Die Krise der Europäischen Union

Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 1: Einleitung, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Auf ihrem Sondergipfel in Lissabon im März
2000 verpflichteten sich die Staats- und RegierungschefInnen der Europäischen
Union auf Initiative ihrer dominierenden Mächte Deutschland und Frankreich,
„Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Zwei Jahrzehnte später ist die Europäische
Union stattdessen das „schwächste Glied“ in der imperialistischen Weltordnung
geworden. Tatsächlich wäre „Unordnung“ ein besserer Begriff für eine Welt
rivalisierender Mächte, die in Handelskriege, neue kalte und heiße Kriege
verwickelt sind und die sich weigern, irgendetwas Ernsthaftes zur Verhinderung
einer Klimakatastrophe und globaler Konflikte zu tun. Innerhalb der Union
selbst sind offene Kämpfe um die Art und Zukunft ihrer Verfasstheit
ausgebrochen, einschließlich des Versuchs der drittgrößten Volkswirtschaft
auszutreten.

Nur die ArbeiterInnenklasse, die soziale
Kraft, die heute weltweit größer ist als je zuvor, kann die drohenden
gesellschaftlichen, politischen, militärischen und ökologischen Katastrophen
stoppen – durch eine revolutionäre Machteroberung und einen sozialistischen
Produktionsplan. Doch die Führungen ihrer Massenorganisationen, der politischen
wie gewerkschaftlichen, haben sich wiederholt als unfähig erwiesen, sich diesen
Aufgaben überhaupt zu stellen, geschweige sie zu erfüllen.

Mit der Einführung des Euro um die
Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 sollte der schon damals
größte Markt der Welt zu einem gemeinsamen europäischen Kapitalblock werden.
Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische und militärische
Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer Herrschaft. Seine
führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig, dass sie zu den USA
aufschließen und sie weltweit herausfordern wollten.

Sie verabschiedeten eine Reihe von
Maßnahmen zur wirtschaftlichen Vereinheitlichung der EU:

  • die vollständige Umsetzung einer europaweiten, neoliberalen Agenda, die es den großen Monopolen ermöglichen sollte, alles zu übernehmen, was noch nicht privatisiert und kommerzialisiert worden war;
  • mehr „Reformen“ auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen durchzuführen, d. h. ein Programm zum Abbau der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, zur Erhöhung der Ausbeutung und zur Verringerung der Leistungen der Sozialversicherung und der „Lohnnebenkosten“, wodurch die Arbeitskraft sowohl in den wichtigsten imperialistischen Ländern als auch in den schwächeren halbkolonialen Staaten Ost- und Südeuropas massiv verbilligt werden sollte;
  • weitere Expansion der EU und der Eurozone unter der direkten Führung Deutschlands und der anderen führenden imerialistischen Mächte  mit dem Ziel, neu eintretende Länder zu einem halb-kolonialen Raum unter ihrer direkten Kontrolle zu machen.
  • das gesamte europäische Finanzsystem und die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten einer stärkeren Kontrolle durch die Europäische Zentralbank (EZB) durch Europa-Abkommen und europäische Institutionen unterzuordnen, die ihrerseits von den großen und wettbewerbsfähigsten Mächten des Kontinents dominiert werden;
  • die Schaffung von „europäischen Champions“, also  großen Monopolen, die über die bestehenden nationalen Kapitalstrukturen hinausgehen und so Banken, Industrie- und Dienstleistungskonzerne bilden, die mit US-amerikanischen,  japanischen und chinesischen WettbewerberInnen konkurrieren können;
  • die Vereinheitlichung der europäischen Forschung und Entwicklung sowie der Bildungssysteme im Sinne des Ziels, den größten „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu schaffen;
  • die Vereinheitlichung der Sicherheitsorgane, die Bildung europäischer Kampfverbände und verschiedene Schritte zur Bildung einer europäischen Armee;   
  • Ausweitung des freien Finanz-, Waren- und Arbeitskräfteverkehrs innerhalb der EU bei gleichzeitiger Versiegelung ihrer Grenzen durch gemeinsame Abkommen (Schengen, Dublin,…), um die so genannte Festung Europa zu schaffen.

All dies erforderte eine ideologische
Rechtfertigung wie die Schaffung eines Raums der „Demokratie“ und des
„Friedens“, des Fortschritts, des sozialen Wohlstands, der Menschenrechte und
in jüngster Zeit der weltweiten Führungsrolle bei der Bewältigung der
Umweltkrise.

Diese Ansprüche waren immer falsch. Vom
Vertrag von Rom bis zu den heutigen rassistischen Grenzkontrollen waren die EU
und ihre Vorgängerinnen stets Projekte der großen imperialistischen Mächte des
Kontinents, zunächst in enger Zusammenarbeit mit den USA, später aber in einem
zunehmend  konkurrenzorientierten
Verhältnis.

In den 1990er Jahren und sogar Anfang der
2000er Jahre war die EU eindeutig auf dem Vormarsch. Der Sieg des Westens im
Kalten Krieg öffnete Osteuropa für das europäische Großkapital, wobei der
deutsche Imperialismus eine Vorreiterrolle spielte. Die Wiedervereinigung
machte ihn zur mit Abstand stärksten Macht des Kontinents, weit vor seinen
französischen, britischen oder italienischen Partnern und Rivalen.

Der Aufstieg der EU war von der Allianz des
deutschen und französischen Imperialismus vorangetrieben worden, verkörpert in
der engen Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, dann
zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Sie verkörperten auch eine
europaweite Koalition zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen, um das
europäische Projekt voranzutreiben.




Die Europäische Union im 21. Jahrhundert

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 2, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Das 21. Jahrhundert hat jedoch die tiefen
Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von Anfang an verkörperte, an die
Oberfläche gebracht. Millionen von ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen, ja
sogar große Teile der „Mittelschicht“, sind von der Politik der Europäischen
Kommission, der EZB, der Staats- und RegierungschefInnen und der
SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte enttäuscht worden.

Um die Jahrhundertwende, als die
FührerInnen der Welt eine Ära der Globalisierung bejubelten, wurde die
neoliberale Politik als unverzichtbarer Bestandteil dieser angeblich neuen
Weltordnung angesehen. Die Europäische Union erlebte eine Hinwendung zu dem,
was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt. Die Großmächte und die
EU-Institutionen haben den Weg der „Reformen des freien Marktes“ eingeschlagen.
Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines „sozialen Europas“, das
wohlhabend, „demokratisch“ und „humanitär“ sei, als schamlose Lügen offenbar.

Die Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren
Schwerpunkten Sparpolitik, „Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit
markierte nicht nur einen deutlichen Wandel in der Politik der EU, sondern auch
eine Ablehnung von „Wohlfahrtsstaat“ und Keynesianismus durch alle europäischen
Bourgeoisien. Nicht nur konservative Parteien, sondern auch Labour- und
sozialdemokratische Parteien passten sich an den Neoliberalismus an. Ohne
Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“-Politik wäre die
Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder zumindest auf
viel mehr Widerstand und Schwierigkeiten gestoßen.

Die führenden Mächte und die Europäische
Kommission wollten nicht nur die Lissabon-Agenda, sondern auch eine neoliberale
Verfassung für die Europäische Union durchsetzen. Dies stieß jedoch auf
massiven Widerstand in der Bevölkerung und wurde in Volksabstimmungen in
Frankreich und den Niederlanden abgelehnt.

Die Antwort der europäischen Regierungen
und Institutionen war aufschlussreich. Nachdem die von ihnen vorgeschlagene Verfassung
abgelehnt worden war, führten sie sie in Form eines „Vertrages“ ein. Dadurch
wurde das Demokratiedefizit der EU für Millionen deutlich. Es wurde auch
deutlich, dass es soziale, ökologische und andere Defizite gibt, die hinter
diesem Mangel an europäischer Demokratie stehen. Es bestätigte sich, dass die
herrschenden Klassen den europäischen Kontinent weder auf demokratische,
geschweige denn „soziale“ Weise vereinen können noch wollen. Ja, sie sind
bereit, den „Willen des Volkes“ völlig zu ignorieren.

Dies gilt insbesondere für die Bereiche
Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege. Die europäischen Regierungen
haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie Syrien oder Libyen bombardieren
oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder anderen afrikanischen Staaten
intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine einmischen sollten. Sie
konsultierten ihre Bevölkerung auch nicht, ob sie neue europäische
Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO unterstützen und
Truppenaufmärsche an den Grenzen Russlands durchführen und damit einen neuen
Kalten Krieg beginnen sollten.

Das letzte Jahrzehnt hat die
Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die EU konfrontiert ist,
deutlich gemacht.

Wirtschaftlich ist sie weit hinter den USA
und China zurückgeblieben. Gleichzeitig haben die neoliberale Agenda und die
insbesondere vom deutschen Imperialismus der EU auferlegte Anti-Krisenpolitik
die Ungleichheit und Ungleichmäßigkeit innerhalb der Union selbst verstärkt.
Nach der großen Rezession haben Deutschland und andere wettbewerbsfähigere
Länder die Kosten der Krise auf die schwächeren europäischen Volkswirtschaften
abgewälzt. Die Institutionen der Eurozone ließen im Namen der
Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig verarmen. Sie verhängten
eine wüste Sparpolitik gegen Griechenland und andere Staaten, was deren
Erholung weitgehend verhinderte und sie noch anfälliger macht, falls eine neue
globale Rezession eintritt. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen
hohen Preis, weil sie die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der
Eurozone verstärkten.

Militärisch und geopolitisch bleibt die EU
ein Zwerg, der nicht in der Lage ist, eine Rolle zu spielen, die ihn als
ebenbürtig  gegenüber den USA,
China oder Russland ausweisen würde. Die Versuche der europäischen Mächte, dies
zu überwinden, sind alle halbherzig und spiegeln oft eher ihre Spannungen
untereinander als eine klare Politik wider. Als die EU versuchte, eine
Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in der Ukraine zu spielen, konnte sie
nicht verhindern, dass die USA sie in einen neuen Kalten Krieg hineinziehen
konnten und damit die Pläne Deutschlands für engere Wirtschaftsbeziehungen zu
Russland und darüberhinaus zu China zunichte machten.

Als Antwort darauf begann Putin, unbotmäßige
EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme populistische Bewegungen auf dem
ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig verschärfte die aggressive
„America-First“-Politik der Trump-Administration nicht nur die Spannungen
zwischen der EU und den USA bezüglich der Handels-, Militär- und
internationalen Politik, sondern auch innerhalb der EU und sogar innerhalb der
herrschenden Klassen derer Großmächte. Die EU entwickelt sich damit zu einem
potenziellen Schauplatz, auf dem externe Mächte einige Mitgliedstaaten
gegeneinander ausspielen können. Italien hat unter seiner rechtspopulistischen
Regierung gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs eingegriffen
und ein Abkommen mit China zu seiner „Neuen Seidenstraße“ (one belt, one road)
geschlossen, das von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte Flüchtlingskrise machte die
Spannungen noch deutlicher. Einwanderung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind
zu einem Mittel geworden, um Massenkräfte von desillusionierten
kleinbürgerlichen oder sogar von rückständigen Teilen der ArbeiterInnenklasse
zu sammeln, die verarmt sind oder die Armut fürchten. Der Aufstieg des
Nationalismus und der EU-feindlichen Teile der Bourgeoisie und des
KleinbürgerInnentums spiegelt diese wachsenden Spannungen und inneren
Widersprüche wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch
eine Föderation von Nationalstaaten, jeder mit seinen konkurrierenden
Interessen.

Kein Wunder also, dass dies zur Bildung von
EU-feindlichen, rechtspopulistischen und 
rassistischen Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die
versuchen, sich als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch
dominierten EU zu präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald
kleinbürgerliche Kräfte die Szene betreten, kann und wird diese Krise
irrationale Formen annehmen, die extremsten derzeit in Großbritannien, wo das
ganze Land in einem Brexit festsitzt, den die Mehrheit der Bevölkerung und die
Mehrheit der beiden großen Klassen eigentlich nicht will.




Die Zauberlehrlinge

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 3, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Während die europäischen Staats- und
Regierungschefs in den 1990er und frühen 2000er Jahren die EU als ein schnell
voranschreitendes Projekt präsentierten, das die Bevölkerung mit „großen
Visionen“ bombardierte, sind diese Visionen in letzter Zeit verblasst und durch
Albträume von nationalen Gegensätzen, neu errichteten Grenzzäunen und der
Gefahr, dass andere Austritte dem Brexit folgen könnten, ersetzt worden.

Nur der französische Präsident Emmanuel
Macron präsentiert noch regelmäßig große „Pläne für Europa“, die aber bewusst
vage sind, wenn es um die Frage geht, wer diese Reformen finanziert und wie.
Deutschland weigert sich eindeutig, dies zu unterschreiben und für sie zu
bezahlen. Der Präsident der Kommission, Jean-Claude Juncker, Präsident Macron
und die immer noch zentrale Figur der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel
sind wie Zauberlehrlinge, die die Geister, die sie riefen, nicht mehr
loswerden. Indem sie die GriechInnen „mit gutem Beispiel vorangetrieben“ haben,
indem sie eine Reihe von Ländern, die so genannten PIIGS (Portugal, Irland,
Italien, Griechenland, Spanien), zu Sparpolitik zwangen und den in Wahlen und
Referenden zum Ausdruck gebrachten Volkswillen ignorierten, haben sie die
schlafenden Hunde des nationalen Chauvinismus und Rassismus geweckt.

Die RassistInnen und RechtspopulistInnen
wie der italienische Innenminister Matteo Salvini oder die führende
französische Oppositionspolitikerin Marine Le Pen sehen die Zeit gekommen, der
EU ihre rechtsgerichtete Agenda aufzuzwingen, eine Agenda, bei der sie außer
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wenig verbindet. Die nächste
Wirtschaftskrise, die Frage, wer die italienischen Schulden bezahlt, wird die
Einheit der verschiedenen NationalistInnen in Frage stellen. Jeden Tag zeigen
die EU-Institutionen, wessen „Kind“ sie sind, wessen Interessen sie bedienen
und vertreten, sicherlich nicht die der 512 Millionen EU-BürgerInnen, sondern
die Interessen des Kapitals.

Für die ArbeiterInnen dieses Kontinents,
die RentnerInnen, die Studierenden, die LandwirtInnen und die Arbeitslosen
haben der Binnenmarkt und die EU-Institutionen den Wettbewerb intensiviert, die
Löhne gedrückt, die Preise erhöht, die Sozialsysteme ruiniert und sie sind
somit voll verantwortlich für den Rechtsruck.

Für die großen Konzerne, die Banken und die
Reichen hat sich die EU ausgezahlt. Die Gewinne sind gestiegen, die Märkte und
alle wirtschaftlich Tätigen wurden wie nie zuvor ausgebeutet. Aber auch für das
Kapital brachte dies die Unterordnung der schwächeren Formationen unter die
wettbewerbsfähigeren oder deren Zusammenbruch.

Während sich das Großkapital wirtschaftlich
durch die EU deutlich stärken konnte, mussten die Ambitionen, eine Weltmacht zu
werden, fallen gelassen werden. Selbst gegen den krisengeschüttelten und
schwächer werdenden Welthegemon, den US-Imperialismus, kann sich die EU trotz
Trumps Beleidigungen und Drohungen nicht behaupten. Schwankende Schritte in
Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik werden täglich durch die nationale
kapitalistische Realität der EU gestoppt, so dass sich die „Außenpolitik“ der
EU heute auf die Diplomatie unter ihren fraktionierten Mitgliedern beschränkt,
während diese unterschiedlichen kapitalistischen Interessen nach außen hin
einfach nicht vereint auftreten können.

Im Jahr 2019 hegen die meisten führenden
bürgerlichen PolitikerInnen keine „Visionen“ mehr für die EU. Nur die
Verteidigung eines bedrohten Status quo scheint als gemeinsames Ziel denkbar.
Als Ergebnis eines Jahrzehnts von Spar- und Krisenpolitik haben sich trotz der
Errungenschaften des gemeinsamen Binnenmarkts seit 2001 kapitalistische
Widersprüche angesammelt und eine Krise auf Leben und Tod für die Europäische
Union eröffnet.

Die Europawahlen 2019 werden diese
Widersprüche noch einmal deutlich machen und die verschiedenen bürgerlichen und
kleinbürgerlichen Kräfte werden aufzeigen, dass sie entweder keine Antwort auf
die Krise der EU geben können oder dass ihre „Antworten“ die EU in eine
reaktionäre Richtung zerreißen würden.

Die konservativen, liberalen und grünen
Parteien unterscheiden sich durch gegensätzliche Bindungen an die „europäische“
Einheit und an nationale Interessen, aber sie eint das Ziel, eine
kapitalistische Agenda mit leeren Reformversprechen zu verbinden. Sie
versuchen, sich als „demokratisches“ Bollwerk gegen die Rechte zu präsentieren
und bauen ihre eigene Politik auf den undemokratischen Institutionen der EU
auf.

Die Rechte, die bereits bei den EU-Wahlen
2014 massive Gewinne erzielte, ist das deutlichste Zeichen für bürgerlichen
Verfall und Zerfall. Verschiedene kleinbürgerliche Kräfte und auch Sektoren des
Großkapitals präsentieren Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus als die
wichtigsten Antworten auf die wachsende imperialistische Krise. Der Rückzug auf
den nationalen Markt, den Staat und eine „ethnisch homogene“ oder „identitäre“
Vorstellung vom „Volk“ befeuern eine offene und aggressive Form des
Nationalismus. Aber jede herrschende Klasse, unabhängig von ihren
internationalen (imperialistischen) Interessen, muss auf den Nationalismus zurückgreifen,
um die Nation für ihr eigenes Interesse zu „vereinen“. Selbst die
faschistischen Gruppen kommen gestärkt aus ihren Löchern, bereit zu jeder noch
so schmutzigen Gewalt gegen die ArbeiterInnen, MigrantInnen und unterdrückten
Schichten, wenn sich die Krise verschärft.

In einer solchen Zeit können nur die
ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten die Einheit der arbeitenden Menschen
auf dem ganzen Kontinent gegen die RassistInnen und diejenigen, die bewusst
Spaltung und zukünftige Konflikte säen, bewahren und erweitern.

Dazu bedarf es einer international
koordinierten Politik und eines Aktionsprogramms gegen die anhaltenden Angriffe
und einer Antwort der ArbeiterInnenklasse auf die europäische Krise. Die
offiziellen FührerInnen der ArbeiterInnenbewegung scheuen davor zurück und
kokettieren sogar mit Nationalismus und Populismus. In der Vergangenheit haben
sie es versäumt, die Verteidigung gegen die Sparpakete zu organisieren und zu
generalisieren. Stattdessen haben sie den Konkurrenzbedürfnissen des nationalen
Kapitals und der „Sozialpartnerschaft“ nachgegeben. Vor den EU-Wahlen 2019
können wir beobachten, dass die sozialdemokratischen und Labour-Parteien
zwischen einer vorgetäuschten Form des europaweiten Sozialreformismus und einem
Schwenk zur nationalistischen Anpassung oszillieren. Die „Linksparteien“ sind
zwischen linkem Reformismus und Linkspopulismus gespalten. Dieses Versagen wird
von der „radikalen“, sozialistischen, kommunistischen Linken nicht
aufgegriffen. Im Gegenteil, einige versuchen, die Auflösung der EU von links
(Lexit) zu unterstützen, wie beim „Brexit“. Das Problem wird auch nicht durch
den kosmopolitischen paneuropäischen Populismus von Yanis Varoufakis
beantwortet. Was völlig fehlt, ist eine Perspektive des europäischen
Klassenkampfes, wie die EU mit Hilfe des Klassenkampfes bekämpft werden kann
und wie ein Europa ohne EU, Kapitalismus und den Rechtsruck aussehen könnte.




Der Charakter der EU und die Ursachen der aktuellen Krise

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 4, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Die EU befindet sich in einer historischen Krise. Großbritannien hat sich entschieden, die EU zu verlassen, auch wenn der Brexit noch verschoben werden könnte. Der Brexit würde nicht nur bedeuten, dass die EU ihre drittgrößte Volkswirtschaft und eine Nuklearmacht verliert, sondern dürfte auch viele der verbleibenden Industrien des Vereinigten Königreichs selbst zerstören, insbesondere angesichts einer Konjunkturabschwächung und einer neuen sich abzeichnenden Rezession.

Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 und die
„Schuldenkrise“ 2010/2011 haben die kapitalistischen Widersprüche in der EU
verstärkt und verschärft. Mit massiven Finanzmitteln wurden das Europäische
Finanzaufsichtssystem, das ESFS, und der Europäische Stabilitätsmechanismus,
ESM, eingerichtet, um Banken, Finanzinstitute und die Aktienmärkte in Gang zu
halten. Dies führte zu einem Anstieg der Staatsverschuldung und zur Auferlegung
von Sparprogrammen für große Teile Europas.

Das neoliberale Dogma des Sparens und
Kürzens wurde den Haushalten der verschiedenen Staaten aufgedrückt, die
sogenannte „schwarze Null“ (ein Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen)
wurde zum Hauptziel der EU-Institutionen. Die wirtschaftlich schwächeren Staaten
der EU, deren Wirtschaft größtenteils durch Neuverschuldung expandiert war,
wurden damit ökonomisch ruiniert, während die wirtschaftlich stärkeren Staaten
relativ stabil blieben oder sich sogar stärken konnten.

Das deutsche Industriekapital konnte seine
Vormachtstellung innerhalb der EU ausbauen, seine Produktionsketten und
Marktmacht konsolidieren und die Konkurrenz aus anderen EU-Staaten schwächen.
Insbesondere in den Bereichen Maschinenbau, Automobilindustrie, Elektronik,
Chemie und Energie konnte die Marktmacht ausgebaut werden, während die
Konkurrenz aus Frankreich, Großbritannien und Italien an Boden verlor.

Der mit Deutschland wirtschaftlich
verbundene Block, d. h. Österreich, Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei
sowie teilweise Skandinavien und Benelux, konnte die Krise im Bereich der
Industrieproduktion schneller überwinden und die Werke in Osteuropa sogar
ausbauen. In Südeuropa, aber auch in Frankreich und Großbritannien kamen die
Industriemonopole unter Druck. Aufgrund des Brexit begannen ausländische
InvestorInnen, die Produktion für den europäischen Markt in die 27 EU-Staaten
zu verlagern, was massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt Großbritanniens
haben könnte.

So führte die Krise sowohl zu einer
weiteren Kapitalkonzentration als auch zu einer neoliberalen Offensive gegen
den öffentlichen Sektor sowohl in Bezug auf Beschäftigung als auch auf
Dienstleistungen, vor allem auf Kosten der ArbeiterInnenklasse und der
lohnabhängigen Mittelschichten. Diese Krisenergebnisse waren kein „Zufall“,
sondern vom gemeinsamen Binnenmarkt und vom Währungsraum vorprogrammiert. Neben
den Kreditprogrammen für die Banken, Börsen und Staatsanleihen wurde eine
europäische Schuldenbremse eingeführt ebenso wie verschiedene Mechanismen zur
Vertiefung der neoliberalen Politik auf dem Kontinent, sei es im Kampf gegen
Gewerkschaftsorganisierung, Tarifverträge, Rechte oder für den weiteren Abbau
von Arbeitsschutz und Rentenansprüchen.

Während eine solche Politik weiterhin auf
dem Rücken der LohnempfängerInnen und der südeuropäischen Volkswirtschaften
durchgesetzt wird, gibt es auch viele Risse innerhalb der bürgerlichen Klassen
und ihrer angeschlossenen kleinbürgerlichen Schichten, die ebenfalls Teil des
imperialistischen Projekts der EU sind. Die verhängten Maßnahmen konnten die
Ursachen der globalen kapitalistischen Krise, die zu Finanzkrise und Rezession
führte, nicht aufheben. Das globale Kapital ist nach wie vor von einer
Kapital-Überakkumulation und sinkenden Gewinnmargen betroffen. Die Politik der
USA und der EU, der Aufstieg Chinas als imperialistische Macht sowie die
expandierenden halbkolonialen Volkswirtschaften (vor allem Indien) führen dazu,
dass die Probleme der Überakkumulation in der nächsten Rezession noch stärker
zum Tragen kommen werden. Die Finanzblase ist in jeder Beziehung größer als die
vor 2008, und der Industriesektor hat nicht die notwendige Zerstörung von
Sachkapital erfahren. Gleichzeitig sind die Reserven zur Bewältigung der
nächsten Rezession begrenzter, mit bereits niedrigen Zinssätzen und massiven
Schulden im staatlichen und privaten Sektor.

Schließlich sind die Chancen für eine
koordinierte Reaktion der Großmächte wie 2009/2010 gering. Die nächste
Rezession wird vor dem Hintergrund eines verschärften Kampfes um die
Neuaufteilung der Welt ausbrechen. Die großen kapitalistischen Mächte werden
zwar weiterhin darauf abzielen, einen Zusammenbruch des Welthandels und des
Finanzgeschäfts zu verhindern, gleichzeitig aber darauf, ihre KonkurrentInnen
mit den Kosten der Rezession zu belasten.

Vor diesem Hintergrund werden nicht nur die
EU, sondern auch deren einzelne Volkswirtschaften massiv unter Druck geraten.
Die EU und die nationalen Regierungen werden vor der Wahl stehen, ob sie ihren
US-amerikanischen und chinesischen KonkurrentInnen eine gemeinsame Antwort
erteilen oder die Kosten der Krisen auf die halbkolonialen oder auch
schwächeren imperialistischen Volkswirtschaften abladen wollen. Auch die
bereits angespannten deutsch-französischen Beziehungen werden auf die Probe
gestellt werden.

Der Charakter der Europäischen Union als
Block von Nationalstaaten und nicht als Bundesstaat wird sich bemerkbar machen.
Dies spiegelt sich in der Tatsache wider, dass sich in der Bourgeoisie wenig
„europäisches Bewusstsein“ entwickelt hat. Das Großkapital und die Finanzhäuser
werden nach wie vor von den in den dominierenden Ländern verwurzelten Monopolen
dominiert. „Europäisches“ Kapital ist eigentlich deutsches, französisches,
italienisches oder sonstiges Kapital, das noch immer in den jeweiligen
Volkswirtschaften verwurzelt ist.

Die Kapitale der schwächeren
kapitalistischen Staaten, vor allem Ost- und Südeuropas, unterliegen dem
dominanten imperialistischen Kapital, das sich während der Krise erweitert und
gestärkt hat. Teile der britischen und italienischen Bourgeoisie suchen nun
nach Auswegen auf nationaler Ebene. Italien will seinen Status als
imperialistische Macht behaupten, steht aber unter dem Druck seiner
GläubigerInnen. Der ständige Wettbewerb mit dem deutschen Imperialismus hat
nicht zu einer „Annäherung“, geschweige denn zu einer Abschwächung der inneren
Spannungen geführt, wie es sich der französische Imperialismus erhofft hatte.
Vielmehr ist das genaue Gegenteil eingetreten: Im Kapitalismus überwiegt
der/die stärkste MarktteilnehmerIn und wirtschaftliche Ungleichgewichte werden
reproduziert und sogar verstärkt.

Die kommende Wirtschaftskrise wird die EU
und die Eurozone auf den Prüfstand stellen. Was das Projekt der Vereinigung
Europas betrifft, so gibt es mehrere mögliche Szenarien. Wenn die EU in konkurrierende
Blöcke mit jeweils „eigenen“ Sonderwirtschaftszonen zerfällt, würde die
deutsch-französische Führung sicherlich zerbrechen. Andererseits dürfte ein
kleiner „Kerneuropa“-Block um Deutschland oder gar Deutschland-Frankreich
weiterhin große Teile Europas wirtschaftlich dominieren, wenn auch in anderer
Form. Im schlimmsten Fall könnten die EU in zahlreiche „unabhängige“ Staaten
implodieren, die bereits geschaffenen Wirtschaftsbeziehungen sich auflösen und
dies zum völligen Zerfall der Produktivkräfte führen und damit eine Form der
Balkanisierung des gesamten Kontinents heraufbeschwören.

Schließlich kann auch eine Form der
Vereinigung unter deutsch-französischer Führung nicht völlig ausgeschlossen
werden, aber dies könnte nur eine vollständige politische Unterordnung der
anderen EU-Staaten, insbesondere der wirtschaftlich schwächeren, bedeuten. Sie
könnte nur durch wirtschaftliche Gewalt und politischen Zwang zustande kommen
und wäre daher eine „Vereinigung“, die früher oder später zu Spannungen, Konflikten
und Auseinanderfallen führen würde.

Die europäische Wirtschaft und das soziale
Leben haben sich zwar stärker europaweit verzahnt und integriert, so dass die
Freizügigkeit der Menschen auf dem gesamten Kontinent möglich werden konnte und
als Folge davon die nationale Engstirnigkeit sich bis zu einem gewissen Grad
verringert hat, insbesondere bei den jungen Menschen und denjenigen, die in
international organisierten Dienstleistungen und Industrien tätig sind. Aber
die kapitalistischen Klassen waren nicht in der Lage, den Kontinent zu
vereinheitlichen, da dies auch die Überwindung seiner ungleichen Entwicklung
und die Anhebung der sozialen und wirtschaftlichen Standards auf das höchste
Niveau erfordern würde. Das ist auf kapitalistischer Ebene unmöglich, ebenso
wie es für die imperialistischen Bourgeoisien aus Deutschland, Frankreich und
die schwächeren Mächte unmöglich ist, den Kontinent organisch zu entwickeln.
Für sie ist die Vereinigung Europas nur dann sinnvoll, wenn sie auf der
Dominanz ihres Kapitals beruht, auf der Fortsetzung der Ausbeutung
halbkolonialer Räume durch Integration dieser in ihre Produktions- und
Vermarktungssysteme. Während die deutsche und die französische herrschende
Klasse sich vielleicht darauf einigen könnten, die schwächeren Teile des
Kontinents unter sich aufzuteilen, streben dennoch beide
KapitalistInnenklassen, beide imperialistischen Staaten danach, der dominante
Teil in dieser Beziehung zu sein – ein Widerspruch, der nicht auf der Grundlage
des kapitalistischen Systems überwunden werden kann.

Darüber hinaus versuchen die
HauptkonkurrentInnen der EU bereits, diese Krise zu nutzen und in sie
einzugreifen. Die USA unter Trump wollen die EU als eine Reihe von einzelnen
Handels- und IndustriepartnerInnen behandeln und so zerlegen. China strebt den
Zugang zur EU an und nutzt die Bedeutung seines Marktes für das europäische
Kapital im Kampf mit den USA. Russland will auch eingreifen, wenn auch mit dem
bescheideneren Ziel, Wirtschaftssanktionen und eine politische Isolierung durch
die USA und einige EU-Staaten zu überwinden. Selbst schwächere imperialistische
Mächte außerhalb der EU suchen Zugang zu ihren Märkten. Schließlich versuchen
nicht nur Staaten, sondern auch einige Teile der globalen Rechten, wie z. B.
die Alt-Right aus den USA, sich in die Krise Europas einzumischen.

Die aktuellen Spannungen und inneren
Widersprüche drücken sich darin aus, dass die EU an einer Reihe von Fronten
nicht vorankommt. Ihre Struktur und Verfassung spottet nicht nur selbst
bürgerlichen Formen der Demokratie. Der Verbleib entscheidender Kompetenzen bei
den nationalen Regierungen hat auch zu inneren Blockaden, Verzögerung von
„Reformprojekten“ und einer Reihe halbherziger Entscheidungen geführt. Die
vermeintlichen „Lösungen“ für diese Probleme haben selbst zu einer Abschaffung
der demokratischen Kontrolle, vor allem im Finanz- und Wirtschaftsbereich, oder
zu „Ausnahmen“ von den EU-Vorschriften geführt, die die Verhandlungsmacht der
verschiedenen Staaten widerspiegeln.

Je größer die Krise der Institution, je
geringer ihre Legitimität in der Bevölkerung, desto mehr „ermuntert“ dies einen
reaktionären Antieuropäismus der populistischen oder gar faschistischen
Rechten. Die Salvinis, Orbáns, Straches der Welt, obwohl sie alle AnhängerInnen
ihres nationalen Kapitals und der Interessen ausländischer InvestorInnen sind,
nutzen die wirkliche arbeiterInnenfeindliche und antisoziale Politik der EU
oder der Großmächte aus einem erzreaktionären, nationalistischen und
rassistischen Blickwinkel.

Andererseits stellen die liberalen, grünen,
proeuropäischen Konservativen sowie die Mehrheit der Sozialdemokratie und der
Gewerkschaften die derzeitige EU und ihre Reform als eine ultimative Leistung
dar. Sie bezeichnen alle, die die EU ablehnen, als neoliberal, undemokratisch, rassistisch
oder imperialistisch und als „antieuropäisch“.

Beide Lager versuchen, die Massen für ihre
eigenen Zwecke zu täuschen, aber für die europäischen KapitalistInnenenklassen
steht der entscheidende Moment bevor. Sie brauchen eine „Reform“ der EU, um
ihre inneren Blockaden zu überwinden, um eine politische und militärische
Vereinigung von oben herbeizuführen und die EU zu einer echten Konkurrentin
gegenüber den USA oder China zu machen. Oder sie müssen sich für eine andere
Strategie entscheiden.

Diese könnte in einer untergeordneten
„Partnerschaft“ mit einer der stärkeren Mächte bestehen und darin, die Rolle
einer „Juniorpartnerin“ in der Weltpolitik zu spielen, wenn die EU weiter
stagniert. Natürlich könnte es eine „privilegierte Partnerschaft“ mit den USA
geben ebenso wie enge Beziehungen zu einem expandierenden China oder eine
engere Zusammenarbeit mit Japan. Gleichzeitig wird die anhaltende Krise auch zu
„Blöcken“ innerhalb der EU führen, sei es um eine dominante europäische Macht
wie Deutschland herum oder um andere imperialistische Mächte herum, wie den
USA. Nichts ist sicher außer der Tatsache, dass sich die Dinge nicht mehr so
wie bisher hinziehen können. Europa ist bereits in einer tiefen Krisenphase und
diese wird sich fortsetzen und verschärfen.




Der Aufstieg der Rechten

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 5, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

In den letzten zehn Jahren hat Europa eine
Reihe von beeindruckenden sozialen und politischen Kämpfen erlebt. Die
griechischen ArbeiterInnen und Jugendlichen erhoben sich gegen die
Sparprogramme, verdrängten die Regierungen von Pasok und Nea Dimokratia,
organisierten Dutzende von Generalstreiks, brachten Syriza an die Macht und
waren bereit, sich der von der EU und dem IWF auferlegten Sparpolitik zu
widersetzen. Ähnliche Kämpfe, wenn auch in geringerem Umfang, gab es in Ländern
wie Spanien und Portugal. In Frankreich erzwangen die ArbeiterInnen- und
StudentInnenbewegungen Zugeständnisse und Rückzüge sowohl vom rechten
Präsidenten Nicolas Sarkozy als auch vom Vorsitzenden der Sozialistischen
Partei François Hollande bei einigen ihrer „Reformen“.

Im Jahr 2015/2016, als Millionen von
Flüchtlingen vorübergehend in der Lage waren, die rassistischen und
militarisierten Grenzregime zu überwinden und in die Festung Europa
einzudringen, begrüßten sie Millionen von UnterstützerInnen.

Aber die historischen Kämpfe in
Griechenland und die antirassistische Welle der Solidarität mit Flüchtlingen
wurden besiegt. Über die Grenzen der EU hinaus führte die Niederlage des
Arabischen Frühlings nicht nur zur Flüchtlingskrise in Europa, sondern
verschärfte auch das Gefühl, dass die Hoffnungen der Widerstandswelle 2010/2011
zunichtegemacht worden waren.

Es waren diese Niederlagen, nicht nur die
Krise der Europäischen Union, die die Rechte hervorbrachten, den Aufmarsch
offen rassistischer, islamfeindlicher und chauvinistischer Kräfte im
bürgerlichen Lager und reaktionäre Massenmobilisierungen in allen Ländern.
Rechte Parteien wurden zu Massenkräften in der Gesellschaft, sowohl auf der
Straße als auch in den Parlamenten.

Die rechtspopulistischen, nationalistischen
und rassistischen Parteien waren bereits bei den Europawahlen 2014 große
Gewinnerinnen, und dasselbe ist für 2019 zu erwarten. Sie präsentieren sich
gegenüber der EU als die großen Verteidigerinnen der „Nation“, die endlich die
Bürokratie in Brüssel „ausmisten“ wollen, die die „Fremdherrschaft“ beenden
wollen. Sie stellen die EU als ein Projekt gegen die nationalen Interessen dar.
Die „Brexit“-Kampagne im Jahr 2016 fasste die Versprechen dieses
bürgerlich-nationalen Lagers am besten zusammen, als der damalige britische
Außenminister Boris Johnson versprach, dass das gesamte Geld, das nach Brüssel
fließe, nach dem Brexit in das britische Gesundheitssystem, den NHS, gelangen
würde.

Eine solche Demagogie ist zu einem
einfachen, aber wirksamen Instrument für Rechtsextreme aller Art geworden, um
Unterstützung gegen die EU zu sammeln. Im Mittelpunkt stehen dabei
„klassischer“ Nationalismus und Rassismus. Das Problem seien nicht der
Kapitalismus, sondern die „AusländerInnen“. Manchmal wird die EU sogar als das Werk
einer internationalen Verschwörung gegen das „Volk“ dargestellt, in der die
dunklen Kräfte des „Kosmopolitismus“ für das Kapital wirken würden. Hier
beginnt neben der vorherrschenden Islamophobie das Monster des Antisemitismus
sein hässliches Haupt zu erheben. Auf diese Weise verbinden einige von ihnen
Rassismus entweder mit einer neoliberalen Agenda (wie FPÖ, Fidesz, Lega oder
die Mehrheit der deutschen AfD) oder mit einem nationalistischen
„Antikapitalismus“, mit Islamophobie und Antisemitismus einschließlich aller
möglichen Mischformen.

Bei Wahlen und in anderen Massenkampagnen
sind diese RechtspopulistInnen immer bereit, sich aus der EU zurückzuziehen
oder eine „Wiederherstellung“ der nationalen Souveränität zu versprechen, sei
es in der Finanzpolitik oder beim Grenzregime. Wie es bei populistischen
DemagogInnen üblich ist, hat dies jedoch nicht unbedingt etwas mit ihrem
Handeln zu tun, wenn sie in die Regierung eintreten. So freut sich Viktor
Orbán, Verteidiger der christlich-ungarischen Zivilisation gegen die von George
Soros gestifteten Institutionen für höhere Bildung und Menschenrechte, dass
„seine“ ungarischen ArbeiterInnen vom deutschen Industriekapital mit Hilfe
eines „Sklavengesetzes“, das bis zu 400 unbezahlte Überstunden pro Jahr
erlaubt, über-ausgebeutet werden, um so die Interessen der InvestorInnen aus
der BRD zu bedienen.

Auch in Österreich hat die FPÖ ihre
Forderungen nach einem Referendum über den Austritt aus der EU schnell
zurückgenommen, da der österreichische Kapitalismus von der Unterwerfung der
osteuropäischen Volkswirtschaften profitiert. Selbst die derzeit recht
„hartnäckige“ italienische populistische Regierung hat ihre „Ixit“-Pläne
vorerst beiseitegelegt. Schließlich sollen zunächst mit der EU über eine
Umschuldung der horrenden Staatsschulden verhandelt werden und gleichzeitig die
von der ehemaligen „technokratischen Regierung“ von Mario Monti (2010-2012)
vereinbarten Verpflichtungen erfüllt werden. Auch Marine Le Pen, die Führerin
der französischen Rassemblement National, versuchte, an die französischen
bürgerlichen WählerInnen zu appellieren, indem sie ihre Forderung nach einem
Rückzug aus der EU abschwächte.

Viele dieser Kräfte wollen einen „neuen“
kapitalistischen Deal mit der EU. Salvini, der italienische Innenminister und Führer
der Lega, schlug sogar vor, dass sein Land in Zusammenarbeit mit Deutschland
ein neuer Ko-Führer Europas werden sollte, indem er sich auf die Idee einer
„Achse Rom-Berlin“ bezog. War dies nur eine unglückliche Redewendung oder ein
Signal an AnhängerInnen der extremen Rechten?

Die rechtspopulistischen Parteien sind mit
ihren sozial-nationalen Versprechungen und der entsprechenden Rhetorik tief in
die Wählerschaft der konservativen „Volksparteien“ sowie der
sozialdemokratischen oder „sozialistischen“ Parteien Europas eingedrungen.
Diese Erfolge in der ArbeiterInnenklasse sowie im Kleinbürgertum haben diesen
Parteien eine Unterstützung zwischen 15-25 Prozent in den Umfragen und Wahlen
beschert. Es ist ihnen gelungen, die Feindseligkeit gegenüber der EU zu
absorbieren, indem sie sich als Verteidigerinnen des „einfachen Volkes“
präsentieren oder sogar, ähnlich wie Trump in den USA, behaupten die
(einheimischen) arbeitenden Menschen zu vertreten, die von ihren traditionellen
Parteien verlassen worden wären. Dass sie damit durchkommen können, liegt nicht
zuletzt daran, dass sozialistische und andere ArbeiterInnenparteien zu
Agentinnen neoliberaler Reformen geworden sind und ihre alten sozialistischen
Programme und ihre Identifikation mit dem Proletariat heruntergespielt oder
aufgegeben haben. Hinzu kam die Schwäche der Gewerkschaften bei der Bekämpfung
der Sparpolitik der nationalen Regierungen, die von den EU-Institutionen
unterstützt wurden. Unterdessen führte die Deindustrialisierung ganzer
Regionen, der Ersatz von sicheren durch unsichere Arbeitsplätze zur Schrumpfung
der Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, obwohl die lohnabhängige
ArbeiterInnenklasse beileibe nicht verschwunden war.

Mit ihren Erfolgen öffnen solche
rechtspopulistischen Parteien auch den Weg für offen faschistische Kräfte. In
vielen Staaten gibt es eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen. Militante
Organisationen sind keine Seltenheit mehr. Gewalttätige Angriffe auf
MigrantInnen, Flüchtlinge und Linke, auch Mord, sind Realität geworden. Zusammengenommen
stellen die RechtspopulistInnen, die rassistischen Bewegungen und die
faschistischen Kräfte eine echte und unmittelbare Bedrohung für die
ArbeiterInnenklasse des Kontinents dar. Dies setzt sich fort und verschärft
sich noch, wenn sie an der Regierung sind. Sie verbinden Rassismus mit massiven
Angriffen auf die Rechte der ArbeiterInnenklasse und die von Frauen,
Minderheiten usw.

Viele europäische Regierungen und
Mainstream-Parteien, darunter die Sozialdemokratie und Teile der Linken, haben
zum Aufstieg der Rechten durch eine rassistische Politik in Regierungen und
Parlamenten beigetragen. Die EU hat das Mittelmeer de facto abgeschottet und
überwacht es mit militärischen Kräften. Alle Länder haben massive Angriffe auf
die demokratischen Rechte sowie auf die Rechte von ArbeitsmigrantInnen und
Flüchtlingen unternommen. Nur als überausgebeutete ArbeiterInnen oder
hochqualifizierte Arbeitskräfte sind sie „willkommen“.

Die Anpassung an die Rechten ist aber auch
das Ergebnis der inneren Krise und der imperialistischen Ambitionen der EU und
ihrer führenden Staaten selbst. Antimuslimischer Rassismus ist zur
dominierenden Form des Rassismus in ganz Europa geworden, nicht nur, weil er
ein fester Bestandteil der rechten Agenda ist, sondern auch, weil er neue
„Antiterror“-Gesetze, mehr Rechte für die Polizei, die Verkündung von
„Ausnahmezuständen“ und die „humanitären“ Interventionen im Nahen Osten oder
Afrika rechtfertigt.




Krise der Führung der ArbeiterInnenklasse

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 6, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Der Aufstieg der Rechten wäre ohne die
Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung und der antirassistischen und sozialen
Kräfte unmöglich gewesen. Diese Niederlagen sind selbst eindeutig das Ergebnis
der verräterischen Politik der FührerInnen und des Apparats der
ArbeiterInnenbewegungen in Europa.

Die Sozialdemokratie hat längst eine
Rechtskurve hinter sich. Unter Tony Blair und Gerhard Schröder gab sie
„traditionelle“ keynesianische soziale Reformen und Verbesserungen auf und
akzeptierte die Parameter der neoliberalen Agenden. Diese Politik verlangte von
ihnen, die reformistischen, sozialdemokratischen und Labour-Parteien
unabhängiger von den Gewerkschaften und ihrer ArbeiterInnenbasis, von ihren
sozialen und historischen Verbindungen zur ArbeiterInnenbewegung zu machen.
Obwohl die reformistischen FührerInnen in Parlamenten und Apparaten einen
langen Weg gegangen sind, um diese Verbindung zu lösen und zu brechen, ist es
den meisten von ihnen letztendlich nicht gelungen, dies zu tun.

Eine wichtige Ausnahme ist die ehemals
größte kommunistische Massenpartei Europas, die italienische, die, immer schon
eine der reformistischsten, sich „erfolgreich“ in eine linke, offen bürgerliche
Partei verwandelt hat und mit einem Teil der Christdemokratie verschmolzen ist.
Sie führte den italienischen Kapitalismus so sehr im Interesse der Bourgeoisie
und der EU, dass sie damit die Voraussetzungen für den Aufstieg der
Fünf-Sterne-Bewegung und der neuen rechten Regierung schuf.

In den meisten Teilen Europas haben die
sozialdemokratischen Parteien jedoch ihre Verbindungen zur
ArbeiterInnenbewegung aufrechterhalten, was auch die gelegentlichen
demagogischen und letztlich leeren sozialen Versprechungen eines Hollande und
der französischen PS oder in jüngster Zeit der spanischen PSOE ermöglicht hat.
Der Aufstieg von Jeremy Corbyn in der britischen Labour-Partei und ihre
Massenrekrutierung von Hunderttausenden hat jedoch auch gezeigt, dass sich die
traditionellen reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien unter
bestimmten Bedingungen sogar nach links entwickeln und zu einer Attraktion für
ArbeiterInnen und Jugendliche werden können.

Die meisten der traditionellen
reformistischen Parteien bleiben jedoch der bürgerlichen Mainstreampolitik verbunden.
Bestenfalls befürworten sie ein „soziales“ und „reformiertes“ Europa, das eine
Wirtschaftspolitik zur Förderung von Investitionen, Wachstum und Beschäftigung
einführen und Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Umwelt
finanzieren soll. Kurz gesagt, sie schlagen einen „New Deal“ für Europa vor,
der die kapitalistische Vereinigung auf der Grundlage einer staatlichen
Intervention zur Schaffung von Formen des „europäischen Kapitals“ verstärken
und gleichzeitig einige Mindestrechte für ArbeiterInnen, Jugendliche, Frauen
und unterdrückte Minderheiten einführen soll.

Außen- und internationalpolitisch sind sie
für ein starkes vereintes Europa, eine europäische „Verteidigung“ und eine noch
„aktivere“ Außenpolitik, um „Demokratie“ und eine „Weltwirtschaft“ zu sichern.
Ihr Europa, auch wenn es einige Verbesserungen für die europäischen
ArbeiterInnen zugestehen sollte, ist eigentlich ein sozialchauvinistisches und
imperialistisches Europa, das die Migration „regelt“, seine Grenzen verteidigt,
seine bestehenden Militär- und Polizeikräfte aufbaut oder verteidigt oder sogar
ihre „Modernisierung“ fordert, um Europa gegen Trump und/oder Putin zu
verteidigen.

Trotz ihres vermeintlichen „Europäismus“
bleiben die FührerInnen der Sozialdemokratie jedoch ebenso wie „ihre“
herrschenden Klassen auf das nationale Terrain orientiert. Während der großen
Krise, als die EU und der Internationale Währungsfonds die griechischen und
südeuropäischen ArbeiterInnen auf Rationierung setzten, unterstützten sie ihre
Bourgeoisie und die EU-Kommission. Sie haben zwar den deutschen Finanzminister
Wolfgang Schäuble als etwas zu hart kritisiert, aber jede Opposition gegen ihn
abgelehnt und schließlich für die der Regierung Syrizas auferlegten EU-Verträge
gestimmt.

Wie die Corbyn-Bewegung aber beweist,
können solche Parteien unter bestimmten Bedingungen nach links gehen und ein
linkes reformistisches Programm verabschieden, das sogar eine Verstaatlichung
und eine ganze Reihe von sozialen Reformen verspricht. Aber, wie selbst die Labour
Party und Corbyns linke AnhängerInnen zeigen, sind sie nicht bereit oder
vorbereitet für einen entscheidenden Bruch mit den Rechten in ihren eigenen
Parteien, selbst wenn diese massive Sabotage betreiben. Was sie in der
Regierung tun würden, kann man sich leicht vorstellen.

Dies ist eine Folge ihrer politischen
Strategie, nicht des Charakters ihrer FührerInnen. Ihr Programm erfordert eine
parlamentarische Mehrheit, und um diese zu erreichen oder aufrechtzuerhalten,
müssen sie nicht nur den rechten Flügel „an Bord“ halten, sondern auch den
GewerkschaftsführerInnen und der Bourgeoisie selbst versichern, dass sogar eine
von den linken ReformistInnen geführte Regierung nicht „zu weit“ gehen und zu
Kompromissen bereit sein würde. Sie versichert der ArbeiterInnenbürokratie und
der Bourgeoisie, dass die Bewegung unter ihrer Führung nicht mit revolutionären
Mitteln mit dem bürgerlichen Staat und der herrschenden Klasse brechen würde.
Deshalb hat die Corbyn-Führung in der Frage der Kontrolle der Parteimitglieder über
die Abgeordneten den Rechten zugestimmt, hat eine demokratische Entscheidung
über die Brexit-Politik behindert und gleichzeitig die Unterstützung der
Freizügigkeit (Niederlassungsrecht für Beschäftigte in allen EU-Staaten)
aufgegeben. Sie hat es zeitweilig sogar der Premierministerin Theresa May
ermöglicht, die Initiative wiederzuerlangen.

Angesichts des Rechtsrucks in Europa und
der sich verschärfenden Krise müssen sich die RevolutionärInnen auf die
Mitglieder und AnhängerInnen dieser Parteien beziehen, da sie immer noch die
Masse der organisierten ArbeiterInnenklasse des Kontinents repräsentieren und
immer noch die Mehrheit der Gewerkschaften anführen und dominieren. Kein
erfolgreicher Kampf gegen die aktuellen und kommenden Angriffe wird möglich sein,
ohne diese ArbeiterInnen zum Handeln zu bewegen.

Daher müssen RevolutionärInnen eine
unerbittliche Kritik an der Politik, den Programmen und den Anpassungen dieser
Parteien an die Bourgeoisie mit der Aufforderung an sie verbinden, gegen die
nationalen und europäischen KapitalistInnen zu mobilisieren. Das bedeutet, zu
verlangen, dass sie mit der Bourgeoisie brechen, wenn sie an der Regierung
sind, und jede Koalition mit den Parteien der herrschenden Klasse ablehnen. Sie
sollten die Linke in diesen Parteien in ihrem Kampf gegen die Rechte
unterstützen und von ihr entschlossenes Handeln verlangen, aber, wie das
Beispiel von Labour oder anderen Parteien zeigt, dürfen sie dies nicht mit der
Anpassung an das Programm und die Strategie der linken ReformistInnen verwechseln.
Jede Unterstützung muss sehr kritisch und darauf ausgerichtet sein, das Gehör
des ArbeiterInnenanhangs dieser Parteien zu finden, um ihn davon zu überzeugen,
mit dem Reformismus als solchem zu brechen und für ein revolutionäres Programm
zu gewinnen.

In vielen Ländern hat die Krise der
Sozialdemokratie oder der alten „kommunistischen“, d. h. stalinistischen
Partei, zur Gründung von „linken Parteien“ geführt, Parteien mit einem linken
reformistischen Programm. Wie das Beispiel von Syriza in der Regierung gezeigt
hat, unterscheiden sich diese Parteien qualitativ nicht von den etablierten
reformistischen Parteien. Sie sind weder willens noch bereit, mit der
Bourgeoisie und dem europäischen Kapital zu brechen, wenn ein revolutionärer
Bruch erforderlich ist.

Trotz der Krise der europäischen
Sozialdemokratie waren diese linken Parteien jedoch selbst nicht in der Lage,
die Masse der ArbeiterInnenklasse in den meisten Ländern außerhalb
Griechenlands zu gewinnen. Ein Grund dafür ist, dass sie letztendlich keine
strategische, programmatische Alternative zum Programm der Hauptspielart des
Reformismus bieten. Wenn die größere reformistische Partei „plötzlich“ nach
links geht, sind die linken ReformistInnen schwer zu unterscheiden. Zweitens
haben sich solche Parteien immer wieder geweigert, die Führung und Hegemonie
der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften und ArbeiterInnenorganisationen in
Frage zu stellen und haben dadurch oft sogar schwächere organische Verbindungen
zur Klasse.

Während sich die sozialdemokratischen
Parteien selbst bisher generell an die „proeuropäischen“ Teile ihrer
herrschenden Klassen angepasst haben, sind die europäischen Linksparteien in
dieser Hinsicht gespalten. Ein wichtiger Teil imitiert die Politik der
Sozialdemokratie, wenn auch in einer eher linken Version. Er fordert die
„Umwandlung“ der EU in eine soziale, demokratische Einheit mit Wohlfahrt,
Verstaatlichung wichtiger Wirtschaftssektoren und einer „humanitären“ oder
„friedlichen“ Globalpolitik. Er lehnt die NATO ab und ruft auch zur „Abrüstung“
auf, d. h. zu einer sozialpazifistischen und nicht zu einer offen
sozial-chauvinistischen Politik.

Als ReformistInnen ist ihre Strategie für
den Wandel jedoch letztendlich eine parlamentarische, die versucht, Europa über
die bestehenden, wenn auch demokratisierten Institutionen der bürgerlichen
Staaten zu verändern.

Während dieser Flügel des europäischen
linken Reformismus eindeutig sozial mit der ArbeiterInnenklasse verbunden und
organisch damit vernetzt ist, sind auch Formen eines europäischen linken
Populismus entstanden, sowohl in den Formen „Pro-EU“ als auch „Anti-EU“.

Einerseits gibt es die kleine „Demokratie
in Europa“-Bewegung 2025, kurz DiEM25, um den ehemaligen griechischen
Finanzminister Yanis Varoufakis. Mit 60.000 Mitgliedern aus der gesamten
Europäischen Union sieht diese den Feind im „finanzialisiertes“ globalen
Kapital. In ihrem Manifest wird über den demokratischen Wiederaufbau der EU von
unten durch eine „radikale“ Demokratisierung und „die Neuaufstellung
bestehender Institutionen durch eine kreative Neuinterpretation bestehender
Verträge und Charten“ gesprochen, die in den Wahlen zu einer
„verfassunggebenden Versammlung“ gipfeln sollen. Es stellt eine eklektische
Mischung aus utopischen und reformistischen Forderungen wie einem universellen
Grundeinkommen und Beteiligungshaushalten dar. Als Agentur, die dies erreicht,
sieht DiEM25 nicht die ArbeiterInnenbewegung, sondern „das Volk“. In der Tat
erweist sich dieses „Volk“ als der akademische Mittelstand.

Andererseits hat eine Spaltung in der
Europäischen Linkspartei zur Bildung einer linkspopulistischen europäischen
Allianz geführt, die „Maintenant le Peuple“ (Jetzt das Volk) um La France
Insoumise (Unbeugsames Frankreich) herum, mit dem Parti de Gauche
(Linkspartei), dem spanische Podemos, dem portugiesischen Bloco de Esquerda
(Linksblock), der schwedische Vänsterpartiet (Linkspartei) und der dänische
Enhedslisten (Einheitsliste Rot-Grün). Im Gegensatz zur Europäischen
Linkspartei kämpfen sie für eine offene Ablehnung der EU von Seiten der
„Linken“ und für den Austritt aus der EU. Sie sind der Ansicht, dass ein
Reformprogramm nur außerhalb der EU und mit der Rückkehr zur „nationalen
Souveränität“ durchgeführt werden kann.

Die Allianz „Jetzt das Volk“ versucht die
Rechten in ihrer Ablehnung der EU zu übertreffen, auch wenn die Alternative,
zurück zum Nationalstaat, die gleiche ist. Hier wird die Illusion verbreitet,
dass es im Nationalstaat bessere Kampfperspektiven gebe, dass die
ArbeiterInnenbewegung und der Mittelstand da „mehr“ herausholen könnten als aus
dem bürokratischen Monster EU. In diesem Sinne gibt es gewisse Überschneidungen
dieser linken PopulistInnen mit ihren GegnerInnen, den rechten PopulistInnen.
Diese Anpassung an den populistischen Trend der bürgerlichen Klasse ist nicht
verwunderlich, da sowohl Mélenchon als auch die Europäische Linke bürgerliche
Politik innerhalb der ArbeiterInnenbewegung vertreten und sich als
„vernünftige“ Alternative für das jeweilige nationale Kapital verstehen.




Gewerkschaften

Die Krise der Europäischen Union, , Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 7, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Nicht nur die alten und
neuen reformistischen Parteien und die linken PopulistInnen haben es versäumt,
eine kämpferische Antwort auf die Krise zu geben. Auch die Gewerkschaften haben
dabei versagt, in den Abwehrkämpfen eine Führungsrolle zu übernehmen und sie
auf europäischer Ebene zu vereinen. Die Gewerkschafts- und
Betriebsorganisationen, wie die Europäischen Betriebsräte, sind nach wie vor
schwach und eng mit einem System der Klassenzusammenarbeit verbunden, das sich
mehr oder weniger an dem deutschen Mitbestimmungssystem orientiert. In den
meisten Ländern sind die Gewerkschaften geschrumpft und auf bestimmte
Industriezweige oder den öffentlichen Sektor reduziert worden. Nur noch
kleinere Teile der Volkswirtschaften sind durch Tarifverträge abgedeckt.

In weiten Teilen Europas
haben Arbeitslosigkeit, Prekarität, die Abschaffung oder Kommerzialisierung
öffentlicher Dienstleistungen, Gesundheit, Bildung usw. zugenommen und haben
Frauen, Jugendliche und MigrantInnen besonders hart getroffen. Ganze Teile Ost-
und Südeuropas sind bereits verarmt.

Es ist eine
bürokratische, reformistische Utopie zu denken, dass all dies nur dann
aufgehalten werden könne, wenn man sich in „eigenen“ Land widersetzen würde.
Erfolgreicher Widerstand kann nicht ohne einen koordinierten europäischen
Gegenschlag erreicht werden, aber die Unorganisierten können nicht auf der
Grundlage von Sozialpartnerschaft und bürokratischer Routine organisiert
werden.

Die reformistischen und
bürokratischen Führungen und der gesamte bürokratische Apparat haben ihr
Schicksal schon lange mit einer Politik der systematischen
Klassenzusammenarbeit in den Betrieben und der Sozialpartnerschaft in der
Gesellschaft im Allgemeinen verknüpft. Die großen Gewerkschaften haben
Produktivitätsvereinbarungen mit den großen Monopolen ausgehandelt, um die
angeblich gemeinsamen Interessen „ihrer“ Unternehmen oder sogar der
ArbeiterInnen aus „ihrem Land“ gegen die anderer Länder innerhalb eines
multinationalen Unternehmens zu verteidigen. Die meisten Tarifverhandlungen  und Gewerkschaftskämpfe werden auf
nationaler Ebene geführt, obwohl sie innerhalb der EU und weltweit zunehmend
mit globalisierten Branchen zu tun haben.

Dieser national
ausgerichtete Charakter der Gewerkschaften drückt sich entweder in einer sozialchauvinistischen
Reformpolitik aus – Unterstützung von Einwanderungsbeschränkungen, die „unsere“
Lohnabhängigen an die erste Stelle setzen usw. – oder, noch schlimmer, in einer
Zunahme von rechten Kräften in Betrieben und manchmal auch in Gewerkschaften,
denn sie präsentieren sich als VerteidigerInnen des/r „nationalen ArbeiterIn“.
Die Krise der Gewerkschaften kann jedoch überwunden werden, wenn wir das
Positive an den Kämpfen der letzten Jahre verallgemeinern und ausbauen und
einen systematischen Kampf für eine internationalistische Klassenpolitik in den
Gewerkschaften führen.

An dieser Stelle sollten
wir uns daran erinnern, dass es bereits europäische Kämpfe gegeben hat, die
neoliberale Reformen zurückgewiesen haben, wie die Kämpfe der Transport- und HafenarbeiterInnen
gegen die so genannten „Bolkestein“-Richtlinien. Dort erhob sich die
ArbeiterInnenklasse gegen die EU-Institutionen in Brüssel und Straßburg und
konnte die Angriffe zunächst abwehren. In einigen Häfen gibt es Tarifverträge,
die über die nationalen Grenzen hinaus gelten.

Jeden Tag arbeiten
Hunderte von Millionen Menschen auf diesem Kontinent. Sie sind es, die den
größten Binnenmarkt, einen großen öffentlichen Dienst und eine Großindustrie
unterhalten, nicht die neoliberalen BürokratInnen aus Brüssel oder die Bosse
der großen Produktionsketten. Dies eröffnet enorme Möglichkeiten für Aktionen
der ArbeiterInnenklasse. Das Beispiel von Audi Ungarn zeigt dies. Nach einer
Woche Streik in Györ waren auch andere Werke des VW/Audi-Konzerns betroffen. In
Bratislava und Leipzig kam es zu Produktionsausfällen. Die ArbeiterInnen von
Györ setzten ihre Forderung, eine Lohnerhöhung von 16 Prozent, durch trotz der
Einführung der Sklavengesetze in Ungarn. Solche Arbeitskampfmaßnahmen könnten
dazu erfolgreich beitragen Massenentlassungen in der nächsten Krise abzuwehren.

All dies zeigt den Weg
vorwärts, einen Weg, auf den die Dynamik des Klassenkampfes selbst hinweist.
Die ArbeiterInnenbewegung leidet jedoch unter dem Mangel an Internationalismus
und revolutionärer Ausrichtung. Dies zeigt sich auch bei den Protesten und
Massenmobilisierungen gegen dauernden Angriffe. Wenn die ArbeiterInnenklasse
und ihre Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, die Kämpfe im
Betrieb und auf der Straße zu führen, werden dies andere Klassen, andere Kräfte
tun. Wir konnten dies bei Bewegungen wie den Indignados (Bewegung 15 M) in
Spanien sehen, die Podemos hervorbrachten, oder in einer noch beunruhigenderen
Version bei den Gilets Jaunes (Gelbwesten) in Frankreich, die einen
populistischen, kleinbürgerlichen Charakter haben, wo rechte und linke
PopulistInnen um die Führung wetteifern.

Wir können das auch bei
den antirassistischen Kämpfen, in der Umweltbewegung oder am Aufstieg der
linken nationalistischen Bewegungen wie in Katalonien beobachten. In diesen
Fällen übernehmen grüne Parteien, nationalistische Kräfte oder NGOs
(Nichtregierungsorganisationen) die Führung und beeinflussen die Bewegungen,
wenn die ArbeiterInnenklasse nicht eine Politik betreibt, die sich aktiv gegen alle
Formen von Unterdrückung richtet. In Osteuropa, Irland und Spanien haben die
massiven Angriffe auf die Rechte der Frauen Hunderttausende auf die Straße
gebracht. Viele Frauen haben sich zusammengeschlossen, aber meist unter der
Führung liberaler bürgerlicher oder reformistischer Kräfte, was die Dimension
ihrer Aktionen einschränkt.




Neue revolutionäre Parteien und die Internationale

Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 8, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Trotz des Aufstiegs der
extremen Rechten und der reaktionären Kräfte im Allgemeinen mangelt es nicht an
Kämpfen von Menschen, die sich der Sparpolitik ebenso widersetzen wie der
Zerstörung des  „Sozialstaates“,
der Bildung, den öffentlichen Diensten, dem Abstempeln der EinwanderInnen zu
Sündenböcken und dem Weg in die Klimakatastrophe. Die existenzielle Krise der
EU, der Anschlag auf die demokratischen Rechte in den Mitgliedsstaaten, hat
ArbeiterInnen, Jugendliche und unterdrückte Minderheiten immer wieder zu
Hunderttausenden, ja Millionen auf die Straße getrieben. Die nächste Rezession
und die Verschärfung der innerimperialistischen Rivalitäten sowohl in
wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht werden dies noch
verstärken. Dies stellt eine historische Herausforderung für die europäischen
ArbeiterInnenbewegungen dar. Heute ist nicht die Zeit, in der der Kapitalismus
große Reformen zulassen kann, außer er wird durch offen revolutionäre Kämpfe
dazu gezwungen.

Die derzeitigen Führungen
der Gewerkschaften und reformistischen Parteien, rechter wie linker, aber auch
der „linken“ PopulistInnen, haben zweifellos ihre Unfähigkeit bewiesen, dieser
Herausforderung zu begegnen. Es muss eine europaweite revolutionäre Alternative
geschaffen werden von neuen revolutionären Massenparteien, die in einer
Internationalen vereint sind, die Kräfte aus den Gewerkschaften, in den
Betrieben und sozialen Bewegungen sammeln. Natürlich kann ein solcher Prozess
nicht ohne den Versuch stattfinden, die antikapitalistischen und
internationalistischen KämpferInnen in den bestehenden reformistischen Parteien
für sich zu gewinnen. Eine solche Partei braucht Einheit im Handeln und damit
ein Aktionsprogramm, das die Kämpfe des Tages mit dem Kampf um die Vereinigten
Sozialistischen Staaten von Europa verbindet.

Der Aufbau neuer Parteien
und einer neuen, Fünften, Internationalen, ist eine dringende Frage des Tages,
denn wir brauchen eine politische Kraft, um die verschiedene Kämpfe zu vereinen,
um für ein klares politisches Programm und eine klare politische Richtung zu
kämpfen, den Reformismus, den linken Populismus, die kleinbürgerliche Politik
und den Zugriff der Bürokratie auf die Gewerkschaften herauszufordern.

Wir brauchen eine revolutionäre
Organisation, die sich für ein Programm des Klassenkampfes in allen
entstehenden Bewegungen einsetzt, in allen Formationen des Widerstands gegen
die Angriffe der Bosse, gegen die Angriffe auf demokratische Rechte, gegen
Rassismus, Krieg, Militarismus und Klimawandel. Ein solches Programm muss in
die Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und insbesondere in die
Gewerkschaften und Betriebe eingebracht werden.

Ein wesentlicher
Bestandteil einer solchen Politik muss die Forderung nach Aktionskonferenzen
der ArbeiterInnenbewegung und der Unterdrückten auf allen Ebenen sein; in den
Betrieben, in den Gewerkschaften, an den Universitäten und Schulen, in den
Stadtvierteln, auf lokaler, regionaler, nationaler und europaweiter Ebene. Auf
solchen Konferenzen muss ein internationales Vorgehen ausgearbeitet und
vereinbart werden. Sie müssen Entscheidungen treffen, die zu gemeinsamen
Massenaktionen führen, wie die Anti-Kriegs-Mobilisierungen des Europäischen
Sozialforums zu Beginn des Jahrhunderts.

Die Notwendigkeit eines
europaweiten Kampfes gegen das Wachstum der Rechten, gegen die Sparmaßnahmen
und die Militarisierung muss in die Strukturen der ArbeiterInnenbewegung
getragen werden. Das ist die Perspektive für 2019, unabhängig von den
Ergebnissen der EU-Wahlen. Die Rechte ist weiter in der Offensive, und die
Linke und die ArbeiterInnenklasse müssen die Führung beim wachsenden Widerstand
übernehmen. Deshalb rufen wir alle RevolutionärInnen und AntikapitalistInnen
auf, sich in dieser Aufgabe zu vereinen und präsentieren dieses Programm als
Beitrag zur notwendigen Diskussion, um den Widerstand zu schmieden, der nicht
nur die Offensive der Rechten besiegen, sondern auch zur sozialistischen
Transformation Europas übergehen kann.




Europäisches Aktionsprogramm

Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 9, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Gegen Arbeitslosigkeit
und prekäre Beschäftigung

  • Für Massenstreiks bis hin zu Generalstreiks, um zu verhindern, dass Unternehmen und Regierungen uns den Preis für ihre Krise durch Massenentlassungen zahlen lassen.
  • Gegen alle Ausgliederungen und das Verdrängen von Vollzeitstellen durch Subunternehmen und Leiharbeit. Keine Lohnkürzung durch Kurzarbeit oder erzwungene Teilzeit!
  • Für ein massives Sofortprogramm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten zur Schaffung von Vollbeschäftigung, Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur und zur Wiederherstellung einer lebenswerten Umwelt. Die EinwohnerInnen der ArbeiterInnenbezirke, die mit akutem Mangel an sozialem Wohnraum, mit baufälligem Wohnungsbestand, heruntergekommenen Schulen, Mangel an Kindergärten, Arztpraxen und Kliniken konfrontiert sind, sollen eine Liste ihrer sozialen Forderungen erstellen, die ein solches Programm erfüllen soll.
  • Die öffentlichen Arbeiten sollen Teil eines demokratisch entwickelten Produktionsplans unter ArbeiterInnenkontrolle sein. Die Pläne sollten von den Beschäftigten dieser Sektoren zusammen mit denen der Bau-, Rohstoff- und Zulieferindustrie ausgearbeitet werden. Demokratisch gewählte GewerkschaftsvertreterInnen sollten für die Aufnahme von Arbeitslosen oder SchulabgängerInnen in das Programm verantwortlich sein und gemeinsam einen existenzsichernden Lohn durchsetzen. Die Kosten müssen die Banken und Unternehmen, die die Krise verursacht haben, tragen. Das Programm muss durch eine massive Steuererhöhung auf Einkommen und Vermögen der Reichen finanziert werden.
  • In Betrieben, in denen die Bosse versuchen, einen Teil der Belegschaft zu entlassen, fordern wir eine gleitende Skala der Arbeitszeit (Verkürzung der Arbeitsdauer, angepasst an das Ziel Vollbeschäftigung): Die Arbeit soll auf alle aufgeteilt werden, ohne Lohnausfall.

Die Unternehmen nutzen
die Krise, um die Reallöhne zu senken und die prekären Arbeitsbedingungen
auszuweiten. Millionen wurden bereits in Armut und Unsicherheit getrieben, was
unsere kollektive Stärke untergrub. Davon werden in der nächsten Krise mehr
Menschen bedroht sein. Wir fordern:

  • Ein von der ArbeiterInnenbewegung jeweils national festgelegter Mindestlohn auf einem Niveau, das die LohnempfängerInnen vor Armut schützt und das über der europäischen Mindestlohngrenze liegt.
  • Eine gleitende Lohnskala (fortlaufende Anpassung an die Preise) zum Schutz des Lohns vor Inflation.
  • Die Gewerkschaften müssen einen grenzüberschreitenden Kampf beginnen, um das Lohnniveau in allen Ländern auf höherem Niveau anzugleichen. Das ist die Antwort der ArbeiterInnenklasse auf den „Wettlauf nach unten“: ein Wettlauf nach oben, der auf internationaler Solidarität basiert, und nicht Versuche, „ausländische“ Werktätige zu vertreiben oder StaatsbürgerInnen gegenüber MigrantInnen zu privilegieren.
  • Für eine 30-Stunden- und eine 4-Tage-Woche jetzt, als gesetzlich vorgeschriebenes Maximum ohne Lohnausfall.
  • Gegen alle Zwangsarbeitssysteme für Arbeitslose oder Regeln, nach denen niedrigere Löhne gezahlt werden können und die einen geringeren Rechtsschutz für dort Angestellte bieten. Echte Jobs für Arbeitslose, nicht Arbeitsmodelle, die arm machen.
  • Alle Beschäftigten in Leiharbeit, erzwungener Teilzeit, Werksverträgen und auslernende Auszubildende sollen einen unbefristeten Vertrag zu vollen Tarifbedingungen erhalten.
  • Für die Verstaatlichung bankrotter Unternehmen statt staatlicher Rettungsaktionen. Anstelle der Billionen-Euro-Beihilfen für Banken und Unternehmen sollten die Banken, die Großkonzerne und alle Unternehmen, die Entlassungen ankündigen, ohne Entschädigung und unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.

Vom heutigen Kampf der
Frauen bis zur vollständigen Befreiung

Das Patriarchat und die
Dominanz der Männer im politischen, wirtschaftlichen, familiären und privaten
Leben macht Männer, einschließlich derjenigen der ausgebeuteten Klassen, zu
Begünstigten und Agenten der Frauenunterdrückung. Männlicher Sexismus ist
jedoch gleichzeitig den Interessen der Männer der ArbeiterInnenklasse
abträglich und behindert den täglichen Klassenkampf und das Ziel des
Sozialismus. Es kann keinen Sozialismus ohne Frauenbefreiung geben.

Zugleich wird nur die
Abschaffung des Kapitalismus, der letzten Form der Klassengesellschaft, die
Frauen endlich befreien. Diese gemeinsame Aufgabe ist die der gesamten
ArbeiterInnenklasse und all jener, die sich aus anderen Klassen für ihre Sache
einsetzen. Deshalb können wir den Ausschluss von Frauen, auch durch Passivität
und Ignoranz, von jedem Aspekt des Klassenkampfes nicht tolerieren. Heute
müssen und können wir, als Frauen und Männer gemeinsam, Millionen Menschen im
Kampf gegen die vielen Formen der Frauenunterdrückung, in Staat, Wirtschaft und
in den Organisationen der ArbeiterInnenklasse mobilisieren.

In den letzten zehn
Jahren haben die Regierungen den Bankiers riesige Subventionen verschafft und
dann massive Kürzungen bei den sozialen Leitungen vorgenommen. Diese trafen die
Arbeiterinnen doppelt hart: erstens als Mehrheit der Beschäftigten in Bildung
und Erziehung von Kindern,  in der
Betreuung von Kleinkindern, Kranken und Älteren; zweitens in der Familie, wo
sie die unbezahlte Arbeit der Betreuung von Menschen übernehmen müssen, deren
Pflege der Staat aufgegeben hat.

Millionen von Frauen in
Europa wird nach wie vor die Möglichkeit einer gut bezahlten Lohnarbeit
verwehrt. Diejenigen, die in die Arbeitswelt eintreten können, werden oft in
die am schlechtesten bezahlten Berufe gezwungen und leiden weiterhin unter
Diskriminierung bei der Bezahlung, wobei sie oft wesentlich weniger für genau
die gleiche Arbeit verdienen als Männer. Arbeitsunterbrechungen durch
Schwangerschaften und Kinderbetreuung in den ersten Jahren werden genutzt, um
Löhne, Gehälter und Renten von Frauen zu drücken.

In jeder Rezession und
Krise erhöhen Armut und die Verzweiflung über Massenarbeitslosigkeit den
körperlichen und geistigen Missbrauch von Frauen, einschließlich Vergewaltigung
und häuslicher Gewalt. Auch hier sind die Mittel zur Bewältigung dieser
Probleme, wie z. B. Frauenhäuser, Opfer von Sparmaßnahmen geworden. Aber mit
zunehmender Unterdrückung wächst auch der Widerstand der Frauen. Die
#Me-Too-Bewegung in den USA verbreitete sich weltweit, auch in Europa, und
machte das allgegenwärtige Ausmaß der sexuellen Belästigung deutlich, unter der
Frauen am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben leiden. Wichtige Teile der
vermeintlich revolutionären Linken haben sich als davon nicht immun erwiesen,
bei all ihren Bekundungen zur Unterstützung des Feminismus und der Frauenbefreiung.

Frauen der
ArbeiterInnenklasse sind nicht nur mit einer Verschlechterung ihrer
Lebensbedingungen konfrontiert, sondern auch mit einer Propagandaoffensive der
Rechten, die verkünden, dass der Platz einer „Frau im Haus“ sei. Dies geht Hand
in Hand mit Maßnahmen zur Einschränkung der reproduktiven Rechte von Frauen. In
einigen Staaten der Europäischen Union, wie Polen, wo die Kirche noch immer
einen enormen Einfluss auf Bildung und Gesundheit hat, sind Abtreibungen für
die überwiegende Mehrheit der Frauen schwierig bis unmöglich.

Der erdrutschartige Sieg
des irischen Referendums (zur Abtreibung) im Mai 2018 und Polens „Schwarzer
Montag“, die Mobilisierungen von Frauen im Jahr 2016, zeigen jedoch, dass
Massenkampagnen sich der tief verwurzelten Macht der Kirchen und anderer
ReaktionärInnen widersetzen und sie sogar brechen können.

Die Wahl von Donald
Trump, berüchtigt wegen seiner Frauenfeindlichkeit und seiner Übergriffe, und
Jair Bolsonaro zum Präsident Brasiliens hat ReaktionärInnen in ganz Europa ermutigt.
Die Welle des Massenwiderstandes in Nord- und Südamerika hat jedoch die Idee
und Praxis gleichzeitiger globaler Mobilisierungen wie den Internationalen
Frauenstreik gefördert.

  • Verteidigt das Recht der Frauen auf Arbeit!
  • Verteidigung der sozialen Leistungen gegen Kürzungen in Kindergärten und bei der Kinderbetreuung und Kampf gegen die Schließung von Zufluchtsorten vor Vergewaltigung und häuslicher Gewalt. Für eine angemessene Unterstützung für die Pflege älterer und gebrechlicher Menschen im Haushalt!
  • Wiederverstaatlichung privatisierter Dienstleistungen, einschließlich kostenloser Kinderbetreuung, Zugang zu Gesundheit und Bildung für alle unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für volle Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen, mit erhöhtem Mutterschafts- (oder Vaterschafts-) Urlaub ohne Verlust von Lohnerhöhungen oder Rentenansprüchen!
  • In jedem europäischen Land fordern wir den uneingeschränkten Zugang aller Frauen zu freier Empfängnisverhütung und Abtreibung auf Verlangen. Der Ausschluss des Einflusses der Kirche auf diese Sphären bleibt in vielen Ländern eine wesentliche demokratische Forderung, ebenso wie die kollektive Kontrolle über die Einrichtungen zur Geburtenkontrolle durch ihre Nutzerinnen und die ArbeiterInnenorganisationen.
  • Verteidigung, Wiederherstellung und Ausbau der Sozialdienste und -leistungen, keine Rückkehr in die häusliche Isolation!
  • Für eine Massenmobilisierung unter dem Motto: Die Frauen werden für die soziale Krise des Kapitalismus nicht bezahlen!
  • Eine radikale Veränderung der Art und Weise, wie das Polizei- und Justizsystem mit Opfern von Vergewaltigung und häuslicher Gewalt umgeht, bei der nicht die Betroffenen vor Gericht stehen, sondern die Täter.
  • Eine Kampagne, um die Anstachelung von Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu stoppen. Öffentliches Anprangern von allen Formen der Erniedrigung, die von der Millionärspresse oder den Social- und Online-Medien kommen.
  • Ausweitung der Frauenausschüsse in den Gewerkschaften und Parteien der ArbeiterInnenklasse sowie Stärkung derer Rechte. Durchsetzung der gleichberechtigten Beteiligung von Frauen an der Führung. Bekämpfung sexistischer Praktiken und jedes Missbrauchs.
  • Unser Ziel, untrennbar mit dem Sturz der kapitalistischen Herrschaft verbunden, ist die vollständige Vergesellschaftung von Kinderbetreuung und Hausarbeit, die volle Gleichstellung der Geschlechter und das Absterben auch der letzten Spuren des Patriarchats.

Jugendliche an der Spitze
der Kämpfe

Die Wurzel der
Unterdrückung der Jugend liegt in der Familie. In der bürgerlichen Familie ist
das Kind fast völlig rechtlos und dem Diktat der Eltern unterworfen, eine
Situation, die die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern vergiftet.
Jugendliche, die ihre eigenen persönlichen und sexuellen Beziehungen aufbauen,
ihre eigenen Interessen verfolgen und irgendwann ihr eigenes Leben gestalten
wollen, müssen die Autorität von Eltern, Schule und Polizei in Frage stellen.

Infolgedessen stehen
junge Menschen an vorderster Front im Kampf um die Freiheit, und die ersten Jahrzehnte
des neuen Jahrtausends haben viele eindrucksvolle Beispiele dafür erlebt. Sie
bildeten die Massenbasis der antikapitalistischen und Antikriegsbewegungen in
den frühen 2000er Jahren. Der Selbstmord eines jungen tunesischen
Straßenhändlers, der gegen Erpressung und Schikanen der Polizei protestierte,
löste 2010/2011 eine Revolution aus, die den autoritären Führer des Landes
vertrieb und den Arabischen Frühling in Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrain und
Syrien einleitete. Mit Hilfe der so genannten sozialen Medien organisierten
Jugendliche eine Welle von Straßenmobilisierungen und Platzbesetzungen, die
sich auf Europa und Nordamerika ausbreitete.

Die Besetzung des
Tahrir-Platzes in Kairo wurde von 2010 bis 2015 von den Indignados in Spanien
und in Italien, Portugal und Griechenland kopiert. Im Jahr 2010 motivierten
Kürzungen in der Bildung als Teil der neoliberalen kapitalistischen
Sparmaßnahmen Universitäts- und CollegestudentInnen, das Parlament in
Großbritannien zu belagern. In vielen Generalstreiks standen junge Menschen an
vorderster Front, um sich den Sparpaketen zu widersetzen, die in der Spitze
dazu führten, dass die Jugendarbeitslosigkeit fast 50 Prozent betrug.

Im Jahr 2018
organisierten junge PalästinenserInnen den Rückkehrmarsch in Gaza, bei dem 200
unbewaffnete DemonstrantInnen von israelischen ScharfschützInnen erschossen
wurden. Schulstreiks, die von der 16-jährigen schwedischen Klimaaktivistin
Greta Thunberg initiiert wurden, lösten 2019 in Deutschland und Großbritannien
direkte Massenaktionen und eine sich weltweit ausbreitende Bewegung aus. Im
Jahr 2019 kam es auch zu Massendemonstrationen junger Menschen in Algerien, die
die 20-jährige Herrschaft von Abd al-Aziz Bouteflika beendeten, gefolgt von
einem Massenaufstand im Sudan, bei dem sich junge Menschen, Frauen und
GewerkschafterInnen zusammenschlossen, um das Ende des gesamten
militärisch-bürokratischen Regimes zu fordern.

Fast ein Jahrzehnt nach
der großen Krise ist die Arbeitslosigkeit, trotz der anhaltenden
wirtschaftlichen Erholung, für die 15- bis 24-Jährigen hoch: in Griechenland
39,9 Prozent, in Italien 32,2 Prozent, in Spanien 34,4 Prozent und  in Frankreich 20,8 Prozent.

Die Mehrheit der
Erwerbstätigen ist in prekären Arbeitsverhältnissen tätig, mit befristeten
Verträgen, Null-Stunden oder erzwungenen Teilzeitverträgen, und mit einem
deutlich schwächeren rechtlichen Schutz als andere Beschäftigte. Firmen wie
Amazon, Deliveroo und Uber beuten junge ArbeiterInnen übermäßig aus. Staatliche
Ausbildungsprogramme zahlen Hungerlöhne und garantieren am Ende keinen
Arbeitsplatz. Auf der Straße werden junge Menschen von der Polizei aufgegriffen
und belästigt.

In den Schulen werden die
Ungleichheiten und Machtstrukturen der Gesellschaft reproduziert und
gerechtfertigt, denn dieses „Lernen fürs Leben“ bedeutet im Kapitalismus,
jungen Menschen das Recht auf Teilnahme an der Entscheidungsfindung zu
verweigern und sie einer willkürlichen Disziplin zu unterwerfen.

Wir sind gegen jede
religiöse oder private Kontrolle des Schulwesens und kämpfen für eine säkulare,
staatlich finanzierte Bildung. Die Lehrpläne sollen von den LehrerInnen, Eltern
und SchülerInnen selbst festgelegt und die Schulen demokratisch verwaltet
werden. Junge Frauen müssen Zugang zur Geburtenkontrolle und das Recht haben,
unerwünschte Schwangerschaften abzubrechen. Wir brauchen Jugend-, Sport-
und  Kulturzentren und den Zugang
zu angemessenen Wohnungen, die vom Staat finanziert werden und unter der
demokratischen Kontrolle der NutzerInnen und der dort beschäftigten
ArbeiterInnen stehen.

  • Kostenlose Bildung für alle, Stipendium, Abschaffung der Studierendendarlehen für einheimische und ausländische Studierende.
  • Ein Ende jeder Trennung und Diskriminierung in der Schule aufgrund von Geschlecht, Rasse oder Religion! Nein zu religiösen Schulen! Für Bildung, keine Indoktrination!
  • Verstaatlichung aller Privatschulen ohne Entschädigung, werft die ProfiteurInnen raus!
  • Demokratisierung der Schulen, Hochschulen und Universitäten unter Beteiligung von SchülerInnen-, Studierenden-, Eltern-, LehrerInnen- und Hilfskräftekomitees zur Planung von Bildung und Verwaltung! Für SchülerInnen- und Studierendengewerkschaften in Schulen und Hochschulen!
  • Sozialzentren für junge Menschen unter der demokratischen Kontrolle derjenigen, die sie nutzen und in ihnen arbeiten!
  • Für einen Lebensunterhalt, Verpflegung und Unterkunft für alle SchülerInnen und Studierenden.

Die demokratischen Rechte
junger Menschen müssen gestärkt werden, mit dem Recht, mit 16 oder früher zu
wählen, wenn sie arbeiten. Diejenigen, die alt genug sind, um zu arbeiten, sind
alt genug, um zu wählen! Keine Zwangsrekrutierung junger Menschen in
kapitalistische Armeen, aber die Ausbildung im Umgang mit Waffen soll für alle
zugänglich sein.

  • Nulltoleranz gegenüber Kindes-, sexuellem oder körperlichem Missbrauch, harte Strafen für Prügel und Grausamkeiten! Abschaffung der Gesetze gegen einvernehmlichen Sex zwischen jungen Menschen!
  • Sexualaufklärung im Kampf gegen Frauenfeindlichkeit, Lesben-/Schwulenhass und Transphobie!
  • Volle StaatsbürgerInnenschaftsrechte mit 16 Jahren, einschließlich des Wahlrechts!
  • Für das Recht auf Arbeit! Schafft Arbeitsplätze, indem die Stunden verkürzt werden, mit vollem Lohnausgleich!

Wo immer reformistische
ParlamentarierInnen oder GewerkschaftsfunktionärInnen es für notwendig halten,
junge Menschen zu organisieren, in angegliederten Jugendorganisationen oder
-bewegungen, versuchen sie immer zu verhindern, dass sie ihre eigenen
Forderungen äußern. Aufgrund der spezifischen Situation der Jugendlichen und
des Charakters ihrer Unterdrückung wird eine wirklich revolutionäre Partei die
Jugendorganisation niemals als untergeordnete Jugend-Abteilung unter der
Vormundschaft erwachsener „FührerInnen“ behandeln. Stattdessen muss sie sich
für die organisatorische und politische Unabhängigkeit der Jugendbewegung
einsetzen, die in der Lage ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ihre
eigene Tätigkeit zu bestimmen, über ihre eigene Politik zu diskutieren und
entscheiden und gegebenenfalls die „erwachsene“ Partei zu kritisieren, die
wiederum das Recht hat, sie zu kritisieren. Nur so können junge Menschen sowohl
aus ihren Fehlern als auch aus ihren Erfolgen lernen.

Kämpfe für Umwelt,
Ressourcen, Nahrung und Klima!

Der Kapitalismus selbst
hat jene Sitation geschafffen, die zu einer globalen Umweltkatastrophe zu
führen droht. Die Wiederbelebung der akuten inter-imperialistischen Rivalität,
der verschärfte Wettbewerb und die 
Handelskriege machen praktisch unmöglich, dass die kapitalistischen
Staaten in der aktuellen Periode die Gefahr einer globalen Klimakatastrophe
angehen oder gar lösen können. Um unsere natürliche Umwelt vor Verschmutzung,
Überschwemmungen, Waldbränden, Wüstenbildung, Hungersnöten und dem Verlust der
biologischen Vielfalt zu schützen, muss die Produktion von der Geißel des
Profits und der Anarchie des Marktes befreit werden. An ihrer Stelle muss eine
nachhaltige Produktion von Energie, Nahrung, Rohstoffen und Verkehr auf
lokaler, regionaler und internationaler Ebene geplant werden.

Ohne schnelles und
entschlossenes Handeln wird der Klimawandel die Reproduktion der Menschheit
selbst gefährden. Während sich die europäischen herrschenden Klassen als „grün“
präsentieren und empört sind über Trump und seinen Ausstieg aus den „Pariser
Klimaabkommen“, wollen sie selbst nur, dass andere für ihr Versagen bei der
Bewältigung der aktuellen Krise bezahlen. Sie verteidigen nicht die Umwelt und
die Zukunft der Menschheit, sondern die Gewinne der Großindustrie, der Monopole
im Automobil-, Öl-, Transport- und Energiesektor. Während sie gegenüber den von
Katastrophen, Überschwemmungen, Wüsten und Wasserknappheit bedrohten
halbkolonialen Ländern Lippenbekenntnisse ablegen, wollen sie eigentlich die
Kosten des Klimawandels auf die Armen, die ausgebeuteten Länder, die
Bauern-/Bäuerinnenschaft und die ArbeiterInnenklasse abwälzen.

Gleichzeitig beginnen
Millionen von Menschen zu erkennen, dass wir einen Systemwechsel brauchen, um
den Klimawandel zu stoppen. Die grünen, bürgerlichen, kleinbürgerlichen
und  reformistischen FührerInnen der
Bewegung verstehen jedoch nicht den Charakter des Systems, des Kapitalismus,
und damit des Mittels, ihn zu stürzen, den Klassenkampf. Um die Umweltfrage
anzugehen, sind sofortige und entschlossene Maßnahmen auf nationaler,
europäischer und globaler Ebene erforderlich.

  • Schnellstmöglicher, geplanter Ausstieg aus nuklearen und fossilen Brennstoffen in der Energieerzeugung; für massive Investitionen in erneuerbare Energien, um die Probleme der Energiespeicherung zu lösen!
  • Für massive Investitionen in ein öffentliches Verkehrssystem auf europäischer Ebene, um den Individualverkehr zu ersetzen und gleichzeitig die Verkehrssysteme in den Gemeinden, in der Stadt und auf dem Land, auf nationaler und europäischer Ebene zu erhalten und zu verbessern!
  • Verstaatlichung ohne Entschädigung aller großen Monopole im Energie- und Verkehrssektor. Verstaatlichung der Forschung und ihre Neuausrichtung auf die Bedürfnisse der Massen und eine nachhaltige Umwelt!
  • Ein Investitionsplan für die Umweltreparatur, Energieeinsparung in Wohnen und Produktion.
  • Lasst die KapitalistInnen für den ökologischen Wandel bezahlen! Keine „grünen“ indirekten Massensteuern, sondern eine massive Besteuerung von Gewinnen und Vermögen!

Verteidigt
gewerkschaftliche, bürgerliche und demokratische Rechte

Der Kampf gegen den
Terrorismus wurde als Vorwand benutzt, um unsere demokratischen Rechte
anzugreifen, einschließlich einer längeren Untersuchungs- oder Schutzhaft von
Verdächtigen („GefährderInnen“) ohne Beistand von AnwältInnen oder Erscheinen vor
HaftrichterInnen. Die polizeiliche Überwachung der Bevölkerung unter dem
Vorwand der Sicherheit wurde enorm verstärkt, da alle Formen der Kommunikation
jetzt offen für Spionage sind. Das Recht auf Versammlungs- und
Demonstrationsfreiheit wurde eingeschränkt, und die Polizeikräfte haben neue
Gesetze erhalten, um gegen protestierende ArbeiterInnen und migrantische
Bevölkerungsgruppen vorzugehen.

  • Aufhebung aller so genannten Anti-Terror-Gesetze und polizeilichen Befugnisse, um die rechtlichen Aktivitäten der BürgerInnen zu überwachen.
  • Keine Inhaftierung ohne Prozess.
  • In den meisten europäischen Ländern leiden die Gewerkschaften unter schweren rechtlichen Fesseln, die den Widerstand der ArbeiterInnen behindern. Schwerfällige Abstimmungssysteme, Abkühlungsfristen oder Zwangsschlichtungen verzögern eine sofortige Reaktion auf Arbeitsplatzabbau oder Massenentlassungen. Politische Streiks, d. h. Streiks gegen die Regierungspolitik, sind in den meisten Ländern verboten, und in Italien und Frankreich droht die Einführung von Streikverboten in „wesentlichen Diensten“.
  • Aufhebung aller Gesetze, die das Streik- und Organisationsrecht einschränken. Für das Streikrecht.
  • Gesetzlich durchsetzbares Recht auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft: für die sofortige Wiedereingliederung und Entschädigung von ArbeiterInnen, die wegen der Ausübung dieses Rechts entlassen wurden.

Kampf dem Rassismus und Faschismus!

Das Wachstum der
Massenarbeitslosigkeit und der Verzicht auf Widerstand führen zu rassistischer
Sündenböckensuche in Gestalt von Minderheiten und zur Zunahme des Faschismus.
Gegen das Wachstum der rassistischen Rechten und der FaschistInnen! Kämpfen wir
für:

  • Aufhebung aller Beschränkungen des Rechts der ArbeiterInnen, sich auf der Suche nach Arbeit durch Europa zu bewegen! Gegen alle Einreisekontrollen. Nieder mit dem Schengener Abkommen, mit Frontex und der EU-Polizei im Mittelmeerraum! Annullierung des Abkommens mit der Türkei, das Flüchtlinge davon abhalten soll, nach Europa zu kommen! Für volle StaatsbürgerInnenrechte für, einschließlich der gleichen Berechtigung auf Arbeit, des gleichen Aufenthaltsrechts, des gleichen Zugangs zu Sozialleistungen, der Gesundheitsversorgung, der Bildung, der vollen politischen Rechte, einschließlich des Wahlrechts! Für offene Grenzen: für das uneingeschränkte Recht auf politisches Asyl und auf Arbeit!
  • Massenaktionen, um die Verbreitung der Hass-Propaganda von FaschistInnen und rassistischen PopulistInnen zu unterbinden, und zur Bekämpfung und Beendigung gewalttätiger Angriffe auf MigrantInnen und ethnische Minderheiten. Die ArbeiterInnenbewegung sollte alle unterstützen, die sich gegen Pogrome, rassistische und faschistische Gewalt verteidigen, und die Führung bei der Organisation einer ArbeiterInnen- und Volksverteidigungsmiliz übernehmen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Polizeikräfte und Justizsysteme des kapitalistischen Staates dies tun, denn ihre oberste Priorität ist die Verteidigung der Klasseninteressen der Herrschenden.
  • Obwohl der Faschismus heute wächst, indem er sich als „respektable“ demokratische Partei ausgibt, greift er in vielen Ländern immer noch zu Straßenmärschen und gewalttätigen Provokationen, um MigrantInnen, Roma, Muslima/e, nationale Minderheiten, schwarze und asiatische Gemeinschaften und Juden/Jüdinnen einzuschüchtern. Dies sind zudem auch vorbereitende Manöver, um der KapitalistInnenklasse seine Fähigkeit zum Bürgerkrieg gegen die organisierte ArbeiterInnenklasse, seinen Nutzen beim Streikbruch und Einschüchtern der Linken zu zeigen, genau wie Mussolinis Schwarzhemden und die Nazi-SA in den 1920er und 30er Jahren. Das oberste Ziel des Faschismus ist die Atomisierung der ArbeiterInnenbewegung. Wir müssen jetzt für eine massenhaft vereinte Aktion der ArbeiterInnenklasse kämpfen, um die faschistischen Organisationen zu zerschlagen, bevor sie dazu umgekehrt in der Lage sind.
  • Gleichzeitig senden wir den Massen – entlassenen ArbeiterInnen, der Jugend ohne Arbeit, den Familien ohne Sozialwohnung – eine Botschaft des Kampfes, die sich nicht gegen Sündenböcke richtet, sondern gegen die wahren UrheberInnen ihrer Entbehrungen, die KapitalistInnen. Wir antworten auf die konterrevolutionäre Verzweiflung von Rassismus und Faschismus mit der revolutionären Hoffnung auf den Kampf für den Sozialismus.
  • Für gleiche Rechte bei der Verwendung von Sprachen: keine obligatorischen Amtssprachen. MigrantInnenkinder sollten, wo immer möglich, ihre Muttersprache in den Schulen verwenden und die Sprache des Gastlandes erlernen können. Der Unterricht in Schulen und Universitäten sollte in den Sprachen der in der Region lebenden Menschen erfolgen; ebenso sollten sie in den öffentlichen Institutionen ihre Sprache verwenden können. Für eine massive Einstellung von LehrerInnen und ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst mit Migrationshintergrund und mit entsprechenden Sprachkenntnissen, um dies zu ermöglichen.
  • Für die Integration von MigrantInnen in die ArbeiterInnenbewegung, sowohl in Gewerkschaften als auch in politische Parteien, auf der Grundlage der Gleichberechtigung und in Kampagnen gegen ihre Unterdrückung und Ausbeutung. Für die Schaffung einer gemeinsamen Kampfkultur, die auf Internationalismus, Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse und Solidarität beruht.

Nein zu einem
imperialistischen Superstaat!

Das Ende der Hegemonie
der Vereinigten Staaten als Weltwirtschaftsmacht sowie ihre Entschlossenheit,
keine echten Herausforderungen ihrer absoluten militärischen Dominanz durch
China und Russland zu dulden, hat zu einer zunehmenden Rivalität zwischen
Amerika, der Europäischen Union, Russland und China geführt. Die europäischen
ArbeiterInnen, die sich zwar gegen die von den USA geführten Aktionen wie die
Invasion und Besetzung Afghanistans und des Irak, ihre begrenzten
Interventionen in Syrien oder ihre Drohungen gegen den Iran stellen, dürfen
nicht in einen europäischen Patriotismus hineingezogen werden, in das Projekt
des Aufbaus eines vereinten europäischen imperialistischen Staates, mit seiner
eigenen Armee und seinem eigenen Projekt der Dominanz von Einflussbereichen in
der ganzen Welt.

Die Propaganda der EU
behauptet, dass eine solche neue europäische Supermacht eine friedlichere,
demokratischere oder „sozialere“ Weltmacht wäre als ihre RivalInnen. Das ist
eine völlige Täuschung, die SozialdemokratInnen, Labour, die Linksparteien und
die Gewerkschaften gemeinsam mit den Bossen verbreitet haben.

Ein europäischer
Superstaat wäre eine imperialistische Macht, die das Ziel der europäischen
KapitalistInnen zur Neuaufteilung der Märkte und Ressourcen der Welt verfolgt.
Eine solche Neuaufteilung mag mit einem verschärften Wettbewerb um den Handel
und gegenseitigen Vorwürfen des „Protektionismus“ beginnen, aber das zwanzigste
Jahrhundert hat gezeigt, wie dies endet – in ungemein zerstörerischen
Weltkriegen. Wir müssen unsere Ablehnung dieser schrecklichen Perspektive jetzt
beginnen, indem wir uns gegen die Schaffung einer Militärmacht der Europäischen
Union aussprechen, auch wenn sie bisher nur in embryonaler Form existiert.
Aktuell gibt es die unter dem NATO-Dach nach Afghanistan entsandten
Streitkräfte und die verschiedenen „humanitären Kräfte“, die für Interventionen
in Afrika aufgestellt wurden.

Die ArbeiterInnenbewegung
sollte sich ihnen allen widersetzen. Aber wir sollten uns auch gegen die
Ausweitung „unserer“ nationalen Streitkräfte und gegen die Rekrutierung von
Jugendlichen an Schulen wenden, unter denen, die eine allgemeine und berufliche
Bildung, Vollzeitarbeit suchen oder einfach nur die „Welt sehen wollen“. Kurz
gesagt, allen, denen diese Ziele im Alltag des Kapitalismus missgönnt werden.
Wir fordern den sofortigen Abzug aller im Ausland stationierten Streitkräfte
und aller Ausgaben für die imperialistischen Streitkräfte. Wir wiederholen den
alten sozialistischen Slogan, der immer noch ein Leitfaden dafür ist, wie man
auf Forderungen zur Verteidigung des kapitalistischen Vaterlandes reagieren
kann: keinen Cent, keine Person für die Verteidigung dieses Systems.

Wir unterstützen den
Widerstandskampf der Völker auf der ganzen Welt gegen die europäischen
Besatzungstruppen, zum Beispiel in Afghanistan und im Tschad. Die Niederlage
der EU-Truppen in diesen Ländern wäre ein Sieg für die ArbeiterInnen und
Volksmassen der Welt, ein Schlag gegen den Imperialismus. Wir fordern den
sofortigen Rückzug aller europäischen Truppen und die Schließung der
Militärbasen aller europäischen Mächte in Übersee.

  • Rückzug aller europäischen Streitkräfte aus Afghanistan und aus Mali zurück – Nato auflösen!

Transformation der
Wirtschaft

Die Berge von „toxischen“
Schulden, die von MilliardärInnen angesammelt wurden, dürfen nicht den
SteuerzahlerInnen der ArbeiterInnenklasse aufgehalst werden. Die Unternehmen,
die in Produktion und Verteilung operieren oder nützliche Dienstleistungen
erbringen, deren EigentümerInnen sie in den Ruin getrieben haben, müssen durch
die entschädigungslose Übernahme in Staatseigentum „gerettet“ werden. Ihre
Bilanzen müssen veröffentlicht, das Geschäftsgeheimnis gegenüber ArbeiterInnen
und VerbraucherInnen abgeschafft und die Buchführung, Bilanzen und
Unternehmenspläne vollständig offengelegt werden.

  • Nein zu den Bankenrettungsaktionen. Nein zu Rettungsaktionen der Industriemonopole auf der Grundlage von Rationalisierungen und Schließungen. Übernehmt alle Banken ohne Entschädigung und verschmelzt sie zu einer einzigen Staatsbank! Anstelle von Subventionen für Unternehmen fordern wir die entschädigungslose Enteignung der Großindustrie, der Kommunikationssysteme und der Medien, der industriellen Landwirtschaft und der Einzelhandelskonzerne. Die Rentenfonds der KleinsparerInnen und ArbeiterInnen sollten durch Staatsanleihen oder die Konsolidierung zu einem sicheren, lebensfähigen Einkommen über das staatliche Rentensystem gesichert werden.
  • Für einen europaweiten Produktionsplan, der auf einem System integrierter Pläne auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene basiert. Alles sollte demokratisch von ArbeiterInnen und VerbraucherInnen ausgearbeitet und beschlossen und unter der Leitung der ArbeiterInnen in Produktion und Vertrieb umgesetzt werden.
  • Ein Ende der geschäftlichen und bürokratischen Geheimhaltung. Die Banken hielten ihre dubiosen Geschäfte im Dunkeln und ruinierten viele ihrer KundInnen und KleinsparerInnen, aber dann ließen sie uns den Preis für die Rettungsaktion zahlen. Öffnet die Konten und die Bilanzen der Banken, Unternehmen, des Staates und der EU-BürokratInnen zur Einsichtnahme durch die ArbeiterInnen und die Öffentlichkeit!

Eine Planwirtschaft
könnte systematisch die Ungleichheiten in ganz Europa beseitigen, Ressourcen
und Reichtum transferieren, um das Niveau der Länder im Osten zu erhöhen, die
sich über Jahrzehnte in der Unterentwicklung befanden, und so den Boden
untergraben, auf dem Nationalismus und Reaktion gedeihen können.

Nein zur
imperialistischen EU! Für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa!

Selbst wenn die heutige
Europäische Union in der Lage wäre, große Schritte in Richtung eines föderalen
imperialistischen Superstaates zu verwirklichen, wäre dies kein Gewinn für die
ArbeiterInnen und Unterdrückten innerhalb Europas, geschweige denn für unsere
Klassenschwestern und -brüder außerhalb der Mauern der „Festung
Europa“.

Daher sollten sich die
Bewegungen der ArbeiterInnenklassen des Kontinents gegen die Europäische Union
als eine Vereinigung stellen, die versucht, den deutschen und französischen
Imperialismus in ihrem wirtschaftlichen Wettbewerb und ihrer militärischen
Schlagkraft gegenüber anderen imperialistischen Mächten, den USA, China,
Russland, Japan zu stärken – und somit und ihre Fähigkeit, die ArbeiterInnen
der ganzen Welt auszubeuten.

Wir stehen zu den Worten
des Kommunistischen Manifests, dass die ArbeiterInnenklasse kein Vaterland  hat und, wie wir hinzufügen können,
auch keinen Kontinent. Die Politik unserer Klasse muss konsequent international
ausgerichtet sein, auf weltweiter Ebene, sonst wird sie nichts anderes sein als
ein Werkzeug verschiedener Flügel ihrer AusbeuterInnen.

Gleichzeitig müssen wir
die Argumente jener „Anti-EuropäerInnen“ ablehnen, die sich aus
fremdenfeindlichen und nationalistischen Gründen gegen die EU stellen. Diese
Kräfte und ihre sozialchauvinistische Politik, die sich in den Gewerkschaften
und reformistischen Parteien widerspiegelt, stellen eine Sackgasse für die
ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten dar. Sie zielen darauf ab, unsere
Bewegung nach nationalen und rassischen Gesichtspunkten zu spalten und uns
„unseren“ nationalen HerrscherInnen unterzuordnen.

Obwohl wir für die
Verteidigung dieser wenigen fortschrittlichen Errungenschaften kämpfen, die
sich aus dem EU-Prozess ergeben haben, z. B. die Abschaffung der
Grenzkontrollen innerhalb der EU, sind wir gegen ihre Strukturen und ihre
Wirtschaftsagenda, die nun dazu genutzt werden, frühere Sozialreformen und in
früheren Perioden erworbene Arbeitsrechte abzubauen. Wir sind auch gegen die
Behinderung des Rechts auf Selbstbestimmung von Völkern wie den KatalanInnen
und IrInnen durch die EU gemeinsam mit den nationalen Regierungen. Für uns sind
die Grenzen der bestehenden Staaten nicht heilig und über den demokratischen
Wünschen der Nationen.

  • Nieder mit dem EU-Parlament, der EU-Kommission, dem Europäischen Gerichtshof! Abbau der europäischen Superstaatsstrukturen!
  • Nein zur Lissabon-Agenda und zum Bologna-Prozess, nein zu allem Neoliberalismus und der Mentalität des Dumpingwettlaufs der Europäischen Union!
  • Für die Wahl einer souveränen Europäischen verfassunggebenden Versammlung durch alle, die über 16 Jahre alt sind und ihren ständigen Wohnsitz in den teilnehmenden Staaten haben. Der EuGH und alle anderen Gerichte sollten durch gewählte Organe ersetzt werden.

Heute sollten wir für
Folgendes kämpfen.

  • Ein sofortiges Ende der Sparpolitik auf dem gesamten Kontinent und ein Kampf, um die Macht in die Hände von Regierungen der Werktätigen zu bringen. Der nächsten bevorstehenden kapitalistischen Krise darf nicht mit Sparpolitik, sondern muss mit der Sozialisierung aller Unternehmen begegnet werden, die Entlassungen verkünden oder Konkurs anmelden.
  • Gemeinsame Maßnahmen gegen Rationalisierung, Werksschließungen und Arbeitsplatzverluste, die von den großen Automobil- und Zulieferfabriken in ganz Europa geplant sind, darunter Ford, Jaguar Land Rover, Michelin und andere. Ziel ist es, die Automobil-, Bus- und Nutzfahrzeugindustrie zu sozialisieren und ihre Transformation auf einer umweltverträglichen Basis zu beginnen.
  • Wir brauchen mehr als die zaghaften Versprechen von Labour im Vereinigten Königreich, die InhaberInnen von Eisenbahnlizenzunternehmen nach Ablauf ihrer Verträge wieder zu verstaatlichen oder dafür Entschädigungen an GroßaktionärInnen zu zahlen! Kampf für ein verstaatlichtes paneuropäisches Eisenbahnnetz!
  • Sozialisiert die riesigen Stromkonzerne Enel, EDF, EON, Siemens, RWE, deren ArbeiterInnen einen massiven Wechsel von fossilen Brennstoffen und Kernspaltungsenergie zu erneuerbaren Energien planen können!
  • Erhöhung der Löhne und Verbesserung der Sozialsysteme des gesamten Kontinents auf das Niveau der besten Beispiele und Praktiken als Beginn einer weiteren Verbesserung!
  • Aufhebung des Vertrags von Lissabon und aller neoliberalen Politiken, die die Erhaltung und Ausweitung des öffentlichen Eigentums an Industrien, Verkehr, Sozialdiensten und Versorgungseinrichtungen behindern! Ersatz der „Entsenderichtlinie“ und der Urteile des Europäischen Gerichtshofs in den Fällen Laval, Viking und Rueffert (Angriff auf das Streikrecht und europaweite Nivellierung der industriellen Beziehungen) nicht, um „ausländische“ Beschäftigte auszuschließen, sondern um sicherzustellen, dass sie für die gleichen Löhne, den gleichen Zugang zu sozialen Dienstleistungen und mit den gleichen gewerkschaftlichen Rechten beschäftigt sind wie Beschäftigte in den Aufnahmeländern!
  • Der Euro muss unter die Kontrolle eines europaweiten, von den Arbeitenden kontrollierten staatlichen Bankensystems gebracht werden, das dabei HSBC, BNP Paribas, Deutsche Bank, Santander usw. vergesellschaftet. Dieses System wäre eine wesentliche Grundlage für die Schaffung eines europaweiten Planungssystems, dessen Ziele wären:
  • i)     Entwicklung sozialer Gleichheit durch Anhebung der Bildungs-, Sozial- und Beschäftigungsniveaus sowie durch Überwindung der nationalen und regionalen Ungleichheiten, die die europäischen Staaten plagen. Beseitigung der Ungleichheiten zwischen Stadt und Land!
  • ii)    Bekämpfung der globalen Erwärmung und Wiederherstellung der Umwelt, die durch die gedankenlose Plünderung der Natur durch das Kapital verwüstet wird!
  • (iii) Um dies zu erreichen, bedarf es der Kontrolle durch die Bankangestellten, als Voraussetzung für die demokratische Verwaltung durch die Werktätigen.
  • Brecht die Mauern der Festung Europa und  reißt die Stacheldrahtzäune  zwischen den Staaten nieder! Öffnet die Grenzen für Flüchtlinge und Arbeitssuchende! Volle StaatsbürgerInnenschaft und soziale Rechte für diejenigen, die bleiben wollen!
  • Rückzug der europäischen Streitkräfte aus den von ihnen besetzten Ländern in Asien und Afrika! Unterstützung des Widerstandskampfs der Völker auf der ganzen Welt gegen den Imperialismus. Wir fordern die sofortige Schließung der Militärbasen aller europäischen Mächte in Übersee und die Auflösung der NATO. Keinen Cent für die Verteidigung kapitalistischer Vaterländer. Ersetzung der stehenden Armeen durch Milizen der Werktätigen.
  • Die Organisationen, die wir brauchen, um uns heute gegen Sparmaßnahmen und Kürzungen zu wehren, können morgen zu den Instrumenten unserer Herrschaft werden. Gemeinsame Komitees und branchenübergreifende Koordinationen von ArbeiterInnen und Jugendlichen in jeder Stadt und Gemeinde, die mit Selbstverteidigungsgruppen gegen Angriffe der Polizei und der FaschistInnen verbunden sind, können zu mächtigen Räten aus ArbeiterInnendelegierten werden, die in der Lage sind, die Gesellschaft zu regieren, wie es die Sowjets im revolutionären Russland 1917 taten. Die organisierte Selbstverteidigung, die die ArbeiterInnen und Jugendlichen gegen polizeiliche Repression und faschistische Angriffe aufbauen müssen, kann zum Instrument werden, um den kapitalistischen Staat zu bekämpfen und zu überwinden.
  • Nur ArbeiterInnenregierungen, die auf den Organisationen der Klasse basieren, können die Macht der KapitalistInnen brechen und systematisch ihr Eigentum übernehmen und eine sozialistische Planwirtschaft aufbauen.

ArbeiterInnenregierungen und die europäische Revolution

Ein vereinter
Klassenkampf in Europa oder in bedeutenden Ländern wird schnell die Frage nach
der politischen Macht aufwerfen, die Frage, welche Klasse in einem bestimmten
Land oder auf dem Kontinent insgesamt herrscht. Die derzeitige Krise Europas
kann nicht auf nationaler Ebene gelöst werden. Jede wichtige Frage wird die
Notwendigkeit einer Transformation des gesamten Kontinents aufwerfen.

Eine sozialistische
Föderation in Europa, die „Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“,
sind die Lösung für die drängenden Probleme künftiger Generationen. Wenn wir Rechtsruck,
Rassismus, Nationalismus und Faschismus bekämpfen wollen, brauchen wir eine
internationalistische und antikapitalistische Alternative zur derzeitigen EU.

Jede große politische
Krise in der EU, ihre langfristige Stagnation und eine bevorstehende Wirtschaftskrise
betreffen die ArbeiterInnenklasse des gesamten Kontinents ebenso wie die
Kleinbauern/-bäuerinnen und die untere Mittelschicht. Die Angriffe seitens der
KapitalistInnen und bürgerlichen Regierungen wiederum erzeugen große soziale
Widerstandsbewegungen und weisen auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen
Gegenwehr hin.

Natürlich entwickeln sich
solche Kämpfe ungleichmäßig, und vorrevolutionäre oder revolutionäre
Situationen werden nicht in allen Ländern gleichzeitig auftreten. Daher muss
der Kampf für eine sozialistische Revolution in Europa Hand in Hand gehen mit
dem für den Sturz des Kapitalismus und die Schaffung von ArbeiterInnen- und
BäuernInnenregierungen, wo immer sich dazu die Möglichkeit ergibt.

So wie der Slogan für die
Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa einen Übergangscharakter trägt,
so auch die Forderung nach ArbeiterInnenregierungen oder Regierungen der
ArbeiterInnen und  BäuerInnen in
einzelnen Ländern. Unter solchen Regierungen verstehen wir nicht „linke“
sozialdemokratische oder Labour-Regierungen, geschweige denn solche in
Koalition mit den offenen bürgerlichen Parteien, wie die Syriza-ANEL-Regierung
in Griechenland. Sie haben nicht wirklich mit der KapitalistInnenklasse
gebrochen und operieren immer noch in der Zwangsjacke der bürgerlichen
Staatsmaschine. Wir fordern sie auf, diesen Bruch zu vollziehen. Unter
Bedingungen des massenhaften Widerstands gegen Sparmaßnahmen und Kürzungen des
Sozialwesens oder einer neuen Rezession werden sie vor der Wahl stehen, ob sie
wie Syriza kapitulieren oder den Weg gehen wollen, echte
ArbeiterInnenregierungen zu werden, indem sie die ArbeiterInnenklasse zu
Millionen mobilisieren. Unser Ziel muss es sein, sie zu verpflichten, ihre
AnhängerInnen aus der ArbeiterInnenklasse nicht zu verraten, sondern den
letztgenannten Weg einzuschlagen.

Um solche Regierungen
dazu zu bringen, echte Schritte in Richtung einer sozialistischen
Transformation zu unternehmen, sie zu Übergangsregierungen in Richtung der
demokratischen Herrschaft der ArbeiterInnenklasse, also der Diktatur des
Proletariats, zu gestalten, müssen sie unwiderruflich mit den bürgerlichen
Parteien brechen, echte Schritte unternehmen, um großes Kapital unter
ArbeiterInnenkontrolle zu enteignen und einen ArbeiterInnenplan zur Reorganisation
der Wirtschaft zu entwerfen. Und sie dürfen ihre Macht nicht auf die
bürokratischen und repressiven Institutionen des bürgerlichen Staatsapparates,
des Militärs, der Polizei, der Spezialeinheiten und der Verwaltungsbürokratien
stützen, sondern auf die ArbeiterInnen- und BäuerInnenräte und die bewaffnete
ArbeiterInnenklasse.

Solche Regierungen
könnten nicht nur als wichtiges Mittel für einen revolutionären Umsturz in
einem Land dienen. Sie müssen von der gesamten europäischen ArbeiterInnenklasse
gegen die unvermeidlichen konterrevolutionären Machenschaften der nationalen
Bourgeoisie, der europäischen oder anderer imperialistischer Mächte verteidigt
werden. Letztendlich werden sie nur überleben und ihr volles revolutionäres
Potenzial ausschöpfen können, wenn sie nicht nur die Macht „ihrer“ nationalen
KapitalistInnenklasse brechen, sondern auch darauf abzielen, die Revolution auf
dem europäischen Kontinent zu verbreiten und die Grundlage für Vereinigte
Sozialistische Staaten von Europa zu schaffen. Für eine solche Übergangszeit,
einen revolutionären Kampf auf dem gesamten Kontinent, bleibt ein europäisches
Aktionsprogramm, das demokratische, soziale und Übergangsforderungen
kombiniert, uneingeschränkt gültig.

Darüber hinaus muss ein
sozialistisches Europa seine Beziehungen zu den umliegenden Regionen der Welt
auf Solidarität, Gleichheit und Internationalismus gründen. Dann könnten die
Ursachen für Migration durch Armut, Kriege, Klimawandel wirklich verändert
werden. Das kann keine kapitalistische EU. Ein sozialistisches Europa kann die
Rechte der MigrantInnen umsetzen, ihnen volle BürgerInnenrechte garantieren und
den Rechtsruck, die Bedrohung durch Rassismus, beenden. Ein sozialistisches
Europa würde die Massenarbeitslosigkeit beenden, gleiche und gerechte Lebensbedingungen
schaffen, die Bourgeoisie enteignen und die in Europa geschaffenen menschlichen
Fähigkeiten und materiellen Reichtümer sinnvoll nutzen. Ein solches Europa
müsste auf einer demokratischen Planwirtschaft beruhen, die die Mittel für eine
echte Bewältigung der Umwelt- und Klimaprobleme bereitstellt.

All dies ist viel
„realistischer“, als zu hoffen, dass die heutige EU einfach reformiert werden
könnte oder der Klassenkampf in einzelnen „unabhängigen“ Ländern zu einem
Sozialismus führen könnte.

Wie wir gezeigt haben,
können die bestehenden Massenparteien der ArbeiterInnenklasse – seien es
traditionelle reformistische, neue „linke“ populistische Parteien wie Podemos
oder La France Insoumise oder solche, die zwischen Reform und Revolution
schwanken, keine Antwort auf die dringenden Fragen der Zukunft geben.

Nur neue revolutionäre
ArbeiterInnenparteien und eine neue revolutionäre Internationale können eine
solche Perspektive bieten und dem Kampf eine Führung geben. Unsere
internationale Strömung, die Liga für die Fünfte Internationale, kämpft für ein
solches Programm des internationalen Klassenkampfes, für einen revolutionären
Marxismus des 21. Jahrhunderts, für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von
Europa.




Internationale Solidarität statt Nationalismus und Festung Europa

Die Krise der EU und die „Flüchtlingsfrage“

Resolution von ArbeiterInnenmacht und Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 873, 26. März 2016

Ein EU-Gipfel jagt den anderen. Die Staats- und Regierungschefs, AußenministerInnen und die EU-Kommission verhandeln fast täglich das  sog. „Flüchtlingsproblem“, das vor allem ein Problem für die Geflüchteten ist.

Sinnbildlich für Millionen Opfer von Krieg, Unterdrückung und Vertreibung sitzen tausende Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan unter unmenschlichen Bedingungen an der griechisch-mazedonischen Grenze fest. Die „Balkanroute“ wurde für sie längst polizeilich-militärisch abriegelt. Mithilfe der türkischen Regierung, von Kriegsschiffen der NATO-Staaten unter Führung der deutschen Marine sollen die Flüchtlinge am Grenzübergang in das EU-Gebiet gehindert und in die Türkei zurückgeschickt werden. Jene, die es doch schaffen, haben sich an sog. „Hot Spots“ einzufinden, um dort der „zügigen“ Behandlung ihrer Asylgesuche zu harren und möglichst schnell abgeschoben zu werden.

Auf dem Rücken der Geflüchteten wird unter den europäischen Regierungen ein menschenverachtender Streit ausgetragen. Auf der einen Seite geben sich die deutsche Regierung unter Kanzlerin Merkel im Verbund mit EU-Kommissionschef Juncker als VertreterInnen der „europäischen Lösung“. Darunter verstehen sie eine Abriegelung der EU-Außengrenzen, gezielte, regulierte Zuwanderung, Verteilung von AsylbewerberInnen auf alle europäischen Staaten und die raschest mögliche Aufhebung von Grenzkontrollen im EU-Raum. Für diese Zielsetzung sind Abkommen mit der Türkei sowie den nordafrikanischen Staaten unerlässlich, die letztlich darauf hinauslaufen, dass der Staats- und Repressionsapparat dieser Länder als vorgelagerter EU-Grenzschutz eingesetzt wird.

Der vorgebliche „Humanismus“ dieser „europäischen Lösung“ besteht vor allem darin, dass das polizeiliche und militärische Abfangen der Flüchtlinge auf Territorien außerhalb der EU verlagert wird. Dabei wird nicht nur großzügig über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, den Krieg gegen das kurdische Volk und Aushebelung der Meinungsfreiheit hinweggesehen. Wer wissen will, wie es zukünftig bei der „europäischen Lösung“ aussehen soll, der soll an die Grenzen Nordafrikas zu Spanien blicken. Dort haben Zäune und Grenzschutz die Zahlen der Flüchtlinge deutlich reduziert. Wer solche Hindernisse dennoch überwinden will, muss das Risiko in Kauf nehmen, bei Grenzübertritt beschossen zu werden oder im Mittelmeer elendig zu ersaufen. Auch wenn es niemand sagt: gerade das Mittelmeer, in dem allein 2015 fast 4.000 Geflüchtete ertrunken sind, soll abschrecken. Nicht „großzügige“ Rettung, sondern gezieltes Absaufen sollen die Geflüchteten stoppen.

Während Merkel und Co. ihre menschenverachtende Politik mit leerem Gerede von der „humanitären Verantwortung“, von der „Verpflichtung zur Menschlichkeit“ ideologisch verkleistern, verzichten die Gegenspieler aus Osteuropa, die österreichische Bundesregierung und ihre GesinnungsgenossInnen in anderen Ländern längst auf solche Floskeln. Für Leute wie Orban, die polnische Regierung, Rechts-Konservative wie Seehofer und erst recht offen rassistische Parteien (FPÖ, AfD, FN, …) gilt es als Markenzeichen, sich durch besonders inhumane, menschenverachtende Vorschläge hervorzutun. Gewendete Sozialdemokraten wie Faymann ziehen sich auf die Position eines vorgeblichen „Realismus“ zurück, demzufolge die „Aufnahmekapazität“ und eine sog. „Belastungsgrenze“ zur weiteren „Integration“ erreicht seien. Wer jetzt noch nach Europa fliehen wolle, der müsse v.a. abgeschreckt werden – auch wenn’s schwer falle.

Dass die Zahl der Flüchtlinge in die EU reduziert und „unter Kontrolle“ gebracht wird – darin bestehen grundlegend keine Differenzen. Wohl aber darüber, wie dieses „Problem“ in den Griff zu kriegen und wer dafür verantwortlich sei.

Das ist einerseits ein Kampf darum, wer die Kosten der sog. „Flüchtlingskrise“ zu übernehmen hätte. Deutschland drängt zur Zeit auf eine „europäische Lösung“, um einen Teil der Kosten auf andere EU-Staaten abzuwälzen und um die Schengen-Verträge im Sinne der exportorientierten Wirtschaft zu wahren. Natürlich geht es dabei ohne Zynismus und Doppelbödigkeit nicht ab. Jahrelang hatte die Berliner Koalition die Forderungen Italiens nach Übernahme von Flüchtlingen aus Afrika durch andere EU-Staaten mit dem Verweis auf die Dublin-Verordnungen kategorisch abgelehnt. Nachdem jetzt die Balkanroute dicht ist, weigert sich „natürlich“ auch die deutsche Regierung, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen und so das Land zu entlasten. Im Gegenteil: bei aller Kritik an Faymann, Orban und Co. nehmen Merkel, Steinmeier und Schulz unmittelbare Auswirkungen von deren rassistischer Politik gerne mit. Dass es nur noch wenige Flüchtlinge nach Deutschland schaffen, soll schließlich auch die Berliner Regierung „entlasten“.

Die Frage der „Kostenverteilung“ ist jedoch nur eine Frage, die die EU entzweit. Es zeigt sich hier auch, wie fragil die „europäische Einigung“ selbst ist und wie provisorisch letztlich die „europäischen Institutionen“ sind. In den letzten Jahren konnte der deutsche Imperialismus v.a. den südeuropäischen Ländern seine Politik im Zuge der sog. „Schuldenkrise“ diktieren. Griechenland wurde weitgehend unter Kontrolle Brüssels und Berlins gestellt. Diese Gewaltakte waren Resultat der ökonomischen Vormacht Deutschlands im EU-Raum und v.a. in der Euro-Zone. Aber diese Politik trieb schon damals die EU an ihre Grenzen – nicht zuletzt weil sie v.a. dem französischen und italienischen Imperialismus nur allzu schmerzlich die dominante Rolle Deutschlands offenbarte.

Die „Flüchtlingskrise“ offenbart auch die Grenzen dieser Vormachtstellung. Die EU selbst ist kein Staat, sondern ein Staatenbund. Die politische Macht in der EU liegt nicht in Brüssel, aber sie liegt auch nur zum Teil in Berlin. Die Nationalstaaten verfügen über die Möglichkeiten, ihr „Recht“ geltend zu machen – und tun das auch. Dabei sieht sich die deutsche Regierung einer durchaus heterogenen gegnerischen Koalition im Inneren wie im Äußeren gegenüber, die aus unterschiedlichen Motiven handelt. Das trifft nebenbei auch auf ihre verbliebenen Verbündeten zu. Die „Flüchtlingsfrage“ ist dabei oft genug nur ein Vorwand.

a) Die neben Deutschland wichtigsten imperialistischen Länder – Frankreich, Britannien, Italien – lehnen die Berliner Politik in unterschiedlichem Ausmaß ab. Cameron will wegen der Abstimmung über den Verbleib Britanniens in der EU und der drohenden Niederlage gegen die nationalistische, rechte Mobilisierung nicht auch noch als „Grenzöffner“ dastehen. Aber zugleich ist die britische Regierung auf Zugeständnisse aus Berlin und Brüssel angewiesen, um im eigenen Land für den Verbleib in der EU werben zu können. Da Britannien nicht Teil des Schengen-Raums ist, nimmt es ohnedies nicht an der Freizügigkeit der EU im vollem Umfang teil. Mehr als für jede andere Regierung ist für die britische die Flüchtlingsfrage eine, mit der in anderen Belangen politisches Kleingeld gemacht wird. Anders als jede andere imperialistische Macht Europas jedoch hat Britannien kein Interesse daran, die kapitalistische Integration hin zu einem Supra-Staat voranschreiten zu lassen.

Frankreich, oder auch die Niederlande, befürworten zwar verbal eine „europäische Lösung“ – nennenswert Flüchtlinge aufnehmen wollen sie aber nicht. Andere wie Schweden haben ihre Grenzen mehr oder weniger dicht gemacht.

b) Italien, Spanien und generell die Länder Südeuropas haben ein Interesse an einer „europäischen Lösung“. Sie können noch am ehesten als Verbündete von Merkel und Co. gelten. Erstens richtet sich die Politik der osteuropäischen und Balkanländer direkt gegen Griechenland und Italien. Zweitens tragen im österreichisch-osteuropäischen „Modell“ im Zweifelsfall Griechenland, Italien, Spanien und Malta die Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen, die Abriegelung ihrer Grenzen und müssen obendrein auch die „humanitäre“ Verantwortung für die mörderische Drecksarbeit übernehmen.

c) Die EU-Mitgliedsstaaten Osteuropas haben im Kurs gegen Merkel lange Zeit eine „Vorreiterrolle“ übernommen, obwohl in die meisten von ihnen nur die wenigsten migrieren möchten. Schon die Übernahme einiger Zehntausend erschien Warschau, Prag oder den baltischen Staaten eine „Zumutung“. Hier mischt sich unverhohlener Rassismus mit dem „Gerechtigkeitsempfinden“ der selbst brutal Erniedrigten. Im Zuge der Restauration des Kapitalismus wurden große Teile der Industrie, ja der Ökonomie dieser Länder zerstört. Die Migration von Millionen Lohnabhängigen nach Westeuropa und Britannien ist nur die Kehrseite eines Überangebots an Arbeitskräften infolge des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Bevölkerung musste durch Jahrzehnte von Spar- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Wenn „wir“ schon bluten mussten, so soll anderen, so das Credo der osteuropäischen Regierungen, auch nichts geschenkt werden. Daraus speist sich in der Schulden-Frage ihre Unterstützung des eisernen Finanzministers Schäuble gegen die „faulen Griechen“. Jetzt soll auch den Flüchtlingen nichts geschenkt werden. Jüngst hat sich die österreichische Bundesregierung an die Spitze dieser Allianz gestellt. Sie hat jedoch durchaus andere Interessen als die Balkanstaaten, Ungarn usw. Die „Flüchtlingsfrage“ ist für den schwachbrüstigen österreichischen Imperialismus auch ein, noch dazu recht kostengünstiges Mittel, sich als „Führungsnation“ und „Schutzmacht“ der „armen Völker“ anzupreisen. Geht es gegen die Geflüchteten, schickt das „neutrale Österreich“ schon mal Grenzschützer nach Mazedonien.

(d) In einigen Ländern haben sich als Antwort auf die kapitalistische Krise links-reformistische oder links-populistische Parteien mit Massenanhang gebildet. Aber das blieb im Wesentlichen auf Südeuropa beschränkt. In der Regel ging die Bewegung nach rechts. Die Krise trifft oder bedroht nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern auch das KleinbürgerInnentum, die Mittelschichten, ja auch die schwächeren Teile der Bourgeoisie. „Existenzangst“ macht sich breit. Die Konkurrenz nimmt real zu. Flüchtlinge und MigrantInnen werden als unmittelbare KonkurrentInnen, als Bedrohung des „eigenen“ Arbeitsplatzes, des Wohnraums, der „eigenen“ Kultur usw. in Stellung gebracht. Aufgrund der politischen Schwäche der reformistischen Parteien (ob nun Sozialdemokratie oder Linksparteien) und der Gewerkschaften, ihrer Klassenkollaboration und Politik des immer prekärer werdenden „sozialen Ausgleichs“ erscheinen die RechtspopulistInnen, RassistInnen bis hin zu offenen FaschistInnen als „radikaler“. Die Masse gesellschaftlicher Verzweiflung und Depression wird so zu einer reaktionären Kraft formiert. In vielen Ländern Osteuropas befinden sich die Kräfte längst an der Regierung. In praktisch allen anderen haben sie sich zu Parteien mit einer Millionenmasse von WählerInnen formiert (FPÖ, FN, AfD, UKIP, …). Auch wenn die meisten von ihnen schon seit Jahren im Aufstieg sind, so haben sie sich gerade durch ihren Rassismus und Nationalismus weiter gestärkt. Die bürgerlichen Parteien haben teilweise deren Forderungen selbst übernommen; die SozialdemokratInnen schwanken zwischen Übernahme (Faymann, Hollande) oder einem Kurs auf den „vernünftigen“, „humanistischen“ Teil des Kapitals bzw. seiner VertreterInnen. Das ist auch der Grund, warum in Deutschland die SPD verlässlicher hinter Merkel steht als weite Teile der CDU/CSU.

Kern des Konflikts

Um die Geflüchteten geht es dabei im Grunde nicht. Dass die Festung Europa „geschützt“ werden muss, darin besteht kein Dissens. In den wichtigsten Staaten der EU herrscht zweifellos auch Einigkeit, dass Massenmigration aus den halb-kolonialen Ländern außerhalb der EU auch in Zukunft notwendig sein wird. Es geht nur darum, dass die so selektiert wird, dass sie den (erwarteten) Anforderungen des Arbeitsmarktes entspricht, es geht also um kontrollierte Migration.

Der eigentliche Konflikt dreht sich um eine andere Frage. Es geht darum, was die EU sein oder, genauer, werden soll. Die Regierung und auch die EU-Kommission wollen, dass die EU in der Flüchtlingsfrage handele als wäre sie ein Staat. Das ist vom Standpunkt des deutschen Imperialismus, genau genommen seines vorherrschenden Flügels, aus auch folgerichtig. Wenn die EU zu einem weltmachtfähigen Block unter deutscher Führung werden soll, der es mit den USA und China aufnehmen kann, muss sie handeln wie ein Staat, muss ihre kapitalistische Integration nicht nur auf ökonomischer, sondern vor allem auch auf politischer Ebene voranschreiten. Daraus erklärt sich auch die Tiefe der aktuellen Konflikte, des Gegensatzes zwischen der deutschen Regierung und eines größeren Teils der EU-„Partner“.

Die Tatsache, dass sich die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten dem verweigert, zeigt, dass der deutsche Imperialismus nicht nur in der Flüchtlingsfrage eine Niederlage erlitten hat. Das wird letztlich auch durch ein Abkommen mit der Türkei nicht zu übertünchen sein, auch wenn Merkel das als „Erfolg“ gemeinsamer Anstrengung verkaufen wird. So lässt das jüngste Abkommen mit der Türkei Merkel das Gesicht wahren, doch gab es massiven Unmut gegen das Vorpreschen Berlins im bilateralen Gipfel mit der Türkei. Die EU verpflichtet sich, die lächerlich geringe Obergrenze von 72000 syrischen Flüchtlingen aus der Türkei legal aufzunehmen. Zugleich winken der Türkei schnellere Auszahlung der bereits vor langem vereinbarten Finanzhilfe von 3 Milliarden Euro, die Aussicht auf weitere 3 Milliarden sowie Erleichterungen beim Visaverfahren für türkische StaatsbürgerInnen. Ferner soll ein Modus für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gefunden werden, der das Veto Zyperns umgeht. Im Gegenzug soll die Türkei alle „illegal“ nach Griechenland Geflüchteten zurücknehmen und darf sie nicht einfach abschieben, sondern soll die Genfer Flüchtlingskonvention beachten. Die 72000 Aufzunehmenden dürfen allerdings innerhalb der EU nur auf freiwillig zur Aufnahme bereite Länder verteilt werden.

Das ist auch die Ursache dafür, warum in Deutschland nicht nur (oder nicht einmal so sehr) der Aufstieg der AfD die CDU herumtreibt. Mit dieser rassistischen Partei gäbe es rein wahltaktisch betrachtet für die Konservativen sogar eine Alternative zur Großen Koalition und ein zusätzliches Disziplinierungsinstrument gegenüber SPD (und auch den Gewerkschaften). Aber der Konflikt um die „Zukunft Europas“ wird nicht nur von der deutschen Regierung mit den osteuropäischen oder der österreichischen ausgetragen, er zieht sich auch durch die herrschende Klasse in Deutschland und ihre Parteien.

In der Flüchtlingsfrage spitzt sich die Frage nach der Zukunft Europas, die Frage, ob eine kapitalistische Einigung möglich ist oder nicht, zu. Für die Gegner Merkels läuft die Frage letztlich darauf hinaus, dass die EU ein Bund von Nationalstaaten zu bleiben habe, der allenfalls durch einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung verbunden sein solle. Die Einführung von Grenzkontrollen im Inneren der EU stellt auf Dauer freilich selbst das in Frage. Ohne Freizügigkeit des Verkehrs von Waren und Arbeitskräften fällt von der EU als „Wirtschaftsraum“ schon vieles weg; die Kosten für den wirtschaftlichen Austausch werden größer, die Tendenz zu einer „Renationalisierung“ wird stärker werden.

Umgekehrt hat aber die Krise der letzten Jahre gezeigt, dass selbst die aktuelle wirtschaftliche Konstruktion der EU und des Euro unter anderem an der fehlenden politischen Einheit leidet, dass das ungleichzeitige politische und wirtschaftliche Voranschreiten die inneren Widersprüche der EU vertieft, dass also ihr Auseinanderbrechen wahrscheinlicher wird. Ob das nun der Form eines „Endes“ der EU bedarf, sei dahingestellt. Es mag aber sehr wohl so sein, dass sie als eine, weniger wichtige Institution weiter existiert – aber an ihre Stelle andere Entwicklungen treten, um die sich die dominierenden imperialistischen Staaten formieren (z.B. Kerneuropa, Europa der zwei Geschwindigkeiten, ….).

Mit der Krise der EU um die Flüchtlingsfrage droht Merkels Politik zu scheitern, die EU in einen quasi-staatlichen, imperialistischen Block unter deutscher Führung zu manövriere. Daher (und letztlich nur daher) ist die aktuelle Krise auch eine, die ihre eigene politische Zukunft in Frage stellt. In jedem Fall aber verdeutlicht sie, dass es in der EU und v.a. mit der „Strategie“ des deutschen Imperialismus nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Alles muss früher oder später auf den Prüfstand. Die aktuelle Krise und gerade die Rolle des österreichischen Imperialismus zeigen, dass auch auf einen langjährigen Verbündeten wie Österreich nicht immer und unbedingt Verlass ist, dass auch solche Länder früher oder später diszipliniert werden müssen. Ebenfalls teilen die anderen EU-Mächte nicht die geostrategische Ausrichtung der BRD auf das Schlüsselland Türkei.

Ob die aktuelle Krise mithilfe der Türkei „gelöst“ werden kann, ob sich eher die Vorstellungen der deutschen Regierung oder ihrer Gegner kurzfristig durchsetzen – in jedem Fall würde das zwei Entwicklungen mit sich bringen. Erstens würde es die Krise der EU verschärfen, deutlicher zu Tage treten lassen und damit auch die Notwendigkeit, deren Auseinanderbrechen oder die Neuformierung beispielsweise in Form eines Kerneuropas auf die Tagesordnung setzen. Zweitens gehen alle auf Kosten der Geflüchteten und MigrantInnen – und somit auf Kosten eines großen Teils der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten. In dieser Hinsicht sind beide Lösungen gleichermaßen reaktionär.

Die Führungen der ArbeiterInnenklasse – ob sozialdemokratische Parteien, Gewerkschaften, aber auch die „Linksparteien“, allen voran Syriza in Griechenland – haben sich in den Dienst ihres „eigenen“ nationalen Interesses gestellt. Die einen tun dies auf national-bornierte, rückwärtsgewandte Weise, indem sie sich vor den Karren des eigenen Kapitals und längst zur Utopie gewordener „nationaler wirtschaftlicher Unabhängigkeit“ spannen. Die anderen, indem sie sich mehr oder weniger der deutschen Variante einer Festung Europa mit „menschlichem Antlitz“, also der üblichen Verlogenheit anschließen. Eine eigenständige Klassenpolitik kann so nicht entwickelt werden.

Damit werden letztlich auch die zahlreichen HelferInnen, die seit dem Sommer 2015 viel Zeit, Energie und Enthusiasmus aufwandten, um angesichts behördlichen Versagens für die Notversorgung von Refugees zu sorgen, letztlich ausgelaugt, demoralisiert. So wichtig und richtig es ist, dass sie zu Zehn- wenn nicht Hunderttausenden geholfen haben und helfen, so lassen sich die unzureichende Versorgung der Geflüchteten, das mehr oder weniger bewusst in Kauf genommene „Chaos“ bei deren Unterbringung und die endlosen Hindernisse für ihre reale Integration in die Gesellschaft nicht im permanenten, selbstorganisierten Notbetrieb wettmachen.

Zentrale Forderungen

Entscheidend ist, dass es einer politischen Kampagne und Kämpfen der gesamten ArbeiterInnenklasse bedarf, um zentrale politische Forderungen landes- wie europaweit durchzusetzen:

1. Öffnung der EU-Außengrenzen, Aufhebung der Grenzkontrollen und Öffnung der Balkanroute! Aufhebung aller Einschränkungen des Asylrechts! Keine Abschiebungen! Kein Abkommen mit der Türkei, Nein zu Hot-Spots und dem Einsatz von Polizei und Armee zum Grenzschutz, Auflösung von Frontex und den EU-Sondereinheiten! Volle StaatsbürgerInnenrechte, für alle die in der EU leben!

2. Volle Freizügigkeit der Geflüchteten und MigrantInnen in ganz Europa! Weg mit allen nationalen wie europaweiten Einschränkungen der Freizügigkeit (z.B. Residenzpflicht in einigen Staaten, Kontigentlösungen zwischen europäischen Staaten)! Legalisierung des Status aller Menschen, die in Europa leben (wie der Sans Papiers)! Alle Refugees und MigrantInnen sollen – wie die BürgerInnen der EU – das Recht auf freie Wahl ihres Wohnortes haben.

3. Wohnraum für alle! Statt des Lagersystems treten wir für die Unterbringung der Geflüchteten in Wohnungen ein. Um ausreichend Wohnraum für die Geflüchteten wie für wohnungssuchende Jugendliche und Lohnabhängige, Arme und Obdachlose zur Verfügung zu haben, soll erstens zu Spekulations- und Profitzwecken leer stehender Wohnraum entschädigungslos enteignet werden. Zweitens kämpfen wir für ein staatliches Wohnungsbauprogramm unter Kontrolle der MieterInnen und Gewerkschaften, finanziert aus der Besteuerung von Unternehmensgewinne, großen Privatvermögen und Großgrundbesitz.

4. Wenn die „Integration“ kein leeres Gerede sein soll und Geflüchtete nicht gegen andere Arbeitssuchende ausgespielt werden sollen, müssen wir für das Recht auf Arbeit eintreten. Alle Zugangsbeschränkungen aufgrund von Flucht oder Nationalität müssen abgeschafft werden. Alle MigrantInnen und Flüchtlinge müssen zu den gleichen Mindestbedingungen eingestellt werden wie andere Lohnabhängige: zu einem Mindestlohn, der von der jeweiligen ArbeiterInnenbewegung festgelegt wird; zweitens zu tariflichen Verträgen mit Gesundheitsvorsorge, Urlaub und Rentenansprüchen. Drittens muss die Arbeitszeit auf 35 Stunden als Schritt zur Aufteilung der Arbeit auf alle Arbeitssuchenden verringert werden. Zusätzlich treten wir für ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten (im Gesundheits- und Bildungsbereich, für den Ausbau des Verkehrssystems und den ökologischen Umbau der Ökonomie) unter ArbeiterInnenkontrolle ein, um nicht „nur“ für Geflüchtete, sondern für alle Arbeitslosen und „Unterbeschäftigten“ Arbeit zu schaffen. Schließlich muss dieser Kampf angesichts weiterer drohender wirtschaftlicher Verwerfungen mit dem gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen verbunden werden.

5. Die „soziale Frage“ und der Kampf gegen jede Einschränkung demokratischer Rechte für die Flüchtlinge und MigrantInnen sind der Schlüssel, um der Spaltung der Lohnabhängigen entlang ihrer Nationalität oder ethnischen Herkunft wirksam entgegentreten zu können. Es braucht ein Aktionsprogramm, das die gesamte ArbeiterInnenklasse gegen Rassismus, Abschiebungen, rechte Hetze und Anschläge mobilisieren kann und das letztlich mit dem Kampf für eine Neuaufteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit verbunden ist. Die Forderung nach offenen Grenzen muss mit der Mobilisierung gegen Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Billigjobs verzahnt werden.

6. Gegen die zunehmende rassistische Hetze, Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte wie auch auf UnterstützerInnen braucht es effektiven Schutz. Die Polizei, der bürgerliche Staat haben sich hier wiederholt als „blind“ auf dem rechten Auge erwiesen. Wer sich auf diese verlässt, wird nur allzu leicht ganz verlassen. Es braucht vielmehr organisierte Selbstverteidigungsstrukturen von Geflüchteten, MigrantInnen, der Linken und der ArbeiterInnenbewegung. Nur so können diese eine Massenunterstützung erhalten, die z.B. aus Betrieben kurzfristig mobilisiert werden kann.

7. Der Kampf gegen Rassismus bedeutet auch, alle sprachlichen und sonstigen Barrieren für die Geflüchteten und MigrantInnen abzuschaffen. Vor Behörden, bei Arbeits- und Mietverträgen müssen sie ihre eigene Sprache sprechen können und Dokumente und ÜbersetzerInnen müssen kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Für alle Geflüchteten muss es ausreichend Sprachkurse in der jeweiligen Landessprache geben, für die Kinder und Jugendlichen das Recht auf muttersprachlichen Unterricht verwirklicht werden. Vom Standpunkt des gemeinsamen Kampfes aus wichtig ist die Öffnung der Gewerkschaften wie der gesamten ArbeiterInnenbewegung für die Geflüchteten. Ob und wie viele von ihnen in den Herkunftsländern LohnarbeiterInnen waren oder „besser gestellt“, ist letztlich nebensächlich. Entscheidend ist vielmehr, dass vielen von ihnen in Europa nur eine Perspektive als zukünftige Lohnabhängige offensteht. Die ArbeiterInnenklasse hat sowohl eine politische und moralische Verpflichtung, diesen Menschen beizustehen, wie auch ein Eigeninteresse, die Verbindung zwischen diesen (zukünftigen, oft durch rechtliche Diskriminierung vom Arbeitsmarkt ferngehaltenen KollegInnen) möglichst rasch herzustellen.

8. Der antirassistische Kampf beschränkt sich nicht auf die Solidarität und den gemeinsamen Kampf mit den Flüchtlingen und MigrantInnen, den Opfern der Überausbeutung (halb)kolonialer Unterdrückung durch den Imperialismus, Despotien, reaktionäre Regime, von Krieg und Bürgerkrieg. Bekämpfen der „Fluchtursachen“ bedeutet nichts weniger als der Kampf gegen die imperialistischen Interventionen der „eigenen“ herrschenden Klasse und ihrer Verbündeten. Es bedeutet auch die Unterstützung der Kämpfe gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Diktatur – so z.B. die Solidarität mit der syrischen Revolution, dem kurdischen und palästinensischen Widerstand.

ArbeiterInneneinheitsfront gegen Rassismus!

Diese Forderungen, diese acht Punkte stellen für uns Schlüsselaspekte des Kampfes gegen Rassismus und für die demokratischen Rechte der Refugees und MigrantInnen dar. Um diese Forderungen in der gegenwärtigen Lage durchzusetzen, wird letztlich die Systemfrage, die Frage der gesellschaftlichen Ordnung aufgeworfen. Wer vom Kapitalismus, nicht reden will, dessen Anti-Rassismus wird letztlich hohl und rein moralisch, bürgerlich-humanitär bleiben müssen.

Aber wir wollen keinesfalls die Zustimmung zur Gesamtheit dieser Forderungen und ihrer inneren Verbindung mit der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus zu einer Voraussetzung für den gemeinsamen Kampf machen – für offene Grenzen, Schutz und Selbstverteidigung gegen RassistInnen und FaschistInnen, für Wohnraum oder das Recht aus Arbeit.

Wir kämpfen für eine europaweite anti-rassistische Bewegung, die sich diese Schlüsselforderungen zu eigen macht. Wir gehen aber davon aus, dass das nicht bloß oder in erster Linie durch Konferenzen oder Diskussionen um Forderungen zustande kommt. Oft mag es „nur“ möglich sein, eine solche Bewegung um einzelne dieser Forderungen oder auch nur um eine Aktionseinheit, eine Einheitsfront von Linken, MigrantInnen und ArbeiterInnenorganisationen herum aufzubauen.

Um die aktuelle rechte und rassistische Welle zu stoppen, ist es nicht nur notwendig, ein Aktionsprogramm zu erarbeiten und dieses zu verbreiten. Es geht vor allem darum, jene Kraft zu formieren, zu gewinnen, die sich wirksam entgegenstellen kann. Das ist die multi-nationale ArbeiterInnenklasse in ganz Europa, ob nun „InländerInnen“ oder MigrantInnen. Nur sie verfügt über die gesellschaftliche Kraft, ein solches Programm durch Massenmobilisieren, Demonstrationen, Streiks, Formierung und Unterstützung von Schutzgruppen gegen rechte Angriffe auch durchzusetzen.

Um die Klasse zu gewinnen, braucht es aber nicht nur die Kritik an der Politik ihrer bestehenden Organisationen und ihrer zumeist reformistischen Führungen. Es ist unerlässlich, die bestehenden Massenorganisationen immer wieder zum Kampf um ein solches Programm oder einzelne Forderungen aufzufordern. Natürlich wollen diese Führungen das in der Regel nicht; große Teile des Apparates dieser Parteien und Gewerkschaften sind hin und her gerissen, ob sie gegen Rassismus kämpfen oder selbst Sozialchauvinismus mit demokratischen Phrasen praktizieren sollen. Die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen „ArbeiterInnenführerInnen“ ziehen es vor, dass es zu keiner gemeinsamen Aktion kommt oder wollen am liebsten möglichst große Teile der bürgerlichen Klasse dabei haben. Sie ziehen eine Staatsaktion dem Kampf vor.

Daraus darf aber nicht der falsche ultra-linke Schluss gezogen werden, dass sich Forderungen an sozialdemokratische Parteien, an „Linksparteien“ oder sozialdemokratisch geführte Massengewerkschaften „erübrigt“ hätten oder, dass diese nur an jene reformistischen Organisationen zu richten wären, die schon erklärt haben, dass sie gegen Rassismus kämpfen wollten. Im Gegenteil, der massive staatliche Rassismus, die Entstehung von landesweiten rassistischen Parteien, der Zulauf für offene FaschistInnen zeigen, dass sich ein tödlicher Gegner für die gesamte ArbeiterInnenklasse formiert, der, selbst wenn man wollte, durch die „Einheit“ der radikalen, anti-kapitalistischen Linken an den meisten Orten schon gar nicht mehr gestoppt werden kann.

Die „radikale Linke“, MigrantInnenorganisationen, der linke Flügel reformistischer Parteien, radikalere Teile des Kleinbürgertums (z.B. vom linken Flügel der Grünen) mögen für die notwendige Aktionseinheit leichter zu gewinnen sein, an vielen Orten deren „Kern“ bilden. Allein der Kampf gegen die Einreisebeschränkungen, für ausreichenden Wohnraum, für Arbeitsplätze für alle wird nur gewinnbar sein, wenn es gelingt, die organisierten ArbeiterInnen und, wo immer möglich, deren Organisationen in den Kampf zu ziehen. Auf Forderungen an die Sozialdemokratie, die Linksparteien, die Gewerkschaften, also alle Massenorganisationen, die historisch in der ArbeiterInnenklasse gewachsen und in dieser verankert sind, zu verzichten, heißt nicht, besonders radikal zu sein, sondern nur die eigene Passivität angesichts der Aufgabe, eine gemeinsame Kampffront zu bilden, pseudo-radikal zu verbrämen.

Genauso falsch ist es andererseits, die Bereitschaft der FührerInnen von Massenorganisationen zur gemeinsamen Aktion zur Vorbedingung für jedes reale Handeln zu machen. Initiativen von linken, radikalen Gruppierungen wie z.B. „Jugend gegen Rassismus“, die aus einem Schulstreik mehrerer tausend SchülerInnen erwachsen sind, stellen einen richtigen Ansatzpunkt dar, eine bundesweite Koordinierung und Bündelung der Kräfte wenigstens unter Jugendlichen zu schaffen. Niemand stellt in Frage, dass „Jugend gegen Rassismus“ heute noch keine Masseneinheitsfront darstellt. Deswegen aber fernzubleiben, wie es SAV und SDAJ tun, hat nichts mit dem konsequenten Eintreten für eine „Einheitsfront“ zu tun, sondern ist nur eine sektiererische Ausrede für die Ablehnung der gleichberechtigten Zusammenarbeit mit anderen Kräften der „radikalen“ Linken.

Schändlicher freilich als diese sektiererische Passivität von kleinen „linken“ Gruppierungen ist natürlich allemal die Passivität der Gewerkschaften oder die Weigerung ganzer „Spektren“ der mehr oder weniger „radikalen“ Linken, bundesweite und letztlich europaweite Bündnisse auf Basis klarer, einfacher Forderungen und der Verständigung zur Massenmobilisierung zu bilden. Diese Politik kann nur in den Ruin führen.

Die Einheitsfront für die wir eintreten, soll um klare Absprachen zur Aktion und konkrete Forderungen herum geschlossen werden. Gemeinsame Propaganda und „Welterklärungen“ sind dabei weder notwendig noch nützlich. Jede Gruppierung sollte das Recht auf Kritik der „BündnispartnerInnen“ auch bei der gemeinsamen Aktion haben. Die einzige Verpflichtung, die mit Bündnissen einhergehen sollte, ist jene der konsequenten Mobilisierung und der Umsetzung verpflichtender Absprachen. Bündnisse sollten auf das Praktische, auf den gemeinsamen Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner beschränkt sein. Deshalb können und sollen sie auch an des „Teufels Großmutter“, also auch an verräterische, bürgerliche ArbeiterInnenführerInnen, an reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenparteien und verbürokratisierte Gewerkschaften gerichtet werden.

Die Einheitsfront ist nicht nur notwendig, um die Massen im Kampf zu mobilisieren, ohne den Bruch mit „ihren“ Führungen zur Vorbedingung für gemeinsame Aktionen zu machen. Sie ist auch ein Mittel, den AnhängerInnen reformistischer Parteien zu helfen, ihre Vorstände, Abgeordneten, VertreterInnen, ja ihre MinisterInnen in der Praxis zu testen. Die Aufforderung zu einem Bruch mit den bürgerlichen Parteien, zu einem „Richtungswechsel“ ist dabei ein unerlässliches Mittel – weil so den AnhängerInnen dieser Parteien vor Augen geführt werden kann, dass sie für konsequente demokratische und soziale Forderungen gar nicht kämpfen wollen, zum Kampf regelrecht getragen werden müssen.

Das heißt, die Einheitsfronttaktik, wie sie vom Marxismus und vor allem von der Kommunistischen Internationale auf den ersten vier Kongressen entwickelt wurde, ist nicht nur ein Mittel zur Herstellung möglichst großer Einheit der Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen Kapital, Staat oder reaktionäre Mobilisierungen. Sie ist auch ein Mittel, das Kräfteverhältnis innerhalb der ArbeiterInnenklasse zu ändern. Sie kann helfen, den Lohnabhängigen und zuerst wohl deren politisch aktivsten und bewusstesten Teilen klarzumachen, dass ihre politischen und gewerkschaftlichen Führungen dem Kampf ausweichen, selbst für die von ihnen proklamierten Versprechungen nicht kämpfen wollen.

Zweitens eröffnet sie aber auch ein Feld dafür, diesen Lohnabhängigen deutlich zu machen, dass der Verrat, die Kapitulation, die Klassenzusammenarbeit ihrer „VertreterInnen“ nicht nur deren Einbindung und Privilegien, nicht nur deren Verrat oder Feigheit zu verdanken ist. Die reformistische Strategie, den Sozialismus oder wenigstens Verbesserungen für die Massen über eine Serie staatlicher Reformen Schritt für Schritt einzuführen, den Kapitalismus immer mehr zu „humanisieren“ und zu „bändigen“, ist letztlich eine Utopie.

Gerade die Frage der Migration, der Flucht zeigt, auf welche Widerstände schon der Kampf für grundlegende demokratische Rechte von ein oder zwei Millionen Menschen in Europa stößt. Angesichts von fast einer halben Milliarde EinwohnerInnen in der EU, angesichts gigantischer Profite der großen Monopole wären die Summen für die Integration von ein paar Millionen Flüchtlingen kein großes Problem. Verglichen mit den Milliarden, die zur Rettung von Banken und Konzernprofiten verballert wurden, sprechen wir von geringen Summen.

Doch in der „europäischen Politik“ wird um die Interessen der imperialistischen Mächte wie die der nationalen KapitalistInnenklassen der halb-kolonialen Länder der EU gerungen. Für die Lohnabhängigen gibt es allenfalls schöne Worte. Die Realität sind jedoch weitere Kürzungsprogramme wie z.B. die Angriffe auf die Renten in Griechenland oder die französische „Agenda“, die Hollande gerade durchsetzen will. „Umverteilung“, „sozialer Ausgleich“ waren gestern. Allenfalls gibt es sie noch für einen kleineren Teil der „besser gestellten“ Lohnabhängigen. Für die Geflüchteten gibt es keine Demokratie, sondern Selektion. Entweder ab in ihre „sicheren Herkunftsländer“ oder eine „Zukunft“ als billige, rassistisch diskriminierte Arbeitskräfte.

Die Herstellung der Einheit der Klasse gegen diese Spaltungen bedeutet zugleich die Erhöhung ihrer Kampfkraft. Sie bedeutet aber auch, dass v.a. die bewusstesten ArbeiterInnen, die Avantgarde, für ein Programm gewonnen werden müssen, das davon ausgeht, dass der Kampf gegen Rassismus, für die elementaren sozialen Forderungen der ArbeiterInnenklasse, untrennbar mit dem Kampf um die Überwindung der Nationalstaaten und des Kapitalismus in Europa verbunden ist. In dem Sinne ist die Einheitsfront auch ein Mittel, diese politische Klärung unter den Lohnabhängigen voranzubringen, ihr Bewusstsein für die Tatsache zu schärfen, dass ihre Interessen letztlich im Rahmen des Kapitalismus nicht dauerhaft gesichert werden können. Der Alternative zwischen einer weiteren kapitalistischen Einigung Europas unter Führung der großen imperialistischen Staaten, allen voran Deutschlands, einem „Europa verschiedener Geschwindigkeiten oder dem Zerfall in „unabhängige“ Nationalstaaten mit ihren eigenen Währungen, Grenzen, der „Balkanisierung“ des Kontinents müssen sie die einzig fortschrittliche Alternative entgegenstellen: den Kampf für ArbeiterInnenregierungen und die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!