Vom Widerstand zur Befreiung. Wie kommen wir zu einem sozialistischen Palästina?

Jaqueline Katherina Singh, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, April 2024

Frieden. In Sicherheit zu leben, ohne dass Städte zerbombt werden. Sich frei bewegen zu können, ohne Kontrollen. Eine Möglichkeit zurückzukehren. Die Olivenbäume, die niedergebrannt wurden, wieder pflanzen zu können. Davon träumen viele. Doch was heißt das praktisch und wie kommen wir dahin? Wir wollen im Folgenden erläutern und erklären, was wir meinen, wenn wir für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina eintreten.

Es würde bedeuten, dass alle Bewohner:innen – egal welcher Religion oder Nation, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht nicht nur neben-, sondern miteinander leben können. Praktisch würde es bedeuten, dass an Schulen alle Sprachen angeboten würden – ob Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch. Und dieses Angebot hört nicht dort auf, sondern erstreckt sich auf alle staatlichen Institutionen und kulturellen Räume. Es würde bedeuten, dass Palästinenser:innen und arabische Israelis nicht von höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern die Arbeit auf alle aufgeteilt wird. Es würde bedeuten, dass in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Quotierungen eingeführt werden, sodass alle Zugang zu allen Berufen und Bereichen haben und systematische Verarmung verhindert wird. Es würde bedeuten, dass das Rückkehrrecht auch für alle Palästinenser:innen gilt und die Siedler:innenkolonien aufgelöst werden. Dass die Bereiche, die in Schutt und Asche gelegt worden sind, wieder aufgebaut werden und Wasser, Elektrizität, Wärme, Lebensmittel sowie medizinische Versorgung nicht mehr Mangelware sind, sondern nach Bedarf für alle verfügbar – unter Kontrolle der Nutzenden und Arbeitenden.

Im Grunde handelt es sich dabei v. a. um grundlegende demokratische Rechte. Doch die Geschichte von über 75 Jahren Vertreibung und Besatzung seit Gründung des Staates Israel zeigt, dass diese durch Reformen oder die illusionäre Zweistaatenlösung nicht verwirklichbar sind. Dies gilt umso mehr angesichts eines Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung Gazas, einer Bodenoffensive, der bisher rund 40.000 Menschen – in der Mehrzahl Zivilist:innen – zum Opfer gefallen sind. Daher scheint selbst die Verwirklichung von demokratischen Rechten als eine unfassbar weit entfernte Utopie.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Verweigerung ebendieser in die imperialistische Ordnung des Nahen Ostens, wie sie nach 1945 etabliert wurde, in den zionistischen Staat von Beginn an eingeschrieben ist. Eine demokratische Lösung des sog. Nahostkonflikts ist unmöglich, solange Israel als rassistischer Staat existiert. Der Ausschluss und die Vertreibung der Palästinenser:innen sind in seine Existenzweise eingeschrieben. Daher kann er auch nicht reformiert, sondern muss revolutionär zerschlagen und durch einen binationalen sozialistischen Staat ersetzt werden.

Wir müssen dabei streng zwischen dem zionistischen Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden. Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h. die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von Sozialist:innen zu verteidigen. Genauso rückschrittlich ist jedoch auch die Erwartung, dass die Palästinenser:innen als Staatsbürger:innen zweiter Klasse (wenn überhaupt) existieren müssen und sich unterzuordnen zu haben.

Im Folgenden werden uns daher damit beschäftigen, welche Strategie nötig ist, um den heutigen Kampf gegen den völkermörderischen Krieg mit dem für ein sozialistisches Palästina zu verbinden, und wie diese untrennbar mit dem Kampf gegen Zionismus und Imperialismus in der gesamten Region und in den imperialistischen Ländern zusammenhängt.

Grundannahmen

Dabei ist es vollkommen klar, dass im Hier und Jetzt der Kampf für einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Arme und Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrollen und Bedingungen durch die Besatzungsmacht im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. Denn die Bomben fordern hier und jetzt ihre Opfer, während gleichzeitig mehr Land in der Westbank annektiert wurde und sich mehr Palästinenser:innen in israelischer Haft befinden als je zuvor. Die Lage scheint manchen aussichtslos, vor allem, da die israelische Offensive in aller Härte mehr als 7 Monate andauert. Doch wir glauben, dass es wichtig ist, nicht nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden. Denn letzten Endes verschafft diese zwar Milderung, aber sie wird nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch für direkte Verbesserungen kämpft – einen sofortigen Rückzug der israelischen Truppen beispielsweise.

Zeitgleich braucht es jedoch darüber hinaus eine Debatte darüber, was ein freies Palästina ist – und wie wir dahin kommen. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir über Taktiken und Strategien diskutieren und versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen – um eine Einstaatenlösung mit Rückkehrrecht für die Vertriebenen möglich zu machen. Bevor wir zu konkreten Forderungen und Vorschlägen für die aktuelle Solidaritätsbewegung kommen, wollen wir ein paar Grundannahmen festhalten:

1. These: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein internationalistischer. Weder können die aktuelle Situation drastisch verändert noch ein eigener Staat allein aus Palästina oder Israel heraus selbst erkämpft werden.

Es ist klar: Ohne den jahrzehntlangen heroischen Widerstandskampf der palästinensischen Massen wäre der „Konflikt“ längst reaktionär befriedet worden. Daher ist Solidarität mit ihm Voraussetzung für jeden Internationalismus, auch wenn dies keineswegs bedeutet, die Politik der palästinensischen Führungen zu unterstützen. Angesichts der militärischen Übermacht, dem Andauern des Konfliktes und dem aktuellen Kräfteverhältnis vor Ort wird deutlich, dass selbst der entschlossenste Widerstand alleine nicht ausreicht. Da der israelische Staat seitens der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Mächte gestützt wird, braucht es massiven Druck, der nur seitens der internationalen Arbeiter:innenklasse erbracht werden kann. Ob Massenproteste, Solidaritätsstreiks und/oder Boykotte: Die Palette der Möglichkeit ist vielfältig.
Dabei muss auch deutlich werden, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Ob nun beim Kampf in Syrien gegen Assad, in Rojava gegen Erdogan oder in Kaschmir gegen die indische Besatzung – Solidarität mit diesen Bewegungen ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ein zentraler, notwendiger Schritt um das Gelingen der jeweiligen Befreiungskämpfe zu sichern.

2. These: Der Kampf für ein freies Palästina kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen die imperialistische Machtinteressen richtet – und gegen die (ausländische wie einheimische) Bourgeoisie.

Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass eine Zweistaatenlösung nicht möglich ist. Stetiger Kampf um Land sowie Ressourcen sorgt nicht nur für Vertreibung, sondern auch dafür, dass der Zugang zu gewissen Ressourcen für einen Teil limitiert bleiben muss, solange diese Verteilung unter kapitalistischen Verhältnisse stattfindet. So wie zwei Individuen nicht beide zur selben Zeit über exklusives Privateigentum an etwas Gleichem verfügen können, können auch nicht zwei Völker exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Ebenso kann ein bürgerliches, kapitalistisches Palästina nur möglich sein, wenn sich eine imperialistische Macht dazu entscheidet, als Schutzmacht zu fungieren. Das bedeutet nicht nur Abhängigkeit und Ungewissheit, sondern Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung durch diese – sowie die nationale Kapitalist:innenklasse. Dass das keine Alternative sein kann, zeigen schon jetzt die Auswüchse der Korruption unter PNA (Palästinensische Autonomiebehörde)- und Hamas-Verwaltung.

Die einzige fortschrittliche Lösung ist deshalb das Gemeineigentum, also die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Das heißt: Wenn das Ziel ist, dass vorhandene Ressourcen in der Region unter allen, die dort leben, gleichmäßig aufgeteilt werden sollen, dann bedarf es einer Einstaatenlösung, bei der Produktionsmittel und Boden verstaatlicht werden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern stehen. Der Kampf gegen Besatzung, Zionismus und Imperialismus muss also immer aktiv verbunden werden mit dem gegen Ausbeutung. Daraus resultiert, dass der Kampf für ein befreites Palästina einer für ein sozialistisches, für einen binationalen Arbeiter:innenstaat sein sollte – vor Ort und international.

3. These: Keine Befreiung ohne Revolution

Weder Besatzungsmacht noch Kapitalist:innen werden ihre Position friedfertig aufgeben. Das ist dem Großteil der sich im Widerstand befindenden Kräfte klar. Die Taktik des Guerillakriegs baut auf langfristigen Auseinandersetzungen mit einer militärischen Übermacht auf. Doch während die militärischen Anstrengungen vor Ort dafür sorgen können, die Kosten der Besatzung in die Höhe zu treiben – sie alleine können das Morden und systematische Unterdrückung nicht stoppen und limitieren gleichzeitig die eigenen Mittel des Widerstandes.
Statt darauf zu hoffen, dass andere arabische Staaten oder der Iran sich in den Krieg hineinziehen lassen, braucht es vielmehr den Aufbau einer internationalistischen Arbeiter:innenbewegung – die sich auch in ihrem eigenen Interesse aktiv dazu entscheidet, in den Konflikt einzugreifen.

Darüber hinaus hat die 1. Intifada gezeigt, dass Massenproteste der gesamten Bevölkerung das Mittel sind, am effektivsten den zionistischen Staat und seine scheinbare Allmacht erschüttern zu können. Angesichts des Landraubs im Westjordanland, der bewaffneten Siedler:innen, die willkürlich die palästinensischen Bewohner:innen drangsalieren und vertreiben, bedarf es einer revolutionären Massenbewegung, die in einem Massenaufstand mündet. Die Erfahrung zeigt dabei, dass alle großen Bewegungen wie Massenstreiks, Blockaden usw. bewaffneter Selbstverteidigungsorgane bedürfen, um sich gegen die israelische Armee und rassistische und faschistische bewaffnete Siedler:innen zur Wehr setzen zu können.

Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teil der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.

4. These: Eine revolutionäre Partei und Internationale sind notwendig

Um den gemeinsamen Kampf in den verschiedenen Bereichen koordiniert führen zu können, braucht es mehr als Bewegungen, Bündnisse, Kampagnen. Es braucht eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei und Internationale – in Palästina und weltweit. Eine revolutionäre Partei in Palästina würde sich dabei vor allem auf die palästinensischen Lohnabhängigen

stützen müssen. Sie müsste zugleich die antizionistischen Teile der jüdischen Intelligenz und der Arbeiter:innenklasse organisieren, enge Verbindungen zu revolutionären Parteien in den arabischen Staaten und auf der gesamten Welt aufbauen, um den Kampf zu koordinieren.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, gegen den Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der von der Hamas geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der unterdrückenden Macht anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung erwächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende und jede Kollaboration mit der Besatzung. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei Erstere nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie die im Iran, in Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien. Dabei verfolgen wir auch eine Politik, jeden Bruch, jede Spaltung im zionistischen Lager auszunutzen, zu vertiefen und im besten Fall Lohnabhängige vom Zionismus zu brechen.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hegt daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen. Die jüdisch-israelische Arbeiter:innenklasse wird sich – wie jede Klasse, die den Kolonialismus ihrer „eigenen“ Bourgeoisie unterstützt – nur befreien können, wenn sie mit diesem bricht und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennt.

2. Die Arbeiter:innenklasse im Nahen Osten

Eine zentrale Rolle im Kampf für die Befreiung Palästinas kommt den umliegenden Nachbarländern zu. Schon allein die Millionen palästinensischen Geflüchteten und die zentrale Rolle der Geflüchtetencamps in Jordanien oder im Libanon für den palästinensischen Befreiungskampf zeigen, dass dieser eng mit dem Schicksal der umliegenden Länder verbunden ist. So gab es im Zuge des Vergeltungsschlags Israels gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas massive Protestwellen in den umliegenden Ländern. Im Irak, Iran, in Ägypten, Syrien und Jordanien sind Hunderttausende in Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Straße gegangen. Diese Proteste stellen Ansatzpunkte dar, die Arbeiter:innenklasse für revolutionäre Forderungen zu gewinnen.

a) Solidarität mit Palästina heißt Kampf dem Imperialismus!

Gleichzeitig hegen viele die Hoffnung, dass die dort Herrschenden Palästina befreien werden. Doch solchen Illusionen müssen wir entschieden entgegentreten. Weder Nasser oder Chomeini haben Palästina befreit, noch werden es El-Sisi oder Erdogan tun. Ihre Solidarität ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Sie zeigen sich vermeintlich an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Sie sind weder gewillt, in größerem Umfang palästinensische Geflüchtete aufzunehmen, noch eine wirkliche Konfrontation mit den imperialistischen Schutzmächten Israels zu suchen. Ihre zeitweilige zumindest verbale Konfrontation mit Israel liegt mehr in ihrer Konkurrenz um die Gunst der imperialistischen Länder begründet.

Außer den Huthis im Jemen hat kein Staat wirkliche Angriffe auf die imperialistische Präsenz unternommen. Doch nicht einmal zu einer Verurteilung der Angriffe auf den Jemen und die Huthis können sich sie meisten arabischen Regime durchringen. Ägypten könnte, wenn es denn wollte und bereit zur Konfrontation mit den USA und der EU wäre, den Suezkanal für den internationalen Warenverkehr sperren und so einen massiven wirtschaftlichen Druck auf die imperialistischen Staaten ausüben. Doch statt dessen bringt man sich lieber als „Vermittler“ und Verbündeter ins Geschäft.

Sie verraten den palästinensischen Befreiungskampf, sobald ihrer eigenen Stellung als Herrschende oder ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den imperialistischen Ländern Gefahr droht, denn ein wirklich befreites, sozialistisches Palästina würde selbstverständlich auch ihr eigenes Ende bedeuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben Ägypten und Jordanien in den letzten Jahren auch weitere Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain die Beziehungen zu Israel normalisiert und es international anerkannt haben. Das heißt: Wir können wir uns im Kampf nur auf Organisationen der Arbeiter:innenklasse verlassen, welche die heuchlerische Solidarität der Herrschenden aufdecken muss.

Deswegen ist ein wichtiger Punkt, den Einfluss imperialistischer Kräfte wie USA, EU, Russland und China auf die Region zurückzudrängen. Während die US-Invasionen der Vergangenheit die heutige Realität maßgeblich prägen, so muss man auch gegen „das kleinere Übel“ kämpfen, wie den russischen Imperialismus, der das Assadregime stützt. Die Praxis zeigt: Russland und China vertreten ihre eigenen imperialistischen Interessen, auch ihre Solidarität mit Palästina kommt über reine Lippenbekenntnisse, um Handelsbeziehungen aufzubessern, nicht hinaus.

  • Stopp aller Wirtschaftsbeziehungen mit, aller Waffenlieferungen an Israel!

  • Für die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel!

  • Für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum!

  • Streiks, Blockaden und Arbeiter:innenboykott, um effektive Sanktionen gegen Israel durchzusetzen und strategische Versorgungsgüter für seine imperialistischen Unterstützer:innen zu blockieren.

b) Solidarität mit Palästina heißt Sturz der eigenen Regime!

Es muss der Zusammenhang aktiv dargestellt werden zwischen dem Leid der palästinensischen Bevölkerung und dem Elend vor Ort. Nicht nur, dass die Regierungen sich weigern, ernsthafte Maßnahmen im Interesse der Palästinenser:innen zu tätigen, sie tragen die Vorherrschaft und Ausbeutung seitens der imperialistischen Mächte aktiv mit – und sorgen so für eine Verelendung der Bevölkerung vor Ort. Doch wie? Ansatzpunkte für den Kampf können beispielsweise die Verschlechterung der Lebensqualität vor Ort und die aktuell sehr hohe Inflationsrate sein. Arbeiter:innen müssen in Protesten Forderungen, wie die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation, aufwerfen und diese mit Streiks durchsetzen.

Die Solidaritätsproteste müssen genutzt werden, aus der aktuellen Defensive zu kommen, die beispielsweise die Militärdiktaturen mit sich gebracht haben. Das schreibt sich leichter als getan, schließlich agieren Revolutionär:innen und Linke vor Ort unter halb- oder illegalen Umständen. Aber gleichzeitig bieten eben diese Proteste, die Möglichkeit, die Organisierungsarbeit wieder aufzunehmen.

Die gemeinsame Organisierung mit palästinensischen Geflüchteten erhöht die Kampfkraft. Diese muss mit der Forderung nach gleichen Löhnen und demokratischen Rechten für alle verbunden werden. Revolutionär:innen müssen dabei für die Öffnung der Grenzen zu Gaza und der Westbank kämpfen und eine Verbindung zum palästinensischen Befreiungskampf suchen.

  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedem Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von Vertreter:innen aus Betrieben, Elendsvierteln, Arbeiter:innenorganisationen, Frauen, Kleinhändler:innen und Verbraucher:innen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die Arbeiter:innen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat:

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, Exekutivpräsident:innen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!

c) Aus Fehlern lernen: Für einen zweiten Arabischen Frühling!

Dabei kann es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht das Aufflammen eines zweiten Arabischen Frühlings, in welchem sich die Arbeiter:innen in den umliegenden Ländern gegen ihre eigenen Unterdrücker:innen organisieren und die Bourgeoisie als herrschende Klasse stürzen. Das heißt auch, aus den existierenden Erfahrungen Lehren zu ziehen.

Nicht nur der Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfs ist in großem Maße davon abhängig, ob es das Proletariat der umliegenden Länder schafft, den Klassenkonflikt zuzuspitzen, eigene demokratische Organe aufzubauen, Industrien unter ihre Kontrolle zu stellen, das Kapital zu enteignen und die Macht zu übernehmen. Auch die eigenen Despot:innen aus ihren Machtpositionen zu jagen, hängt davon ab. Es ist  zentral, dass Arbeiter:innenstrukturen auf eine Doppelmachtsituation hinarbeiten und schließlich die Macht erkämpfen, damit die Aufstände nicht wieder in Militärputschen enden. Dabei müssen Revolutionär:innen die Verbindung der palästinensischen Befreiung mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse in den Nachbarländern aufzeigen und für Solidaritätsstreiks, also politische Streiks eintreten. Hier wird schnell deutlich, dass es nicht nur den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken braucht, sondern auch demokratische Selbstverteidigungsmilizen, um die Kämpfe zu verteidigen. Denn die Herrschenden werden weder massenhafte Aufstände noch Generalstreiks zur Umsetzung politischer Forderungen, geschweige denn den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken freiwillig dulden. Damit massenhafte Aufstände und revolutionäre Situationen nicht im Sande verlaufen oder durch konterrevolutionäre Bewegungen zunichtegemacht werden, braucht es die Kampfkraft der internationalen Arbeiter:innenklasse. Das heißt, auch wir in den imperialistischen Ländern müssen in Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf die Straße gehen und den Klassenkampf vor Ort zuspitzen.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Enteignung des Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für Regierungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die sich auf Räte und Milizen stützen und die Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung reorganisieren. Für die permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten! Für revolutionär-kommunistische Parteien als Teil einer wiedergegründeten Internationale!

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Ob Belgien, Italien oder die Niederlande: Welche positive Rolle die Arbeiter:innenklasse in den westlichen Zentren spielen kann, haben bereits einige Vertreter:innen gezeigt. Sie sind dem Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften nicht nur mit warmen Worten begegnet, sondern mit Taten. Doch wie kann die Kriegstreiberei insgesamt gestoppt werden?

a) Schluss mit der Komplizenschaft: Stoppt die Waffenlieferungen und Unterstützung der Kriegsindustrie!

Der westlichen Arbeiter:innenklasse kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie.

Gegen Repression und für mehr Druck ist es zentral, dass die bestehenden Bewegungen sich koordinieren und gemeinsame Aktionen, Forderungen und Slogans hervorbringen. Dabei stellen Blockaden seitens der Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar. Es braucht aber eine politische Kampagne, die das Verbot jeglicher Waffenexporte und Unterstützung des Krieges in finanzieller Form fordert. Statt Waffen braucht es medizinische Soforthilfe, statt finanzieller Unterstützung der israelischen Kriegsindustrie Mittel zur sofortigen Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau Gazas – unter Kontrolle der Palästinenser:innen selbst, nicht durch irgendwelche NGOs oder Statthalterregime.

  • Schluss mit Komplizenschaft: Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen nach und finanzieller Unterstützung an Israel! Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste! Für die Offenlegung aller Verträge!

  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!

b) Schluss mit Repression und antimuslimischer Hetze!

Eine weitere Aufgabe bildet der Kampf gegen massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze, die seit Oktober massiv zugenommen haben. Sie versuchen dabei nicht nur, den Widerstand der Palästinenser:innen zu diskreditieren, sondern helfen auch dem weiteren Erstarken von rechten Kräften in den westlichen Staaten. Das heißt: Wir müssen der Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, entschlossen entgegentreten. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt. Ebenso müssen wir gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina einstehen. Wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Antiterrorlisten der EU und USA.

  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten Antiterrorlisten der USA, EU oder anderer Mächte!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

Revolutionäre Organisation ist notwendig

Der Aufbau einer Massenbewegung, die sich vernetzt und koordiniert, ist mehr als notwendig. Aber um Generalstreiks, Enteignung und die Zerschlagung bürgerlicher Staaten durchzusetzen, braucht es Kräfte innerhalb der Bewegung, die dafür argumentieren und bereit sind, den Kampf aktiv zuzuspitzen. Dies entsteht nicht aus reiner Spontanität. Die historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse haben gezeigt, dass diese aus sich heraus eher reformistisches Bewusstsein tragen, sich demnach im Kampf spontan eher innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bewegen. Das Verständnis für die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus geht darüber hinaus und muss daher von außen in die Arbeiter:innenklasse hineingetragen werden. Dafür brauchen wir ein revolutionäres Programm, das eine dialektisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, vergangene und aktuelle Kräfteverhältnisse in den Blick nimmt und daraus entsprechende Strategien und Taktiken entwickelt. Forderungen und Grundannahmen dafür haben wir versucht zu skizzieren. Sie sollen uns Revolutionär:innen als gemeinsame Handlungsgrundlage dienen und als Vermittlung zwischen revolutionärer Theorie und Praxis fungieren. Wichtig dabei ist, dass sie an die spezifischen Situationen der verschiedenen internationalen Kämpfe angepasst werden und an den jeweiligen Gegebenheiten ansetzen. Sie müssen ein System von Übergangsforderungen darstellen, das die Brücke schlagen kann von Minimalforderungen, die theoretisch schon im Kapitalismus umgesetzt werden könnten, über die Grenzen kapitalistischer Herrschaft hinweg und dadurch die soziale Macht von der einen Klasse in die Hände der anderen überführen.

Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden, die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.




Keine Waffen für Völkermord: Wie organisieren wir Palästinasolidarität in deutschen Gewerkschaften?

Jaqueline Katharina Singh/Robert Teller, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die starke Einbindung Israels in den europäischen Wirtschaftsraum verschafft der Arbeiter:innenklasse hierzulande auch einen großen Hebel. Streiks, Boykotte von Warenlieferungen und vor allem Waffen können die Kriegsmaschinerie wirklich treffen. Doch wie kommen wir dazu? Wie durchbrechen wir die Unterstützung der Bundesregierung durch die Gewerkschaftsspitzen?

Welche unmittelbaren Kampfziele sinnvoll sind, hängt angesichts dieses Kräftverhältnisses sicher auch von den jeweiligen Umständen ab. In jedem Fall sollten sie aber mit den dringenden Forderungen der gesamten Bewegung in einen Zusammenhang gestellt werden: nach einem sofortigen Waffenstillstand, dem Ende des Kriegsverbrechens der vorsätzlichen Aushungerung und dem Rückzug des israelischen Militärs aus Gaza. Laut einer aktuellen Umfrage (Statista, 22.03.2024) halten 69 % der deutschen Wahlberechtigten das militärische Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt – und es spricht wenig dafür, dass unter Lohnabhängigen oder Gewerkschaftsmitgliedern die Verhältnisse grundlegend anders sind.

Doch eine von dieser Mehrheit getragene Bewegung gibt es derzeit nicht. Um diese aufzubauen, reicht es offenbar nicht, an weitverbreitete Sympathie und Mitgefühl mit den Palästinenser:innen anzuknüpfen, wenn zugleich das gesamte „demokratische Spektrum“ mit schweren moralischen Geschützen aus allen Rohren auf alles schießt, was nur nach Palästinasolidarität riecht. Mit einer starken gewerkschaftlichen Palästinasolidarität wäre es möglich, über den symbolischen Protest auf der Straße hinaus die israelische Kriegsmaschine zu behindern – durch Blockade von militärischen Gütern, die auf dem See- oder Luftweg transportiert werden, Lahmlegung von Produktionsketten, die für Israel produzieren, aber auch Druck auf Universitäten oder Unternehmen, die über Kooperationen mit Israel indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt sind. Doch in Deutschland scheinen wir davon weit entfernt.

Deutsche Gewerkschaften und Palästina

Entgegen manchen Aktionen internationaler Gewerkschaften veröffentlichte der DGB am 10. Oktober eine Solidaritätsbekundung und offenen Brief an Arnon Bar-David, den Vorsitzenden der Histadrut, unter dem Titel „Solidarität mit Israel“. Dort heißt es unter anderem: „Jede Form von Terrorismus, willkürlichen Tötungen und Verschwindenlassen ist inakzeptabel und wird auf unseren entschlossenen Widerstand stoßen. Die letzten Tage haben uns gezeigt, wie tief Antisemitismus in den Gesellschaften der Welt verwurzelt ist. Wir sind schockiert und besorgt, wie brutal der Antisemitismus auch hier in Deutschland zu Werke ging. ‚Nie wieder’ ist für uns kein leeres Bekenntnis – im Gegenteil. Es ist unsere feste Überzeugung. Wir bekämpfen Antisemitismus hier in Deutschland, aber auch in unseren weltweiten Gewerkschaftsorganisationen. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Sie in Ihrem Kampf zu unterstützen, wir stehen eng an Ihrer Seite.“

Dieses Schreiben wirkt noch gemäßigt im Vergleich mit dem der DGB-Jugend, welches am 18.10. verabschiedet wurde. Der Titel „Solidarität mit unseren Freund*innen in Israel“ sagt  alles. Dabei erweist sich diese Linie der Solidarität mit dem israelischen Staat seither als das, was sie immer schon war: die Unterstützung eines Kriegs gegen die Bevölkerung von Gaza unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“.

Damit nicht genug. Als Gewerkschafter:innen offen die Demonstration „Gaza: Die Waffen müssen schweigen!“ im Januar in Köln unterstützten, war der Apparat bedacht, sehr schnell eine Pressemitteilung herauszugeben und klarzumachen: Der DGB ruft nicht dazu auf. Stattdessen beteilige man sich an der Aktion „Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus – in Solidarität und Mitgefühl mit Israel“. Zwar wird in diversen Stellungnahmen immer mal wieder erwähnt, dass man auch für die Zweistaatenlösung eintrete. Aber darin erschöpft sich schon die „Kritik“ an der israelischen Regierung. Wenige Worte sind für die Situation der Palästinenser:innen reserviert, noch weniger für praktische Initiativen, um wenigstens deren Leid zu lindern. Der Grundton ist klar: Der 7. Oktober sei ein isoliertes, kontextloses Ereignis, dass sich gegen Jüdinnen und Juden richtet – und die Verbrechen der israelischen Besatzung – ob illegaler Siedlungsbau, stetige Gewalt oder Gazablockade werden davon isoliert –, weil schon die Kontextualisierung des 7. Oktober als „Relativierung“ gilt.

Solidarität mit Israel – schon vor dem 7. Oktober

Die einseitigen Stellungnahmen und das aktuelle Schweigen zur Lage der palästinensischen Bevölkerung sind allerdings keine Überraschung. Bereits vor dem 7. Oktober wurden antizionistische Positionen mit aller Kraft in deutschen Gewerkschaften bekämpft: Unter der Schirmherrschaft der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas (SPD), hat der DGB-Jugendausschuss das erste Mal im März 2023 eine Sitzung in Israel abgehalten – und die Resolution „Solidarity forever – Deklaration zur Zusammenarbeit der DGB-Jugend und Histadrut“ verabschiedet. 2021 wurde das Palästinakomittee in Stuttgart vom „Festival gegen Rassismus“ der DGB-Jugend ausgeschlossen. 2017 kam bei der Bundesjugendkonferenz des DGB der Antrag „Boykotte boykottieren“ durch, der sich gegen die Zusammenarbeit mit der BDS-Kampagne und Gruppe FOR Palestine (For One State and Return) richtete. Hinzu kommen regelmäßige Austauschprogramme, wo Gewerkschaftsvertreter:innen Israel besuchen können – während auf die Situation der Palästinenser:innen wenig eingegangen wird. Das sind keine Einzelfälle, sondern eine politische Linie. Aber woher kommt diese?

a) Sozialpartnerschaft und mangelnde Basisstrukturen/Kontrolle

Ein Faktor ist die Sozialpartnerschaft, also die Politik der institutionalisierten Mitverwaltung des Kapitalismus zugunsten kleiner Verbesserungen für die Arbeitenden insgesamt. Deutlich spürbar bei Tarifrunden wie zum TVöD 2023 oder der Politik der Gewerkschaften während der Coronapandemie, führt sie letzten Endes zur Befriedigung von Konflikten. Denn es geht der Gewerkschaftsbürokratie darum, ihre eigene Position als Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit aufrechtzuerhalten – und damit des Kapitalismus. Ein Resultat davon ist ebenfalls – um die eigene Position wahren zu können –, den bürgerlichen Staat und die Außenpolitik des deutschen Imperialismus zu stützen.

Sichtbar wurde dies im Zuge des Ukrainekriegs, als Massenmobilisierungen gegen die im Zuge des Krieges stattfindende Aufrüstung und parallel laufende Einkommensverluste ausblieben. Ein zusätzlicher Faktor, der den Beschluss solcher Resolutionen begünstigt, ist der Aufbau und die Struktur der Bürokratie selbst. Statt Rechenschaftspflicht sowie direkte Wähl- und Abwählbarkeit können sich einmal gewählte oder eingestellte Bürokrat:innen für mehrere Jahre an ihre Posten klammern – ungeachtet ihrer politischen Positionen. Doch beide Punkte alleine reichen nicht aus, um die Situation in Deutschland zu verstehen. Schließlich finden wir sowohl Elemente der Sozialpartner:innenschaft als auch von der Basis losgelöste Strukturen ebenso in anderen Gewerkschaften – die jedoch weitaus progressivere Positionen bezüglich Palästina einnehmen.

b) Rolle der SPD und Zionismus der deutschen Linken

Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die SPD. Nach über 150 Jahren Klassenverrat könnte man hoffen, dass der Einfluss der Sozialdemokratie aus den Gewerkschaften verschwunden sei. Doch ist das letztlich nur eine Hoffnung und nicht Realität. Als bürgerliche Arbeiter:innenpartei ist sie vor allem in der Bürokratie und den Funktionärsschichten vertreten – und prägt auch ideologisch die internationale Politik der Gewerkschaften. Die SPD verteidigte schon früh die Gründung Israels. Neben der außenpolitischen Unterstützung der USA und der Westintegration kam als verstärkendes Moment die Verbindung zum Labourzionismus und zur Kibbuzbewegung hinzu, die als sozialistisches Modell idealisiert wurde. Wenn die SPD in den 1970er Jahren auch mit Vertreter:innen der PLO Beziehungen aufnahm, so standen sie sowie von ihr kontrollierte Jugendorganisationen schon seit den 1960er Jahren für eine starke politisch-ideologische Unterstützung des Zionismus.

c) Unterstützung der USA und Westintegration

Es überrascht also nicht, dass die staatstragenden Spitzen der DGB-Gewerkschaften – fest eingebunden in die als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisierte Klassenzusammenarbeit – auch außenpolitisch Patriot:innen sind und ins Horn der Staatsräson tuten. Den gewerkschaftlichen Initiativen für einen Waffenstillstand schlägt daher nicht nur staatliche Repression und mediale Stimmungsmache entgegen, sondern auch der Apparat der eigenen Gewerkschaft. Die meisten Initiativen haben sich daher bislang darauf beschränkt, durch offene Briefe Öffentlichkeit zu schaffen. Oft knüpften sie an einen Solidaritätsaufruf palästinensischer Gewerkschaften vom 16. Oktober an oder nahmen auf andere internationale Initiativen Bezug. Das alles könnte einen dazu veranlassen, den Kampf in den Gewerkschaften für sinnlos zu betrachten. Doch auch wenn dies verständlich ist – richtig ist diese Position keinesfalls.

Eine Solidaritätsbewegung mit Palästina ist erfolgreicher, wenn sie Streik als Mittel einsetzen kann, um den Krieg zu beenden. Zum einen baut Streik ökonomischen Druck auf – was Regierungen wesentlich stärker unter Druck setzt als einfache Demonstrationen. Zudem haben italienische oder belgische Arbeiter:innen gezeigt, dass Waffenblockaden so einfacher durchzusetzen sind. Mehrfach gab es Streikaufrufe, die sich an die Allgemeinheit gerichtet haben. Es ist zwar nachvollziehbar, sich an alle zu richten, gleichzeitig sind sie in der Leere verpufft. Es braucht konkrete Organisationen, die ihre Mitgliedschaft mobilisieren, um das existierende Potenzial zu bündeln. Gleichzeitig ist man so viel mehr gegen Repression geschützt. Der Kampf richtet sich gegen die Interessen des deutschen Imperialismus und seine Sozialpartnerschaft. Bei der Frage einzuknicken, weil „der Gegenwind zu scharf ist“, sorgt dafür, dass dessen Stellung gestärkt wird – was sich negativ auf andere gewerkschaftliche Kämpfe auswirkt. Denn der Kampf gegen Standortborniertheit findet auch an anderen Stellen statt, nicht nur wenn es um internationale Solidarität mit Kämpfen geht.

1. Bundesweite Vernetzung

Wenn die Solidaritätsbewegung mit Palästina erfolgreich sein soll, müssen wir also dafür eintreten, das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu ändern. Um handlungsfähig zu sein, ist es wichtig, dass die bereits Aktiven sich bundesweit vernetzen und Teil von Basisstrukturen werden. Ziel muss sein, die bisherigen Aktivitäten nicht nur zu bündeln, sondern auch gemeinsam nächste Schritte anzugehen. Wie genau das passieren kann, wollen wir im Folgenden klären:

2. Breite politische Aufklärungskampagne

Die ständige Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen propalästinensische Stimmen etwa entfaltet ihre Wirkung nicht nur durch Angst, selbst zur Zielscheibe von Repression zu werden, sondern in der breiten Masse vor allem dadurch, dass die meisten Menschen verständlicherweise eben keine Antisemit:innen sein wollen. Diese Unsicherheit lässt sich nur durch eine bewusste politische Auseinandersetzung auflösen. Die Kolleg:innen müssen selbst verstehen, was Antisemitismus ist (und was nicht), um gegen ungerechtfertigte Angriffe gerüstet zu sein. Hierfür bräuchte es eine politische Aufklärungskampagne. Das heißt: Es braucht verständlich geschriebenes Material, das über die aktuelle Situation aufklärt und gleichzeitig auf die häufigsten Kritikpunkte, die in der Debatte kommen, Gegenargumente liefern. Dieses Material kann ein Ergebnis einer bundesweiten Vernetzung sein.

Hilfreich ist dabei etwa ein Blick unter die Oberfläche der selbstverliebten deutschen bürgerlich-nationalistischen „Erinnerungskultur“, die es erst ermöglicht, die eigenen Verbrechen der Vergangenheit als Legitimation für neue Massaker zu instrumentalisieren. Vermitteln sollten wir auch, dass das Konzept des „jüdischen Schutzraums“ selbst einen rassistischen Charakter trägt, es im Gegensatz steht zur traditionellen Position der Arbeiter:innenbewegung, für die Gleichberechtigung aller Ethnien und Nationen einzutreten und für deren kollektive Verteidigung gegen Angriffe, wo immer sie leben. Keinesfalls sollte die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, verschwiegen oder kleingeredet werden – sondern wir sollten erklären, dass wir dessen Instrumentalisierung für die außenpolitischen Interessen des deutschen Imperialismus ablehnen und daher auch keine Illusionen in den deutschen Staat schüren, dass dieser den Antisemitismus ernsthaft bekämpft.

Ebenso notwendig ist es, Klarheit zu schaffen über die Kräfte des palästinensischen Widerstandes wie der Hamas. Wir sollten die dämonisierende Hetze gegen diese (und auch gegen den 7. Oktober) als das offenlegen, was sie ist: Chauvinismus, der einen Genozid rechtfertigen soll. Dabei sollten wir aber die politischen Schwächen der palästinensischen Bewegung und unsere Kritik am reaktionären Charakter der Hamas nicht verschweigen, denn dies würde gerade nicht dazu führen, dass Kolleg:innen ihre Position in einem politisch repressiven Klima selbstständig verteidigen können. Um eine gewerkschaftliche Verankerung der Palästinasolidarität zu schaffen, ist es daher auch notwendig, eine breite und offene Debatte um deren Ziele zu führen, um den Charakter des Krieges und um die Interessen, die der eigene Imperialismus hier verfolgt. Dann ist es auch möglich, die Palästinasolidarität auf eine allgemeinere Grundlage der Klassensolidarität zu stellen: Jeder israelische Sieg in Gaza macht auch den deutschen Imperialismus selbstbewusster und aggressiver – nach außen und innen. Er verschärft den Rassismus, schränkt demokratische Rechte ein (und damit auch die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenklasse insgesamt) und bereitet seine eigenen Kriege vor.

Umgekehrt schwächt ein erfolgreicher Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Vertreibung, gegen das Morden nicht nur ihren Kampf für nationale Selbstbestimmung. Er schwächt nicht nur den zionistischen Unterdrückerstaat, sondern auch die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und weltweit, weil er Mächten wie den USA oder auch der BRD und ihren herrschenden Klassen Paroli bietet und allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zeigt, dass scheinbar unbesiegbare Staaten nicht unverletztlich sind.

3. Konkrete Beschlüsse erkämpfen

Um eine gewerkschaftliche Solidarität aufzubauen, sollten wir uns auch an positiven Beispielen orientieren. Gerade wenn man unter schwierigen Bedingungen kämpft, ist es motivierend zu sehen, was in anderen Ländern erreicht wurde: etwa das „National Labor Network for Ceasefire“, dem über 200 US-Gewerkschaften angehören, oder der Aufruf von 14 spanischen Gewerkschaften, den Waffenhandel mit Israel zu beenden.

Ziel muss es sein, in den lokalen Gliederungen konkrete Beschlüsse zu verabschieden. Inhalt dieser sollte sein: die Ablehnung, deutsche Waffen nach Israel zu schicken sowie den Krieg finanziell zu unterstützen, gegen die Beteiligung deutscher Unternehmen am illegalen Siedlungsbau (wie beispielsweise durch Axel Springer) und stattdessen für eine sofortige, permanente Waffenruhe. Einen entsprechenden Vorschlag findet ihr am Ende des Textes. Die Landesdelegiertenversammlung der GEW Berlin hat beispielsweise Ende November zwei Statements verabschiedet. In einem heißt es: „Ebenso verurteilen wir die unverhältnismäßigen Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Gaza, die bereits Tausende zivile Opfer gefordert haben, die Vertreibung der Bevölkerung und die Blockade des Gazastreifens. Wir fordern die Beendigung der Luftangriffe und der Blockade sowie den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazstreifen. Ein Krieg mit dem Ziel der ‚Vernichtung der Hamas’ (Benjamin Netanjahu) würde viele Tausende Tote unter den Palästinensern in Gaza fordern. Als erster Schritt wäre eine sofortige Waffenruhe erforderlich.“

Die internationalen Aktionen und Aufrufe können nicht nur als positive Beispiele genutzt werden. Es sollte auch in den Debatten aufgezeigt werden, dass der DGB internationale Beschlüsse hat, die er nicht umsetzt und konkret dagegen arbeitet. Wichtig ist dabei, dass es nicht nur darum geht, viele Forderungen oder möglichst lange Texte zu verabschieden, sondern dass man die Kolleg:innen dafür gewinnt, sich in der jeweiligen Gliederung öffentlich zu positionieren und auch aktiv werden zu können.

4. Gemeinsam in Aktion treten

Ob Infoveranstaltungen mit Gewerkschafter:innen aus anderen Ländern, Blöcke auf Palästinasolidaritätsdemonstrationen, Proteste vor Gewerkschaftszentralen oder Betriebsversammlungen zum Thema: Die Palette ist breit, wenn es darum geht, was alles getan werden kann. Ziel ist es, an dieser Stelle mit Kolleg:innen ins Gespräch zu kommen, aber zeitgleich auch eine klare Kante zur bisherigen Politik des Gewerkschaftsapparates zu zeigen –  mit dem Ziel, diesen unter Druck zu setzen, sich zu positionieren und bestenfalls die Mobilisierungen zu unterstützen.

Widersprüche aushalten, Druck ausüben

Wir wollen ehrlich sein: Das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu verändern. wird nicht einfach sein. Für Aktivist:innen ist es zentral zu verstehen, dass die Aktivitäten im Wechselspiel zueinander stehen. Einzelne Beschlüsse alleine werden das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften nicht kippen. Deswegen müssen die Aktivitäten Teil einer gesamtgesellschaftlichen, politischen Solidaritätskampagne sein. Ohne diese wird es schwer, etwas in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite kann eine Solidaritätskampagne nur schlagkräftig werden können, wenn es uns gelingt, einen Teil der Gewerkschaftsaktivist:innen für eine internationalistische, fortschrittliche Politik zu gewinnen.

Deswegen muss die Kampagne bewusst Druck auf die Gewerkschaften ausüben und aufzeigen, was die Konsequenzen des Schweigens und der Billigung des Krieges gegen die Palästinenser:innen sind. Sich abzuwenden oder auf den Konflikt nicht einzugehen, führt dazu, der Politik des Burgfriedens das Feld zu überlassen – und schwächt die Bewegung sowie die Arbeiter:innenklasse. Schließlich hat die Berichterstattung im Zuge des 7. Oktober sowohl zum Erstarken des antimuslimischen Rassismus als auch Antisemitismus geführt und droht auf lange Sicht, insbesondere rechte, reaktionäre Kräfte wie die AfD zu stärken.

Für uns als Marxist:innen ist der Kampf in den Gewerkschaften deswegen unerlässlich. Gleichzeitig geht er für uns damit einher, dauerhaftere Strukturen gegen die Politik der Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen – eine klassenkämpferische Basisbewegung, die nicht nur versucht, Posten in der Bürokratie abzugreifen und „links“ zu besetzen, sondern eine kämpferische Opposition gegen diese bildet. Wir halten dies für zentral, nicht nur im Kampf in Solidarität mit Palästina, sondern auch in allen internationalistischen Kämpfen – sei es, um Solidaritätsstreiks zu organisieren für Bewegungen wie im Kongo, Frankreich oder Pakistan, sei es, um politische Angriffe abzuwehren, wie eine Verschärfung des Streikrechts oder den immer weiter voranschreitenden Rechtsruck oder schlicht und einfach, Reallohnverluste bei einfachen Tarifauseinandersetzungen hinzunehmen. Doch so etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Lasst uns deswegen gemeinsam Widerstand aufbauen – nicht nur gegen den Krieg in Gaza, sondern gegen die imperialistische Politik, die das ermöglicht und überall auf der Welt tagtäglich ihre Opfer fordert!

Vorschlag: Stopp aller Waffenlieferungen an Israel – sofort!

Die Angriffe der IDF und die Politik der israelischen Regierung haben über 40.000 Menschen in Gaza das Leben gekostet, Hunderttausende obdachlos gemacht und vertrieben, Zehntausenden droht der Tod durch Verhungern. Der drohende Angriff auf Rafah wird diese Katastrophe verschärfen. Vor unseren Augen vollzieht sich ein Genozid am palästinensischen Volk.

Dazu dürfen wir Lohnabhängige, dürfen wir Gewerkschafter:innen nicht schweigen. Wir müssen aktiv werden und alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um das Morden zu stoppen, einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Armee, die Öffnung der Grenzen für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten.

Damit das Morden gestoppt wird, kämpfen wir dafür, dass sämtliche Unterstützung für den Genozid durch Deutschland unterbleibt – das heißt vor allem sofortiger Stopp von Waffenlieferungen an Israel!

Als Gewerkschafter:innen können und müssen wir zusammen mit Schüler:innen und Studierenden die Solidaritätsbewegung auf der Straße unterstützen. Wir müssen aber auch die Solidarität in die Betriebe, in die Abteilungen und Büros tragen. Wir werden gemeinsame Anträge in gewerkschaftliche und betriebliche Gremien einbringen, die folgende Positionen und Forderungen an die DGB-Gewerkschaften beinhalten:

Wir brauchen eine Kursumkehr in den DGB-Gewerkschaften! Wir treten für die Durchführung von Solidaritätsdiskussionen ein, wie sie von den palästinensischen Gewerkschaften seit Monaten gefordert werden.

  • Kein weiteres Schweigen zum Genozid! Schluss mit der Politik der Unterstützung für Bundesregierung und Krieg!

  • Offene und demokratische Diskussion in den Gewerkschaften und Betrieben, wie das Morden gestoppt werden kann!

  • Veröffentlichung, Verbreitung und Einhaltung der Resolutionen der internationalen Gewerkschaftsverbände gegen Krieg, Hunger und Waffenlieferungen durch die Vorstände der deutschen Gewerkschaften!

Wir schlagen gewerkschaftliche und betriebliche Mobilisierungen um folgende grundlegende Forderungen vor:

  • Sofortiger Waffenstillstand, Rückzug der IDF, Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen an die Bevölkerung!

  • Stopp aller Waffenlieferungen an Israel! Abzug aller deutschen Truppen aus dem Nahen Osten!

  • Entkriminalisierung der Palästinasolidarität und aller palästinensischen Organisationen!

  • Verhinderung von Waffentransporten nach Israel durch Massendemonstrationen, Arbeitsniederlegungen, Streiks und Blockaden!



Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Resolution des Palästina-Kongress 2024: Wir klagen an!

Resolution des Palästina Kongress 2024, Berlin, den 14. April 2024, Infomail 1251, 17. April 2024

Vorwort: Der Palästina-Kongress wurde am 12. April von der Berliner Polizei aufgelöst. Dennoch konnten am 14. April die geplanten Beiträge als Live-Stream übertragen und die Resolution-Resolution vorgestellt werden, die vorab mit unterstützenden Organisationen abgesprochen worden war. Wir veröffentlichen das Dokument, das ursprünglich auf https://palaestinakongress.de/ publiziert wurde, und rufen zur Unterzeichnung der Resolution auf. You can sign the resolution here!

Wir klagen an.

Die Palästinenser:innen erleiden einen Völkermord.

Israel vernichtet Gaza und seine Bevölkerung. Mehr als 40‘000 Palästinenser:innen wurden bis Ende März durch das israelische Militär getötet. In Gaza starben seit Oktober 2023 mehr Kinder als in allen weltweiten Konflikten von 2019 bis 2022. Fast alle Bewohner:innen Gazas wurden aus ihren Wohnorten vertrieben. Mehr als eine Million Menschen leiden an schwerem Hunger. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser und Medizin ist unterbrochen. Infrastruktur, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, Verwaltungsgebäude und Wohnblocks wurden zerbombt.

Die Ermordung Zehntausender und die Vertreibung Hunderttausender konstituieren einen Genozid. Die israelische Kriegsführung zielt auf die Zerstörung der palästinensischen Nation und darauf, deren mit der Nakba 1948 begonnene Vertreibung aus Palästina zu vollenden und zur Flucht nach Ägypten oder in andere Länder zu zwingen.

Die Bundesregierung leistet Beihilfe zum Völkermord.

Deutschland ist der zweitwichtigste Waffenlieferant für den Genozid. Seit Oktober 2023 verzehnfachte der Bundessicherheitsrat bestehend aus Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt, Annalena Baerbock, Boris Pistorius, Christian Lindner, Nancy Faeser, Marco Buschmann, Robert Habeck und Svenja Schulze, sowie seinen Beisitzern Carsten Breuer, Dörte Dinger, Steffen Hebestreit und Günter Sautter die Waffenlieferungen an Israel.

Deutschland leugnet den Genozid. Nach der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes, der Anzeichen für genozidale Bestrebungen seitens des israelischen Staates sah, war es Vizekanzler Robert Habeck, der erklärte, dass der Vorwurf des Völkermordes „jeglicher Grundlage entbehre“. Die Mehrheit der privaten und öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender, als auch deutscher Zeitungen beteiligt sich an einer Desinformationskampagne.

Deutschland unterstützt die genozidale Hungerpolitik der israelischen Regierung. Während sich bereits im Januar 2024 die Hungersnot in Gaza ausbreitete, erklärte die Ministerin für Zusammenarbeit Svenja Schulze, die humanitäre Unterstützung Deutschlands an die Palästinenser:innen und die UNRWA einzustellen. Die westliche „Notversorgung“ durch eine Luftbrücke und auf dem Seeweg fungieren letztlich als humanitäre Flankendeckung für den Krieg.

Die Versammlungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Freiheit von Presse und Wissenschaft werden eingeschränkt, um Proteste für einen Waffenstillstand zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht durch Verordnungen der Innenminister. Es geschieht auch mit der Unterstützung regionaler und lokaler Politiker:innen, sowie der bereitwilligen Ausführung deutscher Polizist:innen und Verwaltungsbeamt:innen. Dass viele dieser Verordnungen „legal“ sind, zeigt, wie groß der repressive und antidemokratische Spielraum in Deutschland bereits seit Jahrzehnten ist. Heute werden Gesetze in Bundes- und Landesparlamenten debattiert, die fundamentale demokratische Rechte für jede und jeden dauerhaft und tiefgreifend einschränken werden.

Nie Wieder für alle.

Der Genozid in Gaza stellt daher ähnlich wie der Vietnam Krieg eine Zäsur in Deutschland dar. Die Regierung unterstützt schamlos und vor der Weltöffentlichkeit einen Völkermord. Der Lärm der Bombardements in Palästina wird nur durch das Verharmlosen, ja das vielfach dröhnende Schweigen zu den Kriegsverbrechen übertroffen. Deutsche Politiker:innen bemühen eine zynische Neuinterpretation der Geschichte und rechtfertigen im Namen des „Nie Wieder“ ihre Unterstützung eines Genozids.

Wer mit der Tötung von israelischen Zivilist:innen am 07. Oktober die Zerstörung und Ermordung der gesamten palästinensischen Zivilisation in Gaza rechtfertigt, begräbt auch jeden Anspruch auf Menschlichkeit und Demokratie. Die deutsche Regierung versucht diesen Genozid mit dem Recht auf „Selbstverteidigung“ zu rechtfertigen. Gleichzeitig spricht sie allerdings den Palästinenser:innen, die seit 76 Jahren Entrechtung und Vertreibung erleben, jedwedes Recht ab. Diese werden vielmehr rassistisch diffamiert, Protest wird unter den Generalverdacht des „importierten Antisemitismus“ gestellt. Hinter dieser Hetze und Diffamierung steht ähnlich wie zu Zeiten des Vietnam-Kriegs kalte geo-strategische Berechnung, insbesondere des deutschen und US-amerikanischen Imperialismus. In solchen Berechnungen gelten nicht alle Menschenleben gleichviel. Wir stellen uns gegen diese Entmenschlichung und die hinter ihnen stehenden Interessen.

Widerstand ist gerechtfertigt.

Wir, die Teilnehmer:innen des Palästina Kongresses erklären unseren Widerstand gegen diese aggressive und verbrecherische Politik. Wir verpflichten uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Vollendung des palästinensischen Genozids und damit eines weiteren Genozids unter deutscher Beihilfe zu verhindern.

Wir erklären, die Namen der Verantwortlichen deutschen Entscheidungsträger:innen nie zu vergessen. Ihre Schuld ist nicht reinzuwaschen. Heute klagen wir sie moralisch an. Doch wir werden nie ruhen, bis sie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Wir wissen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Waffenlieferungen an Israel und die Kriegstreiberei der Regierung ablehnt. Trotz Lügen, Diffamierung und Hetze wird mehr und mehr Menschen bewusst, dass die Politik der deutschen Regierung zum Völkermord und zur Vertreibung von Millionen Menschen führt. Wir wenden uns an diese Menschen, unsere Kolleg:innen, Nachbar:innen, Mitschüler:innen: Erheben wir uns gemeinsam, damit der Genozid gestoppt wird, damit die Menschen Gazas, die Menschen Palästinas leben können. Durchbrecht gemeinsam mit uns das Schweigen und erhebt diese Forderungen. Schließt euch unserer Bewegung gegen Genozid und Krieg an.

Vereinen wir unsere Kräfte mit den Palästinenerser:innen, die für ihre Freiheit kämpfen und mit der internationalen Bewegung gegen den Genozid. Schließen wir uns Millionen von Menschen an, die weltweit auf die Straße gehen, um ihre Regierungen unter Druck zu setzen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Protesten von Arbeiter:innen in Katalonien, Italien, Belgien und Indien, die sich geweigert haben, an Flughäfen und Häfen Kriegsgeräte zu beladen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Aktivist:innen, die in England Blockaden und Besetzungsaktionen gegen die britische und israelische Rüstungsindustrie organisiert haben.

Unser Kampf für die Lebenden, für die Befreiung und Selbstbestimmung Palästinas!

  • Sofortiger Waffenstillstand, sofortiger Rückzug der israelischen Armee · Vollständige Aufarbeitung aller begangener Kriegsverbrechen.

  • Sofortige Aufhebung jeglicher Beschränkungen humanitärer Hilfe nach Gaza und die volle Ausfinanzierung der UNRWA.

  • Sofortige Öffnung aller Grenzübergänge von Rafah bis Allenby. Reißt die Apartheidsmauern ein.

  • Vollständige Reparationen Israels, Deutschlands und weiterer Verbündeter an das palästinensische Volk.

  • Sofortige Einstellung jeglicher militärischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Unterstützung Israels durch den deutschen Staat sowie ein umfassendes Militärembargo.

  • Sofortiger Rückzug der Bundeswehr, der US-Armee und aller NATO-Truppen aus dem Roten Meer und dem Nahen Osten! Nein zu Aufrüstung und Sondervermögen der Bundeswehr für den Krieg!

  • Nein zu der Verwendung der zionistischen IHRA-Definition durch jegliche Institutionen oder staatliche Behörden, nein zur Legitimierung des Genozids im Schulunterricht. Stoppt die Exmatrikulation von Studierenden und Entlassungen von Lohnabhängigen, die sich mit Palästina solidarisieren!

  • Schluss mit der Kriminalisierung und Repressionen der Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland. Sofortiger Stopp jeder Kriminalisierung palästinensischer Organisationen und Individuen sowie aller Abschiebungen. Öffnung der Grenzen und Aufnahme aller Geflüchteten bei vollem Recht auf Wohnen, Bildung und Arbeit.

  • Durchsetzung des Rückkehrrechts der palästinensischen Geflüchteten sowie Ende des seit über 76 Jahren andauernden zionistischen Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung des gesamten besetzten Palästinas.

Wir rufen dazu auf, diese Forderungen in Vereinen, Parteigliederungen, Gewerkschaften, Betriebsversammlungen, Studierenden- und Schüler:innenvertretungen, in Kollektiven und Clubs einzubringen, zu diskutieren und zu unterstützen.

Denn die Verantwortung liegt bei uns. Zur Verwirklichung dieser Ziele rufen wir zu einer breiten Kampagne von Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen den israelischen Staat in Deutschland auf. Wir fordern die Offenlegung aller Geschäftsbeziehungen und Verträge deutscher Unternehmen mit Israel!

Wir rufen Gewerkschaften, Beschäftigte und die Bevölkerung dazu auf, Waffenlieferungen aus Deutschland zu stoppen. Wir fordern die Gewerkschaften auf, dem Aufruf ihrer palästinensischen Schwesterorganisationen zu folgen und eine international koordinierte Kampagne gegen das Morden zu organisieren. Jegliche Rechtfertigung und Unterstützung des Genozids in jedweder Form sind durch Streiks, Blockaden, Besetzungen oder zivilen Ungehorsam zu stoppen.

Beteiligt euch an der bundesweiten Aktionswoche vom 15.-22. April anlässlich des Tages der palästinensischen Gefangenen. Heute hält der israelische Staat weit über 10’000 palästinensische Menschen, darunter viele Minderjährige, im Verstoß gegen internationales Recht und Kriegsrecht als Geiseln.

Mobilisiert und organisiert gemeinsam mit uns zentrale Großdemonstrationen am 15. und 18. Mai in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und weiteren Städten. Wir rufen euch auf, die europaweite Nakba-Demonstration am 19. Mai in Brüssel zu unterstützen. Lasst uns anlässlich des 76. Jahrestages der Nakba, der Vertreibung des palästinensischen Volkes aus ihren Heimstätten und Dörfern, bundesweit und international koordiniert ein Zeichen gegen Genozid, Vertreibung und Spaltung setzen.

Denn wir, palästinensische und jüdische, deutsche und internationale Stimmen wissen: Frieden kann es nur auf Basis von Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, nur wenn die Unterdrückung der Palästinenser:innen voll und ganz beendet ist. Wir kämpfen für ein Ende des zionistischen Siedlerkolonialismus und seiner Apartheidpolitik vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer, einschließlich des Rückkehrrechts aller palästinensischen Geflüchteten.




Nahost: Israel droht mit Ausweitung des Krieges in der Region

Erklärung der Liga für die Fünfte Internationale, 14.4.2024, Infomail 1251, 15. April 2024

Am 13. April feuerte der Iran 300 Drohnen und ballistische Raketen auf Israel ab. Die große Mehrheit wurde von Israels hochentwickelten Luftabwehrsystemen, aber auch mit Hilfe der in der Region stationierten amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte sowie Jordaniens und Saudi-Arabiens abgeschossen.

US-Präsident Joe Biden, der Israels sechsmonatigen Völkermord im Gazastreifen weiterhin unterstützt und verteidigt, beeilte sich natürlich zu sagen: „Ich verurteile diese Angriffe auf das Schärfste“. Er fügte hinzu: „Ich habe gerade mit Premierminister Netanjahu gesprochen, um Amerikas eisernes Engagement für die Sicherheit Israels zu bekräftigen.“

Tatsächlich war der iranische Angriff eine Reaktion auf eine weitaus schädlichere Provokation Israels. Am 1. April feuerten israelische Kampfflugzeuge mehrere Raketen ab, die das iranische Konsulat in der syrischen Hauptstadt Damaskus zerstörten und Brigadegeneral Mohammad Reza Zahedi, einen hochrangigen Kommandeur des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC), einen weiteren iranischen General und 14 andere Personen töteten.

Militäranalyst:innen zufolge wurden die iranischen Angriffe absichtlich so gewählt, dass sie von der israelischen und verbündeten Luft- und Raketenabwehr leicht entschärft werden konnten. Außerdem handelte es sich bei den Zielen offenbar nicht um Bevölkerungszentren, sondern eher um einige abgelegene militärische Ziele auf den Golanhöhen und in der Wüste Negev. Der gesamte Angriff war höchst symbolisch und sollte der „Abschreckung“ vor weiteren israelischen Attacken dienen. In diesem Sinne erklärte auch der Sprecher der iranischen Mission bei den Vereinten Nationen, dass sie die Angelegenheit in Damaskus mit diesem Vergeltungsschlag als „erledigt“ betrachten.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die israelische Regierung dies auch so sieht. Für sie ist die iranische Regierung in eine Falle getappt, die sie mit der Provokation von Damaskus gestellt hatte. Die Netanjahu-Regierung braucht die „Einmischung“ des regionalen Hauptfeindes, um ihre militärische Stärke zu beweisen und den Gazakrieg zu einem Krieg mit allen Kräften in der Region auszuweiten, die den palästinensischen Widerstand unterstützen könnten. Wie ein israelischer Beamter sagte, ist es jetzt an der Zeit, die Fähigkeit des Irans auszulöschen, eine Bedrohung für Israel darzustellen.

Die Umwandlung des Genozids im Gazastreifen in einen regionalen Krieg, vor dem auch die Vereinigten Staaten seit langem gewarnt haben, ist damit einen großen Schritt vorangekommen. Es ist klar, dass dies eine bewusste Provokation des Kriegskabinetts von Netanjahu ist, die nicht nur auf den Iran abzielt, sondern auch darauf, seine amerikanischen und westeuropäischen Verbündeten direkter zu verwickeln.

Es stellt auch ein Mittel dar, um den Problemen zu entgehen, die durch die Großdemonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem entstanden sind, bei denen sein Rücktritt gefordert wurde. Außerdem wurde er durch die Verurteilung des Massakers der Israelischen Sicherheitskräfte IDF an den Mitarbeiter:innen der World Central Kitchen, die am 1. April Hilfsgüter lieferten, durch die internationalen Medien kurzzeitig in Verlegenheit gebracht. Seine Verbündeten können nun zur Propaganda „Israel hat das Recht, sich zu verteidigen“ zurückkehren.

Die Gefahr, dass Israel, eine Atommacht mit der modernsten konventionellen Bewaffnung im Nahen Osten, bei einem Angriff auf den Iran, Libanon und Syrien aufs Ganze geht, ist sehr real.

Unterdessen geht der Genozid in Gaza weiter. In den drei Tagen des Eid al-Fitr (das Fest, das normalerweise das Ende des einmonatigen Fastenmonats Ramadan für Muslime markiert; Fest des Fastenbrechens, Zuckerfest) verübten die IDF Massaker an ganzen Familien und töteten über 170 Frauen und Kinder. Zur gleichen Zeit „randalierten“ 72 israelische Siedler:innen unter dem Schutz von IDF-Soldat:innen im besetzten Westjordanland, wie es die BBC nannte. Bei diesen gewalttätigen Ausschreitungen wurden Autos, Häuser und Geschäfte angezündet und ganze Straßenzüge zerstört.

All dies zeigt, dass der zionistische Staat weit davon entfernt ist, eingedämmt oder geschwächt zu werden, und dass er wild entschlossen ist, eine „zweite Nakba“ zu begehen, wie es etliche Minister:innen nennen. Dies könnte die lang erwartete Bodeninvasion in Rafah beinhalten, die Räumung des Gazastreifens von seiner traumatisierten Bevölkerung oder deren Einsperrung in ein noch kleineres Gefangenenlager, und im Westjordanland in die isolierten, überfüllten Stadtgebiete, während faschistische Siedler:innen Dorfbewohner:innen töten und das, was von palästinensischem Ackerland übrig ist, besetzen.

Die weltweite Bewegung gegen den Genozid, die in ihrer Langlebigkeit und Größe bereits beispiellos ist, muss über Proteste hinausgehen. Sie muss unwiderstehlichen Druck auf die Regierungen der westlichen imperialistischen Länder sowie der Monarchien und Militärdiktaturen des Nahen Ostens ausüben, um alle Waffenlieferungen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel zu unterbinden. Direkte Massenaktionen müssen durchgeführt werden, um die falschen Behauptungen zurückzuweisen, dass Antizionismus Antisemitismus sei, eine Tatsache, die durch die wachsende Zahl fortschrittlicher jüdischer Menschen, die Israels Handlungen verurteilen, immer deutlicher wird.

Für die Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands und anderer westlicher Länder ist eines klar: Sie stehen fest hinter dem israelischen Staat. Das macht eine Eskalation des Krieges und einen massiven Angriff auf den Iran, Syrien oder den Libanon zu einer realen Gefahr.

  • Wir stellen uns klar gegen solche zionistischen Offensiven! Wir stellen uns entschieden gegen jede imperialistische Intervention!

  • Für den sofortigen Abzug aller US- und anderer imperialistischer Truppen aus dem Nahen Osten! Wir sind für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen!

  • Stoppt die Waffenlieferungen und die finanzielle Unterstützung für Israel! Stoppt alle militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verbindungen mit dem zionistischen Staat!

  • Beendet den Völkermord! Waffenstillstand jetzt! Abzug der israelischen Truppen! Beendigung der Blockade! Öffnung der Grenzübergänge!

  • Für das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge! Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina!



Berliner Polizei löst Palästinakongress auf – Meinungsfreiheit wird zur Farce

Martin Suchanek, Infomail 1251, 13. April 2024

Einschränkungen demokratischer Rechte gehören mittlerweile zum Normalzustand der „Demokratie“. Die von Merkel und Scholz zur Staatsräson erklärte „bedingungslose Solidarität“ mit Israel verträgt sich offenkundig schlecht mit der Meinungsfreiheit.

Diese kam am 12. April unter die Räder wie selten zuvor in Berlin, einer Stadt, die durchaus auf eine lange Geschichte polizeilicher Gewalt und Willkür zurückblicken kann.

Doch während sich Repression „normalerweise“ auf Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden, Akte zivilen Ungehorsams oder das Aufbegehren prekär Beschäftigter konzentriert, galt der Anschlag auf die Meinungsfreiheit diesmal einer Saalveranstaltung, einer demokratisch organisierten Konferenz, dem Palästinakongress.

Staatsräson

Dieser richtet sich nämlich direkt gegen die zur Staatsräson er- und verklärte Solidarität mit Israel, auch wenn dieser Staat gerade rund 40.000 Menschen durch Bombardements und Bodentruppen getötet hat, weit über eine Million Menschen in Gaza vertrieben wurden und akut Hunderttausende vom Hunger bedroht sind. Mit tödlichem Ernst halten die deutsche Regierung wie die bürgerliche Opposition und die faktisch gleichgeschalteten Medien an der Fiktion fest, dass Israel keinen genozidalen Angriffskrieg führe, sondern sein „Recht auf Selbstverteidigung“ ausübe. Und damit nicht genug, Deutschland unterstützt den Krieg nicht nur politisch, diplomatisch, sondern auch militärisch. Allein im Jahr 2023 haben sich die Rüstungsexporte verzehnfacht.

Dieser Krieg wird folgerichtig auch im Inneren weitergeführt. Damit soll einerseits die Schuld des deutschen Imperialismus am Holocaust ideologisch entsorgt werden, andererseits verfolgt der deutsche Staat damit handfeste ökonomische und vor allem geostrategische Interessen.

So gerät schon die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit zur quasi kriminellen Betätigung. Seit Wochen wird in den Medien, von reaktionären wie „demokratischen“ Stimmungsmacher:innen, nach dem Verbot der Veranstaltung gerufen. Nachdem das rechtlich nicht ging, wurde tagelang gefordert und gedroht, was am 12. April von der Polizei durchgezogen wurde. Berlins rechtskonservativer Bürgermeister Wegner hatte schon lange ein „rigoroses Einschreiten“ beim „kleinsten Verdacht“ gesetzwidriger Aussagen angekündet. Im Klartext heißt das nichts anderes als die angedrohte Kriminalisierung jeder offenen Kritik am Staat Israel und seiner rassistischen Grundlagen, jeder Solidarisierung mit Palästina, jedes Antizionismus und jedes Eintretens für die demokratischen Rechte des palästinensischen Volkes, insbesondere dessen auf nationale Selbstbestimmung.

Provokation

Daher begann der Tag schon mit abstrusen und absurden Schikanen. Die Brandschutzverordnung und das Bauamt wurden bemüht, um einen Vorwand zu finden, nur 250 Personen in die für 600 Menschen ausgelegten Räumlichkeiten zu lassen. Hunderte Menschen konnten daher an der Veranstaltung erst gar nicht teilnehmen. Zudem zog die Polizei den gesamten Prozess des Einlassens der Teilnehmer:innen über Stunden hin. Während hunderten Menschen mit Eintrittskarten der Zutritt von der Obrigkeit verwehrt wurde, schleuste die Polizei – unter frecher Missachtung des Hausrechtes der Veranstalter:innen – prozionistische, hetzerische Journalist:innen von Welt und Co. ein. Darüber hinaus machten die Cops die massive Präsenz uniformierter und aller möglichen Polizist:innen in Zivil zur Bedingung, dass die Veranstaltung überhaupt beginnen konnte.

Trotz all dieser Schikanen, Provokationen und polizeistaatlicher Mittel, von denen Putin und Erdogan, Netanjahu und Biden, aber auch Meloni und Macron noch einiges lernen könnten, begann der Kongress.

Rede von Habh Jamal

In einer ergreifenden Rede entlarvte Hebh Jamal die Lügen, aber auch die Kooperation der Unterdrücker:innen weltweit, eine Kooperation, die keine Verschwörung ist, sondern die das gemeinsame Interesse der herrschenden Klassen an einer imperialistischen Ordnung deutlich macht, die auf Ausbeutung und Unterdrückung basiert. Vor allem machte sie deutlich, dass eine Konferenz, die die Verbrechen der Nakba, die Vertreibung und Unterdrückung der Palästinenser:innen verdeutlicht und die Komplizenschaft des deutschen Imperialismus hervorhebt, auch einen Akt des Widerstandes darstellt.

Denn in der Anklage gegen diese Politik, die die Konferenz schon im Vorfeld erhob, liegt notwendig und untrennbar ein Durchbrechen des Schweigens, ein Moment der Solidarisierung, die zur Aktion, zum Handeln drängt, zur Vertiefung und besseren Koordinierung unserer Bewegung.

Das wollen die deutsche Regierung sowie das gesamte politische Establishment, ob nun Ampelkoalition oder Unionsparteien, ja selbst die AfD und Teile der Linkspartei verhindern. Die Berliner Polizei rückte mit gut 900 Einsatzkräften an, um diesen politischen Auftrag umzusetzen. Und sie tat es.

That’s what imperialist „democracy“ looks like

Die Videobotschaft von Salman Abu Sitta, über den der deutsche Staat wegen seines Engagements ein Einreiseverbot verhängt hatte, wurde schon nach wenigen Minuten und ohne ersichtlichen Grund von der Polizei gestoppt. Dafür wurden schließlich gegenüber der Anwältin der Veranstalter:innen mehrere, einander widersprechende, selbst nach bürgerlichem Recht überaus fragwürdige Gründe geliefert. So erklärte die Polizei einmal, dass die Rede Passagen enthalten könnte, die volksverhetzerisch sein könnten. Dies würde geprüft werden. Frei nach dem Motto „Viel hilft viel“ hieß es später, dass Salman Abu Sitta ein politisches Betätigungsverbot in Deutschland habe. Seit wann und woher, wussten die Polizeikräfte ebenso wenig zu erklären wie die Frage, ob das Abspielen einer Videobotschaft überhaupt darunter falle. Doch wer braucht schon Gründe, wenn er das Gewaltmonopol auf seiner Seite hat? Und um gleich alle Unklarheiten aus der Welt zu schaffen, dass hier das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit Füßen getreten wird, wurde der Kongress auch gleich für Samstag und Sonntag samt sämtlicher Nachfolgeveranstaltungen verboten.

Die Polizei konnte den Kongress sprengen und auflösen. Doch sie wird uns weder zum Schweigen bringen noch wird sie ihr Ziel erreichen, unsere Bewegung, die wächst und stärker wird, zu zerstören.

Im Gegenteil. Die willkürliche Auflösung des Kongresses und der Anschlag auf die Meinungsfreiheit offenbaren nicht nur den repressiven Charakter der Polizei. Sie verdeutlichen auch den antidemokratischen Charakter der deutschen Regierungspolitik. Und sie zeigen die enge Verbindung von imperialistische Politik und der monopolisierten öffentlichen Meinung. Denn neben der Repression stehen wir auch einer orchestrierten Hetze und Verleumdung samt einer massiven Welle antipalästinensischen, antimuslimischen und antiarabischen Rassismus’ entgegen.

Dass die deutschen Medien auch gegen Genoss:innen der Gruppe Arbeiter:innenmacht und von REVOLUTION hetzen, zeigt unserer Meinung nach nur, dass wir etwas richtig gemacht haben. Wir wollen aber nicht vergessen, dass das deutsche Establishment in den letzten Wochen auch seine antisemitische Seite zeigt, wenn sie antizionistische Juden und Jüdinnen, vor allem die Genoss:innen der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, öffentlich diffamiert und die Berliner Sparkasse ihr Vereinkonto sperrt. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, dass es vor allem unsere palästinensischen Genoss:innen sind, die auf das Brutalste angegriffen, deren Vereine und Organisationen bedroht und kriminalisiert werden und über denen das Damoklesschwert der Abschiebung hängt, während zugleich ihre Freund:innen und Angehörigen sterben oder vertrieben werden.

Heute, am 12. April 2024, haben die Wegners und Giffeys, die Scholz’ und Baerbocks unseren Kongress auflösen können. Sie verfügen über die Machtmittel, dies zu tun. Doch sie mögen sich ihres „Erfolges“, ihres „Sieges“ über unsere demokratischen Rechte nicht zu sicher sein – und gewiss werden sie sich nicht zu lange darüber erfreuen. Auch wenn sie vermochten, unseren Kongress aufzulösen, so wurde er – und dies ist ein Stück Ironie der Geschichte – weltweit bekannter. Vor allem hat die Repression weit mehr Menschen den  reaktionären, antidemokratischen Charakter des deutschen Kapitalismus vor Augen geführt, als es unsere Reden, Beiträge, Diskussionen, Beschlüsse allein vermocht hätten. Gerade der deutsche Imperialismus hat sich über Jahrzehnte das Image aufgebaut, vergleichsweise „demokratisch“ und „wertebasiert“ zu sein. Diese selbstgefällige Lüge entlarvt er gerade selbst.

Wir werden dafür sorgen, dass sie ihm im Halse steckenbleibt. Sie können einen Kongress verbieten, unseren Widerstand, Kampfeswillen, unsere Entschlossenheit werden sie nicht brechen. Denn wir kämpfen im Gegensatz zu ihnen für eine gerechte Sache, für Freiheit und Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung.




Zum Missbrauch der IHRA-Definition von Antisemitismus

Dave Stockton / Markus Lehner, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 2016 eingeführt und in mehreren europäischen und nordamerikanischen Staaten verwendet, um propalästinensische Aktivist:innen, einschließlich der wachsenden Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, als „Antisemit:innen“ zu diffamieren. Sie wurde eingesetzt, um die freie Meinungsäußerung über das Wesen und die Handlungen des Staates Israel zu unterdrücken. Sie wurde auch benutzt, um propalästinensische Redner:innen und Veranstaltungen auf dem Universitätsgelände zu verbieten, darunter auch Proteste gegen Israels aktuelle Verbrechen in Gaza und den anderen besetzten Gebieten.

Grund dafür sind einfach die wachsenden Proteste gegen Aktionen des israelischen Staates innerhalb der Länder, deren Regierungen diesen seit Langem mit Waffen unterstützen und ihn auch wirtschaftlich stark fördern. Ein wichtiger Faktor für diesen Wandel sind die wiederholten Angriffe Israels auf den Gazastreifen von 2006 bis heute, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein subjektiver Faktor ist jedoch das Aufkommen der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Sie wurde im Juli 2005 von Omar Barghouti und Ramy Shaath und einer Vielzahl von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gegründet. Sie hat sich international ausgebreitet und mit der wachsenden Zahl jüdischer antizionistischer Gruppen sowie mit den älteren Palästinasolidaritätsbewegungen verbunden.

BDS mobilisiert mit dem Argument, dass es sich bei Israel um einen Apartheidstaat handelt, der mit Südafrika vor dem Untergang der weißen Herrschaft vergleichbar ist, weil es sich in seiner Verfassung zum Staat nur von Juden/Jüdinnen und zur Verkörperung nur ihres Selbstbestimmungsrechts erklärt hat. Darüber hinaus rechtfertigen das Fehlen gleicher Bürgerrechte und die Sicherheitsmauer (die BDS als „Apartheidmauer“ bezeichnet hat) tatsächlich Vergleiche mit Südafrika, obwohl es natürlich wichtige Unterschiede gibt (Südafrika musste z. B. die Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit nutzen und konnte sie nicht verdrängen).

BDS setzt sich nicht nur für den Boykott von Unternehmen ein, die Waffen liefern und wirtschaftliche Unterstützung für die Siedlungsprojekte im Westjordanland leisten, sondern auch für das Rückkehrrecht der sechs Millionen Flüchtlinge in der weltweiten Diaspora und der Binnenvertriebenen in den besetzten Gebieten.

Obwohl BDS eine Bewegung ist, die auf der utopischen Idee basiert, dass friedliche Proteste und das Aufzeigen von Parallelen zur südafrikanischen Apartheid zu einem grundsätzlichen Wandel führen werden, wird Israels Anspruch, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, dadurch angegriffen. Damit wurde ein gewisser Rechtfertigungsdruck erzeugt und zumindest die Frage einer Zweistaatenregelung wieder auf den Tisch gebracht. Die Behauptung verschiedener Regierungen und Parlamente, BDS sei antisemitisch, ist lächerlich – es sei denn, Antisemitismus wird neu definiert als Kritik am israelischen Staat und Schaden, den dieser den Palästinenser:innen sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch den Millionen darüber hinaus vertriebenen zufügt.

Was Israel mehr fürchtet als jede tatsächliche oder wahrscheinliche Beeinträchtigung, die ihm durch die BDS-Aktivitäten entsteht, ist die Bewegung der öffentlichen Meinung, insbesondere in den westlichen imperialistischen Staaten, die Israel sponsern und schützen, Resolutionen im UN-Sicherheitsrat blockieren und seine Kriege und die Räumung palästinensischen Landes entschuldigen. Daher hat es einen Gegenangriff gestartet, indem es Aktivist:innen, die sich mit Palästina solidarisieren, pauschal des Antisemitismus bezichtigt. Dabei hat sich die Förderung einer Theorie des „neuen Antisemitismus“, in Gestalt der IHRA-Definition und ihr beigefügten sogenannten Beispiele, als nützliche Waffe erwiesen.

Antisemitismus und Antizionismus

Revolutionäre Sozialist:innen haben schon immer alle Ausdrucksformen des Jüdinnen- und Judenhasses angeprangert, alle Stereotypen über ihre angebliche Macht und ihren Reichtum, die Kontrolle der Medien, des Rechts usw. sowie Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion) und die Leugnung des Holocausts. Der Kampf gegen diese giftige Hetze ist ein zentraler Bestandteil unseres antirassistischen Programms und der Herausbildung des revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse.

Revolutionär:innen haben den Holocaust nie heruntergespielt, geschweige denn geleugnet, seine schreckliche Natur und die Tatsache, dass er aufgrund des vorsätzlichen Ziels des Nationalsozialismus, alle europäischen Juden und Jüdinnen auszurotten, eine besondere Bedeutung trägt – durch die systematische industrielle Massentötung, der sechs Millionen jüdischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber es ist deshalb keine „Relativierung“, wenn man feststellt, dass Völkermord nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wird – es gibt und gab auch andere Völkermordversuche in der Neuzeit. Auf jeden Fall schmälert dies nicht die enorme Bedeutung des Holocausts, denn es macht ihn nicht weniger relevant, sondern mehr. Er zeigt, wohin die Dämonisierung vieler rassisch, national und geschlechtlich definierter Gruppen führen kann. Diese Sensibilisierung hat zu Recht Sympathie und Unterstützung für das jüdische Volk und diese anderen Betroffenen geweckt.

Der Antisemitismus spielt in der rechten und faschistischen Ideologie nach wie vor eine besonders wichtige Rolle, da er eine falsche „antikapitalistische“ Ideologie liefert, um die klassenunbewussten Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums zu mobilisieren und ihre Wut von der Kapitalist:innenklasse abzulenken.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa, den USA und in vielen anderen Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der tiefen Krisenbedingungen des modernen Kapitalismus und der Zunahme der Rivalitäten nicht nur zwischen den imperialistischen Großmächten (USA, EU, China, Russland usw.), sondern auch zwischen aufstrebenden regionalen Mächten (Indien, Iran, Türkei, Saudi-Arabien usw.). Die Nazis und ihr Holocaust waren auch das Ergebnis solcher Bedingungen (mit Zuspitzung in den1930er Jahren) und des Versagens der Arbeiter:innenbewegung, sie aufzuhalten und zu besiegen und eine sozialistische Revolution herbeizuführen.

Heute ist der Übergang vom rassistischen Rechtspopulismus zum offenen Faschismus eine reale Möglichkeit und obwohl viele dieser Kräfte heute Israel unterstützen, haben einige (z. B. Viktor Orbáns Ungarn) bereits prominente jüdische Persönlichkeiten wie George Soros im Visier. Kampagnen gegen echten Antisemitismus sind für die Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und -hass unerlässlich. Aber ihn mit der Opposition gegen Israels eigene völkermörderische Aktionen in Gaza zu verwechseln, wird bei dieser Aufgabe nicht helfen.

Eine wichtige Rolle bei der Verwirrung der Opposition gegen Israel und seine rassistische Politik und Aktionen besteht darin, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet. Dazu hat die Theorie des so genannten „neuen“ Antisemitismus beigetragen. Irwin Cotler, kanadischer Rechtsprofessor und ehemaliger Justizminister in der liberalen Regierung Paul Martins von 2003 – 2006, definiert ihn so:

„Mit einem Wort: Der klassische Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht der Juden, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu leben, in der sie leben. Der neue Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht des jüdischen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied der Familie der Nationen zu leben, mit Israel als dem anvisierten ,kollektiven Juden unter den Nationen’.“

Dieser Wandel kann nur echten Hass gegen Juden und Jüdinnen mit der Ablehnung der Handlungen des israelischen Staates verwechseln.

Die IHRA-Definition

Die sogenannte Arbeitsdefinition des Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) verabschiedet und von der Europäischen Union und der Europäischen Kommission angenommen wurde, übernimmt diesen Paradigmenwechsel von der Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen aufgrund imaginärer Verbrechen zu der gegenüber Israel aufgrund realer. Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen jüdische Gemeinschaftseinrichtungen und religiöse Einrichtungen.“

Viele haben eingewandt, dass dies eine wortreiche Erweiterung einer reinen Wörterbuchdefinition ist, nämlich dass Antisemitismus verbal oder physisch zum Ausdruck gebrachter Hass auf Juden und Jüdinnen ist.

Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass drei der elf „Beispiele“, die der IHRA-Definition beigefügt sind und von denen sieben den Staat Israel erwähnen, einen ganz anderen Zweck verfolgen, nämlich die Kritik an diesem Staat zu minimieren und den Einsatz für die Rechte der Palästinenser:innen zu behindern. Das siebte dieser Beispiele für Antisemitismus lautet: 

„dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, z. B. durch die Behauptung, die Existenz eines Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

Damit wird das „Recht“ der zionistischen Bewegung und des von ihr 1948 mit Waffengewalt geschaffenen Staates auf „Selbstbestimmung“ als unanfechtbar akzeptiert, ohne dass dieses Recht der arabischsprachigen Bevölkerung Palästinas, die bis dahin die Mehrheit bildete, anerkannt wird. Das Selbstbestimmungsrecht war ihnen seit 1917 von den britischen Besatzer:innen verweigert worden, und diese Verweigerung wurde und wird vom israelischen Staat weiterhin aufrechterhalten.

Auch wenn die vor den Schrecken des Holocausts nach Palästina ausgewanderten Menschen jedes Recht auf ein geschütztes und selbstbestimmtes Leben hatten, so wurde aus dem Projekt der Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebietes gleichzeitig ein neokoloniales Gebilde, das sich für die imperialistischen Großmächte als wichtiges Element ihrer postkolonialen Beherrschung der wichtigen „Nahostregion“ eignete – unter völliger Missachtung der arabischen Bevölkerungen ebendieser im Allgemeinen und in Palästina im Speziellen. Die völlige Entkopplung der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ in der Region Palästina vom Kontext der postkolonialen Geschichte und Realität der Region führt zu einer völlig aberwitzigen, ahistorischen Neudefinition des Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie für eine Form des postkolonialen Neoimperialismus.

Das zehnte Beispiel ist definiert als „Vergleiche der gegenwärtigen israelischen Politik mit der der Nazis“. Da es nicht unüblich ist, die Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen verschiedener Staaten, einschließlich der oben genannten, mit den Nazis zu vergleichen, gibt es keinen Grund, Israel von einer solchen Kritik auszuschließen, insbesondere nach den letzten sechs Monaten.

Auch wenn man wie wir die spezielle historische Bedeutung des Holocausts anerkennt – so ist er vor allem eines: Kennzeichen der Tiefe der Krise der „westlichen Moderne“. Die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Fortführung in den brutalen Repressionsakten der postkolonialen Weltordnung gehören jedoch zu den Grundlagen der „westlichen Moderne“ – zur Absicherung der ökonomischen, politischen und militärischen Ordnung, die zugunsten der privilegierten Schichten und Klassen in den imperialistischen Zentren erfolgt. Die Verbrechen, die beides hervorbringt, sind alle systembedingt grausam und müssen in solcher Weise auch benannt werden können.

Die achte ist ein Beispiel dafür, dass „mit zweierlei Maß gemessen wird, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“.

Die Behauptung einer selektiven Kritik an Israel ist wirklich lächerlich, da die meisten Kritiker:innen der Handlungen Israels, und vor allem die extreme Linke, nicht nur Staaten wie Putins Russland für seine völkermörderischen Handlungen (in Tschetschenien) kritisiert haben, sondern auch Großbritannien und die USA für ihre schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak, ganz zu schweigen von Vietnam, Frankreichs Massaker in Algerien und Großbritanniens Wüten in Kenia, im Jemen usw. All diesen Fällen liegt dasselbe zugrunde – Imperialismus.

Außerdem kann Israel in seiner jetzigen Konstruktion als rein jüdischer Staat angesichts einer Masse davon Ausgeschlossener im eigenen, im besetzten Land und in der palästinensischen Diaspora Lebender keine „demokratische Nation“ sein. In welcher Form auch immer das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Menschen in Zukunft vernünftig geregelt werden kann – in seiner jetzigen Form ist Israel ein in seinem Kern rassistisches Konstrukt, das Juden/Jüdinnen wie Palästinenser:innen keine wirklich sichere und gemeinsame Perspektive bietet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründe für die Verleumdung und Verfolgung der Verteidiger:innen des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas aus der Sicht Israels ganz einfach darin liegen, die Vollendung ihrer Zerstörung als nationale Gemeinschaft „vom Fluss bis zum Meer“ zu erreichen.  Die Arbeiter:innenklasse, die antiimperialistische und demokratische Bewegung weltweit sowie die Standhaftigkeit ihres Volkes werden dies niemals zulassen.




Deutschland vor Gericht

Martin Suchanek, Infomail 1250, 10. April 2024

„Begünstigung zum Völkermord“: So lautet die Anklage gegen Deutschland, die seit dem 8. April vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag verhandelt wird. Die „werteorientierte“ und „feministische“ Außenpolitik , die nicht nur Außenministerin Baerbock gern allen Bösewichten der Weltpolitik als Leuchtfeuer der Demokratie vorhält, steht nun selbst vor Gericht.

Über Jahre redet nicht nur sie gebetsmühlenartig jede Waffenlieferung, jede Intervention, jede Sanktion gegen andere Staaten, jede Interessenpolitik „demokratisch“ schön. Und über Jahre galt der IGH als ein, wenn auch eher symbolisch-moralisches, Mittel in der innerimperialistischen Konkurrenz, das Deutschland gern gegen die Konkurrenz aus Russland oder anderswo in Stellung brachte. So applaudierte man im März 2022, als der Gerichtshof Russland aufforderte, seinen reaktionären Angriffskrieg gegen die Ukraine zu stoppen. Und man empörte sich darüber, dass Putin und seine Militärmaschinerie die Anhörung boykottierten und das Urteil in den Wind schlugen.

Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern

Frei nach Konrad Adenauer verfährt auch die Bundesregierung heute. Was kümmert uns, die Baerbocks, die Scholzs, die Habecks und Linders (und natürlich auch die konservative Opposition) unser Geschwätz von gestern.

Internationale Gerichtshöfe gelten offenbar nur dann als wirkliche „demokratische“ Errungenschaft, wenn sie im Sinne einer Weltordnung Anklagen verfolgen und Urteile fällen, die der geopolitischen Ausrichtung Deutschlands, der USA, der EU und ihrer Verbündeten entsprechen. Außerdem trat die Bundesrepublik für eine weite Auslegung des Begriffs Genzoid ein, als sie sich im November 2023 der Klage Gambias gegen Myanmar anschloss, dessen Regime Völkermord an den Rohingya vorgeworfen wird.

Offenbar rechnete niemand damit, dass mit Israel ein enger geostrategischer Verbündeter und wirtschaftliche Partner auf derselben Anklagebank landen könnte. Dabei hatten die rechten Minister im Kabinett Netanjahu aus ihren reaktionären, pogromistischen Absichten nie ein Hehl gemacht. Rund 40.000 Tote seit Beginn der israelischen Angriffe und Besatzung, die Vertreibung von weit mehr als einer Million Menschen in Gaza sowie eine drohende Hungerkatastrophe sprechen eine klare Sprache.

Von einem laufenden Genozid will die deutsche Bundesregierung jedoch partout nichts wissen. Die zur Staatsräson erhobene bedingungslose Solidarität mit Israel umfasst offenbar auch die Pflicht zur Realitätsverweigerung, zur Doppelmoral sowieso. Allenfalls werden regelmäßig Aufforderungen zur Mäßigung an Israel gerichtet, während zugleich Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina gesperrt werden und die Lieferungen von Rüstung an Israel 2023 auf einen Wert von 326,5 Millionen Euro verzehnfacht wurden.

Wie Deutschland reagiert

Nachdem der IGH nach der Klage Südafrikas die Gefahr eines Genozid in Gaza bejahte, folgt Deutschland verdientermaßen Israel auf die Anklagebank. Der Vorwurf lautet „Begünstigung zum Völkermord“ durch Waffenlieferungen und Blockade von Hilfe für Flüchtlinge. Eingebracht wurde er von Nicaragua.

Die Reaktion darauf? Man weist nicht nur jede Schuld von sich. Bezüglich der Kritik am IGH, den man ja noch gegen missliebige Regime brauchen könnte, hält man sich zurück, auch wenn man dessen Zuständigkeit bezweifelt. Umso heftiger soll, wie schon im Fall Südafrika, der Kläger, in diesem Fall das Regime in Nicaragua, diskreditiert werden. Keine Frage, sowohl die Regierung Südafrikas als auch jene Nicaraguas unterdrücken die eigene Bevölkerung, vor allem die Arbeiter:innenklasse und die Armen. Keine Frage, ihre Klagen entbehren nicht eines guten Schusses Doppelmoral. Doch damit befinden sie sich in der internationalen Staatengemeinschaft, nicht zuletzt mit der Bundesrepublik, in guter Gesellschaft.

Gegenüber der Öffentlichkeit versucht die Regierung, der angeblich Rechtsstaatlichkeit und besonders das humanitäre Völkerrecht über alles gehen, den Gegenstand der Klage durch die Diskreditierung des Klägers zu „entkräften“. Das wäre etwa so, als würde ein/e des Mordes Beschuldigte/r argumentieren, das Gericht müsse die Anklage zurückweisen, weil der/die Klagende in der Vergangenheit Verbrechen begangen hätte. Dabei sollten die Bundesregierung und ihre Rechtsvertreter:innen wissen, dass jede/r Beschuldigte vor einem bürgerlichen Gericht damit Schiffbruch erleiden muss. Und das wissen natürlich auch die Jurist:innen, die Deutschland verteidigen.

Eine Fiktion als Verteidigungsstrategie

Doch gegenüber der eigenen Bevölkerung halten die Regierung, ihre Sprecher:innen und der Großteil der Medien an einer Verteidigungs„strategie“ fest, die vor allem darin besteht, Nicaragua jedes Recht auf Klage abzusprechen. Und das hat einen guten Grund. Sich ernsthaft auch nur auf den Vorwurf der Beihilfe zum Genozid einzulassen und generell mit Kriegsverbrechen zu beschäftigen, würde die gesamte ebenso verlogene wie moralistisch aufgeladene Rechtfertigung Deutschlands für die „bedingungslose Solidarität mit Israel“ in Frage stellen. Es würde offenlegen, dass diese nicht dem Kampf gegen den Antisemitismus dient, sondern einerseits der billigen Entschuldigung für den Holocaust und die Verbrechen der Nazis, andererseits den eigenen geostrategischen Interessen.

Daher muss die Bundesregierung an ihrer eigenen Fiktion festhalten, dass schon der Vorwurf des Völkermordes gegenüber Israel, bereits die Verhandlung einer Klage eine „Ungeheuerlichkeit“ darstellen würden.

Doch die Ungeheuerlichkeit findet in Gaza statt – mit der Hilfe und den Waffen aus Deutschland. Während selbst andere westliche bürgerliche Staaten aufgrund der Barbarei der Bombardements auf Distanz gehen und wie z. B. Kanada oder Gerichte in den Niederlanden Waffenlieferungen an Israel stoppen, hält die Bundesregierung an der Fiktion fest, dass der zionistische Staat unter Netanjahu eine Art Verteidigungskrieg führen würde. Der größte Teil der Menschheit kann darüber nur den Kopf schütteln. Auch eine Mehrheit der Deutschen folgt der Bundesregierung längst nicht mehr. Obendrein kann auch eine wachsende Minderheit der israelischen Bevölkerung ob der Nibelungentreue der deutschen Regierung zum israelischen Kriegskabinett nur ungläubig staunen.

Auch wenn sich die Verhandlung der Klage Nicaraguas über Wochen hinziehen wird und der Ausgang eng damit verbunden ist, ob der IGH Südafrikas Klage gegen Israel recht gibt, so bewirkt der Prozesse zumindest eines: Er trägt dazu bei, die Rechtfertigungsideologie des Krieges gegen Gaza in der Öffentlichkeit weiter zu unterminieren. Und das stellt für den herrschenden Kurs der Regierung ein wirkliches Problem dar. Auf Dauer lassen sich Waffenlieferungen für einen Genozid und bedingungslose Solidarität mit einem Staat, der ihn gerade durchführt, durch eine weitgehende mediale Gleichschaltung, Repression und Aushebelung demokratischer Rechte nur schwer durchhalten, wenn eine immer größere Mehrheit der Bevölkerung diese Politik dennoch ablehnt.

Hinzukommt, dass es keineswegs ausgeschlossen ist, dass der IGH Nicaraguas Klage folgt. Selbst wenn er Deutschland „nur“ in Teilen schuldig sprechen würde, stünde die Regierung vor einem Dilemma. Der IGH verfügt zwar über keine materiellen Mittel, seine Urteile gegen den Willen verurteilter Staaten zu erzwingen – und insofern könnte Deutschland weitermachen wie bisher. Das tun schließlich auch andere Staaten, wie Israel, China, Russland oder die USA. Doch diese haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass für sie das nationale Interesse über jedem Urteil steht, das diesem zuwiderläuft. Deutschland hingegen ging über Jahre damit hausieren, dass das humanitäre Völkerrecht über allem stünde und für alle verbindlich wäre. Natürlich war das immer eine Lüge, wie man jüngst an der Reform genannten, faktischen Abschaffung zentraler Elemente des Asylrechts in der EU sehen kann.

Bei einer Verurteilung durch den IGH müsste Deutschland jedoch eine Entscheidung treffen. Entweder es folgt dem Entscheid und brüskiert damit seinen Verbündeten Israel, dem man ständig „bedingungsloser Solidarität“ versichert hat. Oder man ignoriert den Rechtsspruch und macht damit deutlich, dass man nur solange das humanitäre Völkerrecht, Demokratie und Menschenrecht hochhält, als sie den eigenen außenpolitischen Zielen dienen.

Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass eine Verurteilung durch das Gericht in Den Haag die deutsche Unterstützung des zionistischen Regimes stoppen wird. Aber der Prozess, die öffentliche Klage und erst recht eine mögliche Verurteilung unterminieren die ohnedies immer brüchiger werdende Legitimität der deutschen Politik. Es ist eine Aufgabe der Palästinasolidaritätsbewegung, genau diese Legitimitätskrise zu vertiefen, indem sie die Bundesregierung und die imperialistischen Mächte an den Pranger stellt. Denn dies stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, die zunehmende Ablehnung der Regierungspolitik in der Bevölkerung zu einer Bewegung auf der Straße und in den Betrieben werden zu lassen, die diese Politik wirklich stoppen kann.




Frühlingsbeginn in Jordanien?

Jona Everdeen, Infomail 1250, 6. April 2024

Die meisten von uns freuen sich vermutlich gerade sehr, dass der Frühling wieder kommt und Sonnenschein und wärmere Temperaturen mit sich bringt. Doch kann es sein, dass die Freude bald noch viel größer ausfällt, wenn auch der Arabische Frühling zurückkehrt und revolutionäre Erhebungen und internationale Solidarität mit sich bringt? Die Massenproteste, die gerade in Jordanien gegen die de facto Unterstützung Israels durch die Haschimitenmonarchie stattfinden, könnten zumindest zum Auslöser eines solches Prozesses werden.

Die Lage in Jordanien

Während die Lage im Land zwischen Jordan und Mittelmeer, in Palästina, noch immer in vielen Medien Thema ist und sich auch in den westlichen Metropolen zahlreiche Menschen mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die noch immer unter Israels genozidalem Krieg leiden, erfährt man kaum etwas über das Land östlich des Jordans. Dabei könnten die aktuellen Ereignisse in Jordanien für die Lage in Palästina und der ganzen Region eine große Bedeutung gewinnen.

Seit etwas mehr als einer Woche demonstrieren in unmittelbarer Nähe zur israelischen Botschaft, einer von wenigen überhaupt in einem arabischen Land, täglich zigtausende Jordanier:innen in Amman, der Hauptstadt des Landes. Ihre Forderungen: die Schließung der Botschaft und das Ende der Kooperation der herrschenden Regierung um den Haschimitenkönig Abdullah II. bin al-Hussein mit Israel. Konkret fordern sie auch die Aufhebung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien, der 1994 geschlossen wurde und die Beziehungen normalisierte.

Diese Proteste sind nicht die ersten im von König Abdullah II. bonapartistisch regierten Jordanien, so war dieses bereits ein Nebenschauplatz des (ersten) Arabischen Frühlings. Massive Proteste zwangen den König, einige Reformen zuzugestehen, was damals die Lage beruhigen konnte. Im vergangenen Jahr gab es jedoch erneut große Proteste in Jordanien, die sich, wie bereits die des Arabischen Frühlings, gegen die Folgen der Krise richteten, die die Jordanier:innen hart trafen.

Wie in fast allen arabischen Ländern gab es auch hier in den ersten Wochen des Krieges riesige Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in Gaza. Allerdings litten auch diese unter demselben Problem wie in anderen Ländern, indem sie sich zu großen Teilen nicht gegen die eigenen Regierungen richteten, die, mal mehr, mal weniger versteckt, mit Israel und dessen Verbündeten kooperieren.

Heute sieht das anders aus. Doch nicht nur richten sich die Demonstrationen jetzt in Amman gegen die Politik der Regierung, auch scheinen sie gut organisiert zu sein. So bilden gezielt Ärzt:innen und Anwält:innen die ersten Reihen in der Hoffnung, die Demos so vor Gewalt durch Repressionskräfte zu schützen. Diese antworten nämlich mit Härte. In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Demonstrierenden. Doch gelang es auch immer wieder, die Polizei zurückzudrängen. Auch sieht es nicht so aus, als würden sich die Proteste schnell beruhigen, sondern eher, als hätte die Bewegung gerade erst begonnen. Doch wer sind überhaupt die Haschimiten, die in Jordanien die Politik bestimmen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Israel und der Besetzung und Unterdrückung Palästinas?

Die Haschimiten, Palästina und Israel

Jordanien und Palästina teilen sich nicht nur einen Fluss, sondern auch eine lange, gemeinsame Geschichte. Die Haschimiten spielten in dieser jedoch nie eine rühmliche Rolle. So erlangten sie die Macht über das Gebiet Transjordanien, nachdem sie eine zentrale Rolle in der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich gespielt hatten, welche Britannien nutzen konnte, um die mit Deutschland verbündete Regionalmacht im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Anders jedoch als versprochen, wurde das „befreite“ arabische Gebiet nicht unabhängig, sondern in ein französisches und ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt, letztendlich nur ein anderes Wort für Kolonie. So wurde auch Jordanien nicht unabhängig, sondern lediglich zu einem Emirat der Haschimiten, die die Oberhoheit Britanniens anerkannten. Nach der Unabhängigkeit 1946 als Königreich intervenierte Jordanien zwar in den Krieg gegen das neu gegründete Israel, das gerade die Nakba begonnen hatte, allerdings eher aus Machtinteresse denn aus internationaler Solidarität. So verleibten sich die Haschimiten nach dem Krieg, unter Verurteilung anderer arabischer Staaten, die Westbank als eigenes Territorium ein. Im Angriffskrieg Israels gegen seine Nachbarn (Sechstagekrieg) im Jahr 1967 verlor Jordanien zwar die Westbank, seine verräterische Rolle jedoch nicht. In das Land waren nach Beginn der Nakba und im Zuge des Sechstagekriegs hunderttausende Palästinenser:innen geflohen, die einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellten. So wurde Jordanien zum Schwerpunkt der PLO, die von hier aus den palästinensischen Befreiungskampf zu organisieren versuchte. Der Haschimitenkönig Hussein I. sah in der nationalistischen PLO eine Gefahr für seine Macht und führte einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Palästinenser:innen (Schwarzer September 1970). 1994 dann unterzeichnete Jordanien mit Israel einen Friedensvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder normalisierte und die israelische Herrschaft über Palästina anerkannte. Jordanien wurde zum engsten Verbündeten Israels in der Region. Das Haschimitenkönigshaus pflegt ebenfalls enge Beziehungen mit den USA. So unterhält der US- Imperialismus wichtige Militärbasen in Jordanien, die für seine Kontrolle über den Nahen Osten zentral sind.

Doch während das bonapartistische Haschimitenregime, aus Gründen seines Machterhalts, mit den Feind:innen der arabischen Völker klüngelt, sind die jordanischen Menschen mit Palästina solidarisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil so viele wie in keinem anderen Land selber ihre Wurzeln in Palästina haben, ihre Großeltern während der Nakba vertrieben wurden und ihre Familienangehörigen heute in Gaza bombardiert oder in der Westbank von Siedler:innen angegriffen werden.

Die Haschimiten haben bisher alles getan zu verhindern, dass die Menschen östlich des Jordans ihre Geschwister westlich des Flusses in ihrem Befreiungskampf unterstützen, haben sich aktiv mit deren Unterdrücker:innen zusammengetan, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Jetzt ist es an der Zeit, die Macht dieses korrupten Clans endlich zu brechen!

Nur der Frühling kann den Winter beenden

Wenn die Proteste in Jordanien siegen, die mit westlichem Imperialismus und Zionismus kooperierende Bourgeoisie absetzen wollen, muss die Bewegung Organisationen der Gegenmacht aufbauen, sich anders als die Massenproteste des Arabischen Frühlings in den Betrieben und Stadtteilen, an den Schulen, Universitäten organisieren. Die in Jordanien durchaus relevante Gewerkschaftsbewegung kann hier die entscheidende Rolle spielen, denn nur eine massive Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, einen dauerhaften Sieg des Volkes gegen seine Unterdrücker:innen zu erringen! Dabei könnte diese Bewegung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: endlich zu einer Politik der internationalen Solidarität und Unterstützung der Palästinenser:innen aus Jordanien führen und auch die Folgen der kapitalistischen Krise für die Bevölkerung reduzieren und deren Lebensbedingungen mittels einer gezielten Planung der wirtschaftlichen Produktion verbessern. Dabei spielen die Gewerkschaften zwar ein wichtige Rolle, aber im Kampf ist es vor allem Zentral, eine politische Kraft, eine Revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen, die den Kampf gegen die Dynastie mit dem Kampf für eine sozialistische Revolution verbindet.

Doch kann dies nicht isoliert geschehen, eine kleine jordanische Arbeiter:innenrepublik wäre kaum lebensfähig, sondern nur als Teil einer erneuten revolutionären Massenbewegung im Nahen Osten und darüber hinaus – letztlich in einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens.

Während Jordanien vielleicht das extremste Beispiel für Kooperation eines arabischen Landes mit Israel verkörpert, ist es nicht das einzige. Auch Ägypten hat seine Beziehungen mit Israel im späten 20. Jahrhundert normalisiert und trägt die Unterdrückung der Palästinenser:innen faktisch mit. Doch auch Regierungen, die Solidarität mit Palästina vorgeben, tun dies in der Regel nur, um ihre Bevölkerung ruhigzustellen. Von praktischer Solidarität sieht man wenig. De facto haben sich alle Staaten des Nahen Ostens mit der Existenz des israelischen Staates in seiner derzeitigen Form abgefunden, das heißt mit Apartheid und Besatzung, und akzeptieren auch den genozidalen Krieg in Gaza größtenteils, bei lediglich symbolischer Verurteilung. Schließlich will man es sich ja auch nicht mit Israels westlichen Verbündeten verderben. Denn die bonapartistischen Regierungen der Region sind vom Wohlvollen imperialistischer Mächte abhängig, deren Vormachtstellung sie stützen, und von denen sie, im Gegenzug für die Durchsetzung der Ausbeutung der eigenen proletarischen Massen und die Plünderung ihrer Ressourcen durch internationale Konzerne, eine Teil der Beute erhalten.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Diese Unterdrückung beenden können die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sowie in jeder Region der Welt nur, indem sie ihre eigenen Regierungen stürzen und Regierungen der Arbeiter:innen und Kleinbäuer:innen errichten, die in Räten die Kontrolle über Politik und Wirtschaft übernehmen. Um gegen Imperialismus und von diesem unterstützte Konterrevolution gewappnet zu sein, müssen sich diese zu einer sozialistischen Förderation zusammenschließen und gemeinsame Wirtschaftsplanung und Verteidigung in Form von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmilizen etablieren. So kann ein zweiter Arabischer Frühling die Macht des Imperialismus in der Region brechen und zur Inspiration für Unterdrückte auf der ganzen Welt werden. Die derzeitigen Massenproteste in Jordanien haben zumindest das Potential, eine solche Dynamik anzustoßen.




Die Arbeiter:innenklasse mobilisieren, um den Krieg gegen Gaza zu stoppen

Robert Teller, Neue Internationale 281, April 2024

Die Palästinasolidarität in Deutschland trotzt seit 6 Monaten mit regelmäßigen Protesten der massiven Repression und Einschüchterung durch den Staat, dessen Räson bedingungslose Rückendeckung für die Kolonisierung Palästinas verkörpert. Doch die Wahrheit ist auch, dass die Bewegung in Deutschland sich vor allem stützt auf die Gemeinschaften von Menschen, die persönliche Bindungen nach Palästina haben. Ein überschaubarer Kreis linker Organisationen gehört zu den regelmäßigen Unterstützer:innen der Proteste.

Doch von einer breiten Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse und Jugend sind wir aktuell weit entfernt. Um den politischen Druck substanziell zu erhöhen, wäre aber genau diese notwendig. Wer aus persönlichen, individuellen Gründen nicht wegschauen kann vom Genozid in Gaza, lässt sich leicht überzeugen, Trauer und Wut in einen sichtbaren Protest auf der Straße zu verwandeln. Um alle anderen zu mobilisieren, ist es aber notwendig, kampffähige Organisationen einzubinden – die Gewerkschaften – und Solidaritätskomitees zu bilden an den Orten, wo Menschen arbeiten oder studieren.

Gewerkschaften und Palästina

Es überrascht nicht, dass die staatstragenden Spitzen der DGB-Gewerkschaften – fest eingebunden in die als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisierte Klassenzusammenarbeit – auch außenpolitisch Patriot:innen sind und ins Horn der Staatsräson blasen. Den gewerkschaftlichen Initiativen für einen Waffenstillstand schlägt daher nicht nur staatliche Repression und mediale Stimmungsmache entgegen, sondern auch der Apparat der eigenen Gewerkschaft. Die meisten Initiativen haben sich daher bislang darauf beschränkt, durch offene Briefe Öffentlichkeit zu schaffen. Oft knüpften sie an einen Solidaritätsaufruf palästinensischer Gewerkschaften vom 16. Oktober an oder nahmen auf andere internationale Initiativen Bezug.

Mit einer starken gewerkschaftlichen Palästinasolidarität wäre es möglich, über den symbolischen Protest auf der Straße hinaus die israelische Kriegsmaschine zu behindern – durch Blockade von militärischen Gütern, die auf dem See- oder Luftweg transportiert werden, Lahmlegung von Produktionsketten, die für Israel produzieren, aber auch Druck auf Universitäten oder Unternehmen, die über Kooperationen mit Israel indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt sind.

Die starke Einbindung Israels in den europäischen Wirtschaftsraum verschafft der Arbeiter:innenklasse hierzulande auch einen großen Hebel. Welche unmittelbaren Kampfziele sinnvoll sind, hängt von den Umständen vor Ort ab. In jedem Fall sollten sie aber in einen Zusammenhang gestellt werden mit den dringenden Forderungen der gesamten Bewegung: nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza, dem Ende des Kriegsverbrechens der vorsätzlichen Aushungerung und dem Rückzug des israelischen Militärs aus Gaza.

Laut einer aktuellen Umfrage (Statista, 22.03.2024) halten 69 % der deutschen Wahlberechtigten das militärische Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt – und es spricht wenig dafür, dass unter Lohnabhängigen oder Gewerkschaftsmitgliedern die Verhältnisse grundlegend anders sind. Doch eine von dieser Mehrheit getragene Bewegung gibt es derzeit nicht. Um diese aufzubauen, reicht es offenbar nicht, an weitverbreitete Sympathie und Mitgefühl mit den Palästinenser:innen anzuknüpfen, wenn zugleich das gesamte „demokratische Spektrum“ mit schweren moralischen Geschützen aus allen Rohren auf alles schießt, was nur nach Palästinasolidarität riecht.

Politische Aufklärung der Klasse

Die ständige Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen propalästinensische Stimmen etwa entfaltet seine Wirkung nicht nur durch Angst, selbst zur Zielscheibe von Repression zu werden, sondern in der breiten Masse vor allem dadurch, dass die meisten Menschen verständlicherweise eben keine Antisemit:innen sein wollen.

Diese Unsicherheit lässt sich nur durch eine bewusste politische Auseinandersetzung auflösen. Die Kolleg:innen müssen selbst verstehen, was Antisemitismus ist (und was nicht), um gegen ungerechtfertigte Angriffe gerüstet zu sein. Hierfür bräuchte es eine politische Aufklärungskampagne. Hilfreich ist dabei etwa ein Blick unter die Oberfläche der selbstverliebten deutschen bürgerlich-nationalistischen „Erinnerungskultur“, die es erst ermöglicht, die eigenen Verbrechen der Vergangenheit als Legitimation für neue Massaker zu instrumentalisieren. Vermitteln sollten wir auch, dass das Konzept des „jüdischen Schutzraums“ selbst einen rassistischen Charakter trägt, es im Gegensatz steht zur traditionellen Position der Arbeiter:innenbewegung, für die Gleichberechtigung aller Ethnien und Nationen einzutreten und für deren kollektive Verteidigung gegen Angriffe, wo immer sie leben. Keinesfalls sollte die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, verschwiegen oder kleingeredet werden – sondern wir sollten erklären, dass wir dessen Instrumentalisierung für die außenpolitischen Interessen des deutschen Imperialismus ablehnen und daher auch keine Illusionen in den deutschen Staat schüren, dass dieser den Antisemitismus ernsthaft bekämpft.

Ebenso notwendig ist es, Klarheit zu schaffen über die Kräfte des palästinensischen Widerstandes wie der Hamas. Wir sollten die dämonisierende Hetze gegen diese (und auch gegen den 7. Oktober) als das offenlegen, was sie ist: Chauvinismus, der einen Genozid rechtfertigen soll. Dabei sollten wir aber die politischen Schwächen der palästinensischen Bewegung nicht verschweigen, denn dies würde gerade nicht dazu führen, dass Kolleg:innen ihre Position in einem politisch repressiven Klima selbstständig verteidigen können. Um eine gewerkschaftliche Verankerung der Palästinasolidarität zu schaffen, ist es daher auch notwendig, eine breite und offene Debatte um deren Ziele zu führen, um den Charakter des Krieges und um die Interessen, die der eigene Imperialismus hier verfolgt. Dann ist es auch möglich, die Palästinasolidarität auf eine allgemeinere Grundlage der Klassensolidarität zu stellen: Jeder israelische Sieg in Gaza macht auch den deutschen Imperialismus selbstbewusster und aggressiver – nach außen und nach innen. Er verschärft den Rassismus, schränkt demokratische Rechte ein (und damit auch die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenklasse insgesamt) und bereitet seine eigenen Kriege vor.

Umgekehrt schwächt ein erfolgreicher Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Vertreibung, gegen das Morden nicht nur ihren Kampf für nationale Selbstbestimmung. Er schwächt nicht nur den zionistischen Unterdrückerstaat, sondern auch die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und weltweit, weil er Mächten wie den USA oder auch der BRD und ihren herrschenden Klassen Paroli bietet und allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zeigt, dass scheinbar unbesiegbare Staaten nicht unsiegbar sind.

Um eine gewerkschaftliche Solidarität aufzubauen, sollten wir uns auch an positiven Beispielen orientieren. Gerade wenn man unter schwierigen Bedingungen kämpft, ist es motivierend zu sehen, was in anderen Ländern erreicht wurde: etwa das „National Labor Network for Ceasefire“, dem über 200 US-Gewerkschaften angehören, oder der Aufruf von 14 spanischen Gewerkschaften, den Waffenhandel mit Israel zu beenden. Um an solche Beispiele anzuknüpfen, ist es notwendig, Basisstrukturen zu bilden und diese bundesweit zu vernetzen. Eine gute Gelegenheit hierfür wird der Palästinakongress am 12. – 14.4. in Berlin liefern.