Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande – صوت المرأة ثورة وليس عارًا

Dilara Lorin, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2024

Tunesien, 17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler, zündet das Feuer über seinen abgemagerten und ausgebeuteten Körper an, gegen die Perspektivlosigkeit und Polizeigewalt, die er und andere erfuhren. Die Flammen verbrennen ihn, er stirbt. Doch dieses Feuer war der Funken, der in der arabischen Welt die Flammen der Revolutionen entfachte.

Der Arabische Frühling

Der Arabische Frühling, die Revolutionen von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien und in den Jemen haben Generationen von Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen geprägt. Für eine gewisse Zeit schien das revolutionäre Aufbegehren unaufhaltbar zu sein. Massendemonstrationen, die sich gegen autoritäre Regime richteten und ein würdevolles Leben, Menschenrechte und demokratische Mitbestimmung forderten, sowie Streiks einer sich erhebenden Arbeiter:innenklasse ließen die Ben Alis, Assads, al-Gaddafis und Mubaraks erzittern.

In Tunesien führten örtliche Gewerkschaften, Angestellte und insbesondere die oppositionellen Kräfte im Dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) die Proteste an, die auch stark von Jugendlichen und Arbeitslosen getragen wurden. Am 10. Januar 2011 riefen Branchengewerkschaften der UGTT, darunter die Lehrer:innen, zu einem zweitägigen Generalstreik und Massendemonstrationen im ganzen Land auf, wobei die Führung der Gewerkschaften massiv von ihrer Basis und den Protesten unter Druck gesetzt wurde.

Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Sein Sturz befeuerte in der gesamten Region einen revolutionärer Prozess. Dabei verliefen die Proteste anfangs ähnlich. Ägypten sollte als nächstes dran sein. Dabei spielten Facebook und Social-Media-Kanäle zur Mobilisierung und Dokumentierung eine essenzielle Rolle. Obwohl die Protestierenden am 25. Januar und an den Tagen danach massiv und brutal angegriffen und zahlreiche Menschen von Regierungseinheiten ermordet wurden, konnten die Barrikaden und Einsatzkräfte von Polizei oder Armee die Massen nicht stoppen.

Atemberaubend muss der Moment gewesen sein, als von Hunderttausenden der Slogan der Revolution aus Tunesien in den Straßen Ägyptens wiederhallte: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Vor allem der Tahrir-Platz in Kairo wird zum großen Symbolbild der Revolution in diesem Land und Monate lang besetzt gehalten und von Aktivist:innen selbstverwaltet. Auch Streiks erschüttern die Herrschenden dieses Landes. Soziale Forderungen wurden nach der Ansprache Mubaraks am 10. Februar, als er die schrittweise Übergabe seiner Amtsgeschäfte ankündigte, mit der anwachsenden Streikwelle immer stärker: Lohnerhöhung, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsrechte. Der halbe Rücktritt kommt zu spät, die Revolution weitet sich noch mehr aus und Mubarak muss am 11. Januar endgültig gehen.

In Syrien beginnt die Welle der Revolution ebenfalls blutig: Jugendliche aus Dar’a schreiben im März an ihre Schulwand, inspiriert vom Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten: „It’s your turn doctor“. (Baschar al-Assad ist Augenarzt). Sie werden inhaftiert und gefoltert, einer stirbt. Aber Massen gehen auf die Straßen. Die Massenproteste mit mehreren 100.000 Teilnehmer:innen in ihrer Höchstphase fanden schnell Unterstützung von Soldat:innen, welche dem Regime und dessen bewaffnetem Arm den Rücken kehrten und zurück in ihre Stadtteile gingen. Dort beschützten diese anfänglich die Demonstrationen gegen Angriffe des Staates. Im gleichen Zeitraum entstehen Stadtkomitees und eine Organisierung von Arbeiter:innen mit basisdemokratischen Strukturen. Die noch zum Teil unkoordinierte Organisierung der bewaffneten Teile verteidigt bald schon ganze Stadtteile und drängt Armee und regimetreue Milizen zurück. Dies sind nur einige kurze Ausführungen über die Massenproteste und ihre allgemeinen Auswirkungen.

Außerdem sind dies Teile der „1. Welle“ des Arabischen Frühlings, als sich die Regime in der Defensive befanden, Diktatoren wie Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden. In dieser Phase spielten Frauen eine wichtige Rolle, da auch sie an vorderster Front gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpften. Sie übernahmen wichtige und notwendige Rollen während der Proteste, welche von Sanitätsaufgaben, über journalistische Arbeit bis hin zur Mobilisierung und Organisierung reichten. Dabei muss angemerkt werden, dass vor allem in dieser Phase geschlechtsspezifische Forderungen keine essenzielle Rolle spielten. Denn egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung, der Schrei gegen Unterdrückung, nach sozialen Forderungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten, und für den Sturz der Regime und Demokratie betraf alle.

Doch die weitere Entwicklung des Arabischen Frühlings – sowohl seine Ausweitung in andere Länder wie auch die Reaktionen der Staatsapparate, die weiter bestanden, und der herrschenden Klassen, die sich auf sie stützen – veränderte auch die Forderungen. Darin wurden auch mehr geschlechtsspezifische Fragen laut. In einigen Ländern übernahmen auch weibliche Personen wichtigere Rollen. Dabei konnten z. B. im Libanon Frauenorganisationen an Masse gewinnen und im Sudan wurden Videos von protestierenden jungen Frauen in weißen Hidschabs immer verbreiteter. Doch die Konterrevolution – egal in welcher Welle des Arabischen Frühlings und in welcher Form, ob durch offene brutale Repression und Bürger:innenkrieg oder durch eine Mischung aus Repression und Inkorporation – rief überall nach der Einschränkung von Frauenrechten und der Rolle der Frauen, die in den Revolutionen sichtbar wurde. Wir wollen diese exemplarisch in einigen Ländern genauer betrachten.

Wir kämpfen – wir sind nicht Opfer

Sehen wir in den westlichen Medien etwas über den Arabischen Frühling, scheinen fast ausschließlich nur männliche Personen vor die Linse der Kamera zu treten. Beim Lesen von vor allem liberalen Berichten und Analysen zum Arabischen Frühling werden weibliche Personen oft als Opfer von Gewalt und Vergewaltigungen dargestellt. Und auch wenn dies leider tragische Wahrheit ist, so ist dies nicht das Einzige, welches die Rolle der Frauen in den Revolutionen widerspiegelt.

So spielten Frauen als Aktivist:innen und Medienschaffende eine große Rolle: Asmaa Mahfuz in Ägypten, Arwa Othman im Jemen, Lina Ben Mhenni in Tunesien, um nur einige Namen zu nennen. Durch die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen in Tunesien konnte hier eine starke Präsenz von weiblichen Personen verzeichnet werden. Dabei waren sie nicht nur Journalistinnen, sie waren Teil von Volkskomitees, welche tunesische Wohnviertel schützten, vor allem in Phasen, als der Staat kollabierte.

Nach dem Sturz von Bin Ali wählte Tunesien 2011 die verfassunggebende Versammlung, in welcher mehr als 20 % der Abgeordneten aus Frauen bestanden. Dies zeigt die allgemeine Tendenz, welche von den Aufständen verursacht und errungen wurde, dass sich Frauen vermehrt an öffentlichen Debatten und Entscheidungen beteiligten. Es entstehen viele neue NGOs, Organisationen, und viele Frauen lassen sich in unterschiedlichen Ländern zur Wahl aufstellen.

Es wurden zum Teil Räume und Möglichkeiten geschaffen, in welchen das Bild der Frau, ihre Rolle und die Frage der Sexualität immer mehr Gegenstand der Debatten wurden.

Dabei mussten Frauen für diese kleinen Errungenschaften viel leisten: In praktisch allen Ländern wandten die Kräfte des alten, erschütterten, aber letztlich nicht gestürzten Regimes systematisch sexuelle Gewalt gegen protestierende Frauen an. Dadurch sollte ihre Moral gebrochen werden, um ihre Präsenz und die Bewegung insgesamt zu schwächen. So gibt es Berichte darüber, dass in den Truppen in Libyen, welche loyal zum Diktator al-Gaddafi standen, Viagra verteilt wurde.

In Ägypten versammeln sich am 8. März 2011 Frauen auf dem Tahrir-Platz, um den Frauenkampftag zu feiern. Sie werden von Gegendemonstrant:innen eingekreist und brutal angegriffen. Am darauffolgenden Tag erfolgt die systematische Schikane seitens der Armee. Diese stürmt zusammen mit Polizei und bezahlten Schlägertrupps den Platz. Von den Protestierenden werden 18 Frauen inhaftiert und bei 7 von ihnen wurden im Gefängnis „Jungfräulichkeitstest“ durchgeführt. Die Gewalt gegenüber Frauen nahm am 17.12.2011 eine neues Höchstmaß an, beim „Vorfall mit dem blauen BH“, bei welchem das ägyptische Militär eine protestierende Frau verprügelte. Videos wurden veröffentlicht, in welchem man die ohnmächtige Frau erkennt, wie sie an ihren Armen durch die Straße gezerrt wird, ihre Abaya (Überkleid) zerrissen und ihr nackter Körper mit einem blauen BH wird deutlich. Daraufhin versammelten sich am 20.12.2011 Tausende Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz. Dies wird als einer der größten Frauenproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen.

Die systematische sexualisierte Gewalt durch staatliche und reaktionäre Kräfte führte dazu, dass Frauen einheitlicher auftraten, Frauenorganisationen gegründet wurden und diese eine Koalition aufbauten. Frauen waren notwendige Akteur:innen der Proteste, welches ihnen Legitimität und Aufmerksamkeit verlieh. Dies versuchten Diktatoren wie Salih im Jemen zu unterbinden. In einer Ansprache am 15.04.2011 versuchte er durch den Satz „Der Islam verbietet die Vermischung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit“, die großen Sit-ins und Platzbesetzungen zu diskreditieren.

Oftmals kämpften Aktivistinnen auch gegen ihre eigenen Familien und Verwandtschaftskreise, da diese sich gegen ihren Aktivismus stellten. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte syrische Schauspielerin Fadwa Soliman. Trotz Gefahr von Tod oder Gefängnis wollte sie an den Protesten teilnehme, um die ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung zu widerlegen, dass alle Mitglieder der alawitischen Gemeinschaft, die etwa 10 % der syrischen Bevölkerung ausmachen, die Regierung ihres alawitischen Landsmanns Baschar al-Assad unterstützen. Sie wollte auch die Darstellung der Regierung widerlegen, dass diejenigen, die an den Protesten teilnahmen, entweder Islamist:innen oder bewaffnete Terrorist:innen seien. Dabei wurde sie jedoch von ihrer Familie ausgeschlossen und exkommuniziert.

Es ist nicht unüblich, dass in solchen spontan auftretenden Protesten Forderungen nach Würde, Regimewechsel, Freiheit vordersten Rang einnehmen. Dabei kämpften überall Frauen und Männer Seite an Seite für den Sturz „ihrer“ Regime. Auch wenn sich die patriarchale Unterordnung von Frauen in der Region allein durch den Arabischen Frühling nicht auflösen konnte, ermöglichte er ein Aufsprengen und Hinterfragen vieler traditionelle patriarchaler Gedanken, Ideologien und Geschlechterrollen. Dabei sitzen diese tief und lassen sich nicht durch einen Regimewechsel und einige demokratische Gesetze überwinden.

Mit dem Eintreten der Welt in die imperialistische Epoche kämpften die Massen in den Kolonien gegen ihre Unterordnung, Ausbeutung und Fremdherrschaft. Antikoloniale Kämpfe führten jedoch nicht zu einer kompletten Unabhängigkeit dieser Länder. Es entstanden Halbkolonien, Staaten, die zwar formal politisch unabhängig sind, aber wirtschaftlich und letztlich auch politisch abhängig von imperialistischen Staaten und ihrer Weltordnung. Diese Abhängigkeit führte dazu, dass halbkoloniale Länder systematisch unterentwickelt gehalten wurden, sich Ungleichheit im Rahmen der globalen Arbeitsteilung verfestigte, wenn nicht sogar verstärkte. Vorkapitalistische Herrschaftsformen und patriarchale Strukturen wurden nicht zerschlagen, sondern vielmehr in den halbkolonialen Kapitalismus und den Weltmarkt integriert. Wir erinnern daran, dass die USA unter anderem an Stammesführer in Afghanistan, Irak oder Syrien Waffen lieferten und diese als Partner eher akzeptierte als andere, wodurch sie auch den Fortbestand dieser Strukturen unterstützten. Während des Arabischen Frühlings konnte beobachtet werden, dass für viele Frauen der Aktivismus von ihren Familien und Freund:innen ungern gesehen war und ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden.

Forderungen, die vermehrt genderspezifisch aufgeworfen wurden, wurden vor allem in den Nachwehen des Arabischen Frühlings populär. So spielten Aktivistinnen 2019 in den Oktoberprotesten im Irak eine wesentliche Rolle. Aktivistin Amira Al-Jaber erzählt in einem Interview mit Al Jazeera (Al Dschasira), dass die Präsenz von Frauen in den Protesten dazu beigetragen hat, die von der Gesellschaft auferlegten Beschränkungen, unsere Stimme nicht zu zeigen, zu brechen. Wir haben den Slogan: „Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande“ erhoben.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die objektive Lage von Frauen sich nicht verbessert hat, sondern konterrevolutionäre Parteien und Regime, Bürgerkrieg und, im Extremfall, der Aufmarsch von Daesch (Islamischer Staat) immer mehr ihre Rechte einschränkten. Aber der Arabische Frühling verlieh zugleich vor allem Frauen Erfahrungen, Kampfgeist und Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen.

Wie kämpfen wir für einen neuen Arabischen Frühling? Wie tragen wir den Kampf gegen Frauenunterdrückung in die Massen?

Der Arabische Frühling, egal ob in Tunesien, Bahrain, Irak oder Sudan war eine fortschrittliche Erhebung der Massen, welche sich gegen Verarmung und repressive Regime richtete. Dabei darf die Rolle von imperialistischen Mächten, die die Region systematisch in Abhängigkeit halten, um die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Natur zu garantieren, und die deshalb blutige Regime unterstützen, nicht vergessen werden. In vielen Raps, die in Phasen der Massenproteste aus dem Untergrund als Ausdruck der Wut der Jugend bekannter wurden, tritt eine Imperialismuskritik immer mehr in den Vordergrund.

Die Forderung nach grundlegenden demokratischen Rechten ist eine wichtige, kann jedoch nur durch Revolutionen umgesetzt werden, welche die Diktatoren und ihre Milizen und Armeen zerschlagen. Auch wenn die Revolutionen in vielen dieser Länder als „demokratische“ beginnen, so können sie ihre Ziele nur erreichen, wenn sie auch die Grundstrukturen der Gesellschaft, Kapitalismus und Imperialismus, infrage stellen, mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden werden. Die Revolution muss permanent werden – oder sie wird nicht fähig sein, die alten Regime und ihre Grundstrukturen vollständig zu beseitigen.

Der Arbeiter:innenklasse kommt dabei eine Schlüsselrolle hinzu. Die aufkommenden Streiks bis hin zu Generalstreiks waren wichtige und notwendige Mittel, um die aufgeworfenen Forderungen umsetzen zu können. Jedoch können uns demokratische Systeme keine Sicherheit geben, und ein Rückfall in autoritäre Regime mit ihren Diktator:innen kann immer wieder erfolgen und hat immer wieder mit Unterstützung der Imperialistischen Mächte stattgefunden. Wir müssen die Revolution in eine soziale umwandeln, welche die Machtverhältnisse umstürzt und die Klassenverhältnisse, welche zur Ausbeutung und Anhäufung des Reichtums einiger weniger beitragen, zerschlägt. Dabei war es einer der großen Fehler im Arabischen Frühling, dass die Massen und Streikenden keine Organe der Doppelmacht errichteten.

Damit die Revolution siegreich sein kann, muss sie in den Streiks, Massenaufständen und Erhebungen eigene demokratische Kampfstrukturen – Streik- und Aktionskomitees – aufbauen, die sich zur Räten entwickeln können und landesweit zentralisiert werden. Nur so können sie dem zentralisierten Staats- und Machtapparat die gebündelte Kraft der Revolution entgegenstellen und damit auch Organe einer neuen, revolutionären Ordnung schaffen, die den alten Staatsapparat zerschlägt und an seine Stelle tritt.

Um diese Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Räte, Gewerkschaften und Parteien der Unterdrückten zu verteidigen, braucht es auch eine eigene, von Komitees der Arbeiter:innen und Unterdrückten kontrollierte Miliz. Um die einfachen Soldat:innen, die sich nicht in den Dienst der Reaktion stellen wollen, zu gewinnen, braucht es den Aufbau von Soldat:innenräten, die sich mit jenen der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern verbinden.

Damit eine solche Perspektive Fuß fassen und erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht die Revolution eine politische Kraft, die sie anführen kann, eine revolutionäre Partei. Diese muss die kämpfenden und fortschrittlichsten Teile der Unterdrückten und Arbeiter:innen sowie Frauen und Jugendlichen organisieren. Es braucht dabei das Recht von geschlechtlich Unterdrückten, Caucusse zu bilden, welches ihnen ermöglicht, sich in den eigenen Reihen unabhängig vom anderen Geschlecht zu treffen. Dabei soll einerseits ein Ort geschaffen werden, an welchem über den Sexismus in den eigenen Reihen geredet werden kann und Forderungen und Analysen in die Partei zurückgetragen werden können. Die revolutionäre Partei muss dabei Taktiken für den Kampf diskutieren und entwickeln, ein Programm erarbeiten, welches den Kampf für eine Revolution bündelt. Essentiell ist für das Überleben dieser revolutionären Partei die Verbindung mit Revolutionär:innen in den anderen halbkolonialen Ländern sowie den imperialistischen Staaten.

Die Unterdrückung der Frau kann zwar letztlich nur aufgehoben werden, wenn der Kapitalismus zerschlagen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass in Revolutionen und Aufständen weibliche Aktivist:innen keine wesentliche Rolle spielen. Sie sind Speerspitzen kommender Proteste, welches die Frauenrevolution in Iran aufgezeigt hat. Der Kampf um demokratische Rechte und für soziale Forderungen muss immer zusammen mit dem gegen die Unterdrückung von Frauen gedacht werden. Die aktuelle Situation in den beschriebenen Ländern schreit nach einem 2. Aufflammen des Arabischen Frühlings. Die Zeit ist reif. Lasst uns dabei nicht nur lose Bewegungen aufbauen, sondern organisiere dich schon jetzt für den Aufbau revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale!




10 Jahre Rojava: Errungenschaften und Irrwege

Robert Teller, Neue Internationale 267, September 2022

Im Juli 2012 übernahmen bewaffnete kurdische Kräfte die politische Kontrolle in den Regionen Kobanê, Afrin (Efrin) und al-Hasaka Nordsyriens – Zeit für eine kurze Bilanz der Errungenschaften in Rojava.

Syrische und kurdische Revolution

Der Übergang der Macht vom syrischen Regime in die Hände kurdischer Organisationen fand statt im Zuge der Syrischen Revolution von 2011. Im Juli 2012 hatte das Regime die Kontrolle über die drittgrößte Stadt Homs bereits verloren. Am 18. Juli 2012 gelang Aufständischen in Damaskus der bis dahin folgenreichste direkte Schlag gegen das syrische Regime, der den amtierenden und stellvertretenden Verteidigungsminister das Leben kostete. In Aleppo brach der Aufstand am 19. Juli offen aus. Das Regime der Baath-Partei schien zu dieser Zeit so geschwächt wie noch nie. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli übernahmen kurdische Kämpfer:innen, unterstützt von unbewaffneten Zivilist:innen, unblutig die Kontrolle in Kobanê.

Die Sicherheitskräfte des Regimes wurden entwaffnet und nach Hause geschickt. Ähnliches ereignete sich in den darauffolgenden Tagen an zahlreichen anderen Orten. Vereinzelt leisteten Assads Polizei und Militär Widerstand. Sie mussten jedoch bald einsehen, dass Verstärkung aus anderen Landesteilen nicht zu erwarten war. Der Gewaltapparat der Regierung war in anderen Teilen des Landes massiv unter Druck und nicht in der Lage einzugreifen. Für das syrische Regime wurde die Machtfrage vor allem in Damaskus, Homs und Aleppo entschieden – für die PYD (der syrische Zweig der PKK-Bewegung) aber allein in Rojava.

Dass letztere die politische Führungsrolle der Umwälzung in Rojava einnehmen konnte, lag nicht zuletzt an der Stärke der von ihr aufgestellten bewaffneten Verbände, die im Angesicht einer jederzeit drohenden gewaltsamen Zerschlagung durchaus wichtiger war als jede der utopischen Ideen, die erdacht wurden.

Die seitdem in Rojava errichtete autonome Administration ist heute die letzte demokratische Errungenschaft der Syrischen Revolution von 2011. Weltweit bekannt wurde Rojava während der Belagerung von Kobanê Ende 2014 durch den Islamischen Staat. Die Stadt war zeitweise durch IS-Kräfte und die geschlossene türkische Grenze von jeder Versorgung abgeschnitten, der IS kontrollierte bereits den Ostteil der Stadt. Dass er in dieser aussichtslos erscheinenden Lage letztendlich doch zurückgeschlagen werden konnte, verschaffte der syrischen PKK-Bewegung hohe Anerkennung unter den Massen. Die Verteidigung von Kobanê ist auch einer Welle von Solidarität zu verdanken. Vor allem Kurd:innen aus der Türkei leisteten Unterstützung. Doch auch aus Europa wurde durch Spendensammlungen erhebliche materielle Unterstützung geleistet. Aus Sicht der US-Regierung war die Schlacht um Kobanê die Feuertaufe ihres künftigen Verbündeten, der auserkoren wurde, das Fiasko der gescheiterten Irak-Besetzung einzugrenzen und den Zerfall der staatlichen Ordnung durch den Vormarsch des IS aufzuhalten.

Verteidigt Rojava!

Die seit 10 Jahren permanente Bedrohung einer gewaltsamen Zerschlagung Rojavas zeigt, wie prekär die Selbstverwaltung im Rahmen der gegenwärtigen Grenzen, unter Anerkennung der von imperialistischen Mächten auferlegten staatlichen Ordnung nur sein kann. Der Sieg über den IS hat die Bedrohung Rojavas nicht beseitigt, sondern einen neuen Krieg eröffnet, in dem der US-Imperialismus allerdings weitaus geringeres Interesse für die kurdische Seite zeigte. Der entscheidende Beitrag der kurdischen Kräfte in der US-geführten Militärkampagne schützte sie nicht vor den darauffolgenden türkischen Angriffen. Trotz der von der PYD immer wieder versicherten Anerkennung der syrischen Grenzen stellt die Autonomie in Rojava diese zur Disposition, wie die wiederholten türkischen Überfälle zeigen, die 2018 zur Zerschlagung Afrins und 2019 zur Einrichtung einer „Pufferzone“ entlang der türkischen Grenze geführt haben. Die Türkei hat wiederholt ihre Absicht erklärt, ihre Kontrolle entlang des Grenzverlaufs auszudehnen.

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie in der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Hierzu ist kein romantisierender Blick auf die kurdischen Freiheitskämpfer:innen notwendig. Die Anerkennung der arabischen, kurdischen und aramäischen Sprache als gleichberechtigt, die Gewährleistung politischer Repräsentanz für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Bewaffnung von Frauen und ihre Gleichstellung in rechtlichen Fragen, die Abschaffung der religiösen Gesetzgebung markieren einen Bruch mit der Herrschaft der Baath-Partei, die jahrzehntelang über die kurdischen Regionen mit systematischer wirtschaftlicher Vernachlässigung, Umsiedlungen, Enteignungen und Repressalien regiert hat wie eine Kolonialmacht.

Dass die Türkei die Drohungen der vergangenen Monate noch nicht wahrgemacht hat, liegt daran, dass der US- und russische Imperialismus aus jeweils eigenen Motiven bislang keine Rückendeckung für eine weitere Militäraktion ausgesprochen haben. Die USA befürchten durch die Schwächung Rojavas eine Rückkehr des IS und einen neuen Strudel der Destabilisierung in der Region. Russland argumentiert für das irakische Modell, die Reintegration in den syrischen Staat. In beiden Positionen drückt sich letztlich das Ziel einer geordneten Abwicklung jeder ernsthaften kurdischen Selbstbestimmung, einer konterrevolutionären Stabilisierung aus. Die Türkei arbeitet darauf hin, dass ihre Vermittlungsrolle im aktuellen imperialistischen Hauptkonflikt Ukraine mit einem Geschenk auf dem Nebenschauplatz Syrien honoriert wird.

Der dritte Weg?

Die neutralistische Position der PYD gegenüber der syrischen Revolution bestärkte 2012 die Entscheidung des Regimes, sich aus Rojava zurückzuziehen. Sie enthält aber einen grundsätzlichen politischen Widerspruch: objektiv Teil einer allgemeineren revolutionären Umwälzung zu sein, dieser aber politisch gleichgültig gegenüberzustehen. In den städtischen Zentren, wo die Machtfrage entschieden wurde, stand sie zwischen den Fronten und versuchte, die kurdischen Viertel vom Verlauf der Syrischen Revolution abzuschirmen.

Eine Folge dessen war, dass die syrische Arbeiter:innenklasse – auch deren große kurdische Minderheit mit Verbindungen nach Rojava – nicht zur Verteidigung Rojavas mobilisiert wurde. Unter den arabischen Oppositionskräften setzte sich die chauvinistische Ablehnung des kurdischen Selbstbestimmungsrechts durch, die auch die Herrschaft der Baath-Partei geprägt hat. Die Klassenbasis für ein autonomes Rojava wurde damit auf das ländliche Kleinbürger:innentum und die Kleinbäuerinnen/-bauern dieser Regionen reduziert. Unter diesen Bedingungen und durch das weitgehende Handelsembargo der Nachbarländer rückten die Selbstversorgung Rojavas mit Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern, der Aufbau von Kooperativen und eine begrenzte Landreform der staatlichen Anbauflächen in den Mittelpunkt. Ob dies nun als Verwirklichung einer sozialen Utopie bezeichnet wird oder als pure Notwendigkeit in einer jahrzehntelang besonders schwer unterdrückten Region – an der Realität ändert es nichts.

In Teilen der Linken scheinen sich die Sympathien für die Revolution in Rojava gerade am Zauber ihrer Widersprüche zu entzünden: ein Staat, der keiner ist (obwohl er über Armee, Polizei, Regierung und Justiz verfügt); den Kapitalismus überwinden, ohne das Kapital zu enteignen; die Hymne der Nation singen, die als bereits überwunden gilt; Macht besitzen und zugleich verachten; Überwindung von Grenzen durch Rückzug ins Dorf; Bekämpfung des Patriarchats durch Rückbesinnung auf Tradition.

Diejenigen Teile der westlichen Linken, die Rojava nur als Quelle von Inspiration schätzen, blicken dort in einen Spiegel ihrer eigenen libertären Flausen: von der Wichtigkeit „reiner Demokratie“, vom Weg als Ziel, von der Falschheit jeder objektiven Wahrheit und der Wahrheit des Subjektiven. Die eigene Isolation im befreiten linken Zentrum erscheint dann doch als der goldrichtige Weg. Mit den richtigen utopischen Ideen könnte ja noch ein zweites Rojava draus werden.

Die in den 1990er Jahren politisch „gewendete“ PKK-Bewegung hat ganz ähnlich wie ein Teil der Globalisierungsgegner:innen Ende des Jahrtausends einen Rechtsruck vollzogen, indem die Macht der Unterdrückten als revolutionäres Potenzial gegen den Staat als „utopisch“ verworfen und durch die wirklich utopische Vorstellung ersetzt wurde, den Staat einfach überflüssig zu machen, indem man beginnt, das schöne Leben aufzubauen.

Im Fall der PKK beinhaltete dies auch eine Anpassung ihres Programms an das Scheitern ihres bisherigen bewaffneten Kampfes für einen unabhängigen Staat im türkischen Teil Kurdistans. Es erschien als realistischer, im Rahmen der bestehenden Ordnung graduelle Verbesserungen zu erkämpfen, die nicht mit der bestehenden staatlichen Ordnung in Konflikt geraten. Dass die PKK-Bewegung einmal unverhofft in eine Lage stolpern würde, wo sie die Machtfrage würde stellen müssen, ist eine Ironie der Geschichte. Dass sie dabei über ihr eigenes Programm des Machtverzichts hinausging, kann keine Grundlage für Kritik sein.

Natürlich muss im Angesicht einer drohenden gewaltsamen Zerschlagung der Selbstverwaltung die Verwirklichung von Basisdemokratie der militärischen Notwendigkeit untergeordnet sein. Erstere reduziert sich auf die Organisation einer lokalen Bedarfsökonomie. Die Schwächen des in libertäre Wolken gehüllten, eigentlich urreformistischen Programms der neuen PKK wurden so aber tendenziell verschleiert.

Diese Schwächen ändern zwar nichts am progressiven Charakter der demokratischen Errungenschaften in Rojava, die jede Unterstützung der Arbeiter:innen- und demokratischen Bewegungen anderer Länder erhalten sollten. Diese drohen aber, im Tausch gegen einen offiziellen Autonomiestatus im syrischen Staat unter den Tisch zu fallen. Eine Einigung zwischen dem syrischen und türkischen Regime dürfte dabei als erste Vorbedingung die Entwaffnung Rojavas zu erfüllen haben. Einem solchen reaktionären Deal hätte das heute isolierte Rojava nach den Siegen beider wenig entgegenzusetzen.Die Verteidigung Rojavas vor einer drohenden Zerschlagung oder Vereinnahmung kann aber auch Ausgangspunkt sein, diese zu durchbrechen und den Kampf mit der demokratischen und sozialen Frage in der Türkei, in Syrien und dem Irak zu verbinden. Die kurdische Selbstbestimmung kann nur im allgemeineren Kontext der permanenten Revolution im Nahen Osten weiter ausgebaut und verteidigt werden. Deren Haupthindernis ist wie auch in Rojava vor allem eine Führungskrise, das Fehlen einer revolutionären Partei, die die Massen für diese Verallgemeinerung des Befreiungskampfes gewinnt. Zwei programmatische Standpunkte sollten zentrale Lehren der vergangenen 10 Jahre sein: die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts aller unterdrückten Nationen, um diese als Verbündete für die Revolution zu gewinnen, und die Schaffung einer sozialistischen Föderation von Staaten im Nahen Osten, die Verknüpfung der demokratischen Revolution mit der Umwälzung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die in Widerspruch zu jeder demokratischen Errungenschaft geraten müssen.




Der Arabische Frühling: Zehn Jahre danach

Marcel Rajecky, Neue Internationale 253, Februar 2021

Vor zehn Jahren, am 14. Januar 2011, trat der tunesische Präsident Ben Ali zurück und floh aus dem Land, nachdem es einen Monat lang zunehmend zu Massendemonstrationen junger Menschen und Streiks der Gewerkschaften gekommen war. Inspiriert von diesen Ereignissen brach am 25. Januar desselben Jahres in Ägypten die Revolution aus, in deren Mittelpunkt die Besetzung des Tahrir-Platzes stand. Trotz blutiger Unterdrückung, bei der Hunderte getötet wurden, verbrüderten sich die Soldaten schließlich mit den DemonstrantInnen. Am 11. Februar verkündete das militärische Oberkommando den Rücktritt von Präsident Husni Mubarak, nach 30 Jahren diktatorischer Herrschaft.

Aufstände in Syrien, Libyen, Bahrain und darüber hinaus drohten, diese Revolutionen zu wiederholen. Diese Aufstände wurden damals als der Arabische Frühling oder ein arabisches 1989 bezeichnet. Die Inspiration von Tunis und dem Tahrir-Platz löste auch Besetzungen in New York, Madrid und Athen aus, um nur einige der beteiligten Städte in den USA und Europa zu nennen.

Doch zehn Jahre später sind mit Ausnahme von Tunesien alle alten Regime intakt, viele mit noch repressiveren Herrschern als die, die sie ersetzt haben. Solche Konsequenzen waren oft das Ergebnis massiver Interventionen oder der Unterstützung durch externe Mächte.

Ursachen

Dennoch war die Inspiration der Aufstände von 2011 nicht erschöpft. Weitere Krisen in der Region und weltweit führten 2019 zu einer neuen Welle von Massenprotesten, vor allem im Libanon, Sudan und Irak; Länder, die bei der Welle von 2011 „fehlten“. Der Grund dafür ist, dass die Ursachen, die den Aufständen von 2011 zugrunde lagen, nicht verschwunden sind – im Gegenteil, sie haben sich verstärkt, und trotz der immer repressiveren Regierungen ist ihre Rechnung mit den eigenen ArbeiterInnenklassen noch lange nicht beglichen.

In Tunesien wiederum, auf den Tag genau zehn Jahre nach Ben Alis Sturz, gingen junge Menschen in Massenprotesten gegen Polizeibrutalität auf die Straße, ausgelöst durch die Misshandlung eines Hirten. Nächtelang kämpften die Jugendlichen danach gegen die Polizei und skandierten dabei den Ruf von vor zehn Jahren: „Das Volk will den Sturz des Regimes.“ Al Jazeera berichtet von einem jungen arbeitslosen Demonstranten: „Das ganze System muss weg … wir werden auf die Straße zurückkehren und unsere Rechte und unsere Würde zurückgewinnen, die eine korrupte Elite nach der Revolution an sich gerissen hat.“

Die politische Landschaft in vielen der arabischen Staaten war in den Jahren vor 2011 von Neoliberalisierung geprägt. Vor der Jahrhundertwende hatten die arabischen Staaten typischerweise alle wichtigen Industrien verstaatlicht, subventionierten Lebensmittel und Benzin und hatten eine Art Landreform eingeführt, die ihre Bauern- und Bäuerinnenschaft beschwichtigte. Da viele von ihnen Unterstützung durch die Sowjetunion und ihre eigenen kommunistischen Parteien genossen, konnten sie sich als revolutionäre und antiimperialistische Staaten präsentieren.

Das Abflauen der starken Rolle des Staates in diesen Sektoren führte zu Massenprivatisierungen, dem Wachstum der Bourgeoisie und dem Ersatz von stabilen Arbeitsplätzen in staatseigenen Industrien und subventionierten Grundnahrungsmitteln durch unsichere und schlecht bezahlte Arbeitsplätze und überhöhte Preise für Treibstoff und Lebensmittel.

Es ist daher wenig überraschend, dass die ArbeiterInnenklasse an der Spitze der Proteste stand. In Tunesien wurde nur wenige Tage vor Ben Alis Rücktritt zu einem Generalstreik aufgerufen; in Ägypten streikten die StahlarbeiterInnen, und einige der größten Proteste wurden aus den Industriestädten gemeldet. Ein Großteil der Mobilisierungen der ArbeiterInnen erfolgte unabhängig von ihren FührerInnen, die ihre Gewerkschaften als Flügel der Regierungsparteien führten.

Rückschläge und Vormarsch der Konterrevolution

Nach den ersten Erfolgen der tunesischen und ägyptischen Revolutionen erwarteten viele, dass dasselbe in Syrien und Libyen geschehen würde. Im Gegenteil, die friedlichen und unbewaffneten Massenproteste von Anfang 2011 erwiesen sich als unfähig, die Streitkräfte der Diktatoren in ausreichender Zahl für sich zu gewinnen, um sie davon abzuhalten, die brutalsten Methoden gegen die DemonstrantInnen anzuwenden. Der Aufstand in Bahrain wurde mittels einer raschen saudischen Invasion niedergeschlagen, und in allen Ländern wurden die DemonstrantInnen inhaftiert und gefoltert.

Selbst dort, wo die Revolutionen zunächst „erfolgreich“ waren, führte das Fehlen einer revolutionären Führung dazu, dass sich das militärische Oberkommando unter dem trügerischen Slogan „Armee und Volk sind eins “ hinter die Fassade freier Wahlen zurückzog. Diese wurden vom Kandidaten der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, 2011 von der Muslimbruderschaft gegründet, Mohammed Mursi, in Ägypten gewonnen.

Ägyptens „revolutionäre“ Regierung durchsuchte Ende 2011 die Büros von Menschenrechtsorganisationen und startete eine Hexenjagd gegen deren UnterstützerInnen, darunter auch sozialistische Organisationen. Dann, kaum ein Jahr später, nachdem sie die Massendemonstrationen gegen Mursi ausgenutzt hatten, stürzten Abd al-Fattah as-Sisi und das Militär Mursi – mit der zutiefst irrigen Unterstützung durch die Linken – nur um eine Diktatur zu errichten, die noch brutaler ist als die von Mubarak.

In Syrien und Libyen militarisierten die Regierungen schnell die Angriffe auf die DemonstrantInnen, was zu einem BürgerInnen- und schließlich zu einem StellvertreterInnenkrieg führte, an dem die regionalen Mächte, die Türkei, der Iran, Katar, Saudi-Arabien und andere und die imperialistischen Mächte Russland, die USA, Frankreich und Großbritannien beteiligt waren. Hier tauchten auch dschihadistische Kräfte, die al-Nusra-Front (jetzt: Dschabath Fath asch-Scham) und der Islamische Staat, auf. Diese Länder wurden und bleiben bis heute Schauplatz unsäglicher Gräueltaten und, wo er überlebt, eines belagerten und dezimierten demokratischen Widerstands.

In Syrien wurden die RevolutionärInnen auch hier von ihren selbst ernannten VertreterInnen im Exil im Stich gelassen, die sich auf ihrer Gründungskonferenz entlang nationaler Linien spalteten, wobei die Mehrheit auf der Beibehaltung des „arabischen Charakters“ des syrischen Staates bestand, während die kurdischen FührerInnen sogar ein fragiles Bündnis mit der syrischen Regierung organisierten. Bald fungierten verschiedene Kräfte in Syrien als Werkzeug der rivalisierenden Regionalmächte.

Die DemonstrantInnen stießen auch auf eine uneinheitliche internationale Solidarität von Seiten der Linken. Während SozialistInnen und Progressive die DemonstrantInnen anfangs unterstützten, schwand diese Unterstützung schnell, als die Regime begannen, ihre Angriffe zu militarisieren, die Situation in einen Bürgerkrieg abglitt und reaktionäre islamistische Kräfte an Einfluss gewannen, weil nur sie genügend Waffen und kampferprobte KämpferInnen bereitstellen konnten, um die befreiten Gebiete gegen das Regime zu verteidigen, das in Syrien von Russland, dem Iran und der libanesischen Hisbollah unterstützt wird.

Politische Lager

Der Mut der demokratischen Volkskräfte in Syrien war bemerkenswert, aber die RevolutionärInnen standen einer extremen Brutalität des Regimes und einer ungünstigen Lage gegenüber. Diejenigen, die in den Flüchtlingslagern im Nordwesten Syriens unter furchtbaren Entbehrungen leiden und vom Regime und Putins Luftwaffe angegriffen werden, verdienen unsere Unterstützung und Hilfe, um das Schweigen der bürgerlichen und eines Großteils der liberalen und „sozialistischen“ Presse zu brechen.

In der Zwischenzeit entschieden JournalistInnen wie der kürzlich verstorbene Robert Fisk und John Pilger sich dafür, dass in einem Krieg zwischen reaktionären FundamentalistInnen und modernen säkularen Kräften, wenn auch solchen brutaler Diktaturen, letztere Unterstützung verdienten. Sie spielten routinemäßig die Verbrechen der syrischen Regierung herunter, während Max Blumenthal aus dem Hinterhalt neokonservative Hetzparolen aufgriff, um den BürgerInnenkrieg als Kampf der Kulturen zu charakterisieren.

Auch sozialistische politische Organisationen taten sich schwer damit, Beziehungen zu den verbliebenen Räten und zivilgesellschaftlichen Organisationen in den von der Opposition gehaltenen Gebieten aufzubauen. Verwirrender Weise unterstützten sie zwar die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), sprachen aber nur selten über deren konterrevolutionäre Rolle bei der Belagerung von Aleppo im Bündnis mit der Regierung.

Ein ähnlich irreführendes, aber qualitativ anderes Problem ergab sich in der Reaktion darauf, als ein einflussreiches Buch von Rohini Hensman die fehlende Unterstützung der Linken im Westen für die arabischen Aufstände auf Lenins Schriften zum Imperialismus zurückführte. In Wirklichkeit jedoch hat dessen Imperialismustheorie nichts mit der stalinistischen Theorie von imperialistischen und antiimperialistischen Lagern gemein.

Lenin erkannte, dass es mehrere rivalisierende Imperialismen gab und dass der Widerstand gegen sie von bürgerlichen Kräften in den Kolonien und Halbkolonien ausgehen konnte, die unterstützt werden sollten, ohne dass sich KommunistInnen jedoch diesen Führungen und ihren Ideologien unterordnen oder vorschlagen sollten, sie als die ständige und unangefochtene „antiimperialistische“ Führung zu betrachten.

Die verkümmerten Reste der stalinistischen Parteien der Welt und viele JournalistInnen und AkademikerInnen in ihrem Gefolge stützen sich immer noch auf diesen verzerrten Leninismus und für sie gibt es effektiv nur ein imperialistisches Lager -„westlich“ – d. h. die USA und ihre Verbündeten. In Wirklichkeit sind seit dem Untergang der degenerierten ArbeiterInnenstaaten (mit bürokratischen Planwirtschaften) die beiden größten, Russland und China, nicht nur kapitalistische, sondern eigenständige imperialistische Mächte geworden.

Sie sind jetzt in voller wirtschaftlicher und militärischer Rivalität mit den nordamerikanischen und westeuropäischen Mächten engagiert. Sie sind weder mehr noch weniger fortschrittlich als die Westmächte; trotz ihrer wachsenden Rivalität mit letzteren. In der Tat sind wir zu einer Situation zurückgekehrt, die derjenigen sehr ähnlich ist, die Lenin im Imperialismus beschrieben hat. Eine fortschrittliche Bewegung, die sich an eine von beiden anhängt, öffnet sich dem Verrat und der politischen Korruption.

Aufschwung

Ende 2019 kam es zu dem, was oft als zweiter Arabischer Frühling bezeichnet wird, mit Massenprotesten im Sudan, Irak und Libanon. Die jüngste revolutionäre Welle breitete sich in der Tat über die arabischen Länder hinaus aus, wobei auch im Iran bedeutende Proteste stattfanden.

Genauer gesagt handelt es sich um eine zweite Protestwelle und nicht um einen zweiten Arabischen Frühling, da die Krisen, die beide Protestwellen auslösten, dieselben waren – die sich vertiefenden regionalen Wirtschaftskrisen, Schuldenökonomien und grausame Umstrukturierungen.

Neben den Massenprotesten gab es auch kleinere, vor allem in Syrien, wo die DemonstrantInnen in mehreren Städten auf die Straße gingen und dieselben Parolen riefen wie die Protestierenden acht Jahre zuvor.

Ein gemeinsames Thema, das von den DemonstrantInnen aufgegriffen wurde, war die Notwendigkeit, die sektiererischen politischen Systeme zu zerschlagen, insbesondere im Libanon und im Irak. An den Protesten beteiligt sich, wie schon 2011, eine große Anzahl von Jugendlichen und ArbeiterInnen, und auch Frauen sind an vorderster Front dabei.

Am ausdauerndsten waren die Proteste im Libanon, wo sich nach der Explosion im Beiruter Hafen im August 2020, einer durch die laxen Sicherheitsstandards des Staates verursachten Katastrophe, immer größere Massen mobilisierten.

Während die Proteste durch ihre vollständige Opposition gegen jede der sektiererischen Parteien gekennzeichnet sind, einschließlich der Hisbollah, die aufgrund ihrer Rolle bei der Abwehr der israelischen Invasion eine gewisse Legitimität genossen hatte, aber seitdem als eigenständige sektiererische Partei agiert, ringt der Protest damit, eine Führung zu finden. Dies zeigt sich vor allem in der Bescheidenheit seiner offiziellen Forderungen, die nicht weitergehen als die nach einer technokratischen Regierung.

Folgerungen

Wo beide Protestwellen versagt haben, ist beim Fehlen einer politischen Partei der ArbeiterInnenklasse, die die Interessen der Protestierenden und ArbeiterInnen unabhängig von den bürgerlichen Kräften, die die Bewegungen oft politisch dominierten, vorantreiben kann.

Angesichts der sich vertiefenden Krisen in der Region, die durch die Corona-Pandemie nur noch schlimmer geworden sind, ist es wahrscheinlich, dass despotische Staaten in der gesamten arabischsprachigen Welt und darüber hinaus weiterhin mit Herausforderungen an ihre Macht konfrontiert sein werden. Die Aufgabe, die Hoffnung zu erfüllen, die der Arabische Frühling vor zehn Jahren mit sich brachte, wird letztlich den ArbeiterInnen zufallen und kann nur von ihnen erfüllt werden.

Die wichtigsten Lehren aus diesen Aufständen sind die folgenden:

  • die Erkenntnis, dass die Aufstände in den arabischen Ländern echte fortschrittliche Bewegungen gegen die Verarmung und die repressiven Regime sind, deren Wurzeln im Weltkapitalismus und den Aktionen der rivalisierenden imperialistischen Mächte liegen, die die Monarchen und Militärdiktatoren unterstützen (Russland: Assad; USA: as-Sisi).
  • Revolutionen für die Demokratie können nur gelingen, wenn die Kontrolle der Diktaturen über die Kräfte der Unterdrückung gebrochen wird und solange diese entwaffnet bleiben.
  • Die ArbeiterInnenklasse und die Armen in Stadt und Land sind die notwendige Instanz, um Proteste und Aufstände in eine Revolution zu verwandeln, und sie können sich in ihrem eigenen Interesse nicht mit freien Wahlen und bürgerlichen Freiheiten zufriedengeben. Die demokratische Revolution wird scheitern, wenn sie sich nicht in eine soziale verwandelt, und auf eine Diktatur oder ein gewähltes Regime zurückgeworfen wird, das die Diktate des Internationalen Währungsfonds und anderer imperialistischer Institutionen durchsetzt.
  • Eine revolutionäre Partei ist notwendig, um eine Taktik und ein Programm dafür zu entwickeln, und dazu sind die stärksten Verbindungen mit anderen in der Region und in den Kernländern des bürgerlich-demokratischen Imperialismus erforderlich, wo revolutionäre AuswanderInnen Hilfe von EinwanderInnengemeinschaften, SozialistInnen und der ArbeiterInnenbewegung suchen können.

Wenn dies geschieht, können die heroischen Erfolge und die tragischen Niederlagen zu dem werden, wie Lenin die Aufstände von 1905 in Russland nannte: Generalproben für neue Oktoberrevolutionen.




Interview zur Situation von LGBTIAQ-Menschen in Tunesien

Robert Teller, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Alaa Khemiri ist ein tunesischer
Rechtsanwalt, der auf die Verteidigung von LGBTQ-Menschen vor staatlicher
Repression spezialisiert ist. Er ist seit der Revolution von 2011 ein Aktivist
in der tunesischen Linken.

Hallo Alaa. Du bist Rechtsanwalt und
verteidigst LGBT-Menschen, die in Tunesien von staatlicher Repression betroffen
sind. Wie sieht diese Repression aus?

Die LGBT-Community wird vom tunesischen
Staat mithilfe des Strafrechts verfolgt. Gemäß Artikel 230 des Strafgesetzbuchs
steht auf homosexuellen Geschlechtsverkehr bis zu 3 Jahre Gefängnis und eine
zusätzliche Geldstrafe. Artikel 226 richtet sich gegen Transgender-Personen,
weil diese die „öffentliche Moral“ verletzen. Darüberhinaus sind die
tunesischen Gerichte Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt. Sie wenden
nicht nur die genannten Paragraphen an, sie gehen sogar über die gesetzlichen
Straftatbestände hinaus und behandeln die homosexuelle Identität als
Verbrechen, obwohl Artikel 230 nur den Geschlechtsverkehr kriminalisiert und
nicht bereits die sexuelle Orientierung.

In der Praxis wandern Homosexuelle ins
Gefängnis, ob sie sexuelle Beziehungen hatten oder nicht. Die tunesischen
Gerichte ordnen bei männlichen Homosexuellen Anal-Untersuchungen an, um
sexuelle Kontakte nachzuweisen. Andere Gerichte gehen sogar noch weiter.
Manchmal reicht es aus, dass ein Mann „verweiblicht“ erscheint, damit ein
Gericht ihn als Homosexuellen ansieht und entsprechend bestraft.

Lesbische Frauen und bisexuelle Frauen und
Männer haben es etwas leichter. Gerichte können Homosexualität bei Frauen nur
schwer nachweisen, weil kein medizinischer oder sonstiger „Test“ hierfür
anerkannt ist. Auch bisexuelle Männer können nur schwer der Homosexualität
„überführt“ werden, sofern sie mit einer Frau verheiratet oder verlobt sind.
Die Heirat verleiht ihnen eine soziale Legitimität. Viele Homosexuelle heiraten
aus diesem Grund, um ihre wirkliche Identität zu verbergen und gesellschaftlicher
Stigmatisierung und Ausgrenzung zu entgehen.

Tunesien scheint nach der Wahl von Kais
Saied von einer Welle des Populismus erfasst zu sein, wie auch viele andere
Länder. Denkst du, dass es für LGBT-Menschen schwieriger wird?

Die rechtliche Situation für Homosexuelle
hat sich nicht verändert. Aber die Äußerungen von Kais Saied vor der Wahl waren
homophob und populistisch. Für ihn ist Homosexualität pervers und ein Virus,
das der Westen verbreitet hat, um die tunesische Gesellschaft zu zerstören.

Auf welche Weise sind junge LGBT-Menschen
speziell von Unterdrückung betroffen, etwa in der Schule, an der Uni oder in
ihrer Familie?

Abgesehen von der systematischen
rechtlichen Unterdrückung erfahren Homosexuelle gesellschaftlichen Hass und
Zurückweisung. Viele Familien werfen ihr Kind aus dem Haus, wenn sie von seiner
Homosexualität erfahren – um Einschüchterung durch die erweiterte Großfamilie
oder das soziale Umfeld zu vermeiden. Auch in Schulen werden Homosexuelle Opfer
von Hass und Einschüchterung, und deshalb versuchen sie normalerweise, ihre
sexuelle Identität zu verheimlichen und dem gesellschaftlichen Mainstream zu
folgen, um gesellschaftlicher Ausgrenzung und staatlicher Repression zu
entgehen.

Welche Gründe hat die Diskriminierung von
LGBT-Personen, abgesehen von den gesetzlichen Regelungen?

Die Ausgrenzung entspringt der islamischen
Doktrin und den islamischen Institutionen. Der orthodoxe Islam sieht als Strafe
für Homosexualität die Todesstrafe vor. Der islamische Diskurs in Tunesien ist
hasserfüllt, Homosexuelle werden als pervers oder krank betrachtet. Die
islamischen Institutionen sind das größte Hindernis für Gleichberechtigung.

Staat, Religion und Gesellschaft
akzeptieren in Tunesien Homosexualität nicht, sie verbreiten Propaganda, um deren
sexuelle Identität zu erniedrigen, die sie als Bedrohung für Werte und Moral
der Gesellschaft betrachten. Die tunesische Gesellschaft ist für ihren
Konservatismus bekannt. Sogar viele Abgeordnete betrachten Homosexualität als
Sünde.

Die Tunesische Revolution hat den
Klassenkampf in Tunesien stark bestimmt. Gab es seither Verbesserungen bei den
Rechten von LGBT-Menschen?

Der einzige Fortschritt ist, dass das Thema
nun öffentlich debattiert wird. Vor 2011 war es ein Tabu, man konnte es nicht
öffentlich ansprechen. Das ist der Verdienst von LGBTQ-Vereinigungen, die das
Thema in die Öffentlichkeit gebracht haben.

Welche Positionen gibt es in den
traditionellen Organisationen der tunesischen Linken dazu? Ist sexuelle
Befreiung für sie eine Priorität?

Die traditionelle Linke ist konservativ und
betrachtet LGBTQ-Rechte nicht als Priorität ihres Kampfes. Selbst wenn dieses
Thema diskutiert wird, verteidigen die konservativen Linken die LGBT-Community
nicht. Sie betrachten das als zweitrangig gegenüber der Verteidigung
ökonomischer und sozialer Errungenschaften.

Wie organisieren sich LGBT-Menschen in
Tunesien, um für ihre Rechte zu kämpfen? Was ist deiner Meinung nach notwendig,
um den Kampf voranzubringen?

Nach der Revolution 2011 haben sich viele
Vereinigungen gegründet, die das Ziel haben, die LGBTQ-Community zu verteidigen
– und zwar zum ersten Mal in der Geschichte Tunesiens und der arabischen Welt
überhaupt. Es gibt mehr als 5 verschiedene Organisationen, die sich der
gegenseitigen Hilfe und Verteidigung der LGBTQ-Community verschrieben haben,
etwa die Organisationen „Shams“, „Damj“ und „We exist“.

Diese Organisationen machen kontinuierlich
öffentliche Kampagnen. Eine von ihnen veranstaltet seit 2015 ein jährliches
Festival für Queer-Kultur. Shams hat einen eigenen Radiosender gestartet,
„Shams Rad“, der die Belange der LGBTQ-Community verteidigt.

Dennoch, die Strategie bei den meisten
dieser Organisationen zielt nicht darauf ab, die gesellschaftliche Wahrnehmung
gegenüber LGBTQ-Menschen zu verändern, sondern durch Lobbyarbeit auf die
liberalen Kräfte einzuwirken, um die homophobe Gesetzgebung zu beseitigen. Sie
finden es zu schwer, die gesellschaftlichen Ansichten über die homosexuelle
Identität in der tunesischen Gesellschaft ändern zu wollen.

Sie versuchen durch Öffentlichkeitsarbeit,
die liberalen Kräfte und die ausländischen Stiftungen in Tunesien zu
sensibilisieren, um damit politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ich denke,
die Community sollte geschlossen auftreten und Druck auf das Parlament ausüben,
die homophobe Gesetzgebung zu ändern.

Tunesien wird oft als das
fortschrittlichste nordafrikanische Land beschrieben, was Frauenrechte
betrifft. Trifft das zu, und widerspricht das der Situation von LGBT-Personen?

Die tunesische Gesetzgebung in Hinblick auf
die Rechte von Frauen ist tatsächlich die fortschrittlichste in ganz Nordafrika
und dem Nahen Osten, aber das gilt eben nicht für die LGBTQ-Gesetzgebung – die
ist genauso reaktionär wie überall im arabischen Raum.




Libanon, Irak – blüht der Arabische Frühling wieder auf?

Dilara Lorin, Infomail 1077, 14. November 2019

Ägypten, Irak, Libanon – hier gehen die Menschen
seit Wochen massenhaft und militant auf die Straße, weil sie ihre schlechte
Lebenssituation nicht mehr hinnehmen! Die Arbeitslosenzahl ist sehr hoch, vor
allem unter den Jugendlichen, und gleichzeitig stiegen in Libanon und Irak die
Steuern. Libanon ist im arabischen Raum dafür bekannt, dass auf viele Produkte
nicht nur Steuern erhoben, sondern diese immer wieder mal erhöht werden. Diesmal
sollte wieder eine Steuererhöhung kommen, wie auf Internet, WhatsApp etc. Und
genau das wollten die Menschen nicht mehr hinnehmen. Diesmal aber entfacht dies
eine Massenbewegung, an der sich die große Mehrheit der Bevölkerung beteiligt.
Unzählige Videos und Bilder dokumentieren, wie die großen Plätze überfüllt
wurden. Selbst in den Seitenstraßen beteiligten sich die EinwohnerInnen, so
dass zeitweise ganze Städte oder Wohngebiete vollzählig an den Protesten
teilnahmen. Dabei werden die Rufe nach mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung und
Demokratie immer lauter. Gleichzeitig sind die Massen wütend auf die Korruption
und die Aufteilung der Pfründe nach religiösen/sektiererischen Linien unter den
wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes. Während sich die Taschen
der Reichen füllen, werden jene der Armen noch leerer gemacht.

Ähnlich auch im Irak. Die Worte eines
Demonstranten zeigen deutlich, wie groß der Hass auf die Bourgeoisie und ihre
Parteien ist: „Diese Männer repräsentieren uns nicht. Wir wollen keine Parteien
mehr. Wir möchten nicht, dass jemand in unserem Namen spricht.“

Die DemonstrantInnen bestritten jegliche
Verbindungen zu Parteien und Milizengruppen, denn diese sehen sie auch als Teil
der zahlreichen Probleme an. In der südlichen Stadt im Irak Nasiriya haben
DemonstrantInnen Büros von 6 politischen Parteien angezündet. Diese hatten
versucht, die Situation auszunutzen.

Irak – die militantesten Demonstrationen seit
Jahren

Der Irak ist der fünftgrößte Ölproduzent der
Welt, aber die Bevölkerung bekommt von diesem „Reichtum“ nichts mit aufgrund
der massiven Korruption der Regierung und Verwaltung. 22 % der Bevölkerung
leben laut den Vereinten Nationen in absoluter Armut und 25 % der
Jugendlichen sind laut der Weltbank arbeitslos, die Dunkelziffer liegt noch
viel höher. Seit 17 Jahren gibt es gravierende Korruption und Ungerechtigkeit
im Irak, und auch der Sieg über den „Islamischen Staat“ (IS) vor zwei Jahren,
welcher von der USA so sehr gefeiert wurde, veränderte nichts an der
Lebenssituation der IrakerInnen.

Die Massenarbeitslosigkeit, das Fehlen der
wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen und die brutale Gewalt des Staates
gegen die DemonstrantInnen bewegte Tausende auf die Straße. Im Bezirk Sadr City
von Bagdad, wo 3,5 Millionen Menschen leben, wurde die Demonstration brutal
niedergeschlagen. Insgesamt wurden in den Protesten im ganzen Land bis zu 300
Menschen getötet und bis zu 6.000 verletzt. Die Regierung hat den Zugang zu
WhatsApp und Facebook eingeschränkt, um die Mobilisierungen zu stoppen.

Die Protestierenden verlangen den Sturz von
Premierminister Adil Abd al-Mahdi. Die irakischen Regierungen sind seit 2003 im
Grunde in Koalitionen rivalisierender Parteien, um die Ressourcen des Landes zu
plündern. Und die Forderungen der Massen gehen noch weiter, sie verlangen mehr
Mitbestimmung, sie sprechen sich gegen das Mullah- Regime aus, welches bis
heute viele wichtige Teile der irakischen Politik koordiniert und es werden
Rufe laut wie: „Iran raus raus, Bagdad bleibt frei.“

Vor allem die Jugend, die seit zwei Jahrzehnten nichts
gesehen und erlebt hat außer Krieg, Terror, Verelendung, Arbeitslosigkeit und
Armut findet sich in den ersten Reihen der Demonstrationen, Streiks und
Besetzungen.

So entstanden auf dem Tahrir-Platz in Bagdad
nach einer Woche der Proteste Formen der Selbstorganisation. Es gibt freies
Essen und Strom. Street Art zeigt den Geist der Massen. Eines der höchsten
Gebäude am Tahrir-Platz, in welchem sich
ein türkisches Restaurant befand, wurde besetzt und ist zum Symbol der
andauernden Proteste im Land geworden.

Am vergangenen Wochenende haben die ArbeiterInnen
von Basra den Hafen der Stadt und die Ölfelder bestreikt.

Und der Staat versucht mit allen Mitteln, die
Protestierenden zu unterdrücken. Mit Tränengas und Scharfschützen der Polizei
versuchen sie, die Menschen auf den Straßen zu zerstreuen.

Bis jetzt hat die Regierung zwei verzweifelte
Pakete von sozialen Reformen versprochen. Aber wenn einmal die Massen
entschlossen sind, die korrupte Bande von PolitikerInnen, Geistlichen und Gelehrten
loszuwerden, ist es unwahrscheinlich, dass solche schwachen Abhilfemaßnahmen
die Dinge für lange Zeit zum Schweigen bringen. Die nächste Konfrontation und
weitere Zuspitzung sind vorprogrammiert.

Libanon

Auch hier finden Massenproteste gegen Korruption
einerseits sowie gegen die klientelistische Aufteilung des Landes und den
politischen Einfluss entlang konfessioneller Linien andererseits statt. Auf den
Straßen von Beirut hört man sogar den Slogan „Klasse gegen Klasse“, auch wenn
die Bewegung insgesamt nicht nur von den proletarischen, sondern auch den
kleinbürgerlichen Schichten der Bevölkerung getragen wird.

Und auch im Libanon sehen wir, dass wie in der
Arabischen Revolution die Straßen und Plätze besetzt wurden, auch wenn das Land
– anders als Irak, Syrien, Ägypten oder Libyen – keine Diktatur war.

Das Land an der Mittelmeerküste ist jedoch tief
verschuldet. Die Staatsverschuldung erreicht 150 % der
Wirtschaftsleistung. Aber auch im Libanon sind wichtige Dienstleistungen nicht
bis kaum vorhanden. Es gibt keine Züge oder öffentlichen Nahverkehr. Für
Stunden fällt auch die Stromversorgung immer wieder aus. Die Menschen in Beirut
bekommen ihr Wasser per Lastwagen und aufgrund der seit 2015 nicht mehr
funktionierenden Müllentsorgung verschmutzt die Küste am Beiruter Flughafen,
weil hier der Müll am Strand abgelagert wird. Vor allem die sehr hohe Armuts-
und Arbeitslosenrate brachte die Massen zu Hunderttausenden auf die Straße: 37 %
der Jugendlichen sind arbeitslos. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen beträgt
die Arbeitslosenrate 25 %. Außerdem leben rund 28,5 % der Menschen
unterhalb der Armutsgrenze und am stärksten sind die Geflüchteten im Libanon
betroffen. Dabei ist anzumerken, dass im Land bis zu 1,5 Millionen Geflüchtete
leben. 65 % der Geflüchteten aus Syrien fristen ihr Dasein unterhalb der
Armutsgrenze so wie 65 % der palästinensischen Flüchtlinge und 89 %
der palästinensischen Flüchtlinge, die aus Syrien kamen.

Als weitere Steuern auf die Nutzung von WhatsApp
kommen und die ArbeiterInnen und Jugendlichen wieder zur Kasse gebeten werden
sollten, reichte es der Bevölkerung. An vorderster Front stehen oft Jugendliche
und Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, die es satt haben, dass durch die
starke Elitenbildung und Korruption mehr Geld den Reichsten und PolitikerInnenfamilien
zugutekommt, diese dann in riesigen Villen mit Swimmingpool leben, während mehr
als 3,2 Millionen Menschen in vollkommener Armut leben (Bevölkerungsanzahl
insgesamt 5,9 Millionen).

Der Präsident das Landes, Michel Aoun, kündigte
an, den Libanon mit einem 3-Punkte-Plan aus der wirtschaftlichen und sozialen
Krise zu führen. Zuvor hatte schon Hariri, der Premierminister, Reformen
angekündigt. Aber alle diese vorgeschobenen Maßnahmen konnten die Massen bislang
nicht täuschen. Saad Hariri trat schließlich am 29. Oktober nach massenhaften
Protesten zurück.

Er hatte seinen Rücktritt angekündigt, nachdem
die schiitische Hisbollahmiliz und die Amal-Bewegung, eine konservative und
populistische Partei der SchiitInnen im Libanon, ein Protestcamp zerstört und
die DemonstrantInnen auf dem Märtyrerplatz im Zentrum von Beirut verprügelt
hatten. Die Hisbollah präsentierte sich in der Vergangenheit zwar oft als
„soziale Kraft“ und Vertreterin der Armen, aber sie ist selbst eine wichtige
Stütze des herrschenden Systems. Während ihr Vorsitzender Nasrallah verbal zu
Beginn „Verständnis“ für die Proteste bekundete, so lehnte er doch den
Rücktritt Hariris ab. Die Hisbollah stellt nicht nur eine wichtige Verbündete
des Iran und des Assad-Regimes in Syrien dar, sie ist auch eine der wichtigsten
politischen Kräfte im Land, verfügt über eigene militärische Stärke und
kontrolliert wichtige Transportknotenpunkte wie Flughafen und Häfen. Die
schiitische Miliz rief ihre AnhängerInnen dazu auf, an den Protesten nicht
teilzunehmen, nachdem in den von ihr beherrschten Stadtteilen Beiruts und in
den Hochburgen im Süden des Landes Menschen ebenfalls gegen Korruption und
Misswirtschaft auf die Straße gingen.

Über konfessionelle Grenzen hinaus

Der politische Einfluss im Land war seit seiner
Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht immer unter verschiedenen
konfessionell verankerten Parteien aufgeteilt und umkämpft. Umso
beeindruckender ist es, dass heute die Menschen unabhängig von ihrer religiösen
Zugehörigkeit Seite an Seite für eine revolutionäre Erneuerung kämpfen. Trotz
aller Gewalt, mit der man gegen die Demonstrierenden vorgeht, lassen sich die
Menschen nicht unterdrücken und mundtot machen. Vor allem Generalstreiks legten
und legen weiterhin viele Produktionsstätten des Landes lahm. Man lernt aus den
Fehlern des Arabischen Frühlings und Gewerkschaften sind mit an der vordersten
Front dabei. Und nicht nur die Organisierung der ArbeiterInnenklasse in
Gewerkschaften verdeutlicht das Potential. Teilweise zeigten die Aktionen auch
antikapitalistischen Charakter. So wurde die Losung „Nieder mit dem Kapital“ von
den Demonstrationen durch die Straßen von Beirut getragen, bis es die Bankiers
und politischen FührerInnen hören konnten.

Seit Wochen sieht man, wie Beirut und Tripoli
brennen und es auf den Hauptstraßen keinen Platz mehr gibt, da sie von Menschen
überfüllt sind. Am 13. November wandte sich Präsident Aoun an die DemonstrantInnen
und erklärte, dass er eine TechnokratInnen-Regierung gründen werde. Wer damit
nicht einverstanden sei, solle in ein anderes Land auswandern. Dies zeigt das
zynische Gesicht dieses Staates und den Unwillen der Herrschenden, einen
Schritt auf die demonstrierenden Massen zuzugehen. Am gleichen Tag starb Alaa
Abou Fakher, ein Mitglied der progressiven Sozialistischen Partei, bei einer
Straßenblockade in Beirut. Er ist der erste Märtyrer der aufkommenden Rebellion
im Libanon.

Eins wird in diesen Protesten deutlich: Die
Menschen sind bereit, mit ihrem Leben dafür zu kämpfen, dass es Veränderungen
gibt, die ihren Interessen entsprechen und nicht derjenigen, die alles besitzen
und die ArbeiterInnenklasse ausbeuten und verelenden lassen.

Im Irak wie im Libanon erheben die Massen
politisch-demokratische und soziale Forderungen – es kommt darauf an, diese zu
verbinden und zu bündeln. Heute bilden demokratische Ziele – Abschaffung des
Klientelismus, der Korruption, Verfassungsreform – den Kern der Forderungen auf
den Straßen. RevolutionärInnen müssen diese z. B. durch die Forderung nach
verfassunggebenden Versammlungen aufgreifen und mit der Errichtung von
Kampforganen der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten – Aktionsräten,
Selbstverteidigungsorganen – verbinden. Auf diesem Weg könnte die
Massenbewegung zu einer revolutionären Bewegung werden, wo der Kampf für
demokratische und soziale Rechte mit dem für eine sozialistische Umwälzung
verbunden wird.

Perspektive

Es scheint, als sei der Arabische Frühling nach
einer langen Eiszeit der Konterrevolutionen und Diktaturen wieder erblüht, als
würden Länder wie Ägypten, Irak oder der Libanon von einer neuen Welle der
Revolutionen erfasst. Die Massen zeigen ihre Widerständigkeit auf den Straßen,
sie besetzen wichtige Straßen und Transportknotenpunkte. Die ArbeiterInnen
streiken mehrere Tage und legen die Produktionen des Landes lahm. Vor allem die
Streiks, Massendemonstrationen und Besetzungen der Straßen und Gebäude zeigen
die Macht der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, und dass, wenn sie
einmal den Schleier des Kapitalismus und Nationalismus überwunden haben, auch
die Korruption und Misswirtschaft erkennen.

Es bleibt die Frage, ob sie aus den Fehlern des
im Jahr 2010 aufkommenden Arabischen Frühlings lernen und eine Strategie sowie
eine Führung finden, um eine Revolution angehen zu können, die die Macht in die
Hände der unteren und unterdrückten Klassen legt und eine demokratische
Organisierung der ArbeiterInnenklasse gewährleistet, um es auch den
KonterrevolutionärInnen wie den Generälen und Staatsoberhäuptern und dem
Imperialismus unmöglich zu machen, diese Revolution zu zerschlagen.

Wir rufen zur internationalen Solidarität mit
all jenen auf, die auf den Straßen von Bagdad und Beirut kämpfen. Was wir
brauchen, ist eine unabhängige, massenhafte und militante Organisierung der unterdrückten
und ausgebeuteten Klassen, um die Staatsapparate des Nahen Ostens, deren Grenzen
mit dem Lineal der ehemaligen Kolonialmächte gezogen wurden, zu zerschlagen und
eine Sozialistische Föderation des Nahen Osten auszurufen – von Rojava bis Palästina,
von Libanon bis Irak.




Der lange erwartete irakische Frühling?

Dave Stockton, Infomail 1075, 2. November 2019

Der Irak ist
wieder einmal Schauplatz massiver Proteste. In der Hauptstadt und in den südlichen
Städten wurden Demonstrationen mit tausenden TeilnehmerInnen durch Tränengas
und von Polizeischarfschützen mit scharfer Munition zerstreut. Eine riesige Kundgebung
in Sadr City in Bagdad – einem Bezirk mit 3,5 Millionen EinwohnerInnen – wurde
brutal aufgelöst. UN-BeamtInnene in der Stadt haben „einen sinnlosen Verlust
von Menschenleben“ verurteilt. Nachrichtenagenturen haben berichtet, dass
bisher etwa 200 Menschen getötet und 7.000 verletzt wurden. Die Regierung hat
den Zugang zu Facebook und WhatsApp in einem vergeblichen Versuch, die
Mobilisierungen zu stoppen, eingeschränkt.

Die Probleme,
die den Ausbruch de Wut ausgelöst haben, sind die Massenarbeitslosigkeit und
das Fehlen der grundlegendsten öffentlichen Dienste: dies im siebzehnten Jahr,
seit die amerikanischen und britischen Streitkräfte das Regime von Saddam
Hussein gestürzt haben. So entsetzlich das totalitäre Regime des Diktators auch
war, die „Freiheit“, die die westlichen Verbündeten mit ihren Panzern und „Schock
auslösenden und Furcht gebietenden Bomben“ brachten, bedeutete sozialen
Zusammenbruch, endlosen Krieg und außergerichtliche Morde.

Die Ereignisse
zeigen, dass der Sieg über IS, den „Islamischen Staat“, der vor zwei Jahren von
den Vereinigten Staaten von Amerika lautstark verkündet wurde, wenig oder gar
nichts dazu beigetragen hat, das Leben der BürgerInnen des Landes zu
verbessern.

Korruption und
Ungerechtigkeit

„Es sind 16
Jahre Korruption und Ungerechtigkeit“, gibt die britische Zeitung „Guardian“
die Äußerung von Abbas Najm, einem 43-jährigen arbeitslosen Ingenieur, bei
einer Demonstration wieder. DemonstrantInnen streiten jegliche Verbindungen zu
Parteien oder Milizen ab, die sie als Teil der vielen Probleme des Landes
betrachten. In der Tat, in der südlichen Stadt Nasiriyah verbrannten
Protestierende die Büros von sechs politischen Parteien, die versucht hatten,
die Situation für sich zu nutzen. Berichte deuten darauf hin, dass die
Intervention des schiitischen Klerikers Moktada al-Sadr nicht willkommen ist.
Ein Demonstrant wird zitiert mit den Worten: „Diese Männer vertreten uns nicht.
Wir wollen keine Parteien mehr. Wir wollen nicht, dass jemand in unserem Namen
spricht.“

Der Irak, der fünftgrößte
Ölproduzent der Welt, leidet unter der grassierenden Korruption von Regierung
und Verwaltung, während seine 40 Millionen Menschen unter schrecklichen Bedingungen
leben: 22 Prozent leben nach UN-Zahlen in absoluter Armut und Entbehrung. Laut
Weltbank sind 25 Prozent der jungen Menschen arbeitslos.

Dies, ebenso wie
der Einsatz von scharfer Munition gegen die Menge, hat die Proteste zu einer
Bewegung gemacht, die den Sturz der Regierung von Ministerpräsident Adil Abd
al-Mahdi fordert. Irakische Regierungen seit 2003 sind Koalitionen, in denen
konkurrierende Parteien zusammenarbeiten, um die Ressourcen des Staates zu plündern.
In vielerlei Hinsicht erinnert diese Bewegung an die Anfänge des Arabischen Frühlings,
dem der Irak aufgrund der anhaltenden Kriegsführung weitgehend „entkommen“ ist.

Als Reaktion
darauf hat die Regierung verzweifelt zwei Pakete sozialer Reformen versprochen,
aber sobald die Massen entschlossen sind, die korrupte Bande von
PolitikerInnen, Klerikern und Generälen loszuwerden, werden solche schwachen
Mittel die Lage wahrscheinlich nicht lange beruhigen.

Die Ereignisse
im Irak und die anhaltenden Proteste in ganz Ägypten gegen die brutale Diktatur
des Generals Abd al-Fattah as-Sisi zeigen, dass die Millionen junger Menschen
in der Region, deren Frühling durch den eisigen Frost der Konterrevolution in
all diesen Ländern zunichtegemacht wurde, immer wieder von einem tiefen sozioökonomischen
Druck und der Sehnsucht nach Freiheit zur Revolte angetrieben werden.

Die eigentliche
Frage ist, ob sie die Strategien und die Führung finden können, um eine
Revolution zu machen, die ihnen Macht in die Hände legt, eine
ArbeiterInnendemokratie schafft und eine Konterrevolution durch die Generäle,
KapitalistInnen und den Imperialismus unmöglich macht.




Syrien: Assads und Putins Kriegsverbrechen in Idlib

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Sonntag, 4. Februar 18, Infomail 986, 6. Februar 2018

Das syrische Informationszentrum für Menschenrechte berichtet, dass Baschar Hafiz al-Assads Kampfflugzeuge, Artillerie und Hubschrauber einen Großangriff, unter anderem mit Fassbomben, auf die letzte große, von Rebellen besetzte Region Idlib gestartet haben, unterstützt von seinen russischen Verbündeten. Es ist wahrscheinlich, dass die Offensive darauf abzielt, die Bevölkerung auf einen winzigen Fleck zu konzentrieren, sie einer endgültigen Liquidation zu unterziehen oder aus der Region zu vertreiben.

Und das, obwohl die Region im Rahmen eines Abkommens, das im vergangenen Jahr von Russland, der Türkei und dem Iran vermittelt wurde, als „Deeskalationszone“ gedacht war. Auch trotz der grausamen Ironie, dass eine von Russland und der Türkei gesponsorte “Syrische Nationale Dialogkonferenz“ am Tag vor den jüngsten Luftangriffen auf Idlib in Sotschi eröffnete, die alle ernsthaften syrischen wie kurdischen Oppositionskräfte boykottiert haben.

Es gibt bereits schätzungsweise 1,1 Millionen Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens in Idlib, und die UNO berichtet, dass seit der im Januar begonnenen Offensive 212.000 Menschen vor den Kämpfen geflohen sind. Die Bedingungen für sie sind unsäglich schlecht, und die UNO-BeamtInnen haben für einen Waffenstillstand und für Hilfeleistungen plädiert, um das Leid der Menschen zu lindern, die ohne Zelte, Lebensmittel oder medizinische Versorgung sind.

Die in Großbritannien ansässige Beobachtergruppe berichtete auch über einen weiteren wahrscheinlichen Sarin-Giftgasangriff auf Chan Schaichun, wo, wie sie schilderte, 20 Kinder und 17 Frauen unter den toten ZivilistInnen waren. Filmmaterial zeigt erschütternde und atemberaubende Bilder von Opfern, die mit Wasser gelöscht und in Krankenwagen verladen werden, wobei die Körper von etwa einem Dutzend kleiner Kinder auf Decken in einem Pritschenwagen liegen. Das Krankenhaus, in dem die Opfer später behandelt wurden, wurde ebenfalls bombardiert.

Natürlich haben der britische Außenminister Boris Johnson und US-Präsident Donald Trump diese Gräueltat sofort verurteilt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat ebenfalls den Angriff auf Idlib verurteilt, aber da er sich mit seinem eigenen mörderischen Angriff auf die kurdische Enklave Afrin, angrenzend im Norden, beschäftigt, werden seine Proteste bei den TäterInnen wenig Gewicht haben. Was Großbritannien und die USA betrifft, ebenso abscheuliche TyrannInnen und so niederträchtig wie Assad, so werden ihre Worte auch keine Wirkung haben und keine Erleichterung bringen.

Die AmerikanerInnen selbst haben Idlib unter dem Vorwand bombardiert, dass sie die wichtigsten Miliztruppen von Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) angreifen, angeführt vom ehemaligen Al-Qaida-Ableger Dschabhat an-Nusra (al-Nusra-Front; jetzt: Dschabhat Fatah asch-Scham). Tatsächlich scheinen sie sich mit Assads Wiedergewinnung von Idlib versöhnt zu haben. Gleichzeitig hat US-Außenminister Rex Tillerson angedeutet, dass 2.000 US-Truppen für einige Zeit im Nordosten Syriens verbleiben werden; unter Berufung auf die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass sich der IS nicht erholt und dem Iran nicht erlaubt sein darf, eine dauerhafte Basis in Syrien zu errichten.

In Bezug auf Assads Herrschaft war er zweideutiger. „Ein Mörder seines eigenen Volkes kann nicht die für eine langfristige Stabilität erforderliche Unterstützung schaffen“, sagte er und fügte hinzu: „Ein stabiles, geeintes und unabhängiges Syrien erfordert letztendlich eine Führung nach Assads Regierungszeit, um erfolgreich zu sein.“ Man beachte das Wort „letztendlich“!

Tatsächlich sind alle in Syrien intervenierenden Staaten entweder imperialistische Mächte (USA, Russland, europäische Mächte) oder regionale repressive Regime, und alle haben ihre eigenen geostrategischen Ziele, die letztlich miteinander unvereinbar sind. Erdogan wünscht eine Pufferzone zwischen der Türkei (d. h. den kurdisch besiedelten Gebieten Ostanatoliens) und den kurdischen Regionen Nordsyriens, wenn er diese nicht überhaupt ollständig liquidieren kann. Er hofft, damit die Kurdische ArbeiterInnenpartei (PKK) dauerhaft zu zerschlagen.

Russland möchte Syrien unter Assad oder einem Regime-Nachfolger stabilisieren, der ein solider Verbündeter bleiben und eine Basis für russische Flugzeuge und Kriegsschiffe bilden wird, wobei es, wie auf der Krim, bewiesen hat, dass die USA es nicht aus wichtigen militärischen Positionen verdrängen können. Assad will natürlich die Macht behalten und die Kontrolle über das ganze Land wiederherstellen. Zusammen mit den Projekten der USA und des Iran sind diese Ziele auf Dauer unvereinbar und dürften sogar kurzfristig zu weiterem Aufflammen der Krise führen.

Wenn im Moment in der sprichwörtlichen Diebesküche über die Beute gefeilscht wird, heißt das nicht, dass die Messer in die Scheide geschoben, sondern nur unter dem Tisch versteckt sind.

Wenn jedoch Afrin an die Türkei und ihre syrischen Marionettenstreitkräfte und Idlib an Assad fällt, wird dies die endgültige Niederschlagung des syrischen Aufstands bedeuten außer vielleicht für die kurdischen Gebiete im Nordosten (Kobanê, Cizîrê‎), die auf jeden Fall immer Abstand zum Syrischen Frühling gehalten haben. Während die kurdischen Kräfte Washington dabei halfen, das IS-Kalifat zu liquidieren, und die US-Truppen immer noch in Ost-Rojava stationiert sind, wurden sie von ihrem „Beschützer“ in Afrin fallen gelassen – eine tragische Wiederholung eines Jahrzehnts an Illusionen in Bündnisse mit imperialistischen oder regionalen UnterdrückerInnen. Sie könnten sich durchaus zwischen dem „Hammer“ von Assad und Putin und dem „Amboss“ von Recep Tayyip Erdogan wiederfinden.

SozialistInnen auf der ganzen Welt sollten ein sofortiges Ende der Angriffe auf Idlib und auf Afrin, ein völliges Ende der Bombardierung und die sofortige Lieferung von Nahrungsmitteln, medizinischer Hilfe und warmen Unterkünften für die leidenden Menschen fordern. Sie müssen sich mit der mehr als eine Million Menschen starken Bevölkerung von Idlib und der umliegenden Region solidarisieren trotz der erzreaktionären Politik der islamistischen Kräfte und ihrer Verbrechen gegen die Massen.

Trotz der offenkundigen Scheinheiligkeit ihrer KritikerInnen müssen die wiederholten Kriegsverbrechen von Putin und Assad auch von der weltweiten ArbeiterInnenbewegung verurteilt werden, und wo immer dies möglich ist, sollten Sanktionen der ArbeiterInnen gegen sie verhängt werden. Diejenigen „KommunistInnen“, „AntiimperialistInnen“ und „AntikriegsaktivistInnen“, die zu diesen Verbrechen entweder oder sie gar entschuldigen, sind eine Schande für jede Form internationaler Solidarität.

Die kriminelle Bombardierung von Idlib und Ghuta könnte zusammen mit der türkischen Invasion auch die Eröffnung einer weiteren Runde reaktionärer Zusammenstöße zwischen regionalen und imperialistischen Mächten bedeuten und ein weiteres Kapitel im Alptraum des syrischen Volkes eröffnen.

Wir fordern den Rückzug aller imperialistischen Mächte aus Syrien und der gesamten Region – Russlands, der USA und auch der europäischen Mächte. Wir fordern das Ende aller Waffenlieferungen an die reaktionären Regime von Assad oder Erdogan, den Rückzug aller türkischen Truppen und Unterstützung der kurdischen Verteidigung gegen die Invasion.

Nicht nur die reaktionären Islamisten, pro-imperialistischen und nationalistischen FührerInnen der „Rebellengebiete“ und der FSA haben das Volk im Stich gelassen und die Massen in eine Sackgasse geleitet. Die PYD-Führung hat auch die kurdischen Massen in ein katastrophales Bündnis mit den US-ImperialistInnen geführt. Nur wenn die demokratischen und sozialistischen Kräfte und die national Unterdrückten mit einer solchen Politik brechen und sich auf revolutionärer Basis vereinen, kann die Welle der Reaktion gestoppt werden.




Revolutionen in Nahost und Nordafrika – Frauen in der ersten Reihe

Irene Zelano, Neue Internationale Frauenzeitung, März 2013 (Aktualisierte Version des Textes aus Neue Internationale 158, April 2011

Frauen sind in islamisch geprägten Ländern tief verschleiert und dürfen das Haus nie verlassen“, „Frauen nehmen dort nicht am politischen Leben teil“ und „die Revolution ist gänzlich in den Händen islamistischer Spinner“ etc. Solche Stammtischparolen – die Aufzählung ließe sich unendlich fortführen – wurden im Zuge der nordafrikanischen Revolutionen gründlich durchgerüttelt. Nicht nur die Bilder, die am Beginn der arabischen Revolutionen erreichten, widersprechen diesen sorgfältig gehegten Vorurteilen.

Islamische Gruppen sind natürlich Teil der Aufständischen, doch stellen sie bei weitem nicht den Großteil der DemonstrantInnen. Gerade in Ägypten und Tunesien konnten wir beobachten, dass diese Kräfte erst dann stärker in den Vordergrund traten, als es darum ging, die Früchte der Revolution zu ernten. Selbst die Freitagsgebete dienten ursprünglich oft als legaler Sammelpunkte für Demonstrationen.

Und die Frauen? Bleiben sie brav im Haus und schauen zu, wie ihre Männer kämpfen? Nein! Wir erleben ein unheimlich starkes Auftreten von Frauen, die in den ersten Reihen der Demonstrationen stehen und auch, aber nicht nur für Frauenrechte kämpfen.

Saudi-Arabien

„Keine Schiiten, keine Sunniten, Einheit, Einheit des Islam“ hieß die Parole, mit der Anfang März 2010 hunderte DemonstrantInnen in Saudi Arabien auf die Straße gingen. Auch in diesem Land, in dem Frauen nach wie vor kein Wahlrecht haben, nicht Autofahren dürfen und mit der Polygamie ihrer Männer leben müssen, kamen die Proteste der nordafrikanischen Revolution langsam an.

Mit Losungen wie „Für eine konstitutionelle Monarchie“ und „Gegen das Verbot verschiedener islamischer Strömungen“ beginnen hier die Proteste. Auch mutige Frauen sind im saudischen Königreich dieser Tage auf der Straße. Trotz Demonstrationsverbot versammelten sich in der ersten Märzwoche 40 Frauen für die Freilassung ihrer Söhne, welche nach einem Anschlag auf einen US-Stützpunkt seit 1996 ohne Gerichtsverhandlung inhaftiert sind. Am 11. und 20. März 2010 fanden in Saudi Arabien weitere Demonstrationen statt.

Tunesien

Eigene Frauendemonstrationen gaben den Protesten in Tunesien ein geschlechtlich durchmischtes Gesicht. Tunesien steht wohl bezüglich der emanzipatorischen Rolle der Frauen in der Revolution im arabischen Raum an der Spitze.

Schon kurz nach der Unabhängigkeit wurden Frauen den Männern vor dem Gesetz gleichgestellt. 1957 erhielten sie das Wahlrecht, müssen ihre Zustimmung zur Eheschließung geben, dürfen sich scheiden lassen und Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Der Zugang zu höherer Bildung steht auch Frauen offen, sie dürfen sich in der Öffentlichkeit zeigen und selbst einen Beruf ergreifen. So die Gesetzeslage. Doch wie sieht die Realität aus?

Trotz der vergleichsweise fortschrittlichen Frauenrechte ist die Lage der Frau in der Gesellschaft nicht allzu rosig. Patriarchale Strukturen prägen das tägliche Leben. So muss die Frau zwar der Eheschließung zustimmen, doch kann sie sich aufgrund der Familienstrukturen ihrem Vater nur in seltenen Fällen widersetzen. Mangelnde Jungfräulichkeit kann zu Eheannullierung führen, was häufig zu ärztlichen Eingriffen zur künstlichen „Wiederherstellung der Jungfräulichkeit“ führt. Zwar dürfen sich Frauen scheiden lassen, doch ist der Mann nur drei Monate unterhaltspflichtig und eine Wiederheirat zwar erlaubt, doch in der Realität in den meisten Fällen nur möglich, wenn die Frau darauf verzichtet, ihre Kinder in die neue Ehe mitzubringen und diese an die Verwandtschaft abgibt.

Im Arbeitsleben stellen Frauen in Tunesien 50% der Erwerbstätigen. In einem Land, in dem 42% der Arbeitsplätze auf die Textilindustrie entfallen, nicht allzu verwunderlich. Doch die Textilbranche, wo überwiegend Frauen arbeiten, wird weit schlechter entlohnt als andere Industrien. Auch im Dienstleistungsbereich sind Frauen stark vertreten und stellen z.B. 30% der AnwältInnen des Landes.

Die Hausarbeit ist traditionell noch immer Frauensache – ob als in Doppelbelastung neben dem Job oder indem ein Hausmädchen bezahlt wird: der Haushalt bleibt in Frauenhand.

Ägypten

„Die Revolution findet nicht nur auf dem Tahrir-Platz statt, sie ist in jedem ägyptischen Haus“, sagt eine ägyptische Kämpferin auf dem Tahrir-Platz und zielt damit auf die eben beschriebenen, auch in Ägypten herrschenden häuslichen patriarchalen Strukturen ab. Wie viele andere Frauen, die auf dem Tahrir-Platz eine wichtige Rolle gespielt haben, musste sie sich zu Hause gegen das Verbot durchsetzen, an den Demonstrationen teilzunehmen, und lief so Gefahr, bestraft oder verstoßen zu werden. Vielen Frauen ging es so – und doch haben die ägyptischen Frauen an vorderster Front mitgekämpft und aktiv zum Sturz Mubaraks beigetragen.

Im mit 80 Millionen EinwohnerInnen bevölkerungsreichsten Land Nordafrikas ist der Dienstleistungssektor mit 50% der Wirtschaftsleistung der stärkste. 2006 stellte die Tourismusbranche 20% der Deviseneinnahmen und 10% der Arbeitsplätze, die umfangreiche Schwarzarbeit in diesem Sektor nicht mitgerechnet. Frauen machen in den prekären wie in den offiziellen Arbeitsverhältnissen im Tourismus einen Teil der Beschäftigten aus.

Bei der Bildung sieht es für Frauen in Ägypten vergleichsweise gut aus. An den Universitäten stellen Frauen inzwischen 50% der AbsolventInnen. Schon 1962 zog die erste Frau ins Parlament ein, das Wahlrecht für Frauen wurde schon 1956 erkämpft. Das alles spiegelt die Tatsache wider, dass Ägypten schon auf eine verhältnismäßig lange Geschichte der Frauenbewegung zurückblicken kann.

Säkularisierte Feministinnen stehen hierbei islamischen Frauenbewegungen gegenüber, welche mehr Rechte für Frauen erkämpfen möchten, aber zugleich Werte wie Moral, Religion und Familienleben erhalten wollen.

Für die säkularisierte Frauenbewegung ist besonders Hoda Shaarawi, die sich in den 20er Jahren mit der Gründung der „Egyptian Feminist Union“ an die Spitze der dortigen Frauenbewegung stellte, zum Symbol geworden. 1923 erstaunte sie die Massen, als sie von einem Frauenkongress aus Rom zurückkehrte und in einem symbolischen Akt ihren Schleier von sich warf und die anfangs atemlose Menge zum Jubeln brachte. In den 50er und 60er Jahren führte sie im Namen der Frauenrechte zwei Hungerstreiks und eine Belagerung des Parlaments durch. Sie kämpfte ihr Leben lang gegen die Unterdrückung der Frau in der arabischen Welt.

Entscheidend für die weitere Entwicklung – und oft von den westlichen Medien unbeachtet – wird freilich die Rolle der Frauen in der Arbeiterbewegung sein. Die Krise hat v.a. junge Frauen dramatisch getroffen. Etwa 50 Prozent sind arbeitslos, während es unter den männlichen Jugendlichen „nur“ 17 Prozent sind.

Ähnlich wie in Tunesien spielten Frauen auch in der Gewerkschaftsbewegung und den sich entwickelten Streiks eine enorme Rolle. Schon in den Jahren 2004-08 standen Frauen in der vordersten Front der Kämpfe der TextilarbeiterInnen in Städten wie Mahalla al-Kurba. Bei Streiks und Besetzungen kämpfen sie Seite an Seite mit ihren Kollegen, übernachten in den Fabriken, führen Kämpfe und durchbrechen so praktisch, wenn auch durchaus nicht ohne Konflikte mit den Männern die traditionelle Rollenverteilung.

Dies verdeutlicht zugleich, dass die Entstehung einer Frauenbewegung untrennbar mit der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse verbunden ist.

Fazit

Entgegen allen westlichen Vorurteilen gegenüber der Beteiligung von Frauen an den Veränderungen in der arabischen Welt, haben Frauen dort oft eine wichtige Rolle gespielt und spielen sie noch. Doch letztlich wird die Frage der weiteren Rolle von Frauen in den sozialen Veränderungen v.a. davon abhängen, ob und wie der revolutionäre Prozess weiter geht.

Um den Kampf für eine wirkliche Gleichberechtigung der Frauen zu gewinnen, müssen die Frauen der arabischen Welt Seite an Seite mit den ArbeiterInnen für die Fortführung der Revolution bis hin zur Erlangung der Staatsmacht durch die ArbeiterInnenklasse und die Etablierung rätedemokratischer Strukturen kämpfen.

Eine neue Diktatur oder eine bloße Neubesetzung des Parlaments wird an den Lebensverhältnissen der verarmten Bevölkerungen genauso wenig ändern, wie an den systematisch beschnittenen Rechten der Frauen und an deren realer sozialer Benachteiligung und Unterdrückung.

Genauso, wie es der Führung durch die Arbeiterklasse bedarf, um die Revolutionen zum Erfolg zu führen, bedarf es auch einer proletarischen Frauenbewegung, welche sich in diesem Kampf für die Rechte der Frauen in allen Lebensbereichen bis hin zum Erreichen des Sozialismus einsetzt.




Ägypten nach dem Sturz Mursis: Gegen die Generäle und ihre Handlanger!

Dave Stockton, Neue Internationale 181, Juli/August 2013

morsy_and_military_generalsEin „kalter“ Putsch hat den gewählten Präsidenten Mohamed Mursi entmachtet. Der Jubel darüber ist verständlich, aber er wird sich als kurzsichtig erweisen – wahrscheinlich recht schnell.

Die Armee hat wieder die Macht übernommen und eine „Technokratenregierung“ eingesetzt. Sie wird ihre „road map“ durchziehen, ihre Experten werden einen neuen Verfassungsentwurf schreiben. Die Armeeführung und die Richter aus Mubaraks Regime werden das Wahlverfahren bestimmen.

Wir sollten nicht vergessen, dass nach wie vor Tausende in den Gefängnissen sitzen, die während der Revolution von Militärgerichten verurteilt wurden. Nur eines kann an der jetzigen Lage als Erfolg gewertet werden, aber nur wenn es so bleibt: Die Massen sind auf den Straßen, und zwar Millionen. Wenn der Armee mit Unterstützung von Liberalen wie Mohamed El Baradei die „Wiederherstellung der Ordnung“ gelingt, werden sie den Sparkurs und die Repression fortsetzen – unter den wachsamen Augen des IWF, des US-Außenministeriums und des US-Generalstabs.

Verfassunggebende Versammlung

Nötig ist eine revolutionäre Verfassunggebende Versammlung, die gewählt werden muss in der demokratischsten Weise, die möglich ist: unter Leitung der Organisationen der ArbeiterInnen und der Jugend.Viele halten die Entmachtung Mursis für den nächsten Schritt der Revolution, die mit dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 begann. Das wird er aber nur dann werden, wenn die Massen selbst die Initiative ergreifen. ArbeiterInnen, Jugendliche und Frauen müssen nun ihre eigenen demokratischen Organisationen bilden, um die zentralen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Freiheit zu erkämpfen. Wenn man die Durchführung der kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen dem ägyptischen Militärrat überlässt und dessen Experten den neuen Verfassungsentwurf schreiben lässt, dann übergibt man die Demokratie der Gnade von in- und ausländischen Kapitalisten, ihren Politikern und Generälen.

Was stattdessen nötig ist, ist eine revolutionäre Verfassunggebende Versammlung, die gewählt werden muss in der demokratischsten Weise, die möglich ist. Das heißt: Unter Leitung der Organisationen der ArbeiterInnen und der Jugend. Die Demokratie darf auch nach der Wahl nicht aufhören. Die Delegierten dieser Versammlung müssen auf WählerInnenversammlungen regelmäßig Rede und Antwort stehen und es muss möglich sein, die Delegierten auszuwechseln, wenn sie nicht im Sinne der WählerInnen handeln. Nur eine solche Verfassunggebende Versammlung würde es ermöglichen, dass all jene, die unter emporschießenden Arbeitslosenzahlen und fallenden Löhnen leiden, dass die Frauen, die Jugendlichen, unterdrückte und verfolgte religiöse Minderheiten für ihre Forderungen nachhaltig eintreten können. Sie könnte der Sparpolitik ein Ende setzen, die Steuerlast auf die Schultern der Reichen legen und von Militärs und Großgrundbesitzern die Rückgabe all dessen fordern, was sie sich über Jahrzehnte angeeignet haben: Banken, Fabriken und landwirtschaftliche Großbetriebe.

Dass die Muslimbruderschaft von ihrem Höhenflug, den sie vor einem Jahr nach ihren Wahlsiegen hatte, in eine Krise gefallen ist, ist nicht nur als Folge ihrer Angriffe auf die demokratischen Rechte der ArbeiterInnen, Frauen, Jugendlichen und der christlichen Minderheit zu verstehen. Ihr Popularitätsverlust findet auf einer viel allgemeineren Grundlage statt: der steigenden wirtschaftliche Not von Millionen. Sie betrifft auch viele, die einst UnterstützerInnen der Muslimbrüder waren oder sich zumindest nicht gegen ihre Herrschaft auflehnten.

Allein in diesem Jahr hat das Ägyptische Pfund gegenüber dem US-Dollar 12% an Wert verloren. Die Folge ist nicht nur Kapitalflucht, sondern auch in die Höhe schnellende Preise für Güter des täglichen Bedarfs wie Benzin und Mehl.

Zudem befindet sich die ägyptische Wirtschaft im Niedergang. Fabriken haben keine Aufträge und stehen still. Dass Mursi seinen Kopf so lange über Wasser halten konnte, ist nur der Unterstützung durch die diktatorischen, reaktionären sunnitischen Regime in den Golfstaaten zu verdanken. Gleichzeitig biederte er sich dem IWF und dem US-Imperialismus an und setzte die von ihnen geforderten Kürzungsprogramme durch, um neue Kredite zu bekommen.

Obwohl er drakonische Angriffe auf die Jugend und die Massenbewegungen führte und Gesetze gegen Streiks und die Arbeiterklasse erließ, konnte er nicht verhindern, dass sich seine eigene Basis zunehmend abgewandt hat und sich der Opposition anschließt.

Die politische Initiative „Tamarod“ (Rebellion) hat sich im April aus der Kefaya-Bewegung gegründet, die seit über zehn Jahren eine wichtige Rolle in Protestbewegungen gespielt hat. Tamarod hat die altbekannte Methode der Massenpetition wieder aufgegriffen (sie geht auf die britischen Chartisten der 1830er-Jahre zurück) und eine enorme Zahl von AktivistInnen mobilisiert, um Unterschriften zu sammeln. Diese Mund-zu-Mund-Mobilisierung hat sich als äußerst effektiv erwiesen. Am 30. Juni gab Tamarod an, 22 Millionen Unterschriften gesammelt zu haben.

Nach verschiedenen Quellen waren am 30. Juni zwischen 14 und 30 Millionen ÄgypterInnen auf den Straßen. Sie „feierten“ den Jahrestag von Mursis Wahlsieg, um ihn zum sofortigen Rücktritt aufzufordern. Aufgrund der Kürze der Zeit, innerhalb der sich das Militär dann einschaltete, kann man jedoch vermuten, dass es eine geheime Absprache zumindest zwischen Führungspersonen der „Nationalen Heilsfront“ (die Teil von Tamarod ist) und dem Vorsitzenden des Obersten Rates der Streitkräfte (Militärrat), General Abdel Fattah al-Sisi gab. Dessen 48-Stunden-Ultimatum, Mursi möge „auf den Willen des ägyptischen Volkes eingehen“, war faktisch ein Rücktritts-Ultimatum.

Sofort nach Ablauf des Ultimatums verhaftete die Armee Mursi, brachte die staatlichen Fernseh- und Radiosender unter ihre Kontrolle und schaltete die islamistischen Sender ab (vorübergehend sogar Al Jazeera).

Die „Road Map“ des Militärrats umfasst die sofortige Außerkraftsetzung der islamistischen Verfassung, die Auflösung des Parlaments und die Einsetzung einer Regierung unter Führung von Adli Mansour, dem Vorsitzenden des Obersten Verfassungsgerichts, der erst seit dem 1. Juli diese Position besetzt.

Die Massen dürfen sich nun nicht den Führern der liberalen, säkularen-nationalistischen Opposition anschließen, die ein Bündnis mit dem Militär und der Staatsbürokratie anstreben.Obwohl auf dem Tahrir-Platz und auf unzähligen weiteren Massenversammlungen sehr viele Menschen verständlicherweise erleichtert sind über das Ende von Mursis autokratischer Herrschaft, werden sie schnell feststellen, dass sie nicht bekommen, was sie wirklich wollten. Die zivile „Technokratenregierung“ wird sich als Maske erweisen, hinter der sich die Herrschaft der Generäle verbirgt.

Das mächtige Amt des Präsidenten ist genau dafür bestimmt, den demokratischen Willen mit Füßen zu treten – das haben Nasser, Sadat, Mubarak und Mursi gezeigt. Zudem wird es nicht einfach von allein jedes Mal einen Millionenaufstand geben, wenn die Massen reaktionäre Angriffe zu ertragen haben. Die Kandidaten, die im Moment eine Präsidentschaftswahl gewinnen könnten, würden weder der wirtschaftlichen Misere der Massen ein Ende bereiten – noch würde einer von ihnen demokratische Rechte gewährleisten.

Die UnterstützerInnen Mursis in der Muslimbruderschaft (MB) u.a. islamistischen Gruppen haben mit einer Massenmobilisierung für seine Wiedereinsetzung gedroht. Bis jetzt sind ihre Demonstrationen aber kleiner als die ihrer Gegner, und die Armee weist sie nun in die Schranken. Zudem scheinen sich Teile der Salafisten – insbesondere die Al-Nour-Partei, von der MB abzuwenden. Dennoch wurden bei Kämpfen zwischen Mursi-AnhängerInnen und -GegnerInnen Dutzende getötet. Etliche MB-Büros wurden in Brand gesetzt, darunter auch das Hauptquartier in Kairo.

Wir dürfen nicht die Entwicklung in Algerien 1991 vergessen, als der Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS) durch einen Putsch verhindert wurde. Es folgte ein Bürgerkrieg, der 200.000 Tote forderte. In Ägypten ist nicht zu erwarten, dass das Militär einfach rigoros gegen IslamistInnen vorgehen wird. Wenn ihnen erneut demokratische Rechte verwehrt werden und sich die neue Regierung für weiteren wirtschaftlichen Niedergang rechtfertigen muss, könnte dies einen Wiederaufschwung der Muslimbrüder auslösen. Oder es könnten insbesondere junge IslamistInnen zum Terrorismus übergehen, etwa wenn das Militär den Wahlprozess blockieren sollte. Die Muslimbruderschaft einfach zu unterdrücken, wäre ein ziemlich gefährliches Spiel – es ist daher noch immer möglich, dass es zu einer Verständigung kommt, die zu Lasten der Liberalen gehen würde.

Dennoch zeigt die überwältigende Kraft der Massenmobilisierungen ohne jeden Zweifel, dass die Revolution in der Lage ist, voranzuschreiten und die zahlreichen Rückschläge zu überwinden – das Militärregime nach Mubaraks Sturz, die Wahl von Mursis reaktionärem Regime und nun einen weiteren „bejubelten“ Militärputsch.

Es gab dieses Jahr bereits einen großen Anstieg von Arbeiterkämpfen und Streiks. Die Millionendemonstrationen werfen erneut die Frage der Macht der Volksmassen, d.h. der ArbeiterInnen, Kleinbauern, Frauen und Jugendlichen auf. Wieder steht die Zukunft der Revolution auf dem Spiel.

Die Massen dürfen sich nun nicht den Führern der liberalen, säkularen-nationalistischen Opposition anschließen, die ein Bündnis mit dem Militär und der Staatsbürokratie anstreben. Denn die Millionen sind nicht auf die Straßen gegangen, damit Mursi durch ein verkapptes Militärregime ersetzt wird.

Das würde bedeuten, dass der repressive Staatsapparat und die Wirtschaft von der liberalen (und neoliberalen) Elite gelenkt wird, welche die Angriffe des IWF fortsetzen würde. Eine solche Regierung würde ihre Macht einsetzen, um die Massenmobilisierungen zu unterdrücken, ihre Politik gegen die wirtschaftlichen Forderungen der Gewerkschaften durchzusetzen und gegen die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen.

Die liberale Opposition hat auf Taktiken wie den politischen Generalstreik verzichtet. Sie wollten sich immer an die Generäle wenden – nicht an die ArbeiterInnen.

Wie können die Massen einen erneuten Betrug verhindern?

Der entscheidende Punkt ist die Gründung von Versammlungen oder Räten in den Städten, auf dem Land und in der Armee. Hätte es diese bereits gegeben, so hätten die Massen selbst Mursi zu Fall bringen können. Natürlich war so ein Vorgehen von den bürgerlichen Oppositionsführern nicht zu erwarten – aber auch die linken und sozialistischen Organisationen haben nicht dafür agitiert.

Es ist aber noch nicht zu spät, das zu tun und die Millionen auf den Straßen so  aufzufordern, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen – mit ihren eigenen Methoden und für ihre eigenen Losungen:

  • Keine Unterstützung für die Marionettenregierung des Militärrates, egal ob Elemente des alten Regimes dabei sind oder nicht!
  • Vorbereitung eines Generalstreiks gegen jegliche Repression der neuen Regierung, wenn sie sich gegen das Demonstrationsrecht, das Streikrecht, die Rede- oder Pressefreiheit richtet! Vereinigt die vielen bestehenden Gewerkschaften zu Einheitsgewerkschaften, die von der Basis demokratisch gelenkt werden!
  • Gründung von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten und Verteidigungsmilizen in allen Stadtteilen und Betrieben!
  • Für freie Wahlen mit gleichem Wahlrecht ab 16 Jahren und mit proportionaler Auswertung ohne Prozenthürde zu einer Verfassunggebenden Versammlung! Die Delegierten müssen ihren WählerInnen rechenschaftspflichtig und von ihnen abwählbar sein!
  • Für eine provisorische Arbeiter- und Bauernregierung, die sich auf ArbeiterInnen-, Bauern- und Soldatenräte stützt!

Diese Regierung sollte folgendes Programm umsetzen:

  • Schutz der Verfassunggebenden Versammlung und Sicherstellung, dass sie ihre Funktion ohne Bedrohung oder Zwang ausführen kann!
  • Sofortiger Stopp des IWF-Kürzungsprogramms und Annullierung der Schulden!
  • Nationalisierung der großen Industriebetriebe und Banken unter Arbeiterkontrolle!
  • Sofortprogramm gegen die Armut! Für einen Mindestlohn bzw. -einkommen, gleitende Skala der Löhne zum Schutz vor den Auswirkungen der Inflation!
  • Enteignung der Großgrundbesitzer und Verteilung des Landes auf diejenigen, die es bearbeiten, d.h. die Kleinbauern und LandarbeiterInnen!
  • Legalisierung aller Arbeiterparteien, Gewerkschaften und demokratischen Organisationen!
  • Abschaffung aller Gesetze, die der Gleichberechtigung von Frauen entgegenstehen!
  • Entwaffnung der islamistischen Banden, der Aufstandsbekämpfungseinheiten und der Mukhabarat! Bestimmung der Kommandeure nach demokratischer Wahl durch die einfachen Soldaten!
  • Aufbau von ArbeiterInnen- und Bauernmilizen!

Diese Maßnahmen würden der Ägyptischen Revolution ein neues Kapitel eröffnen. Sie würde so den einzigen Weg nehmen, der geeignet ist, die Hoffnungen und Wünsche zu erfüllen, die der Revolution vom Februar 2011 zugrunde lagen – und sie würden den Weg bereiten für den Sozialismus. Die reaktionären IslamistInnen, die Militärs und die FührerInnen der liberalen Bourgeoisie haben bewiesen, dass sie alle unfähig sind, auch nur eine einzige demokratische oder soziale Forderung zu erfüllen, die von Millionen ArbeiterInnen, Kleinbauern, Frauen und Jugendlichen aufgeworfen wurden. Sie müssen alle verschwinden! Damit sie aber verschwinden, brauchen die Massen eine neue Führung – eine revolutionäre Partei der Arbeiterklasse, die dafür kämpft, die Ägyptische und die gesamte Arabische Revolution permanent und international zu machen.

Bild: Reuters




Ägypten: Machtübernahme durch Armee droht – wie kann die Revolution dennoch siegen?

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 692,
2. Juli 2013

anti-mursiMillionen in ganz Ägypten sind auf den Beinen und wollen nicht eher ruhen, bis die Regierung von Mohammed Mursi zurückgetreten ist. Aber diese zweite Revolution, die bereits 16 Opfer unter den DemonstrantInnen gefordert hat, bedeutet nicht automatisch einen Sieg für die Arbeiter- und Bauernmassen Ägyptens, wie die Erfahrungen der Massenmobilisierungen in den vergangenen zweieinhalb Jahren wiederholt gezeigt haben.

Die Demonstrationen des Wochenendes, zu denen Tamarod (Rebellion) aufgerufen hat, die Kampagne für vorgezogene Neuwahlen im April, die von der Jugendbewegung des 26. April und der Nationalen Rettungsfront unter Mohamed el-Baradei geführt worden ist, haben nun das ägyptische Militär auf den Plan gerufen. Sie stellen ein Ultimatum an beide Lager, sich zu versöhnen. Generalstabschef General Fattah al-Sisi hat nun gar Mursi aufgefordert, dem Willen des Volkes binnen 24 Stunden zu entsprechen, d.h. er soll gehen, bevor er gewaltsam gestürzt wird.

Die große Gefahr besteht nun darin, dass der Präsident, wenn schon  nicht durch eine direkte Militärregierung, so doch durch eine Regierung aus Zivilisten und Liberalen von Gnaden der Armee und abhängig von dieser ersetzt wird. Das würde der Strategie der Militärbefehlshaber entgegenkommen, die ihre Macht wiederherstellen könnte, nachdem sie den Sturz von Hosni Mubarak akzeptieren und einer zivilen Herrschaft Platz machen mussten. Dieser Plan ist zweifelsohne mit der US-Administration abgesprochen, der ein militärisch beherrschtes Regime hinter der Fassade einer zivilen, ja ‚liberalen’ Regierung als verlässlicher Agent ihrer Außenpolitik willkommen ist.

Die einzige Kraft, die diese Pläne durchkreuzen kann, sind die Massen auf der Straße. Aber um ihren Sieg abzusichern, brauchen sie ihre eine eigene Organisation und eine eigene Führung. Die unabhängigen Gewerkschaften haben schon zu einem Generalstreik aufgerufen. Das wird der Schlüssel sein sowohl für die Besiegelung des Sturzes von Mursi wie auch zur Verhinderung des Ausverkaufs der Revolution durch die Armee.

In allen Städten müssen die streikenden ArbeiterInnen nun ihre eigenen Streikkomitees und demokratischen Räte formieren, um den Streik auszuweiten und die Kontrolle auszuüben. Sie müssen die bewaffneten Banden der Moslembrüderschaft und salafistischen Organisationen auflösen und sich mit den Mannschaftsgraden der Armee verbrüdern. Die Befehlskette der Streitkräfte muss von den einfachen Soldaten durchbrochen werden. Auch sie müssen ihre eigenen Räte bilden und Vertreter wählen.

Eine durch die Armee eingesetzte Regierung darf unter keinen Umständen akzeptiert werden! Das einzige Regime, das die ArbeiterInnen und ihre bäuerlichen BundesgenossInnen anerkennen können, ist eine revolutionäre Regierung, die auf ihren eigenen Räten beruht. Bis dahin sollten sie ihre eigenen Organisationen und Mobilisierungen aufrecht erhalten. Eine revolutionäre provisorische Regierung muss Sofortmaßnahmen ergreifen und die unmittelbaren wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen, alle Banken und Finanzeinrichtungen verstaatlichen, alle Großgrundbesitzer enteignen, Arbeiterkontrolle in der gesamten Industrie und im Kommunikationsbereich einrichten, alle Einrichtungen des staatlichen Unterdrückungsapparats auflösen und entwaffnen und eine revolutionäre Verfassunggebende Versammlung einberufen, die den Arbeiter- und Bauernräten rechenschaftspflichtig ist.

Der Sturz von Hosni Mubarak war der Startschuss zur Revolution in ganz Nordafrika und Nahost. Nun könnte die Machteroberung durch die ArbeiterInnen und BäuerInnen Ägyptens im eigenen Namen eine neue Woge zur Vollendung jener Revolution auslösen, die Kräfte der Reaktion beseitigen und den Weg frei machen für eine Föderation von Arbeiterrepubliken des Maghreb und Nahen Ostens.

Bild: Matthias Sailer, https://matthiassailer.wordpress.com/2013/07/01/millionen-morsi-gegner-legen-agypten-lahm/