleme mit Unterdrückungsmechanismen gibt, die durch die eigenen Mitglieder ausgeübt werden.

Dies nicht zu leugnen, ist kein Eingeständnis des eigenen Scheiterns, sondern nur ehrlich und öffnet den Weg für notwendige Diskussionen: Es stellt überhaupt erst die Frage, wie entsprechende Unterdrückungsmechanismen in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden können und müssen. Ansonsten werden unterdrückerisches Verhalten und entsprechende Bewusstseinsformen unwillkürlich reproduziert.

Wir wollen daher im Folgenden einige Formen darstellen, die wir bei uns, aber auch in der ArbeiterInnenbewegung selbst für notwendig im Kampf gegen soziale Unterdrückung erachten.

Das Caucusrecht

Als Grundlage sollte es ein Caucusrecht für alle sozial Unterdrückten, wie z. B. Frauen oder People of Colour, geben. Das bedeutet, dass diesen Personen das Recht eingeräumt wird, sich innerhalb der Organisationen gesondert zu treffen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, geschützt vor potenziellen UnterdrückerInnen zu diskutieren. Es soll so ein Schutzraum geboten werden, indem Betroffene ungehemmt Hilfe und Beistand bei individuellen und kollektiven Unterdrückungserfahrungen außerhalb und innerhalb der Organisation erhalten können. Wichtiger ist jedoch der Aspekt, dass die Betroffenen dort selbst (politische) Vorschläge erarbeiten, wie die Unterdrückung innerhalb und außerhalb der Organisation bekämpft werden soll. Solche innerorganisatorischen Strukturen sind keine Selbsthilfegruppen für Betroffene, sondern solche, die den Finger auf mögliche Wunden legen können. Daher räumen wir nicht nur unseren GenossInnen intern das Recht ein, bei Bedarf einen Caucus ins Leben zu rufen, sondern stellen dies auch als Forderung auf. Das Recht zur Caucusbildung sollte unterdrückten Schichten der Gesellschaft in allen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ermöglicht werden. So können unsere Organisationen einerseits von eigenem Fehlverhalten lernen wie auch das Ziel ermöglichen, die ArbeiterInnenklasse in ihrer Gesamtheit zu organisieren.

Maßnahmen gegen sexuelle Grenzüberschreitungen

Auch sexuelle Grenzüberschreitungen können in linken Organisationen vorkommen. Es ist daher wichtig, dass sich die Organisation bei der Klärung und Sanktionierung entsprechender Vorfälle an ein im Vorhinein demokratisch abgestimmtes Verfahren hält. Dabei sollte festgehalten werden, welche Personen oder Gremien damit beauftragt sind, solche Vorwürfe aufzuklären, oder wann und in welcher Form die Mitgliedschaft darüber informiert wird. Welche Personen Sanktionen aussprechen dürfen (zumeist sind dies Schiedskommissionen oder die Leitungen), sollte auch festgelegt werden. Natürlich müssen alle an diesem Prozess beteiligten Personen der Organisation in ihrer Gesamtheit rechenschaftspflichtig sein.

Bei der Behandlung sexueller Grenzüberschreitungen sollten Untersuchungskommissionen eingerichtet werden, die mehrheitlich aus gesellschaftlich Unterdrückten bestehen. Sollte das z. B. in einer kleinen Ortsgruppe nicht möglich sein, so kann diese auch aus GenossInnen aus anderen Städten zusammengesetzt werden. Wir lehnen zwar das Prinzip der Definitionsmacht über einen Vorwurf durch die betroffene Person ab, aber die beschuldigten GenossInnen sind zur aktiven Mitarbeit an der Aufklärung eines Vorwurfs verpflichtet. Schließlich sind Mitglieder für die Zeit der Untersuchung eines Vorwurfs suspendiert (d. h. sie verlieren in diesem Zeitraum ihre Mitgliederrechte).

Die Stellung  sozial unterdrückter Personen in linken Organisationen

In den meisten politischen Organisationen (auch linken) sind sozial unterdrückte Menschen wie z. B. Frauen, Jugendliche, People of Color und Menschen aus der LGBTQIA+-Bewegung unterrepräsentiert, was auch mit ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung zusammenhängt. Es ist deshalb wichtig, dass sich Unterdrückte in besonderem Maße zu politischen AktivistInnen entwickeln können und der Reproduktion gesellschaftsspezifischer Arbeitsteilung aktiv entgegengesteuert wird. So sollten technische Aufgaben (wie z. B. das Drucken eines Flyers), wann immer möglich, nicht an Frauen delegiert werden. So können sie sich mehr auf ihre politische Entwicklung konzentrieren und aktiv nach außen hin auftreten – und die Organisation sollte diese Entwicklung auch bewusst vorantreiben.

Sie sollten dabei von den anderen Mitgliedern bestärkt werden und Unterstützung erhalten, wenn sie dies wünschen. Politische Schulungen, die ausschließlich von und für sich als weibliche verstehende Mitglieder offen sind, können für Frauen ein zusätzliches Schulungsmoment sein. Die Organisierung von Kinderbetreuung, damit Mütter (und Väter) an Ortsgruppentreffen, Veranstaltungen oder Schulungen teilnehmen können, sollte vor allem durch die männlichen Teile einer linken Organisationen sichergestellt werden.

Die Aufgabe der gesellschaftlich Privilegierten

Aber auch die relativ privilegierten Teile der Gruppe, die nicht selten auch als Unterdrücker oder Träger rückständiger Bewusstseinsformen in Erscheinung treten, müssen natürlich in die Verantwortung genommen werden. Dabei reicht es im Kampf gegen Sexismus beispielsweise nicht aus, sich mit feministischer Theorie auszukennen. Sexistische Verhaltensmuster spiegeln sich nämlich trotzdem in dem Handeln linker Männer allzu oft wider. Deshalb müssen sich Männer über ihr eigenes unterdrückerisches Verhalten bewusst werden und aktiv dagegen ankämpfen. Deshalb haben wir damit begonnen, antisexistische Männertreffen  abzuhalten. Auf diesen Treffen sollen Männer ihre Sozialisierung und ihr eigenes Verhalten kritisch analysieren. So kann z. B. das Bewusstsein geschärft werden, inwiefern Blicke bereits als sexuelle Belästigung wahrgenommen, ob Frauen häufiger unterbrochen oder ob die Vorschläge von Frauen und anderen unterdrückten Schichten genauso ernst genommen werden wie die der Männer. Diesen Prozess können Frauen natürlich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit dieser Unterdrückung, wenn nötig, kritisch unterstützen. Vor allem aber geht es auch darum, nicht nur Bewusstsein für eigenes Verhalten zu schärfen, sondern vor allem die eigene Praxis in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, im Kampf gegen Sexismus und andere Formen der Unterdrückung im Betrieb, an der Uni, an der Schule zu entwickeln.

Schluss

Der Kampf gegen Unterdrückung in der eigenen Organisation sollte einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Erstens wollen wir eine Welt schaffen, die frei von Unterdrückung ist. Das bedeutet aber auch, dass RevolutionärInnen zu bewussten VorkämpferInnen gegen alle Formen der Unterdrückung erzogen werden. Das ist zwar in erste Linie eine politische Frage, aber es gehört auch dazu, selbst zu lernen, die Anliegen, die Sprache von Unterdrückten aufzunehmen und zu unterstützen. Wenn eine Organisation ihre Mitglieder nicht aktiv und immer wieder darauf vorbereitet, wird sie auch unfähig sein, die ArbeiterInnenbewegung und die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Zweitens können wir nur so den unterdrückten Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft eine politische Organisation bieten, in der ihre Unterdrückung, wenn auch nicht aufgehoben, so zumindest gemindert ist und aktiv bekämpft wird.

Drittens kann und muss jedoch eine revolutionäre Organisation besonders Unterdrückten die Möglichkeit geben, sich zu politischen AktivistInnen zu entwickeln und den Klassenkampf in ihrem Sinne mitzuprägen. Nur so werden RevolutionärInnen Zugang zu diesen Schichten erhalten, von ihnen lernen und gemeinsam unterdrückerische Verhaltensweisen und die Verhältnisse, die sie hervorbringen, bekämpfen können. Mithilfe der GenossInnen aus verschiedenen unterdrückten Schichten kann das revolutionäre Programm weiter ausgearbeitet, bereichert und konkretisiert werden, so dass sichergestellt wird, dass es der gesamten ArbeiterInnenklasse entspricht (und nicht unbewusst an deren privilegierte Teile angepasst wird).




25.000 gegen IAA und Automobilkonzerne: Wie weiter nach dem politischen Erfolg?

Martin Suchanek, Infomail 1068, 16. September 2019

Die Autoindustrie und die IAA haben Probleme. Am letzten Wochenende kam noch eines dazu. 25.000 beteiligten sich am 14. September an einer Großdemonstration, darunter 18.000 an einer großen Fahrrad-Sternfahrt. Rund 600–1000 Protestierende blockierten an zwei, zeitweilig an drei Eingängen die IAA, wenn auch zum größten Teil „nur“ symbolisch. Politisch ging das Wochenende eindeutig an die Umweltbewegung. Allein die Großdemonstration ließ die VeranstalterInnen der IAA und ihr überholtes „Verkehrskonzept“ alt aussehen.

Die deutsche Autoindustrie redet sich indessen die Welt
weiter schön. In einer Presseerklärung dankt sie der Polizei für ihr
umsichtiges Handeln. Der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernhard
Mattes, hat sogar die Chuzpe, die IAA als Beitrag zur ökologischen Umgestaltung
darzustellen.

SchönrednerInnen in der Defensive

Zuerst freue er sich, dass die IAA allein am 14. September
60.000 zahlende BesucherInnen zählte, dass die Probefahrten mit den rund 70
neuen Automodellen, Offroad-Parcours und E-Tracks seit Tagen ausgebucht wären.
Worin bei stetig steigenden Marktanteilen der spritfessenden SUVs wie auch bei
Rekordgewinnen der Konzerne der „Beitrag“ zur ökologischen Nachhaltigkeit
besteht, bleibt wohl das Geheimnis der SchönrednerInnen der Autolobby.

Mattes scheint darunter die Beteiligung an der
„gesamtgesellschaftlichen Debatte um Klimaschutz und nachhaltiger Mobilität“ zu
verstehen. Daran hätte sich die IAA mit einem „offenen Bürgerdialog mit
hochrangigen Vertretern der Automobilindustrie, der Politik und Gewerkschaften“
beteiligt, bei dem vor allem die drei Vertreter von Bosch, Daimler und Porsche zu
Wort kamen. Selbst der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann (SPD) sagte seine
Teilnahme an der Selbstinszenierung der Industrie ab, nachdem er als Redner
ausgeladen worden war. Schon die Rede eines harmlosen Reformisten scheint bei
der peinlichen Werbeveranstaltung unkalkulierbar, dem „offenen Dialog“ abträglich.

Die Vertreterin von Fridays for Future, die auch als
Staffage bei dieser Inszenierung hätte fungieren sollen, sagte sofort ab. Unter
tosendem Beifall griff sie dies zynische Manöver der Autoindustrie auf der Abschlusskundgebung
am 14. September an.

Massendemonstration

Die Beschwörungsformel der Autolobby, dass Markt, Innovation
und „freiwillige“ Vereinbarungen alle Problem lösen würden, entpuppt sich
allein schon angesichts von Skandalen, Korruption und SUV-Hype als
unfreiwillige Realsatire. Wenn den 25.000 und den Menschen, die die IAA
blockierten, eines klar war, so die Tatsache, dass Klimaschutz und
Profitinteressen der Großkonzerne nicht miteinander vereinbar sind. Die
Mobilisierung gegen die symbolträchtige IAA, diese Hohe Messe des Fetischs
Automobil, brachte Massen auf die Straße.

Die Demonstration verdeutlichte – gewissermaßen als
Mikrokosmos der aktuellen Lage der Bewegung – deren Stärken und politische
Schwächen.

In den letzten Jahren entwickelte sich in Deutschland, aber
auch weltweit eine Massenbewegung gegen die drohende Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen, eine „Umweltbewegung“. Das zeigen die Aktionen gegen die
Braunkohleindustrie am Hambacher Forst und „Ende Gelände“ ebenso wie Fridays
for Future und auch dieses Wochenende.

Zweitens können wir davon ausgehen, dass diese Bewegung
weiter Bestand haben und wachsen wird.

Dazu trägt allein schon die reale Weigerung der Konzerne bei, jede auch noch so unbedeutende Maßnahme hinzunehmen oder gar umzusetzen, die ihre Profite zu gefährden droht. Und dazu trägt auch bei, dass „die Politik“ der Bundesregierung wie aller bürgerlichen Parteien immer wieder ihre Grenzen an den Profitinteressen der Konzerne findet.

Diese spielen zwar heute das Spiel vom Pseudo-Klimaschutz
mit, wohl wissend, dass der reaktionäre Schwachsinn der KlimaleugnerInnen von
der AfD zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist, dass er nur ein Minderheitenprogramm
mehr oder weniger wild gewordener KleinbürgerInnen darstellt. Das kann sich
ändern. Zur Zeit jedoch geben sich Kapital und Kabinett „ökologisch“, wohl
darauf hoffend, der Bewegung durch Einbindung der Umweltverbände, der GRÜNEN,
durch „Umweltprogramme“, die dem Kapital nicht schaden, den Wind aus den Segeln
zu nehmen.

Diese Pseudoaktivität erkennen zweifellos auch immer mehr
AktivistInnen der Bewegung – einschließlich der sog. Umweltverbände und NGOs.
Andererseits – und hier kommen wir zu den Schwächen der Bewegung – läuft deren
gesamte politische Strategie darauf hinaus, die Industrie und „die Politik“
durch Bewegung und Dialog, durch „Vernunft“ und „Druck von der Straße“ auf eine
wirkliche „Umkehr“ zu verpflichten. Das schließt durchaus Verbote und
Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Kapitalgruppen, Unternehmen oder Produktsparten
ein – allerdings in Form einer politischen „Wende“, die das Privateigentum an
den Produktionsmitteln, Markt und Konkurrenz in Kraft lässt. Am Profit haben
die Naturschutzverbände und die GRÜNEN, die die Bewegung politisch dominieren,
nichts auszusetzen – er sollte nur „ökologisch sinnvoll“ reinvestiert werden.
Die Marktwirtschaft soll nicht nur „sozial“, sondern auch „ökologisch“
reguliert werden.

Hier erhebt sich eine Hauptfrage der gesamten Bewegung und
somit ein zentraler Hebel für eine revolutionäre Klassenpolitik: die
Eigentumsfrage. Wer die Macht der Konzerne wirklich brechen will, der muss sie
enteignen – entschädigungslos und unter ArbeiterInnenkontrolle. Wer den Konsum
der Gesellschaft wirklich nachhaltig verändern will, der muss auch die
Produktion umgestalten. Produktion für die Bedürfnisse der Massen und im Sinne
ökologischer Nachhaltigkeit erfordert die Enteignung des Kapitals, die
Ersetzung einer profitorientierten Marktwirtschaft durch demokratische Planung
im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung.

Diese Fragen drängen sich in der Bewegung durchaus auf – und
zwar, wie z. B. die Wohnungsfrage und der bisherige Erfolg der Kampagne
„Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ zeigen, durchaus nicht nur im Umweltsektor.

Führungsproblem

Die Grüne Partei, die Führungen der (klein)bürgerlichen
Umweltverbände, der NGOs, aber auch von Fridays for Future stehen dieser
Perspektive entgegen. Für sie existiert die Eigentumsfrage, die Klassenfrage
allenfalls am Rande. „Bestenfalls“ stellt sie für diese Parteien und
Organisationen eine Frage der „sozialen Gerechtigkeit“, des „Ausgleichs“, einer
angeblich „fairen Verteilung“ dar – ohne das grundlegende gesellschaftliche
Klassenverhältnis in Frage stellen zu wollen. Allenfalls soll das Gewicht der
gesellschaftlichen Interessen „sozial“ verschoben werden.

Eine solche Politik, die auch die reformistischen Parteien
SPD und Linkspartei sowie die Gewerkschaftsführungen verfolgen, kommt einer
Quadratur des Kreises gleich. Sie ist zum Scheitern verurteilt, wie alle
„Reformbemühungen“ der letzten Jahrzehnte gezeigt haben. Allenfalls können sie
für bestimmte Perioden soziale Verbesserungen für die Ausgebeuteten schaffen.
Doch in einer Krisenperiode wie der aktuellen bietet auch das keine dauerhafte
Perspektive, sondern allenfalls eine kurzfristige Linderung, die so rasch wie
möglich vom Kapital wieder in Frage gestellt wird.

Das bedeutet keineswegs, dass RevolutionärInnen der
kleinbürgerlichen oder reformistischen Flickschusterei am Kapitalismus nur
abstrakt Enteignung und Revolution entgegenstellen sollen. Eine solche Politik
wäre letztlich nicht revolutionär, sondern bloß doktrinär.

Es geht vielmehr darum, den Kampf um unmittelbare
Forderungen mit dem gegen das System zu verbinden. Dazu gehört die Forderung
nach einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und dessen Ausbau unter
Kontrolle der Beschäftigten und NutzerInnen – finanziert durch die massive
Besteuerung der Gewinne und der großen Vermögen. Dazu gehört die Forderung nach
Umstellung der Automobilproduktion unter Kontrolle der Beschäftigten und
Gewerkschaften. Dazu gehört der Kampf gegen alle Entlassungen – auch in den
„umweltschädigenden“ Industrien, deren fortlaufende Bezahlung zu den
bestehenden Löhnen und Gehältern sowie eine etwaige Umschulung für den Einsatz
in neuen, umweltschonenden Bereichen ohne Lohnverlust.

Und die Gewerkschaften?

Ein solcher Kampf erfordert freilich, dass die
Gewerkschaften (und die gesamte ArbeiterInnenbewegung) selbst verändert werden
müssen. Die Spitzen von ver.di und IG Metall unterstützen den globalen
Klimastreik am 20. und 27. September zwar verbal und „moralisch“, doch sie
weigern sich, offen dazu aufzurufen.

Natürlich stehen einem Klimageneralstreik tarifrechtliche,
legale, vor allem aber politische Hürden entgegen. Ein offener Aufruf zum
Klimastreik hätte nämlich nicht nur mit Klagen und Drohungen zu kämpfen, er
würde vor allem einer Aufkündigung der Sozialpartnerschaft gleichkommen –
jedenfalls in den Augen der Unternehmerverbände und der Regierung. Da das die
Bürokratie auf keinen Fall riskieren will, haben wir es mit der absurden
Situation zu tun, dass die Gewerkschaften zwar den Klimastreik „gut“ finden –
aber keinesfalls auch nur in den Geruch kommen wollen, ihn praktisch
durchzuführen. Da aber die DGB-Gewerkschaften die einzigen Organisationen sind,
die einen realen Generalstreik auch durchführen könnten, entpuppen sich die
Beschlüsse der Spitzen als Luftnummern.

Eine tragische Konsequenz dieses politischen Versagen
besteht darin, dass es so erscheint, als würden wohlwollende UnternehmerInnen
nicht minder zum Gelingen der Mobilisierung am 20. September beitragen als die
ArbeiterInnenbewegung. Bislang haben rund 2.500 Unternehmen zur Unterstützung
von Fridays for Future aufgerufen. Diese Entwicklung legitimiert angesichts der
Passivität der Gewerkschaften unwillkürlich eine klassenübergreifende Politik,
die sich Unterstützung bei Gewerkschaften und „umweltorientierten“
GeschäftsbetreiberInnen sucht. Zweifellos entspricht das auch der
vorherrschenden Ideologie, dem vorherrschenden Bewusstsein einer ideell
weitgehend kleinbürgerlich geprägten Bewegung.

Die Schwäche der Gewerkschaften – wie überhaupt der organisierten
ArbeiterInnenbewegung – zeigte sich leider auch bei den Protesten gegen die
IAA. Gewerkschaftsfahnen waren praktisch nicht zu sehen. Die Linkspartei trat
gerade mit einem kleinen Block am Ende der Demo in Erscheinung. Überhaupt war
die organisierte Linke sehr schwach vertreten. Wir, die Gruppe
ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, beteiligten uns mit dem Transparent „Konzerne
enteignen!“ an der Aktion und mit mehreren Verkaufsteams. Dabei stieß die Frage
der Enteignung auf reges Interesse und Zuspruch. Die Bewegung erweist sich also
durchaus als offen für linke, anti-kapitalistische, ja
revolutionär-kommunistische Positionen. Sie müssen aber auch verbreitet,
bewusst und offen in die Bewegung getragen werden. Zweifellos versuchten das
auch einige linke Blöcke (z. B. von Fridays for Future Köln) – aber
insgesamt war dieser Teil leider nur schwach vertreten.

Extinction Rebellion

Bei den Blockaden stellten radikalere AktivistInnen sicherlich einen größeren Teil der Anwesenden. Die dominierende Kraft bildete hier „Extinction Rebellion“, das sich als aktivistischer, radikaler Flügel der Bewegung präsentiert und Zulauf erhält. Zweifellos stellt diese Gruppierung verglichen mit dem Lobbyismus der NGOs und Umweltverbände einen Schritt nach links dar, der sie attraktiv macht. Zugleich bezieht sich die Radikalität von Extinction Rebellion aber fast ausschließlich auf die Aktion – Blockaden und andere Formen des „zivilen, gewaltfreien Ungehorsams“. Politisch inhaltlich entpuppt es sich allenfalls als linke Spielart kleinbürgerlichen Populismus. So gipfeln die Forderungen von Extinction Rebellion Deutschland darin, dass die Regierung (!) „den Klimanotstand ausrufen“ und „jetzt handeln“ müsse. Insbesondere müsse sie „eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Darin beraten und entscheiden zufällig ausgewählte Bürger:innen darüber, wie die oben genannten Ziele erreicht werden können. Sie werden dabei von Expert:innen unterstützt. Durch die zufällige Auswahl der Bürger:innen werden alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden.“ (https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen)

Angesichts der drohenden Katastrophe gibt es für Extinction
Rebellion nur noch BürgerInnen, keine Klassen, keine einander entgegensetzte
Interessen, Ziele, Strategien und Programme. Diese Unterschiede müssten
vielmehr in den Hindergrund treten. Was sich als „radikale“ Alternative zum
Parlamentarismus präsentiert, stellt sogar noch einen Schritt hinter die
bürgerliche Demokratie dar, wo die „RepräsentantInnen“ der „BürgerInnen“
wenigstens per Wahl und nicht durch Zufall (Los) bestimmt werden. Hier
offenbaren sich die reaktionären Implikationen eines kleinbürgerlichen
Radikalismus, der vom Klassencharakter der Gesellschaft nichts mehr wissen will
bzw. nie wissen wollte.

Umweltfrage ist Klassenfrage

RevolutionärInnen müssen daher nicht nur die Politik der GRÜNEN,
der Umweltverbände und NGOs, von SPD, Linkspartei und Gewerkschaften
kritisieren, sondern auch den keineswegs so radikalen Flügel der Bewegung und
dessen kleinbürgerliche Ideologie.

Das erfordert:

1. Die Unterstützung der Bewegung, die Mobilisierung für und
Beteiligung an den Aktionen. Wir rufen zur Unterstützung der Demos am 20.
September, aber auch zu Blockaden wie am 15. September in Frankfurt auf.

2. Entscheidend geht es darum, das Gewicht der
ArbeiterInnenklasse ins Spiel zu bringen. Die Politik der Gewerkschaftsführungen
und der ReformistInnen stellt dabei das zentrale Hindernis dar. Das andere
bilden aber auch die realen kleinbürgerlichen Vorurteile und die nicht minder reale
Ignoranz von Teilen der Umweltbewegung gegenüber den Existenzängsten von
Lohnabhängigen.

Auch daraus erklärt sich die geringe Repräsentanz der
Kernschichten der ArbeiterInnenklasse wie auch deren unterdrücktester Teile –
MigrantInnen, prekärer Beschäftigten – in der Bewegung. Der Appell, das eigene
„Konsumverhalten“ zu überdenken und ändern, kann Menschen, deren
Konsummöglichkeiten ohnedies jährlich mehr und mehr durch Teuerung und
Einkommensverlust beschnitten werden, nur wie Hohn vorkommen. Die Forderung
nach einem pauschalen „Wachstumsstopp“ wird  vielen Menschen in den vom Imperialismus dominierten Ländern
des Südens oder auch Osteuropas, die an Deindustrialisierung oder extrem
einseitiger, selektiver Entwicklung leiden, nur als arrogante Vorstellung von
Öko-KolonialistInnen erscheinen. Und das zu Recht.

Die einzige Lösung besteht auch hier in der Eigentums- und
Systemfrage und drückt sich in Forderungen wie den folgenden aus: Enteignung
der imperialistischen Konzerne und InvestorInnen, nach sofortiger Streichung
der Auslandsschulden, nach einem Investitionsplan unter ArbeiterInnenkontrolle
gemäß der Entwicklungsbedürfnisse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit.

Die Umweltkatastrophe wird nicht einfach von „den“ Menschen
verhindert werden. Die Interessen der herrschenden Klasse sind auf Gedeih und
Verderb mit der Aufrechterhaltung eines Systems verbunden, wo der Zweck der
Produktion in der Aneignung der Arbeit und an der Ausnutzung Natur zur
Profitmaximierung besteht. Daher nutzen die Appelle an die „Vernunft“ und
Einsicht der Herrschenden und ihrer Regierung regelmäßig – nichts! Sie offenbaren
allenfalls eine naive, geradezu rührselige Hoffnung in die bürgerliche
Regierung.

Die ökologische Katastrophe kann nur verhindert werden, wenn
jene Milliarden Menschen, die weltweit täglich den Reichtum der Gesellschaft
hervorbringen, produzieren und ausgebeutet werden, selbst ihr Schicksal in die
eigene Hand nehmen. Doch das ist nur möglich im Kampf gegen die
Klassenherrschaft des Kapitals und seine Zuspitzung zum revolutionären Sturz
der bestehenden Verhältnisse.

So richtig und wichtig Demonstration, Blockaden,
Platzbesetzungen auch sind – verglichen mit politischen Massenstreiks der
ArbeiterInnenklasse sind dies letztlich nur vorbereitende, weitgehend
symbolische Aktionsformen. Damit der Generalstreik gegen die Klimakatastrophe
wirksam wird, muss die ArbeiterInnenklasse zur zentralen Kraft der Bewegung
werden. Dies bedeutet jedoch keineswegs nur, ja nicht einmal in erster Linie
eine Veränderung der Aktionsform – es bedeutet vor allem eine Änderung des
eigentlichen Ziels: die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer
globalen, demokratischen Planwirtschaft. Nur so kann „system change not climate
change“ Wirklichkeit werden.