Der Fall Magnitz – ein Rechtspopulist inszeniert sich als Opfer

Martin Suchanek, Infomail 1037, 11. Januar 2019

Nur wenige Minuten benötigte die AfD Bremen, um den Überfall
auf ihren Bundestagsabgeordneten Magnitz bekannt zu machen. Nachdem die Polizei
am 7. Januar kurz nach 20 Uhr den Überfall gemeldet hatte, postete die rechte
Partei schon wenige Minuten später erste Informationen zum „feigen Überfall“.

Schnell waren nicht nur Bilder von Magnitz’ Kopfwunde im
Umlauf, auch der „Tathergang“ wurde im Detail geschildert:

„Unser Landesvorsitzender und Bundestagsabgeordneter Frank Magnitz ist am Montag von drei vermummten Männern angegriffen worden. (…) Mit einem Kantholz schlugen sie ihn bewusstlos und traten weiter gegen seinen Kopf, als er bereits am Boden lag. Dem couragierten Eingriff eines Bauarbeiters ist zu verdanken, dass die Angreifer ihr Vorhaben nicht vollenden konnten.“ (Weserkurier vom 9.1.)

Der AfD-Vorsitzende Gauland sprach von einem Mordanschlag.
Magnitz wie überhaupt die gesamte Partei wären Opfer eines
quasi-linksterroristischen Klimas, das nicht nur die radikale Linke, die Antifa
oder die Linkspartei, sondern obendrein auch noch SPD und Grüne bewusst schaffen
würden.

Dabei widersprich lt. Medienberichten schon die „Schilderung“ des angeblichen Tathergangs den Ermittlungen der Polizei. Auf einem Video des Überfalls lässt sich weder das Kantholz ausmachen noch das Nachtreten. Die Täter seien vielmehr „sofort nach dem Angriff geflohen“ (Weser Kurier, 9.1.). Die Staatsanwaltschaft ermittelt auch nicht wegen Mordversuchs, sondern wegen gefährlicher Körperverletzung, nachdem sich der von den RechtspopulistInnen suggerierte „Anfangsverdacht“ offenbar als nicht haltbar erwies. Der AfD-Inszenierung tut das keinen Abbruch.

Ein Rechter als Opfer?

Dabei ist Magnitz selbst alles andere als ein Unschuldslamm. Wie sein ganzer rechtspopulistischer Verein betrachtet er Migration, vor allem von MuslimInnen, als „Gefahr“. Mit anderen Worten: Der Mann erweist sich als rassistischer Überzeugungstäter. In der Bremer Bürgerschaft organisierte er unter anderem Veranstaltungen mit dem kulturpolitischen Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion Marc Jongen und dem Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser vom neurechten Institut für Sozialpolitik, das u. a. die Zeitschrift Sezession herausgibt.

Magnitz gilt auch als Unterstützer von Bernd Höcke, also des
rechten, völkischen Flügels der AfD, und organisierte gemeinsame Aktionen mit
der „Identitären Bewegung“, die er selbst ganz im Stile seiner Partei als
„witzig, intelligent und harmlos“ verniedlicht.

Magnitz verdient den Hass, die Wut, die Empörung aller
AntifaschistInnen und AntirassistInnen. Der angebliche Biedermann entpuppte
sich schon längst als Brandstifter.

Vollkommen deplatziert sind daher die Verurteilungen des „Anschlags“ durch VertreterInnen der SPD, der Grünen und auch der Linkspartei oder gar „Solidaritätsbekundungen“ mit Magnitz. Von SPD und Grünen mag man auch nicht viel anderes erwartet haben – die Linkspartei will offenkundig wieder einmal beweisen, dass sie längst im verlogenen Einheitsbrei des Parlamentarismus angekommen ist. So twitterte der Vorsitzende der Linksfraktion Bartsch: „Es gibt keine Rechtfertigung für ein solches Verbrechen.“ (https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/afd-politiker-magnitz-angegriffen-100.html)

Wir wissen ebenso wenig wie Bartsch mit Bestimmtheit, welche
Motive die Menschen getrieben haben, die Magnitz angriffen. Es scheint aber
durchaus wahrscheinlich, dass die Aktion politisch motiviert war. Eine mögliche
Begründung auszumachen, fällt jedenfalls nicht schwer – die rassistische Hetze des
„Opfers“ und der AfD, ihre Zusammenarbeit und Mobilisierung mit Nazis gegen
Flüchtlinge, MigrantInnen bis hin zur Erzeugung von pogromartigen Stimmungen
wie in Chemnitz.

Ermahnungen wie jene, dass „Gewalt kein Mittel von Politik“
sein dürfe, wirken angesichts der Ermutung zu rassischer und faschistischer
Gewalt, die der Rechtspopulismus mit sich bringt oder zumindest billigend in
Kauf nimmt, lächerlich und zynisch. Gegen die organisierte Gewalt von Rechten,
gegen Angriffe auf Flüchtlinge, MigrantInnen, gegen anti-muslimische und
anti-semitische Attacken, gegen Anschläge auf linke Organisationen und Parteien
(darunter nicht zuletzt auch Büros der Linkspartei) helfen keine lahmen
Beschwörungsformeln, sondern nur organisierte Selbstverteidigung.

Eine solche Politik bedarf zweifellos auch der Begründung,
der Auseinandersetzung und Vermittlung, so dass mehr und mehr Lohnabhängige,
GewerkschafterInnen, Jugendliche diese aktiv tragen, um eine kämpferische
Massenbewegung gegen die Rechten und den Rechtsruck aufzubauen.

In diesem – und nur in diesem Sinne – war der Anschlag
politisch kontraproduktiv. Subjektiv nachvollziehbar war er allemal und
sicherlich nicht „kriminell“. Eine solche bloß individuelle Aktion ermöglicht
es jedoch viel eher, mediale Hetze gegen AntifaschistInnen und AntirassistInnen
zu streuen, den Angriff als einen von „Kriminellen“ darzustellen; es
erleichtert der AfD und Menschen wie Magnitz, sich als Opfer zu inszenieren.
Vor allem aber erscheint so auch vielen Lohnabhängigen, GewerkschafterInnen,
Flüchtlingen und MigrantInnen kämpferischer Antirassismus als Einzelaktion und
nicht als kollektives, organisiertes Vorgehen.

Das eigentliche Problem der Linken, der
ArbeiterInnenbewegung in Deutschland besteht jedoch nicht darin, dass einzelne
GenossInnen die Sache selbst in die Hand nehmen und Magnitz eine Abreibung
verpassen – es besteht vielmehr darin, dass der Kampf gegen rassistische und
faschistische Mobilisierungen, gegen Angriffe und Aufmärsche viel zu
unentschlossen, zu wenig militant und zu wenig organisiert geführt wird. Diesen
Zustand zu überwinden, dazu sollte uns der Fall Magnitz anspornen.




Zur Entwicklung der Faschismustheorie Trotzkis

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Einleitung

Was stellt der Faschismus dar? Diese Frage stellten sich bürgerliche Intelligenz, zahllose HistorikerInnen wie TheoretikerInnen der ArbeiterInnenbewegung schon vor mehr als 90 Jahren. Dieser Aufsatz bewertet einige der bedeutendsten Antworten darauf. Den Schwerpunkt bildet die Entwicklung der Faschismustheorie Trotzkis, beginnend mit seinen ersten Äußerungen zum Thema 1922. Dabei ist es unverzichtbar, seine Gedanken in den Kontext der damaligen Debatte innerhalb der (III.) Kommunistischen Internationale (Komintern, KI) zu stellen. Ab 1929 entstand dann sein bedeutend umfangreicher ausgearbeitetes Theoriegebilde, dessen wesentliche Eckpunkte dargestellt und mit den Vorstellungen anderer Strömungen der ArbeiterInnenbewegung verglichen werden sollen. Im Mittelpunkt stehen dabei die unterschiedlichen Konzepte, wie der Nationalsozialismus geschlagen werden kann. Zum Schluss versucht dieser Artikel, einen kurzen Ausblick auf aktuelle Probleme zu geben. Die Hauptfrage dabei lautet: Inwieweit kann Trotzkis Theorie uns dabei hilfreich sein?

Trotzkis Position in der Faschismusdebatte der jungen Komintern 1922–1924

Italien und der III. Weltkongress (WK)

Bis Mitte 1921 sprach die KI summarisch vom konterrevolutionären „weißen Terror“, zu dem sie Horthy in Ungarn, Kapp und die „weiße Sozialdemokratie“ in Deutschland sowie Elemente der ehemaligen zaristischen Geheimpolizei Ochrana zählte (1).

Im Zuge der taktischen Wende auf dem III. WK (22. Juni–12. Juli 1921) zur Einheitsfront („Heran an die Massen!“) setzte eine differenziertere Betrachtung ein. Zwischen diesen beiden Kongressen wurde die internationale Diskussion über den Faschismus im Lichte der italienischen Erfahrung vertieft. Zum einen ging es um die Analyse des Faschismus in der bürgerlichen Gesellschaft, zum anderen um die einzuschlagende Taktik gegenüber dieser Gefahr.

Mitte 1921 bis Ende 1922 herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass das Ziel des italienischen Faschismus die Zertrümmerung der proletarischen Bewegung bzw. die Atomisierung der italienischen ArbeiterInnenklasse sei und seine sozialen Wurzeln im Kleinbürgertum lägen. Über die Frage seines politischen Verhältnisses zum Großkapital gingen jedoch die Meinungen, nicht nur in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), auseinander. Deren ultralinke Mehrheit (Bordiga, Gennari) ging von einer „großkapitalistischen Funktion“ der kleinbürgerlichen Massenbewegung aus. Gramsci dagegen ortete 1921 einen Widerspruch zwischen „parlamentarischem“ und „unversöhnlichem“ Faschismus. Letzterer werde im Gegensatz zu ersterem seine antiproletarische Richtung beibehalten. Ein drittes Lager betonte die Autonomie der faschistischen Bewegung als eigenständige Kraft, die sich in einen fundamentalen Gegensatz zur italienischen Großbourgeoisie hinentwickeln müsse (Rosso).

Auch das Verhältnis der faschistischen Bewegung zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie wurde kontrovers diskutiert. Der III. WK konstatierte die Zusammenarbeit demokratischer Staatsinstitutionen mit den FaschistInnen parallel zu deren Terror gegen die ArbeiterInnenbewegung. Das Exekutivkomitee der KI (EKKI) nahm scharf Stellung gegen die sozialdemokratische Konzeption, mithilfe des bürgerlichen Staatsapparats die Faschisten schlagen zu wollen. Die ultralinke KPI-Mehrheit ging sogar von einer Identität von bürgerlich-demokratischer und faschistischer Herrschaft aus. Terracini meinte, Faschismus sei ein vorübergehender Gewaltzustand seitens der herrschenden Klassen, untrennbar von den bereits bestehenden bürgerlichen Parteien. Diese Meinung wurde genährt von der weitgehend unblutigen Machtübernahme Mussolinis. Die Unterdrückungs- und Verhaftungswelle setzte erst später ein. Die Gleichsetzung von Faschismus und bürgerlicher Demokratie wurde von der EKKI-Mehrheit nicht geteilt.

Die Taktik der ArbeiterInneneinheitsfront (nicht nur) gegen den Faschismus

Trotzki war einer der wesentlichen Befürworter der Einheitsfronttaktik. Diese spielte besonders für kommunistische Parteien eine Rolle, die über keinen Massenanhang verfügten, und bedeutete Einheit in der Aktion für gemeinsame Ziele mit anderen Parteien und Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bei Bewahrung vollständiger politischer Unabhängigkeit voneinander: Getrennt marschieren, vereint schlagen! Freiheit der Kritik (auch an den zeitweiligen BündnispartnerInnen), Einheit in der Aktion! Vorschlag und Aufforderung zur Aktion richteten sich sowohl an die Basis wie die Führungen der Arbeiterorganisationen. Eine zweite Grundvoraussetzung, um die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse für den Kommunismus in der und durch die gemeinsame Aktion zu erlangen, war die getrennte Organisierung der KommunistInnen in einer eigenen, unabhängigen Partei und der Kampf für ihr Programm: keine gemeinsame Propaganda, kein Verwischen der Fahnen und Prinzipien. Die KommunistInnen sollten die besten und energischsten VerfechterInnen für die Ziele der Einheitsfront sein, ohne auch nur für einen Moment ihre Kritik an den Unzulänglichkeiten und Halbheiten ihrer KontrahentInnen und EinheitsfrontpartnerInnen einzustellen oder abzuschwächen, v. a. wenn letztere sich nicht mit voller Kampfkraft für die gemeinsamen Ziele einsetzten – aber natürlich auch darüber hinaus.

Diese Mehrheitslinie des EKKI musste auch im Kampf gegen den Faschismus gegen rechte wie ultralinke Abweichungen verteidigt werden. Die rechte KPD-Führung unterzeichnete mit SPD, USPD und Gewerkschaften z. B. eine gemeinsame Erklärung vor dem Hintergrund der Massendemonstrationen anlässlich der Ermordung Rathenaus (24. Juni 1922), welche die inhaltsleere „Demokratisierung der Republik“ forderte. Die italienischen Ultralinken sahen in der Einheitsfronttaktik den Verzicht auf kommunistischer Eigenständigkeit und ließen ein Zusammengehen mit anderen ArbeiterInnenorganisationen gegen die FaschistInnen nur auf Gewerkschaftsebene gelten.

Zur Vorbereitung des IV. WK der KI (5. November–5. Dezember 1922) nahm Trotzki zum ersten Mal in einer Rede anlässlich des 5. Jahrestages der Russischen Revolution vor der Moskauer Parteiorganisation der RKP (Russische Kommunistische Partei) ausführlicher zum Faschismus Stellung. Er hielt seine Rede Ende Oktober 1922 vor dem Hintergrund der aktuellen italienischen Entwicklung, denn nach Mussolinis Marsch auf Rom setzten die Verfolgungen ein. Trotzki machte eine ernstzunehmende Niederlage des Proletariats als Folge der verpassten Machtübernahme 1920–1921 aus. Er blieb im Hinblick auf die sozialen Wurzeln der faschistischen Banden unbestimmt („bürgerlich“ wie „kleinbürgerlich“). Ihre politische Funktion sah er allerdings ganz im Interesse des Großkapitals – als dessen Rache. Er konstatierte weder einen Gegensatz zwischen bürgerlich-demokratischer und faschistischer Herrschaftsform noch deren Identität, legte sich diesbezüglich also (noch) nicht fest. Überdies war er der Ansicht, dass es sich beim Faschismus um keine rein italienische Angelegenheit handle, denn dieser habe sich in allen Ländern ausgebreitet (z. B. Orgesch in Deutschland).

Der IV. Weltkongress

Die Diskussion dort spiegelte das oben skizzierte Meinungsspektrum in der Faschismusfrage wie in der einzuschlagenden Taktik gegen die FaschistInnen wider. Im Gegensatz zu den italienischen Ultralinken sah Radek, Hauptredner zum Thema „Taktik“, im Sieg des italienischen Faschismus die größte Niederlage seit Beginn der Weltrevolution. Seine Rede enthielt aber auch ein rechtes Element, das in den zukünftigen Faschismusanalysen der KI bzw. der KPD 1923 zentral werden sollte. Er unterschied – ähnlich wie zuvor Gramsci – im Faschismus einen progressiven, „demokratischen“ Flügel von einem reaktionären.

„Natürlich waren die faschistischen Massenbewegungen, die über das Kleinbürgertum hinaus auch in der Arbeiterschaft Anhänger hatten, sozial und politisch tendenziell heterogen. Allerdings – als Bestandteil der faschistischen Bewegung mit klar anti-proletarischem Programm und Praxis – hatte diese Heterogenität für die Arbeiterbewegung erst dann eine Bedeutung, wenn es ihr gelänge, durch einen frontalen Angriff auf die faschistische Bewegung insgesamt diese in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Radeks Feststellung eines ,demokratischen faschistischen Flügels’ widersprach seiner Ausgangsposition, den Faschismus als konterrevolutionäre, anti-proletarische Bewegung im Dienste der Monopolbourgeoisie zu charakterisieren. Die Konstatierung eines ,demokratischen Flügels’ stand im Gegensatz zu einer Bewegung, deren Programm im radikalen Kampf gegen die Demokratie, angefangen mit der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, bestand.“ (2)

Sinowjew forderte die Einheitsfront für Italien, ging aber weiter als andere RednerInnen, als er der KPI vorschlug, in bestimmten Situationen auch mit faschistischen „Gewerkschaften“ eine Front zu bilden. „Trotzki unterschied sich… methodisch von späteren Ansätzen in der Kominternpolitik, Kleinbürger als Bestandteile der faschistischen Bewegung für die Unterstützung der Arbeiterbewegung zu gewinnen, anstatt diese über Methoden des Klassenkampfes aus dem Lager des Faschismus zu brechen.“ (3)

Die „Taktikresolution“ folgte weder den rechten noch den ultralinken Positionen: Neben der Notwendigkeit der antifaschistischen ArbeiterInneneinheitsfront wurde der Unterschied zwischen demokratischer und faschistischer Herrschaft betont und damit die Position der ultralinken KPI-Mehrheit zurückgewiesen. Radeks These eines „demokratischen faschistischen Flügels“ wurde nicht aufgegriffen.

Trotzki und die KI-Mehrheit verstanden zur Zeit des IV. WK Faschismus und Demokratie als unterschiedliche bürgerliche Herrschaftsformen, ohne genau zu analysieren, wie der Faschismus zur Macht gelange. Die Möglichkeit eines organischen Hineinwachsens der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus wurde offen gelassen.

Deutschland 1923

Die Ruhrbesatzung durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 leitete eine revolutionäre Krise ein, die bis Oktober des Jahres andauerte. „Die politische Krise, der Entzug der Verfügungsgewalt über das Ruhrgebiet, ging einher mit der ökonomischen. Die Inflation, die bis zum November 1923 astronomische Ausmaße annahm…, erschütterte die bürgerliche Gesellschaft in ihren Grundfesten; Arbeitslosenunruhen, Demonstrationen, Streiks bis hin zu Arbeiteraufständen waren die Folge (April 1923: Aufstandsversuch in Mühlheim [heutige Schreibweise: Mülheim, d. Red.]; Mai-Aufruhr in Gelsenkirchen). Ab Mitte Mai wurde das Ruhrgebiet von einer Massenstreikwelle erfasst, wobei die Losung der Dortmunder Bergarbeiter lautete: ,Die Ruhrgruben dem Proletariat’. Ihren Höhepunkt fand die Streikbewegung im unbesetzten Teil Deutschlands in den Auguststreiks, die zum Rücktritt der Regierung Cuno führten.“ (4)

Im Sommer 1923 hatte die KPD im deutschen Proletariat die SPD überflügelt. Die rechte KPD-Führung unter Brandler/Thalheimer, beraten von Radek, betrieb nach den bitteren Erfahrungen der putschistischen März-Aktion 1923 eine defensive Politik, die hinter den stürmischen Ereignissen zurückblieb; die ultralinke Opposition um Fischer/Maslow zeigte keine revolutionäre Alternative dazu auf. (5)

In der Behandlung der deutschen nationalen Frage während der Ruhrbesatzung zeigte sich ein Schwanken der KPD. Anfangs verurteilten KPD und EKKI den Einmarsch der Invasionstruppen, verweigerten aber einen Burgfrieden mit der Reichsregierung (Essener Konferenz), nur die unabhängige Mobilisierung der deutschen, französischen und belgischen ArbeiterInnenklassen könne die Ruhrkrise lösen. Diese Position des revolutionären Defätismus wurde jedoch von der KPD-Führung zunehmend unterhöhlt. August Thalheimer sprach im Februar 1923 davon, die Lage des deutschen Bürgertums habe dieses dazu geführt, nach außen „objektiv revolutionär“ aufzutreten. Offensichtlich waren für Brandler, Thalheimer und Radek, insbesondere im Verhältnis zu Frankreich, das Deutsche Reich kein imperialistisches Land und die Regierung keine Vertretung des deutschen Kapitals mehr, sondern eine Art Halbkolonie bzw. Kleinbürgerregierung. Der Kampf gegen die Regierung wurde (auch) auf der Grundlage einer konsequenteren Vertretung deutscher nationaler Interessen geführt. Diese populistische, „nationalbolschewistische“ Haltung gipfelte in der Parole der „Roten Fahne“, dem KPD-Zentralorgan vom 29. Mai 1923: „Nieder mit der Regierung der nationalen Schmach und des Volksverrats!“ Beiläufig bemerkt: Dagegen gab es genauso wenig Einspruch seitens der ultralinken Opposition um Fischer wie gegen die spätere Schlageter-Linie. In der Logik dieser Position lag also die Anbiederung an die nationalistische Bewegung; z. B. unterschied der Zentralausschuss (ZA) zwischen vom „Kapital gekauften Elementen“ und „irregeführten Kleinbürgern“. Die Konferenz des erweiterten EKKI vom 12.–23. Juni 1923 diskutierte zum Unglück nicht die revolutionäre Situation in Deutschland. Zetkin fasste in ihrem Einleitungsreferat zur Lage in Italien die Faschismusanalyse es IV. WK eindringlich zusammen und betonte die Notwendigkeit gesonderter kommunistischer Agitation unter den kleinbürgerlichen Schichten und des Aufbaus der ArbeiterInneneinheitsfront, des proletarischen Selbstschutzes gegen die faschistische Gefahr. Die Ähnlichkeit mit Radeks Rede auf dem IV. WK lag in der These der Heterogenität der faschistischen Bewegung; diese bestehe sowohl aus konterrevolutionären wie revolutionären Elementen. Die sich anschließende „Schlageter-Rede“ Radekks mit ihrer Anlehnung an schwülstiges völkisches Vokabular sollte zur Entfesselung dieser revolutionären Elemente beitragen. Die bisherige rechte Politik der KPD in der Faschismusfrage wurde in dieser Rede auf die Spitze getrieben.

„Wenn es richtig war, dass es ,revolutionäre’ Faschisten gab, dann war es nur konsequent, dass man mit solchen Teilen der faschistischen Bewegung auf der Basis der ,deutschen Arbeit’ gegen die Franzosen und die deutschen ,Erfüllungspolitiker’ gemeinsame Sache machte. Das neue an Radeks Programmatik war also, dass er mehr oder minder direkt die Bildung eines Blockes mit Teilen der faschistischen Bewegung befürwortete, den die KPD dann mit der Politik der ,Schlageter-Linie’ herzustellen versuchte.“ (6)

Die Resolution des EKKI-Plenums übernahm einige Elemente Zetkins (revolutionäre Tendenzen im Faschismus), nicht jedoch die Radeks, und wich damit tendenziell von den bisherigen Beschlüssen der KI ab, betonte jedoch weiterhin, der Faschismus sei eine gefährliche Macht der Gegenrevolution. Trotzki nahm am Plenum nicht teil und äußerte sich auch nicht zur „Schlageter-Rede“. Seine davor getätigten Äußerungen lehnten eine Einheitsfront mit den FaschistInnen jedoch klar ab. Die „Rote Fahne“ druckte sie jedoch am 26. Juni 1923 ab als Auftakt zu einer Debatte mit den NationalsozialistInnen. Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass die Schlageter-Politik nicht die Hauptachse der antifaschistischen KPD-Politik darstellte. Konferenzen im Januar und März sowie der Antifaschistentag am 29. Juli hatten zur Mobilisierung gegen die FaschistInnen aufgerufen. Im Herbst 1923 verlief die Schlageter-Linie im Sande, nachdem die FaschistInnen mit der KPD nicht weiter debattieren wollten. Eine seriöse Aufarbeitung dieser opportunistischen Abweichung erfolgte aber nicht (7).

Trotzkis Position im Oktober 1923

Hier wollen wir uns nicht mit seiner Beurteilung der Lage und Aufstandsplanung8 beschäftigen, sondern mit seiner Charakterisierung „faschistischer“ Elemente. Trotzki sah drei konterrevolutionäre Kräfte: die von faschistischen Offizieren geführte Reichswehr; faschistische Schockbataillone wie die „schwarze Reichswehr“, abhängig vom Reichswehrkommando; die Schutzpolizei. Er sprach von der Herrschaft eines „moderaten Faschismus“ in Bayern. Doch weder von Kahr noch von Seeckt oder dessen Adjutant Müller waren Faschisten.

Aufgrund der damals vorliegenden Erfahrungen war es allerdings schwierig bis unmöglich, im rechtsextremen Lager Unterschiede festzustellen. NSDAP, SA, Heimschutz, vaterländische Verbände, „schwarze Reichswehr“, bonapartistische und monarchistische Elemente bis hin zu Deutschnationalen und Bayerischer Volkspartei traten terroristisch auf, um die „rote Gefahr“ auszumerzen. Der „Nationalsozialismus“ unter Hitler, Ludendorff und Röhm steckte selbst noch in einem Klärungsprozess. Erst der Ludendorff-Hitler-Putsch in München im November 1923 klärte die Fronten zwischen FaschistInnen und anderen Bestandteilen des rechtsextremen Lagers: christliche, föderalistisch und wittelsbachisch gesonnene Kräfte bildeten die bürgerlich-konservative Komponente. NSDAP/SA mobilisierten das Kleinbürgertum für ein „nationalrevolutionäres“, gesamtdeutsches Programm. Von Kahr, gestützt auf die bayerische Generalität und vom Reich mit Sondervollmachten für Bayern ausgestattet, lavierte zwischen diesen Kräften und stellte gegen die Zentralregierung die besondere Rolle Bayerns heraus. Die von Seeckt-Exekutive bildete zwischen September 1923 und Februar 1924 eine bonapartistische Diktatur. Bis Oktober 1924 herrschte danach ein ziviler Ausnahmezustand, ähnlich der heutigen Situation in Brasilien.

Die Charakterisierung von Seeckts als Faschisten hat diesen in falscher Weise zu sehr mit Mussolini gleichgesetzt. Die unterschiedlichen Wurzeln (Armee/Reichswehr, kleinbürgerliche Massenbewegung) wurden nicht berücksichtigt.

Trotzki entwickelte den Bonapartismusbegriff erst in den 1930er Jahren. Seine bisherige Faschismusdefinition als „Sturmtruppenorganisation der Konterrevolution“ erwies sich als zu grob. Er konnte sich weder die Differenzen in Bayern, beginnend mit Hitlers „Bierhallenputsch“ (Marsch auf die Feldherrnhalle), noch die zwischen Bayern und Berlin im November 1923 erklären. Die These vom Seeckt-Faschismus implizierte, dass der Entscheidungskampf zwischen Faschismus und proletarischer Revolution direkt anstehe. Damit verbunden war zweitens eine Fehleinschätzung der politischen Situation im Oktober (8, 9). Das bonapartistische Lager sowie die Widerstandskraft des bürgerlich-demokratischen Lagers, vor allem der SPD, wurden unterschätzt. Der undifferenzierte Faschismusbegriff, den Trotzki z. B. mit Brandler, Thalheimer, Radek, Kamenew, Sinowjew und Stalin teilte, sollte sich bei der aufkommenden stalinistischen Faschismusinterpretation als Nachteil erweisen.

Die Auseinandersetzungen in der KI nach der deutschen Niederlage und die Entstehung der „Sozialfaschismustheorie“

1923 kann als Schicksalsjahr für die kommunistische Weltbewegung bezeichnet werden. Die Herausbildung und das jähe Ende einer revolutionären Situation in Deutschland hatten tiefe Auswirkungen auf den Bürokratisierungsprozess in der Sowjetunion. Sinowjew hatte sowohl den Aufstandsplan als auch den Rückzug Brandlers und Radeks in Chemnitz als auch das Experiment mit den Landes„arbeiterInnenregierungen“ unterstützt. Der letzte Artikel seiner Serie „Die Probleme der deutschen Revolution“ zog die Konsequenz, die SPD habe den Weg für eine Machtübernahme der FaschistInnen geebnet. Ins gleiche Horn stieß die KPD-Leitung in ihrem Thesenpapier „Der Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik und die Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands“ (3. November 1923). Im November 1923 begann sich Sinowjew langsam von der Brandler-Führung abzusetzen und kritisierte die Praxis der KPD in Sachsen und Thüringen als sozialdemokratisch-opportunistisch. In seinem Artikel „Der deutsche Koltschak“ ging er wie die KPD von einer faschistischen Diktatur von Seeckts aus, ebenfalls wie die KPD von einem organischen Hinüberwachsen der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus. Im Gegensatz zur KPD-Rechten, die er deshalb scharf kritisierte, sah Sinowjew jedoch im Faschismus nicht einen Sieg über die demokratische Novemberrepublik, nicht ihre Abschaffung, sondern ihre Krönung. Ebert und von Seeckt seien zwei Seiten der gleiche Medaille.

Vor 1923 vertrat diese Gleichsetzung nur die ultralinke KPI-Mehrheit. Das EKKI hatte dies zwar zurückgewiesen, jedoch nicht die Frage beantwortet, in welcher Weise der Faschismus die bürgerlich-parlamentarische Republik ersetze! Wenn nun aber Ende 1923 Brandler, Thalheimer, Radek wie auch die Moskauer EKKI-Mitglieder einhellig Deutschland unter General von Seeckt als faschistisch bezeichneten, dann musste die Demokratie in den Faschismus hineingewachsen sein – ganz ohne Bürgerkrieg! Folglich legte Sinowjew mit seinem Artikel den Grundstein für die Sozialfaschismustheorie. Die Analogie zwischen von Seeckt und Koltschak war zwar richtig, aber Faschisten waren beide nicht! Darüber hinaus verharmloste Sinowjew den Faschismus auch noch, indem er Hitler mit Purischkewitsch verglich. Beide seien mehr Narren und Spaßmacher als ernsthafte Agenten der Konterrevolution.

Die russische linke Opposition nahm zur deutschen Frage nicht geschlossen Stellung. Radek verteidigte die rechte KPD-Linie. Von ein paar allgemeinen Bemerkungen abgesehen, schwieg Trotzki.

Das EKKI-Plenum von Januar 1924 endete mit einem Sieg des Triumvirats aus Kamenew/Sinowjew/Stalin und vervollständigte die Niederlage der linken Opposition auf der gleichzeitig tagenden 13. russischen Parteikonferenz. Die EKKI-Resolution vom 19. Januar wich einer definitiven Stellungnahme zum Oktoberrückzug aus, der von der KPD-Linken im Nachhinein heftig kritisiert worden war. Wesentlich waren drei Punkte: Der Oktober 1923 wurde nicht als eine entscheidende Niederlage gewertet, sondern lediglich als verlorene Schlacht; die Sozialdemokratie wurde zusammen mit der von Seeckt-Diktatur als faschistisch bezeichnet. Außerdem wurde das bisherige Einheitsfrontkonzept zugunsten einer Politik der „Einheitsfront von unten“ aufgegeben. Der Triumviratsfraktion ging es dabei weniger um eine Aufarbeitung der Fehler kommunistischer Politik 1923, sondern um eine Verhinderung der Formierung einer internationalen Opposition gegen ihre Apparatherrschaft in der UdSSR.

„Die ,Sozialfaschismustheorie’ war also 1923/24 ein wichtiges ideologisches Instrument zur Durchsetzung der Herrschaft der russischen Bürokratie. Die programmatischen Unklarheiten der bisherigen Faschismusanalyse der Komintern konnten bei der Formulierung dieser ,Theorie’ genutzt werden. Die Opposition gegen die Neuauflage der ultralinken Politik hatte hier ein entscheidendes Defizit, da sie die Grundlage der .Sozialfaschismustheorie’, Seeckt-Faschismus und ,organisches Hineinwachsen der Demokratie in den Faschismus’ teilte.“ (10)

Trotzkis Position vom November 1923 bis Januar 1924

Außer der Äußerung im August 1933 im Gespräch mit Walcher (siehe Endnote 9) erschien dazu im Dezember 1923 Trotzkis Beitrag „Tradition und revolutionäre Politik“ (11). Dort konstatiert er die falsche Einstellung der KPD zur politischen Entwicklung seit Mai bzw. Juli bis zum November („kalter“ Putsch von Seeckts) 1923. Eine konservative, hemmende, „halbautomatische“ Tradition habe in dieser Periode eine Neuorientierung, eine jähe taktische Wendung behindert. Nur indirekt deutete er eine entscheidende Niederlage der Partei im Oktober an. Die Verantwortung der KI findet in seiner Kritik hier ebenso wenig Niederschlag, wie die Fehler während der vorangegangenen Ruhrbesatzung erwähnt werden. Diese allgemein gehaltenen Bemerkungen unterscheiden sich in der Substanz weder von Radek, Sinowjew noch der EKKI-Resolution. Diese gaben ja durchaus Mängel im Zeitraum vor Oktober zu.

Im russischen Fraktionskampf 1923/24 ist gegen Trotzki immer wieder der Vorwurf erhoben worden, Trotzki habe die Linie der KPD-Rechten unterstützt. Zu diesem Eindruck hatte Radeks Intervention auf dem EKKI-Plenum beigetragen, der gemeinsam mit Trotzki vorbereitete Thesen zur deutschen Frage ankündigte und damit eine Einvernehmlichkeit mit letzterem suggerierte, der dieser nicht öffentlich entgegentrat. Äußerungen Trotzkis aus dem Zeitraum 1922/23 legen allerdings nahe, dass er Anfang 1924 weder die Charakterisierung der SPD als faschistisch noch das Konzept der „Einheitsfront von unten“ geteilt hätte. Trotzki solidarisierte sich auch nicht politisch mit Brandler, sondern wandte sich durch dessen bürokratische Absetzung von oben durch die KI. Gemäß seinem Verständnis fiel die Wahl einer neuen Führung bevorzugt in die Verantwortung einer jeden nationalen Sektion. Eine selbstständig abgegrenzte Position Trotzkis im Unterschied zur KPD-Rechten und EKKI-Mehrheit lässt sich auch in der Aufstandsfrage schwer erkennen. „Tradition und revolutionäre Politik“ macht allerdings deutlich, dass das Aufstandsfiasko für ihn nicht das entscheidende Element darstellte, sondern eines in einer Kette schwerer Versäumnisse. Die Hervorhebung eines „kampflosen Rückzugs“ der KPD-Führung legt jedoch Kritik an deren Vorgehensweise (auch) im Oktober nahe. Folgende Mutmaßung hat sehr wahrscheinlich recht: „Man könne – spekulativ – folgern, dass Trotzki für den Oktober/November 1923 begrenzte Widerstandsaktionen im Sinne hatte, z. B. die eigenständige Durchführung eines defensiven Generalstreiks gegen Müller in Sachsen, analog etwa zur Politik im Juli 1917…“ (12) in Petrograd.

Fazit: Trotzkis Zurückhaltung in der deutschen Frage war ein weiterer Baustein für die Niederlage der linken Opposition gegen den Stalinismus.

Trotzkis Opposition gegen den ultralinken Kurs der Komintern 1924

In seiner Rede in Tiflis (Hauptstadt Georgiens; 11. April 1924) sprach Trotzki erstmals von einer entscheidenden Niederlage der deutschen Revolution, die er allerdings fälschlich mit dem Sieg des Faschismus gleichsetzte. Von größerer Bedeutung ist allerdings sein Vorwort zu „Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale“ (Mai 1924) (13). Dort formulierte er seine grundsätzliche Kritik des stalinistischen ultralinken Kurses, präzisierte auf systematische Weise seine bisherigen Äußerungen zur neuen internationalen Lage im Allgemeinen und zur deutschen im Besonderen. Letztere sei nicht an objektiven Bedingungen, sondern wegen taktischer Fehler gescheitert. Der Oktoberrückzug wurde verurteilt, KPD-Linke wie -Rechte einte ein gemeinsamer fatalistischer Zug.

Seine Faschismuseinschätzung zu dieser Zeit war geprägt von einer allgemeinen Einschätzung der internationalen Situation (proletarischer Ansturm bzw. revolutionäre Ebbe), von der er die Herrschaftsform der Bourgeoisie (Demokratie oder Faschismus) abhängig machte. In Italien sah er Mussolini Kurs auf eine „parlamentarische ,Regulierung’ seiner Politik“ nehmen, eine Herrschaft des Faschismus also tendenziell schwinden. In Deutschland stellte er zwar einen Rechtsschwenk, aber innerhalb des parlamentarischen Rahmens fest. Seine Charakterisierung von Seeckts 1923 als Faschisten revidierte er jedoch nicht und teilte mit der EKKI-Mehrheit immer noch das Verständnis vom „Hineinwachsen der Demokratie in den Faschismus“. Im Gegensatz zur Ansicht der Komintern-Führung vertrat er aber die Meinung, der Faschismus habe die Macht wieder an die Demokratie abgegeben (Deutschland) bzw. sei auf dem Weg dahin (Italien). „Dieses Verständnis einer ,evolutionären’ faschistischen Machtübernahme [und –abgabe] entlang der jeweiligen politischen Konjunktur lässt sich auch in seinen folgenden Publikationen des Jahres 1924 feststellen…Verstrickt in eine Parteidisziplin, deren Rahmen jetzt von einer Bürokratenfraktion mit eigenen Interessen ausgelegt wurde, erkannte Trotzki nicht in vollem Ausmaß die Tiefe der Differenzen und die Bedeutung der Stalin-Fraktion.“ (14)

Der V. WK (17. Juni–8. Juli 1924) bekräftigte die Resolution des Januar-EKKI-Plenums zur Faschismusfrage, zur Charakterisierung der Sozialdemokratie und zur Einheitsfront. Auf dem Kongress verteidigte Radek seine Deutschlandpolitik von 1923, während Trotzki nicht eingriff und damit seine letzte Chance vergab, vor der KI für seine Positionen zur russischen und internationalen Situation zu kämpfen. Sein passives Verhalten trug sicher dazu bei, dass nach der deutschen Oktoberniederlage in der KPD eine leninistische Alternative so gut wie nicht präsent war. Im Juni und Juli 1924 ging Trotzki einen Schritt weiter und definierte Faschismus als Bürgerkriegsformation des Kapitals (15). Die faschistische Herrschaft werde nicht von langer Dauer sein, gewissermaßen werde sich der Prozess des „Hineinwachsens der bürgerlichen Demokratie in den Faschismus“ umkehren. Damit war zumindest der Anschluss an die frühe KI-Programmatik wiederhergestellt, die in Faschismus und parlamentarischer Demokratie zwei unterschiedliche Herrschaftsformen des Kapitals gesehen hatte. Der jetzt üblich gewordene inflationäre Gebrauch des Faschismusbegriffs konnte nun von Trotzki kritisiert werden.

Die Analyse als Bürgerkriegsformation bildete eine Brücke zur späteren, reifen Faschismusdefinition Trotzkis. „Für Trotzki konnte der Faschismus auch eine kleinbürgerliche Bewegung sein. Im Gegensatz zu seiner späteren Analyse war er dies jedoch nicht ausschließlich. Damit hatte die politische Funktion des Faschismus, die vor allem von KPI-Mitgliedern analysierte Atomisierung des Proletariats, die nur durch eine Massenbewegung erfüllt werden kann, für Trotzki keinerlei spezifische Bedeutung.“ (16) Trotzki erfasste die faschistische Bewegung in ihrer Funktion als pro-bürgerliche, konterrevolutionäre, bewaffnete Kraft, beantwortete die Frage nach der Art und Weise ihrer Machtergreifung (und Entmachtung) mittels einer „evolutionären“ Interpretation: nach Wiederherstellung der Ruhe entwickle sich der Faschismus wieder zurück zur „normalen“ bürgerlichen Demokratie. Bei der Unterscheidung dieser beiden Herrschaftsformen blieb er gegenüber der KI-Mehrheit unbeweglich. Die Sicherung der bürgerlichen Interessen mittels einer dritten Herrschaftsform (Bonapartismus/Cäsarismus, monarchischer Absolutismus, Militärdiktatur, Halbfaschismus…) wurde von ihm erst nach 1924 als Möglichkeit entwickelt.

III. Die Grundelemente von Trotzkis Faschismustheorie ab 1929

Mandel nennt hier:

a) Das Aufkommen des Faschismus ist Ausdruck einer schweren gesellschaftlichen Krise des Spätkapitalismus…Die historische Funktion der faschistischen Machtergreifung besteht darin, diese Verwertungsbedingungen schlagartig und gewaltsam zugunsten der entscheidenden Gruppen des Monopolkapitalismus zu ändern.

b) Die politische Herrschaft des Bürgertums wird unter den Bedingungen des Imperialismus und der historisch gewachsenen, modernen Arbeiterbewegung am günstigsten, d. h. mit den geringsten Unkosten, auf dem Wege der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie ausgeübt.

c) Unter den Bedingungen des modernen industriellen Monopolkapitalismus und der zahlenmäßig ungeheuren Disproportion zwischen Lohnabhängigen und Großkapitalbesitzern ist eine gewaltsame Zentralisierung der Staatsgewalt mit Ausschaltung der meisten (wenn nicht aller) Errungenschaften der modernen Arbeiterbewegung…praktisch mit rein technischen Mitteln unmöglich. Weder eine Militärdiktatur noch ein reiner Polizeistaat, ganz zu schweigen von einer absolutistischen Monarchie, verfügen über zureichende Mittel, um eine millionenstarke, bewusste Gesellschaftsklasse für längere Zeit zu atomisieren, zu entmutigen und zu demoralisieren. Dazu ist eine Massenbewegung notwendig, die ihrerseits große Menschenmengen in Bewegung bringt, die bewussteren Teile des Proletariats in systematischem Massenterror, in Kleinkrieg und Straßenkrieg zermürbt und demoralisiert und es nach der Machtübernahme durch völlige Zerschlagung der Massenorganisationen nicht nur atomisiert, sondern auch entmutigt und resignieren lässt.

d) Eine solche Massenbewegung kann nur auf dem Boden der dritten Gesellschaftsklasse entstehen, die im Kapitalismus neben Bürgertum und Proletariat existiert: des Kleinbürgertums. Dabei handelt es sich um eine kleinbürgerliche Bewegung, die extremen Nationalismus und, zumindest verbal ausgeprägte, antikapitalistische Demagogie (17) mit größter Feindschaft gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung…verknüpft.

e) Die vorherige Zermürbung und Zurückschlagung der Arbeiterbewegung, die, wenn die faschistische Diktatur ihre historische Rolle erfüllen will, unerlässlich ist, ist jedoch nur möglich, wenn sich in der der Machtergreifung vorangehenden Periode die Waagschale entscheidend zugunsten der faschistischen Banden und zuungunsten der Lohnabhängigen senkt…Der Aufstieg der faschistischen Massenbewegung kommt sozusagen einer Institutionalisierung des Bürgerkriegs gleich, in dem jedoch objektiv gesehen beide Seiten eine Erfolgschance besitzen.

f) Ist es dem Faschismus gelungen, „als Rammbock die Arbeiterbewegung zu zerschlagen“, dann hat er vom Standpunkt der Monopolkapitalisten seine Schuldigkeit getan. Seine Massenbewegung wird verbürokratisiert und dem bürgerlichen Staatsapparat weitgehend einverleibt, was nur geschehen kann, wenn die extremsten Formen plebejisch-kleinbürgerlicher Demagogie, die zu den „Zielen der Bewegung“ gehörten, von der Oberfläche verschwinden…Ist aber die Arbeiterbewegung besiegt und haben sich die Verwertungsbedingungen des Kapitals im Inneren entscheidend zugunsten des Großkapitals verändert, so konzentriert sich dessen politisches Interesse mit Notwendigkeit auf eine ähnliche Änderung auf dem Weltmarkt. Der Faschismus verwandelt sich in der Phase seines Niedergangs in eine besondere Form des Bonapartismus zurück.

Dies sind die konstitutiven Elemente von Trotzkis Faschismustheorie. Sie fußt auf einer Analyse der besonderen Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den hochindustrialisierten Ländern während der spätkapitalistischen Strukturkrise…entwickelt, und auf einer besonderen, für Trotzkis Marxismus charakteristischen, Verbindung objektiver und subjektiver Faktoren in der Theorie des Klassenkampfs wie beim Versuch, ihn praktisch zu beeinflussen (18):

Diese adäquate Charakterisierung belegt zweierlei: Trotzki hatte ab 1929 die Lücken in seiner Theorie gefüllt, sämtliche Zweideutigkeiten beseitigt; zudem erfüllt seine Faschismusanalyse die strengen methodischen Ansprüche, die an eine historisch-materialistische Geschichtsschreibung gebieterisch gestellt werden müssen (19)!

Die Lösung der strukturellen kapitalistischen Verwertungskrise durch den Machtantritt der NSDAP

Worin bestand nun die strukturelle Verwertungskrise des deutschen Monopolkapitals? „Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 33 läßt sich als die direkte Auswirkung dieses ,unentschiedenen’ Kräftegleichgewichts der Klassen der Gesellschaft einerseits und als Ausdruck der schon in der gesamten Phase seit 1924 vorhandenen immanenten Tendenzen und strukturellen Schwierigkeiten des internationalen Kapitals verstehen. Die Weltwirtschaftskrise verlief in zwei Etappen:

,Als ,einfache’ zyklische Krise…bis 1931…In der folgenden zweiten Phase der Krise bildeten sich Merkmale heraus, die die Weltwirtschaftskrise von allen früheren kapitalistischen Krisen unterscheiden und schließlich auch zu weiteren Strukturveränderungen des kapitalistischen Systems führten. Zunächst war die Weltwirtschaftskrise in der Tat nicht nur eine konjunkturelle, sondern eine strukturelle Krise insofern, als hier negative Strukturelemente kulminierten, die bereits die gesamte Nachkriegsentwicklung bestimmt hatten, aber in den Jahren einer relativen Prosperität überdeckt worden waren…durch die Rationalisierungs- und Konzentrationsbestrebungen der 20er Jahre außerordentliche Disparität zwischen industriellen Produktionskapazitäten…und den Absatzmöglichkeiten der deutschen Industrie…Agrarkrise…Dazu kamen der weltweite Charakter der Krise, die…nach und nach alle Länder erfasste und damit die Möglichkeit eines ,Exportventils’…verschloss; der Zusammenbruch des Welt- und des internationalen Kapitalmarktes; die verstärkten Tendenzen zur Monopolisierung…in der Absicht, die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung, die sich in der Krise verschärften…

Eingeleitet wurde die Weltwirtschaftskrise durch eine allgemeine Produktions-Krise (1932 betrug die Gesamtproduktion Deutschlands nur noch 60 % derjenigen von 1929…Erst mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems 1931 fielen auch die Exporte rapide ab. Die Lohnkürzungen…verschärften noch die Lage auf dem Inlandsmarkt.

In ihrer entscheidenden Phase ab 1931 stellte sich die Weltwirtschaftskrise hauptsächlich als internationale Finanzkrise dar…Als die ausländischen Gläubiger (vor allem aus den USA) selbst immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, forderten sie von den deutschen Banken die Rückzahlung der kurzfristig vergebenen Kredite. Diese hatten die Banken aber – zwecks ,Stabilisierung’ – als langfristige Kredite an die Einzelkapitalisten weitergeleitet, die diese Gelder natürlich nicht so schnell zurückzahlen konnten. Die Folge war das reihenweise Zusammenbrechen von Banken, die auch ihre enge wirtschaftliche und personelle Verflechtung mit dem Staatsapparat – der ja ebenfalls unglaublich verschuldet war – nicht vor dem Bankrott retten konnte; in der Folge davon der Bankrott tausender von Betrieben, der schlagartige Rückgang der Produktions- und Exportziffern, wirtschaftlicher Ruin großer Teile des Kleinbürgertums und größtes Elend auf Seiten der Arbeiterklasse.

…Das Gleichgewicht, das in der Zeit von 1924 bis 1928 erreicht werden konnte, war nur eine trügerische Ruhe vor dem Sturm von 1929, denn unter der Oberfläche der „Konsolidierung“ der Märkte lagen weiterhin die alten Widersprüche im Kampf miteinander, die schon zur ,Bereinigungskrise’ des I. Weltkriegs geführt hatten. Trotz seiner militärischen Niederlage wurde mit dem Krieg Deutschland als Konkurrent auf dem Weltmarkt nicht ausgeschaltet, sondern konnte sogar England und Frankreich den Platz der führenden europäischen Wirtschaftsmächte streitig machen, denn weder entsprach der politischen Macht Englands und Frankreichs eine entsprechende wirtschaftliche Macht, noch war damals die Vorherrschaft der USA über die anderen kapitalistischen Staaten so übermächtig und sicher, wie dies nach dem II. Weltkrieg der Fall war.“ (20)

Die innen- wie außenpolitische Konsequenz dieser Situation bestand in Folgendem:

„Eine Wiederbelebung des kapitalistischen Systems, eine Überwindung der schwersten ökonomischen Krise, die dieses System jemals erlebt hatte, konnte nur noch dann stattfinden, wenn keinerlei Zugeständnisse mehr an die Arbeiter gemacht werden mußten, wenn das Kapital die Häppchen und Brocken,…diesen wegnehmen und dem ,Allgemeininteresse’ zuführen konnte. Das Überlebensinteresse des deutschen Kapitals drängte auf eine imperialistische Offensive auf dem Weltmarkt, nach einer Zurückdrängung der europäischen Konkurrenten, die nur auf der Grundlage völlig veränderter nationaler Verwertungsbedingungen erfolgversprechend in Angriff genommen werden konnte.“ (21)

Wie sah die drastische Verbesserung der Verwertungssituation im Inneren aus? Das Verschwinden der Massenarbeitslosigkeit führte zu keiner bedeutsamen Erhöhung der Lohnsätze. Der Durchschnittsstundenlohn lag 1929 bei 95,9 Rpf. und noch im Oktober mit 80,8 Rpf. weit darunter. Konzentration und Zentralisation das Kapitals nahmen dagegen bedeutend zu: Das Gesamtkapital aller deutschen Aktiengesellschaften stieg erheblich; gleichzeitig sank die Anzahl der Aktiengesellschaften zwischen 1931 und 1942 um fast die Hälfte. Der steilste Sinkflug erfolgte dabei zwischen 1931 und 1938, nicht, wie man hätte vermuten können, zwischen 1938 und 1942. Der Staat begünstigte diese Konzentrationsprozesse durch Zwangskartellierungen, Zusammenschlüsse unter „Wehrwirtschaftsführern“, Organisation von „Reichsvereinigungen“ und „Gauwirtschaftskammern“ als höchste Formen von Fusion zwischen Monopolkapital und faschistischem Staat. Die grundlegende Tendenz war dabei nicht die Verstaatlichung, sondern die Reprivatisierung. Man könnte annehmen, dass die Rüstungsindustrie verstaatlicht worden wäre oder wenigstens mehr als die Hälfte der Aufsichtsrätemitglieder aus direkten Staats- und WehrmachtsvertreterInnen bestanden hätte, alles aus den Bedürfnissen einer wirksameren Kriegsführung ableitbar. Doch auch die barbarische Kriegsführung musste vor den Geboten der Kapitalakkumulation Halt machen (22).

Der Nationalsozialismus an der Macht: Primat der Politik oder des Monopolkapitals?

Die mit Tim Masons Aufsatz „Das Primat der Politik – Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus“ (23) angestoßene, teils sehr heftig geführte, Debatte zog viele DiskussionsteilnehmerInnen an. Für Mandel war es unverständlich, dass Mason für die Phase zwischen 1936 bis 1939 von einer „Zersetzung des industriellen Machtblocks“ im faschistischen Deutschland, seiner Auflösung in einzelne egoistische Firmeninteressen, sprechen konnte. „Gerade auf Grund dieser einwandfrei feststellbaren Entwicklung, die nicht nur dem demagogischen Programm der Nazis, sondern auch ihrem >>politischen Sonderinteresse<< (der Konservierung einer breiten Massenbasis in Mittelstand, Kleinbürgertum und Kleinbetrieb) direkt widersprach, ist unverständlich, wie Tim Mason zu dem Schluss kommen kann,…Monopolkapitalismus ist nicht >>Auflösung<< des Systems in eine >>reine Anhäufung von Firmenegoismen<<, sondern immer zunehmende Identifizierung des Systems mit den Firmenegoismen von einigen Dutzend Großkonzernen, auch auf Kosten der Masse der Klein- und Mittelbetriebe. Und das ist ja gerade im faschistischen Deutschland in einem vorher wie nachher noch nicht wiederholten Ausmaß geschehen.“ (24) Gegen Masons Argument, die politische Willensbildung und die Innen- und Außenpolitik der nationalsozialistischen Staatsführung sei ab 1936 in zunehmendem Maße von der Bestimmung durch die ökonomisch herrschenden Klassen unabhängig geworden, wendet er ein: „…daß also Klassengesellschaften bis zu einem gewissen Grade eine Verselbständigung nicht nur von Religion und Philosophie, sondern auch von Staat und Armee kennen. Worauf es ankommt ist nicht, zu wissen, ob eine Gruppe von Bankiers oder Großindustriellen dem Regierungschef oder Armeeführer seine [ihre, d. Red.] Beschlüsse unmittelbar >>diktiert<<, sondern ob diese Beschlüsse dem Klasseninteresse dieser Großfinanz oder der Großkonzerne entsprechen und aus der inneren Logik der Verteidigung der gegebenen Produktionsweise heraus verständlich werden.

Tim Mason übersieht, daß Militarismus und Kriege diese Autonomie schon sehr weitgehend im Rahmen des Monopolkapitalismus, lange bevor die NSDAP geboren wurde, erlangt hatten. Ja, der ganze Begriff des >>Primats der Politik<< ist gerade aus dem Komplex des Ersten Weltkriegs geboren.“ (25)

Richard Saage zeichnet die gesamte Kontroverse ausführlich nach und untersucht das Verhältnis zwischen großindustriellen Interessen und nationalsozialistischer Herrschaft einerseits sowie zwischen Nationalsozialismus und seiner Massenbasis andererseits. Zum ersten Themenkomplex hätten sich seiner Ansicht nach drei Gruppen gebildet: Für die erste ist das Verhältnis von Faschismus und Kapital kontingent, also zufällig; für die zweite existiert eine strukturelle Identität. Hierunter fällt v. a. die stalinistische Geschichtsschreibung. Die dritte zeichnet die Definition von Faschismus als tendenziell verselbstständigte Exekutive aus. Seine Parteinahme für das dritte Lager mündet in ein recht ausgewogenes Urteil, das zu dem Mandels nicht im Widerspruch steht, aber ihm gegenüber den Vorzug aufweist, allen Analysen zu dieser Frage bis in ihre feinsten Schattierungen nachzugehen: „…darum werden auch die politischen Einflußnahmen auf die Wirtschaft implizit überschätzt. Alle wissenschaftliche Aufmerksamkeit gilt den Lenkungsmaßnahmen, wenig Beachtung hingegen dem ungemein dynamischen Prozeß des öffentlichen Lebens selbst, der gelenkt werden soll: der deutschen Wirtschaft…Dies vorausgesetzt, steht also der Konflikt der verschiedenen Machtgruppen keineswegs im Gegensatz zum monolithischen Charakter des Systems.“ (26) Das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft unterm Faschismus entspricht also vollständig dem von Trotzki aufgezeigten Bild vom Faschismus an der Macht als – besonderer – Herrschaftsform des Monopolkapitals. Es zeigt die Liaison zwischen Staat und Kapital, wie sie für bonapartistische Regime typisch ist! Doch im hier behandelten Fall handelt es sich ja um einen besonderen Bonapartismustyp: einen faschistischen. Was präsentiert uns Saage im zweiten Teil seines Buchs? Suggeriert er nicht einen Unterschied zu Trotzki (und Mandel), die ja von einem Abbau der faschistischen Massenbewegung ausgehen? Der Vorzug von Saages Analyse besteht in seiner differenzierten Antwort, die ebenso wie Trotzki die Bedeutung der faschistischen Massenbasis betont, obwohl diese keinen Bewegungscharakter mehr annimmt – außer unter Kontrolle und nach Aufforderung durch den Staat („Reichskristallnacht“, „Euthanasie“-Programme) und nur insoweit Teilen ihrer Sozialdemagogie nachgeht. Diese auf die Spitze getriebene Fusion zwischen Staat und Monopolkapital mit ihren Folgen u. a. der forcierten Enteignung des Kleinbürgertums und Mittelstandes – auch der Bauernschaft (Reichserbhofgesetz) – wird nur mit kleinbürgerlich-rechtsextremer Färbung versehen. Zu dieser Färbung zählt auch ein Stück „Primat der Politik“ bei der Durchsetzung der absoluten Mehrwertproduktion: „Zwar hat die faschistische Partei das absolute Monopol des Politischen, aber sie übt es aus im Namen einer Bourgeoisie, die ihre ,objektiven’ Interessen nur noch auf der Grundlage der absoluten Mehrwertproduktion festmachen kann…Wenn Sohn-Rethel nämlich den gesellschaftlichen Rahmen der unterm Faschismus praktizierten absoluten Mehrwertproduktion dadurch charakterisiert sieht, daß dieser ,nach innen und nach außen…die Brachialgewalt an die Stelle der ökonomischen Kapitalsfunktion (setzt)’, bringt er ,damit das Kapital wieder auf den Nenner seines Ursprungs, seine Akkumulation auf den der sog. >ursprünglichen<’.“ (27) Ein wichtiger Gedanke und richtig insoweit, als das NS-Regime durch seinen Zwangscharakter und die barbarischen Methoden die Produktion absoluten Mehrwerts (Verlängerung des Arbeitstags, Intensivierung der Arbeit, Lohnsenkungen) effektiv durchsetzen konnte. Doch nur indirekt richtig ist die Gleichsetzung von Produktionsmethoden des absoluten Mehrwerts mit ursprünglicher Akkumulation, der Schaffung des doppelt freien LohnarbeiterInnentyps. Diese erhöht real „nur“ die Masse des Mehrwerts, wenn die freigesetzten ehemaligen KleinbesitzerInnen als produktive ArbeiterInnen Beschäftigung finden. Zweitens forciert der Nationalsozialismus an der Regierung auch die für die große Industrie typischen Methoden des relativen Mehrwerts (Konzentration und Zentralisation, forcierte Produktion von Produktionsmitteln und Rüstungsgütern, Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals durch Einführung neuer und von mehr Maschinerie). Indirekt erhöht die durch ursprüngliche Akkumulation gebildete zusätzliche Masse an LohnarbeiterInnen durch Vergrößerung der industriellen Reservearmee auch den Druck auf die Löhne der Beschäftigten nach unten und den Mehrwert/die Mehrwertrate nach oben. Bei aller Richtigkeit der von Sohn-Rethel betonten äußersten Möglichkeiten des NS-Zwangsregimes für die Produktion absoluten Mehrwerts gilt dort auch weiterhin der kombinierte Charakter (aller Methoden) der Mehrwertproduktion.

Die plebiszitäre Mobilisierbarkeit der faschistischen Massenbewegung nach der Machtergreifung spielte im NS-Deutschland eine wichtige Rolle bei der für die Kriegswirtschaft elementaren Mobilisierung von ZwangsarbeiterInnen, einer Art ursprünglicher Akkumulation durch Zwangsenteignung von Hab und Gut – allerdings nicht mit dem Resultat der Schaffung neuer Lohnarbeitskräfte, sondern eines millionenstarken Heeres von de facto SklavInnen. In diesem Sinn macht auch Sohn-Rethels Hypothese mehr als Sinn.

Die Parole vom „Lebensraum im Osten“ erwies sich als zugkräftiges Versprechen für die enteigneten KleinbürgerInnen im Reich, ihren Status als LohnarbeiterInnen dort bald aufgeben und ihren alten bzw. sogar besseren Status wiedererlangen zu können. Dazu mussten aber Juden und Jüdinnen und „slawische Untermenschen“ besiegt, vertrieben, enteignet und durch Zwangsarbeit vernichtet werden. Diese „Perspektive“ fürs ehemalige deklassierte KleinbürgerInnentum machte es zum Rammbock in Uniform. Theorien, denen zufolge der Faschismus eine neue totalitäre Form von Klassengesellschaft darstelle, finden in diesen Tatsachen mehr als ein Körnchen Nahrung. Auch Trotzki spekulierte kurz vor seinem Tod, wenn auch beiläufig, mit dieser möglichen Perspektive. Ehemalige TrotzkistInnen wie Burnham favorisierten die Idee einer universellen totalitären Managerklassengesellschaft, wobei Trotzki diese Bezeichnung für die stalinistische Sowjetunion kritisierte. Auch methodisch ist diese Annahme äußerst fraglich, bezeichnete doch Marx im „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“ als höchste Klassengesellschaft die, die die menschliche „Vorgeschichte“ der unbewussten, hinter dem Rücken vor sich gehende, unkontrollierte, indirekten Vergesellschaftung aus unfreien Stücken abschließe. Der Faschismus und insbesondere der deutsche Nationalsozialismus zeigen aber die barbarischen Umrisse eines drohenden Zerfalls der Zivilisation, ein „Ende der Geschichte“ in der Katastrophe. Er ist ein Menetekel dessen, was der Menschheit durch einen Superfaschismus mit den heutigen Massenvernichtungswaffen drohen kann: die Auslöschung der Menschengattung, wenn die von Rosa Luxemburg genial zugespitzte Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ von der internationalen ArbeiterInnenklasse nicht zugunsten der ersteren entschieden wird! Doch schließen wir das Thema Massenbasis und NS-Regime nach der faschistischen Machtergreifung mit Saages Resümee: „Schon im Ansatz verstellt er (Heinrich August Winkler; d. Red.) sich damit den Blick dafür, daß die NSDAP nur in Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten die Macht erwerben und erhalten konnte und daß sie gleichzeitig zur Aufrechterhaltung ihrer ,Identität’ des ständigen plebiszitären Rekurses auf die mobilisierbaren mittelständischen Massen bedurfte.“ (28)

Faschismusanalyse anderer Strömungen der ArbeiterInnenbewegung

Die Sozialdemokratie

Die sozialdemokratische Literatur zu unserem Thema ist vor allem pragmatisch-apologetischer Natur: Das eigene Versagen ist „Schuld des/r GegnerIn“. Die „Gewalt der objektiven Bedingungen“ gesellt sich einträchtig dazu. Die „Kräfteverhältnisse“ erlaubten halt nichts Besseres. Dass das eigene Handeln dieses hätte ändern bzw. abwenden können, das passt nicht zur politischen Passivität der SPD. Eine weitere These schiebt der radikalen Agitation der KommunistInnen die Schuld in die Schuhe, dass nämlich dem Faschismus die Möglichkeit bzw. der Vorwand zur Mobilisierung der verängstigten konservativen Bevölkerungsschichten geliefert worden sei. Dabei war es doch gerade der Bankrott der „gemäßigten“ parlamentarischen Alltagspolitik unter den Bedingungen der verschärften Strukturkrise, der die verzweifelten KleinbürgerInnen in die Arme der FaschistInnen trieb. Wird ihnen keine klassenkämpferische Alternative angeboten und bleibt dem deklassierten, pauperisierten Mittelstand nur die Wahl zwischen ohnmächtigem Parlament und aufmarschierendem Faschismus, wird er sich für letzteren entscheiden. Besonders hilflos ist die Haltung, um jeden Preis an der Legalität festhalten zu wollen. So argumentiert die Sozialdemokratie: Wenn die Nazis den Boden der Legalität verlassen, müssten die Organisationen der Lohnabhängigen umso fester und ausschließlich auf ihm ausharren. „Legalität“ und „Staat“ sind aber immer Institutionen und Ausdruck konkreter Gesellschaftsinteressen der herrschenden Klasse. In der Endphase der Weimarer Republik standen die RichterInnen, Oberste und Majore der Reichswehr fest an der Seite ihrer „Kameraden“ von „Stahlhelm“ und SS. Sie hassten und bekämpften die organisierte ArbeiterInnenbewegung genauso wie es parallel die FaschistInnen taten, nur ziviler und „legal“.

Auch die Faktoren Wirtschaftskrise und Erwerbslosigkeit werden ins Feld geführt, als ob ein Konjunkturaufschwung den Aufstieg Hitlers automatisch gestoppt hätte. Erstens handelte es sich um mehr als eine konjunkturelle Rezession, zweitens stoppte z.B. die Beschäftigungs„planwirtschaft“ (Arbeitsbeschaffungsprogramme) der belgischen Sozialdemokratie unter Spaak und de Man, die mit der Preisgabe wichtiger Errungenschaften der belgischen ArbeiterInnenschaft bezahlt wurden, keineswegs das Wachstum des belgischen Faschismus!

Einzig Léon Blum sprach die Wahrheit aus über den Kern hinter diesen sozialdemokratischen Rechtfertigungsideologien. Diese Wahrheit fiel genau entgegengesetzt zu den Weisheiten dieser TheoretikerInnen aus. Der Sieg Hitlers, so Blum, sei die Strafe dafür, dass die SPD nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs die Ansätze zur proletarischen Revolution erstickt und dadurch alle jene Faktoren entfesselt und bestärkt habe – von der Reichswehr bis zu den Freikorps, die sie nun schmählich davonjagen würden.

Komintern

Die Faschismusideologie der KI besteht aus fünf Elementen: a) Verkennung des eigenständigen Massencharakters der faschistischen Bewegung, Reduzierung des Faschismus auf einen reinen Agenten und direkten Ausdruck der Interessen der „aggressivsten Teile des Monopolkapitals“; b) Theorie des Faschismus als „Zwilling“ der Sozialdemokratie; c) Theorie der graduellen, schrittweisen „Faschisierung“, die die Werktätigen über den katastrophalen Charakter der faschistischen Machtergreifung täuscht und sie vom Kampf gegen noch bevorstehende Gefahren abhält; d) Theorie des „Sozialfaschismus“ in extremer Form: erst müsse man die SPD geschlagen haben, bevor man den Faschismus schlagen könne; e) der typisch sozialdemokratisch-defätistische Zusatz, Hitler würde rasch abwirtschaften (durch seine Unfähigkeit, die Wirtschaftskrise zu lösen) und „nach Hitler kommen wir“. Das bedeutete praktisch, sich bereits mit der Unabwendbarkeit der Hitler’schen Machtergreifung bereits abgefunden zu haben und wiederum ihre Auswirkung auf die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung zu unterschätzen.

Erst 25 Jahre später zog die offizielle kommunistische, moskaustalinistische Weltbewegung (Togliatti, DDR-„Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“) ansatzweise die Lehren aus dieser Ideologie. Praktisch hatte die KI sie bereits vorher revidiert, aber erst, als es bereits zu spät war. Der VII. WK verwarf 1935 die Theorie vom „Sozialfaschismus“ und vollzog eine sprunghafte Rechtswende zur Volksfrontpolitik. Diese war noch fehlerhafter als das Ultralinkstum der 3. Periode, Ausdruck des Übergangs vom Zentrismus zum Reformismus ab 1934. „In der Theorie vom >>Sozialfaschismus<< wird die objektive Rolle der sozialdemokratischen Führung…gegenüber ihrer Massenbasis und ihrer spezifischen Form (die das Fortbestehen der Arbeiterorganisationen impliziert) willkürlich isoliert; in der Volksfronttheorie wird dagegen der antifaschistische Wille der Massen und der Zwang der sozialdemokratischen Führung, sich gegen die Gefahr der Vernichtung durch den Faschismus zur Wehr zu setzen, ebenso willkürlich vom gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang der Strukturkrise des Kapitalismus isoliert. Im ersten Fall werden die Massen durch Spaltung paralysiert, im zweiten durch Rücksichtnahme auf den >>liberal<<-bürgerlichen Partner der Volksfrontpolitik entscheidend gebremst.“ (29)

Die Politik der Volksfront stellt, wie der Faschismus zur Rechten, zur Linken die letzte Karte der Bourgeoisie dar, durch Klassenzusammenarbeit von offen bürgerlichen Parteien, Organisationen oder auch nur einzelnen RepräsentantInnen („Schatten“ der Bourgeosie, meistens Armeeoffiziere) mit reformistischen Arbeiterparteien in Zeiten einer zugespitzten (vor-)revolutionären Krise den Vormarsch zur proletarischen Revolution entscheidend zu bremsen. Beispiele für eine solche Politik sind Spanien 1936–39 und Chile 1970–73. In modifizierter Form gilt dies auch für die russische Kerenski-Regierung 1917 und die zwischen Ebert und der General Groener von der Obersten Heeresleitung 1918–19.

Die Theorien von der „graduellen Faschisierung“ und vom „Sozialfaschismus“ sind gewissermaßen Zwillinge. „Der Faschismus ist nicht bloß eine neue Etappe der Stärkung und Verselbständigung der Exekutive des bürgerlichen Staates. Er ist nicht bloß >>die offene Diktatur des Monopolkapitals<<. Er ist eine besondere Form der >>starken Exekutive<< und der >>offenen Diktatur<<, die sich durch völlige Zerschlagung sämtlicher Arbeiterorganisationen, auch der gemäßigten, sicher der sozialdemokratischen – kennzeichnet. Er ist der Versuch, durch völlige Atomisierung der Werktätigen jegliche Form des organisierten Klassenkampfes, der organisierten Selbstverteidigung der Lohnabhängigen, gewaltsam zu verhindern. Man sieht, wie falsch die Theorie ist, die besagt: weil die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg ebne, seien Faschismus und Sozialdemokratie Verbündete, und man könne sich nicht mit der letzteren gegen den ersteren verbünden.

Gerade das Umgekehrte trifft zu. Die Sozialdemokratie bereitete tatsächlich die Machtergreifung des Faschismus vor, indem sie die Kampfkraft der Werktätigen durch ihre Politik der Klassenkollaboration untergrub und sich mit dem Bankrott der parlamentarischen Demokratie identifizierte. Die Machtergreifung des Faschismus ist aber gleichzeitig der Untergang der Sozialdemokratie.“ (30)

In der Theorie von der „Faschisierung“ liegt jedoch zugleich auch ein richtiges Element: „Es wäre aber falsch, etwa den Regierungsantritt Hitlers im Frühjahr 1933 zeitlich gleichzusetzen mit jener alles entscheidenden Niederlage, die der Faschismus an der Macht für das Proletariat bedeutet.

Die faschistische Diktatur wird nicht von einem Tag zum anderen installiert. Mit dem Machtanritt der Faschistsne [Faschisten; d. Red.] verändern sich die Bedingungen zuungunsten des Proletariats. Damit die Gefahr des Bürgerkriegs aber endgültig beseitigt werden kann, benötigt der Faschismus eine gewisse Zeitspanne, um sich als Regime zu festigen. Die Länge dieser Zeitspanne wird davon bestimmt, in wie kurzer Zeit die Organisationen der Arbeiterklasse aufgelöst, wie schnell die politischen Gegner ausgeschaltet und die Fraktionskämpfe in den eigenen Reihen beendet werden können. Nur in diesem Zusammenhang kann man den Begriff der ,Faschisierung’ verwenden: als Prozess der Konsolidierung des faschistischen Regimes…“ (31)

Die Länge dieser Zeitspanne kann genauer als nur summarisch bestimmt werden. Die ArbeiterInnenorganisationen wurden in folgender Reihenfolge verboten bzw. gleichgeschaltet: KPD – SPD – ADGB, zuletzt die bürgerlichen Parteien mithilfe des Gesetzes „Gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933, darunter auch die kurzzeitige NSDAP-Koalitionspartnerin DNVP. Bereits am 24. März hatte sich der „Führer“ sämtliche legislative Gewalt im „Ermächtigungsgesetz“ gesichert. Damit und mit der Verhaftung aller bedeutenderen ArbeiterInnenfunktionärInnen ab 1. März 1933 war der kalte, einseitige Bürgerkrieg de facto beendet. Einseitig, weil SPD und Gewerkschaften keinen Widerstand leisteten. Die offen bürgerlichen Parteien stimmten dem „Ermächtigungsgesetz“ allesamt zu, nur die 94 Abgeordneten der SPD dagegen. Die Sitze der KPD waren bereits einkassiert. Damit konnte die NSDAP   den konsequenten Aufbau einer totalitär-bonapartistischen Diktatur beginnen. 1934 wurde ihre ursprüngliche radikale Massenbasis quasi entwaffnet („Röhm-Putsch“), um die militärischen Funktionen der SS zu übergeben.

Die unter a) genannte Reduzierung des Faschismus auf lediglich eine Agentenrolle der aggressivsten Teile des Monopolkapitals, knüpft in verballhornter Form an die Hilferding’sche These von der Kongruenz zwischen der politischen Macht im bürgerlichen Staat und der „höchsten Form der Konzentration des Kapitals“, dem Finanzkapital, an, die schon im Jahre 1907 bei aller Genialität eine Vereinfachung implizierte, der zufolge der bürgerliche Staat einfach übernommen werden und über das „Generalkartell“ der Kapitalismus friedlich in den Sozialismus hineinwachsen könne. Letzteres brach mit Marx’ Feststellung, die Konkurrenz gehöre essenziell zum Begriff des Kapitals, sowie mit der Engels’schenThese , das Staatseigentum sei nicht die Überwindung des Kapitalismus, biete jedoch eine bessere Handhabe dafür. Die Hilferding’sche Formel war also 1907 bestenfalls potenziell opportunistisch, in den Jahren vor und nach Hitlers Machtübernahme unzutreffend. Max Horkheimer „löste“ sie zugunsten einer Variante der Kominternhypothese, die 1935 die Grundlage für Dimitroffs Volksfrontkonzept lieferte. Er bezeichnete den Faschismus als modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft. Paul Sering (Richard Löwenthal) favorisierte die andere mögliche „Lösung“: Für ihn war der NS-Staat ein „Planimperialismus“. „Man kann den Faschismus nicht begreifen, wenn man von zwei entscheidenden Momenten der Analyse abstrahiert: daß die höchste Form der Zentralisation des bürgerlichen Staates nur durch die politische Selbstentmachtung des Bürgertums erreicht werden kann…, und daß es sich nicht um die >>modernste Form der monopolkapitalistischen Gesellschaft<<, sondern um den Ausdruck der schärfsten Form der Krise dieser Gesellschaft handelt.“ (32)

Otto Bauer

Otto Bauer, Cheftheoretiker des Austromarxismus und von 1918 bis 1934 stellvertretender Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAP-Ö), sieht im Faschismus (33) eine Verbindung dreier Momente: Deklassierung von Teilen des Kleinbürgertums im Krieg; Verelendung weiter Teile des Mittelstands durch die Wirtschaftskrise, die zu deren Bruch mit der bürgerlichen Demokratie führte; Interesse des Großkapitals an vermehrter Ausbeutung der Arbeitskraft, wozu der Widerstand der ArbeiterInnenorganisationen notwendig gebrochen werden muss. Der Faschismus habe gesiegt, als das Proletariat längst geschwächt und in die Defensive gedrängt gewesen sei. Folglich habe die Kapitalistenklasse die Staatsmacht den faschistischen Gewalthaufen nicht übertragen, um einen revolutionären Sozialismus zu unterdrücken, sondern um die Errungenschaften des „reformistischen Sozialismus“ zu zerschlagen. Dieser Ansatz, so sehr er auch der rechtsreformistischen Position überlegen ist, demzufolge Mussolinis und Hitlers Siege Resultate der „bolschewistischen“ Agitation verkörperten, unterschätzt die kapitalistische Strukturkrise 1918–1927 in Italien und 1929–1933 in Deutschland. Sie erschütterte und schwächte diese Gesellschaftsordnungen und verbesserte dadurch zugleich die objektiven Möglichkeiten einer Machteroberung durch die ArbeiterInnenklasse. Der Sieg des Faschismus ist eben keine zwangsläufige Folge nach der Niederschlagung der Ansätze proletarischer Revolution 1921 bzw. 1923. Die 15 Jahre von 1918 bis 1933 in Deutschland waren keineswegs durch einen geradlinigen Abstieg revolutionärer Möglichkeiten gekennzeichnet, sondern durch deren periodisches Auf und Ab.

Diese Analyse von Otto Bauer führte zu schweren taktischen Fehlern: Da man sich in einer „defensiven Phase“ befand, glaubte Bauer, sich Gewehr bei Fuß aufs Abwarten beschränken zu müssen, bis die ArbeiterInnenorganisationen von der klerikal-faschistische Reaktion angegriffen wurden. So führte der heroische Schutzbundkampf vom Februar 1934 zu einer Niederlage, wenn auch zu einer weit weniger schmachvollen als in Deutschland. Die Tiefe der Strukturkrise machte es notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung ihren Willen zum Ausdruck brachte, sie mit eigenen Mitteln, d.h. ihrer Machteroberung, zu lösen. Nur so hätte es ihr gelingen können, die am Status quo (und auch an der bloßen Verteidigung der ArbeiterInnenorganisationen) nicht mehr interessierten Mittelschichten und schwankenden Bevölkerungsteile auf ihre Seite zu ziehen. Es blieben 1930 noch drei Jahre Zeit, um durch aktiven Kampf der ArbeiterInnenschaft zwar nicht die bürgerliche Demokratie zu retten (34), aber die Bollwerke der ArbeiterInnendemokratie und sozialen Errungenschaften innerhalb des bürgerlich-parlamentarischen Systems, die es zu erhalten lohnte, in den Sozialismus mit herüberzunehmen. Dazu war aber erforderlich, dass die proletarischen Führungen nicht versagten.

Bauer folgerte überdies eine Symmetrie zwischen Faschismus und Bolschewismus (35). „Aus der Ideologie des ,neutralen, demokratisch-parlamentarischen Staates’, in dem Sozialdemokraten des linken Flügels für die Machtergreifung des Proletariats kämpfen wollten, ergab sich mit logischer Konsequenz die Ideologie des ,neutralen’, ,unabhängigen’ ,über den Klassen stehenden’ Bonapartimus/Faschismus (bzw. Bolschewismus). Diese Herrschaftsformen seien, wie Bauer postulierte, ,über den Klassen stehende Diktaturen’…“ (36)

August Thalheimer

August Thalheimers Analyse kommt der Trotzkis am nächsten. Das Aktionsprogramm der KPD-O von 1931 näherte sich in seiner Perspektive der Linken Opposition an. Es enthielt nicht nur unmittelbare Tagesforderungen, sondern auch ein Verständnis von Übergangslosungen, die das Proletariat aus seiner „Verteidigung gegen den Faschismus und die Angriffe auf seine Lebensgrundlagen bis zum Kampf um die staatliche Macht vorantreiben“ sollten. Führte die SPD den Kampf als „Verteidigung der Demokratie“ und unterstützte das Kabinett Brüning bedingungslos und die KPD zuallererst den gegen die Sozialdemokratie, so wurde für die KPD-O der Kampf gegen die Brüning-Regierung zur Voraussetzung der proletarischen antifaschistischen Einheitsfront.

Ihr taktischer Fehler resultierte letzten Endes aus ihrer Theorie der „schrittweisen Faschisierung“ und einer zu engen Anlehnung an die Marx’sche Analyse des Bonapartismus des 19. Jahrhunderts. Ferner reduzierte Thalheimer das Faschismusproblem auf die gesellschaftspolitischen Kräfteverhältnisse, ohne den Zusammenhang mit der Strukturkrise zu beleuchten: Die ArbeiterInnenschaft sei noch nicht fähig, die politische Herrschaft auszuüben, das Großbürgertum bereits nicht mehr. Er unterschätzte den qualitativen Unterschied zwischen Bonapartismus und Faschismus, verwechselte die objektiv-historisch bedingte Unreife der französischen ArbeiterInnenklasse in den Jahren 1848–1850 mit der nur subjektiven (Führungskrise) der deutschen ArbeiterInnenbewegung1918–1933. Aufgrund einer mechanischen, schematischen Gegenüberstellung einzelner Elemente beider Herrschaftsformen konnte er letztlich im Faschismus nur noch eine „Ergänzung“, „Vollendung“ des bonapartistischen Regimes sehen, das als „Übergangsprogramm des Faschismus“ bezeichnet wurde. Die faschistische Partei ist für ihn das Gegenstück zur „Dezemberbande“ des Louis Bonaparte; die Klassenkampfsituation nach 1850 sei die gleiche wie beim Übergang von von Schleicher zu Hitler. Der Faschismus ist aber eben keine militärische Verschwörung, sondern eine kleinbürgerliche Massenbewegung, – was das französische Kleinbürgertum (Parzellenbauernschaft) des 19. Jahrhunderts nicht war – Es war im Wesentlichen nur plebiszitär passiver Unterstützer Napoleons des III. Zwischen aufsteigendem französischem Kapitalismus und deutschem Imperialismus liegt zudem die „Kleinigkeit“ einer ganzen Epoche (37)! Eine Differenzierung zwischen faschistischer Massenbewegung während ihres Aufstiegs und ihrer Machtergreifung und dem sich danach mehr und mehr in einen Bonapartismus verwandelnden Herrschaftsapparat kann auf dieser Basis erst recht nicht gelingen (38).

Umgekehrt bestand Thalheimers Analyse aus einer Aufzählung von Äußerlichkeiten. Den Faschismus verstand er als größtmögliche Quantität an Repression. Das führte ihn zur Ablehnung der Analogie zwischen den vorfaschistischen Regimen in Deutschland und dem Bonapartismus: „Dieselben Stalinisten und Brandlerianer lehnten sich auf gegen die Analogie zwischen dem vorfaschistischen Regime in Deutschland (>>Präsidial<<-Kabinette) und dem Bonapartismus. Sie zählten Dutzende von Zügen auf, durch die sich das Papen-Schleicher-Regime vom klassischen Bonapartismus unterschied, und übersahen darüber jenen Grundzug, der sie einander näherte: das Balancieren zweier unversöhnlicher Lager…Jetzt kann man schon ohne weiteres von einer tiefen Gesetzmäßigkeit der >>bonapartistischen>> Übergangsperiode zwischen Parlamentarismus und Faschismus sprechen.“ (39)

Ein gutes Resümee der Widersprüche im KPD-O-Konzept zieht Dahl-Arnold: „Thalheimer ging nicht von einer absoluten Verselbständigung der Exekutivgewalt aus, sondern sehr wohl – und hier blieb er Marx und Engels treu – beim Faschismus/Bonapartismus von einer spezifischen Klassendiktatur der Bourgeoisie…Im Gegensatz zu Trotzkis Analyse identifizierte Thalheimer tendenziell Bonapartismus und Faschismus, während er Trotzkis Analyse des präfaschistischen Bonapartismus rundheraus ablehnte…Entgegen der Analyse der Linken Opposition subsumierten die ,Brandlerianer’ sowohl das faschistische Regime als auch den ,Bonapartismus faschistischen Ursprungs’, der sich von seiner kleinbürgerlichen Basis gelöst hat, unter den Begriff Faschismus.

Die Identifizierung von Faschismus und Bonapartismus führte die KPD-O darüber hinaus zum ,Überspringen’ der Periode der Vorbereitung des faschistischen Staatsstreiches durch den Bonapartismus Brünings und Papen/Schleichers…Praktisch führte diese Position die KPD-O dazu, nicht unähnlich der KPD, eine ,Faschisierung’ der staatlichen Institutionen der Weimarer Republik festzustellen und bei der Ablösung des Brüning-Regimes im Sommer 1932 voreilig den ,ersten Akt des faschistischen Staatsstreichs’ zu konstatieren…“ (40)

Die Widersprüche äußerten sich in einer schwankenden Praxis zwischen Ultralinkstum und linkssozialdemokratischem Opportunismus: „Faschisierung“ – ja, aber nicht schleichend (41); Einheitsfront mit der SPD – ja, aber zuvor muss sie die Unterstützung Brünings aufgeben; die proletarische Machtergreifung – ja, aber durch eine (strategische) Einheitsfront, also als Hybrid zwischen Partei und Aktionseinheit.

Lehren für heute

Hier können wir festhalten: die ausgereifte Faschismustheorie nach 1929 ist allen Konkurrentinnen überlegen. Im Kern besteht sie aus dem Zusammenhang zwischen schwerer Strukturkrise des Kapitalismus und der unzureichenden Politik der ArbeiterInnenführungen; der Analyse des Klassencharakters der faschistischen Massenbasis wie des Faschismus an der Macht; Ablehnung der Sozialfaschismus- wie der Volksfronttheorie der KI; Ablehnung des bürgerlichen Legalismus der Sozialdemokratie, ihrer Unterstützung bürgerlicher Regierungen und Präsidialkabinette; Anwendung der klassischen Einheitsfronttaktik der KI in Form der antifaschistischen ArbeiterInneneinheitsfront gegen ultralinke (Einheitsfront nur von unten) wie opportunistische (Volksfront, strategisch-programmatische Einheitsfront) Abweichungen; Verteidigung der Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung (Bollwerke) innerhalb der bürgerlichen Demokratie statt Verteidigung parlamentarisch-demokratischer Herrschaftsform als Endzweck; Zusammenhang zwischen antifaschistischer Selbstverteidigung und dem Kampf um die Staatsmacht.

Trotzkis Analyse entstand im Zusammenhang mit dem Aufkommen des Faschismus in imperialistischen Ländern. Dies bedeutet nicht, dass faschistische Massenbewegungen in Halbkolonien nicht existieren können. Sie spielten oft Steigbügelhalterinnen für Militär- bzw. halbfaschistische Diktaturen (Franco-Spanien, Indonesien, Chile) oder kamen unter deutsch-italienischer Schutzherrschaft sogar an die Macht (kroatische Ustascha). Doch können sie kein eigenes imperialistisches Regime errichten, das nach der Weltmacht greift, und bleiben Vasallen des ausländischen Monopolkapitals.

Das Aufkommen rechtspopulistischer Bewegungen – ein Schwerpunkt dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus – verleitet viele Linke, ihnen ein faschistisches Etikett aufzukleben. Dieser inflationäre Gebrauch der Faschismusdefinition bildet die eine Gefahr. Die andere verkörpert eine Blindheit gegenüber Instrumentalisierungsversuchen des Rechtspopulismus durch echte FaschistInnen. MSI in Italien und Front National in Frankreich stellten vor einigen Jahren faschistische Frontparteien dar, überwiegend geführt von faschistischen Kadern, die eine extrem nationalistische und rassistische Politik verfolgten. Von einer solchen Organisation können wir heute in beiden Fällen zwar nicht (mehr) sprechen – der FN hat sich in eine rechtspopulistische Partei wie viele andere verwandelt, die MSI existiert nicht mehr – aber AfD und Co. bieten ein weites Betätigungsfeld für die FaschistInnen. Wo sie zu rassistischer Hetze mobilisieren und gemeinsam mit diesen marschieren wie in Chemnitz müssen wir ihnen mit den gleichen physischen Mitteln entgegentreten wie . damals der SA.

Endnoten

(1) Wir folgen in diesem Kapitel weitgehend der dankenswerterweise vom Autor zur Verfügung gestellten Arbeit von Dahl-Arnold, Henning: „Trotzkismus“ und Faschismus 1922–1933. Magisterarbeit am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin. Berlin 1991, S. 6–39.

(2) a. a. O., S. 15.

(3) a. a. O., S. 16.

(4) a. a. O., S. 18.

(5) Die Polemik Dahl-Arnolds gegen die Anwendung der ArbeiterInnenregierungstaktik lässt zumindest Fragen offen. Er schließt aus der Formulierung des VIII. KPD-Parteitags in Leipzig: „Die Arbeiterregierung ist weder die Diktatur des Proletariats noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr“, dass „die KPD ihre Bereitschaft zur Bildung einer SPD/KPD-Koalition im Rahmen des Parlamentarismus…, de facto zum Eintritt in eine bürgerliche Regierung“ erklärt habe. Die Parteitagsformel ist zwar ungenauer als die Resolution des IV. WK, aber nicht opportunistisch. Der Autor geht nicht auf die Frage ein, ob die o. a. KI-Resolution auch unter sein Verdikt fällt. Wenn er ihren wesentlichen Gehalt teilen sollte, nämlich dass eine echte ArbeiterInnenregierung die Tür zur Diktatur des Proletariats (DdP) aufstößt, aber nicht mit dieser identisch ist, sondern eine – nicht zwingend ins Leben tretende – Übergangsregierung dazu, so ist seine Kritik an Ruth Fischer zumindest verwirrend: „Fischer argumentierte dabei allerdings auf einer Grundlage, die prinzipiell die Bildung einer Arbeiterregierung – verantwortlich ausschließlich proletarischen Organen – als Weg zur Festigung der Arbeiterdiktatur ausschloß…“ Das kann doch nur heißen: Festigung einer DdP, oder welche „Arbeiterdiktatur“ kennt Dahl-Arnold noch? Aber die proletarische Staatsmacht ist ja bereits die Krone der echten ArbeiterInnenregierung und hat das Übergangsstadium, wo der Staat von einer zur anderen Klasse übertragen wird, bereits hinter sich. Bestenfalls hat er hier (unfreiwillig?) die Fischer’sche These, ArbeiterInnenregierung könne nur ein populärer Ausdruck für die DdP sein, bestätigt. Der IV. WK hätte sich seine ganze Mühe sparen können! Allerdings stellten die Politik der loyalen Opposition ggü. einer Koalition aus SPD und offen bürgerlicher DDP (Deutsche Demokratische Partei, linksliberal) in Thüringen (diese wurde von der USPD sogar geduldet) sowie der Tolerierung (Duldung, Mehrheitsbeschaffung als Blankoscheck ohne Regierungseintritt der KPD) der SPD (Sachsen) bzw. SPD/USPD-Koalition (Thüringen) rechte Abweichungen von der korrekten taktischen Linie dar. Das Gleiche gilt für den Eintritt in die dortigen Landesregierungen und ihre Bezeichnung als (echte) ArbeiterInnenregierung.

(6) a. a. O., S. 22.

(7) Dahl-Arnold geht auch auf den Umgang mit der revolutionären deutschen Situation durch KPD und KI ein. Die KI wurde erst nach dem Antifaschistentag Ende Juli – viel zu spät – hellhörig. Er schildert auch interessante Details zur Rolle Sinowjews und Trotzkis. Sein Urteil, dem wir uns anschließen, lautet: „Zu spät, und dann der bereits rückläufigen revolutionären Welle nicht angepasst. Reagierte nicht nur die KPD-Führung, sondern auch die Komintern-Führung mechanisch auf die deutsche Entwicklung.“ A. a. O., S. 23.

(8) Siehe dazu: a. a. O., S. 24 f. Dahl-Arnold spricht von einer „vollständigen Überschätzung des bisher erreichten kommunistischen Einflusses“. Trotzkis Verteidigung des Eintritts in die sächsische und thüringische Landesregierung hält er für falsch, was er jedoch nicht seiner Konzeption, sondern seiner verfehlten Einschätzung der Lage dort anlastet.

(9) Im August 1923 präzisierte Trotzki seine Position zur Aufstandsfrage im Oktober 1923 in Deutschland dahingehend, dass er nicht die Absage des Aufstands im Oktober für falsch hielt. Die verpassten Chancen lagen viel früher, v. a. im August (Streik gegen die Cuno-Regierung). Notes sur les conversations entre Trotsky et Walcher. Arbeterrörelsen Arkiv, Stockholm; Trotsky, Léon: Oeuvres 2, S. 91–110. Zur Einschätzung in Trotzkis „Lehren des Oktober“ (Berlin 1925, Reprint) siehe: Dahl-Arnold, a. a. O., S. 113, Anm. 166.

(10) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 31 f.

(11) Dieser Artikel lag den Delegierten der 13. Parteikonferenz der RKP erst Mitte Januar 1924 vor. Siehe Trotzki, Leo: Der Neue Kurs (Dezember 1923 – Januar 1924), Kapitel V. In: Schriften 3, Band 3.1. Linke Opposition und IV. Internationale 1923–1926 (Hrsg. Dahmer, Helmut u. a.). Hamburg 1997, S. 209–314. Laut Dahl-Arnold (a. a. O.) scheint die englische Übersetzung gegenüber der deutschen Ausgabe (Trotzki, Leo: Der Neue Kurs, Berlin/West 1972 [Intarlit]) präziser zu sein (ders.: Challenge of the Left Opposition 1923–1925. New York 1975).

(12) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 33. Die Analogie zu den russischen Julitagen galt vollständig für die „Märzaktion“ 1921 im Mansfelder Revier (heute: Sachsen-Anhalt), wo die KPD ganz anders als knapp vier Jahre zuvor sich in einen abenteuerlichen Aufstandsversuch hineinziehen ließ. Für den Oktober 1923 hinkt sie jedoch; hier handelte es sich nicht um einen spontanen, unverantwortlichen Aufstand. Dahl-Arnold ist in der Sache aber vollständig recht zu geben. Die Paralyse der KPD zeigte sich im Fehlen eines Planes B, den er durchaus zutreffend skizziert. Ihr Repertoire bestand im Oktober 1923 nur aus den Alternativen Absage oder Durchführung eines Aufstandes, was die Komplexität der Situation inadäquat widerspiegelte. Um die Bedingungen für einen siegreichen Aufstand zu verbessern, musste man dem Hauptelement der gegebenen Situation Rechnung tragen und das konnte nur heißen: ArbeiterInneneinheitsfront – durchaus nicht nur in Sachsen und Thüringen – gegen einen drohenden Militärputsch, Bonapartismus im ganzen Reich. General von Seeckt war kein deutscher Mussolini, sondern ein preußischer Kornilow. Eine analog zu der der Bolschewiki während der Kornilowiade im August 1917 durchgeführte Einheitsfrontpolitik hätte sich als Schlüssel für den Sieg des deutschen Kommunismus erweisen können, als welche sie sich in Russland erwies. Sie war der einzige Weg aus der Sackgasse und die wahre, vollständige Analogie zur Russischen Revolution!

(13) Trotsky, Leon: The first five years of the Communist International, 2 Bände. New York 1972.

(14) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 35 f.

(15) Trotzki, Leo: Faschismus und Reformismus, in: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 2, S. 721 sowie ders.: Aussichten der Weltentwicklung, in: Wohin treibt England? – Europa und Amerika. Berlin/West 1972. Werk 2, S. 17.

(16) Dahl-Arnold, a. a. O., S. 39.

(17) Mandel betont, dass nur bestimmte Formen des Kapitalismus angegriffen werden wie „Zinsknechtschaft“, Warenhäuser, „raffendes“ im Gegensatz zu „schaffendem“ Kapital. Wir würden „jüdisches“ Kapital hinzufügen. Privateigentum als solches oder Unternehmerherrschaft im Betrieb wird nicht attackiert.

Mandel, Ernest: Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 1. Frankfurt am Main 1971, S. 24, Anm. 21.

(18) Mandel, Ernest: Einleitung. Trotzkis Faschismustheorie. In: Leo Trotzki – Schriften über Deutschland (SüD; Hrsg: Dahmer, Helmut), Band 1. Frankfurt am Main 1971, a. a. O., S. 21–26.

(19) Allerdings bedeutet das nicht, dass er Fehlurteilen entgangen wäre oder schwankende Einschätzungen vermieden hätte. Dahl-Arnold weist darauf hin, dass Trotzki auf seine Fehleinschätzung der von Seeckt-Diktatur 1923–24 nicht mehr eingegangen sei (a. a. O., S. 59) und stellt dies in Zusammenhang mit dem Ausbleiben einer systematischen Diskussion innerhalb der Internationalen Linken Opposition (ILO, Vorläuferin der IV. Internationale) über die Niederlage der deutschen Revolution 1923. Trotzki hatte zu Anfang der 1920er Jahre in Nebenbemerkungen die Regime Zankows in Bulgarien sowie Horthys in Ungarn als faschistisch bezeichnet, ebenso 1926 die Militärdiktatur Pilsudskis. Über letzteres gab es einen Disput in der ILO. Ausführlich widerrufen hat Trotzki später seine frühere Charakterisierung der Regierungen Primo de Riveras in Spanien und Tschiang Kai Scheks in China als faschistische (a. a. O., S. 60 f.). Fraglich beim Pilsudski-Regime war auch, ob der Ausgangspunkt überhaupt richtig war, es unter einem präfaschistischen Gesichtspunkt zu diskutieren. Die Geschichte, nicht nur des Monopolkapitalismus, kennt bonapartistische Regime auch ohne diesen Kontext (Portugal, Spanien, Afrika, Asien, Lateinamerika).

Auch Trotzkis Bemerkung, der Sieg des Faschismus habe dazu geführt, dass sich das Finanzkapital aller Einrichtungen und Organe der Herrschaft, Verwaltung und Erziehung direkt und unmittelbar bemächtigt, kann als Widerspruch zur Argumentation der politischen Enteignung des Bürgertums verstanden werden (a. a. O., S. 117, Anm. 49).

(20) Spartacusbund/IKL: Faschismus – eine historisch-materialistische Analyse. Ergebnisse & Perspektiven, Theoretisches Organ von: Spartacusbund [BRD] – Internationale Kommunistische Liga [Österreich], Nr. 9, Frankfurt am Main Juni 1979, S. 7 f.

(21) a. a. O., S. 9.

(22) Zahlen bei Mandel, Ernest: Einleitung…A. a. O., S. 38–45.

(23) In: Das Argument 41 – Staat und Gesellschaft im Faschismus. Faschismus-Theorien (IV). 8. Jahrgang, Heft 6. Berlin/West 1966, S. 473–494.

(24) Mandel, Ernest: Einleitung…A. a. O., S. 40 f.

(25) a. a. O., S. 41, Anm. 52.

(26) Saage, Richard: Faschismustheorien. München 19772, S. 80 f.

(27) a. a. O., S. 68 f.

(28) a. a. O., S. 141.

(29) Mandel, Ernest: Einleitung…, a. a. O., S. 31 f., Anm. 32.

(30) a. a. O., S. 32 f.

(31) Spartacusbund/IKL: Faschismus, a. a. O., S. 27.

(32) Mandel, Einleitung…, a. a. O., S. 33 f. Mandel liefert noch einen wichtigen Gedanken bezüglich der Selbstentmachtung des Bürgertums: „Es wäre interessant, die tieferen Wurzeln dieses Zwangs zu untersuchen. Er liegt u. E. nicht nur in der Notwendigkeit, die Atomisierung der Arbeiterklasse durch Massenterror zu gewährleisten, wozu ein >>normaler<< Repressionsapparat nicht ausreicht, sondern auch in der Natur der auf Privateigentum an Produktionsmitteln errichteten Produktionsweise selbst, der immer ein Element der Konkurrenz anhaftet, und in der es den direkten Vertretern der Konzerne nur auf dem Umweg des Feilschens und der gegenseitigen Aussöhnung widerspruchsvoller Teilinteressen gelingen kann, zum Gesamtinteresse der Klasse (oder genauer: ihrer entscheidenden Schicht) vorzustoßen. Soll dieses Gesamtinteresse unmittelbar und zentralisiert, also ohne lange Besprechungen und schwierige Verhandlungen sich auswirken, dann muß die Interessenvertretung des Gesamtinteresses von der gleichzeitigen Verteidigung von Patikularinteressen getrennt werden, d. h.: dann muß die Personalunion der Großkonzerne und der politischen Führung aufgehoben werden. Deshalb die Neigung der bürgerlichen Gesellschaft zur politischen Selbstentmachtung in Krisenzeiten, in ihrer stürmischen Jugend ebenso wie in ihrem dekadenten Alter.“ (a. a. O., 33 f., Anm. 56) Mandel meint mit „Selbstentmachtung in ihrer stürmischen Jugend“ offensichtlich die Integration der monarchisch-absolutistischen Staatsmaschine in die bürgerliche Produktionsweise unter Zurückdrängung ihres feudalen Aspekts. Engels hat dies am Beispiel Bismarcks und der Verwandlung des junkerlich-feudalen Staatsapparats in den preußisch-deutschen bonapartistischen untersucht.

(33) Bauer, Otto: Der Faschismus. Aus: Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus. Bratislawa 1936. In: Abendroth, Wolfgang: Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. Frankfurt am Main 19742, S. 145–167.

(34) Nur in diesem Sinne muss die ArbeiterInnenbewegung die bürgerlich-parlamentarische Demokratie verteidigen, nicht als Selbstzweck. Innerhalb des Kapitalismus musste das jedoch den Eintritt für den Erhalt der vollen Bürgerrechte bedeuten. Trotzki geißelte die KPD-O, deren Führer Brandler und Thalheimer nur „für die demokratischen Rechte der Werktätigen: Versammlungs-, Vereinsrecht, Pressefreiheit, Koalitions- und Streikrecht“ ins Feld zogen: „Versammlungs- und Pressefreiheit nur für die Werktätigen ist nicht anders denkbar als unter der Diktatur des Proletariats…“ (Trotzki, Leo: Faschismus und demokratische Losungen. Prinkipo, 14. Juli 1933. In: SüD, Band 2, a. a. O., S. 601.

35 Bauer, Otto: Das Gleichgewicht der Klassenkräfte, in: Der Kampf 17, 1924, S. 57–67. Quelle zitiert nach Dahl-Arnold, a. a. O., S. 120, Anm. 87.

36 Dahl-Arnold, a. a. O., S. 57.

37 Spartacusbund/IKL: Faschismus…A. a. O., S. 20.

38 Siehe: a. a. O., S. 17–20; auch: Mandel, Ernest: Einleitung…, a. a. O., S. 35–36.

39 Trotzki, Leo: Der „4. August“ (Prinkipo, 4. Juni 1933). In: SüD, Band 2, a. a. O., S. 568.

40 Dahl-Arnold, a. a. O., S. 58.

41 Eine Variante davon stellte die Faschisierungsthese des Kommunistischen Bundes/Nord (KB/Nord) dar. Siehe die Polemik dagegen in: Spatacusbund/IKL, a. a. O., S. 52–58.

 




Organisierte Selbstverteidigung und antifaschistischer Kampf

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 50, November 2018

Der rassistische und faschistische Mob von Chemnitz und dessen Hetzjagden gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und Linke verdeutlichen, dass wir – und damit meinen wir die gesamte ArbeiterInnenbewegung, die sozial Unterdrückten und die Linke – die Frage der organisierten Gegenwehr diskutieren und praktisch in Angriff nehmen müssen. Ansonsten drohen uns die Rechten, seien es offene Nazis und militante RassistInnen, das rechtspopulistische AfD-Milieu, das sich zu „besorgten BürgerInnen“ stilisiert, und der repressiver werdende Staatsapparat immer weiter in die Defensive zu drängen.

Die Schaffung eines organisierten Selbstschutzes bildet dabei zwar nur einen, in letzter Instanz untergeordneten, Aspekt einer Gesamtstrategie. Aber sie ist zugleich ein unverzichtbares Element ebendieser Konzeption.

Wir werden uns in diesem Beitrag zuerst mit Einwänden beschäftigen, die in den letzten Tagen von Menschen erhoben wurden, die Faschismus und Rassismus entgegentreten wollen, und danach unsere Vorstellung organisierter Selbstverteidigung darlegen.

Erzeugt Gewalt nicht nur (noch mehr) Gewalt?

Viele Menschen, die von der brutalen Aggression der Rechten und deren offen zur Schau getragenen Gewalttätigkeit abgestoßen sind, befürchten, dass eine organisierte Gegenwehr von Seiten der Linken letztlich zur Reproduktion dieser Gewalttätigkeit führen würde. Wenn mit gleicher Münze zurückgezahlt würde, werde das berechtigte Anliegen von antifaschistischen und antirassistischen Kräften aufgrund ihrer gleichfalls gewalttätigen Praxis mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, so dass auch bei diesen Vernunft, Argument, Verständigung durch das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ ersetzt würden.

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass eine solche Gefahr besteht. Jede Aktionsform, jede Kampfmethode kann sich unter bestimmten Bedingungen verselbständigen und sogar in ihr Gegenteil verkehren. Natürlich gab es auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung oder von Befreiungsbewegungen immer wieder solche Fälle. Bestimmte Strategien (wie z. B. der Guerillaismus, aber auch die verselbstständige Aktion „militanter“ Kleingruppen, die niemandem rechenschaftspflichtig sind) tragen einen inhärent elitären und anti-proletarischen Charakter, weil diese unwillkürlich jeder realen Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse entzogen sind.

Das Problem der prinzipiellen Ablehnung der Gewalt der Unterdrückten – aktuell der von Rassismus und Faschismus bedrohten – besteht aber darin, dass aus einer möglichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit konstruiert wird. Die Frage, wer wo unter welchen Bedingungen Gewalt anwendet, wie Selbstverteidigungseinheiten, Milizen, bewaffnete Verbände einer unterdrückten Klasse oder Bevölkerungsgruppe mit deren politischen, gewerkschaftlichen, sozialen Strukturen verbunden sind – all das wird unerheblich, wenn Gewalt per se als die Ursache allen Übels betrachtet wird.

Die These, dass „Gewalt nur Gewalt erzeuge“, ist allenfalls im ersten Moment plausibel.

Klassengesellschaft

In Wirklichkeit verstellt sie jedoch den Blick auf deren gesellschaftliche Ursachen. Sie unterstellt, dass Gewalt von einzelnen Individuen erzeugt und daher auch durch die Einnahme einer bestimmten Haltung durch eine möglichst große Zahl einzelner, z. B. durch „bessere Erziehung“ und Aufklärung beendet, werden könne. Strukturelle, in den gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschriebene Gewalt, die unabhängig von der individuellen Einstellung existiert und die Gesellschaft prägt, gerät so aus dem Blick. Dabei beruht unsere gesamte, kapitalistische Gesellschaftsordnung auf der Ausbeutung der Klasse der LohnarbeiterInnen. Zur Verteidigung und Absicherung dieses Verhältnisses braucht es wie zur Durchsetzung jeder damit verwobenen Form gesellschaftlicher Unterdrückung (z. B. der von Frauen, LGBTIA*-Menschen, der Jugend, von nationaler wie rassistischer Unterdrückung) immer auch Gewalt. Diese nimmt auch „private“ Formen der Diskriminierung oder gar physischer Angriffe an. Vor allem tritt sie uns als verselbstständigte Institutionen, als Staats- und Repressionsapparat, gegenüber.

Nicht die Gewalt hat Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen, es sind vielmehr die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse, die zu ihrer Reproduktion und Verteidigung auch Gewalt erfordern. Historisch geht daher Entstehung der Klassengesellschaft wie auch der Frauenunterdrückung mit der Bildung des Staates einher. Die Wandlung der Staatsform (z. B. von der feudalen zur bürgerlichen) spiegelt dabei grundlegende Veränderungen der Klassenverhältnisse wider.

Da in der menschlichen Geschichte die Herrschenden nie freiwillig ihrer ökonomisch, gesellschaftlich und politisch privilegierten Stellung entsagt haben, müssen die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf gegen sie notwendigerweise auch deren Gewaltmonopol in Frage stellen. Sie müssen selbst Formen der Selbstverteidigung und vom Staat unabhängige Organisationen schaffen, die in gesellschaftlichen Krisensituationen zu Instrumenten für den revolutionären Sturz und die Errichtung der Macht der vormals Ausgebeuteten werden können. Ansonsten sind diese bis ans Ende der Geschichte zu einer Existenz als Unterdrückte, als LohnsklavInnen, verdammt.

Zweifellos trägt die Gewalt der Unterdrückten bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzung auch exzessive Züge einer Abrechnung mit besonders brutalen UnterdrückerInnen. Dies ist jedoch ein unvermeidlicher Aspekt aller Revolutionen, aller fortschrittlichen Umbrüche der Geschichte. Wer diese gänzlich ausschließen will, muss sich letztlich gegen die Umwälzung der Verhältnisse selbst wenden.

Der Pazifismus, die Doktrin des allseitigen „Gewaltverzichts“, erweist sich angesichts der Gewalt der Verhältnisse und des Aufstandes der Unterdrückten als leere Floskel. Sie muss entweder verworfen werden – oder aber sie endet bei der Verteidigung des Bestehenden, indem die Gewalt der Unterdrückten mit jener der UnterdrückerInnen gleichgesetzt wird.

Staat und Gewaltmonopol

Da die Gewaltmittel der Gesellschaft im Kapitalismus ohnedies im bürgerlichen Staat (Polizei, Militär, Geheimdienste, Justiz, Gefängnisse …) konzentriert und monopolisiert sind, erscheint die Selbstverteidigung der Unterdrückten oder deren gewaltsames Aufbegehren (Aufstand, Revolte, Revolution) in der bürgerlichen Ideologie als zusätzliche Gewalt, nicht als Mittel zur Beschränkung oder Überwindung der Gewalt der UnterdrückerInnen.

Das staatliche Gewaltmonopol wird als „natürlich“, „zivilisierend“ verklärt und als scheinbar über den gesellschaftlichen Konflikten stehende, „neutrale“ Kraft ideologisch gerechtfertigt. Daher tendieren PazifistInnen und „GewaltgegnerInnen“ im Zweifelsfall dazu, diese für das geringere Übel zu halten. In ihrer Vorstellung (aber auch in der von Liberalen und ReformistInnen) erscheint die Konzentration der Gewaltmittel im bürgerlichen Staat nicht als Mittel zur Herrschaftssicherung einer Minderheit über die Mehrheit, sondern als Mittel zur „Befriedung“ der Gesellschaft, zur Beschränkung legaler, gesellschaftlich sanktionierter Gewaltanwendung auf eine Gruppe eigens dazu legitimierter und spezialisierter Menschen.

Dieser Schein wird durch das für den Kapitalismus grundlegende Auseinanderfallen von Politik und Ökonomie, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zusätzlich befestigt. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint notwendigerweise als Vertragsverhältnis freier WarenbesitzerInnen, von KäuferIn und VerkäuferInnen von Arbeitskraft. Die Menschen treten einander nicht nur auf dem Arbeitsmarkt als formal gleiche gegenüber, sondern auch als gleiche Rechtspersonen, als BürgerInnen im öffentlichen Leben. Vor dem Gesetz erscheinen ArbeiterInnen und KapitalistInnen als gleich. Der Staat, der auch die allgemeine Reproduktion dieses Rechtsverhältnisses sichern muss, scheint also über den Klassen zu stehen.

Wenn in der bürgerlichen Ideologie – und somit auch in ihren pazifistischen und reformistischen Spielarten – der Klassencharakter des Staats verschwindet, so beruht dies nicht auf einer bewussten Täuschung, sondern dieser Schein wird durch die kapitalistischen Verhältnisse selbst hervorgebracht.

Auf diesem falschen Verständnis des Staates beruht aber auch die Position von vielen PazifistInnen und ReformistInnen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnenklasse, der MigrantInnen und Geflüchteten selbst im Kampf gegen die Nazis abzulehnen wäre. Durch den Aufbau von Selbstschutzeinheiten würden ihrer Logik zufolge noch mehr Menschen als die legal Befugten (Polizei, …) „militarisiert“. Damit würde die Gewalt nur zunehmen. Sofern sie sich nicht auf rein moralische Phrasen wie die Aufforderung zum „Gewaltverzicht“ aller zurückziehen, müssen sie nach dem Staat im Kampf gegen die Nazis rufen. Dessen staatliches Gewaltmonopol müsse wieder gefestigt und die Sicherheitskräfte müssten auf die „Demokratie“ verpflichtet werden, um so sicherzustellen, dass nicht noch mehr Menschen anfangen, die „Ordnung“ oder ihre eigenen Interessen auch mit Mitteln der Selbstverteidigung, also „gewaltsam“, durchzusetzen. Wenn schon die Gesellschaft nicht als Ganze friedlich sein kann, so die Logik, soll die legalisierte Gewalttätigkeit auf einzelne spezialisierte Personen, eben den Staatsapparat, beschränkt bleiben.

In Wirklichkeit ist das staatliche Gewaltmonopol (und zwar nicht nur die Polizei, die unmittelbaren Repressionsorgane, sondern auch Gerichte etc.) eine Fessel nicht nur für Linke, sondern auch für die ArbeiterInnenbewegung. So stellt jeder Streik, der über eine ritualisierte Form hinausgeht, auch die Frage nach der Verteidigung gegen Streikbruch. Gegen StreikbrecherInnen, die sich durch Worte allein nicht überzeugen lassen, bedarf es des Zwangs. Sie müssen an der Aufnahme der Arbeit gehindert werden. Die Verteidigung eines Arbeitskampfes gegen Streikbruch, Werkschutz, Polizei erfordert die Bildung von Streikposten, von „Selbstschutz“. Ab einer bestimmten Stufe der Eskalation – z. B. wenn FaschistInnen drohen, einen Streik oder eine Besetzung anzugreifen – stellt sich auch die Frage der Bewaffnung solcher Streikposten, die sich im Zuge der Auseinandersetzung zu einer ArbeiterInnenmiliz entwickeln können.

Wenn die Lohnabhängigen nicht in der Lage sind, auf drohende Gewalt von Rechten oder des Staates adäquat zu antworten, so sind sie zum Rückzug gezwungen. Das hatten wir z. B. bei den großen Streiks und Besetzungen der Raffinerien unter Sarkozy in Frankreich gesehen. Diese wurden besiegt, indem der damalige Präsident mit dem Ausnahmezustand und dem Einsatz des Militärs drohte. Die GewerkschaftsführerInnen und die Klasse insgesamt waren darauf nicht vorbereitet. Sie brachen ihre Aktionen ab. Um in dieser Situation dem Angriff der Regierung zu begegnen, hätten sie selbst den Konflikt weiter zuspitzen, also zum Generalstreik und zur Bildung von Selbstverteidigungsmilizen aufrufen müssen. Sie hätten das mit einer Agitation unter den SoldatInnen verbinden müssen, eigene Rätestrukturen zu bilden und den Einsatz gegen die Streikenden zu verweigern. Ein solcher Kurs wäre jedoch auf eine revolutionäre Zuspitzung hinausgelaufen, die die GewerkschaftsführerInnen vermeiden wollten. Stattdessen zogen sie die Niederlage vor. Die Klasse selbst hatte keine alternative politische Kraft hervorgebracht, die in dieser kritischen Lage die bestehende Führung hätte ersetzen können, da sie selbst auf die Konfrontation nicht vorbereitet wurde – und zwar auch nicht von den linken KritikerInnen der Bürokratie.

In der bürgerlichen Gesellschaft entscheidet, wie Marx im Kapital bei der Analyse des Kampfes um den Arbeitslohn herausarbeitet, zwischen widerstreitenden Rechtsansprüchen letztlich – die Gewalt. So war es auch in Frankreich. Wer daher „prinzipiellen“ Gewaltverzicht predigt, der schlägt der ausgebeuteten Klasse letztlich den Verzicht auf die Verteidigung ihrer Interessen bei allen wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen vor. Im Kampf gegen den Faschismus ist dies jedoch besonders fatal.

Faschismus, Staat und Gewalt

Der Faschismus und die gewalttätigen RassistInnen, die MigrantInnen, Unterkünfte, SupporterInnen, linke Strukturen angreifen, verfolgen mit dieser Gewalttätigkeit einen politischen Zweck. Sie wollen die Organisationen ihrer FeindInnen vernichten, zum Teil diese selbst (MigrantInnen, MuslimInnen, Linke) – und sie werden sich davon sicher nicht durch deren „Gewaltverzicht“ abhalten lassen. Der Faschismus organisiert für seine Ziele nicht nur besonders brutale, barbarisierte Menschen. Er präsentiert sich als besonders „radikal“, um dem KleinbürgerInnentum, dem Lumpenproletariat und politisch rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse das Gefühl der Stärke zu vermitteln. So treiben Nazis Menschen durch die Straße und terrorisieren sie auch, um so ihre AnhängerInnen zu binden. Die Verletzung, ja Tötung des Feindes wird zum Beleg der Überlegenheit in den Augen ihres Umfeldes, des Milieus, das der Faschismus ultra-reaktionär organisiert.

Daher müssen wir den Nazis und dem von ihnen organisierten Umfeld auch anders begegnen als „normalen“ reaktionären Kräften. Das grundlegende Ziel des Faschismus ist die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, die Ausschaltung aller Elemente der proletarischen Demokratie und die Reorganisation der Gesellschaft nach dem Modell der „Volksgemeinschaft“. Die faschistische Diktatur, ist sie einmal verwirklicht, entpuppt sich zwar von Beginn an nicht als Herrschaft des zum Volk stilisierten Kleinbürgertums, sondern als jene des Finanzkapitals – aber sie ist zugleich eine Herrschaft, die durch den erfolgreichen Terror gegen die ArbeiterInnenklasse, MigrantInnen, JüdInnen, ja selbst bürgerlich-demokratische Kräfte errichtet wurde.

Bis zu einem gewissen Grad durchbricht auch die reaktionäre Gewalt des Faschismus und militanter RassistInnen das staatliche Gewaltmonopol. Daher brechen Konflikte über den Umgang mit dem Faschismus oder auch mit rechts-populistischen Gruppierungen wie der AfD sowohl unter den bürgerlichen Parteien wie in der herrschenden Klasse selbst auf. Ein Teil möchte auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – also einer kapitalistischen Krise und verschärfter Konkurrenz – an den etablierten Formen der Herrschaftsausübung (parlamentarische Demokratie, Sozialpartnerschaft) festhalten, da diese über Jahre oder Jahrzehnte die ArbeiterInnenklasse gut integrierten, den sozialen Frieden wahrten, die Profite und die imperialistischen Gesamtinteressen sicherten.

Doch die Krisenhaftigkeit des Systems stellt in vielfacher Hinsicht auch diese „traditionelle“ Form der Herrschaft in Frage. Schon der Neo-Liberalismus hat sie über Jahre unterminiert. Ab einem bestimmten Punkt sehen sich auch größere Teile der herrschenden Klasse vor die Notwendigkeit gestellt, die gesellschaftliche und politische Ordnung neu zu organisieren. Dies nimmt aktuell die Form einer scheinbar außerhalb der bürgerlichen „Elite“ stehenden, kleinbürgerlich-populistischen Bewegung und auch faschistischer Kräfte an. Diese sind keineswegs bloß gedungene LakaiInnen des Großkapitals. Bis zu einem gewissen Grad braucht der Populismus wie auch der Faschismus einen Bewegungscharakter, der sich nationalistisch, rassistisch oder gar völkisch gegen MigrantInnen, die „Gutmenschen“ aus reformistischer ArbeiterInnenschaft, Liberalen und Grünen richtet wie auch gegen die „Elite“. Während es dem Rechts-Populismus letztlich um eine Verschiebung und einen Umbau der bestehenden staatlichen Institutionen und Herrschaft Richtung Autoritarismus und Bonapartismus geht, will der Faschismus noch gründlicher „aufräumen“, gleich die gesamte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen.

Es ist kein Zufall, dass Rassismus, Anti-Liberalismus und auch Anti-Semitismus immer wiederkehrende Ideologien dieser Bewegungen sind. Im Unterschied zu den Rechts-PopulistInnen geht es dem Faschismus jedoch nicht nur um eine Protestbewegung von „Empörten“, sondern um die Schaffung einer militanten Bewegung zur Zerschlagung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Gerade der gewalttätige „Bewegungscharakter“ kann sich in zugespitzten Krisen auch für die herrschende Klasse als nützlich erweisen. Der faschistische Mob, die zur einer reaktionären Kraft, zu einem Rammbock gegen die ArbeiterInnenbewegung zusammengeschweißten Nazis kommen aus denselben Wohngebieten, wo auch ArbeiterInnen, die Linken, MigrantInnen leben. Sie sind – anders als Polizei und Justiz – „normale BürgerInnen“. Sie arbeiten in Betrieben, betreiben Geschäfte – und errichten ihre Vorherrschaft über ein Wohngebiet durch Terror und Organisation „von unten“ (auch wenn sie natürlich, einmal zur Macht gekommen, diese Macht dem Monopolkapital überlassen müssen). Daher erweist sich der Faschismus an der Macht auch als eine weitaus tiefer gehende Diktatur als andere Formen.

Eine solche totalitäre Form bürgerlicher Herrschaft lässt sich ohne Gewalt und Terror nicht errichten. Der Faschismus (oder die Bedrohung, die er bedeutet) zeigt aber schlagkräftiger als alles andere, wie wenig hilfreich der Satz ist, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeuge.

Nehmen wir einmal an, wir würden auf jede Gewalt gegen den Faschismus verzichten. Was würde dann passieren? Weniger Gewalt? Wohl nicht. Die Gewalt der FaschistInnen würde uns nur ungebremst die Knochen brechen. Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Entweder wir nehmen mehr und mehr Gewalt einfach hin – oder wir appellieren an eine andere Institution, die den Faschismus scheinbar aufhalten kann: den bürgerlichen Staat. Dumm nur, dass dieser selbst in Zeiten der Krise mehr und mehr zu autoritären Formen greift, dass die bürgerliche Politik selbst dem Faschismus, Rassismus und Rechts-Populismus einen Nährboden liefert.

Verzichten die Linken und die ArbeiterInnenbewegung im Kampf gegen die Nazis auf organisierte Selbstverteidigung, dann bedeutet das, dass sie selbst entweder alle zu hoffnungsfrohen ChristInnen der ersten Stunde mutieren müssen, die dem Feind, nachdem er sie auf die linke Wange geschlagen hat, auch die rechte hinhalten – oder sie setzen auf die Polizei, die Geheimdienste, die bürgerlichen Parlamente und Regierungen im Kampf gegen rechts. Das heißt aber, sie müssten dann für eine Stärkung des repressiven Apparates eintreten, der gerade dabei ist, für die Interessen des deutschen Imperialismus aufzurüsten, das Mittelmeer zum Massengrab zu machen und Geflüchtete in Länder wie Afghanistan abzuschieben. Sie müssten also selbst der Bourgeoisie jene Waffen schmieden helfen, die sie morgen (oder schon heute) gegen Streiks, antirassistische Aktionen, gegen die BesetzerInnen im Hambacher Forst, gegen linke Demonstrationen einsetzt.

Der Appell an den bürgerlichen Staat und seine Stärkung im Kampf gegen den Faschismus erweist sich als doppelt falsch. Erstens unterstellt er dem bürgerlichen Staat wider eigene Erfahrung zu, ein verlässlicher Verbündeter im Kampf gegen rechts zu sein oder sein zu können. Dabei wird die historische Erfahrung ausgeblendet, dass die herrschende Klasse selbst in Krisensituationen auf den Faschismus zurückgreift, dass sie genötigt sein kann, ihn als letztes Mittel zu ihrer Herrschaftssicherung zu nutzen – und ihn daher in Reserve hält.

Zweitens bedeutet das falsche Vertrauen in den bürgerlichen Staat auch, dass sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in einen Zustand gesellschaftlicher Ohnmacht begeben und in diesem verharren. Während die Rechten trotz manchmal härterer, zumeist ohnedies verhaltener staatlicher Repression weiter ihre Bewegung aufbauen, ihre AnhängerInnen im Kampf auf der Straße, in der reaktionären Mobilisierung schulen und so deren Moral und Zuversicht heben, überlässt die Linke dem bürgerlichen Staat das Handeln. Sie verzichtet auf den Aufbau eigener Strukturen. Indem sie die Kampfmoral und das Selbstbewusstsein der eigenen UnterstützerInnen nicht heben kann, verstärkt sie auch die Passivität, Niedergeschlagenheit und den Fatalismus der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Diese werden zu reinen Objekten, die sich entweder von den Faschos und Rechten drangsalieren lassen oder auf rassistische, mit den Rechten oft sogar noch sympathisierende Bullen hoffen müssen. Wer auf den bürgerlichen Staat bei der Verteidigung gegen faschistische Gewalt vertraut, überlässt diesem unwillkürlich nicht nur das Heft des Handelns, er macht sich selbst letztlich von der „Initiative“ der herrschenden Klasse, deren „Schutz“ abhängig.

Der Verzicht auf Strukturen, die der faschistischen und rassistischen Gewalt entgegentreten können, ermutigt nur diese Gewalt. Sie bringt eine Konzentration der Gewalt auf einer Seite (nämlich der der Barbarei und Unterdrückung) hervor, während die Gegenkräfte immer ohnmächtiger werden und sich selbst so fühlen.

Während sich rechts eine militante Naziszene bildet und ein großes, wachsendes rechts-populistisches Milieu, befindet sich die ArbeiterInnenbewegung in einem Zustand der politischen Konfusion.

Ideologische Prägung der ArbeiterInnenklasse

Das ist selbst ein Resultat ihrer Einbindung in bürgerlichen Staat und kapitalistische Verhältnisse durch Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Die Linkspartei spielt keine viel bessere Rolle. Die ArbeiterInnenklasse und insbesondere die gewerkschaftlich organisierten KollegInnen wurden über Jahrzehnte im Geiste der Staatstreue und des Legalismus politisch geprägt. Auch in der DDR erzog die SED-Diktatur die „herrschende Klasse“ im Geiste des „sozialistischen“ Gehorsams und der Staatstreue.

Daher erscheint der großen Masse der ArbeiterInnenklasse – nicht nur ihrer bürokratischen Führung – die Selbstorganisation als etwas Fremdes, auch wenn es um die Abwehr eines faschistischen und rassistischen Mobs geht. Organisierte Selbstverteidigung trifft in der ArbeiterInnenklasse – zumal unter ihren Kernschichten und besser organisierten Teilen – auf eine Reihe von Vorbehalten, die selbst die jahrzehntelange sozialdemokratische Dominanz widerspiegeln. Während viele reformistisch geprägten Lohnabhängige gegen rechte Gefahr auf den Staat und seine OrdnungshüterInnen einerseits, sozialen Ausgleich und politische Bildung andererseits setzen, entspricht der Pazifismus eher einem kleinbürgerlich-studentischen und akademischen Milieu. Rechtes Gedankengut soll am besten „wegerzogen“ werden – und im Notfall muss eben doch die Polizei einschreiten.

Diese Ideologien lähmen die ArbeiterInnenklasse, die Jugend, MigrantInnen – alle, die gegen die Nazis Widerstand leisten wollen. Um in der Klasse, sei es in Betrieben, im Stadtteil, an Schulen und Unis Selbstverteidigungsstrukturen zu schaffen und einen effektiven Kampf gegen rechts zu führen, braucht es auch eine offene Diskussion über die aktuelle Situation, die rechte Gefahr und, wie sie gestoppt werden kann.

Nur wenn sich die ArbeiterInnenklasse selbst der Lage bewusst wird, kann sie auch für den Aufbau des Notwendigen gewonnen werden. Daher gilt es unbedingt, diese Diskussion offen und kontrovers zu führen. Der Diskussion mit dem Argument auszuweichen, dass die Forderung nach Selbstverteidigungsstrukturen abschrecke, kommt einer Vogel-Strauß-Politik gleich. Wenn die reformistischen und pazifistischen Vorurteile und Ideologien in der Klasse nicht offen kritisiert und überwunden werden, wird es immer zu wenige UnterstützerInnen eines kämpferischen, proletarischen Antifaschismus geben. Die Lohnabhängigen werden nie spontan ein korrektes, marxistisches Verständnis von Staat, Faschismus und Rassismus entwickeln können. Dazu bedarf es einer politischen Auseinandersetzung. Natürlich drängt die aktuelle Lage auch mehr Lohnabhängige und Jugendlich dazu, sich die Frage der Militanz, der Gegenwehr, ihrer Mittel und ihres Verhältnisses zu einer breiteren Bewegung zu stellen. Das bedeutet aber nur, dass revolutionäre KommunistInnen darauf eine Antwort geben müssen, eine Antwort, die letztlich nur der wissenschaftliche Sozialismus zu liefern vermag.

Die „radikale“ Linke in Deutschland drückt sich vor dieser Aufgabe. Ein Teil lässt die Frage der Selbstverteidigung und der dafür notwendigen Schritte geflissentlich außen vor oder erwähnt sie allenfalls in Nebensätzen. Andere wiederum reduzieren Antifaschismus auf die möglichst militante Konfrontation durch die „radikale“ Linke. So richtig es ist, die eigene Gruppe auf diese Konfrontation vorzubereiten und, wo es möglich ist, FaschistInnen zu stellen, so geht auch diese Strömung der eigentlichen Kernaufgabe aus dem Weg: die ArbeiterInnenklasse für den Kampf zu gewinnen, denn das erfordert, vor allem diese zu überzeugen, revolutionäres Bewusstsein konkret in die Klasse zu tragen. Die AnhängerInnen dieser Auffassung tendieren dazu, Antifaschismus zur „militanten“ StellvertreterInnenpolitik einer Kleingruppenmilitanz zu reduzieren, die von der Klasse selbst weitgehend isoliert bleibt.

Klassenkampf und Selbstverteidigung

Wenn wir von organisierter Selbstverteidigung oder Selbstschutz sprechen, so geht es uns um Selbstverteidigungsorgane der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in ihrer Gesamtheit. Kleine Gruppen, die sich selbst Fähigkeiten in diesem Bereich – im Wesentlichen zu ihrem eigenen Schutz – aneignen, können zwar in mancher Hinsicht beispielhaft und vorbildlich agieren, sie sind jedoch nicht einfach kleinere Ausgaben der organisierten Selbstverteidigung einer Klasse – weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht. Den Selbstschutz einer Kleingruppe damit zu verwechseln, würde einen schweren politischen Fehler bedeuten und kann leicht die Idee selbst diskreditieren.

Das hängt damit zusammen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen und eines Selbstschutzes in eine umfassendere Strategie des Kampfes gegen den Faschismus und militante Formen des Rassismus eingebettet sein muss.

Um den Aufstieg des Faschismus zu stoppen, müssen dessen gesellschaftliche Ursachen und sein Klassencharakter verstanden werden. Die aktuelle Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems treibt kleinbürgerliche Schichten in Richtung Rassismus, Populismus und Faschismus – allesamt Formen der politischen Organisierung und Formierung gesellschaftlicher Verzweiflung.

Damit die ArbeiterInnenklasse den heute noch am Beginn stehenden Faschismus, vor allem aber auch das Wachstum des Rechts-Populismus stoppen kann, braucht sie nicht nur eine Taktik und Kampfmethoden, den Nazis entgegenzutreten. Es bedarf auch des gemeinsamen Kampfes zur Umkehr der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre. Eine solche Einheitsfront oder Einheitsfronten müssten sich natürlich gegen den Rassismus der AfD wie auch gegen den staatlichen Rassismus wenden, für offene Grenzen und gleiche StaatsbürgerInnenrechte eintreten. Sie müssten zugleich um elementare soziale, politische und ökonomische Forderungen gebildet werden wie z. B. nach einem Mindestlohn von 12,50 Euro netto, Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche, entschädigungslose Enteignung der großen ImmobilienspekulantInnen und Kontrolle der Mietpreise durch MieterInnen und Gewerkschaften, Aufhebung aller Einschränkungen demokratischer Rechte, …

Daher schlagen wir auch eine Aktionskonferenz zum Kampf gegen die Angriffe der Regierung und des Kapitals vor. Nur wenn es der ArbeiterInnenklasse gelingt, eine Massenbewegung in den Betrieben und auf der Straße zu organisieren, die sich dem Rechtsruck, der Prekarisierung, weiteren Kürzungen entgegenstellt und in Deutschland wie auch europaweit gemeinsam für ihre Interessen kämpft, kann sie zu einem Pol der gesellschaftlichen Hoffnung werden und auch rückständigere LohnarbeiterInnen wieder anziehen.

Nur wenn die ArbeiterInnenbewegung selbst als eine gesellschaftliche Kraft in Erscheinung tritt, die für ihre eigenen Interessen kämpft, kann sie attraktiv für die rückständigeren und halb-proletarischen Teile der Klasse oder die unteren Schichten des KleinbürgerInnentums werden.

Eine solche Bewegung muss internationalistisch und anti-rassistisch sein. Sie muss Flüchtlinge, MigrantInnen als Teil ihrer Klasse begreifen und daher gegen jede staatlich kontrollierte, an den Verwertungsinteressen des Kapitals orientierte „gesteuerte“ Migration eintreten. Der Kampf für offene Grenzen, gegen alle Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen muss mit dem Kampf um gleiche Rechte – Arbeit, Wohnraum usw. – verbunden werden. Nur so kann die Einheit unserer Klasse hergestellt werden.

Internationalismus bedeutet, dass die Klasse den Kampf nicht auf eine nationale Ebene beschränkt, sondern europaweit, global führt. Anti-imperialistische Solidarität, Unterstützung von Befreiungsbewegungen und von ArbeiterInnenkämpfen in den vom deutschen Imperialismus ausgebeuteten Ländern sind unverzichtbare Bestandteile einer solchen Ausrichtung.

Als einen ersten Schritt bedeutet es, die unmittelbaren Schritte zum Selbstschutz, die Geflüchtete oder MigrantInnen gegen Abschiebungen, rassistische und faschistische Angriffe selbst ergreifen oder ergriffen haben, zu unterstützen und politisch zu verteidigen. So haben wir es mit elementaren Formen der Selbstverteidigung zu tun, wenn Flüchtlinge in Unterkünften oder Lagern eine Abschiebung durch den gemeinsamen Widerstand (in welcher Form auch immer) zu verhindern versuchen oder wenn sie sich kollektiv gegen Übergriffe wehren und die angreifenden RassistInnen oder FaschistInnen mit welchen Mitteln auch immer in die Flucht schlagen. Der bürgerlich-demokratische Staat, seine Polizei und Gerichte treten hier den Unterdrückten noch einmal als Gegner gegenüber, indem ihnen das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird. Daher schließt der Kampf für „Selbstschutz“ auch den gegen dessen Kriminalisierung und für die Unterstützung der unmittelbar Gefährdeten ein – was natürlich auch linke Zentren, Gewerkschaftshäuser und andere von FaschistInnen bedrohte Räume und Personen umfasst.

Entscheidend ist dabei, dass die Flüchtlinge und MigrantInnen nicht bloß als zu schützende Opfer, sondern vor allem als Subjekte gestärkt und unterstützt werden.

Zweifellos entspricht das heute nur der Vorstellung einer kleinen Minderheit innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und der Linken. Diese werden zur Zeit politisch von verschiedenen Spielarten des Reformismus, also bürgerlicher Reformpolitik, oder des Links-Populismus dominiert. Beide hoffen auf einen „verbesserten“ bürgerlichen Staat, auf staatliche Umverteilungspolitik und Bündnisse mit „vernünftigen“ UnternehmerInnen. Eine solche Strategie ist letztlich zum Scheitern verurteilt und kann nur darin enden, dass die „Linken“ an der Regierung Politik im Interesse des Kapitals und des Imperialismus machen.

Aber um eine Einheitsfront gegen die Rechten zu schaffen, die selbst über einen Massenanhang verfügt, ist es unerlässlich, die Mitglieder und AnhängerInnen von SPD, Linkspartei, links-populistischen Bewegungen und vor allem der Gewerkschaften für diesen Kampf zu gewinnen. Ohne diese Millionen Lohnabhängiger, Jugendlicher, Linker kann eine Massenkraft gegen rechts nicht geschaffen werden. Daher schlagen wir nicht nur diesen Menschen, sondern auch ihren Organisationen vor, gemeinsam gegen die FaschistInnen und RechtspopulistInnen, gegen den staatlichen Rassismus, gegen die Angriffe der Regierung und des Kapitals zu kämpfen – ohne die Kritik an ihrer Politik zu verschweigen.

Der Aufruf zu einer antifaschistischen Einheitsfront bedeutet jedoch nicht, mit ersten Schritten zu warten, bis eine oder alle großen Organisationen zugestimmt haben. Im Gegenteil. Da die kleinen Gruppen der radikalen Linken auf sich alleine gestellt allenfalls episodisch in der Lage sein werden, Massenorganisationen zur Aktion zu zwingen, sollten sie möglichst gemeinsam für eine solche Einheitsfront eintreten und den Druck auf die Massenorganisationen und deren Führungen erhöhen. Gleichzeitig sollten sie schon jetzt den Aufbau von Aktionsbündnissen in Angriff nehmen, ohne vorzugeben, dass ein Bündnis einiger dutzend oder hundert Kleingruppen schon eine ArbeiterInneneinheitsfront oder den proletarischen Selbstschutz darstellen würde, die notwendig sind, um den Faschismus zu schlagen.

Die Propaganda für die ArbeiterInneneinheitsfront und militanten, organisierten und massenhaften – d. h. von einer Bewegung selbst getragenen – Selbstschutz nimmt daher für KommunistInnen in der aktuellen Situation eine bedeutende Rolle ein. Sie müssen und sollten sich jedoch nicht darauf beschränken, sondern auch dort, wo sie dazu fähig sind, selbst die Initiative für den Aufbau einer Einheitsfront und von Selbstschutz auf lokaler Ebene ergreifen, um ein praktisch nachvollziehbares Beispiel zu geben. In jedem Fall sollten sie ihre Vorstellung offen propagieren. Wir wollen daher kurz verdeutlichen, was wir unter Selbstverteidigungsorganen verstehen und wie diese praktisch entwickelt werden können.

Wie kann Selbstschutz aufgebaut werden?

In einer Stadt oder einem Stadtteil sollten sich linke Gruppierungen, Organisationen der Unterdrückten, die Ortsgruppen von Parteien wie „Die Linke“ oder auch die SPD, GewerkschafterInnen, Betriebsräte, Vertrauensleute auf die Errichtung gemeinsamen Selbstschutzes oder von Selbstverteidigungsstrukturen verständigen. Von besonderer Bedeutung ist es dabei, die Masse der MigrantInnen anzusprechen und einzubeziehen. Alle, die bereit sind, daran mitzuwirken, sollten sich bei Demonstrationen und Aktionen zum Schutz gegen Provokationen oder Angriffe der Rechten koordinieren und diesen gemeinsam vorbereiten. Sie sollten dabei nicht nur die eigenen GenossInnen im Auge haben, sondern auch organisierend und strukturierend auf die gesamte Aktion wirken, indem sie die TeilnehmerInnen – z. B. zur Verhinderung eines Naziaufmarsches – selbst anleiten und ihnen helfen, effektiv als Masse zu wirken.

Für Geflüchtete, MigrantInnen oder linke AktivistInnen, die von Angriffen bedroht sind oder angegriffen werden, sollte es sichere Anlaufpunkte geben – z. B. Gewerkschaftshäuser, linke Parteibüros, aber auch Schulen, Unis, Nachbarschafts- oder Jugendzentren. Bei einer stärkeren Bewegung sollten Gewerkschaften, Betriebsräte oder Vertrauensleute auch auf betrieblicher Ebene durchzusetzen versuchen, dass Betriebe und Büros auch für von Rechten Bedrohte als Rückungspunkte geöffnet werden.

Manches davon mag noch weit entfernt erscheinen, anderes (sichere Räume) könnte in den meisten Städten sehr rasch verwirklicht werden.

Zu einem organisierten Selbstschutz würde auch gehören, dass Menschen, die bedroht sind, diesen auch jederzeit kontaktieren können und dieser dann über die beteiligten Organisationen oder Telefonketten aktiviert wird.

Dabei geht es nicht darum, kleine „Spezialeinheiten“ zu schaffen, sondern eine Struktur, in der möglichst viele – Linke, MigrantInnen, Flüchtlinge, GewerkschafterInnen, SchülerInnen, Studierende, … – als Aktive in den Selbstschutz einbezogen sind, auf den sie umgekehrt auch selbst zurückgreifen können.

Der Aufbau von Selbstschutzgruppen im Stadtteil, im Betrieb, an einer Schule oder Uni bedeutet aber nicht nur die Einbindung von Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und Unterdrückten, sondern auch eine aktive Einbindung einer ganzen Belegschaft oder Schulklasse. Arbeitsstätten, aber auch Schulen oder Universitäten sollten zu Zentren des organisierten Kampfes werden, zu antifaschistischen Stützpunkten. Die Betriebe nehmen dabei eine strategische Position ein, weil so das Gewicht der ArbeiterInnenklasse im Kampf nicht nur extrem gestärkt wird, sondern der Antifaschismus ginge zugleich auch mit einer enormen Steigerung der Selbstorganisierung und des Bewusstseins der Klasse einher. Doch auch an Schulen und Unis würde dies eine enorme Veränderung bedeuten.

Versammlungen, die offen über die Notwendigkeit antifaschistischen und antirassistischen organisierten Schutzes diskutieren und diesen auf den Weg bringen, sollten möglichst während der Arbeitszeit bzw. des Schulunterrichts stattfinden und von gewählten VertreterInnen der Beschäftigten, SchülerInnen oder Studierenden geleitet werden. Solche Treffen sollten sich nicht nur auf Fragen des Schutzes beschränken, sie müssten auch die politischen Aktionen gegen Rassismus, Sozialabbau, … besprechen. Jene, die sich führend und besonders aktiv am Selbstschutz beteiligen, müssten zugleich aber auch in die gewerkschaftliche oder politische Arbeit eingebunden werden.

Selbstschutz beinhaltet natürlich auch die Ausbildung in Selbstverteidigung. Diese sollte kostenlos und unter Kontrolle der Gewerkschaften sowie anderer ArbeiterInnen-, MigrantInnen- und Frauenorganisationen durchgeführt werden. Sie sollte sich nicht nur an schon Aktive wenden, sondern möglichst viele Menschen ansprechen.

Der organisierte Selbstschutz einer Massenbewegung wird immer auch gewisse Arbeitsteilung und Spezialisierung beinhalten, also auch Menschen hervorbringen, die sich eine besondere Expertise verschafft haben. Sicher werden auch Gruppen gebildet werden müssen, die Gebäude und Versammlungen schützen oder den FaschistInnen an vorderster Front entgegentreten. Das eigentliche Ziel besteht aber darin, eine möglichst große Masse zu befähigen, sich selbst besser physisch wehren zu können und bei Aktionen als Teil eines Kollektivs zu agieren. Der „Selbstschutz“ ist eine kollektive Aufgabe aller. Damit wird auch verhindert, dass kleine, spezialisierte Einheiten ein politisches Eigenleben entfalten können, das außerhalb der politischen Kontrolle durch die Beschäftigen, die ArbeiterInnen im Stadtteil, von Gewerkschaften oder einer revolutionären Partei steht.

Neben der Gefahr des Pazifismus und des Legalismus besteht nämlich auch die, dass sich kleine „antifaschistische“ Aktivitäten verselbstständigen und den kollektiven politischen Kampf der Klasse gegen den Faschismus durch einen quasi-militärischen kleiner, möglicherweise sogar sehr gut trainierter „Kampfgruppen“ ersetzen. Diese Taktik ist gerade auch deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie die gewaltsame Konfrontation fetischisiert. Sobald der Faschismus zu einer gesellschaftlichen Kraft wird, entpuppt sie sich als vollkommen nutzlos, ja kontraproduktiv. Dann kann der Zulauf zu den Rechten nur noch gestoppt werden, wenn die militante Auseinandersetzung, der antifaschistische Selbstschutz Teil einer breiten ArbeiterInneneinheitsfront ist, die sich nicht auf die gewaltsame Konfrontation beschränkt, sondern die mit dem gemeinsamen Kampf gegen die Auswirkungen der Krise und letztlich gegen den Kapitalismus verbunden wird.

In einer solchen Situation kann die ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Faschismus zu einem Mittel werden, das der Klasse ihre Stärke vor Augen führt, ihr zeigt, dass sie in der gemeinsamen Klassenaktion auch ein Anti-Krisen-Programm in ihrem Sinne erkämpfen kann, dass die Einheitsfront auch auf andere Gebiete ausgedehnt werden kann und muss – in letzter Instanz zum Kampf für eine ArbeiterInnenregierung und zum Sturz des Kapitalismus.

Auch deshalb ist es so wichtig, dass der Selbstschutz in Betrieben und den proletarischen Wohngebieten verankert ist, weil der Aufbau einer starken antifaschistischen oder antirassistischen Einheitsfront auch die Grundlage für den Aufbau weitergehender Formen der proletarischen Selbstorganisation – in zugespitzten Situationen letztlich von Räten und Milizen – bilden kann. Und genau das wollen wir.




Aktionen in Dresden: PEGIDA wird älter – noch rechter

Martin Eickhoff, Infomail 1027, 30. Oktober 2018

Am Sonntag, dem 21. Oktober, wollte PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) großspurig ihren 4. Geburtstag mit Zehntausenden feiern, um ein Zeichen gegen „Merkel“ und den „Islam“ zu setzen. Gekommen sind nicht mal 4000 Alt- und Neurechte auf den Dresdener Neumarkt, um dem Hetzer Michael Stürzenberger, gegen den nach der Kundgebung ein Verfahren wegen Volksverhetzung eingeleitet wurde, und dem fast kultisch verehrten „Lügen-Lutz“ zuzuhören. Auch der Deutschlandfunk stellte fest, dass die Ansammlung überwiegend aus älteren Männern über 50 bestand.

Auch wenn die Zahl der TeilnehmerInnen rückläufig war – die Thesen von PEGIDA werden immer extremer und auch die AfD unterstützt diese immer offensiver. So nahmen Bundestagsabgeordnete an der Kundgebung teil. Ebenso zeigen sich Neonaziparteien, wie z. B. der „Dritte Weg“, dort immer offensiver.

Gegenmobilisierung

Schön zu sehen war, dass erstmalig deutlich mehr Menschen auf den Straßen und Plätzen gegen PEGIDA unterwegs waren, darunter die Jugendorganisation Revolution und die Gruppe ArbeiterInnenmacht. Insgesamt nahmen gut 13.000 Menschen an den Demonstrationen und Kundgebungen von „Dresden Respekt“, „Hass statt Hetze“ und Tolerave (einem linken Rave-Projekt) teil, darunter die Linkspartei, aber auch VertreterInnen von CDU und SPD sowie der Dresdener FDP-Oberbürgermeister. Ein Demonstrationszug startete am Dresdener Hauptbahnhof, die anderen am Bahnhof Neustadt. Beide endeten mit einer gemeinsamen Abschlusskundgebung.

So positiv es war, dass dieses Jahr weit mehr Menschen an den Gegendemonstrationen teilnahmen als an der PEGIDA-Kundgebung, so politisch harmlos zeigten sich die „Proteste“. Versuche, PEGIDA selbst zu blockieren oder auch nur zu stören, unterblieben praktisch. Dafür bot die Kundgebung allen „DemokratInnen“ eine Bühne.

Angesichts der kommenden Landtagswahlen reihte sich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) diesmal in die Demonstration ein, erhielt wie andere bürgerliche PolitikerInnen Rederecht und schloss eine CDU-AfDKoalition nach den im Herbst 2019 stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen aus. Hierfür erhielt er von einem Beamten der Staatsregierung einen „Offenen Brief“, indem er dafür kritisiert wurde, dass er sich mit angeblichen „Linksextremisten“ verbünden würde. All das darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Teile der CDU weiter munter die Möglichkeit einer Koalition mit der AfD erwägen. Von einer „Wendung zu den Linksextremen“ kann erst recht keine Rede sein. Kretschmer wandte sich „natürlich“ gegen „jeden Extremismus“, steht unter anderem für eine rassistische Abschiebepolitik, Ausweitung der Polizeibefugnisse und behauptet weiter, dass es in Chemnitz keine Hetzjagd auf Geflüchtete gegeben habe.

In Wirklichkeit haben sich die OrganisatorInnen der Proteste von Kretschmer und der Landesregierung den Takt und die Inhalte der Kundgebung vorgeben lassen. So konnte der Ministerpräsident die Plattform nicht nur zu Selbstdarstellung nutzen – er sorgte auch gleich dafür, dass die Kundgebung politisch harmlos blieb und weitab von der von PEGIDA selbst stattfand. In dieser Hinsicht war die Veranstaltung ein Musterbeispiel für eine verfehlte Bündnispolitik, die vor allem der CDU und der Landesregierung hilft, sich politisch reinzuwaschen.

Im Kampf gegen Rassismus und Faschismus kann letztlich nur die Aktionseinheit der arbeitenden Bevölkerung und die Verbindung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus zum Erfolg führen. Leere Worthülsen eines Ministerpräsidenten, der am nächsten Tag mehr Abschiebungen, mehr Repression, mehr staatlichen Rassismus auf den Weg bringt, tragen dazu nicht nur nichts bei, sie machen den Kampf selbst unglaubwürdig – zumal wenn so auch gleich die Aktionsformen brav im Rahmen sächsischer Polizeianordnungen bleiben.

Widerstand gegen rechte HetzpredigerInnen ist notwendig. Dazu reicht es aber nicht, einmal im Jahr auf die Straße zu gehen. Antifaschismus und Antirassismus sind vielmehr Fragen des Klassenkampfes. Es geht ebenso darum, im Alltag, im Betrieb, an Schulen gegen rechte Parolen Stellung zu beziehen, rechtsextreme Thesen zu entlarven und für den Aufbau antirassistischer und antifaschistischer Aktionsbündnisse der Gewerkschaften, aller Parteien, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen, der rassistisch Unterdrückten und der Linken einzutreten.

REVOLUTION-Redebeitrag

Während Kretschmer wie selbstverständlich reden durfte, sollte der kommunistischen Jugendorganisation REVOLUTION ein Redebeitrag bei der Demonstration „Für ein solidarisches Dresden ohne Rassismus“ trotz gegenteiliger Absprache verweigert werden. Hinterrücks versuchten einige Akteure aus der hiesigen linken Szene einzelne OrganisatorInnen der Demo unter Druck zu setzen, uns nicht reden zu lassen. Wir konnten diesen Beitrag zwar gegen undemokratische Vorstöße anti-deutscher Gruppierungen durchsetzen – es zeigte sich aber auch, dass der Opportunismus gegenüber der Landesregierung mit Sektierertum gegen RevolutionärInnen und Anti-ImperialistInnen einhergeht.

Die Rede einer GenossIn konnte schließlich durchgesetzt und gehalten werden – und erhielt sehr großen Beifall. Das verdeutlicht, dass Jugendliche auch in Dresden offen für eine klassenkämpferische, internationalistische und revolutionäre Politik gewinnbar sind. Diese Jugendlichen und die ArbeiterInnenklasse gilt es zu organisieren – massenhaft und militant, damit Rassismus und Faschismus dort landen, wo sie hingehören: auf dem Müllhaufen der Geschichte.




Massenhaft und organisiert gegen Rassismus!

Rede der unabhängigen Jugendorganisation REVOLUTION auf der antirassistischen Demonstration „Für ein solidarisches Dresden ohne Rassismus“ gegen den vierten Jahrestag von PEGIDA, ArbeiterInnenmacht Infomail 1026, 22. Oktober 2018

Der Rechtsruck schreitet immer weiter voran und äußert sich auch in der Zunahme faschistischer Angriffe. Auf offener Straße werden Menschen mit Migrationshintergrund und Linke von Nazis gejagt, während die Polizei tatenlos dabei zuschaut. Anschläge auf Flüchtlingsheime oder beispielsweise türkische Imbisse sind mittlerweile zum Alltag geworden.

Selbst ein faschistischer Schlägertrupp, der mit Eisenstangen bewaffnet am 1. September in Chemnitz in ein jüdisches Restaurant stürmt und „Hau ab aus Deutschland, du Judensau!“ ruft, sorgt nur noch bei zu wenigen für die eigentlich nötige Empörung.

Doch dass der Rassismus so alltäglich geworden ist, dass die Gesellschaft schweigt, wenn auf den Straßen FaschistInnen Menschen jagen, ist nicht nur ein sächsisches Problem. Nein! Der Rechtsruck macht sich europa- und weltweit bemerkbar. Egal ob Front National in Frankreich, Trump in den USA, die Wahl eines halb-faschistischen Präsidenten in Brasilien oder die AfD in Deutschland. Sie alle erstarken und werden auch immer stärker, wenn wir nichts dagegen tun, wenn wir nicht geeint als linke Kräfte auf die Straße gehen und den Rechten massenhaft und organisiert entgegentreten.

Die Ursache für den gesellschaftlichen Rechtsruck liegt im Kapitalismus und in seinen immer wieder aufkommenden Krisen. Die Weltwirtschaftskrise 2007/08 zog neben sogenannten Sparmaßnahmen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales auch massive Entlassungen von Arbeitskräften in ganz Europa nach sich.

Löhne wurden gekürzt und Leih- und Teilzeitarbeit immens ausgeweitet, um die Profite der Konzerne zu sichern.

Vor allem dadurch ist das neoliberale Projekt EU in den letzten Jahren immer weiter zerbröckelt. Die herrschenden Regime haben die Krise auf den Rücken der ArbeiterInnenklasse und der Jugend abgewälzt, vor allem in den Ländern Südeuropas. Diese Politik hat die Menschen zu Recht wütend gemacht und von der EU und den bürgerlichen Parteien abgestoßen. Die Verelendung oder die Angst vor dem Abstieg und die offensichtliche Krise der kapitalistischen Europäischen Union haben aber gleichzeitig den Nährboden für rechte Parteien und ihren Nationalismus und Rassismus geschaffen. Der Austritt Großbritanniens aus der EU, der sogenannte Brexit, hat den Vormarsch nationalistischer Kräfte noch einmal in ganz Europa befeuert.

Die Auswirkungen dieser Politik haben auch in Deutschland dazu geführt, dass Menschen nach Lösungen für ihre miese Lage abseits der etablierten Parteien gesucht haben, und teilweise glauben sie, diese im Nationalismus und Rassismus gefunden zu haben.

Die pro-kapitalistischen Parteien reagierten auf das Aufkommen der AfD nicht mit Widerstand, sondern im Gegenteil, mit einer Anpassung an die rechte Rhetorik, aus der Angst heraus, WählerInnen zu verlieren. Mit mehreren drastischen Einschränkungen des Asylrechts wurden Forderungen der AfD von CDU/CSU und auch SPD aufgegriffen und umgesetzt. Selbst aus der Linkspartei wurden Stimmen nach einer Obergrenze für Geflüchtete laut. Der Rechtsruck vollzog sich also in allen Parteien und bestätigte die SympathisantInnen der AfD weiter.

Solange wir als linke Kräfte den zu Recht von den etablierten Parteien entfremdeten Menschen keine soziale, antikapitalistische Perspektive bieten und nicht geeint und entschlossen gegen den Rechtsruck aufstehen, werden diese Menschen weiterhin den plumpen Parolen der Rechten auf den Leim gehen.

Weder die Linkspartei noch die Gewerkschaften haben größere, bundesweite Mobilisierungskampagnen gegen rechts durchgeführt oder Bündnisstrukturen aufgebaut, die in der Lage gewesen wären, dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen. Vor allem aber haben sie sich nicht deutlich genug als antikapitalistisch kämpfende Kräfte von der bürgerlichen Politik abgegrenzt. Die AfD konnte sich deshalb als einzige ernsthafte Opposition inszenieren.

Was wir aber brauchen, um den Nährboden der Rechten für immer auszutrocknen, ist eine sozialistische Antwort auf die Krise des Kapitalismus. Wir treten für soziale Forderungen wie höhere Löhne und bessere Renten ein, bessere Bildung und einen wirksameren Kündigungsschutz – und zwar für alle Menschen.

Der Kampf gegen die Rechten und für Verbesserungen muss aber unbedingt immer mit dem Kampf gegen das kapitalistische System an sich verbunden werden. Statt ihn nur sozialer zu gestalten, müssen wir den Kapitalismus letztlich gemeinsam zerschlagen – in Deutschland, Europa und der ganzen Welt!

Vor allem die Jugend hat daran ein besonderes Interesse. Wir als Jugendliche bilden die dynamischste und oftmals auch die entschlossenste Kraft in der Gesellschaft. Uns ist es nicht egal, wer für unsere Zukunft die Macht in den Händen hält.

Wir lassen nicht zu, dass unsere FreundInnen auf der Straße angespuckt, beleidigt und angegriffen werden. Wir lassen nicht zu, dass Menschen zu Tausenden im Mittelmeer ertrinken und in Kriegs- und Krisengebiete abgeschoben werden. Und wir lassen nicht zu, dass rechte Parteien wie die AfD uns durch ihre noch neoliberalere Politik unsere Zukunft verbauen!

Darum müssen wir uns massenhaft organisieren. Es ist schön, dass so viele Menschen zur Demonstration gekommen sind, aber nur mit lauter Musik und ein paar Reden können wir die Rechten nicht stoppen.

Was wir brauchen, ist eine breite Bewegung, welche sich entschlossen PEGIDA und Co. entgegenstellt – hier auf der Straße, in den Schulen und Betrieben.

Lasst uns auch über den heutigen Tag hinaus gemeinsam gegen den Rechtsruck kämpfen! Werdet aktiv, organisiert euch, gründet antifaschistische und antirassistische Komitees an den Orten, wo ihr arbeitet, lernt und lebt! Lasst uns eine Bewegung aufbauen, die eine echte Alternative zur bestehenden kapitalistischen Ordnung aufzeigt und dieses System aus den Angeln heben!

Erst dann, wenn wir die Logik der Profitmaximierung zugunsten einer an den Bedürfnissen aller Menschen orientierten Produktion überwunden haben, können wir tatsächlich eine solidarische Gesellschaft ohne Rassismus erreichen.

Kampf dem Rassismus bedeutet Kampf dem Kapital!

One Solution: Revolution!




Einheitsfront gegen Rechte und Rassismus!

Redaktion, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Der beängstigende Aufstieg der AfD und die Politik der Bundesregierung setzen die Frage, wie der Rechtsruck gestoppt werden kann, auf die Tagesordnung. Angesichts der Tatsache, dass die AfD gegen alle „demokratischen Kräfte“ vorgehen will, scheint es naheliegend, dass sich alle Feinde der Rechten zusammenschließen zur „Einheit aller DemokratInnen“ gegen das größere Übel.

Diese Logik hat aber einen gewaltigen Pferdefuß. Ein Bündnis aller „DemokratInnen“ läuft letztlich auf ein Bündnis gesellschaftlicher Kräfte hinaus, die in gegensätzliche Richtungen ziehen. Die UnternehmerInnen und ihre Parteien treten für mehr Sozialabbau, bessere Profitbedingungen, mehr Militarismus und selektive Migration, also „gezielten“ Rassismus ein. Die Masse der Lohnabhängigen und Jugendlichen hat unabhängig von Pass, Geschlecht und Alter ziemlich die gegenteiligen Interessen. Wie also soll der Nährboden für die soziale Demagogie der AfD entzogen werden, wenn wir gegen sie ein „Bündnis“ bilden wollen, das gerade die sozialen Fragen, Imperialismus, Militarismus und staatlichen Rassismus ausklammert?

Schlimmer noch. Die sozialen und demokratischen Forderungen sollen wegen des gemeinsamen Feindes in den Hintergrund treten. Dabei sind es die zunehmende Konkurrenz und die Angriffe, die uns in zunehmend unsichere Arbeitsverhältnisse zwingen und die Angst vor dem sozialen Abstieg schüren. Die bürgerlichen DemokratInnen sind es, die mit ihrer rassistischen Asylpolitik dem rassistischen Mob auf der Straße zunehmende Zugeständnisse machen. Die Politik der Bundesregierung ist leider nicht nur erbärmlich, sondern vor allem reaktionär.

Unser Kampf gegen den Rechtsruck muss mit der sozialen Frage verbunden werden. Er muss die Frage rechtlicher, politischer und sozialer Gleichstellung aller in diesem Land Lebenden aufwerfen, also egal, ob geflüchtet oder hier geboren. Schlussendlich muss unser Antirassismus die Frage des Ursprungs des Rassismus im Kapitalismus aufgreifen.

Dafür können wir uns aus Angst vor einem Wolf nicht als blinde Schafe durch den anderen schützen lassen. Was wir brauchen, ist ein Bündnis aller Organisationen, Parteien und Gewerkschaften, die sich auf die ArbeiterInnenklasse, die MigrantInnen, die Unterdrückten stützen – eine Einheitsfront gegen den Rechtsruck.

Dazu schlagen wir eine Aktionskonferenz zum Kampf gegen Angriffe von Kapital und Kabinett, gegen Rassismus und Faschismus vor. Ein gemeinsamer Aktionsfahrplan bietet die Möglichkeit, aktuelle Kämpfe zu verbinden und die Defensive zu überwinden.




Organisierte Selbstverteidigung und antifaschistischer Kampf, Teil 2

Martin Suchanek, Infomail 1019, 11. September 2018

Im ersten Teil des Artikels haben wir uns mit der grundsätzlichen Notwendigkeit von Selbstverteidigung und der Legitimität der Gewalt von Ausgebeuteten und Unterdrückten befasst. Wir haben dabei auch verdeutlicht, wie wichtig diese Frage heute ist.

Während sich rechts eine militante Naziszene bildet und ein großes, wachsendes rechts-populistisches Milieu, befindet sich die ArbeiterInnenbewegung in einem Zustand der politischen Konfusion.

Ideologische Prägung der ArbeiterInnenklasse

Das ist selbst ein Resultat ihrer Einbindung in bürgerlichen Staat und kapitalistische Verhältnisse durch Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Die Linkspartei spielt keine viel bessere Rolle. Die ArbeiterInnenklasse und insbesondere die gewerkschaftlich organisierten KollegInnen wurden über Jahrzehnte im Geiste der Staatstreue und des Legalismus politisch geprägt. Auch in der DDR erzog die SED-Diktatur die „herrschende Klasse“ im Geiste des „sozialistischen“ Gehorsams und der Staatstreue.

Daher erscheint der großen Masse der ArbeiterInnenklasse – nicht nur ihrer bürokratischen Führung – die Selbstorganisation als etwas Fremdes, auch wenn es um die Abwehr eines faschistischen und rassistischen Mobs geht. Organisierte Selbstverteidigung trifft in der ArbeiterInnenklasse – zumal unter ihren Kernschichten und besser organisierten Teilen – auf eine Reihe von Vorbehalten, die selbst die jahrzehntelange sozialdemokratische Dominanz widerspiegeln. Während viele reformistisch geprägten Lohnabhängige gegen rechte Gefahr auf den Staat und seine OrdnungshüterInnen einerseits, sozialen Ausgleich und politische Bildung andererseits setzen, entspricht der Pazifismus eher einem kleinbürgerlich-studentischen und akademischen Milieu. Rechtes Gedankengut soll am besten „wegerzogen“ werden – und im Notfall muss eben doch die Polizei einschreiten.

Diese Ideologien lähmen die ArbeiterInnenklasse, die Jugend, MigrantInnen – alle, die gegen die Nazis Widerstand leisten wollen. Um in der Klasse, sei es in Betrieben, im Stadtteil, an Schulen und Unis Selbstverteidigungsstrukturen zu schaffen und einen effektiven Kampf gegen rechts zu führen, braucht es auch eine offene Diskussion über die aktuelle Situation, die rechte Gefahr und, wie sie gestoppt werden kann.

Nur wenn sich die ArbeiterInnenklasse selbst der Lage bewusst wird, kann sie auch für den Aufbau des Notwendigen gewonnen werden. Daher gilt es unbedingt, diese Diskussion offen und kontrovers zu führen. Der Diskussion mit dem Argument auszuweichen, dass die Forderung nach Selbstverteidigungsstrukturen abschrecke, kommt einer Vogel-Strauß-Politik gleich. Wenn die reformistischen und pazifistischen Vorurteile und Ideologien in der Klasse nicht offen kritisiert und überwunden werden, wird es immer zu wenige UnterstützerInnen eines kämpferischen, proletarischen Antifaschismus geben. Die Lohnabhängigen werden nie spontan ein korrektes, marxistisches Verständnis von Staat, Faschismus und Rassismus entwickeln können. Dazu bedarf es einer politischen Auseinandersetzung. Natürlich drängt die aktuelle Lage auch mehr Lohnabhängige und Jugendlich dazu, sich die Frage der Militanz, der Gegenwehr, ihrer Mittel und ihres Verhältnisses zu einer breiteren Bewegung zu stellen. Das bedeutet aber nur, dass revolutionäre KommunistInnen darauf eine Antwort geben müssen, eine Antwort, die letztlich nur der wissenschaftliche Sozialismus zu liefern vermag.

Die „radikale“ Linke in Deutschland drückt sich vor dieser Aufgabe. Ein Teil lässt die Frage der Selbstverteidigung und der dafür notwendigen Schritte geflissentlich außen vor oder erwähnt sie allenfalls in Nebensätzen. Andere wiederum reduzieren Antifaschismus auf die möglichst militante Konfrontation durch die „radikale“ Linke. So richtig es ist, die eigene Gruppe auf diese Konfrontation vorzubereiten und, wo es möglich ist, FaschistInnen zu stellen, so geht auch diese Strömung der eigentlichen Kernaufgabe aus dem Weg: die ArbeiterInnenklasse für den Kampf zu gewinnen, denn das erfordert, vor allem diese zu überzeugen, revolutionäres Bewusstsein konkret in die Klasse zu tragen. Die AnhängerInnen dieser Auffassung tendieren dazu, Antifaschismus zur „militanten“ StellvertreterInnenpolitik einer Kleingruppenmilitanz zu reduzieren, die von der Klasse selbst weitgehend isoliert bleibt.

Klassenkampf und Selbstverteidigung

Wenn wir von organisierter Selbstverteidigung oder Selbstschutz sprechen, so geht es uns um Selbstverteidigungsorgane der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten in ihrer Gesamtheit. Kleine Gruppen, die sich selbst Fähigkeiten in diesem Bereich – im Wesentlichen zu ihrem eigenen Schutz – aneignen, können zwar in mancher Hinsicht beispielhaft und vorbildlich agieren, sie sind jedoch nicht einfach kleinere Ausgaben der organisierten Selbstverteidigung einer Klasse – weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht. Den Selbstschutz einer Kleingruppe damit zu verwechseln, würde einen schweren politischen Fehler bedeuten und kann leicht die Idee selbst diskreditieren.

Das hängt damit zusammen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen und eines Selbstschutzes in eine umfassendere Strategie des Kampfes gegen den Faschismus und militante Formen des Rassismus eingebettet sein muss.

Um den Aufstieg des Faschismus zu stoppen, müssen dessen gesellschaftliche Ursachen und sein Klassencharakter verstanden werden. Die aktuelle Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems treibt kleinbürgerliche Schichten in Richtung Rassismus, Populismus und Faschismus – allesamt Formen der politischen Organisierung und Formierung gesellschaftlicher Verzweiflung.

Damit die ArbeiterInnenklasse den heute noch am Beginn stehenden Faschismus, vor allem aber auch das Wachstum des Rechts-Populismus stoppen kann, braucht sie nicht nur eine Taktik und Kampfmethoden, den Nazis entgegenzutreten. Es bedarf auch des gemeinsamen Kampfes zur Umkehr der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre. Eine solche Einheitsfront oder Einheitsfronten müssten sich natürlich gegen den Rassismus der AfD wie auch gegen den staatlichen Rassismus wenden, für offene Grenzen und gleiche StaatsbürgerInnenrechte eintreten. Sie müssten zugleich um elementare soziale, politische und ökonomische Forderungen gebildet werden wie z. B. nach einem Mindestlohn von 12,50 Euro netto, Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden/Woche, entschädigungslose Enteignung der großen ImmobilienspekulantInnen und Kontrolle der Mietpreise durch MieterInnen und Gewerkschaften, Aufhebung aller Einschränkungen demokratischer Rechte, …

Daher schlagen wir auch eine Aktionskonferenz zum Kampf gegen die Angriffe der Regierung und des Kapitals vor. Nur wenn es der ArbeiterInnenklasse gelingt, eine Massenbewegung in den Betrieben und auf der Straße zu organisieren, die sich dem Rechtsruck, der Prekarisierung, weiteren Kürzungen entgegenstellt und in Deutschland wie auch europaweit gemeinsam für ihre Interessen kämpft, kann sie zu einem Pol der gesellschaftlichen Hoffnung werden und auch rückständigere LohnarbeiterInnen wieder anziehen.

Nur wenn die ArbeiterInnenbewegung selbst als eine gesellschaftliche Kraft in Erscheinung tritt, die für ihre eigenen Interessen kämpft, kann sie attraktiv für die rückständigeren und halb-proletarischen Teile der Klasse oder die unteren Schichten des KleinbürgerInnentums werden.

Eine solche Bewegung muss internationalistisch und anti-rassistisch sein. Sie muss Flüchtlinge, MigrantInnen als Teil ihrer Klasse begreifen und daher gegen jede staatlich kontrollierte, an den Verwertungsinteressen des Kapitals orientierte „gesteuerte“ Migration eintreten. Der Kampf für offene Grenzen, gegen alle Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen muss mit dem Kampf um gleiche Rechte – Arbeit, Wohnraum usw. – verbunden werden. Nur so kann die Einheit unserer Klasse hergestellt werden.

Internationalismus bedeutet, dass die Klasse den Kampf nicht auf eine nationale Ebene beschränkt, sondern europaweit, global führt. Anti-imperialistische Solidarität, Unterstützung von Befreiungsbewegungen und von ArbeiterInnenkämpfen in den vom deutschen Imperialismus ausgebeuteten Ländern sind unverzichtbare Bestandteile einer solchen Ausrichtung.

Als einen ersten Schritt bedeutet es, die unmittelbaren Schritte zum Selbstschutz, die Geflüchtete oder MigrantInnen gegen Abschiebungen, rassistische und faschistische Angriffe selbst ergreifen oder ergriffen haben, zu unterstützen und politisch zu verteidigen. So haben wir es mit elementaren Formen der Selbstverteidigung zu tun, wenn Flüchtlinge in Unterkünften oder Lagern eine Abschiebung durch den gemeinsamen Widerstand (in welcher Form auch immer) zu verhindern versuchen oder wenn sie sich kollektiv gegen Übergriffe wehren und die angreifenden RassistInnen oder FaschistInnen mit welchen Mitteln auch immer in die Flucht schlagen. Der bürgerlich-demokratische Staat, seine Polizei und Gerichte treten hier den Unterdrückten noch einmal als Gegner gegenüber, indem ihnen das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird. Daher schließt der Kampf für „Selbstschutz“ auch den gegen dessen Kriminalisierung und für die Unterstützung der unmittelbar Gefährdeten ein – was natürlich auch linke Zentren, Gewerkschaftshäuser und andere von FaschistInnen bedrohte Räume und Personen umfasst.

Entscheidend ist dabei, dass die Flüchtlinge und MigrantInnen nicht bloß als zu schützende Opfer, sondern vor allem als Subjekte gestärkt und unterstützt werden.

Zweifellos entspricht das heute nur der Vorstellung einer kleinen Minderheit innerhalb der ArbeiterInnenbewegung und der Linken. Diese werden zur Zeit politisch von verschiedenen Spielarten des Reformismus, also bürgerlicher Reformpolitik, oder des Links-Populismus dominiert. Beide hoffen auf einen „verbesserten“ bürgerlichen Staat, auf staatliche Umverteilungspolitik und Bündnisse mit „vernünftigen“ UnternehmerInnen. Eine solche Strategie ist letztlich zum Scheitern verurteilt und kann nur darin enden, dass die „Linken“ an der Regierung Politik im Interesse des Kapitals und des Imperialismus machen.

Aber um eine Einheitsfront gegen die Rechten zu schaffen, die selbst über einen Massenanhang verfügt, ist es unerlässlich, die Mitglieder und AnhängerInnen von SPD, Linkspartei, links-populistischen Bewegungen und vor allem der Gewerkschaften für diesen Kampf zu gewinnen. Ohne diese Millionen Lohnabhängiger, Jugendlicher, Linker kann eine Massenkraft gegen rechts nicht geschaffen werden. Daher schlagen wir nicht nur diesen Menschen, sondern auch ihren Organisationen vor, gemeinsam gegen die FaschistInnen und RechtspopulistInnen, gegen den staatlichen Rassismus, gegen die Angriffe der Regierung und des Kapitals zu kämpfen – ohne die Kritik an ihrer Politik zu verschweigen.

Der Aufruf zu einer antifaschistischen Einheitsfront bedeutet jedoch nicht, mit ersten Schritten zu warten, bis eine oder alle großen Organisationen zugestimmt haben. Im Gegenteil. Da die kleinen Gruppen der radikalen Linken auf sich alleine gestellt allenfalls episodisch in der Lage sein werden, Massenorganisationen zur Aktion zu zwingen, sollten sie möglichst gemeinsam für eine solche Einheitsfront eintreten und den Druck auf die Massenorganisationen und deren Führungen erhöhen. Gleichzeitig sollten sie schon jetzt den Aufbau von Aktionsbündnissen in Angriff nehmen, ohne vorzugeben, dass ein Bündnis einiger dutzend oder hundert Kleingruppen schon eine ArbeiterInneneinheitsfront oder den proletarischen Selbstschutz darstellen würde, die notwendig sind, um den Faschismus zu schlagen.

Die Propaganda für die ArbeiterInneneinheitsfront und militanten, organisierten und massenhaften – d. h. von einer Bewegung selbst getragenen – Selbstschutz nimmt daher für KommunistInnen in der aktuellen Situation eine bedeutende Rolle ein. Sie müssen und sollten sich jedoch nicht darauf beschränken, sondern auch dort, wo sie dazu fähig sind, selbst die Initiative für den Aufbau einer Einheitsfront und von Selbstschutz auf lokaler Ebene ergreifen, um ein praktisch nachvollziehbares Beispiel zu geben. In jedem Fall sollten sie ihre Vorstellung offen propagieren. Wir wollen daher kurz verdeutlichen, was wir unter Selbstverteidigungsorganen verstehen und wie diese praktisch entwickelt werden können.

Wie kann Selbstschutz aufgebaut werden?

In einer Stadt oder einem Stadtteil sollten sich linke Gruppierungen, Organisationen der Unterdrückten, die Ortsgruppen von Parteien wie „Die Linke“ oder auch die SPD, GewerkschafterInnen, Betriebsräte, Vertrauensleute auf die Errichtung gemeinsamen Selbstschutzes oder von Selbstverteidigungsstrukturen verständigen. Von besonderer Bedeutung ist es dabei, die Masse der MigrantInnen anzusprechen und einzubeziehen. Alle, die bereit sind, daran mitzuwirken, sollten sich bei Demonstrationen und Aktionen zum Schutz gegen Provokationen oder Angriffe der Rechten koordinieren und diesen gemeinsam vorbereiten. Sie sollten dabei nicht nur die eigenen GenossInnen im Auge haben, sondern auch organisierend und strukturierend auf die gesamte Aktion wirken, indem sie die TeilnehmerInnen – z. B. zur Verhinderung eines Naziaufmarsches – selbst anleiten und ihnen helfen, effektiv als Masse zu wirken.

Für Geflüchtete, MigrantInnen oder linke AktivistInnen, die von Angriffen bedroht sind oder angegriffen werden, sollte es sichere Anlaufpunkte geben – z. B. Gewerkschaftshäuser, linke Parteibüros, aber auch Schulen, Unis, Nachbarschafts- oder Jugendzentren. Bei einer stärkeren Bewegung sollten Gewerkschaften, Betriebsräte oder Vertrauensleute auch auf betrieblicher Ebene durchzusetzen versuchen, dass Betriebe und Büros auch für von Rechten Bedrohte als Rückungspunkte geöffnet werden.

Manches davon mag noch weit entfernt erscheinen, anderes (sichere Räume) könnte in den meisten Städten sehr rasch verwirklicht werden.

Zu einem organisierten Selbstschutz würde auch gehören, dass Menschen, die bedroht sind, diesen auch jederzeit kontaktieren können und dieser dann über die beteiligten Organisationen oder Telefonketten aktiviert wird.

Dabei geht es nicht darum, kleine „Spezialeinheiten“ zu schaffen, sondern eine Struktur, in der möglichst viele – Linke, MigrantInnen, Flüchtlinge, GewerkschafterInnen, SchülerInnen, Studierende, … – als Aktive in den Selbstschutz einbezogen sind, auf den sie umgekehrt auch selbst zurückgreifen können.

Der Aufbau von Selbstschutzgruppen im Stadtteil, im Betrieb, an einer Schule oder Uni bedeutet aber nicht nur die Einbindung von Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und Unterdrückten, sondern auch eine aktive Einbindung einer ganzen Belegschaft oder Schulklasse. Arbeitsstätten, aber auch Schulen oder Universitäten sollten zu Zentren des organisierten Kampfes werden, zu antifaschistischen Stützpunkten. Die Betriebe nehmen dabei eine strategische Position ein, weil so das Gewicht der ArbeiterInnenklasse im Kampf nicht nur extrem gestärkt wird, sondern der Antifaschismus ginge zugleich auch mit einer enormen Steigerung der Selbstorganisierung und des Bewusstseins der Klasse einher. Doch auch an Schulen und Unis würde dies eine enorme Veränderung bedeuten.

Versammlungen, die offen über die Notwendigkeit antifaschistischen und antirassistischen organisierten Schutzes diskutieren und diesen auf den Weg bringen, sollten möglichst während der Arbeitszeit bzw. des Schulunterrichts stattfinden und von gewählten VertreterInnen der Beschäftigten, SchülerInnen oder Studierenden geleitet werden. Solche Treffen sollten sich nicht nur auf Fragen des Schutzes beschränken, sie müssten auch die politischen Aktionen gegen Rassismus, Sozialabbau, … besprechen. Jene, die sich führend und besonders aktiv am Selbstschutz beteiligen, müssten zugleich aber auch in die gewerkschaftliche oder politische Arbeit eingebunden werden.

Selbstschutz beinhaltet natürlich auch die Ausbildung in Selbstverteidigung. Diese sollte kostenlos und unter Kontrolle der Gewerkschaften sowie anderer ArbeiterInnen-, MigrantInnen- und Frauenorganisationen durchgeführt werden. Sie sollte sich nicht nur an schon Aktive wenden, sondern möglichst viele Menschen ansprechen.

Der organisierte Selbstschutz einer Massenbewegung wird immer auch gewisse Arbeitsteilung und Spezialisierung beinhalten, also auch Menschen hervorbringen, die sich eine besondere Expertise verschafft haben. Sicher werden auch Gruppen gebildet werden müssen, die Gebäude und Versammlungen schützen oder den FaschistInnen an vorderster Front entgegentreten. Das eigentliche Ziel besteht aber darin, eine möglichst große Masse zu befähigen, sich selbst besser physisch wehren zu können und bei Aktionen als Teil eines Kollektivs zu agieren. Der „Selbstschutz“ ist eine kollektive Aufgabe aller. Damit wird auch verhindert, dass kleine, spezialisierte Einheiten ein politisches Eigenleben entfalten können, das außerhalb der politischen Kontrolle durch die Beschäftigen, die ArbeiterInnen im Stadtteil, von Gewerkschaften oder einer revolutionären Partei steht.

Neben der Gefahr des Pazifismus und des Legalismus besteht nämlich auch die, dass sich kleine „antifaschistische“ Aktivitäten verselbstständigen und den kollektiven politischen Kampf der Klasse gegen den Faschismus durch einen quasi-militärischen kleiner, möglicherweise sogar sehr gut trainierter „Kampfgruppen“ ersetzen. Diese Taktik ist gerade auch deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie die gewaltsame Konfrontation fetischisiert. Sobald der Faschismus zu einer gesellschaftlichen Kraft wird, entpuppt sie sich als vollkommen nutzlos, ja kontraproduktiv. Dann kann der Zulauf zu den Rechten nur noch gestoppt werden, wenn die militante Auseinandersetzung, der antifaschistische Selbstschutz Teil einer breiten ArbeiterInneneinheitsfront ist, die sich nicht auf die gewaltsame Konfrontation beschränkt, sondern die mit dem gemeinsamen Kampf gegen die Auswirkungen der Krise und letztlich gegen den Kapitalismus verbunden wird.

In einer solchen Situation kann die ArbeiterInneneinheitsfront gegen den Faschismus zu einem Mittel werden, das der Klasse ihre Stärke vor Augen führt, ihr zeigt, dass sie in der gemeinsamen Klassenaktion auch ein Anti-Krisen-Programm in ihrem Sinne erkämpfen kann, dass die Einheitsfront auch auf andere Gebiete ausgedehnt werden kann und muss – in letzter Instanz zum Kampf für eine ArbeiterInnenregierung und zum Sturz des Kapitalismus.

Auch deshalb ist es so wichtig, dass der Selbstschutz in Betrieben und den proletarischen Wohngebieten verankert ist, weil der Aufbau einer starken antifaschistischen oder antirassistischen Einheitsfront auch die Grundlage für den Aufbau weitergehender Formen der proletarischen Selbstorganisation – in zugespitzten Situationen letztlich von Räten und Milizen – bilden kann. Und genau das wollen wir.




Organisierte Selbstverteidigung und antifaschistischer Kampf, Teil 1

Martin Suchanek, Infomail 1018, 6. September 2018

Der rassistische und faschistische Mob von Chemnitz und dessen Hetzjagden gegen Flüchtlinge, MigrantInnen und Linke verdeutlichen, dass wir – und damit meinen wir die gesamte ArbeiterInnenbewegung, die sozial Unterdrückten und die Linke – die Frage der organisierten Gegenwehr diskutieren und praktisch in Angriff nehmen müssen. Ansonsten drohen uns die Rechten, seien es offene Nazis und militante RassistInnen, das rechtspopulistische AfD-Milieu, das sich zu „besorgten BürgerInnen“ stilisiert, und der repressiver werdende Staatsapparat immer weiter in die Defensive zu drängen.

Die Schaffung eines organisierten Selbstschutzes bildet dabei zwar nur einen, in letzter Instanz untergeordneten, Aspekt einer Gesamtstrategie. Aber sie ist zugleich ein unverzichtbares Element ebendieser Konzeption.

Wir werden uns in diesem Beitrag zuerst mit Einwänden beschäftigen, die in den letzten Tagen von Menschen erhoben wurden, die Faschismus und Rassismus entgegentreten wollen, und danach unsere Vorstellung organisierter Selbstverteidigung darlegen.

Erzeugt Gewalt nicht nur (noch mehr) Gewalt?

Viele Menschen, die von der brutalen Aggression der Rechten und deren offen zur Schau getragenen Gewalttätigkeit abgestoßen sind, befürchten, dass eine organisierte Gegenwehr von Seiten der Linken letztlich zur Reproduktion dieser Gewalttätigkeit führen würde. Wenn mit gleicher Münze zurückgezahlt würde, werde das berechtigte Anliegen von antifaschistischen und antirassistischen Kräften aufgrund ihrer gleichfalls gewalttätigen Praxis mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, so dass auch bei diesen Vernunft, Argument, Verständigung durch das vermeintliche „Recht des Stärkeren“ ersetzt würden.

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass eine solche Gefahr besteht. Jede Aktionsform, jede Kampfmethode kann sich unter bestimmten Bedingungen verselbständigen und sogar in ihr Gegenteil verkehren. Natürlich gab es auch in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung oder von Befreiungsbewegungen immer wieder solche Fälle. Bestimmte Strategien (wie z. B. der Guerillaismus, aber auch die verselbstständige Aktion „militanter“ Kleingruppen, die niemandem rechenschaftspflichtig sind) tragen einen inhärent elitären und anti-proletarischen Charakter, weil diese unwillkürlich jeder realen Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse entzogen sind.

Das Problem der prinzipiellen Ablehnung der Gewalt der Unterdrückten – aktuell der von Rassismus und Faschismus bedrohten – besteht aber darin, dass aus einer möglichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit konstruiert wird. Die Frage, wer wo unter welchen Bedingungen Gewalt anwendet, wie Selbstverteidigungseinheiten, Milizen, bewaffnete Verbände einer unterdrückten Klasse oder Bevölkerungsgruppe mit deren politischen, gewerkschaftlichen, sozialen Strukturen verbunden sind – all das wird unerheblich, wenn Gewalt per se als die Ursache allen Übels betrachtet wird.

Die These, dass „Gewalt nur Gewalt erzeuge“, ist allenfalls im ersten Moment plausibel.

Klassengesellschaft

In Wirklichkeit verstellt sie jedoch den Blick auf deren gesellschaftliche Ursachen. Sie unterstellt, dass Gewalt von einzelnen Individuen erzeugt und daher auch durch die Einnahme einer bestimmten Haltung durch eine möglichst große Zahl einzelner, z. B. durch „bessere Erziehung“ und Aufklärung beendet, werden könne. Strukturelle, in den gesellschaftlichen Verhältnissen eingeschriebene Gewalt, die unabhängig von der individuellen Einstellung existiert und die Gesellschaft prägt, gerät so aus dem Blick. Dabei beruht unsere gesamte, kapitalistische Gesellschaftsordnung auf der Ausbeutung der Klasse der LohnarbeiterInnen. Zur Verteidigung und Absicherung dieses Verhältnisses braucht es wie zur Durchsetzung jeder damit verwobenen Form gesellschaftlicher Unterdrückung (z. B. der von Frauen, LGBTIA*-Menschen, der Jugend, von nationaler wie rassistischer Unterdrückung) immer auch Gewalt. Diese nimmt auch „private“ Formen der Diskriminierung oder gar physischer Angriffe an. Vor allem tritt sie uns als verselbstständigte Institutionen, als Staats- und Repressionsapparat, gegenüber.

Nicht die Gewalt hat Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen, es sind vielmehr die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse, die zu ihrer Reproduktion und Verteidigung auch Gewalt erfordern. Historisch geht daher Entstehung der Klassengesellschaft wie auch der Frauenunterdrückung mit der Bildung des Staates einher. Die Wandlung der Staatsform (z. B. von der feudalen zur bürgerlichen) spiegelt dabei grundlegende Veränderungen der Klassenverhältnisse wider.

Da in der menschlichen Geschichte die Herrschenden nie freiwillig ihrer ökonomisch, gesellschaftlich und politisch privilegierten Stellung entsagt haben, müssen die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Kampf gegen sie notwendigerweise auch deren Gewaltmonopol in Frage stellen. Sie müssen selbst Formen der Selbstverteidigung und vom Staat unabhängige Organisationen schaffen, die in gesellschaftlichen Krisensituationen zu Instrumenten für den revolutionären Sturz und die Errichtung der Macht der vormals Ausgebeuteten werden können. Ansonsten sind diese bis ans Ende der Geschichte zu einer Existenz als Unterdrückte, als LohnsklavInnen, verdammt.

Zweifellos trägt die Gewalt der Unterdrückten bei jeder großen gesellschaftlichen und politischen Umwälzung auch exzessive Züge einer Abrechnung mit besonders brutalen UnterdrückerInnen. Dies ist jedoch ein unvermeidlicher Aspekt aller Revolutionen, aller fortschrittlichen Umbrüche der Geschichte. Wer diese gänzlich ausschließen will, muss sich letztlich gegen die Umwälzung der Verhältnisse selbst wenden.

Der Pazifismus, die Doktrin des allseitigen „Gewaltverzichts“, erweist sich angesichts der Gewalt der Verhältnisse und des Aufstandes der Unterdrückten als leere Floskel. Sie muss entweder verworfen werden – oder aber sie endet bei der Verteidigung des Bestehenden, indem die Gewalt der Unterdrückten mit jener der UnterdrückerInnen gleichgesetzt wird.

Staat und Gewaltmonopol

Da die Gewaltmittel der Gesellschaft im Kapitalismus ohnedies im bürgerlichen Staat (Polizei, Militär, Geheimdienste, Justiz, Gefängnisse …) konzentriert und monopolisiert sind, erscheint die Selbstverteidigung der Unterdrückten oder deren gewaltsames Aufbegehren (Aufstand, Revolte, Revolution) in der bürgerlichen Ideologie als zusätzliche Gewalt, nicht als Mittel zur Beschränkung oder Überwindung der Gewalt der UnterdrückerInnen.

Das staatliche Gewaltmonopol wird als „natürlich“, „zivilisierend“ verklärt und als scheinbar über den gesellschaftlichen Konflikten stehende, „neutrale“ Kraft ideologisch gerechtfertigt. Daher tendieren PazifistInnen und „GewaltgegnerInnen“ im Zweifelsfall dazu, diese für das geringere Übel zu halten. In ihrer Vorstellung (aber auch in der von Liberalen und ReformistInnen) erscheint die Konzentration der Gewaltmittel im bürgerlichen Staat nicht als Mittel zur Herrschaftssicherung einer Minderheit über die Mehrheit, sondern als Mittel zur „Befriedung“ der Gesellschaft, zur Beschränkung legaler, gesellschaftlich sanktionierter Gewaltanwendung auf eine Gruppe eigens dazu legitimierter und spezialisierter Menschen.

Dieser Schein wird durch das für den Kapitalismus grundlegende Auseinanderfallen von Politik und Ökonomie, von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zusätzlich befestigt. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint notwendigerweise als Vertragsverhältnis freier WarenbesitzerInnen, von KäuferIn und VerkäuferInnen von Arbeitskraft. Die Menschen treten einander nicht nur auf dem Arbeitsmarkt als formal gleiche gegenüber, sondern auch als gleiche Rechtspersonen, als BürgerInnen im öffentlichen Leben. Vor dem Gesetz erscheinen ArbeiterInnen und KapitalistInnen als gleich. Der Staat, der auch die allgemeine Reproduktion dieses Rechtsverhältnisses sichern muss, scheint also über den Klassen zu stehen.

Wenn in der bürgerlichen Ideologie – und somit auch in ihren pazifistischen und reformistischen Spielarten – der Klassencharakter des Staats verschwindet, so beruht dies nicht auf einer bewussten Täuschung, sondern dieser Schein wird durch die kapitalistischen Verhältnisse selbst hervorgebracht.

Auf diesem falschen Verständnis des Staates beruht aber auch die Position von vielen PazifistInnen und ReformistInnen, dass der Aufbau von Selbstverteidigungsorganen der ArbeiterInnenklasse, der MigrantInnen und Geflüchteten selbst im Kampf gegen die Nazis abzulehnen wäre. Durch den Aufbau von Selbstschutzeinheiten würden ihrer Logik zufolge noch mehr Menschen als die legal Befugten (Polizei, …) „militarisiert“. Damit würde die Gewalt nur zunehmen. Sofern sie sich nicht auf rein moralische Phrasen wie die Aufforderung zum „Gewaltverzicht“ aller zurückziehen, müssen sie nach dem Staat im Kampf gegen die Nazis rufen. Dessen staatliches Gewaltmonopol müsse wieder gefestigt und die Sicherheitskräfte müssten auf die „Demokratie“ verpflichtet werden, um so sicherzustellen, dass nicht noch mehr Menschen anfangen, die „Ordnung“ oder ihre eigenen Interessen auch mit Mitteln der Selbstverteidigung, also „gewaltsam“, durchzusetzen. Wenn schon die Gesellschaft nicht als Ganze friedlich sein kann, so die Logik, soll die legalisierte Gewalttätigkeit auf einzelne spezialisierte Personen, eben den Staatsapparat, beschränkt bleiben.

In Wirklichkeit ist das staatliche Gewaltmonopol (und zwar nicht nur die Polizei, die unmittelbaren Repressionsorgane, sondern auch Gerichte etc.) eine Fessel nicht nur für Linke, sondern auch für die ArbeiterInnenbewegung. So stellt jeder Streik, der über eine ritualisierte Form hinausgeht, auch die Frage nach der Verteidigung gegen Streikbruch. Gegen StreikbrecherInnen, die sich durch Worte allein nicht überzeugen lassen, bedarf es des Zwangs. Sie müssen an der Aufnahme der Arbeit gehindert werden. Die Verteidigung eines Arbeitskampfes gegen Streikbruch, Werkschutz, Polizei erfordert die Bildung von Streikposten, von „Selbstschutz“. Ab einer bestimmten Stufe der Eskalation – z. B. wenn FaschistInnen drohen, einen Streik oder eine Besetzung anzugreifen – stellt sich auch die Frage der Bewaffnung solcher Streikposten, die sich im Zuge der Auseinandersetzung zu einer ArbeiterInnenmiliz entwickeln können.

Wenn die Lohnabhängigen nicht in der Lage sind, auf drohende Gewalt von Rechten oder des Staates adäquat zu antworten, so sind sie zum Rückzug gezwungen. Das hatten wir z. B. bei den großen Streiks und Besetzungen der Raffinerien unter Sarkozy in Frankreich gesehen. Diese wurden besiegt, indem der damalige Präsident mit dem Ausnahmezustand und dem Einsatz des Militärs drohte. Die GewerkschaftsführerInnen und die Klasse insgesamt waren darauf nicht vorbereitet. Sie brachen ihre Aktionen ab. Um in dieser Situation dem Angriff der Regierung zu begegnen, hätten sie selbst den Konflikt weiter zuspitzen, also zum Generalstreik und zur Bildung von Selbstverteidigungsmilizen aufrufen müssen. Sie hätten das mit einer Agitation unter den SoldatInnen verbinden müssen, eigene Rätestrukturen zu bilden und den Einsatz gegen die Streikenden zu verweigern. Ein solcher Kurs wäre jedoch auf eine revolutionäre Zuspitzung hinausgelaufen, die die GewerkschaftsführerInnen vermeiden wollten. Stattdessen zogen sie die Niederlage vor. Die Klasse selbst hatte keine alternative politische Kraft hervorgebracht, die in dieser kritischen Lage die bestehende Führung hätte ersetzen können, da sie selbst auf die Konfrontation nicht vorbereitet wurde – und zwar auch nicht von den linken KritikerInnen der Bürokratie.

In der bürgerlichen Gesellschaft entscheidet, wie Marx im Kapital bei der Analyse des Kampfes um den Arbeitslohn herausarbeitet, zwischen widerstreitenden Rechtsansprüchen letztlich – die Gewalt. So war es auch in Frankreich. Wer daher „prinzipiellen“ Gewaltverzicht predigt, der schlägt der ausgebeuteten Klasse letztlich den Verzicht auf die Verteidigung ihrer Interessen bei allen wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen vor. Im Kampf gegen den Faschismus ist dies jedoch besonders fatal.

Faschismus, Staat und Gewalt

Der Faschismus und die gewalttätigen RassistInnen, die MigrantInnen, Unterkünfte, SupporterInnen, linke Strukturen angreifen, verfolgen mit dieser Gewalttätigkeit einen politischen Zweck. Sie wollen die Organisationen ihrer FeindInnen vernichten, zum Teil diese selbst (MigrantInnen, MuslimInnen, Linke) – und sie werden sich davon sicher nicht durch deren „Gewaltverzicht“ abhalten lassen. Der Faschismus organisiert für seine Ziele nicht nur besonders brutale, barbarisierte Menschen. Er präsentiert sich als besonders „radikal“, um dem KleinbürgerInnentum, dem Lumpenproletariat und politisch rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse das Gefühl der Stärke zu vermitteln. So treiben Nazis Menschen durch die Straße und terrorisieren sie auch, um so ihre AnhängerInnen zu binden. Die Verletzung, ja Tötung des Feindes wird zum Beleg der Überlegenheit in den Augen ihres Umfeldes, des Milieus, das der Faschismus ultra-reaktionär organisiert.

Daher müssen wir den Nazis und dem von ihnen organisierten Umfeld auch anders begegnen als „normalen“ reaktionären Kräften. Das grundlegende Ziel des Faschismus ist die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, die Ausschaltung aller Elemente der proletarischen Demokratie und die Reorganisation der Gesellschaft nach dem Modell der „Volksgemeinschaft“. Die faschistische Diktatur, ist sie einmal verwirklicht, entpuppt sich zwar von Beginn an nicht als Herrschaft des zum Volk stilisierten Kleinbürgertums, sondern als jene des Finanzkapitals – aber sie ist zugleich eine Herrschaft, die durch den erfolgreichen Terror gegen die ArbeiterInnenklasse, MigrantInnen, JüdInnen, ja selbst bürgerlich-demokratische Kräfte errichtet wurde.

Bis zu einem gewissen Grad durchbricht auch die reaktionäre Gewalt des Faschismus und militanter RassistInnen das staatliche Gewaltmonopol. Daher brechen Konflikte über den Umgang mit dem Faschismus oder auch mit rechts-populistischen Gruppierungen wie der AfD sowohl unter den bürgerlichen Parteien wie in der herrschenden Klasse selbst auf. Ein Teil möchte auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – also einer kapitalistischen Krise und verschärfter Konkurrenz – an den etablierten Formen der Herrschaftsausübung (parlamentarische Demokratie, Sozialpartnerschaft) festhalten, da diese über Jahre oder Jahrzehnte die ArbeiterInnenklasse gut integrierten, den sozialen Frieden wahrten, die Profite und die imperialistischen Gesamtinteressen sicherten.

Doch die Krisenhaftigkeit des Systems stellt in vielfacher Hinsicht auch diese „traditionelle“ Form der Herrschaft in Frage. Schon der Neo-Liberalismus hat sie über Jahre unterminiert. Ab einem bestimmten Punkt sehen sich auch größere Teile der herrschenden Klasse vor die Notwendigkeit gestellt, die gesellschaftliche und politische Ordnung neu zu organisieren. Dies nimmt aktuell die Form einer scheinbar außerhalb der bürgerlichen „Elite“ stehenden, kleinbürgerlich-populistischen Bewegung und auch faschistischer Kräfte an. Diese sind keineswegs bloß gedungene LakaiInnen des Großkapitals. Bis zu einem gewissen Grad braucht der Populismus wie auch der Faschismus einen Bewegungscharakter, der sich nationalistisch, rassistisch oder gar völkisch gegen MigrantInnen, die „Gutmenschen“ aus reformistischer ArbeiterInnenschaft, Liberalen und Grünen richtet wie auch gegen die „Elite“. Während es dem Rechts-Populismus letztlich um eine Verschiebung und einen Umbau der bestehenden staatlichen Institutionen und Herrschaft Richtung Autoritarismus und Bonapartismus geht, will der Faschismus noch gründlicher „aufräumen“, gleich die gesamte ArbeiterInnenbewegung zerschlagen.

Es ist kein Zufall, dass Rassismus, Anti-Liberalismus und auch Anti-Semitismus immer wiederkehrende Ideologien dieser Bewegungen sind. Im Unterschied zu den Rechts-PopulistInnen geht es dem Faschismus jedoch nicht nur um eine Protestbewegung von „Empörten“, sondern um die Schaffung einer militanten Bewegung zur Zerschlagung der Organisationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Gerade der gewalttätige „Bewegungscharakter“ kann sich in zugespitzten Krisen auch für die herrschende Klasse als nützlich erweisen. Der faschistische Mob, die zur einer reaktionären Kraft, zu einem Rammbock gegen die ArbeiterInnenbewegung zusammengeschweißten Nazis kommen aus denselben Wohngebieten, wo auch ArbeiterInnen, die Linken, MigrantInnen leben. Sie sind – anders als Polizei und Justiz – „normale BürgerInnen“. Sie arbeiten in Betrieben, betreiben Geschäfte – und errichten ihre Vorherrschaft über ein Wohngebiet durch Terror und Organisation „von unten“ (auch wenn sie natürlich, einmal zur Macht gekommen, diese Macht dem Monopolkapital überlassen müssen). Daher erweist sich der Faschismus an der Macht auch als eine weitaus tiefer gehende Diktatur als andere Formen.

Eine solche totalitäre Form bürgerlicher Herrschaft lässt sich ohne Gewalt und Terror nicht errichten. Der Faschismus (oder die Bedrohung, die er bedeutet) zeigt aber schlagkräftiger als alles andere, wie wenig hilfreich der Satz ist, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeuge.

Nehmen wir einmal an, wir würden auf jede Gewalt gegen den Faschismus verzichten. Was würde dann passieren? Weniger Gewalt? Wohl nicht. Die Gewalt der FaschistInnen würde uns nur ungebremst die Knochen brechen. Es bleiben also zwei Möglichkeiten. Entweder wir nehmen mehr und mehr Gewalt einfach hin – oder wir appellieren an eine andere Institution, die den Faschismus scheinbar aufhalten kann: den bürgerlichen Staat. Dumm nur, dass dieser selbst in Zeiten der Krise mehr und mehr zu autoritären Formen greift, dass die bürgerliche Politik selbst dem Faschismus, Rassismus und Rechts-Populismus einen Nährboden liefert.

Verzichten die Linken und die ArbeiterInnenbewegung im Kampf gegen die Nazis auf organisierte Selbstverteidigung, dann bedeutet das, dass sie selbst entweder alle zu hoffnungsfrohen ChristInnen der ersten Stunde mutieren müssen, die dem Feind, nachdem er sie auf die linke Wange geschlagen hat, auch die rechte hinhalten – oder sie setzen auf die Polizei, die Geheimdienste, die bürgerlichen Parlamente und Regierungen im Kampf gegen rechts. Das heißt aber, sie müssten dann für eine Stärkung des repressiven Apparates eintreten, der gerade dabei ist, für die Interessen des deutschen Imperialismus aufzurüsten, das Mittelmeer zum Massengrab zu machen und Geflüchtete in Länder wie Afghanistan abzuschieben. Sie müssten also selbst der Bourgeoisie jene Waffen schmieden helfen, die sie morgen (oder schon heute) gegen Streiks, antirassistische Aktionen, gegen die BesetzerInnen im Hambacher Forst, gegen linke Demonstrationen einsetzt.

Der Appell an den bürgerlichen Staat und seine Stärkung im Kampf gegen den Faschismus erweist sich als doppelt falsch. Erstens unterstellt er dem bürgerlichen Staat wider eigene Erfahrung zu, ein verlässlicher Verbündeter im Kampf gegen rechts zu sein oder sein zu können. Dabei wird die historische Erfahrung ausgeblendet, dass die herrschende Klasse selbst in Krisensituationen auf den Faschismus zurückgreift, dass sie genötigt sein kann, ihn als letztes Mittel zu ihrer Herrschaftssicherung zu nutzen – und ihn daher in Reserve hält.

Zweitens bedeutet das falsche Vertrauen in den bürgerlichen Staat auch, dass sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in einen Zustand gesellschaftlicher Ohnmacht begeben und in diesem verharren. Während die Rechten trotz manchmal härterer, zumeist ohnedies verhaltener staatlicher Repression weiter ihre Bewegung aufbauen, ihre AnhängerInnen im Kampf auf der Straße, in der reaktionären Mobilisierung schulen und so deren Moral und Zuversicht heben, überlässt die Linke dem bürgerlichen Staat das Handeln. Sie verzichtet auf den Aufbau eigener Strukturen. Indem sie die Kampfmoral und das Selbstbewusstsein der eigenen UnterstützerInnen nicht heben kann, verstärkt sie auch die Passivität, Niedergeschlagenheit und den Fatalismus der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten. Diese werden zu reinen Objekten, die sich entweder von den Faschos und Rechten drangsalieren lassen oder auf rassistische, mit den Rechten oft sogar noch sympathisierende Bullen hoffen müssen. Wer auf den bürgerlichen Staat bei der Verteidigung gegen faschistische Gewalt vertraut, überlässt diesem unwillkürlich nicht nur das Heft des Handelns, er macht sich selbst letztlich von der „Initiative“ der herrschenden Klasse, deren „Schutz“ abhängig.

Der Verzicht auf Strukturen, die der faschistischen und rassistischen Gewalt entgegentreten können, ermutigt nur diese Gewalt. Sie bringt eine Konzentration der Gewalt auf einer Seite (nämlich der der Barbarei und Unterdrückung) hervor, während die Gegenkräfte immer ohnmächtiger werden und sich selbst so fühlen.

 

Im zweiten Teil des Artikels werden wir uns mit der Frage beschäftigen, welchen Selbstschutz wir brauchen und wie dessen Aufbau in ein Strategie zur Bekämpfung des Faschismus eingebettet ist.

 




Antifaschistischer Protest in Chemnitz – ein erster Schritt auf einem langen Weg

Georg Ismael, Infomail 1017, 2. September 2018

Am Samstag, dem 1. September 2018, wollten die Rechten erneut in Chemnitz aufmarschieren. Die AfD-Landesverbände Sachsen, Thüringen und Brandenburg, die „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“ (PRO CHEMNITZ), Pegida und die gesamte Fascho-Szene um Gruppierungen wie den „Dritten Weg“ versuchten erneut, den Tod des Antirassisten Daniel H. für sich zu instrumentalisieren. Seit einer Woche verbreiten sie dreiste Lügen und versuchen den Umstand, dass ein Iraker und ein Syrer der Tat beschuldigt werden, zur rassistischen Hetze. Bereits am Sonntag, dem 26. August, mobilisierten die FaschistInnen mit freundschaftlicher Unterstützung der AfD einen rassistischen Mob, der MigrantInnen verfolgte. Am Montag, dem 27. August, organisierten sie eine Demonstration, auf der nationalsozialistische Parolen ertönten, der Hitler-Gruß demonstrativ gezeigt wurde, und die in Hetzjagden auf Flüchtlinge, MigrantInnen und Linke in Chemnitz endete.

In der gesamten Bundesrepublik gab es daraufhin kurzfristige und spontane antifaschistische Mobilisierungen, die beispielsweise in Berlin 10.000 TeilnehmerInnen auf die Straße brachten. Doch unter der Woche behielten die FaschistInnen in Chemnitz die Oberhand, die in der Region auf starke Strukturen und eine enge Verbindung in die Hooligan-Szene der Fußballvereine hinein zurückgreifen können.

An diesem Wochenende wollten die Rechten eine weitere Demonstration ihrer Stärke abliefern. PRO CHEMNITZ hatte eine Kundgebung angemeldet, die AfD einen „Trauermarsch“ über den Innenstadtring. An der Aktion beteiligten sich mehr als 6.000 Rechte – ein weiteres schauriges Beispiel dafür, wie eng die Nazi-Szene und die AfD miteinander kooperieren. Beide wollen den Rechtsruck für ihre Ziele und die Stärkung ihrer Organisationen nutzen und durch Mobilisierungen weiter vertiefen. Ihren AnhängerInnen und WählerInnen wollen sie über die Demonstration ihrer Stärke auf der Straße und durch extreme rassistische Hetze ein Gefühl der Stärke vermitteln. Ihre GegnerInnen trachten sie einzuschüchtern – mit Demagogie, Verleumdung und nackter Gewalt. Angriffe auf Geflüchtete, deren Unterkünfte, Kontrolle über die Straßen zielen auf deren Vertreibung – und sei es mit dem Mittel der Menschenjagd.

Über die Gefahr, die von rechts droht, sollte sich nach den Tagen von Chemnitz niemand mehr im Unklaren sein.

Gegenmobilisierung

Tausende AntifaschistInnen aus Sachsen und dem Bundesgebiet hatten die Zeichen der Zeit immerhin in dieser Hinsicht erkannt und wollten am Samstag ein Zeichen setzen. Die OrganisatorInnen des Weltfriedenstages hatten sich richtigerweise kurzerhand entschlossen, den Kundgebungsort ihrer Versammlung an der Johanneskirche direkt am Ring für eine antifaschistische Kundgebung zur Verfügung zu stellen. Insgesamt versammelten sich unseren Schätzungen nach vielleicht bis zu 8.000 AntifaschistInnen in Chemnitz.

Die Mobilisierung wurde jedoch stark erschwert durch die Unsicherheiten der Anreise. Die meisten aus dem Bundesgebiet waren auf eine Anreise mit Autos oder der Bahn angewiesen, da sich Unternehmen weigerten, Busse an AntifaschistInnen zu vermieten. Im Zweifelsfall ist den Bürgerlichen ihr Eigentum wichtiger als der Widerstand gegen faschistische Straßenmobilisierungen. Ein gutes und praktisches Beispiel, warum jede Illusion in das Bürgertum im Kampf gegen die FaschistInnen fatal ist. So blieben zur Anreise nur Autos und Kleinbusse oder die Bahn, wobei Übergriffe durch die Rechten zu befürchten und Schikanen durch die Polizei bei der Anreise vorprogrammiert waren. Dennoch gab es gemeinsame Anreisepunkte in Dresden und Leipzig, an denen sich Tausende, vor allem junge Menschen, beteiligten.

Derartige Mobilisierungen sind kurzfristig ohnedies schwer. Zusätzlich hat die reaktionäre Gewalt, die von den Rechten und Nazis in den letzten Tagen ausging, offenkundig viele Menschen abgeschreckt und dazu gebracht, nicht nach Chemnitz zu fahren, da sie als vereinzelte Individuen oder kleine Gruppen sicher auch Angst hatten.

Dieses Problem kann durch kleine Gruppen allein nicht gelöst werden. Möglich wäre dies jedoch, wenn Massenorganisationen diese ernsthaft politisch, organisatorisch und finanziell unterstützen würden. Meinen es Gewerkschaften, Linkspartei oder SPD Ernst mit ihrem Antifaschismus, sollten sie in Zukunft ihre Kapazitäten nutzen, um gemeinsame Anreisen zu organisieren, öffentlich zu den Aktionen aufrufen und engagiert mobilisieren. Wenn es kleinen antifaschistischen und revolutionären Gruppierungen möglich war, die Anreise dutzender oder hunderter Mitglieder und SympathisantInnen zu organisieren, welche Möglichkeiten hätten Strukturen wie die LINKE mit 70.000, die SPD mit rund 460.000 oder der DGB mit sechs Millionen Mitgliedern?

Es wäre zudem möglich gewesen, Sporthallen, Säle oder andere Unterkünfte in Sachsen und in Chemnitz zur Verfügung zu stellen, um den Widerstand erfolgreicher und wehrhafter zu gestalten. Aber es ist nicht nur eine logistische, sondern eine politische Frage der antifaschistischen Selbstverteidigung. Die Linke, und alle ArbeiterInnenorganisationen müssen ihre Demonstrationen, Veranstaltungen und Gegenproteste absichern können. Dazu gehört nicht nur die Aktion selbst, sondern auch die An- und Abreise der TeilnehmerInnen.

Dabei können wir uns nicht auf die Polizei verlassen. Viele weitere Tausend, die sich aus Angst vor faschistischen Übergriffen nicht an den Gegenprotesten beteiligten, beweisen das. Für die Zukunft braucht es daher den Aufbau solcher Komitees zum Selbstschutz, die in den Betrieben, Schulen und im Stadtteil verankert sind, die sowohl mobilisieren, Veranstaltungen schützen und den Kampf gegen die FaschistInnen strukturieren können.

Die radikale Linke sollte nicht nur praktisch etwas für deren Aufbau tun. Sie muss diese Notwendigkeit in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten politisch vermitteln, diese offen durch klare Argumente überzeugen. Dazu gehört auch die politische Auseinandersetzung mit der LINKEN, der SPD und dem DGB und die Aufforderung an diese Organisationen, den Aufbau antifaschistischer und antirassistischer Selbstverteidigungsorgane in Zusammenarbeit mit Geflüchteten und MigrantInnen anzugehen. Das mag angesichts der reformistischen und chauvinistischen Politik von deren Führungen als eine unlösbare oder utopische Aufgabe erscheinen. Und zweifellos werden diese das „staatliche Gewaltmonopol“ und „unsere Polizei“ als Schutz gegen die Nazis ins Feld führen.

Doch spätestens nach Chemnitz und den offenen Verstrickungen der Staatsorgane in die rechte Szene sollten GewerkschafterInnen, SozialdemokratInnen und alle Linken ihre Hoffnungen auf den „antifaschistischen“ Schutz durch die Polizei begraben. Außerdem haben manche Mitglieder und WählerInnen der SPD und der Linkspartei am letzten Wochenende einmal mehr erleben müssen, dass sich die FaschistInnen nicht darum kümmern, ob Menschen die Fahne der Antifa oder der SPD tragen.

Vor Ort

Während des Tages gelang es AntifaschistInnen, den Innenstadtring an zwei Punkten zu besetzen. Nahe der Johanneskirche war dies insbesondere aufgrund der gemeinsamen Initiative der GenossInnen von ArbeiterInnenmacht und Revolution in Absprache mit AktivistInnen der SAV und der linksjugend [’solid] möglich. Dieser Blockade schlossen sich im Verlauf rund 1.000 Menschen an. Über diesen „Brückenkopf“ gelang es in der Folge weiteren AntifaschistInnen, auf die andere Seite des Rings zu kommen. Das Resultat war, dass die AfD ihre Route ändern und umdrehen und gegen 20 Uhr ihre Versammlung für beendet erklären musste.

Die Polizei war diesmal mit einem massiven Aufgebot aus dem gesamten Bundesgebiet präsent. Zweifellos wollten das Land Sachsen und die Bundesregierung demonstrieren, dass sie die „Lage unter Kontrolle“ haben. Davon kann freilich nur bedingt die Rede sein. Die Rechten und FaschistInnen waren überaus aggressiv. Am Rande der Aktionen und abends kam es auch zu Übergriffen auf Linke oder abziehende DemonstrantInnen.

Gegenüber den AntifaschistInnen und linken Blockaden ging die Polizei mit Schikanen und auch Repression vor. So wurden ankommende DemonstrantInnen am Bahnhof festgehalten und konnten erst nach längerer Wartezeit zum Kundgebungsplatz gelangen. Dort versuchte die Polizei, die Straße zuerst für den rechten Aufmarsch frei zu halten. Dies gelang nicht – auch weil eine Räumung der Blockade wahrscheinlich eine solche der gesamten Protestkundgebung bedeutet hätte, auf der auch SPD, Grüne, Linkspartei, KirchenvertreterInnen usw. sprachen. Sicherlich sollte vermieden werden, an diesem Platz „unglückliche“ Bilder zu erzeugen.

Es nimmt daher kein Wunder, dass gegen die zweite Blockade viel massiver vorgegangen wurde. Hunderte Menschen wurden stundenlang eingekesselt und viele überdies erkennungsdienstlich behandelt.

Gleichzeitig gelang es aber auch hunderten FaschistInnen, aus dem Demonstrationszug der Rechten auszubrechen, um sich auf direktem Weg zu den Gegenprotesten zu begeben. Im Verlauf des Tages kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit diesen in der Chemnitzer Innenstadt.

Während wir keine Illusionen in die Polizei und den „Rechtsstaat“ haben, wie ihn LINKE, Grüne und SPD auf der Bühne an der Johanneskirche beschworen, müssen wir uns auch kritisch mit dem Stand unserer eigenen Bewegung auseinandersetzen. Bei einer direkten Konfrontation mit den FaschistInnen hätte sich der antifaschistische Protest nur schwer behaupten können – trotz wahrscheinlich knapper Überzahl. Bereits die Tatsache, dass sich die Mehrheit der TeilnehmerInnen am Johanneskirchplatz nicht der Blockade auf der Straße anschloss, zeigt, wie defensiv und eingeschüchtert die ArbeiterInnenbewegung ist, wie groß aber auch die verbliebenen Illusionen oder Hoffnungen in den „Rechtsstaat“ noch sind.

RednerInnen von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION wiesen bei der Blockade auf diesen Umstand mehrmals durch das Megaphon hin. Sie riefen zur Notwendigkeit einer antifaschistischen Einheitsfront und massenhaft organisiertem Selbstschutz unserer Klasse auf. Sie betonten dabei die Notwendigkeit, in praktischen Fragen mit der LINKEN, der SPD und dem DGB sowie allen Organisationen der Linken zusammenzuarbeiten. Sie unterstrichen aber auch, dass am Ende des Tages nur Klassenkampf die FaschistInnen aufhalten könne. Jede Abschiebung, jede anti-soziale Reform, jede Kürzung durch SPD und LINKE in den Regierungen, jede sozialpartnerschaftliche Verräterei durch die Gewerkschaftsführung schwächt die Kampfkraft der ArbeiterInnenbewegung und desillusioniert noch mehr Lohnabhängige. Das stärkt die FaschistInnen, die an die Verzweiflung, die wirkliche oder vermeintliche Abstiegsangst der Mittelschichten, von Arbeitslosen wie auch frustrierten Schichten der ArbeiterInnenschaft appellieren. Die Rechten sammeln diese Menschen auf der Basis gesellschaftlicher Verzweiflung, die sie rassistisch formieren.

Bedauerlicherweise konnte es sich die FAU Dresden nicht verkneifen, sich schützend vor die reformistische Führung zu stellen und unsere RednerInnen als „autoritäre AntisemitInnen“ zu beschimpfen, weil wir für die Solidarität mit unterdrückten Nationen und den Aufbau einer kommunistischen Organisation eintreten. Während wir es begrüßen, dass sich die SPD, die LINKE, der DGB aber auch Organisationen wie die FAU an dem Protest beteiligten, denken wir, dass unser Antifaschismus nur erfolgreich sein kann, wenn er in den Kontext einer revolutionären Strategie gestellt wird. Rassismus und Faschismus – und damit rechts-populistische wie faschistische Parteien – können nämlich nicht nur durch Gegenmobilisierungen auf der Straße gestoppt werden. Vielmehr müssen wir auch die gesellschaftlichen Ursachen für ihr Wachstum angehen – und diese liegen im Kapitalismus selbst. Dementsprechend nehmen wir uns auch weiter „das Recht heraus“, unsere Ansichten bekannt zu machen.

Unter den gegebenen Umständen erzielten wir am 1. September einen Teilerfolg. Es war überaus wichtig, all jenen, die sich den RassistInnen der AfD, den offenen NationalsozialistInnen um den „Dritten Weg“ oder den Kameradschaften in Chemnitz und Sachsen entgegenstellen wollten, zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Solidarität war für alle, die nach Chemnitz fuhren, kein leeres Wort. Es war auch wichtig zu zeigen, dass Widerstand möglich ist. Die Blockaden waren auch eine einschlägige Erfahrung für viele. Immerhin konnten die FaschistInnen und RassistInnen an diesem Tag nicht ungehindert marschieren, jagen und hetzen. Aber unsere Bewegung hat noch einen weiten Weg vor sich. Sie muss nicht nur größer, sondern auch besser organisiert und bewusster werden. Das bedeutet nicht nur, auf eine direkte Konfrontation mit den FaschistInnen vorbereitet zu sein, sondern auch, sich der Ursachen des Rechtsrucks, des Zulaufs für die AfD-RassistInnen und FaschistInnen bewusst zu werden. Nur so wird es möglich sein, dem Kampf gegen den Faschismus eine organisierte, militante und anti-kapitalistische Stoßrichtung zu geben.




Rechter Mob marschiert in Chemnitz – wie kann er gestoppt werden?

Svenja Spunck, Infomail 1016, 28. August 2018

Rund 5000 Rechte zogen am Montag, den 27. August, durch Chemnitz. Der von Nazis und extrem nationalistischen Gruppierungen organisierte Aufmarsch und der Mob von mehr als die 800 gewaltbereiten Neonazis, die am Sonntag, den 26. August, randalierten, ist eine schockierendes Warnsignal. Die Rechten zogen von der Polizei unbehelligt durch die Chemnitzer Innenstadt. Videos, die in den sozialen Netzwerken viral gingen, zeigten an beiden Tagen Angriffe auf migrantisch aussehende Menschen und einen riesigen Nazi-Mob, aus dem unverhohlen der Hitler-Gruß gezeigt und rassistische Parolen skandiert wurden. Die Polizei verhielt sich weitgehend passiv, obwohl sie selbst mit Flaschen angegriffen wurde.

Anlass für die Versammlung der Neonazis war der Tod eines 35 Jährigen, der in einem Streit am Sonntag erstochen wurde. Die rechte Szene verbreitete online das Gerücht, es handele sich um ausländische Täter, gegen die man auf die Straße gehen müsse. Als Organisatoren traten die AfD, Pro Chemnitz und die Hooligans von Kaotic Chemnitz auf, unter denen sich auch Kameradschaftler befinden.

Während nach dem G20-Gipfel in Hamburg der gerade 18-jährige Italiener Fabio V. fünf Monate lang in Untersuchungshaft saß, obwohl er den ihm vorgeworfenen Steinwurf nicht einmal ausgeführt hatte, marschieren dem sächsischen Verfassungsschutz bekannte Rechtsextremisten unbehelligt durch Chemnitz und jagen MigrantInnen. Die einen meinen, die Polizei sei überfordert gewesen. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und dessen Innenminister Wöller (CDU) bilanzierten die Arbeit der Polizei bei der Pressekonferenz heute jedoch als „verdammt gut“. Ähnlich wie schon beim Gedenkmarsch für den Faschisten Rudolf Hess im Zentrum Berlins wird also nicht das Verhindern, sondern das Ermöglichen rechter Aufmärsche als erfolgreiche Polizeiarbeit gesehen. Wäre nicht erst vor kurzem der NSU-Prozess mit milden Strafen für einen marginalen Teil der rechten Terrorgruppe und ohne Aufarbeitung der Rolle des Verfassungsschutzes zu Ende gegangen, wäre man vielleicht überrascht gewesen von dieser Bilanz. Doch spätestens seitdem bekannt wurde, dass LKA-Mitarbeiter, wie „der Maik“ mit dem schwarz-rot-gelben Fischerhut, in ihrer Freizeit an Pegida-Demonstrationen teilnehmen, darf man nicht mehr nur davon ausgehen, dass die Polizei auf dem rechten Auge nur blind sei. Mehr noch: Hier ist eine schrittweise Verankerung der extremen Rechten in staatlichen Strukturen zu beobachten, wie auch die kürzlich aufgedeckten Gespräche des Verfassungsschutz-Chef Maaßen mit mehreren Abgeordneten der AfD belegen. Wenn die Regierung also heute davon spricht, das Gewaltmonopol zurück an die Polizei geben zu wollen, dann bedeutet das mittelfristig nichts anderes, als rechtsextreme Gewalt dann halt staatlich legitimiert ausführen zu lassen.

Warnschuss

Die Ausschreitungen in Chemnitz sind ein weiterer Warnschuss für die Linke in Deutschland. Bereits Anfang 2016 hatten rund 200 Neonazis den Leipziger Stadtteil Connewitz angegriffen und in Schutt und Asche gelegt. Dass es solche Märsche nicht nur in Ostdeutschland gibt, zeigten die „Hooligans gegen Salafisten“ bereits 2014 in Köln. Dennoch ist die strukturelle Benachteiligung der neuen Bundesländer bis heute ein reales Problem in Deutschland, das sich die Rechte vor allem in den ländlichen Gegenden und „abgehängten“ kleineren oder mittleren Städten zu Nutzen macht und die Angst vor sozialem Abstieg kanalisiert. Kein Wunder, dass vor allem die Pegida-Bewegung aus Dresden kommt, deren Hauptfeind Angela Merkel und muslimische Geflüchtete sind.

Die Schwäche der Linken kam am Wochenende in Chemnitz zum Vorschein. Gegen die spontan bundesweit mobilisierte Nazi-Demo traten gerade einmal 1000 Gegendemonstranten auf. Immer wieder durchbrachen die Nazis die Ketten der Polizei und griffen GegendemonstrantInnen und JournalistInnen an. Der Chemnitzer Linke-Vorsitzende Tim Detzner meinte, „Die Jagdszenen auf Menschen, die nach Ausländern aussehen, machen uns Angst. Wir wollen zeigen, dass Chemnitz ein anderes Gesicht hat: weltoffen und gegen Fremdenfeindlichkeit“.

Die Angst ist berechtigt. Entscheidend ist aber die Frage, wie wir ihr begegnen, wie wir auf die rechte Gefahr antworten, wie wir den Nazis und RassistInnen das Fürchten lernen. Der Aufbau einer breiten antifaschistischen Einheitsfront der Linken, der Gewerkschaften, der ArbeiterInnen- und MigrantenInnenorganisationen in Sachsen und bundesweit ist das Gebot der Stunde. Dazu gehört auch der Aufbau von organisiertem Selbstschutz für unsere Demonstrationen und Aktionen, zur Verteidigung von Unterkünften, linken Zentren und Versammlungsräumen. Dieses Mal sind die Neonazis „nur“ durch die Innenstadt gezogen, doch schon, dass dieser Aufmarsch ungehindert ablaufen konnte, wird sicherlich viel Selbstvertrauen in ihren Strukturen ausgelöst haben. Um sich vor schwereren Übergriffen schützen zu können, darf kein falsches Vertrauen in die Polizei oder den Staat bestehen. Wir haben gesehen, wie schnell und effektiv sich die Rechte bundesweit organisieren kann und es ist Zeit, dem etwas entgegen zu setzen. Gegen Naziaufmärsche helfen keine pazifistischen Reden und keine Sitzblockade. Zur Zerschlagung ihrer Strukturen ist antifaschistische Gegenwehr angesagt – militant, organisiert und massenhaft. Gegenwehr, deren Strukturen dort verankert sind, wo wir leben und arbeiten – im Stadtteil, an den Schulen und Unis, im Büro und im Betrieb. Gegenwehr, die gegen die bundesweite Mobilisierung der Nazis zu „Brennpunkten“ auch schnell und effektiv ebenso bundesweit mobilisiert.