BRD und Frankreich: Kampf um das Abtreibungsrecht

Jürgen Roth, Neue Internationale 282, Mai 2024

Am 1. März nahm der französische Kongress, die gemeinsame Tagung beider Parlamentskammern, mit deutlich mehr als der nötigen Dreifünftelmehrheit das Recht auf Abtreibung in die Verfassung auf. Auch in Deutschland empfahl eine von der Ampelkoalition eingesetzte Kommission am 15. April die Straffreiheit und damit Streichung des § 218 aus dem BGB. Doch die Ampel zögert, dieser längst überfälligen Reform zu folgen.

Rechtslage in der BRD

Erinnern wir uns: In der DDR galt ab den 1970er Jahren ein Recht auf Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche (Fristenlösung). Nach der Wiedervereinigung erstreckte sich eine Übergangsfrist im Beitrittsgebiet bis Ende 1994. Ab 1995 galt dann für die gesamte Bundesrepublik die heutige Regelung mit Zwangsberatung.

Abtreibung war damit weiterhin bzw. wieder illegal, allerdings blieben Schwangere und Ärzt:innen bei Einhaltung dieser Bedingungen – Zwangsberatung, Abbruch bis zur 12. Woche – von Strafverfolgung verschont. Für Frauen in der ehemaligen DDR stellte die Reform einen Rückschritt dar, für die in der alten BRD eine, wenn auch eng begrenzte, Verbesserung.

Kommissionsvorschläge und die Ampel

Die von der Ampelkoalition eingesetzte 18-köpfige Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin legte Mitte April ihre Empfehlungen vor. Zu diesen gehört, dass sie unter bestimmten Umständen auch Eizellspenden und Leihmutterschaft für zulässig hält. Ihr Mitglied, Frauke Brosius-Gersdorf, bemängelte zu Recht, dass Abtreibung immer noch Unrecht sei. Eine Änderung der Rechtslage sei für betroffene Frauen alles andere als eine Formalie, zumal die auch Auswirkungen auf die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen habe. Die Expert:innenkommission empfahl auch eine Ausweitung der Frist über 3 Monate hinaus in Fällen von auf Sexualdelikte zurückgehenden Schwangerschaftsabbrüchen. Ihren Vorschlägen können revolutionäre Kommunist:innen in allen Fällen – einschließlich Eizellspenden und Leihmutterschaft – nur beipflichten, auch wenn sie insgesamt nicht weit genug gehen.

Doch die Ampel schaltet auf Gelb, auf Abwarten. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz nach Vorlage des Kommissionsgutachtens mit Justizminister Buschmann (FDP), Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) und Familienministerin Paus (Grüne) zog diese kleine Ampel vorsorglich die Bremse an. Lauterbach meinte, man brauche erstmal einen breiten gesellschaftlichen wie parlamentarischen Konsens vor der Umsetzung. Der Justizminister betonte, für Aussagen zur Umsetzung der Empfehlung sei es noch zu früh. In dieser Legislaturperiode wird es also wohl nichts mehr mit der Streichung des Paragraphen aus dem Gesetzbuch, wenn zuvor die Zustimmung mindestens der Union eingeholt werden muss. DIE LINKE wird sich ja sicher nicht querstellen.

Rote Karte von der Bischofskonferenz

Frauenverbände und Initiativen begrüßten die Kommissionsempfehlungen. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz äußerte dagegen Besorgnis über deren Umgang mit dem Recht des Ungeborenen auf Leben und Menschenwürde. Das ist sicher keine Überraschung, stellen doch diese klerikalen Heuchler das Leben des Ungeborenen stets über das der Lebenden, das Recht des Patriarchats über jenes der Frauen, besonders das Recht auf Menschenwürde und Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Auch eine zukünftige kommunistische Gesellschaft muss Letzteres uneingeschränkt akzeptieren. Alles andere liefe auf Gebärzwang hinaus.

Übrigens: 72 % der Bundesbürger:innen – im Osten 81 % – befürworten eine vollständige Legalisierung von Abbrüchen innerhalb der ersten 12 Wochen!

Fazit: In Deutschland läuft selbst diese bürgerlich-demokratische Minireform Gefahr zu versanden, obwohl es eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung dafür gäbe. Doch statt wenigstens einmal eine wirklich populäre und fortschrittliche Reform zu beschließen, nimmt die Bundesregierung auf Kosten der Frauen Rücksicht auf die reaktionärsten Kräfte in der Gesellschaft. Das bildet einen grundlegenden Charakterzug der Bundesregierung.

Verfassungsrecht in Frankreich: ein Teilsieg

Ein ganzes Stück weiter auf der Skala bürgerlichen Rechts ist der westliche Nachbar gerückt. Frankreich ist das erste Land in der EU, das den Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert hat. Das ist nicht geringzuschätzen und stellt einen wohltuenden Kontrast zur Entwicklung in den USA, in Italien, Polen und Ungarn dar.

Letztere hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass Frauenverbände und linke Parteien das Recht auf Schwangerschaftsabbruch praktisch unumkehrbar durch Dekrete oder Gesetze gestaltet haben. 8 von 9 Franzosen und Französinnen befürworteten unter dem Eindruck o. a. jüngster Entwicklungen die Verankerung in der Verfassung.

Der Druck der mobilisierten Bevölkerung war so stark, dass Präsident Macron bereits auf einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag 2023 verlauten ließ, die Regierung werde ein Gesetz zur „Konstitutionalisierung“ vorlegen.

Senatsbremse gelöst

Von da an schien es allerdings, als würde er selbst nicht an die Erfolgsaussichten glauben. Die Gesetzesvorlage fand zwar schnell in der Nationalversammlung eine große Mehrheit, doch in der 2. Kammer, dem Senat, spielten sich erbitterte Auseinandersetzungen ab. Senatspräsident Gérard Larcher und die rechte Oppositionspartei „Les Républicains“ wollten das Projekt mit der Begründung zu Fall bringen, eine Verfassungsänderung sei angesichts verbreiteter Praxis des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch unnötig. Außerdem dürfe man das Grundgesetz nicht zu einem „Katalog von gesellschaftlichen Ansprüchen“ werden lassen. Zu was denn sonst, möchte man fragen, zumal sich in einem solchen „Katalog“ „nur“ gesellschaftlich gängige Praxis abbildet!

Doch in monatelangen Auseinandersetzungen bröckelte die Ablehnungsfront. Angeblich hatten die Töchter mehrerer Senator:innen angedroht, nicht mehr mit ihnen zu reden, sollten sie gegen den Vorschlag stimmen. Schließlich rückte selbst Larcher öffentlich von seinem früheren Standpunkt ab und im Senat stimmten von früher 150 jetzt nur noch 50 Abgeordnete dagegen.

Das Ende der republikanischen Fahnenstange

Anlässlich der Abstimmung im Kongress am 1. März fand auf dem Pariser Trocadéroplatz eine riesige Freudenfeier, organisiert von Frauenverbänden, statt. Als nächstes Ziel setzten sie sich die EU-weite Durchsetzung des Abbruchrechts per Europaparlament und EU-Rat. So sehr das auch zu begrüßen ist, so sehr verlagert es den Kampf ums Abtreibungsfreiheit auf die parlamentarisch-konstitutionelle Ebene und ignoriert damit die entscheidenden Mobilisierungen bei deren Zustandekommen im eigenen Land. Es war die Straße, nicht der Sitzungssaal oder das Kommissionshinterzimmer, der die Französ:innen eine bedeutende demokratische Reform zu verdanken haben. Das hehre Ziel der Feiernden droht mit dieser Einstellung, auf dem langen Marsch durch die Institutionen ebenso steckenzubleiben wie im oben geschilderten Fall des östlichen Nachbarn.

Auch in Fragen der Abtreibung reicht die beste bürgerlich-demokratische Reform außerdem nicht aus, um das Leben der breiten, arbeitenden Masse der Bevölkerung nachhaltig zu verändern. Nehmen wir zur Einfachheit der Erläuterung als Beispiel – Frankreich!

Um das garantierte Recht für besagte überwältigende Mehrheit nicht zum wertlosen Fetzen Verfassungspapier geraten zu lassen, muss die Regierung zu seiner praktischen Umsetzung gezwungen werden. Es müssen Einrichtungen geschaffen und finanziert werden, wo eine ausreichende Zahl von Mediziner:innen diese Eingriffe sachgerecht und kompetent vornimmt. Die psychologische Betreuung der Schwangeren bzw. Abtreibenden in Vor- wie Nachsorge sei hier nicht an letzter Stelle genannt.

Die einschlägigen Berufsverbände verweisen jedoch darauf, dass der Zug in umgekehrte Richtung fährt. Aufgrund von Sparmaßnahmen wurden in den letzten Jahren in Frankreich 130 solcher Zentren geschlossen! Deshalb – und weil viele Ärzt:innen die gesetzliche Gewissensklausel in Anspruch nehmen – fehlt es vielerorts an Personal, das diese Eingriffe sicher und schonend vornehmen kann. Wenn die Lohnarbeiter:innenklasse in ihrem eigenen und dem Interesse v. a. aller anderen Werktätigen handeln will, muss sie also über die bürgerlich-demokratische Fahnenstange hinauslangen.

Deren Ende ist der Beginn einer materiellen Absicherung dieses Rechts für alle, also auch aller lohnabhängigen Frauen. Heute heißt das: für eine frei zugängliche und kostenfreie Abtreibung für alle zu kämpfen, für ausreichend personell ausgestatte staatliche Einrichtungen unter Arbeiter:innenkontrolle. Finanziert werden müssen diese entweder durch eine Progressivsteuer auf Einkünfte, Vermögen und Gewinne bzw. durch gesetzliche Krankenversicherungspflicht für alle.

Der 3. und entscheidende Schritt: Sozialisierung der Haus- und Sorgepflichten!

Selbst die radikale Linke geht zum Großteil nicht über das Vehikel bürgerlich-demokratischer Reform hinaus. Doch genau das ist notwendig, wenn das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zur Realität werden soll, auch für die lohnabhängigen und rassistisch unterdrückten Frauen. Denn wie frei kann die Entscheidung einer Frau in einer Gesellschaft ausfallen, die nicht nur die private Verrichtung von Haus- und Sorgearbeit duldet, sondern auf ihr ebenso fußt wie auf der Lohnarbeit? Vergesellschaftung kennt die bürgerliche Gesellschaft nur indirekt, in der Warenproduktion für einen anonymen Markt.

Eine sozialistische Umwälzung wird vordringlich den Sektor der scheinbar nicht zur ökonomischen Sphäre gehörenden vier Wände gründlich umkrempeln müssen. Sie gehört ebenso direkt und von vonherein geplant vergesellschaftet wie die der ehemaligen Warenproduktion! Erst dann kann eine Frau wirklich frei entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringt oder nicht, wenn sie nicht allein aufgrund biologischer Mutterschaft zur alleinigen Sorge um es verdammt ist, es quasi als leibliches Privateigentum zu betrachten und behandeln hat. Den Kampf dafür können und dürfen wir jedoch nicht auf eine zukünftige Gesellschaft aufschieben, sondern müssen wir vielmehr jetzt – siehe oben entwickelte Forderungen – aufnehmen.




Der Krise entgegen. Von der Krise der Globalisierung zur sozialistischen Revolution

Manifest der Liga für die Fünfte Internationale

Verabschiedet vom XII. Kongress, Juni 2023

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die neue Weltunordnung

2.1 Die Ursachen der Krise

2.2 Europa

2.3 Die Halbkolonien

2.4 Von der Rivalität zum Krieg

2.5 Klimakatastrophe

2.6 Rezession

3. Kampf und Führung

3.1 Fronten des Widerstands

3.2 Krise der Führung

4. Ein Programm von Übergangsforderungen

4.1 Einleitung

4.2 Gegen die kapitalistische Offensive

4.2.1 Ein existenzsicherndes Einkommen, Arbeit für alle und Kontrolle durch die Arbeiter:innen

4.2.2 Für universelle öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit

4.2.3 Enteignung des Vermögens der Reichen

4.2.4 Für einen Plan der Arbeiter:innen zu internationaler Produktion und Entwicklung

4.3 Militarismus und Krieg

4.4 Kampf gegen die Klimakatastrophe

4.4.1 Die Stadt umgestalten

4.4.2 Befreiung des ländlichen Raums

4.5 Die digitale Revolution

4.6 Die Gewerkschaften

4.7 Von der Streikpostenverteidigung zur Arbeiter:innenmiliz

4.8 Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus

4.9 Verteidigung der demokratischen Rechte

5. Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

5.1 Für Frauenbefreiung

5.2 Gegen die Unterdrückung von Lesben, Schwulen und nicht-binären Menschen

5.3 Für die Befreiung der jungen Menschen

5.4 Rassismusbekämpfung – Verteidigung von Flüchtlingen und Migrant:innen

5.5 Nationale Befreiung und die permanente Revolution

6. Der Kampf um die Macht

6.1 Für eine Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen

6.2 Der Aufstand

6.3 Unser Ziel: Weltrevolution und Kommunismus

7. Eine revolutionäre Partei und Internationale

7.1 Für eine neue, Fünfte Internationale!

1. Einleitung

Die Welt steht vor einer tieferen und weiter reichenden Krise als vor der großen Rezession von 2008 – 2010. Auf den schwachen Aufschwung, der durch historisch niedrige Zinssätze gestützt wurde, folgte ein Jahrzehnt der Beinahe-Stagnation. Dies hat zu einem weltweiten Inflationsanstieg geführt, dessen Folgen eine Krise der Lebenshaltungskosten sind, die den Lebensstandard der Arbeiter:innenklasse dramatisch zu senken droht, sowie Not, Unterernährung und buchstäbliches Verhungern für Dutzende von Millionen Armen in der Welt bedeutet.

Die durch die Pandemie verursachte wirtschaftliche Verwerfung der globalen Produktions- und Handelsketten, die beispiellosen Kosten der durch den Krieg in der Ukraine ausgelösten Sanktionen und Aufrüstungsprogramme und die sich beschleunigenden und vervielfachenden Folgen des Klimawandels – diese miteinander verknüpften Krisen konfrontieren die Menschheit mit einem starken Sturm, der nur eine Ursache hat: die kapitalistische Produktion und die imperialistische Weltordnung, die sie aufrechterhält.

Die wiederholten Wirtschaftskrisen, die sich verschärfende Rivalität der Großmächte, Überschwemmungen, Brände, Dürren und Hungersnöte spiegeln sich auch in der politischen Arena wider. Dies äußert sich im Erstarken populistischer und rechtsextremer Straßenbewegungen, im Wuchern reaktionärer, irrationalistischer Ideologien und Verschwörungstheorien in den sozialen Medien. Militärputsche nutzen die Unfähigkeit der schwachen „demokratischen“ Regierungen in den Halbkolonien aus, die sich verschärfende soziale Krise zu bewältigen; die Wahl reaktionärer Demagog:innen, die sogenannte „Kulturkriege“ führen, dient dazu, den sozialen Fortschritt und die Rechte der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten zu untergraben.

Angesichts dieser sich vervielfachenden Krisen sind die traditionellen reformistischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, ob „sozialistisch“ oder stalinistisch, angesichts ihrer Unfähigkeit, ihre Massenbasis zu verteidigen, verwelkt. Das „neue“ Modell der linkspopulistischen, neoreformistischen oder zentristischen Parteien, das an ihre Stelle treten sollte, hat entweder kapituliert oder sich aufgelöst. An ihre Stelle sind immer extremere rechtsradikale und sogar offen faschistische Parteien getreten, die religiöse, rassistische und nationale Vorurteile ausnutzen.

Spontaner Widerstand gegen diese Krisen flammt überall in der Welt auf und wirft die Notwendigkeit einer Führung der Arbeiter:innenklasse auf, die einen Weg zum Sieg bahnen kann. Die mal ausbrechende, mal schwelende Kette von Bevölkerungsaufständen vom Arabischen Frühling über die Antiausteritätsbewegungen der EU-Schuldenkrise bis hin zu den Frauen an vorderster Front der iranischen und sudanesischen Revolutionen zeigt: All diese Gelegenheiten, die das Potenzial für einen entscheidenden Bruch mit dem herrschenden System in sich trugen, verstrichen ungenutzt, wobei der Preis der Niederlage nicht überall der Abstieg in eine brutale Konterrevolution war.

In jedem Fall liegt gerade im Fehlen einer gefestigten und verankerten Organisation, die mit der Strategie und Taktik – dem Programm – bewaffnet ist, um die Arbeiter:innenklasse und ihre Verbündeten zur Machtergreifung zu führen, der elementare subjektive Faktor für die Ursache der Niederlage. Das Scheitern der revolutionären Ausbrüche in den Halbkolonien ist nur der lokale Ausdruck der Krise der Führung, einer Krise, die sich in den Gewerkschaften, den Parteien und den revolutionären Organisationen der Arbeiter:innenklasse insgesamt manifestiert.

Dieses Dilemma begründet sich nicht nur in der jeweiligen nationalen Situation. Es stellt sich weltweit in der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Internationale dar, einer Nachfolgerin der vorherigen vier, die aus deren Fehlern und Erfolgen lernt. Die Menschen, die den Grundstein für eine neue Internationale legen können, finden sich bereits unter der Avantgarde der Massenkämpfe in aller Welt. Es ist von größter Dringlichkeit, sie sowohl international als auch in jedem Land zusammenzubringen. Vor allem müssen sie für ein revolutionäres Aktionsprogramm gewonnen werden, das weltweit gilt und die notwendige Antwort auf die Machtfrage gibt, die die strategische Lösung für die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems darstellt.

Die Liga für die Fünfte Internationale veröffentlicht dieses Programm als Beitrag zu einer Diskussion und Annäherung der revolutionären Kräfte in den kommenden Jahren, verbunden mit Vorschlägen für gemeinsame Aktionen und Kampagnen, neben einer ernsthaften Debatte über das Programm, das eine neue, revolutionäre Internationale entwickeln muss. Was wir vorschlagen ist weder vollständig noch umfassend, aber es wird als unser Angebot für gemeinsame Aktionen und ernsthafte Diskussionen mit denjenigen präsentiert, die die zwingende Notwendigkeit einer neuen Internationale akzeptieren, deren Organisation und Führung die Voraussetzung dafür ist, den Kreislauf von spontanem Widerstand und Niederlage zu durchbrechen.

2. Die neue Weltunordnung

2.1 Die Ursachen der Krise

Die Ursachen für die Systemkrisen des Kapitalismus liegen nicht im Mangel oder in der Unfähigkeit, das zu produzieren, was die Menschheit braucht. Die Fabriken, ihre Arbeitskräfte, die Produktions-, Logistik- und Kommunikationsmittel, neue und alte, sind im Überfluss vorhanden, ebenso wie die wissenschaftlichen und technologischen Mittel, um Pandemien und den Klimawandel zu bekämpfen. Die sozialen Mittel für eine globale Planung sind bereits in den multinationalen Konzernen und den riesigen Banken vorhanden, aber durch Privateigentum und interne Konkurrenz nur separat verfügbar. Dieser Widerspruch hat sich bei der Reaktion auf die Pandemie gezeigt: einerseits die rasche Entwicklung von Impfstoffen, andererseits deren ungleiche Verteilung an die Bevölkerungen unseres Planeten. Bis Juni 2023 haben 29,9 % von ihnen noch keine einzige Impfung erhalten.

Die grundlegende Ursache für die Krise des Systems liegt in der massiven Überakkumulation von Kapital, das nicht in der Lage ist, in gleichem oder höherem Maße als in der Boomphase der Globalisierung ausreichende Gewinne aus der Produktion zu erzielen. Dies ist der Grund dafür, dass der „Aufschwung“ nach der letzten Rezession schnell an Dynamik verloren hat und in weiten Teilen der Weltwirtschaft in Stagnation übergegangen ist. Da es nach der Großen Rezession nicht gelungen ist, dieses Problem auf die einzige Art zu lösen, die Kapitalist:innen immer anwenden, nämlich durch Kapitalvernichtung auf breiter Front, droht nun der Massenbankrott sogenannter Zombieunternehmen, die schätzungsweise 16 % bis 20 % aller Firmen in den USA ausmachen.

Da dies die Zerstörung großer Industrie- oder Handelszweige bedeuten würde, ist eine solche Entwicklung ein letzter Ausweg und eine riskante Option für das Kapital. Im Jahr 2008 hätte es die Spitzen des Finanzkapitals getroffen, die Investment-, Hypothekenbanken und multinationale Automobilhersteller wie General Motors und Chrysler, die als „zu groß zum Scheitern“ eingestuft worden sind. Viele von ihnen wurden auf Kosten der Steuerzahler:innen aus der Arbeiter:innen- und Mittelschicht gerettet. Die Maßnahmen der Federal Reserve Bank der USA führten die Welt auch zu einer enormen Ausweitung der Geldmenge (Quantitative Easing), die es Unternehmen, Staaten und Einzelpersonen ermöglichte, noch mehr Schulden anzuhäufen und den Grundstein für einen zukünftigen Zusammenbruch zu legen.

Die von der neoliberalen und monetaristischen Theorie diktierte Lösung, die gigantische Kapitalvernichtung zur Wiederherstellung der Profitraten, kann nur zu enormen Kosten für die Arbeiter:innenschaft der ganzen Welt erfolgen. Natürlich besteht die Antwort darin, sich Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit entgegenzustellen, aber große Zugeständnisse seitens der Unternehmer:innen würden keine Rückkehr zum vorherigen Status quo bedeuten, sondern das Chaos eher noch vertiefen. Daraus ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, die Kontrolle über die Produktion denjenigen anzuvertrauen, die die Arbeit verrichten, und die Staatsmacht in die Hände der arbeitenden Menschen zu legen, nicht in die der wenigen Ausbeuter:innen. Dies kann nur auf dem Weg der Revolution – der Zerstörung der Staatsmacht der Kapitalist:innenklasse – geschehen, nicht auf dem Weg der Reform.

Die Globalisierung erwies sich als eine vorübergehende Lösung für den Kapitalismus. Sicherlich hat sich der Grad der internationalen Integration zwischen den großen Zentren der Kapitalakkumulation unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer internationalen Finanzinstitutionen, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation, enorm erhöht. Sie beruhte in hohem Maße auf einer wohlwollenden Symbiose der USA und der EU mit China als Markt für Spitzentechnologie und als neue Produktionsstätte der Welt. Doch in der Epoche der vollen Reife des Kapitalismus, ja seiner Überreife, der Epoche des Imperialismus, musste eine schnell wachsende neue kapitalistische Macht wie China entweder der bestehenden hegemonialen Weltmacht untergeordnet werden und zu dem werden, was Marxist:innen eine Halbkolonie nennen, oder selbst zu einer imperialistischen „Großmacht“ emporsteigen.

Chinas Bereitschaft, in den exklusiven Klub der imperialistischen Mächte aufzusteigen, zeigte sich nach 2008, als es eine wichtige Rolle dabei spielte, die Weltwirtschaft aus der Großen Rezession herauszuziehen. Doch dann begann es, als Investor in Regionen zu expandieren, die bis dahin von den alten Imperialismen Nordamerikas, Westeuropas und Ostasiens beherrscht wurden. Dies führte unweigerlich zu einer Verschärfung der Rivalität und des Konflikts zwischen den alten und neuen Mächten. Die Fähigkeit der Kommunistischen Partei Chinas, mit Repressionen im Stil von Tian’anmen und Präsident Xi Jinpings Einführung eines Massenüberwachungsstaates zu drohen, beruht auf dem Aufstieg der chinesischen Bevölkerung aus der Armut und der Rolle des Landes als zweitstärkster Wirtschaft der Welt. Jeder ernsthafte oder anhaltende Rückzug von diesem Wohlstand, sei es durch wirtschaftlichen Abschwung oder militärische Abenteuer, wird diesen untergraben und das Gespenst der Revolution heraufbeschwören.

Im Gegensatz dazu fußte Russlands Fähigkeit, dem Schicksal der Unterordnung unter die Supermacht USA zu entgehen, eher auf der Rente aus seinen reichhaltigen natürlichen Ressourcen als auf dem industriellen Wachstum. Während der „Schocktherapie“, mit der Russland in den Kapitalismus eingeführt wurde, schrumpfte seine Wirtschaft um 40 Prozent, während die Inflation in die Höhe schoss. Engpässe bei den Grundnahrungsmitteln wurden zur Norm und ein Drittel der Bevölkerung fiel in Armut. Die sozialen Sicherungen der Sowjetära wurde dezimiert. Als unter Präsident Jelzin Russland 1992 in den IWF aufgenommen wurde, beschleunigte eine Reihe von Krediten mit harten Bedingungen (Kürzungen bei Sozialleistungen, Bildung usw.) den Abwärtstrend.

Präsident Putins Popularität war, zumindest anfangs, nicht das Ergebnis einer brutalen Unterdrückung der Opposition. Nach 2000 gelang es ihm, die schamlose Ausplünderung der Wirtschaft durch die Oligarch:innen und die Abzweigung des Reichtums in westliche Banken und Steuerparadiese zu unterbinden. Durch die Übernahme der Kontrolle über die Öl- und Gaskonzerne Lukoil, Rosneft usw. konnte er den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten und den Lebensstandard in bescheidenem Maße wiederherstellen. Doch seine Versuche, den Westen dazu zu bewegen, Russland eine Einflusssphäre in den Staaten der ehemaligen UdSSR sowie in denen Afrikas und des Nahen Ostens, die früher enge Beziehungen zur UdSSR unterhielten, zuzugestehen, wurden wiederholt abgelehnt. Im Jahr 2005 bezeichnete er den Zusammenbruch der Sowjetunion (an dem er maßgeblich beteiligt war) als „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ und eine „echte Tragödie“ für das russische Volk, da sich „Dutzende Millionen“ von ihnen außerhalb des russischen Staatsgebiets wiederfanden.

Heute ist Russland wirtschaftlich nicht mit China gleichzusetzen. Es gehört nicht einmal zu den zehn größten Volkswirtschaften; sein Bruttoinlandsprodukt von 1,4 Billionen US-Dollar wird von dem der Vereinigten Staaten (20 Billionen US-Dollar) und Chinas (14 Billionen US-Dollar) in den Schatten gestellt. Es entspricht in etwa dem von Brasilien, liegt aber unter dem von Indien und sogar Südkorea. Seine technologischen Stärken finden sich in der Weltraumforschung, der Kernenergie und der militärischen Ausrüstung. Doch obwohl es ein wirtschaftlicher Zwerg ist, bleibt Russland ein militärischer Riese, der in Bezug auf die weltweite Feuerkraft und – zumindest vor dem Ukrainekrieg – auch in Bezug auf die militärischen Kapazitäten an zweiter Stelle hinter den USA stand. Dies war die Grundlage für Putins Fähigkeit, im Nahen Osten, in Afrika sowie im nahen Ausland als Friedensstörer aufzutreten.

2.2 Europa

Die beiden dominierenden Volkswirtschaften der Europäischen Union, Deutschland und Frankreich, sind seit langem bestrebt, die Unabhängigkeit des Blocks gegenüber den USA zu stärken und Europa als weltweiten Konkurrenten des chinesischen und amerikanischen Kapitals zu etablieren. Eine Reihe von Veränderungen in der internationalen Dynamik, beginnend mit Barack Obamas Hinwendung zu Asien, dem Austritt Großbritanniens, des engsten Verbündeten der USA, aus dem Block, der Förderung engerer Verbindungen mit Eurasien durch den Öl- und Gashandel und Chinas Seegürtel- und Straßeninitiative (Neue Seidenstraße) schienen eine zunehmend unabhängige Rolle für einen europäischen Imperialismus zu begünstigen. Doch der Ukrainekrieg hat mit einem Schlag die Vorherrschaft der USA auf dem Kontinent wiederhergestellt und die Pläne von Paris und Berlin zunichtegemacht.

Trotz Großbritanniens Austritt bleibt die EU einer der drei großen Blöcke des Kapitals. Während die Produktivkräfte des europäischen Kapitalismus längst über die Staatsgrenzen seiner Nationen hinausgewachsen sind, zeigt die anhaltende Krise, die die Union seit 2008 heimgesucht hat, dass die kapitalistischen Klassen Europas nicht in der Lage sind, die historisch fortschrittliche Aufgabe der Einigung des Kontinents zu erfüllen.

Die Europäische Union mit ihren Verträgen, ihrer Kommission, ihrer Europäischen Zentralbank und ihrer Währung ist ein Zwangsapparat zur Ausbeutung der Peripherie durch den imperialistischen Kern. Sie hat die südeuropäischen Staaten zum Schutz der imperialistischen Finanziers zu brutaler Sparpolitik gezwungen, stellt ein Reservoir an materieller und diplomatischer Hilfe für die Abenteuer des US-Imperialismus bereit und führt ihre Geschäfte hinter den Mauern der NATO und der Festung Europa. Diese imperialistische Architektur kann nicht umgestaltet werden, um sozialen Zielen zu dienen: Sie muss durch eine sozialistische Revolution abgeschafft werden, die in einem sozialistischen vereinigten Europa gipfelt.

Revolutionäre Kommunist:innen haben jedoch immer die Illusion zurückgewiesen, dass der Weg zur Vereinigung auf einer höheren, demokratischen, sozialistischen Grundlage notwendigerweise über die Zerlegung großer politischer oder wirtschaftlicher Einheiten in ihre Bestandteile führt. Wir versuchen vielmehr, sie so zu vergesellschaften und zu planen, dass sie die Menschheit voranbringen. Der Sozialismus erfordert einen kontinentalen, ja globalen Maßstab der integrierten Produktion. Die Perspektive des Sozialismus in einem Land ist heute noch reaktionärer, als sie es war, als Stalin sie vor einem Jahrhundert proklamierte.

Die Zurückdrängung der Produktivkräfte in 28 Nationalstaaten, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen und Zollschranken, die Unterbrechung des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs, die Behinderung der Entwicklung der Produktivkräfte, die Verschärfung der zwischenstaatlichen Rivalitäten, die weitere Spaltung der Arbeiter:innenklassen dieser Staaten im Namen einer vorgetäuschten wirtschaftlichen Souveränität können nur den nationalen Antagonismus, den wirtschaftlichen Niedergang und schließlich den Rückgriff auf einen imperialistischen Krieg fördern.

Die Aufgabe der Einigung Europas, die von den Kommunist:innen vor mehr als einem Jahrhundert vor dem Gemetzel zweier Weltkriege als notwendig erkannt wurde, fällt der Arbeiter:innenklasse zu, wenn sie einen Dritten Weltkrieg vermeiden will. Das Mittel, mit dem sie dies erreichen kann, ist die europaweite Revolution. Ausgehend von den heutigen Kämpfen gegen Sparhaushalte, Privatisierung, Krieg, Ungleichheit, Rassismus und Umweltzerstörung müssen die europäischen Arbeiter:innen ihre Kämpfe vereinen und ihnen ein gemeinsames Ziel geben – den Sozialismus im kontinentalen Maßstab.

2.3 Die Halbkolonien

Im globalen Süden hat die Illusion, dass die fortgeschrittenen halbkolonialen Länder den chinesischen Weg zur Entwicklung beschreiten, einen Todesstoß erhalten. In der Hochphase der Globalisierung wurden viele als „aufstrebende Volkswirtschaften“ bezeichnet, die für eine nachhaltige Entwicklung prädestiniert schienen – die asiatischen Tigerstaaten, die sogenannten BRICS-Länder, Mexiko, Indonesien, Nigeria und die Türkei. Aus diesem Optimismus heraus wurde im Jahr 2003 die G20-Gruppe gegründet. Doch in den folgenden zwei Jahrzehnten entkam mit Ausnahme von Russland und China keines dieser Länder der imperialistischen Vorherrschaft.

Die Situation der schwächeren Halbkolonien wurde nach der Krise von 2008 auf grausame Weise offengelegt. Die Dollarflucht machte die hohe Verschuldung deutlich; die von den Gläubiger:innen auferlegten Kürzungen der Lebensmittel- und Treibstoffsubventionen lösten eine Kette von Ereignissen aus, die im Arabischen Frühling gipfelte.

Die Folgen der imperialistischen Missgeschicke im Irak und in Afghanistan (und später in Syrien und der Ukraine) haben die Verarmung und den Mangel an Sicherheit der Völker noch verstärkt. Beim Widerstand gegen die Wiedereinführung noch härterer autoritärer Regime in Algerien, im Sudan und in Rojava hat die Arbeiter:innenklasse oft eine wichtige, aber keine entscheidende Rolle gespielt; nirgendwo hat sie die Regime gestürzt.

In ganz Subsahara-Afrika behalten Großbritannien und Frankreich ihren Einflussbereich auf ihre ehemaligen Kolonialgebiete mit mehr oder weniger großem Nachdruck bei. Frankreich übt zwar immer noch die Kontrolle über die Währungspolitik der CFA (Cooperation Financière en Afrique) -Länder Zentralafrikas aus, doch seine Fähigkeit, Regierungen zu stützen oder zu ersetzen, wird durch den Rückgriff auf den Schutz durch russische Stellvertretertruppen zunehmend in Frage gestellt. Die Flut schwer bewaffneter islamistischer „Terrorist:innen“ in der Sahelzone war in hohem Maße das Ergebnis der US-Intervention in Libyen, obwohl sie auch mit der fortschreitenden Wüstenbildung in der Region zusammenhängt, die ein Produkt des Klimawandels ist und die Viehzüchter:innen gegen die sesshaften landwirtschaftlichen Gemeinschaften aufbringt.

In Lateinamerika haben die von Inflation, Arbeitslosigkeit und Schuldknechtschaft geplagten Volkswirtschaften einige rechte Regierungen zu Reformen herausgefordert, aber überall haben sich die Oppositionellen als unwillig erwiesen, die Arbeiter:innen und die Armen auf dem Land und in der Stadt gegen die Elite zu führen. Putsche und konterrevolutionäre Bewegungen waren der Preis dafür.

Die Europäische Union hat in den 2000er Jahren 13 Länder aufgenommen, darunter den größten Teil des ehemaligen Ostblocks. In allen Fällen waren diese an die imperialistischen Bedürfnisse Deutschlands und in geringerem Maße Frankreichs und Italiens als Quelle billiger Arbeitskräfte und Standort für die durch Produktionsauslagerung erzielten Superprofite gebunden. Autoritäre Regierungen neigen dazu, sich mit einer Mischung aus rechtem Nationalismus und neoliberalem „Wachstum“ auf dieses Pulverfass zu setzen.

Die halbkoloniale Abneigung gegen die westlich dominierte imperialistische Ordnung wurde von China geschickt durch die sogenannte „Schuldendiplomatie“ ausgenutzt, indem es Kredite ohne menschenrechtliche Auflagen anbot. Aber wie Sri Lanka zeigt, hat der Austausch eines imperialistischen Kredithais gegen einen anderen diese Länder weder vor den Verwüstungen der internationalen Märkte geschützt noch ihren neuen Gläubiger daran gehindert, seine Eigentumsrechte an seinen Investitionen geltend zu machen.

2.4 Von der Rivalität zum Krieg

In den letzten zehn Jahren hat sich eine neue Phase der Rivalität zwischen den alten imperialistischen Mächten Europa, Nordamerika und Japan und den Neuankömmlingen China und Russland entwickelt, die ihren Platz an der Sonne einfordern. Früher oder später musste dies in einen offenen Konflikt münden. Die Ära der wohlwollenden Synergie zwischen den USA und China in den 1990er und frühen 2000er Jahren, die den Anspruch Washingtons untermauerte, eine neue Weltordnung geschaffen zu haben, ist längst vorbei. Russland, dessen kapitalistische Restauration sich endlich von den Nachwirkungen der „Schocktherapie“ erholt hatte, war der Ansicht, dass diese „Ordnung“ seinen Einflussbereich verkleinert hatte, und machte sich daran, ihn durch militärische und politische Interventionen wiederherzustellen – im Kaukasus, im Nahen Osten, in Afrika südlich der Sahara und in Osteuropa.

Jetzt erleben wir nicht nur einen Verdrängungswettbewerb, sondern auch Handelskriege, einen neuen Kalten Krieg und stellvertretende heiße Kriege. Libyen, Syrien, Jemen, Äthiopien, Sudan, Myanmar, Mali und andere sind Opfer einer neuen Periode der Großmachtrivalität, in der regionale und imperialistische Mächte Bürger:innenkriege schüren und die Bestrebungen nach Wirtschaftsentwicklung und Bekämpfung des Klimawandels zunichtemachen.

Darüber hinaus droht ein Krieg zwischen den Großmächten, deren Pulverfässer in Osteuropa, im Nahen und Fernen Osten liegen. Neue Allianzen werden ins Leben gerufen (AUKUS: Militärbündnis USA, Großbritannien mit Australien)) und alte aufgefrischt (NATO, Quad: Quatrilateraler Sicherheitsdialog; Block aus USA, Australien, Indien und Japan). Dazu gehören auch das Säbelrasseln im Südchinesischen Meer und der Versuch der westlichen imperialistischen Mächte, Putin durch massive Waffenlieferungen an die Ukraine und beispiellose Wirtschaftssanktionen zu demütigen und stürzen.

Das von den USA und dem Vereinigten Königreich geführte Sanktionsregime und die Aussetzung der russischen Öl- und Gaslieferungen nach Europa stellen einen großen Rückschlag für das deutsch-französische Projekt dar, die EU in einen unabhängigen imperialistischen Block zu verwandeln. Die Widersprüche innerhalb Europas werden immer größer, je länger der Krieg andauert. Europa ist das schwächste Glied in der imperialistischen Kette und trotz aller Niederlagen, die seine Arbeiter:innen im letzten Jahrzehnt erlitten haben, bleibt es der Kontinent mit den politisch erfahrensten Arbeiter:innenbewegungen, wenn auch mit den Führungen, die am routiniertesten darin sind, sie zu verraten.

Doch die Machthaber:innen in Washington, Berlin, Paris und London, auch in Peking und Moskau, spielen mit dem Feuer. Das Erbe von Donald Trumps Präsidentschaft und seine Umwandlung der Republikaner:innen in eine rechtspopulistische Partei, die demokratische Konventionen wie die Anerkennung von Wahlergebnissen verachtet, ist ein wichtiger Destabilisierungsfaktor, auch wenn sich Präsident Bidens Außenpolitik nur in den Schwerpunkten von der seines Vorgängers und potenziellen Nachfolgers unterscheidet. Schon jetzt setzt Trumps Oberster Gerichtshof eine reaktionäre Agenda gegen Frauen um (Aufhebung des Urteils Roe versus Wade, das Abtreibungen erlaubte) und ist bestrebt, Farbigen ihre hart erkämpften Bürger:innenrechte zu entziehen. Die giftigen Unterschiede zwischen liberalen und reaktionären US-Bundesstaaten und Wähler:innenblöcken bedrohen die Supermacht der Welt mit lähmenden internen Konflikten. Die Rolle der Vereinigten Staaten als Polizist einer „Weltordnung“ verkehrt sich in ihr Gegenteil, in die eines Brandstifters.

In Russlands vermeintlicher Einflusssphäre flammten im Kaukasus Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und in Zentralasien zwischen Kirgistan und Tadschikistan um das Gebiet Batken auf. Das Vorhandensein mehrerer gemischter Ethnien ist eine Einladung an die despotischen Herrscher:innen dieser Gebiete, den internen Druck durch Kriege und ethnische Säuberungen zu lösen, wie sie in den 1990er Jahren Jugoslawien zerrissen haben.

Im Nahen Osten, in Syrien, wo die russischen Truppen noch immer präsent sind, und in Rojava, wo das US-Militär noch immer stationiert ist, sowie in der Türkei, die die kurdischen Streitkräfte auf beiden Seiten ihrer Grenze bedroht, schlummert ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann; trotz der chinesischen Vermittlung wird sich der Bürger:innenkrieg im Jemen wahrscheinlich als hartnäckiger Ausdruck der von den Großmächten angeheizten saudi-iranischen Regionalkonkurrenz erweisen. Unterdessen nutzt Israel den Krieg in Europa, um seine Besiedlung des Westjordanlands und Ostjerusalems zu verstärken. Seine westlichen Unterstützer:innen, ob sozialdemokratisch, liberal oder konservativ, arbeiten unermüdlich daran, die Palästinasolidaritätsbewegung mit dem Vorwurf des Antisemitismus zum Schweigen zu bringen.

Trump, Biden und Putin, die alle behaupteten, ihre Staaten seien „wieder da“, finden ihre Nachahmer:innen in Delhi, Ankara, Brasilia, Jerusalem und Riad. Jetzt tauchen solche „Störenfriede“ auch in Europa auf – in Ungarn, Polen und möglicherweise auch in Schweden, Italien oder Spanien.

Hinter diesen autoritären Führer:innen haben im letzten Jahrzehnt reaktionäre, oft rassistische Massenbewegungen zugenommen, die sich gegen Minderheiten richten und sich unter den Bedingungen einer tiefen und lang anhaltenden sozialen Krise zu vollwertigen faschistischen Bewegungen entwickeln können. All diese Prozesse stellen nach den Entwicklungen der vorangegangenen Jahre einen bedeutenden Rechtsruck dar; sie sind eine ernsthafte Herausforderung für die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten in der Welt, ihre Kampfkräfte zur Verteidigung der vergangenen Errungenschaften neu zu formieren. Aber der Erfolg erfordert die Vorbereitung der Mittel, um in die Offensive zu gehen, um die Gesellschaft dauerhaft von diesen Kräften zu befreien, die die Welt in die Katastrophe zu führen drohen.

Internationalist:innen auf der ganzen Welt müssen sich dagegen wehren, in eines der sich bekriegenden imperialistischen Lager hineingezogen zu werden, auch nicht durch deren Behauptung, Demokratie oder Antiimperialismus zu vertreten. Die USA und ihre NATO-Verbündeten sind nicht mehr das einzige imperialistische Lager, und China und Russland sind keine Antiimperialist:innen. In den alten „demokratischen“ imperialistischen Ländern Nordamerikas und Europas nutzen die herrschenden Klassen die berechtigte Empörung der Massen über Russlands Gräueltaten in der Ukraine oder Chinas Unterdrückung der Uigur:innen, der Tibeter:innen oder die Zerschlagung der demokratischen Rechte in Hongkong aus, um ihre kalten Kriege, ihre Aufrüstung und den Einsatz von Kriegen wie dem der Ukraine als Stellvertreterin zu rechtfertigen, um Russland zu schwächen. Ihre Behauptung, die Demokratie gegen die Autokratie zu verteidigen, ist lediglich eine Waffe, um fortschrittliche Menschen zu täuschen und rekrutieren.

Andererseits umwerben Moskau und Peking die Regierungen der halbkolonialen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, indem sie die Heuchelei des Westens anprangern, seine wirtschaftliche Ausbeutung und Nötigung durch den IWF, die Auferlegung rücksichtsloser Sparmaßnahmen, seine brutalen Invasionen, die denen Russlands völlig gleichkommen, und seine Besetzungen, seine Wirtschaftsblockaden (Kuba, Venezuela, Iran, Nordkorea) beim Namen nennen und beschämen. Beide Lager können sich gegenseitig schwere ideologische Schläge versetzen, weil beide Anschuldigungen weitgehend wahr sind. Aber die Wahrheiten über die Verbrechen der einen Seite dürfen uns nicht blind machen für die ebenso entsetzlichen Verbrechen der anderen. Nichtsdestotrotz müssen Revolutionär:innen die Berechtigung derjenigen, die legitimen Widerstand gegen die Plünderungen einer der imperialistischen Mächte leisten, objektiv bewerten und anerkennen, während sie gleichzeitig den eigentlichen Grund der Gegner:innen aufdecken, sich für ihre Opfer einzusetzen, und damit das Gebot der Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse vom und den Widerstand gegen den Imperialismus in Ost und West zu verteidigen.

So können wir uns für den Kampf der Ukraine um Selbstverteidigung oder für die von Peking bedrohten oder unterdrückten Völker einsetzen, ohne die Kriegsvorbereitungen und das Wettrüsten der NATO-Mächte zu unterstützen, geschweige denn direkt militärisch zu intervenieren. Gegenüber allen imperialistischen Mächten vertreten wir den striktesten revolutionären Defätismus: Mit den Methoden des Klassenkampfes, um ihre Kriegspläne zu vereiteln und zu besiegen, bereiten wir die revolutionären Kräfte und die objektive Grundlage für die soziale Revolution und den Sturz unserer eigenen Herrscher:innen vor. In den Ländern, die politisch und wirtschaftlich dem Imperialismus untergeordnet sind (Halbkolonien), verteidigen wir diese gegen den Imperialismus, wobei wir eine unbedingte politische Opposition und Unabhängigkeit von ihren bürgerlichen Führungen aufrechterhalten. In diesen Ländern ist unsere Perspektive die der permanenten Revolution: durch den Kampf, die Arbeiter:innenklasse an die Spitze eines legitimen Krieges zu bringen, den Weg zu einer sozialen Revolution unter ihrer Führung zu öffnen.

2.5 Klimakatastrophe

Die ungebremste Zerstörung der Umwelt, die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und der Ausstoß von Treibhausgasen, die den Planeten erwärmen, haben einen entscheidenden Wendepunkt erreicht, der eine tödliche Bedrohung für die natürlichen Lebensgrundlagen und die menschliche Zivilisation darstellt.

Die Zunahme extremer Wetterereignisse, Überschwemmungen, Brände, Hungersnöte und Dürren von nie dagewesener Intensität und das beschleunigte Abschmelzen des Polar- und Gletschereises mit der damit einhergehenden existenziellen Bedrohung für niedrig gelegene Länder sind alles Anzeichen dafür, dass der Klimawandel in eine tödliche und unkalkulierbare neue Phase eintritt.

Die Erwärmung des Klimas stellt die unmittelbarste Bedrohung dar, aber sie ist keineswegs die einzige. Die Versauerung und Verschmutzung der Ozeane, die Überlastung und Unterbrechung der Nährstoffkreisläufe, die Erschöpfung des Grundwasserspiegels, die Dezimierung der biologischen Vielfalt und die Anhäufung giftiger Chemikalien in der Umwelt und den Nahrungsketten – all dies stellt eine Bedrohung für die Existenz der Menschheit dar.

Angesichts der realen Auswirkungen, der apokalyptischen Modellierung der wahrscheinlichen Entwicklungen sind die Vorschläge zur Verlangsamung und Umkehrung der drohenden Katastrophe klar, aber die Großmächte der Welt weigern sich, echte Maßnahmen zu ergreifen. Der Wiedereintritt der USA in das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Emissionen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes Klimaabkommen lediglich die Weigerung der größten Umweltverschmutzer:innen und ihrer aufstrebenden Konkurrent:innen unterstreicht, die Profite ihrer Konzerne durch die Auferlegung echter Emissionsreduzierungen zu gefährden.

Der Kapitalismus zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern hat sich zu einem globalen System des Umweltimperialismus entwickelt, das durch ungehemmte Weltmärkte gekennzeichnet ist, auf denen der Handel zugunsten der reichen imperialistischen Länder organisiert wird. Die Grundlage dafür ist die immer stärkere Konzentration des Kapitals und die Unterdrückung der halbkolonialen Länder durch die Kontrolle über kritische Technologien und Kapitalexporte.

Die Ausbeutung der halbkolonialen Länder durch den imperialistischen Kern wird ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen intensiviert; die sozialökologischen Kosten der kapitalistischen Produktion werden systematisch auf die Halbkolonien übertragen. In den meisten Fällen können sich die monopolistischen Agrar-, Bergbau- und Energiekonzerne darauf verlassen, dass die lokalen Regierungen als willige Vollstreckerinnen gegen die Proteste der Bevölkerung auftreten. Währenddessen wird in den imperialistischen Zentren die räuberische und unhaltbare Ausbeutung des globalen Südens hinter der zynischen Vermarktung von „nachhaltiger“ Produktion und „fairem“ Handel verborgen – eine einfache, aber wirksame Propaganda im Dienste des „business as usual“ für Monsanto (Bayer), Glencore und Unilever.

Während die Nutzung und Veränderung der Umwelt zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse notwendig ist und im Sozialismus fortbestehen wird, sieht sich der Kapitalismus durch seinen grenzenlosen Drang zur Akkumulation in Richtung Zerstörung der Umwelt getrieben. Es ist das unersättliche Streben nach Profit, die Ausbeutung der Menschen und des Planeten, die die kapitalistische „Entwicklung“ unvereinbar mit den Bedürfnissen der Umwelt und dem Fortschritt der Menschheit machen. Die Tatsache, dass der Kapitalismus unaufhaltsam die natürlichen Grundlagen seiner eigenen Existenz untergräbt, beweist, dass er ein sterbendes System ist. Es stellt sich die Frage: Wird er mit der sozialistischen Umgestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beendet oder wird die Menschheit auf dem Weg in die Barbarei weiterschlittern?

2.6 Rezession

Die Bemühungen der Zentralbanken der Großmächte, die Inflation zu bekämpfen, indem sie die Zinssätze nach einem Jahrzehnt mit historischen Tiefstständen von nahezu null anheben, führen zu einer neuen Rezession. Die unvermeidliche Folge ist ein Einbruch der Nachfrage, eine Zunahme der Insolvenzen und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die Staatshaushalte sind bereits durch die enormen Schulden aus den Bankenrettungen von 2008 – 2010, die Stützung von Zombieunternehmen und die Aufrechterhaltung der beispiellosen staatlichen Aufwendungen durch die Pandemie überlastet. Hinzu kommt ein enormes Ausufern der unproduktiven Ausgaben für Aufrüstungsprogramme.

Die Inflation senkt den realen Wert der Löhne und der Ausgaben für Gesundheits-, Sozial- und Bildungsprogramme – ganz zu schweigen von den bereits unzureichenden Zusagen der Weltgipfel zur Bewältigung der Herausforderung des Klimawandels. Angesichts dessen werden die Rufe nach Sozialabbau, Lohnzurückhaltung und Haushaltskürzungen immer lauter.

In den USA, dem reichsten Land der Welt, lag die offizielle Armutsquote im Jahr 2021 bei 11,6 Prozent, was 37,9 Millionen Menschen entspricht. Weltweit lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung von 5,50 US-Dollar pro Tag oder weniger. Etwa 2,6 Milliarden Menschen haben keine sanitäre Grundversorgung und 1,6 Milliarden leben ohne Strom. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung bewohnen Länder, in denen die Ungleichheit zunimmt.

Multinationale Konzerne nutzen Millionen und Abermillionen prekär Beschäftigter als Reservearmee, die ausgebeutet werden, wenn die Gewinne am höchsten sind, und die in Zeiten der Rezession oder Stagnation für sich selbst sorgen müssen. Angetrieben von der unerbittlichen Logik der kapitalistischen Konkurrenz verlagern sie ihre Fabriken, Banken und Büros dorthin, wo sie den größten Profit erzielen können. So wird die Arbeitslosigkeit, die seit der CoVid-Pandemie bereits fortschreitet und durch den Sanktionskrieg noch verschlimmert wurde, wie ein Tsunami über die Welt hereinbrechen. Die Lohnabhängigen werden auf die spärlichen Ressourcen der Familie zurückgeworfen – auf die Lebensmitteltafeln in den imperialistischen Ländern und in die Flüchtlingslager der abgehängten Halbkolonien.

Darüber hinaus droht eine weitere technologische Revolution, die künstliche Intelligenz (KI) und die Robotik, die lebendige Arbeit massiv zu ersetzen, um die Produktivität zu steigern, obwohl sie in Wirklichkeit langfristig die Profitrate senken und die Krise des Systems insgesamt verschärfen wird. Die Kapitalist:innen träumen nur davon, die Arbeitskosten zu senken und die Zahl ihrer Beschäftigten zu reduzieren, nicht aber die Zahl ihrer Arbeitsstunden. Nunmehr bedroht die KI die Arbeitsplätze von mittleren Angestellten, Bürokräften und Dienstleister:innen in enormem Ausmaß.

Die Arbeiter:innenklasse hat vor zwei Jahrhunderten gelernt, dass der Widerstand gegen die Einführung und Anwendung neuer Technologien, etwa durch Maschinenstürmerei, zwecklos ist. Die Antwort der Arbeiter:innen besteht darin, die neuen Technologien zu nutzen, um die Arbeitszeit zu verkürzen und die für Körper und Geist schädlichen Arbeitsformen abzuschaffen. Die Technologie selbst kann die Kontrolle der Menschheit über die Produktion und die Interaktion mit unserer natürlichen Umwelt enorm erleichtern. Damit dies zu einem gesellschaftlichen Ziel wird, müssen wir die Überwachung und Kontrolle durch die Arbeiter:innenschaft, die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit und die Anhebung der Löhne, Renten und Sozialleistungen auf ein angemessenes Lebensniveau durchsetzen, das mit dem Preisanstieg Schritt hält. In einer geplanten und vergesellschafteten Wirtschaft könnten KI und der Einsatz von Robotern einen starken Impuls für die Emanzipation der Arbeit geben, indem sie es ihr ermöglichen, kreativer zu werden und generell die Bereiche zu vergrößern, die die menschliche Intelligenz abdecken kann.

3. Kampf und Führung

3.1 Fronten des Widerstands

Die Große Rezession von 2008 löste eine Welle demokratischer Revolutionen im Nahen Osten aus, bei denen Arbeiter:innenstreiks wie in Ägypten und Tunesien eine entscheidende Rolle beim Sturz der alten Diktatoren spielten, aber nicht zu einer „dauerhaften“ Revolution in dem Sinne wurden, dass die Arbeiter:innenklasse die politische Führung übernahm und es zur Bildung von Arbeiter:innenregierungen kam. Selbst als demokratische Revolutionen scheiterten sie also, und islamistische und militärische Kräfte gelangten an die Macht.

Im gleichen Zeitraum verliehen die Massenproteste, Platzbesetzungen und Streiks gegen die Sparmaßnahmen in Europa, insbesondere in Spanien und Frankreich, den ersten Jahren des Jahrzehnts einen explosiven Charakter. Im Jahr 2010 kündigte die französische Regierung drastische Rentenkürzungen und eine Anhebung des Renteneintrittsalters an, was einen dreiwöchigen Generalstreik auslöste, der an Mobilisierungen wie die von 1995 und 2006 erinnerte, die die Regierung zum Rückzug zwangen. Dieses Mal blieb der Kampf trotz der seltenen Einigkeit zwischen den Gewerkschaftsverbänden, der starken Unterstützung durch die Öffentlichkeit und der regen Beteiligung vieler Teile der Arbeiter:innenbewegung letztlich erfolglos. In anderen Ländern, in denen „soziale Bewegungen“ wie der britische Rentenstreik und die Student:innenrevolte von 2010/2011 stattfanden, gelang es den Regierungen, die Unruhen ohne Zugeständnisse zu überstehen.

Doch nirgendwo war der Kampf so langwierig und intensiv wie in Griechenland. Ab 2009 durchlief das Land eine Finanz- und Industriekrise, die ein Viertel der Wirtschaft des Landes vernichtete. Als Reaktion auf eine Reihe brutaler Kürzungsprogramme, die – auf Geheiß der deutschen Regierung – von der „Troika“ aus EZB, EU-Kommission und IWF diktiert wurden, starteten die griechischen Gewerkschaften zwischen 2010 und 2015 eine Reihe von 28 verschiedenen Generalstreiks (20 von 24 Stunden und vier von 48 Stunden). Die Syriza-Regierung, die mit einem Programm gewählt wurde, in dem sie sich den Forderungen der Troika widersetzte, und die durch das überwältigende Mandat des „Oxi“-Referendums unterstützt wurde, brach bald zusammen und verhängte die geforderten Sparmaßnahmen.

Nach den Niederlagen der sozialen Bewegungen, den Enttäuschungen, dem Scheitern und Verrat durch verschiedene sozialdemokratische oder linkspopulistische Parteien und der Niederschlagung des Arabischen Frühlings durch die Konterrevolution kam es zu einem allgemeinen Rückgang des Niveaus der Klassenkämpfe, der in den Schließungen von CoVid-19 und der Rezession gipfelte.

Jetzt gibt es überall auf der Welt Anzeichen für eine Erholung des industriellen Widerstands und die Entwicklung neuer revolutionärer Möglichkeiten.

Die brisanteste Situation in der Zeit nach der Pandemie begann mit dem Aufstand gegen die klerikale Diktatur im Iran, der durch die Ermordung von Jina Mahsa Amini durch die sogenannte Sittenpolizei ausgelöst wurde. Zwei Monate lang füllten Massenproteste unter den Slogans „Frauen, Leben, Freiheit“ und „Nieder mit den Mullahs“ die Straßen. Die Proteste, zu denen auch Streiks und das symbolische Ablegen des Kopftuchs durch Frauen gehörten, waren eine der größten Herausforderungen für das Regime seit Jahren. Da es der Bewegung jedoch nicht gelang, den Protest in einen Aufstand in Form eines Generalstreiks und der Bildung von Schoras (Räten) zu verallgemeinern, hatte der Staatsapparat Zeit, seine Position zu stabilisieren und konnte ihn schließlich mit seinen Waffen – Massenverhaftungen, Folter und Mord – niederschlagen. Während das Fehlen einer revolutionären politischen Führung es dem Regime ermöglichte, dieses Mal die Initiative zu ergreifen, ist ein großer Teil der iranischen Massen dem herrschenden System nun endgültig entfremdet: Die nächste Explosion wird noch größer ausfallen.

In den USA gab es eine Welle von Streiks in Fabriken, Schulen und in der Logistik sowie gewerkschaftliche Aktionen in den neuen Online-Dienstleistungsunternehmen wie Amazon und der sogenannten Gig-Economy mit ihren befristeten Arbeitsverträgen. Zu den wichtigen Siegen und Zugeständnissen für die Beschäftigten zählen die einmonatigen Aktionen von 10.000 Mitgliedern der Automobilarbeiter:innengewerkschaft UAW bei John Deere und die gefeierten Lehrer:innenstreiks.

In Großbritannien führte der Inflationsanstieg zu einer Reihe von eintägigen Streiks der Beschäftigten im Verkehrs-, Gesundheits- und Bildungswesen, wobei die Zahl der durch Streiks für die Kapitalist:innen verlorenen Tage so hoch war wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Während die Weigerung der Gewerkschaftsführer:innen, die Maßnahmen zu eskalieren und koordinieren, in einer Folge von Abschlüssen unterhalb der Inflationsrate endete, hat sich der Widerstand gegen diese Ausverkäufe zu den ersten Versuchen seit vielen Jahren verdichtet, eine Organisation der Basis aufzubauen.

Die entschlossene Offensive des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gegen das Rentensystem löste eine Welle von eintägigen Streiks und Mobilisierungen aus. Zum ersten Mal handelten alle großen Gewerkschaftsverbände gemeinsam – doch statt einer Eskalation kam es zu einer Abwiegelung, da die Gewerkschaften abwarteten, ob das Parlament, das keine Macron-freundliche Mehrheit hatte, das Gesetz blockieren würde. Macron vermied dieses Szenario, indem er auf die Verordnungsbefugnisse zurückgriff, die den Präsident:innen unter der bonapartistischen Verfassung der Fünften Republik zustehen. Die französischen Arbeiter:innen, die kämpferischsten in Europa, haben wieder einmal gezeigt, welchen Preis jede noch so militante Bewegung zahlt, der es an einer revolutionären Führung mangelt, die in der Lage ist, einen Kampf zum Sieg zu führen.

Im August 2022, als die Inflation bei über 70 Prozent lag, zwangen die argentinischen Gewerkschaften die Regierung und die Unternehmer:innen zu einer Erhöhung der Löhne und der Arbeitslosenunterstützung. Im selben Monat gingen 600.000 südafrikanische Lohnabhängige in allen neun Provinzen auf die Straße, um ein Grundeinkommen, einen existenzsichernden Mindestlohn und eine Begrenzung der Kraftstoffpreise und Zinssätze zu fordern. In Indien folgte auf den eintägigen Streik von 150 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Sektors im Jahr 2016 im November 2020 ein weiterer 24-stündiger Streik, an dem sich 250 Millionen Beschäftigte beteiligten. In China ereignen sich in der riesigen Industriezone des Perlflussdeltas jedes Jahr bis zu 10.000 Arbeitskonflikte.

Kann diese neue Welle auf die große Zahl der derzeit nicht organisierten Proletarier:innen übergreifen? Können Aktivist:innn an der Basis dafür sorgen, dass diese neuen kämpferischen Arbeiter:innen sich Gehör verschaffen, ja, dass sie entscheidend sind? Wie alle Aufschwünge des Klassenkampfes zeigen, werden diese Gelegenheiten verpasst werden, wenn es keine alternative Führung zu reformistischen bzw. zentristischen Parteien und Gewerkschaftsbürokratien oder libertärem „spontanem“ Durcheinander gibt, und Gegenreform oder Konterrevolution werden den Sieg davontragen. Die Frage ist, wie kann eine revolutionäre Führung, eine Partei, aus der heutigen Verwirrung hervorgehen?

An diesem Punkt wird das politische Eingreifen in die Gewerkschaftskämpfe, um die Schaffung einer anderen politischen Führung voranzutreiben, die mit einer alternativen Strategie bewaffnet ist, die auf dem Klassenkampf basiert und auf den Sturz des Kapitalismus abzielt statt auf Verhandlungen und Kompromisse innerhalb seiner Grenzen, von größter Bedeutung. Die Entwicklungen innerhalb der Power Loom Workers‘ Union (Webereiarbeiter:innengewerkschaft) in Faisalabad, Pakistan, wo es Bestrebungen gibt, die Masse der Arbeiter:innen in Richtung einer solchen „klassenkämpferischen Gewerkschaftsbewegung“ zu bewegen, sind nur ein Beispiel. Das Ziel dieses Ansatzes ist die Schaffung von Arbeiter:innenmassenparteien, die von allen bürgerlichen Kräften unabhängig sind und deren Organisation und Führung die Kampfkraft der gesamten Arbeiter:innenfront und der damit verbundenen Kämpfe der national, rassistisch und sozial Unterdrückten qualitativ verändern können.

Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, kämpferische Aktion und Basisdemokratie sind entscheidende Fragen in der kommenden Periode. Sie können der Entwicklung von revolutionären Parteien auf internationaler Ebene und einer Fünften Internationale enorm helfen. Es ist daher die Pflicht der Vorhut-Elemente in den Gewerkschaften und revolutionären Organisationen, den Kampf zu verstärken, um das Gewerkschaftsbündnis mit bürgerlichen Parteien zu brechen – wie zum Beispiel zwischen der Demokratischen Partei und der AFL-CIO in den USA oder die Unterordnung der Gewerkschaft unter die Peronist:innen in Argentinien – mit dem Ziel, wirklich unabhängige Arbeiter:innenparteien zu gründen.

3.2 Krise der Führung

Sozialdemokratische, Labour- und kommunistische Parteien haben den Kapitalist:innen lange Zeit als alternative Regierungsparteien in den europäischen imperialistischen Staaten gedient. In Indien hat die Linksfront (CPI, CPI(M) [indische KPen] und andere) dies auf regionaler Ebene ebenfalls getan; ebenso die südafrikanische kommunistische Partei innerhalb des ANC (Partei Afrikanischer Nationalkongress) seit dem Ende der Apartheid; ein Weg, der wiederum von der brasilianischen Arbeiter:innenpartei (PT) im 21. Jahrhundert beschritten wurde.

Was diese Parteien gemeinsam haben, ist eine privilegierte Schicht professioneller Bürokrat:innen und Parlamentarier:innen, die in der Praxis den Kapitalismus als dauerhaftes System betrachten und den Bossen dienen, ob an der Regierung oder in der Opposition. Sie vereiteln die Versuche ihrer Mitglieder aus der Arbeiter:innenklasse, diese Parteien als wirksame Waffen des Kampfes einzusetzen. In Europa und Asien haben diese Organisationen, obwohl sie einst ihre Dienste für begrenzte soziale Reformen angeboten haben, in den letzten zwanzig Jahren die von der Kapitalist:innenklasse geforderte neoliberale, marktfreundliche Politik übernommen, und in der Zeit nach 2008 gerieten ihre „Reformen“ zu Sparpolitik, Privatisierung und Angriffen auf die Löhne.

Mit der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion, Osteuropa und China sind auch die stalinistischen kommunistischen Parteien der Welt weit nach rechts gerückt. In West- und Mitteleuropa haben sie einen Teil des politischen Raums eingenommen, den die neoliberale Sozialdemokratie verlassen hat. In Worten haben sie den Neoliberalismus kritisiert, aber in der Praxis war selbst der kleinste Anteil an der Regierung ein ausreichender Preis, um die Kapitulation und Durchführung von Kürzungen und Privatisierungen durch Parteien wie Rifondazione Comunista (Italien), die französische kommunistische Partei und DIE LINKE in Deutschland zu erkaufen.

Das Regieren für den Kapitalismus führte dazu, dass die CPI-CPI(M)-Regierung in Westbengalen als Vollstreckerin für ausländisches und einheimisches Kapital gegen die dörfliche und Stammesbevölkerung auftrat, deren Land sie enteignen wollte. Die Unterdrückung der Dorfbewohner:innen von Nandigram in Westbengalen wurde weltweit berüchtigt. Ihr „Lohn“ war ein erdrutschartiger Wahlsieg im Jahr 2011 durch die bürgerliche Allianz aus Trinamool Congress und Indischem Nationalkongress, und bei den Wahlen im Mai 2019 wechselte fast ihre gesamte soziale Basis zur BJP, einer hindunationalistischen Partei.

In den 2010er Jahren gab es neue reformistische Formationen, Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, den Bloco de Esquerda in Portugal und die Corbyn-Bewegung in Großbritannien. In den USA führten die Vorwahlen der Demokratischen Partei mit der Kandidatur von Bernie Sanders 2016 und 2019 dazu, dass sich die Democratic Socialists of America, wenn von der zweiten Partei des US-Imperialismus halb abgesetzt hat.

Maoistische Parteien, insbesondere die in Nepal und Indien, haben ebenfalls eine radikalere Rolle gespielt. Die Kommunistische Partei Nepals (NCP) ist ein Zusammenschluss der CPN (Einheitliche Marxistisch-Leninistische Partei) und der CPN (Maoistisches Zentrum) aus dem Jahr 2018, dessen beide Parteien bei den Wahlen 2017 einen Erdrutschsieg errangen. Ihr Bekenntnis zur stalinistisch-maoistischen Strategie der „Revolution in Etappen“, die offen sozialistische Maßnahmen und Arbeiter:innenmacht ablehnt, stellt sicher, dass sie die Fehler und den Verrat ihrer Schwesterparteien anderswo wiederholen wird.

Die Kommunistische Partei Indiens (Maoist:innen) entstand als Guerillatruppe unter den landlosen und armen Bauern und Bäuerinnen und Adivasi (indigene Völker), die sich dagegen wehren, dass ihr Land von multinationalen Unternehmen oder indischen Milliardär:innen übernommen wird. Sie verfolgen die alte maoistische Strategie der „Umzingelung der Städte“, aber in einem Land mit einer riesigen und wachsenden Arbeiter:innenklasse, in dem die Grenzen der Etappentheorie und der Guerillastrategie immer deutlicher werden, können sie keine Strategie für eine sozialistische Revolution bieten.

Viele Linke, angeführt von der Vierten Internationale (Vereinigtes Sekretariat), sahen im raschen Aufstieg von Syriza eine Bestätigung ihrer Ablehnung des leninistischen Parteimodells zugunsten „breiter“ Bündnisse, die sowohl revolutionäre als auch reformistische Strömungen umfassen. Es ist zwar richtig, sich solchen Formationen wie Syriza anzuschließen, wo immer sie eine Abkehr einer ernstzunehmenden Zahl von Arbeiter:innen und Jugendlichen vom Liberalismus, der rechten Sozialdemokratie oder dem Populismus darstellen, aber die Kritik an den grundlegenden Schwächen des Syriza-Projekts zu unterdrücken, bedeutet, die revolutionäre Politik aufzugeben. Ebenso trugen die sogenannten Revolutionär:innen, die in Erwartung des Scheiterns beiseitestanden, nichts zur Vorbereitung der Arbeiter:innenklasse auf die bevorstehenden Schlachten bei.

In Lateinamerika haben die Regime und Bewegungen, die den von Hugo Chávez (Venezuela), Evo Morales (Bolivien), Rafael Correa (Ecuador) und Lula (Brasilien) proklamierten „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ vertraten, zahlreiche Niederlagen erlitten oder sind nach rechts gerückt. Nirgendwo war dies schockierender als im Fall von Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro, auch wenn diese Degeneration zum repressiven Bonapartismus durch die US-Blockade, die wirtschaftliche Sabotage der venezolanischen Bourgeoisie und Putschversuche begünstigt wurde. Der Höhepunkt der braunen Flut reaktionärer Siege war die Wahl von Jair Bolsonaro 2018.

Dennoch hat sich mit der Wahl von Andrés Manuel López Obrador (Mexiko, 2018), Alberto Fernández (Argentinien, 2019), Luis Arce (Bolivien, 2020), Pedro Castillo (Peru, 2021), Gustavo Petro (Kolumbien, 2022) und Gabriel Boric (Chile, 2022) eine Gegenströmung des gemäßigten Linkspopulismus entwickelt. Alle diese Vertreter der neuen „rosa Flut“ sehen sich jedoch mit einem schwierigeren Umfeld konfrontiert als ihre Vorgänger:innen zu Beginn des Jahrtausends in der Zeit der starken Globalisierung. Die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der rechtsextremen Oppositionskräfte bedeuten, dass der Spielraum für die Erfüllung der dringenden Bedürfnisse ihrer Anhänger:innen extrem eingeschränkt ist. Das Gleiche gilt für die kürzlich gewählte Lula-Koalition in Brasilien, die als linker Deckmantel für die reaktionäre Politik eines Teils der brasilianischen Kapitalist:innenklasse dient. Diese Koalition wird von Bolsonaros Unterstützer:innen herausgefordert, die noch offener faschistisch und besser bewaffnet sind als die Gefolgschaft des abgewählten US-Präsidenten Trump. Der jüngste Putschversuch als Reaktion auf die Wahl der Lula-Koalition erinnerte stark an die Erstürmung des US-Kapitols durch Trumpist:innen im Jahr 2021.

Obwohl einige „sozialistische“ Führer:innen der 2000er Jahre bedeutende soziale und demokratische Reformen durchführten, fielen die meisten von ihnen der Krise von 2008 zum Opfer und in jedem Fall enteigneten sie nie die entscheidenden Sektoren der Bourgeoisie oder der multinationalen Konzerne. Wenn sie mit Streiks und Besetzungen konfrontiert wurden, griffen sie meist zu Repressionen und Verhaftungen. In Brasilien ergriffen weder Lula noch seine Nachfolgerin Dilma nennenswerte Maßnahmen gegen den brasilianischen Kapitalismus, noch brachen sie endgültig mit dem Imperialismus oder seinen Agenturen wie dem IWF. Diese Koexistenz kam kaum überraschend, da die PT stets in Koalition mit offenen bürgerlichen Parteien regierte, und es waren diese Kräfte, die sich beim „Putsch“ 2015 gegen die PT wandten, als Dilma abgesetzt und durch ihren Stellvertreter Michel Temer von der bürgerlichen Partei Brasilianische Demokratische Bewegung (PMDB) ersetzt wurde.

Ihr Kompromiss zwischen sozialen Reformen und der Verteidigung des Kapitalismus war damals nicht tragbar und wird es auch in Zukunft nicht sein. Auf jeden Fall werden Maßnahmen wie Verstaatlichungen nur dann „sozialistisch“, wenn ein Arbeiter:innenstaat sie koordiniert und mit der Waffe in der Hand verteidigt. Nur mit Arbeiter:innenkontrolle am Arbeitsplatz und Arbeiter:innenmacht im Staat ist es möglich, eine Wirtschaft zu planen, die die Verschwendung und das Chaos des Marktes beseitigt. Erst wenn die bewaffnete Macht in den Händen der Arbeiter:innen liegt und der militärisch-bürokratische Apparat des bürgerlichen Staates zerschlagen ist, kann der Weg zum Sozialismus national und international geebnet werden.

Ältere lateinamerikanische Regime, die von linksreformistischen oder stalinistischen Kräften geführt werden, wie Kuba, Nicaragua und Venezuela, haben auf die US-Blockaden mit immer repressiveren Maßnahmen reagiert, anstatt die Entfaltung der Demokratie der Arbeiter:innen und Bäuer:innen zuzulassen, geschweige denn die Idee eines echten Antiimperialismus, der die Ausbreitung einer kontinentalen (permanenten) Revolution bedeuten würde.

In Afrika haben Militärputsche, bonapartistische Präsidentschaften, islamistische Aufstände und Terrorismus das Elend der imperialistischen Ausbeutung und Umweltzerstörung noch verschlimmert. Der Traum vom „afrikanischen Sozialismus“, der in der Ära der Entkolonialisierung aufkam, ist längst ausgeträumt und unter der Ausbeutung durch multinationale Konzerne und westliche Banken zerbrochen, die eng mit der enormen Schuldenlast und den vom imperialistisch kontrollierten IWF und der Weltbank auferlegten „Reformen“ verbunden ist.

Die Befreiungsbewegungen in Simbabwe, Tansania, Angola und Mosambik versanken schnell in der Korruption der neuen Eliten und Unterdrückung der Opposition. Die Hoffnungen auf soziale und wirtschaftliche Befreiung, die mit dem Ende der Apartheid in Südafrika verbunden waren, wurden grausam enttäuscht, während die alten weißen Geschäfts- und Grundbesitzeliten geschützt wurden.

Die Unfähigkeit radikaler kleinbürgerlicher Guerillabewegungen und einer „schwarzen Bourgeoisie“, entschieden mit dem Kapitalismus und dem Imperialismus zu brechen, verdammte diese Länder dazu, sich weiterhin dem globalen Imperialismus unterzuordnen. Jetzt ist ein neues Gerangel um Afrika im Gange zwischen den alten Kolonialmächten, vor allem Frankreich und Großbritannien, die von den USA unterstützt werden, und China und Russland; Erstere bieten neue Investitionsquellen in Industrie und Infrastruktur, Letztere Waffenlieferungen und die zynische „Hilfe“ der Wagner-Söldner, die Militärregierungen stützen.

4. Ein Programm von Übergangsforderungen

4.1 Einleitung

Zu lange zerfielen die Programme der Arbeiter:innenparteien in ein Minimalprogramm mit stückweisen Reformen, von denen jede von den Kapitalist:innen wieder weggenommen werden kann, solange sie die Macht im Staate haben, und ein Maximalprogramm – wenn es überhaupt auftaucht –, das zwar das Ziel des Sozialismus formuliert, es aber als eine ferne Utopie darstellt, die von den Erfordernissen der gegenwärtigen Auseinandersetzungen abgekoppelt ist.

Das Programm einer neuen Internationale muss mit diesem gescheiterten Modell brechen. Es muss eine Reihe integrierter Übergangsforderungen aufstellen, die die Losungen und Kampfformen, die zur Abwehr der kapitalistischen Offensive notwendig sind, mit den Methoden verbinden, die wir brauchen, um die bürgerliche Herrschaft zu stürzen, die Arbeiter:innenmacht zu errichten und einen sozialistischen Produktionsplan einzuführen.

Das Übergangsprogramm befasst sich mit den entscheidenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fragen der Zeit, einschließlich der unmittelbaren und demokratischen Forderungen, die vor dem Sturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse erfüllt werden können, wie z. B. ein garantierter existenzsichernder Lohn, echte Lohngleichheit für Männer und Frauen, hohe Besteuerung der Reichen und der großen Unternehmen. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass der Kapitalismus in seiner historischen Krise solche Reformen nur dann zulassen wird, wenn er mit einer realen Bedrohung seiner Macht und seines Eigentums konfrontiert ist. Selbst dann werden die Kapitalist:innen versuchen, ihre Zugeständnisse rückgängig zu machen, sobald die unmittelbare Gefahr vorüber ist oder der Druck des Klassenkampfes nachlässt.

Die Vorstellung, dass wir den Sozialismus auf einem allmählichen und friedlichen Weg von Sozialreformen und Gewerkschaftsverhandlungen erreichen können, ist heute utopischer denn je. Ein Programm für den Sozialismus muss die grundlegenden „Rechte“ der Kapitalist:innen in Frage stellen: das Recht auf Ausbeutung, das Recht, den Profit über den Menschen zu stellen, das Recht, sich auf Kosten der Armen zu bereichern, das Recht, die Umwelt zu zerstören und unseren Kindern eine Zukunft zu verweigern.

Die Schlachten von heute zu gewinnen, heißt, mit Blick auf die Zukunft zu kämpfen. Eine Fünfte Internationale muss daher Forderungen aufstellen und Organisationsformen vorschlagen, die nicht nur den heutigen lebenswichtigen Bedürfnissen entsprechen, sondern auch die Arbeiter:innen so organisieren, dass sie die Macht ergreifen und ausüben können. Die Kombination dieser Elemente ist keine künstliche Übung; diese Elemente sind durch die realen Bedingungen des Klassenkampfes in dieser Periode des kapitalistischen Niedergangs miteinander verbunden.

Um das Tor zur zukünftigen Gesellschaft aufzustoßen, fordert unser Programm die Durchsetzung der Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion und ihre Ausweitung auf immer weitere Bereiche, von den Fabriken, Büros, Transportsystemen und Einzelhandelsketten bis hin zu den Banken und Finanzhäusern. Dies bedeutet die Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses, ein Vetorecht der Beschäftigten gegen Entlassungen, die Inspektion und Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter:innen, eine automatische Lohnerhöhung bei jedem Preisanstieg zur Bekämpfung der Inflation und die entschädigungslose Verstaatlichung (Enteignung) der entscheidenden Wirtschaftssektoren.

Darüber hinaus erfordert der Kampf um diese Forderungen, um sie den Bossen aufzuzwingen, neue Formen der Organisation, die über die Grenzen der Gewerkschaftsbewegung oder der Parlamentswahlen hinausgehen. Auf jeder Ebene des Kampfes muss die Entscheidungsfindung durch demokratische Versammlungen aller Beteiligten zur Norm werden. Von diesen Versammlungen gewählte und abrufbare Delegierte sollten mit der Umsetzung von Beschlüssen und der Kampfleitung beauftragt werden. Von Streikkomitees, die von der gesamten Belegschaft gewählt werden, bis hin zu Preisüberwachungskomitees, die alle Arbeiter:innen in den Gemeinden umfassen, von Arbeiter::inneninspektionskollektiven, die die Geschäftsunterlagen von Firmen prüfen, bis hin zu Streikpostenverteidigungsverbänden, die die Streikenden schützen, sind solche Organisationen nicht nur notwendig, um die heutigen Klassenauseinandersetzungen zu gewinnen, sondern auch, um die Grundlage für die Kampforganisationen von morgen im Sturm auf die Staatsmacht und dann die zukünftigen Organe des Arbeiter:innenstaates zu bilden.

Arbeiter:innen, die sich heute gegen Sozialabbau und Sparprogramme zur Wehr setzen, können diese Forderungen einzeln und gemeinsam gegen spezifische Angriffe erheben, aber das sozialistische Ziel des Programms wird nur erreicht werden, wenn sie als ein zusammenhängendes System von Losungen für die Umgestaltung der Gesellschaft aufgegriffen und erkämpft werden. Das vollständige Übergangsprogramm ist eine Strategie für die Macht der Arbeiter:innenklasse. Aus diesem Grund sind unsere Forderungen keine passiven Appelle an Regierungen oder Unternehmer:innenschaft, sondern Kampfparolen für die Arbeiter:innenklasse, um die Kapitalist:innen zu stürzen und zu enteignen.

4.2 Gegen die kapitalistische Offensive

Gegen jeden Attacke der Kapitalist:innen auf unseren Lebensstandard ist unsere Politik die der Einheitsfront der Arbeiter:innen: die gemeinsame Aktion aller Kräfte der Arbeiter:innenklasse in jedem Land und über Grenzen und Ozeane hinweg.

4.2.1 Ein existenzsicherndes Einkommen, Arbeit für alle und Kontrolle durch die Arbeiter:innen

  • Im Kampf gegen die Inflation, die die Einkommen der Arbeiterklasse entwertet, setzen wir uns für eine gleitende Lohnskala ein – eine Erhöhung von einem Prozent für jedes Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten. Ein Lebenshaltungskostenindex für Lohnabhängige sollte von Preisüberwachungsausschüssen etabliert werden, die sich aus Delegierten zusammensetzen, gewählt von den Betriebsversammlungen, den Arbeiter:innenorganisationen, den Armensiedlungen und den Organisationen von Frauen, Verbraucher:innen sowie Kleinerzeuger:innen und -händler:innen.

  • In Ländern, die mit Hyperinflation konfrontiert sind, werden eine gleitende Einkommensskala und Preisüberwachungsausschüsse nicht ausreichen. Die Verteilung lebenswichtiger Güter und der Zugang zu Nahrungsmitteln erfordern ein unmittelbares Eingreifen: Arbeiter:innenausschüsse müssen in engster Abstimmung mit den landwirtschaftlichen Erzeuger:innen die Kontrolle über die Nahrungsmittelversorgung übernehmen.

  • Für einen landesweiten Mindestlohn, dessen Höhe von Arbeiter:innenausschüssen festgelegt wird, um ein angemessenes Leben für alle zu gewährleisten. Die Renten müssen an die Inflation angepasst, vom Staat garantiert und dürfen nicht der Gnade der Aktienmärkte überlassen werden.

  • Gegen alle Schließungen und Entlassungen kämpfen wir für Streiks und Besetzungen unter dem Motto: Abbau der Stunden, nicht der Arbeitsplätze! Wir setzen uns für eine gleitende Arbeitszeitskala ein, um den Arbeitstag zu verkürzen und die verfügbare Arbeit zu verteilen, ohne dass die Löhne oder Arbeitsbedingungen verschlechtert werden.

  • Überall auf der Welt berufen sich staatliche und private Unternehmen auf Konkurs, Effizienz und Produktivität, um den Abbau von Arbeitsplätzen zu rechtfertigen. Unsere Antwort: Offenlegung aller Geschäftsunterlagen! Alle Konten, Datenbanken, Finanz-, Steuer- und Managementdaten müssen für die Einsichtnahme durch gewählte Arbeiter:innendelegierte geöffnet und geprüft werden.

  • Jedes Unternehmen, das Entlassungen vornimmt, die Produktion ins Ausland verlagert, gegen Mindestlohn-, Arbeitsschutz- oder Umweltvorschriften verstößt oder Steuern hinterzieht, ist ohne Entschädigung zu verstaatlichen. Die Produktion muss unter Kontrolle und Leitung der Arbeiter:innen fortgesetzt werden!

  • Für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten zur Verbesserung der sozialen Dienste, der Gesundheitsfürsorge, des Wohnungswesens, des Verkehrs und der Umwelt unter Kontrolle der Arbeiter:innen und ihrer Gemeinschaften.

  • Nein zu Produktionsausgliederung und -verlagerung in Billiglohnländer. Anstelle der Konkurrenz zwischen Arbeiter:innen verschiedener Nationen um dieselben Arbeitsplätze sollten internationale Zusammenschlüsse von Arbeiter:innen in denselben Unternehmen und Produktionszweigen gebildet werden, um eine Angleichung der Löhne und Arbeitsbedingungen auf Höchststandard zu erstreiten. Tarifverträge und gesetzliche Rechte müssen auch für die Beschäftigten von Zulieferbetrieben gelten.

  • Für sichere Arbeitsplätze: Ablehnung aller Formen von unsicheren, informellen, prekären und Null-Stunden-Arbeitsverhältnissen. Alle Arbeiter:innen sollen mit unbefristeten Verträgen und garantierten Arbeitszeiten beschäftigt werden. Löhne und Arbeitsbedingungen müssen durch Tarifverträge geregelt werden, die von Gewerkschaften und betrieblichen Vertreter:innen kontrolliert werden.

  • Bekämpfung der Intensivierung der Arbeit durch Beschleunigung und „Effizienzsteigerungen“, die lediglich Maßnahmen zur Intensivierung der Ausbeutung und Steigerung der Profite sind und unsere Gesundheit, Sicherheit und unser Leben gefährden.

  • Gegen „Mitbestimmung“, „Sozialpartner:innenschaft“ oder andere Formen der Klassenzusammenarbeit, bei denen die Gewerkschaften die Politik der Kapitalist:innen verwalten, kämpfen wir für die Kontrolle durch die Arbeiter:innen. Das bedeutet das Recht auf ein Veto gegen Managemententscheidungen über Beschäftigung, Produktion, Einführung und Anwendung von Technologie.

4.2.2 Für universelle öffentliche Dienstleistungen und soziale Sicherheit

Die erbarmungslose Reihe von zynisch als „Reformen“ bezeichneten Einschränkungen öffentlicher Dienstleistungen sind nichts anderes als Sparprogramme, mit denen die Kosten für den Niedergang der öffentlichen Dienstleistungen von den Reichen auf die Arbeiter:innenklasse abgewälzt werden sollen. Lebenswichtige Dienstleistungen und Ressourcen, von Wasser und Energie bis hin zu Gesundheit und Bildung, die über Generationen aus Steuerbeiträgen und Arbeit der Arbeiter:innenklasse und Mittelschichten bezahlt wurden, sind zu Schleuderpreisen an Kapitalist:innen weitergereicht worden, die sie für ihren privaten Profit ausbeuten, nicht für den öffentlichen Bedarf. Die Milliardär:innen, die einmal von unserer Arbeit profitieren, wollen zweifach auch noch aus unserer Kindheit, unserem Alter und unserer Gesundheit Profit scheffeln. Gleichzeitig besitzen sie die Frechheit zu fordern, dass Sozialhilfe und Renten gekürzt werden, um „Eigenverantwortung zu fördern“ und „die Kultur der Abhängigkeit zu verringern“!

Als Reaktion auf die schamlose Ausplünderung des öffentlichen Vermögens durch private Spekulant:innen fordern wir:

  • Keine einzige Kürzung, keine einzige Privatisierung mehr! Verstaatlichung der wesentlichen Infrastrukturen –Wasser, Energie, Verkehr und Kommunikation – ohne Entschädigung. Beendigung aller öffentlich-privaten Partner:innenschaften und Privatinvestor:innenförderungsprogramme.

  • Verstaatlichung und Ausweitung der besten Bildungs-, Gesundheits-, Wohlfahrts- und Sozialfürsorgesysteme auf die Milliarden von Menschen, die überhaupt nicht versorgt sind. Bildung, Gesundheit und Sozialfürsorge sollten der Kontrolle von Arbeiter:innen und Nutzer:innen unterstehen und für alle kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

  • Das Rentenalter sollte schrittweise gesenkt und nicht erhöht werden. Anhebung der Renten auf ein existenzsicherndes Minimum und Deckung auf allgemeingesellschaftlicher Grundlage, (also unter Einbezug der Reichen). Die privaten Rentensysteme sollten verstaatlicht und zu einer einzigen staatlich garantierten Rente zusammengefasst werden.

  • Öffentliche Dienstleistungen, die am Ort der Erbringung kostenlos sind und aus progressiven Steuern oder Versicherungen bezahlt werden, sind ein wichtiges Mittel, um einen Mindeststandard und einen gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und sozialer Sicherheit für Arbeiter:innen und Arme zu gewährleisten. Öffentliches Eigentum ist jedoch kein Sozialismus. Verstaatlichte Unternehmen und Dienstleistungen kaufen Vorleistungen von Kapitalist:innen, entschädigen frühere Eigentümer:innen, konkurrieren mit Privateigentümer:innen, wenden kapitalistische Managementtechniken an und arbeiten unter der ständigen Bedrohung durch Kürzungen und Privatisierung. Sie können der Zwangsjacke des Profitsystems nie entkommen. Die Arbeiter:innen müssen lernen, die kapitalistische Verstaatlichung von der Vergesellschaftung und Enteignung durch die Arbeiter:innenklasse zu unterscheiden, die dazu dient, die Bosse endgültig zu entmachten. Nur so können Dienstleistungen höchster Qualität von der Wiege bis zur Bahre geplant und erbracht werden, um die Not zu beseitigen und Gleichheit herzustellen.

  • In jedem Fall müssen die Arbeiter:innen- und Nutzer:innenorganisationen die Interessen der Arbeiter:innenklasse gegen die Besitzenden durchsetzen, indem sie sich gegen Rettungsaktionen wenden, die bankrotte Kapitalist:innen auf Kosten der Steuerzahler:innen schonen. Wir sagen: Vergesellschaftung der Vermögenswerte, nicht der Verluste! Die Verstaatlichung unter Arbeiter:innen- und Nutzer:innenkontrolle ist notwendig, um zu verhindern, dass die Regierungen die Verluste übernehmen und die profitablen Vermögenswerte reprivatisieren.

4.2.3 Enteignung des Vermögens der Reichen

Zwischen 2016 und 2022 ist die Zahl der Milliardär:innen von 1810 auf 2668 gestiegen. Damit eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus leben kann, müssen Milliarden in unbeschreiblicher Armut existieren. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Neben den Milliardär:innen leben Hunderttausende von Multimillionär:innen in schamlosem Luxus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und täglich mehr als 1.000 Kinder an den Folgen des Hungers sterben.

Diese Schmarotzerschicht lehnt jeden Versuch, ihren Reichtum zu besteuern und umzuverteilen, vehement ab. Sie versteckt ihr Geld in Steuerparadiesen und manipuliert ihre Staatsbürger:innenschaft und ihren Aufenthaltsstatus, um die Zahlung von Steuern zu vermeiden. Sie führt eine unaufhörliche Kampagne, damit die Arbeiter:innenklasse den Großteil der Steuerlast trägt, indem die indirekten Steuern auf Grundgüter wie Kraftstoff und Lebensmittel erhöht und die Steuern auf Unternehmen und Vermögen gesenkt werden.

Der Reichtum der Kapitalist:innen, der Finanziers und Industriellen stammt letztlich aus der Arbeit der Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und Armen. Wir sagen:

  • Finanzierung eines massiven Ausbaus der öffentlichen Dienste und von Programmen zur Beseitigung der Armut durch Enteignung des Privatvermögens der Reichen. Abschaffung aller indirekten Steuern und Zerschlagung der Steuerhinterziehungsindustrie durch Schließung von steuerfreien Oasen, Verstaatlichung der vier großen Wirtschaftsprüfungskonzerne.

4.2.4 Für einen Plan der Arbeiter:innen zu internationaler Produktion und Entwicklung

Anstelle eines Flickenteppichs aus staatlichem und privatem Eigentum, das nur durch die Anarchie des Marktes verbunden ist, erfordert die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschheit und der Natur einen demokratischen Produktionsplan, mittels dessen die Ressourcen der Welt, einschließlich der menschlichen Arbeitskraft, rational verteilt werden, entsprechend dem Willen der Menschen, die arbeiten, um alles zu produzieren, zu verteilen und zu bedienen. Nur wenn wir die Anarchie des Marktes durch die bewusste Planung einer Weltwirtschaft unter Gemeineigentum ersetzen, werden wir in der Lage sein, die Produktion zur Grundlage kollektiven Wohlstands anstelle der privaten Akkumulation zu machen. In jedem Fall verbinden revolutionäre Kommunist:innen den Kampf für die Enteignung dieses oder jenes Industriezweigs mit der Notwendigkeit, die Kapitalist:innenklasse als Ganzes zu expropriieren. Denn, wie Leo Trotzki es ausdrückte, wird das Staatseigentum nur dann zu günstigen Ergebnissen führen, „wenn die Staatsmacht selbst vollständig aus den Händen der Ausbeuter:innen in die Hände der Werktätigen übergeht“.

Genauso wie die großen Monopole der Welt ihre Produktions- und Vertriebssysteme international planen müssen, muss dies auch eine sozialisierte Wirtschaft tun. Sozialistische Planung bedeutet jedoch, die Wirtschaft nach einem Plan unter demokratischer Kontrolle der Produzent:innen und Verbraucher:innen zu führen und entfalten; sie ist nicht die Herrschaft einer privilegierten Bürokratie, wie sie sich mit der Degeneration des ersten Arbeiter:innenstaates der Welt entwickelte und nach 1945 in anderen Staaten nachgeahmt wurde. Die Existenz einer Weltwirtschaft setzt eine internationale Planung voraus; die „Theorie“ des Sozialismus in einem Land ist eine Illusion. Die sozialistische Planung muss sich weltweit ausbreiten und den kapitalistischen Handel durch den internationalen Austausch von Produkten, Ressourcen und Arbeit ersetzen, um alle Länder und Völker auf das optimale Niveau der sozialen Entwicklung zu bringen. Eine internationale Planwirtschaft ist das zentrale Instrument nicht nur zur Beseitigung von Armut und Ungleichheit, sondern auch zur Verhinderung und Umkehrung der Klimakatastrophe.

Das einzige internationale Planungssystem, das der Kapitalismus vorweisen kann, ist das der imperialistisch dominierten Finanzinstitutionen – IWF, WTO und Weltbank. Die betrügerische Behauptung, sie würden die Schulden der imperialisierten Länder lindern und echte Entwicklungsziele verfolgen, wurde durch die Massenmobilisierungen der antikapitalistischen Bewegung von Seattle 1999 bis Genua 2001 entlarvt. Die darauf folgenden Welt- und Kontinentalsozialforen von 2002 bis 2006 haben ein wichtiges Vermächtnis hinterlassen, nämlich ein globales Bewusstsein für die gemeinsamen Interessen und Kämpfe der Arbeiter:innen, Jugendlichen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Völker des globalen Nordens und Südens.

Die leeren Versprechen der Globalisierungsinstitutionen, ein „neues Paradigma“ für eine krisenfreie Welt zu schaffen, sind mit dem Crash 2008 endgültig geplatzt. Die Aufgabe von Entwicklungszielen und Kürzung der Entwicklungshilfehaushalte beschleunigten den Rückzug jener Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von der politischen Bühne, die mit der Illusion hausieren gegangen waren, dass sich diese Ausbeutungsinstrumente irgendwie reformieren ließen oder verschwinden würden. Als der Vorwand der Krisenbekämpfung den Sparprogrammen wich, griffen der IWF und seine Helfershelfer:innen wieder an. Jetzt stehen wir vor der Aufgabe, neue Bewegungen aufzubauen, die in der Arbeiter:innenklasse und der Bauern- und Bäuerinnenschaft verwurzelt sind und sich weder in die Institutionen der „liberalen Weltordnung“ noch in NGOs, staatliche „Hilfsprogramme“ oder milliardenschwere Wohltätigkeitsorganisationen Illusionen machen. Stattdessen müssen sie ein Programm vorantreiben, das auf der Zerschlagung der imperialistischen Institutionen, der Enteignung der Banken und Konzerne unter Arbeiter:innenkontrolle und der Umverteilung des Bodens an diejenigen, die ihn bearbeiten, beruht.

  • Unmittelbar bedeutet dies den bedingungslosen und vollständigen Erlass der Schulden aller halbkolonialen Länder, verbunden mit Maßnahmen, die die imperialistischen Mächte zwingen, die halbkoloniale Welt für die Ausplünderung ihrer natürlichen und menschlichen Ressourcen zu entschädigen. Das Eigentum und die Kontrolle über die Geschäfte der multinationalen Konzerne müssen an die Arbeiter:innen übergehen, die ihren Reichtum produzieren.

  • Beendigung des Protektionismus gegen die Produkte des globalen Südens. Schafft NAFTA (nordamerikanisches Freihandelsabkommen), die Gemeinsame Agrarpolitik und andere protektionistische Waffen der imperialistischen Staaten ab. Wir unterstützen jedoch das Recht der halbkolonialen Länder, ihre Märkte gegen Billigimporte aus imperialistischen Ländern zu verteidigen.

  • Abschaffung des IWF, der WTO, der Weltbank und aller Sonderwirtschaftszonen.

  • Verstaatlichung der Aktienmärkte. Entschädigungslose Enteignung der Großindustrie unter Arbeiter:innenkontrolle. Verstaatlichung und Fusion der Banken zu einer einzigen nationalen Bank unter Arbeiter:innenkontrolle.

4.3 Gegen Militarismus und Krieg

Als wichtigste Veränderung der Bedingungen, mit denen die Arbeiter:innenklasse seit 2008 konfrontiert ist, erweist sich das Entstehen von zwei neuen imperialistischen Großmächten, die möglicherweise einen strategischen Militärblock miteinander bilden, um die Vorherrschaft der USA und ihrer untergeordneten Verbündeten in Europa und Asien herauszufordern. Dies stellt die alten Weltanschauungen der Arbeiter:innenparteien und linkspopulistischen Bewegungen des globalen Nordens und Südens ernsthaft auf die Probe, die aus den vierzig Jahren des ersten Kalten Krieges stammen.

Die Sozialdemokratie und die Arbeiter:innenbewegung unterstützten weitgehend die „demokratischen“ Imperialismen gegen die „autoritären“ Regime (Russland, China usw.) und betrachteten den „Westen“ als eine fortschrittliche Kraft, die sie entweder an der Regierung oder in der Opposition unterstützen sollten, unabhängig von ihrem sozialen Charakter. Der linke Flügel dieser Parteien lehnte jedoch die kolonialen und halbkolonialen Kriege und Unterdrückungen ab, bezog Stellung aufseiten der blockfreien Länder im Kalten Krieg und beteiligte sich auch an Friedens- und antiimperialistischen Bewegungen.

Die stalinistischen kommunistischen Parteien hingegen unterstützten nicht nur die degenerierten Arbeiter:innenstaaten gegen die imperialistischen Mächte, sondern entschuldigten deren Diktatur über die Arbeiter:innenklasse und in vielen Fällen ihre brutale Repression (Ungarn, Tschechoslowakei, Polen, Tian’anmen). Sie traten auch für antiimperialistische Bewegungen und Befreiungskriege wie in Vietnam und Kuba ein. Obwohl die sehr deutliche und fast unbestreitbare Restauration des Kapitalismus in Russland dazu geführt hat, dass nur wenige KP-Anhänger:innen Putin unterstützen, ist dies in Bezug auf China nicht der Fall. Die meisten, die immer noch den Stalinismus als Hauptströmung des Sozialismus und Kommunismus ansehen, betrachten daher die USA/NATO als „die“ imperialistische Kraft schlechthin und jede/n, der/die sich ihr entgegenstellt, als das kleinere Übel.

In einer Zeit, in der sich der Konflikt zwischen Russland und China auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite entwickelt, neigt die stalinistische und linkssozialistische Linke dazu, sich auf die Seite der Erstgenannten zu stellen oder zumindest nicht gegen sie zu opponieren, während die der Mehrheit aus sozialdemokratischen und Labourtraditionen die Letzteren unterstützen. Eine wirklich revolutionäre Position, die von den beiden rivalisierenden imperialistischen Lagern unabhängig ist, verfolgt jedoch die von Lenin im Ersten Weltkrieg vertretene und von Trotzki im Zweiten Weltkrieg wiederholte Haltung gegenüber allen imperialistischen Ländern. Für sie war der Unterschied des politischen Regimes (Demokratie/Autokratie) nicht entscheidend. Was zählte, war ihr gemeinsamer Charakter als Ausplünderer und Unterdrücker kleinerer, schwächerer Nationen, die entweder ihre Kolonien oder Halbkolonien waren oder werden sollten.

Es waren und sind nur diese unterdrückten Nationen, die die Arbeiter:innenklasse verteidigen sollte, unabhängig vom Charakter ihrer politischen Regime. Das Ziel besteht nicht nur darin, die imperialistischen Herrscher:innen im In- und Ausland zu schwächen, sondern der Arbeiter:innenklasse der Länder, die von den imperialistischen Mächten blockiert, angegriffen oder unterdrückt werden, zu helfen, sich an die Spitze des nationalen Befreiungskampfes zu setzen und die Macht zu übernehmen (Strategie der permanenten Revolution).

In den Kriegen zwischen den imperialistischen Mächten hingegen war und ist die Position der Revolutionär:innen, dass „der/die Hauptfeind:in im eigenen Land steht“ und dass die Revolutionär:innen in allen reaktionären Kriegen die Niederlage der Kriegführenden wünschen müssen, eine Niederlage, die dadurch erreicht wird, dass ihr Krieg in einen Bürger:innenkrieg, d. h. eine Revolution, umgewandelt wird.

Unter den heutigen Bedingungen eines intensiven zwischenimperialistischen Konflikts ist es wahrscheinlich, dass jeder halbkoloniale Widerstand gegen eine/n imperialistische/n Unterdrücker:in von seinen/ihren imperialistischen Rival:innen ausgenutzt werden wird. Solange eine solche Intervention ein untergeordneter Faktor bleibt, wird sie den Charakter des Krieges nicht ändern, und die internationale Arbeiter:innenklasse muss die unterdrückte Nation unterstützen, ungeachtet des Charakters ihrer Führung oder angegriffenen Regimes.

Aber wie wir im Fall des Krieges um die Ukraine sehen können, kann ein solcher zum Mittelpunkt des aktuellen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt werden. Obwohl die NATO nicht offiziell in den Krieg verwickelt ist, hat sich der zwischenimperialistische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten als entscheidender Faktor in diesem Krieg entpuppt, wobei die westlichen Imperialist:innen Wirtschaftssanktionen von historischem Ausmaß gegen Russland verhängen und die Ukraine als Stellvertreterin bewaffnen und ausbilden.

Der Krieg um die Ukraine hat daher einen kombinierten Charakter angenommen. Auf der einen Seite gibt es den neuen Kalten Krieg zwischen den westlichen imperialistischen Mächten und auf der Gegenseite Russland (und seinem Unterstützer China), der auf dem Terrain der Ukraine ausgetragen wird. Auf der anderen Seite bedeutet dies jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des ukrainischen Volkes, auch wenn sie von einer reaktionären bürgerlichen und prowestlichen Regierung geführt wird, bisher zu einem untergeordneten Faktor geworden ist. Deshalb muss die Arbeiter:innenklasse weltweit das Recht der Ukrainer:innen auf Widerstand gegen die russische Invasion anerkennen und sich die dafür notwendigen Mittel aneignen. Gleichzeitig darf die nationalistische, prowestliche Selenskyj-Regierung keine politische Unterstützung erhalten. Ihre Bestrebungen, der NATO beizutreten oder ihre Wirtschaft der EU unterzuordnen sowie ein Regime auf der Krim zu errichten, deren Bevölkerung eindeutig nicht Teil der Ukraine sein will, müssen verurteilt werden.

In Russland müssen die Revolutionär:innen eine Politik des revolutionären Defätismus verfolgen und dafür kämpfen, Putins reaktionären Krieg in einen Klassenkrieg zu verwandeln, um sein Regime zu stürzen. In den NATO-Ländern müssen sie sich jeder westlichen Intervention widersetzen. Sie müssen sich den Kriegszielen der NATO, ihren Sanktionsmethoden, ihrer großen Aufrüstung und ihrer Ausdehnung auf bisher neutrale Staaten entgegenstellen. Es ist notwendig, sich gegen all diese Maßnahmen im Rahmen der Konfrontationspolitik des westlichen imperialistischen Blocks gegenüber dem russischen (und chinesischen) Imperialismus aufzulehnen. Dieser Beginn eines neuen Kalten Krieges bringt die Menschheit näher an einen Dritten Weltkrieg, der leicht ihr letzter sein könnte. Die gleichen Prinzipien würden gelten, wenn China in Taiwan einmarschierte. Xi Jinping und die parteiübergreifenden Kräfte im US-Kongress bewegen sich in diese Richtung. Es ist von entscheidender Bedeutung, sich dafür zu engagieren, dass die Arbeiter:innenbewegungen und antiimperialistischen Kräfte auf der ganzen Welt nicht in ein imperialistisches Lager eintreten.

Der Rüstungswettlauf und die zunehmende Stationierung von Kampftruppen, Militärstützpunkten und Flottillen auf der ganzen Welt sowie die Anheizung der Gegensätze durch eine Reihe von Stellvertreter:innenkriegen können bekämpft werden, wenn es eine Millionenbewegung gibt, wie sie dem katastrophalen Irakkrieg entgegenzutreten versuchte, aber mit größerem Durchhaltevermögen und größerer Bereitschaft, alles zu tun, um die Kriegstreiber:innen von der Macht zu vertreiben. Vor allem aber bedarf es einer Bewegung mit einer qualitativ besseren, d. h. revolutionären Führung. Eine solche Bewegung muss international sein, ja sie muss eine Internationale werden.

Wenn die Arbeiter:innenklasse es unwidersprochen lässt, dass unsere Herrscher:innen Sanktionen verhängen, die zu Hunger und Inflation, zu neuen Rüstungswettläufen, die die für die Gesundheit, die Bildung, die Abwendung von Klimakatastrophen benötigten Ressourcen verbrauchen und zu zerstörerischen Kriegen führen, dann ist es unser Schicksal, deren Opfer zu sein und gegeneinander aufgehetzt zu werden. Deshalb hat die Arbeiter:innenklasse, wie Karl Marx 1864 in der Gründungserklärung der Ersten Internationale schrieb, „die Pflicht, sich die Geheimnisse der internationalen Politik anzueignen, die diplomatischen Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen zu beobachten und ihnen, wenn nötig, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzuwirken“.

Die große Antikriegsmobilisierung von 2003, die 20 Millionen Menschen in jeder größeren Stadt der Welt auf die Straße brachte, zeigte die potenzielle Kraft einer internationalen Koordination. Das Scheitern der vom Europäischen und Weltsozialforum initiierten Bewegung war darauf zurückzuführen, dass die Organisator:innen dieser Demonstrationen nicht willens und in der Lage waren, weitere Massenaktionen, einschließlich Generalstreiks und Meutereien, zu organisieren, um die Bewegung zu stoppen oder die Mobilisierungen in Revolutionen zu verwandeln. Daraus ergab sich die Notwendigkeit einer disziplinierteren Organisation mit entschlosseneren Zielen, einer Fünften Internationale.

Im Kapitalismus haben die Arbeiter:innen kein Vaterland. In den imperialistischen Ländern kann die Arbeiter:innenbewegung niemals die „nationale Verteidigung“ unterstützen und muss immer die Niederlage ihrer Herrscher:innen anstreben, sei es in den kolonialen Besatzungskriegen im Irak und in Afghanistan oder in jedem Zusammenstoß mit rivalisierenden imperialistischen Staaten wie Russland oder China. Es ist die Pflicht der Revolutionär:innen, den Krieg zu nutzen, wie es die Zweite Internationale 1907 beschlossen hatte, um das System zu stürzen.

In halbkolonialen Ländern ist es notwendig, die Nation gegen jeden Angriff einer imperialistischen Macht oder einer/s ihrer lokalen Stellvertreter:innen oder „Gendarm:innen“ zu verteidigen. Gleichzeitig unterstützen die Revolutionär:innen nicht die Kriegsführung der Bourgeoisie. Indem sie für eine Einheitsfront aller nationalen Kräfte gegen den Imperialismus kämpfen, die Schwäche, das Zaudern und die Zaghaftigkeit der besitzenden Klassen im antiimperialistischen Konflikt entlarven, streben Revolutionär:innen danach, unabhängige Kräfte der Arbeiter:innenklasse an die Spitze des Kampfes zu bringen, um die Nation vom Imperialismus zu befreien und den Weg zum Sozialismus zu bahnen. In geschwistermörderischen Auseinandersetzungen zwischen Halbkolonien um Territorien oder Ressourcen stellt die Niederlage des „eigenen“ Landes ein geringeres Übel dar als die Aussetzung des Klassenkampfes im eigenen Land; der Krieg muss in einen Aufstand für die Macht der Arbeiter:innenklasse und den Frieden verwandelt werden.

Die imperialistischen Großmächte USA, Großbritannien, China und die EU-Staaten geben Hunderte von Milliarden für ihre Kriegsmaschinerie aus. Sie geben heute vor, im humanitären Interesse zu handeln, aber das ist eine Tarnung für ihr eigentliches Ziel, nämlich die Durchsetzung und Aufrechterhaltung ihrer militärischen Vorherrschaft in der Welt. Auch in ärmeren Ländern werden riesige Teile des Staatshaushalts für die Armee aufgewandt. In Ländern wie Pakistan und der Türkei versucht das Militär, selbst eine direkte politische Rolle zu spielen.

  • Nein zu imperialistischen Kriegen, Sanktionen und Blockaden. Nieder mit allen imperialistischen Besatzungen wie der russischen in der Ukraine und zuvor in Tschetschenien, der Besatzung Afghanistans und des Irak durch die NATO-Mächte, der Besatzung Palästinas durch den zionistischen Staat, der US-Blockade Kubas, des Iran, Nordkoreas und Venezuelas. Wir stärken den Widerstand gegen all diese Besatzungen und Blockaden.

  • Für die Schließung aller imperialistischen Militärbasen auf der ganzen Welt! Nein zu den Militärinterventionen der USA, der EU und anderer imperialistischer Staaten.

  • Für die Auflösung aller imperialistisch dominierten Militärbündnisse wie NATO, CSTO (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit; OVKS; Bündnis Russlands mit Zerfallsprodukten der ehemaligen Sowjetunion), AUKUS usw.

  • Keinen Pfennig und keinen Menschen für eine kapitalistische Armee, sei es eine Berufs- oder eine Wehrpflichtarmee. Die Arbeiter:innenvertretungen im Parlament müssen sich allen Militärausgaben der kapitalistischen Regierungen widersetzen.

  • Militärische Ausbildung für alle unter Kontrolle der Arbeiter:innenbewegung.

  • Für volle bürgerliche und politische Rechte für Soldat:innen einschließlich Marine- und Luftwaffenangehörigen, die Einrichtung von Ausschüssen und Gewerkschaften in den Lagern und Kasernen und die Wahl von Offizier:innen. Verteidigt alle, die sich dem Befehl widersetzen, Zivilist:innen anzugreifen, zu vergewaltigen, zu foltern usw.!

  • In allen imperialistischen Kriegen oder Kriegen der Ausplünderung und Unterdrückung von nationalen Minderheiten (z. B. der kurdischen in der Türkei, der tamilischen in Sri Lanka, der Rohingya in Myanmar) befindet sich der/die Hauptfeind:in der Arbeiter:innenklasse im eigenen Land. Für die Niederlage der herrschenden Klassen, für den Sieg des Widerstands.

4.4 Kampf gegen die Klimakatastrophe

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur eingedämmt und rückgängig gemacht werden, wenn die Kontrolle über die Produktion aus den Händen der großen Kapitalformationen genommen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich ein starker Widerstand gegen die Umweltzerstörung und Bedrohung durch den Klimawandel entwickelt, der von lokalen Initiativen gegen bestimmte Großprojekte über große Bewegungen gegen umweltschädigende Politik und Widerstand in Halbkolonien bis hin zu Umweltbewegungen in den imperialistischen Zentren reicht.

In Europa war es die Jugend, die mit weltweiten Student:innen- und Schulstreiks und direkten Aktionen die Vorreiter:innenrolle übernommen hat. Die Arbeiter:innenbewegung, die zurückgeblieben ist, muss sich mit ihnen verbinden und ihre Aktionen und Kampagnen unterstützen und ausweiten, ohne zu versuchen, ihren kämpferischen Geist zu unterdrücken. Gleichzeitig muss sie die reformistische oder bürgerliche Ausrichtung der Führungen der Klimabewegung, wie die bürokratische von Fridays for Future, in Frage stellen und sich für eine Ausrichtung der Bewegung auf die Arbeiter:innenklasse starkmachen.

In bestimmten Bereichen konnte das bisher ungehemmte Handeln von Großkonzernen und ihren Helfer:innen in Umweltfragen gebremst werden. Es ist notwendig, diese Erfolge auf die soziale Kontrolle der sozialökologischen Auswirkungen wirtschaftlicher Entscheidungen auszuweiten. Es müssen demokratische Kontrollgremien aus Arbeiter:innen, Verbraucher:innen, Betroffenen von Großprojekten, jungen Menschen, die um ihre Zukunft ringen, etc. gebildet werden, die über Projekte, Risikostufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen etc. entscheiden. Das Kapital muss systematisch mit einer sozialen Kontrolle hinsichtlich der sozialökologischen Auswirkungen seines Handelns konfrontiert werden.

Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und die geplante optimale Nutzung der Ressourcen unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen. Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss, ausgehend von den betroffenen Menschen und den globalen Interessen der Arbeiter:innenklasse, zentral auch Forderungen für den Kampf gegen den globalen ökologischen Raubbau, insbesondere auf Kosten der Halbkolonien, entwickeln.

Die folgenden Forderungen richten sich nicht nur an die staatliche und Umweltpolitik über bestimmte Landesgrenzen hinweg, sondern sind dergestalt, dass sie nur von einer internationalen Bewegung umgesetzt werden können, die die zuvor beschriebene Form der demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Kontrolle über die hier geforderten Maßnahmen durchführt.

  • Für einen Notfallplan zur Umstrukturierung der Energie- und Verkehrssysteme – für eine Perspektive zur Beendigung des weltweiten Verbrauchs fossiler Brennstoffe!

  • Die großen Konzerne und imperialistischen Staaten wie die USA und EU müssen Reparationszahlungen für die Umweltzerstörung leisten, die sie im Rest der Welt verursacht haben, um den halbkolonialen Ländern zu helfen, den notwendigen ökologischen Wandel zu vollziehen.

  • Für einen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in erneuerbare Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien.

  • Für ein großes globales Programm zur Wiederaufforstung zerstörter Wälder bei gleichzeitigem Schutz der bestehenden naturnahen Ökosysteme der indigenen Völker!

  • Für die Unterstützung der Kämpfe der indigenen Völker und von der Umweltzerstörung bedrohten Bevölkerungsgruppen! Für ihren Schutz und ihr Recht auf Selbstbestimmung.

  • Für ein globales Programm zum Schutz der Wasserressourcen. Für massive Investitionen in die Trinkwasserversorgung und Abwasserreinigung!

  • Für ein globales Programm zur Ressourcenschonung, Abfallvermeidung und -bewirtschaftung.

  • Für die Umstellung der Landwirtschaft auf nachhaltige Anbaumethoden. Für die Enteignung von Großgrundbesitz und die Verteilung von Land an die Menschen, die es bewirtschaften (wollen).

  • Für tiergerechte Haltungsbedingungen in allen Betrieben! Für die Intensivierung der Forschung zu nachhaltigen Anbausystemen unter Kontrolle der Bauern, Bäuerinnen und Arbeiter:innen! Wo nötig, verpflichtende Anwendung ökologisch nachhaltiger Anbaumethoden wie des ökologischen Landbaus, unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Ernährungssicherung.

  • Der Konsum von tierischen Produkten (vor allem Fleisch) muss drastisch reduziert werden, einschließlich der Abschaffung von Subventionen, die den großen Viehzüchter:innen zugutekommen, aber gleichzeitig die Kleinbauern und -bäuerinnen nicht ruinieren. Auf Grundlage der Enteignung der großen Agrarkonzerne kann die Nahrungsmittelproduktion durch einen von der ländlichen und städtischen Arbeiter:innenklasse demokratisch erarbeiteten gesamtgesellschaftlichen Plan neu ausgerichtet werden, der den Ernährungsbedürfnissen der Menschen entspricht und dabei die Auswirkungen des Klimawandels bekämpft.

  • Kostenlose öffentliche Verkehrsmittel für alle und massive Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme! Umstellung des Verkehrssystems auf den Schienenverkehr, sowohl für die Personen- als auch für die Güterbeförderung. Gleichzeitig massive Reduzierung des PKW-, LKW- und Flugverkehrs!

Abschaffung der Geschäftsgeheimnisse! Abschaffung des Patentschutzes! Zusammenführung dieses Wissens, um nachhaltige Alternativen zu bestehenden Technologien zu schaffen. Echte Hilfestellung für weniger entwickelte Länder durch Technologietransfer!

  • Verstaatlichung aller Umweltressourcen wie Böden, Wälder und Gewässer.

  • Verstaatlichung aller Energiekonzerne und Unternehmen mit Monopolen auf grundlegende Güter wie die Wasserwirtschaft, Agrarindustrie sowie alle Fluggesellschaften, Schifffahrts- und Eisenbahnunternehmen unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für eine restriktive Politik gegenüber chemischen Produkten nach dem Vorsorgeprinzip! Für ein Verbot von Chemikalien, die nachweislich oder wahrscheinlich gesundheits- und/oder umweltgefährdend sind wie z. B. Glyphosat! Grenzwerte bzw. Gefahrenstufen für den Einsatz von Chemikalien müssen durch Organe der demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Kontrolle festgelegt werden.

4.4.1 Die Stadt umgestalten

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt heute in Städten, aber die meisten von ihnen in Barackensiedlungen und Elendsvierteln ohne angemessene Straßen, Beleuchtung, sauberes Trinkwasser oder Abwasser- und Abfallentsorgung. Ihre nicht tragfähigen Strukturen werden von Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwemmungen und Tsunamis weggefegt, wie wir in Indonesien, Bangladesch, New Orleans und Haiti gesehen haben. Hunderttausende sterben nicht nur durch diese „natürlichen“ Ereignisse, sondern auch durch die verarmte menschliche Infrastruktur. Die Menschen strömen in die Städte, weil Kapitalismus, Großgrundbesitz und Agrarindustrie nicht in der Lage sind, den Lebensunterhalt auf dem Lande zu sichern.

Nur wenige Bewohner:innen dieser Quartiere haben einen festen oder sicheren Arbeitsplatz. Für ihre Kinder gibt es keine Kindergärten, Kliniken oder Schulen. Die Menschen werden von kriminellen Banden, Drogenhändler:innen und der Polizei gleichermaßen schikaniert und erpresst. Frauen und Jugendliche werden in die Prostitution, sexuelle Sklaverei oder in die Halbsklaverei in gefährlichen und gesundheitsschädlichen Klitschen getrieben. Tatsächliche Sklaverei und Menschenhandel sind wieder im Kommen. Dies ist ein weiteres Phänomen, das nach Abschaffung des Kapitalismus schreit. Diese zunehmende Anhäufung menschlichen Elends muss ein Ende haben!

Dies kann nicht mit der spärlichen Hilfe der reichen Länder, den Millenniumszielen, NGOs oder den von Kirchen, Moscheen und Tempeln betriebenen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht werden. Auch Selbsthilfe- oder Kleinstkreditprogramme können so große Probleme nicht lösen. Die Bevölkerung in den Barrios, Favelas und Townships kann, wie sie bewiesen hat, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Durch Massenmobilisierung in Venezuela, Bolivien und Südafrika haben die Bewohner:innen der Barackensiedlungen bedeutende Reformen durchgesetzt. Aber nur durch eine soziale Revolution, im Bündnis mit der Arbeiter:innenklasse, können sie den repressiven Staat und die ausbeuterische Ökonomie der Kapitalist:innen zerschlagen und an ihrer Stelle eine Gesellschaft errichten, die auf Komitees und Räten der Arbeiter:innen und Armen beruht, als Instrument für die vollständige Umgestaltung der Städte.

  • Für Wohnungen, Licht und Strom, Abwasser- und Abfallentsorgung, Krankenhäuser und Schulen, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel für die Bewohner:innen der riesigen und schnell wachsenden Armutsviertel, die alle großen Städte der „Entwicklungsländer“ von Manila und Karatschi bis Mumbai, Mexiko-Stadt und Sao Paulo umgeben.

  • Für ein Programm öffentlicher Arbeiten unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Armen. Für einen kostenlosen öffentlichen Nah- und Pendler:innenverkehr für die Arbeiter:innen!

  • Für massive Investitionen in Sozial- und Gesundheitsdienste, Wohnraum, öffentliche Verkehrsmittel und eine saubere, nachhaltige Umwelt.

  • Unterstützung der Kämpfe der Kleinbauern und -bäuerinnen, der Landarbeiter:innen und Landlosen auf dem Land und in der Industrie, um den Widerspruch zwischen Stadt und Land schrittweise zu beseitigen.

4.4.2 Befreiung des ländlichen Raums

Etwa 43 Prozent der Menschheit leben noch auf dem Land, in Dörfern, auf Plantagen und in den ländlichen Gemeinschaften indigener Völker, doch die Vereinten Nationen sagen voraus, dass dieser Anteil bis 2050 auf ein Drittel sinken wird. Der Grund für die Landflucht ist nicht nur der Reiz des Stadtlebens. Für die meisten Migrant:innen überwiegen dessen Nachteile durch das Leben in den Slums, die Kriminalität und die Überausbeutung. Vielmehr ist es das Versagen des Kapitalismus, auf dem Lande ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das Scheitern der Landreformen hat die Arbeits- und Landlosigkeit dort verschärft. Die Kluft zwischen ihrem Einkommen, Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Bildung und Kommunikation und den Möglichkeiten in den Städten ist oft enorm. Darüber hinaus sind sie mit der Zerstörung der ländlichen Umwelt durch Industriezweige wie Holzeinschlag und Bergbau sowie durch Monokulturen und Aktivitäten konfrontiert, die zu Überschwemmungen und Auslaugung des Bodens führen. Der Klimawandel beschleunigt diesen Prozess gewaltig.

Gleichzeitig konzentriert der Kapitalismus den Landbesitz unerbittlich in den Händen einer wohlhabenden Elite oder des internationalen Agrobusiness. Von China und Bengalen bis Südamerika und Afrika werden Bauern, Bäuerinnen und indigene Gemeinschaften von den besten Böden vertrieben und gezwungen, in die Slums der Städte abzuwandern.

Das Leben auf den Plantagen, auf denen Zucker, Kaffee, Tee, Baumwolle, Sisal, Kautschuk, Tabak und Bananen angebaut werden, weist viele Merkmale unfreier Vertragsverhältnisse oder der Leibeigenschaft auf. Die Plantagenarbeiter:innen werden oft in Schuldknechtschaft gehalten. Eine Revolution auf dem Lande, die vom Proletariat, den Landlosen oder Kleinbauern und -bäuerinnen angeführt wird, wäre eine mächtige Verbündete der städtischen Arbeiter:innen und Letztere wären ein unverzichtbarer Beistand für ihre Schwestern und Brüder auf dem Lande.

– Enteignung des Landes der Oligarch:innen, der ehemaligen kolonialen Plantagen und der multinationalen Agrarunternehmen, um es unter die Kontrolle der Arbeiter:innen, armen Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter:innen zu stellen.

  • Land für diejenigen, die es bearbeiten.

  • Abschaffung der Pacht und Erlass aller Schulden der armen Bauern und Bäuerinnen.

  • Freie Kredite für den Kauf von Maschinen und Düngemitteln; Anreize für Subsistenzlandwirt:innen, sich freiwillig Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften anzuschließen.

  • Freier Zugang zu Saatgut, Abschaffung aller Patente in der Landwirtschaft.

  • Modernisierung des ländlichen Lebens. Vollständige Elektrifizierung, Internetzugang und moderne städtische Einrichtungen. Stopp der Abwanderung der Jugend aus dem ländlichen Raum durch Förderung kreativer und kultureller Aktivitäten.

  • Gegen die Armut auf dem Lande; Angleichung der Einkommen, des Zugangs zu Gesundheit, Bildung und Kultur an die Städte.

Indem wir diese Kämpfe in den Städten und auf dem Land miteinander verbinden, können wir die krankhafte Verstädterung des Kapitalismus, die Ausbeutung des Bodens und die Abholzung der Wälder rückgängig machen und den Weg zu dem im Kommunistischen Manifest formulierten Ziel freimachen: „Die Vereinigung der Arbeit auf dem Lande und in der Industrie, wodurch der Widerspruch zwischen Stadt und Land allmählich beseitigt wird.“

4.5 Die digitale Revolution

Seit den 1960er Jahren sind die Fortschritte in der Computertechnologie und der Vernetzung sowie deren Anwendung in vielen Bereichen der Produktion und des täglichen Lebens entscheidende Faktoren für die Entwicklung der Produktivkräfte. Mit dem Internet, der mobilen Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz (KI) wurden in den letzten Jahren in immer schnellerem Tempo neue Etappen dieser Entwicklung erreicht. Gemeinsamer Datenzugriff und andere Elemente der Personen übergreifenden Nutzung von Ressourcen, die immer engere Verknüpfung von Produktanforderungen und Produktbereitstellung, die sichere Abwicklung von Transaktionen und komplexen Logistikketten über Blockchain etc. haben große Potenziale für Produktivitätssteigerungen geschaffen. In all diesen Bereichen dominieren riesige Monopole (Amazon, Microsoft, Alphabet Inc., Facebook …), die den Zugewinn an Produktivität für ihre Monopolprofite nutzen.

Ein wesentlicher Faktor dabei ist ihre enorme Kontrolle über die Daten und Informationen der Nutzer:innen, aus deren Verkauf diese Datenkraken enorme Profite erzielen. Viele Unternehmen versuchen nun, Daten über alle Aspekte ihrer Mitarbeiter:innen zu sammeln, um sie besser kontrollieren und in einen Leistungswettbewerb treten lassen zu können. In ähnlicher Weise nutzen Staaten (nicht nur China und die USA) künstliche Intelligenz und ihren Zugang zu den Netzen, um immer umfassendere Informationen über ihre Bürger:innen zu sammeln, sie zu bewerten, identifizieren, lokalisieren und überwachen.

Diese Technologien werden von den Geheimdiensten der Welt eingesetzt, um eine allumfassende Überwachung zu realisieren. Die Enthüllungen über den Skandal der National Security Agency (NSA) im Jahr 2013 sind ein Beleg dafür. Seitdem hat sich die Ausweitung der Überwachung beschleunigt. Revolutionär:innen müssen sich bewusst sein, dass Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, trojanische Programme und die massenhafte Speicherung von Daten Teil des Klassenkampfes der Kapitalist:innen sind und massiv gegen sie und die Arbeiter:nnenbewegung eingesetzt werden und nicht für die „Sicherheit“ der Bevölkerung.

Die Datenschutzbestimmungen, mit denen Hasspostings kontrolliert werden sollen, sind kaum mehr als Feigenblattaktionen. Kaum ein/e private/r Nutzer:in kann sie wirklich verwenden, um seine/ihre Daten zu kontrollieren. Die Masse der Missbrauchsmöglichkeiten durch Staat, Konzerne und rechte Organisationen wächst in einem Tempo, dem all diese Maßnahmen nur hoffnungslos hinterherhinken.

Die alten Probleme des „Datenschutzes“ erscheinen heute klein im Vergleich zu denen der neuen Generation von Entwicklungsumgebungen der KI-Anwendungen. Mit den gesteigerten Fähigkeiten und dem viel einfacheren gemeinsamen Zugang zu Modulen für tiefes maschinelles Lernen, große Sprachmodelle, Texterzeugung und -umwandlung, Verarbeitung natürlicher Sprache usw. ist nicht nur die unkontrollierbare Anzahl von Datenbanken, auf die bei Suchvorgängen und Problemlösungen zugegriffen wird, explodiert, sondern KI-Anwendungen scheinen erweiterte Antworten auf jede Art von Fragen zu beinhalten. Diese Fähigkeit, Antworten in erstaunlicher sprachlicher und inhaltlicher Qualität zu generieren, basiert auf sehr einfachen statistischen Modellen. Während sie in erstaunlich vielen Fällen gute Ergebnisse liefert, erzeugt diese einfache statistische Interpolation in komplizierteren Fällen auch Unsinn und neigt dazu, weitverbreitete Vorurteile zu reproduzieren. Falsche Informationen, auf denen die Ableitungen beruhen, werden nicht erkannt usw.. Ein relevanter Anteil der Antworten besteht aus dem, was Expert:innen als „KI-Halluzinationen“ bezeichnen.

Auch wenn diese neuen KI-Anwendungen dazu beitragen können, viele Arbeiten im Zusammenhang mit der routinemäßigen Erstellung von Texten (im Journalismus, in Büros, Kontaktzentren usw.) zu erleichtern, ist das Bestreben des Kapitals, diese Techniken als Ersatz für menschliche Arbeitskräfte einzusetzen, sehr gefährlich: Jedes Produkt dieser Anwendungen muss immer noch von Menschen kontrolliert und nachbearbeitet werden, um grobe Fehler mit potenziell schädlichen Folgen zu vermeiden.

Wir kämpfen für:

  • Enteignung großer IT-Monopole unter Kontrolle von Beschäftigten und demokratisch legitimierten Nutzer:innenkomitees!

  • Für einen Plan zur gesellschaftlich sinnvollen Nutzung des produktiven Fortschritts der IT-Technologie.

  • Weg mit der Überwachung und Kontrolle von Bürger:innen und Arbeitskräften durch Privatunternehmen und Kapital wie Google, Facebook. Eine erste Forderung sollte sein, dass sie die Algorithmen und Systeme, die sie zum Sammeln von Informationen verwenden, öffentlich machen.

  • Für die gesellschaftliche Kontrolle (durch demokratisch legitimierte Nutzer:innenkomitees) der von Staat und Unternehmen erhobenen Daten und Verfahren zu deren Nutzung und Vernetzung.

  • Nein zu Überwachungsinstrumentarien, die das Netzverhalten von Nutzer:innen und Mitarbeiter:innen ausspähen! Nein zu Anbieterfiltern für Dateien und anderen Methoden, die die freie Verfügung über die im Netz geteilten Inhalte verhindern und ihnen die Warenform aufzwingen wollen! Stattdessen wollen wir den Ausbau der Beteiligungsökonomie und die staatliche Finanzierung ihrer Basis (z. B. von offen zugänglichen Anwendungen unter Hersteller:innenkontrolle statt Abhängigkeit von den „Spenden“ der IT-Unternehmen)!

  • Die Anwendung oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt sollte nur dann erlaubt sein, wenn ihre Auswirkungen und die Generierung von Ergebnissen für die Arbeitenden selbst und die davon betroffenen sozialen Gemeinschaften kontrollierbar sind. Die Anwendungen müssen ein Protokoll liefern, das die Teile der Arbeit, die Ergebnis der KI-Verarbeitung sind, klar identifiziert und die Kette der Überlegungen enthält, die die KI in Bezug auf Daten und statistische Schlussfolgerungen verwendet.

  • Kontrollkommissionen von Arbeiter:innen und Gemeinden sollten diese Protokolle regelmäßig überprüfen und im Falle von Fehlern oder schädlichen Auswirkungen in der Lage sein, die Probleme in den Anwendungen zu lokalisieren und korrigieren. Dies ist besonders wichtig im Hinblick auf Datenschutzverletzungen und schädliche Schlussfolgerungen in Bezug auf Einzelpersonen oder soziale Gruppen, die sich aus den „autonomen“ Aktionen der KI ergeben. Solange solche Kontrollmechanismen nicht implementiert sind, sprechen wir uns für ein Einfrieren der Nutzung der neuen Generation von KI-Anwendungen aus.

4.6 Die Gewerkschaften

Überall auf der Welt werden unsere Gewerkschaften von den Kapitalist:innen angegriffen. Das größte Hindernis im Kampf gegen die Offensive der Kapitalist:innen ist der lähmende Einfluss der Bürokrat:innenkaste, die unsere Organisationen an das Kapital, ihre Regierungen und ihre Gesetze bindet. Die Vorstöße der Bosse sind unerbittlich und bösartig. In den schwächeren und weniger entwickelten Ländern, den Halbkolonien, haben diktatorische Regierungen die Gewerkschaften zu Werkzeugen des Staates gemacht, indem sie Streiks verboten und die freie Wahl der Gewerkschaftsführer:innen untersagt haben. Unabhängige Gewerkschaften und betriebliche Organisationen müssen in der Illegalität kämpfen und mit Verhaftungen, Folter und Ermordung rechnen.

In den letzten Jahrzehnten sind die Gewerkschaften im globalen Süden unter Beschuss geraten. Sehr große Teile der Arbeiter:innenklasse, selbst in den großen Industrien und den staatlichen Sektoren, sind infolge neoliberaler Angriffe und repressiver Gesetze überhaupt nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Zersplitterung der Gewerkschaften spiegelt dies wider und verstärkt es noch, ebenso wie die Verwirrung, der Sektoralismus und der Verrat der Gewerkschaftsführungen. Revolutionär:innen müssen nicht nur die Organisierung der Unorganisierten fordern und für die Überwindung dieser Politik in den bestehenden Gewerkschaften streiten, sondern auch die Initiative zum Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung ergreifen.

In den fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien errangen jahrzehntelange Klassenkämpfe den Gewerkschaften gesetzliche Rechte, so dass der Staat anstelle der völligen Illegalität die Gewerkschaften einbezog, indem er ihren Führer:innen Privilegien gewährte und sie in die Strukturem der Klassenzusammenarbeit einband. Doch die Kapitalist:innen fuhren fort, die Rechte zu beschneiden und den Gewerkschaften immer stärkere gesetzliche Beschränkungen aufzuerlegen, was eine wirksame Gewerkschaftsarbeit und die Rekrutierung von Mitgliedermassen behinderte. Westliche Gerichte demonstrieren immer wieder den Klassencharakter des bürgerlichen Rechts, indem sie eingreifen, um Streikabstimmungen zu kippen, Gewerkschaftsgelder zu beschlagnahmen und gewerkschaftsfeindliche Unternehmen zu unterstützen.

Heute findet das Kapital unabhängige Gewerkschaften immer unerträglicher. Wir müssen unsere Gewerkschaften verteidigen, für ihre Unabhängigkeit von den Kapitalist:innen und dem Staat kämpfen, den Kampf aufnehmen, um Millionen neuer Mitglieder aus bisher nicht organisierten Sektoren, aus den in unsicheren Verhältnissen beschäftigten und hochgradig ausgebeuteten Teilen der Arbeiter:innenschaft, viele von ihnen junge Menschen, Migrant:innen oder „Illegale“, zu rekrutieren. Dieser Kampf wird auf unnachgiebigen Widerstand von innen stoßen, von der hochbezahlten und undemokratischen Gewerkschaftsbürokratie, die als ihre ewige Aufgabe das Aushandeln von Verträgen in einer ewigen kapitalistischen Wirtschaft ansieht. In Krisenzeiten werden diese Abmachungen zu „Rückzahlungen“ an die Bosse, Errungenschaften und erreichte Mindeststandards werden gegen Arbeitsplätze getauscht und umgekehrt.

Die Ideologie der bürokratischen Gewerkschaftsführer:innen ist Gift für das Klassenbewusstsein des Proletariats. Statt auf Internationalismus setzen sie in den imperialistischen Zentren vor allem auf eine unternehmenszentrierte Logik und verteidigen die Konkurrenzfähigkeit „ihres“ Unternehmens. Damit tragen die Gewerkschaftsbürokrat:innen zusammen mit dem sozialchauvinistischen Reformismus der Sozialdemokratie und den selbsternannten „Sozialist:innen“ die Verantwortung dafür, dass sich rassistische Ideologien und nationale Engstirnigkeit in Zeiten des Rechtsrucks auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse einnisten können oder nicht wirksam bekämpft werden.

Die Bürokrat:innen agieren oft als Polizei für den Staat und die Unternehmen, schikanieren Aktivist:innen und helfen, sie aus dem Betrieb zu vertreiben. Revolutionär:innen organisieren sich innerhalb der Gewerkschaften, um ihren Einfluss zu vergrößern, bis hin zur Übernahme der Führung, wobei sie immer ehrlich gegenüber der Basis bleiben und so offen darüber sprechen, wie es staatliche Repression und Gewerkschaftsbürokratie erlauben. In den bürokratischen Gewerkschaften werden wir die Schaffung von Basisbewegungen anregen, die darauf abzielen, die Durchführung von Streiks und anderen Formen des Kampfes zu demokratisieren und die hauptamtliche und überbezahlte Kaste der Spitzenfunktionär:innen durch gewählte und jederzeit abrufbare Führer:innen zu ersetzen, die den gleichen Lohn erhalten wie ihre Mitglieder.

Aber selbst die demokratischste Gewerkschaftsbewegung reicht nicht aus. Die syndikalistische Idee, dass die Gewerkschaften nicht nur von den Bossen, sondern auch von den politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse unabhängig sein sollten, kann den Widerstand der Arbeiter:innen und den Kampf um die Macht der Arbeiter:innenklasse nur schwächen. Stattdessen zielen Revolutionär:innen darauf ab, die Gewerkschaften so zu orientieren, dass sie nicht nur für die Interessen der einzelnen Branchen kämpfen, sondern für die Interessen der Gesamtklasse, über alle Industrie-, Berufs- und Betriebsgrenzen hinweg, für befristete Arbeitskräfte ebenso wie für Stammpersonal, für die gegenwärtigen und zukünftigen Beschäftigten, nicht nur in einem Land, sondern international. Wir fördern das Klassenbewusstsein, nicht nur das enge Gewerkschaftsbewusstsein. Auf diese Weise können die Gewerkschaften wieder zu echten Schulen für den Sozialismus und zu einem massiven Stützpfeiler für eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei werden.

Eine neue Arbeiter:inneninternationale und revolutionäre Parteien in jedem Land haben die Pflicht, sich für die Erneuerung der bestehenden Gewerkschaften einzusetzen, wo immer dies möglich ist, dürfen aber nicht vor einem formellen Bruch und der Gründung neuer Gewerkschaften zurückschrecken, wo die reformistische Bürokratie eine Einheit unmöglich macht. Unorganisierte prekär Beschäftigte können ebenso organisiert werden wie neue Hochtechnologieindustrien, trotz tyrannischer Firmenchef:innen oder Systeme, die kollektives Handeln durch Klassenzusammenarbeit am Arbeitsplatz verhindern. Wir brauchen Organisationen in den Betrieben, die sich weder dem Diktat noch den Schmeicheleien der Bosse beugen, sondern die Arbeiter:innen mit militanten Kampfmethoden wie Massenstreiks, Besetzungen und, wenn nötig, einem Generalstreik verteidigen. Die Gewerkschaften dürfen nicht bürokratisch von oben herab kontrolliert werden, sondern müssen demokratisch sein, wo Differenzen frei diskutiert werden können, wo die Führer:innen kontrolliert und, wenn nötig, unverzüglich abgewählt werden können.

Wir können nicht warten, bis die Gewerkschaften umgestaltet werden; wir müssen jetzt kämpfen. Wir fordern, dass die derzeitigen Gewerkschaftsführer:innen sich für die dringenden Bedürfnisse der Massen verwenden, und wir warnen die Basis, ihnen nicht zu vertrauen. Wir kämpfen für die Bildung von Basisbewegungen in den bestehenden Gewerkschaften, damit der Würgegriff der Funktionär:innen gebrochen werden kann und trotz allem Aktionen durchgeführt werden können. Während wir für eine politisch-fraktionelle Organisierung innerhalb der Gewerkschaften eintreten, lehnen wir politisch getrennte Gewerkschaften ab, weil dies nur dazu dient, die Arbeiter:innen zu spalten und viele unter den Einfluss reformistischer oder sogar klassenfremder Führungen zu stellen. Wir kämpfen für die Bildung von Industriegewerkschaften, die das kollektive Gewicht der Lohnabhängigen bei Verhandlungen mit den Unternehmer:innen maximieren. Dort, wo derzeit mehrere Gewerkschaften entweder innerhalb einer Branche, von Konzernen oder Betrieben existieren, setzen wir uns für ihren Zusammenschluss auf Grundlage des Klassenkampfes und für gemeinsame Ausschüsse unter Kontrolle der Basis für Verhandlungen und Aktionen ein.

Wir kämpfen für die gewerkschaftliche Organisierung der großen Zahl unserer Schwestern und Brüder, die noch nicht organisiert sind, für die Öffnung der Gewerkschaften für Jungarbeiter:innen und die rassistisch Unterdrückten. Wenn die Gewerkschaftsbürokrat:innen dies verhindern, dann müssen neue Gewerkschaften gegründet werden. Unsere Losung muss lauten: Zusammenarbeit mit den offiziellen Führer:innen, wo es möglich ist, aber ohne sie, sogar gegen sie, wo es nötig ist.

Wir brauchen Gewerkschaften und Massenorganisationen, die wirklich die Masse der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten vereinen können und nicht von männlichen Mitgliedern und Angehörigen bessergestellter Schichten dominiert werden, die ausschließlich aus der dominierenden nationalen oder anderweitig privilegierten Gruppe innerhalb eines bestimmten Landes stammen. Das bedeutet, dass wir den unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse und den Armen, den Frauen, der Jugend, den Minderheiten und den Migrant:innen volle Rechte und volle Vertretung in ihren Führungsstrukturen zugestehen.

Deshalb kämpfen wir für:

  • Die Organisation der nicht organisierten Arbeiter:innen, einschließlich Frauen, Migrant:innen und befristeten Arbeitskräften.

  • Die Gewerkschaften müssen unter der Kontrolle ihrer Mitglieder stehen.

  • Für das Recht auf unabhängige Treffen (Caucusrecht) für alle sozial unterdrückten Gruppen: Frauen, ethnische Minderheiten, LGBTIA+-Menschen.

  • Einheit aller Gewerkschaften auf einer demokratischen und kämpferischen Basis, völlig unabhängig von den Bossen, ihren Parteien und Staaten.

4.7 Von der Streikpostenverteidigung zur Arbeiter:innenmiliz

Jede/r entschlossene Streikende weiß, dass Streikpostenketten notwendig sind, um Streikbrecher:innen abzuschrecken. Kein Wunder, dass die Kapitalist:innen überall auf drakonische gewerkschaftsfeindliche Gesetze drängen, die unsere Streikposten so schwach und unwirksam wie möglich machen sollen. Gleichzeitig dürfen die Bosse Sicherheitsleute und private Schläger:innentrupps anheuern, um die Arbeiter:innen einzuschüchtern. Von Angriffen auf Arbeiter:innenmärsche durch hoch gerüstete Polizei wie in Griechenland bis hin zur Verhaftung und Einkerkerung von Gewerkschafter:innen im Iran reicht die andauernde Verfolgung kämpferischer Arbeiter:innen. Wenn die Polizei und Schläger:innenbanden der Bosse zu offener Repression greifen, können sich selbst die militantesten Massenstreikposten als unzureichend erweisen, wie es beim historischen britischen Bergarbeiterstreik von 1984/1985 der Fall war.

Der berüchtigtste Fall dieses Jahrhunderts war das Massaker von Marikana, bei dem die südafrikanische Polizei auf Anweisung des heutigen Präsidenten und ehemaligen Bergarbeiterführers Cyril Ramaphosa 42 Streikende tötete. Jeder ernsthafte Kampf zeigt die Notwendigkeit eines disziplinierten Schutzes mit Waffen, die denen entsprechen, die gegen uns eingesetzt werden.

Wir sollten mit der organisierten Verteidigung von Demonstrationen, Streikposten, Gemeinden, die rassistischen und faschistischen Überfällen ausgesetzt sind, sowie mit der Selbstverteidigung der sexuell Unterdrückten beginnen. Unter ständiger Bekräftigung des demokratischen Rechts auf Selbstverteidigung sollten Militante eine öffentliche Kampagne für eine Arbeiter:innen- und Bevölkerungsverteidigungsgarde starten, die auf einer Massenbewegung fußt.

In Ländern, in denen das Recht besteht, Waffen zu tragen, sollte die Arbeiter:innenverteidigungsgarde dieses voll ausschöpfen. Wo die Kapitalist:innen und ihr Staat das Gewaltmonopol besitzen, sind alle Mittel gerechtfertigt, um dieses zu brechen. Revolutionär:innen müssen innerhalb der Massenorganisationen der Arbeiter:innenklasse und der Bauern und Bäuerinnen auf die Schaffung von Verteidigungskräften drängen, die diszipliniert, kampferprobt und mit den geeigneten Erfolg verheißenden Waffen ausgestattet sind. In Schlüsselmomenten des Klassenkampfes sind Massenstreikwellen, ein Generalstreik, die Schaffung einer Arbeiter:innenmassenmiliz unerlässlich, sonst wird die Bewegung in Blut ertränkt wie in Chile 1973 oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989. Wenn man sich der Herausforderung stellt, können die Mittel der Bevölkerungsverteidigung zum Instrument der Revolution werden.

4.8 Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen den Faschismus

Die kapitalistische Krise ruiniert die Mittelschichten und lässt sie krampfhaft nach Sündenböcken suchen, während die Langzeitarbeitslosen immer tiefer in die Verzweiflung sinken, was sie anfällig für religiöse Demagogie, rassistische, rechtsnationalistische, und unverhüllt faschistische Propaganda und Bewegungen macht. In den imperialistischen Ländern nimmt dies oft die Form des klassischen Faschismus an, der ethnische, nationale und religiöse Minderheiten, Migrant:innen und Roma als Zielscheibe ins Visier nimmt. Insbesondere in Europa ist die Islamophobie, der Hass auf Muslim:innen, eine schnell wachsende Bedrohung, mit Aufmärschen gegen Moscheen und Hetze gegen Hidschab und Burka, die sich unter dem Deckmantel der offiziellen Ideologie des „Antiterrorismus“ und der angeblichen Gefahr der „Islamisierung Europas“ ausbreitet. Auch der Antisemitismus ist nicht tot, denn die schnell wachsende ungarische Nazibewegung Jobbik (Bewegung für ein besseres Ungarn) vereint beides in einem giftigen Absud aus reaktionären Demagogien.

In der halbkolonialen Welt entstehen faschistische Kräfte oft aus Kommunalismus und religiösem Fanatismus, die die Emotionen der Massen gegen Minderheiten wie Muslim:innen in Indien, Tamil:innen in Sri Lanka, Hindus, Christ:innen, Ahmadiyyabewegung und Schiit:innen in Pakistan richten.

Der Faschismus ist ein Mittel des Bürger:innenkriegs gegen die Arbeiter:innenklasse. Indem er alten Hass aufrührt und irrationale Ängste schürt, mobilisiert er die kleinbürgerlichen und lumpenproletarischen Massen, um die Organisationen der Arbeiter:innenklasse und demokratische zunächst zu spalten und dann zu zerstören. Danach konzentriert der Faschismus den gesamten staatlichen Kontrollapparat in seinen Händen, um den Arbeiter:innen ein Regime der Superausbeutung unter direkter Aufsicht der Polizei und ihrer Hilfstruppen aufzuzwingen. Die Bewunderung der Faschist:innen für Massenmörder wie Anders Breivik (Norwegen) und Brenton Tarrant (Neuseeland) belegt ihre brutalen Ziele.

Sein Wachstum als Massenbewegung zeugt von der Intensität der Krise, die Millionen von Menschen wütend macht und in die Verzweiflung treibt, sowie von dem Verrat und dem Versagen der Führung der Arbeiter:innenklasse. Er kann nur besiegt werden, indem die revolutionäre Bewegung der Arbeiter:innenklasse und ihrer Verbündeten entfesselt wird, indem zu einer Einheitsfront aller Arbeiter:innenorganisationen gegen den Faschismus und zu einer antifaschistischen Arbeiter:innenmiliz aufgerufen wird, um seine Attacken auf die Arbeiter:innenbewegung und auf unterdrückten Minderheiten abzuwehren. Wie Leo Trotzki sagte, ist der Sozialismus Ausdruck der revolutionären Hoffnung, während der Faschismus Ausdruck der konterrevolutionären Verzweiflung ist. Um ihn zu besiegen, muss sie in eine revolutionäre Klassenoffensive gegen den krisengeschüttelten Kapitalismus umgewandelt werden, das System, das den Faschismus immer aufs Neue gebiert. Da der Faschismus seine Kraft aus der Mobilisierung von Massen bezieht, deren Wut sich aus die Auswirkungen der kapitalistischen Krise speist, wird der Kampf gegen ihn erst dann vollendet sein, wenn seine Wurzel, der Kapitalismus, ausgerottet ist.

  • Für eine Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die Faschist:innen.

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Repressionsapparat.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen. Eine antifaschistische Miliz kann es schaffen, faschistische Kundgebungen, Demonstrationen und Versammlungen aufzulösen und den rassistischen und faschistischen Demagog:innen jegliche offene Propagandaplattform zu entziehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten die faschistischen Kaderorganisationen die Taktik, Gruppierungen innerhalb der faschistischen Frontorganisationen, z. B. des Front National in Frankreich, aufzubauen. Solche Organisationen haben einen elektoralistischen Flügel, der mit reaktionärer rechter Politik an den politischen Aktivitäten des bürgerlichen Parlamentarismus teilnimmt und gleichzeitig mit faschistischen Gruppen innerhalb der Partei koexistiert. Im Zuge der Globalisierung haben solche Frontorganisationen stark zugenommen und konnten sich in vielen Ländern mit erheblichem Gewicht auf der politischen Bühne etablieren. Während offen faschistische Organisationen mit einer strikten „Keine Plattform“-Politik bekämpft und soweit wie möglich mit physischer Gegengewalt konfrontiert werden müssen, muss gegen faschistische Frontorganisationen eine flexiblere Form der Taktik angewendet werden. Soweit der faschistische Flügel in der Aktion dominiert, muss er wie jede faschistische Kraft behandelt werden. Andererseits werden wir dort, wo ihre nicht direkt faschistische Propaganda verzweifelte unterprivilegierte Schichten mit reaktionärer Wahlpropaganda erreicht, Taktiken anwenden, um diese Menschen durch Gegenpropaganda von den Demagog:innen zu lösen und ihnen echte Alternativen zur Bekämpfung ihrer sozialen Not aufzuzeigen.

4.9 Verteidigung der demokratischen Rechte

In vielen Staaten der Welt, auch in nominell bürgerlichen Demokratien, gibt es mächtige Präsidialsysteme mit außerordentlichen Machtbefugnissen für ein Staatsoberhaupt, undemokratisch gewählte Senate und ernannte, nicht gewählte Richter:innen, die oft sehr lange, mitunter sogar auf Lebenszeit amtieren. Selbst in den ältesten Republiken, den Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich, herrschen viele dieser Einschränkungen – einschließlich der systematischen Blockierung der Registrierung von schwarzen und farbigen Wähler:innen, dem politischen Zuschnitt von Wahlbezirken usw. Als Resultat zeigt sich, dass die Verabschiedung wichtiger politischer Maßnahmen für Frauen, die organisierte Arbeiter:innenklasse und die rassistisch Unterdrückten vereitelt wird, wie es der Oberste Gerichtshof der USA heute tut. Außerdem sind diese undemokratischen Strukturen oft in den Verfassungen verankert und lassen sich nur sehr schwer ändern. Sie aus der Welt zu schaffen, bildet eine wahrhaft revolutionäre Aufgabe.

In Ländern wie der Türkei sind die etablierten Parteien in der Lage, durch die Kontrolle der Medien und die Verhaftung von Aktivist:innen der Oppositionsparteien oder deren völlige Illegalisierung Wahlen in Plebiszite mit einem Slogan zu verwandeln – „entweder ich oder das Chaos“. In so unterschiedlichen Ländern wie Frankreich und der Türkei haben solche bonapartistischen oder halbbonapartistischen Regime die Parlamente umgangen. In Afrika ist eine Epidemie von Präsidentschaften zu beobachten, die ihre Amtszeit verlängern, und im Nahen Osten und in Ostafrika hat das Militär wiederholt die Macht an sich gerissen. In diesen Ländern, in denen Arbeiter:innen, Frauen und Jugendliche wiederholt demokratische Massenbewegungen ins Leben gerufen haben, ist eine dauerhafte Lösung nicht möglich und wird es auch nie sein, solange die revolutionären Kräfte nicht die Basis der Streitkräfte für sich gewinnen und die Macht der Generalstäbe und Oberkommandos für immer brechen. Andernfalls werden schreckliche Ereignisse wie im Sudan auch weiterhin selbst die stärksten sozialen Bewegungen ausbremsen.

Im In- und Ausland geben sich die westlichen Imperialist:innen als Verteidiger:innen und Verfechter:innen der Demokratie aus. Das ist gelogen. Nach dem 11. September 2001 und den Terroranschlägen des Dschihads in Europa im letzten Jahrzehnt verhängten die nordamerikanischen und europäischen Regierungen Antiterrorgesetze, die eine Überwachungsgesellschaft geschaffen und die in jahrhundertelangen Kämpfen von der Bevölkerung errungenen Rechte eingeschränkt oder abgeschafft haben.

Im globalen Süden werden die demokratischen Rechte, die es der Arbeiter:innenklasse, den Bauern und Bäuerinnen, den städtischen und ländlichen Armen ermöglichen, sich zu organisieren und wehren, von den Gerichten, der Polizei und den Killerkommandos der Bosse untergraben. Auf den Philippinen hat Rodrigo Dutertes „Krieg gegen die Drogen“ innerhalb von zwei Jahren zu einer Flut von außergerichtlichen Tötungen durch die Polizei geführt, die auf 12.000 bis 20.000 geschätzt wird. Auch in Mexiko und anderen mittel- und südamerikanischen Staaten forderte der Krieg gegen die Drogen Opfer von Morden durch Armee und Polizei, die vor allem Linke und Anführer:innen der Gewerkschaften und Bäuer:innenschaft aufs Korn nehmen.

In Palästina und insbesondere im blockierten und immer wieder bombardierten Gazastreifen sind die Palästinenser:innen ein ständiges Ziel des zionistischen Siedlers:innenstaates. In Israel und im Westjordanland herrscht ein Regime, das dem der Apartheid in Südafrika nicht unähnlich ist. Der unermüdliche und heldenhafte Kampf des palästinensischen Volkes verdient die vollste Unterstützung, einschließlich der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Unser Ziel muss das Recht auf Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge, die Zerschlagung des zionistischen Staates und die Schaffung eines einzigen Staates für zwei hebräisch und arabisch sprechende Nationen in Israel-Palästina sein. Ein solcher Staat kann den durch den Zionismus geschaffenen Antagonismus zwischen den beiden Völkern nur dadurch lösen, dass er ein sozialistischer Staat wird, in dem landwirtschaftliche Betriebe, Fabriken usw. sich in Gemeineigentum befinden und demokratisch geplant werden, um soziale Gleichheit zu gewährleisten.

Das Gift des Rassismus und der Pogrome gegen Minderheiten und Migrant:innengemeinschaften wird dazu benutzt, den Widerstand zu spalten und auszuhöhlen. Überall auf der Welt sind es die eigenen Organisationen der Massen, die den Kampf für den Schutz und die Ausweitung der demokratischen Rechte aufnehmen müssen. Unsere demokratischen Kampforganisationen sind das Fundament einer wirklichen „Herrschaft des Volkes“. Durch regelmäßige Wahlen, die Abwählbarkeit von Delegierten und Repräsentant:innen, durch Opposition gegen die Bürokratie und ihre Privilegien kann die Arbeiter:innenbewegung das Sprungbrett für eine neue Gesellschaft werden.

  • Verteidigung des Streikrechts, der Rede- und Versammlungsfreiheit, der Freiheit, sich politisch und gewerkschaftlich zu organisieren, der Presse- und Sendefreiheit.

  • Aufhebung aller gewerkschaftsfeindlichen Gesetze.

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Fort mit Monarchien, zweiten Parlamentskammern, Präsident:innen mit Befehlsgewalt, ungewählten Gerichtshöfen und Notstandsgesetzen.

  • Für das uneingeschränkte Recht auf ein Schwurgerichtsverfahren und die Wahl der Richter:innen durch das Volk.

  • Weg mit der zunehmenden Überwachung unserer Gesellschaft, einschließlich des Internets, und der wachsenden Macht der Polizei und Sicherheitsdienste.

  • Auflösung des Repressionsapparates, der Polizei, der Sicherheitsdienste. Für deren Ersetzung durch Milizen, die aus der Arbeiter:innenschaft und Masse der Bevölkerung stammen und von ihnen kontrolliert werden. Ermutigung von Soldat:innen zum Bruch mit ihren Vorgesetzten, um Teile von ihnen für die Revolution zu gewinnen.

Überall dort, wo grundlegende Fragen der politischen Ordnung aufgeworfen werden, fordern wir eine verfassunggebende Versammlung, um demokratische Rechte neu festzuschreiben und tatsächlich über die gesellschaftliche Grundlage des Staates zu entscheiden. Die Arbeiter:innen sollten sich dafür starkmachen, dass die Abgeordneten der Versammlung auf die demokratischste Weise gewählt werden, unter Kontrolle ihrer Wähler:innen stehen und von diesen abberufen werden können. Die Versammlung muss gezwungen werden, sich mit allen grundlegenden Fragen der demokratischen Rechte und sozialen Gerechtigkeit zu befassen: Agrarrevolution, Verstaatlichung der Großindustrie und Banken unter Arbeiter:innenkontrolle, Selbstbestimmungsrecht für nationale Minderheiten, Abschaffung der politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Reichen.

5. Der Kampf gegen soziale Unterdrückung

5.1 Für Frauenbefreiung

Die kapitalistischen Demokratien versprachen den Frauen Gleichheit. Doch das galt nicht für alles, und vieles bleibt unerfüllt.. Im 20. Jahrhundert wurde den meisten Frauen das Wahlrecht zugestanden, auch dank der ersten Welle feministischer und sozialistischer Agitation vor dem Ersten Weltkrieg und der Notwendigkeit, Frauen in die Produktion und das öffentliche Leben einzubeziehen, weil die Kriegsanstrengungen der Großmächte es erforderte, Frauen in der Produktion zu beschäftigen. Das Frauenwahlrecht wurde zumeist parallel zum allgemeinen Stimmrecht eingeführt, das bis dahin auch den männlichen Arbeitern vorenthalten worden war. Das Wahlrecht bedeutete jedoch weder für die Frauen noch für die Arbeiter:innenklasse echte politische Macht. Der Zweite Weltkrieg zog noch mehr Frauen in die Produktion ebenso wie in die Planwirtschaft der UdSSR. Frauen traten in immer größerer Zahl den Gewerkschaften bei.

Die anhaltende Belastung durch Kinderbetreuung und Hausarbeit behinderte den Zugang von Frauen zu ebenso gut bezahlter Arbeit oder einer ununterbrochenen Berufslaufbahn. Die militante Arbeiter:innenbewegung und die zweite feministische Welle in den imperialistischen Ländern und die nationalen Befreiungsbewegungen in den Halbkolonien errangen eine Reihe wichtiger Siege für die Frauen: Selbstbestimmte Geburtenkontrolle und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in einigen Ländern ermöglichten es ihnen, über die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburten zu entscheiden.

In dieser Zeit rückten auch die patriarchalische Ideologie und die geringe Zahl von Frauen in Führungspositionen in Bildung, Politik, Gewerkschaften und Wirtschaft stärker ins Blickfeld. Auch gegen häusliche Gewalt in der Familie, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung wurde vorgegangen. Den Gesetzen zur Lohngleichheit zum Trotz entsprechen die Löhne für weibliche Arbeitskräfte in Europa und Nordamerika jedoch im Durchschnitt nur zu 70 Prozent denen ihrer männlichen Arbeitskollegen und liegen oft noch viel niedriger. Frauen tragen immer noch die Doppelbelastung der Kinderbetreuung, Altenpflege und Haushaltsführung „neben“ ihrer Berufstätigkeit. Vergewaltigung, sexuelle Belästigung und häusliche Gewalt sind nach wie vor weitverbreitet. Die reproduktiven Rechte der Frauen sind beschränkt und werden ständig angegriffen.

In den USA hat die Aufhebung des Urteils Roe versus Wade durch den Obersten Gerichtshof, das Frauen ein (wenn auch eingeschränktes) Recht auf Abtreibung zugestanden hat, die Kampagne zur Rücknahme des in den 1970er Jahren errungenen eingeschränkten Rechts auf Abtreibung auf Ebene der Bundesstaaten gefördert. Die Republikanische Partei verabschiedet Gesetze, um die Abtreibung zu verbieten und die für eine sichere Durchführung notwendigen Kliniken zu schließen. In vielen halbkolonialen Ländern droht der Aufstieg religiös-populistischer Parteien, die Frauen in das patriarchalische Heim zurückzudrängen, was in Afghanistan unter den Taliban bereits fast vollständig geschehen ist, wo sie aus dem Gesundheits-, Bildungswesen und dem öffentlichen kulturellen und politischen Leben verbannt werden.

Selbst die Teilerfolge der Frauenbefreiung ergeben im Weltmaßstab ein äußerst uneinheitliches Bild. Im globalen Süden verstärken die internationale Arbeitsteilung, alte patriarchalische Verhältnisse auf dem Land und religiöse Vorurteile, die von Fundamentalist:innen aller Glaubensrichtungen wiederbelebt werden, diese Ungleichheiten. Frauen wird das Recht verweigert, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, zu entscheiden, ob oder wie viele Kinder sie haben wollen. Häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Familie und sogar Mord (so genannte „Ehrenmorde“) bleiben oft weitgehend ungestraft.

Dennoch wurden in den letzten Jahrzehnten Millionen von Frauen in die Massenproduktion gezogen, vor allem in der verarbeitenden Industrie in den Städten Süd- und Ostasiens und Lateinamerikas. In Krisenzeiten sind sie in der Textil-, Elektronik- und Dienstleistungsindustrie, wo Frauen etwa 80 Prozent der Beschäftigten ausmachen, oft die Ersten, die entlassen werden, wobei die Unternehmen die Löhne nicht zahlen, die gesetzlichen Kündigungsfristen nicht einhalten und die Regierungen und Gerichte ein Auge davor zudrücken. Am grausamsten ausgebeutet wird die große Zahl von Wanderarbeiterinnen, deren Familien in ihrer Heimat ohne ihre Überweisungen verhungern.

Heute mühen sich männlich dominierte Regierungen auf der ganzen Welt begierig, die Frauen bei der Wahl ihrer Kleidung zu kontrollieren. In Europa fordern Rassist:innen Einschränkungen für das Tragen des Hidschab (Kopftuch) oder Niqab (Gesichtsschleier) und verhängen Verbote für Frauen, die islamische Gesichtsbedeckungen tragen. In Staaten wie Saudi-Arabien und dem Iran hingegen setzt die Religionspolizei obligatorische islamische Kleidervorschriften durch. Radikale salafistische Gruppen und Dschihadisten haben versucht, Frauen alte und unterdrückerische Regeln wieder aufzuerlegen. Wir stehen für folgende Positionen:

  • Gegen alle Formen der gesetzlichen Diskriminierung von Frauen. Gleiches Recht für Frauen, zu wählen, zu arbeiten, sich zu bilden und an allen öffentlichen und sozialen Aktivitäten teilzunehmen.

  • Hilfe für Frauen, um der Beschränkung ihrer Beschäftigung auf den informellen Sektor und Familienunternehmen zu entkommen. Öffentliche Arbeitsprogramme zur Schaffung von Vollzeitstellen mit angemessenen Löhnen für Frauen.

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

  • Alle Frauen sollten unabhängig von ihrem Alter Zugang zu kostenloser Verhütung und Abtreibung haben.

  • Vorgehen gegen sexuelle Gewalt in allen Formen. Ausbau von in öffentlichem Besitz befindlichen, selbstorganisierten Schutzräumen vor häuslicher Gewalt und Vergewaltigung. Selbstverteidigung gegen sexistische Gewalt, unter Kontrolle der Arbeiter:innen- und Frauenbewegung.

  • Nein zu Gesetzen, die Frauen dazu verpflichten, religiöse Kleidung zu tragen, oder es ihnen verbieten. Frauen sollten das verbriefte Recht haben, sich nach ihrem Belieben kleiden zu dürfen.

  • Für ein Verbot von Kinderehen und Zwangsverheiratung.

  • Beendigung der Doppelbelastung der Frauen durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Für eine kostenlose 24-Stunden-Kinderbetreuung und einen massiven Ausbau von preisgünstigen, qualitativ hochwertigen öffentlichen Kantinen, Gemeinschaftsküchen, Restaurants und Wäschereien.

Wir können niemals eine Gesellschaft erreichen, in der alle Menschen gleich sind, wenn wir unsere Entschlossenheit zur Überwindung der sexuellen Ungleichheit nicht in unseren eigenen Widerstandsbewegungen zeigen. Wir müssen das Recht der Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung einfordern, sich unabhängig zu treffen, um Diskriminierung zu erkennen und bekämpfen. Wir sind für das Recht von Frauen auf eine angemessene Vertretung in den Führungsstrukturen und auf die Bildung formeller eigener Strukturen in Parteien und Gewerkschaften.

Für eine internationale proletarische Frauenbewegung, um Frauen im Kampf für ihre Rechte zu mobilisieren, um die Klassenkämpfe überall zu stärken. Für die Verbindung des Kampfs gegen das Kapital mit dem für die Emanzipation der Frauen und eine neue Gesellschaftsordnung, die auf wirklicher Freiheit und Gleichheit beruht. Die Aufgabe kommunistischer Frauen ist es, eine solche Bewegung aufzubauen und sich dafür starkzumachen, sie auf den Weg der sozialen Revolution zu führen.

5.2 Gegen die Unterdrückung von Lesben, Schwulen und nicht-binären Menschen

Die historische Ungleichheit der Geschlechter, die Jahrtausende zurückreicht bis zur Entstehung der Klassengesellschaft und des Staates als Instrument der Ausbeutenden gegenüber den Ausgebeuteten, führte zu repressiven Regeln und Gebräuchen in Bezug auf Sexualität und männliche und weibliche Geschlechterrollen. Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Gesellschaft wurden heterosexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, der Familie oder des Kastensystems sowie Homosexualität streng bestraft, bis hin zur Todesstrafe. Menschen, die gegen die binären Geschlechterrollen verstießen, wurden stigmatisiert, gemobbt, in den Selbstmord getrieben oder ermordet. Nur in einer Minderheit von Ländern sind sie rechtlich gleichgestellt. In Afrika wurden Lesben und Schwulen, als sie gleiche Bürger:innenrechte einforderten, mit einer Welle von Gewalt und Repression überzogen. Die meisten Religionen billigen diese hasserfüllte Unterdrückung.

In sogenannten „liberalen Demokratien“ wie den USA und Westeuropa stehen transsexuelle Menschen im Fadenkreuz der Reaktion. Die extreme Rechte wird bei diesen Attacken von einigen vermeintlich linken und feministischen oder gar „marxistischen“ Gruppen unterstützt, die behaupten, dass trans Rechte die der Frauen verletzten. Die Arbeiter:innenbewegung und die sozialistische Jugend müssen sich überall für LGBTQIA+-Menschen einsetzen.

  • Volle rechtliche Gleichheit für LGBTQIA+-Personen, einschließlich des Rechts auf Lebenspartner:innenschaften und Ehen.

  • Beendigung aller Verfolgungen durch den Staat, die Kirchen, Tempel und Moscheen: Respekt für jede Art von sexueller Orientierung. Jede einvernehmliche sexuelle Aktivität zwischen Erwachsenen sollte eine Frage der persönlichen Entscheidung sein.

  • Verbot jeglicher Diskriminierung und Hassverbrechen gegen LGBTQIA+-Personen.

  • Für das gesetzliche Recht von trans Personen, als das Geschlecht zu leben, sich so zu kleiden und sozialisieren, als das sie sich selbst identifizieren.

  • Für das Recht von trans Personen, sich selbst als das von ihnen gewählte Geschlecht zu identifizieren, einschließlich des Rechts, öffentliche Einrichtungen (einschließlich öffentlicher Toiletten usw.) entsprechend ihrer Geschlechtsidentität zu nutzen.

  • Keine Diskriminierung bei der Wohnungssuche, beim Zugang zu Lebensversicherungen, bei der medizinischen Behandlung, beim Zugang zur Arbeit oder zu Dienstleistungen.

  • Für das Recht von LGBTQIA+-Personen, Kinder zu erziehen.

  • Für das Recht von trans Personen auf uneingeschränkten Zugang zu geschlechtsangleichender Behandlung unter ärztlicher Aufsicht, einschließlich des Rechts von vorpubertären trans Personen auf uneingeschränkten Zugang zu ihre Pubertät hemmenden Medikamenten.

  • Keine Verbote der Aufklärung über die sexuelle Orientierung von Menschen! Keine Einmischung in das Sexualleben von Erwachsenen in beiderseitigem Einvernehmen. Für den freien Ausdruck aller Formen von Sexualität und Beziehungen!

  • Für das Recht von LGBTQIA+-Personen auf gesonderte Treffen und Gruppierung (Caucusrecht), um die Unterdrückung in den Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien zu bekämpfen.

5.3 Für die Befreiung der jungen Menschen

Kapitalistische Krisen treffen Jugendliche besonders hart, weil sie der am wenigsten abgesicherte Teil der Arbeiter:innenschaft sind und am leichtesten entlassen werden können. In den Jahren nach der großen Krise 2008 lag die Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch wie die der Erwachsenen. Es gab weniger Arbeitsplätze für Schulabgänger:innen und Kürzungen von staatlichen Bildungsbudgets, die die Alternative eines Vollzeitstudiums an einer Hochschule stark einschränkten. In den halbkolonialen Slums hat die Verarmung der Familien die brutale Behandlung von Kindern verstärkt. Es ist sicher, dass die nächsten Krisen ähnliche Folgen haben werden.

Gleichzeitig tun die Gewerkschaftsbürokratie und reformistischen Apparate der Arbeiter:innenparteien in vielen Ländern so gut wie nichts, sich für die Jugend einzusetzen, beschneiden und unterdrücken vielmehr ihre Begeisterungsfähigkeit und Rechte. Kein Wunder: Die Jugend hat das Potenzial, in allen Ländern als mächtige revolutionäre Kraft zu wirken, erfüllt von Kampfgeist, frei von vielen Vorurteilen und konservativen Gewohnheiten, die von bürgerlichen und reformistischen Parteien sowie Gewerkschaften eingeimpft werden. Sie sind ein wesentliches Element der revolutionären Vorhut. Eine Fünfte Internationale muss es ihnen ermöglichen, aus ihren eigenen Erfahrungen zu lernen und ihre eigenen Kämpfe zu führen, indem sie die Gründung einer Revolutionären Jugendinternationale fördert. Wir kämpfen für:

  • Arbeitsplätze für alle jungen Menschen zu gleichen Löhnen und Bedingungen wie für ältere Beschäftigte.

  • Abschaffung schlecht bezahlter Praktika, stattdessen Berufsausbildung bei voller Bezahlung mit anschließender Beschäftigungsgarantie.

  • Schluss mit jeder Kinderarbeit.

  • Kostenlose Bildung für alle vom Säuglingsalter bis zum 16. Lebensjahr sowie folgende Weiterbildung für alle, die es wollen, mit einem garantierten Lebensunterhalt. Erlass aller Schulden aus Studienkrediten.

  • Für das Wahlrecht ab 16 Jahren oder mit Eintritt ins Erwerbsalter, falls dieses früher beginnt.

  • Keine Ächtung von Kleidung, Musikstilen oder der Kultur der Jugend. Volle Freiheit der Meinungsäußerung.

  • – Beendigung des verlogenen „Kriegs gegen Drogen“. Legalisierung aller Drogen unter einem staatlichen Monopol, um die Reinheit zu garantieren und die Drogenbanden auszuschalten, mit Bildungs- und Gesundheitsdiensten zur Eindämmung und Beseitigung von Suchtabhängigkeit und gesundheitsgefährdendem Missbrauch.

  • Für Jugendzentren und angemessene menschenwürdige Unterkünfte, die vom Staat finanziert werden, aber unter der demokratischen Kontrolle der Jugendlichen stehen, die sie nutzen.

  • Stoppt die Kürzungen im Bildungswesen. Für massive Investitionen in das öffentliche Bildungssystem. Mehr Lehrpersonal und höhere Löhne. Bau von mehr staatlichen Schulen. Verstaatlichung von Privatschulen.

  • Gegen alle Beschränkungen des freien Zugangs zu allen Bildungseinrichtungen. Keine Schul- und Universitätsgebühren.

  • Nein zu jeglicher religiösen oder privaten Kontrolle über das Schulwesen und für weltliche, staatlich finanzierte Bildung.

  • In der Entwicklung ihres Sexuallebens sind junge Menschen Intoleranz, Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt. Sexualerziehung muss in staatlichen Schulen ohne religiöse oder elterliche Einmischung möglich sein, damit die Jugendlichen ihre Sexualität so leben können, wie sie sich entwickelt, entsprechend ihrer sexuellen Orientierung und ihren eigenen Entscheidungen. Für den freien Zugang zu Diensten der sexuellen und reproduktiven Gesundheit.

  • Keine polizeiliche Überwachung der Beziehungen und Sexualität junger Menschen! Für die freie Entfaltung der Sexualität junger Menschen, frei von Eingriffen des bürgerlichen Staates, religiöser Moral oder familiärer Unterdrückung!

  • Für strenge Gesetze gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung in der Familie, zu Hause, an Schulen, in Kinderheimen und Waisenhäusern sowie am Arbeitsplatz. Schutz der Kinder vor Missbrauch, egal von wem er ausgeübt wird, von Geistlichen, Lehrkräften, Eltern.

  • Keine Kontrolle des Bildungssystems durch den bürgerlichen Staat! Schüler:innen, Lehrer:innen und Vertreter:innen der Arbeiter:innenbewegung sollten die Lehrpläne selbst festlegen und die Schulen demokratisch verwalten.

5.4 Rassismus bekämpfen – Verteidigung von Flüchtlingen und Migrant:innen

Rassismus ist eine der weitestgehenden und bösartigsten der vielen Formen der Unterdrückung, die der Kapitalismus hervorbringt. Seine Wurzeln liegen tief in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung. Der Weltmarkt und der Handel wuchsen unter der Vorherrschaft mächtiger kapitalistischer Staaten, die schwächere Gemeinwesen ausplünderten. Die Sklaverei in Amerika, die Früchte des britischen, holländischen und französischen Imperiums, die Eroberungskriege Deutschlands und Japans – sie alle erforderten, dass die Unterdrücker:innen jenen, die sie versklavten, ihre Eigenschaft als vollwertige Menschen absprachen. Die Afrikaner:innen, die Inder:innen, die Chines:innen, die Südostasiat:innen und das jüdische Volk wurden von den neuen imperialen Mächten als Untermenschen dargestellt, die der Rechte, die sie ihren Bevölkerungen im eigenen Land, wenn auch nur widerwillig, zugestanden, nicht würdig wären.

Durch die systematische Verbreitung der neuen Ideologie des Rassismus rechtfertigten die imperialen Mächte ihre Verbrechen in Übersee, banden ihre eigene Bevölkerung an die Unterstützung nationaler militärischer Abenteuer, wie kriminell diese auch sein mochten, schirmten ihre eigenen Arbeiter:innen vom rebellischen Geist ihrer kolonialen Geschwister ab und förderten tiefe Spaltungen zwischen einheimischen und zugewanderten Teilen der Arbeiterk:innenklasse im Heimatland.

Heute, nach der großen Bürger:innenrechtsbewegung in den USA und den siegreichen nationalen Bewegungen, die die Kolonialist:innen aus Indien, Algerien und Vietnam vertrieben und die Apartheid in Südafrika besiegten, schwört die Bourgeoisie der imperialistischen Mächte auf den Antirassismus. Dennoch diskriminieren dieselben Regierungen systematisch schwarze, afrikanische, asiatische und Migrant:innengemeinschaften in ihren Heimatländern, führen rassistische Einwanderungskontrollen durch und setzen nicht-weiße Minderheiten den schlechtesten Wohnverhältnissen, niedrigsten Löhnen und ständigen Drangsalierungen durch die Polizei aus. Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat die Aufmerksamkeit auf die Tötung junger Afroamerikaner:innen durch bewaffnete Polizist:innen und ähnliche Verfolgungen gegenüber Asiat:innen und Latinos/as gelenkt. In Europa, im Osten wie im Westen, sind Roma und muslimische Gemeinschaften die Opfer von Polizeirazzien und Zwangsabschiebungen, angestachelt durch die unablässige abscheuliche rassistische Propaganda der millionenschweren Medien.

Die so genannte Flüchtlingskrise der EU hat dazu geführt, dass Syrer:innen, Afghan:innen, Iraker:innen und Jemenit:innen, die vor Krieg fliehen, sowie Afrikaner:innen aus Ländern südlich der Sahara auf der Flucht vor Armut und den Auswirkungen des Klimawandels an der Überquerung des Mittelmeers gehindert werden und ihnen Lagerhaft und Abschiebung drohen. Die Arbeiter:innenbewegung muss die Arbeitsmigrant:innen in einen gemeinsamen Kampf gegen Rassismus und Kapitalismus einbinden.

  • Öffnung der Grenzen. Gewährung des Asylrechts für alle, die vor Diktatur, brutalen Kriegen und Unterdrückung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Geschlechtsidentität fliehen.

  • Abschaffung der Kontrollen, die die Freizügigkeit von Arbeitssuchenden behindern, und Gewährung der vollen Staatsbürger:innenschaft, der Sozialhilfe, der Wohn- und Arbeitsrechte.

  • Schluss mit jeder Form der Diskriminierung von Migrant:innen.

  • Gleicher Lohn und gleiche demokratische Rechte, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Religion oder Staatsbürger:innenschaft. Volle Bürger:innenrechte für alle Migrant:innen, einschließlich des Wahlrechts!

  • Für das Recht muslimischer Frauen, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens religiöse Kleidung (Schleier, Niqab, Burka) zu tragen, wenn sie dies wünschen, und für das Recht von Frauen in muslimischen Ländern und Gemeinschaften, keine religiöse Kleidung zu tragen, frei von gesetzlichem, klerikalem oder familiärem Zwang.

  • Volles Asylrecht für alle Menschen, die vor Krieg, Unterdrückung und Armut aus ihren Heimatländern fliehen.

  • Gegen Rassismus und alle Formen der Rassendiskriminierung. Dem Rassismus muss in allen Bereichen der Arbeiter:innenbewegung entgegengetreten werden. Nein zu Streiks gegen die Beschäftigung ausländischer oder migrantischer Arbeitskräfte.

  • Die Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in den Medien tätige Gewerkschafter:innen, müssen eine Kampagne starten, begleitet von direkten Aktionen, um rassistische Hasspropaganda zu beantworten und zu stoppen.

5.5 Nationale Befreiung und die permanente Revolution

Die Worte, die die Dritte Internationale der Ersten hinzufügte: „Arbeiter und unterdrückte Völker aller Länder, vereinigt euch“, spiegeln die Tatsache wider, dass eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur internationalen Befreiung der Arbeiter:innenklasse die nationale Unterdrückung ist: das Weltsystem, das auf der systematischen Unterdrückung der meisten Nationen durch eine Handvoll anderer beruht. Eine dauerhafte Einheit zwischen den Mehrheitsklassen aller Völker kann nicht erreicht werden, wenn eine Nation eine andere unterdrückt.

Heute wird ganzen Nationen – der palästinensischen, kurdischen, Rohingyas, uigurischen, belutschischen, Kaschmiris, tschetschenischen, tamilischen in Sri Lanka, tibetischen und vielen anderen – das Recht auf Selbstbestimmung verweigert. Das Gleiche gilt für viele indigene oder in Stämmen lebende Völkerschaften in Nord- und Südamerika, Südostasien und Afrika. Sie sind ethnischen Säuberungen, Einpferchungen in Konzentrationslagern, der Unterdrückung von Sprache und Kultur und sogar Völkermord ausgesetzt.

Die Arbeiter:innenklassen, insbesondere in den imperialistischen Staaten, deren herrschende Klassen für diese Unterdrückung verantwortlich sind, müssen dem Befreiungskampf der unterdrückten Nationen in vollem Umfang Beistand und praktische Hilfe leisten.

  • Für das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Völker, einschließlich ihres Rechts, einen eigenen Staat zu gründen, wenn sie dies wünschen, und ihres Rechts, ihren Willen frei von jeglichem Zwang und jeder Einschüchterung zu äußern.

  • Für das Recht der indigenen Völker, ihr Land zurückzuerhalten, frei von Siedlungen, die sie zu einer Minderheit machen sollen. Materielle Entschädigung (Wohnraum, Dienstleistungen, Infrastruktur) für das, was sie erlitten haben, bezahlt von den herrschenden Klassen, die ihnen das angetan haben.

  • Für gleiche Rechte und volle Staatsbürger:innenschaft für Angehörige nationaler Minderheiten.

  • Gegen alleingültige Amtssprachen. Gleiches Recht für nationale Minderheiten, ihre Sprachen an den Schulen, bei Gerichten, in Medien und im Umgang mit der öffentlichen Verwaltung zu verwenden.

  • Für das Recht von Migrant:innengemeinschaften, ihre Muttersprache in der Schule zu gebrauchen.

In den halbkolonialen Ländern, die nur dem Namen nach unabhängig sind und der politischen Einmischung und wirtschaftlichen Kontrolle durch die imperialistischen Großmächte unterliegen, haben die Massen immer noch nicht viele der Grundrechte erlangt, die in den ersten kapitalistischen Ländern, in der Englischen Revolution der 1640er Jahre, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 eingeführt wurden. Auch in der halbkolonialen Welt von heute sind viele grundlegende Aufgaben der kapitalistischen Entwicklung wie nationale Unabhängigkeit, Agrarrevolution, demokratische Rechte und die rechtliche Gleichstellung der Frauen noch nicht erfüllt.

Infolgedessen glauben heute viele nationalrevolutionäre Kräfte, die vom bürgerlich-demokratischen Denken und von der „Etappentheorie“ Stalins beeinflusst sind, wie sie immer noch von den offiziellen kommunistischen Parteien vertreten wird, dass die Lösung für die halbkoloniale Unterentwicklung darin besteht, die demokratische Revolution zu vollenden und eine echte nationale Unabhängigkeit und eine moderne Republik zu errichten, und zwar durch ein Bündnis aller Klassen, die sich der Fremdherrschaft widersetzen und die demokratische Entwicklung unterstützen.

Dieses Schema ist die gemeinsame Strategie unterschiedlicher Kräfte in der halbkolonialen Welt, von der Fatah und der PFLP in Palästina bis hin zur demokratischen Bewegung im Iran, der Kommunistischen Partei auf den Philippinen und den Maoist:innen in Nepal. Die Geschichte hat jedoch immer wieder gezeigt, dass die nationale Bourgeoisie in solchen Ländern zu schwach und zu eng mit dem ausländischen Kapital und den imperialistischen Mächten und Konzernen verbunden ist, um eine klassische bürgerliche Revolution zum Sieg zu führen.

Diese Aufgabe fällt der Arbeiter:innenklasse zu. Um die nationale Revolution im Bündnis mit den Bauern und Bäuerinnen anzuführen, müssen die Arbeiter:innen ihre strikte Unabhängigkeit von den Kapitalist:innen bewahren und nicht nur die vollsten demokratischen Rechte durchsetzen, sondern auch die Beschränkungen des Kapitals überwinden; sie können die Macht nicht in den Händen einer bürgerlichen Klasse belassen, die von Natur aus unfähig ist, mit dem Imperialismus zu brechen und nur ihre eigenen Privilegien vor den Massen sichern will. Die Arbeiter:innen müssen unmittelbar die soziale Revolution ansteuern. Dies ist die Strategie der ununterbrochenen oder permanenten Revolution.

Die Arbeiter:innenklasse muss sich für die Durchsetzung voller demokratischer und nationaler Rechte in unterdrückten und halbkolonialen Nationen einsetzen. Sie muss sich an die Spitze des Kampfes gegen die imperialistische Herrschaft stellen, die sich entweder auf Verschuldung, Besetzung, Kontrolle durch multinationale Konzerne oder aufgezwungene und Marionettenregierungen gründet.

Die Organisationen der Arbeiter:innenklasse müssen zur Bildung einer antiimperialistischen Einheitsfront aller Bevölkerungsschichten unter Wahrung ihrer eigenen Unabhängigkeit aufrufen.

Keine Beteiligung der Arbeiter:innenorganisationen an einer bürgerlichen Regierung, wie radikal ihre antiimperialistische Rhetorik auch klingen mag.

  • Für Arbeiter:innen- und Bäuer:innen-Delegiertenräte.

  • Für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung, die von der demokratischen zur sozialen Revolution übergeht, das Eigentum vergesellschaftet und die Kontrolle über Industrie und Landwirtschaft übernimmt, imperialistische Schulden streicht und die Revolution auf andere Länder ausweitet, regionale Föderationen von Arbeiter:innenstaaten und die sozialistische Entwicklung in Angriff nimmt.

6. Der Kampf um die Macht

6.1 Für eine Regierung der Arbeiter:innen und Bäuer:innen

Aus Wirtschaftskrisen und Kriegen und großen Aufschwüngen im Klassenkampf können sich leicht vorrevolutionäre oder tatsächlich revolutionäre Situationen ergeben, in denen die herrschende Klasse gespalten ist und die reformistischen Führer:innen die Kontrolle verlieren, was die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse vor die Notwendigkeit stellt, eine Regierungslösung in ihrem Interesse zu finden. Solche sozialen Krisen warten nicht darauf, dass die Arbeiter:innenklasse eine revolutionäre Massenpartei schafft, die bereit ist, die Macht zu übernehmen. In Ermangelung einer solchen blickt die Klasse weiterhin auf ihre bestehenden Gewerkschafts- und reformistischen Parteiführungen. Wenn rechte Parteien an der Macht sind, wollen reformistische Arbeiter:innen vielleicht nicht erst die nächsten regulären Wahlen abwarten, sondern versuchen, eine rechte Regierung durch direkte Aktionen, Generalstreiks oder Fabrikbesetzungen aus dem Amt zu jagen, und so „ihre eigenen“ Parteien an die Macht zu bringen.

Revolutionär:innen müssen davor warnen, dass die reformistischen Führungen, selbst wenn sie durch Massenaktionen an die Macht gebracht werden, immer noch alles tun werden, um der Kapitalist:innenklasse diese Macht zurückzugeben, indem sie die kampfbereite Klasse demobilisieren. Es dabei zu belassen, die Reformist:innen nur anzuprangern, hieße jedoch, die Methode unseres Übergangsprogramms aufzugeben. Es stellt kein Ultimatum, verlangt nicht, dass die Arbeiter:innen zunächst ihre bestehenden Organisationen oder Führungen aufgeben müssten, bevor sie für die entscheidenden Forderungen und Losungen der Stunde tätig werden könnten, ja, bevor sie für die Machtübernahme kämpfen.

Unter diesen Umständen rufen wir alle bestehenden Arbeiter:innenführungen, sowohl Gewerkschaften als auch Parteien, dazu auf, mit den Kapitalist:innen zu brechen und eine Regierung zu bilden, die die Krise im Interesse der Arbeiter:innenklasse löst und sich gegenüber deren Massenorganisationen verantwortlich zeigt. Die Arbeiter:innenorganisationen sollten fordern, dass eine solche Regierung wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen die kapitalistische Sabotage ergreift, ihre Industrien, Banken usw. enteignet und die Kontrolle der Arbeiter:innen über sie anerkennt und zulässt.

Wenn die Arbeiter:innenklasse eine Regierung erstrebt, die die ökonomischen, ökologischen und kriegerischen Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, löst, kann sich diese nicht auf die bestehenden Organe des bürgerlichen Staates stützen, seien sie politisch, repressiv oder ökonomisch, da diese untrennbar mit der Klasse verbunden sind, die die Probleme verursacht hat und ihre Lösung behindert und die auf ihren höchsten Ebenen mit deren Gefolgsleuten besetzt sind. Sie muss sich stattdessen auf die Kampforgane der Arbeiter:innenklasse verlassen und bereit sein, dem Großkapital ihr Programm der Kontrolle und Enteignung aufzuzwingen. Diese Aufgabe erfordert eine andere Art von Staat als den demokratischsten kapitalistischen, oder, wie Lenin sagte, einen Halbstaat, der durch die Demokratie, Selbstverwaltung und Selbstverteidigung der Produzent:innen funktioniert.

Um die unvermeidliche Sabotage durch die Spitzen des öffentlichen Dienstes, polizeiliche Provokationen, militärische oder „verfassungskonforme“ Putsche zu verhindern, werden wir den Aufbau und die Bewaffnung einer Arbeiter:innenmiliz brauchen und die Kontrolle der Offizier:innenkaste über die einfachen Dienstgrade innerhalb der Armee brechen müssen.

In einer Phase, in der Revolutionär:innen eine wachsende Alternative zu den Reformist:innen darstellen, könnte eine solche Arbeiter:innenregierung als Brücke zur revolutionären Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse dienen, wobei die gesamte Macht in die Hände direkt gewählter Räte aus jederzeit abrufbaren Arbeiter:innendelegierten (Sowjets) übergehen und sich so die Gründung eines revolutionären Staates vollziehen kann.

  • Bruch mit der Bourgeoisie: Alle Arbeiter:innenparteien müssen ihre strenge Unabhängigkeit bewahren und sich weigern, mit den Parteien der Kapitalist:innen auf lokaler oder nationaler Ebene Koalitionsregierungen einzugehen.

  • Für eine Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung: Enteignung der Kapitalist:innenklasse. Verstaatlichung aller Banken, Konzerne, des Großhandels, des Verkehrs, des Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Kommunikationswesens und der Dienstleistungen ohne Entschädigung und unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Die verstaatlichten Banken sollten zu einer einzigen staatlichen Bank unter demokratischer Kontrolle der Arbeiter:innenklasse verschmolzen werden, wobei die Entscheidungen über Investitionen und Ressourcen demokratisch getroffen werden sollten, als Schritt zur Bildung eines zentralen Plans unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und zur Entfaltung einer sozialistischen Wirtschaft.

  • Einführung eines Außenhandelsmonopols und von Kontrolle der Kapitalbewegungen.

  • Die Machtbefugnis einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung sollte auf den Räten (Sowjets) und bewaffneten Milizen der Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen und der städtischen Armen gegründet sein.

  • Die volle Staatsgewalt der Arbeiter:innenklasse kann nur durch die Zerschlagung der bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte und der Arbeiter:innenmiliz erreicht werden.

6.2 Der Aufstand

Unser Ziel ist die politische Macht, die Macht, die Welt für immer zu verändern, damit Ungleichheit, Krisen und Kriege, Ausbeutung und Klassen eine ferne Erinnerung werden. Aber Revolutionär:innen allein machen die Revolution nicht. Es braucht objektive Voraussetzungen: eine tiefe wirtschaftliche, politische und soziale Krise, die die herrschende Klasse nicht lösen kann, so dass sie selbst gespalten wird. Auch subjektive Bedingungen sind erforderlich: Die Arbeiter:innenklasse und die untere Mittelschicht dürfen nicht länger bereit sein, die alte Ordnung aufgrund des Leids und des Chaos, das die herrschende Klasse verursacht hat, weiterhin zu unterstützen. Unter diesen Bedingungen entstehen eine vorrevolutionäre oder revolutionäre Situation, und unter diesen Voraussetzungen kann eine beträchtliche Anzahl von revolutionären Avantgardekämpfer:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse für die Perspektive der Revolution gewinnen.

Revolutionär:innen müssen vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen erkennen und in ihnen die mutigsten Protagonist:innen des Umsturzes der Macht sein. Sie müssen durch entschlossene und richtige Propaganda und Agitation in Massenbewegungen, Aufständen oder Bürgerkriegen um die Führung kämpfen und zielstrebig den Weg weisen. Für revolutionäre Organisationen und Parteien bedeuten das Versäumen revolutionärer Situationen, passives Kommentieren, das Führen eigener Kämpfe getrennt von den Massen, Angst vor der revolutionären Bewegung oder gar Unterordnung unter nichtrevolutionäre Kräfte unverzeihliche zentristische Fehler, die in der Vergangenheit immer wieder zur Niederlage der Arbeiter:innen geführt haben.

Die Übertragung der Macht von einer Klasse auf die andere kann nur durch den Aufstand der ausgebeuteten Massen unter Führung einer revolutionären Partei mit ihrer kämpferischen Vorhut erreicht werden. Da der bürgerliche Staat ein bewaffnetes Unterdrückungsinstrument verkörpert, kann seine Macht nur gebrochen werden, indem man dem Oberkommando und dem Offizier:innenkorps die Kontrolle über diese Kräfte entzieht, die einfachen Soldat:innen für sich gewinnt und die der Konterrevolution treu gebliebenen Truppenteile gewaltsam auflöst.

Wir können den alten Staatsapparat nicht übernehmen; wir müssen ihn zerstören und durch einen völlig neuen Staat ersetzen, einen Staat, in dem die Arbeiter:innenklasse, die Bauern, Bäuerinnen und die städtischen Armen die Gesellschaft durch in den Betrieben, den Barrios, den Dörfern, den Schulen und Universitäten gewählte Delegiertenräte verwalten. Immer wieder sind solche Gremien in revolutionären Krisen entstanden, von der Pariser Kommune über die russischen Sowjets, die deutschen Räte, die chilenischen Cordones bis zu den iranischen Schoras. Sie entstehen als Kampforgane, Räte der Aktion, aber nur eine klare revolutionäre Führung kann sie befähigen, zu Organen des Aufstands und dann zu einer neuen Staatsmacht der Arbeiter:innenklasse zu werden.

Solange es noch eine alte herrschende Klasse gibt, die in der Lage ist, die Macht zurückzuerobern, muss die Arbeiter:innenklasse alles Notwendige tun, um dies zu verhindern. Ein Arbeiter:innenstaat wird zwar die umfassendste und freieste Demokratie für die ehemals ausgebeuteten Klassen sein, aber gleichzeitig eine Diktatur gegen diejenigen, die den Kapitalismus wiederherstellen wollen. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet die Diktatur des Proletariats in Wirklichkeit. Auf sie kann erst verzichtet werden, wenn die mächtigsten herrschenden Klassen unseres Planeten entwaffnet und enteignet worden sind.

Ein Arbeiter:innenstaat darf jedoch nicht zulassen, dass eine Kaste von Bürokrat:innen die Diktatur über die Arbeiter:innen ausübt, und er kann auch kein Staat sein, in dem nur eine Partei existieren darf. Die arbeitenden Massen müssen die Möglichkeit haben, ihre unterschiedlichen Ansichten in verschiedenen Parteien zum Ausdruck zu bringen, die auf demokratische Weise in Wettbewerb miteinander treten, um eine Mehrheit in den Arbeiter:innenräten zu gewinnen und behalten. Unser Sozialismus darf auch keiner sein, in dem ein Präsident, ein Caudillo oder ein lider maximo alle Initiative in seinen Händen konzentriert und sich mit einem Personenkult umgibt wie ein Stalin, ein Mao, ein Castro oder ein Chávez.

Die volle Staatsgewalt der Arbeiter:innenklasse kann nur durch die Zerschlagung der bewaffneten Macht des kapitalistischen Staates, seines militärischen und bürokratischen Apparates und seine Ersetzung durch die Herrschaft der Arbeiter:innenräte und der Arbeiter:innenmiliz selbst erreicht werden.

6.3 Unser Ziel: Weltrevolution und Kommunismus

Der Sozialismus, für den wir kämpfen, braucht Produktionsmittel in großem Maßstab in den Händen der Arbeiter:innenklasse, die ihre Entwicklung demokratisch planen kann, um die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen und Ungleichheit und soziale Klassen schrittweise zu beseitigen.

In einem revolutionären Arbeiter:innenstaat wird es keinen monströsen, bürokratischen Plan geben wie unterm Stalinismus, wo eine Kaste privilegierter Bürokrat:innen versuchte, alles zentral zu entscheiden. Nach der Revolution wird die Arbeiter:innenklasse die Banken, die wichtigsten Finanzinstitutionen, die Verkehrs- und Versorgungsunternehmen und alle wichtigen Industriezweige vergesellschaften. Dies wird die Grundlage für eine Reihe von ineinandergreifenden Plänen bilden, die von der lokalen über die regionale bis zur nationalen und internationalen Ebene integriert und koordiniert sind und jeweils nach einer Debatte von einer Arbeiter:innen- und Verbraucher:innendemokratie beschlossen werden.

Dies ist kein Traum, wie die bürgerlichen Propagandist:innen behaupten. Moderne Technologien machen es möglich, Bedürfnisse und Notwendigkeiten rund um den Erdball in Sekundenschnelle zu entdecken und zu kommunizieren und dann die Produktion und den Transport zu koordinieren, um sie zu erfüllen. Jeder moderne multinationale Konzern arbeitet bereits auf diese Weise. Aber im Gegensatz zu den kapitalistischen Konzernen werden wir die Errungenschaften der modernen Technologien nicht für den Profit einiger weniger, sondern zum Nutzen der gesamten Menschheit einsetzen.

Handwerker:innen, Ladenbesitzer:innen und Kleinbauern und -bäuerinnen werden ihre Familienbetriebe als Privateigentum behalten können, wenn sie dies wünschen. Gleichzeitig werden sie ermutigt, sich von der Unsicherheit des Marktes und der Verdrängungskonkurrenz zu befreien, indem sie ihre Produktion auf den gesamtgesellschaftlichen Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung ausrichten. Die Vorstellung, dass der Sozialismus auf Privateigentum in kleinem Maßstab oder auf Genossenschaften beruhen kann, ist eine rückwärtsgewandte Utopie, die mit der Zeit nur die Bedingungen der Marktwirtschaft wiederherstellen und die Kapitalakkumulation erneut fördern kann.

Die Vergesellschaftung des bäuerlichen Kleinbesitzes, der kleinen Läden usw. muss jedoch schrittweise und freiwillig erfolgen und nicht zwangsweise wie unter Stalin.

Unabhängig davon, ob die Revolution zuerst in einem rückständigen, halbkolonialen oder in einem fortgeschrittenen, imperialistischen Land ausbricht und triumphiert, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie sich rasch über die Grenzen des betreffenden Staates hinaus ausbreitet. Dies ist notwendig, um das Erreichte zu verteidigen und das volle Potenzial der sozialistischen Gesellschaft auszuschöpfen. Wo immer die Arbeiter:innen die Macht ergreifen, werden sie von ausländischen kapitalistischen Mächten angegriffen, v. a. von den imperialistischen Großmächten. Die wirksamste Form der Verteidigung ist daher die Ausbreitung der Revolution in diesen Ländern durch den vollen Einsatz für die dortigen Arbeiter:innenklassen im Machtkampf. Außerdem ist es unmöglich, den Aufbau des Sozialismus auf nationaler Ebene zu vollenden, wie der Niedergang und der endgültige Zusammenbruch der Sowjetunion bewiesen haben. Der „Sozialismus in einem Land“ bleibt eine reaktionäre Utopie.

Die vom Kapitalismus über Jahrhunderte entwickelten Produktivkräfte erfordern eine internationale Ordnung. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Nationalstaat selbst zu einem Hindernis für ihre Weiterentwicklung geworden. Die Notwendigkeit der Strategie der permanenten Revolution ergibt sich daher nicht nur aus der Notwendigkeit, den anhaltenden Widerstand der alten herrschenden Klassen zu bekämpfen, sondern aus dem Umstand, dass eine rationale und nachhaltige Entfaltung der Produktivkräfte der Menschheit letztlich nur auf Weltebene erfolgen kann.

Auf Grundlage einer weltumspannenden Planwirtschaft und einer Weltföderation sozialistischer Republiken können wir uns schließlich auf ein gemeinsames Wohlstandsniveau und die vollständige Gleichberechtigung der gesamten Menschheit zubewegen. Als Ergebnis dieses Prozesses werden soziale Klassen und die repressiven Merkmale des Staates allmählich absterben – es wird das erreicht, was Marx, Engels und Lenin Kommunismus nannten. Aber zuerst müssen wir diesen Prozess ins Werk setzen. In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Krise des Systems erschüttert wird, müssen wir den Kapitalismus in den Abgrund stürzen. Die Weltrevolution, und nichts anderes, ist die Aufgabe der kommenden Fünften Internationale.

  • Arbeiter:innen und unterdrückte Völker der Welt – vereinigt euch!

  • Vorwärts zu einer neuen, einer Fünften Internationale!

7. Eine revolutionäre Partei und Internationale

Es war Karl Marx, der zuerst erklärt hatte, dass die Befreiung der Arbeiter:innenklasse von der kapitalistischen Herrschaft nur das Werk der Arbeiter:innenklasse selbst sein könne und niemals durch „Retter:innen von oben“ erreicht werden könne. Im Gegensatz zu den Anarchist:innen stellte er jedoch nicht die Mystik der „Selbsttätigkeit“ oder des „Sozialismus von unten“ der politischen Aktion, sei sie „direkt“ oder „durch Wahlen“, entgegen, sondern die Notwendigkeit, eine von allen kapitalistischen Parteien oder Persönlichkeiten unabhängige Partei der Arbeiter:innenklasse aufzubauen. Eine solche Partei, so betonte er, muss internationalistisch sein, wie es der Kampfruf aus dem Kommunistischen Manifest und der Eröffnungsrede der Ersten Internationale „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch“ zum Ausdruck bringt.

Sie muss die revolutionäre Theorie mit der Praxis vereinen. Ausgangspunkt ist das Verständnis der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, des Charakters der Ausbeutung, der Wiederkehr wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen, die die Bedingungen für die Befreiung nicht nur der Arbeiter:innen, sondern aller Unterdrückten schaffen. Die revolutionäre Theorie steht bereit, um angewendet zu werden und die Welt zu verändern. Im Gegenzug bereichert die Praxis einer solchen Partei ihrerseits die Theorie und entwickelt sie weiter.

Es war der russische Revolutionär Lenin, der diese Lehren zu einem praktischen Leitfaden für den Aufbau einer revolutionären Partei destillierte, einer Partei, deren Aufgabe es sein sollte, die Arbeiter:innenklasse in all ihren großen Kämpfen zum Angriff auf den kapitalistischen Staat und seine ausgeklügelten Instrumente der Unterdrückung und Täuschung sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch innerhalb der Arbeiter:innenbewegungen selbst (reformistische Parteien, Gewerkschaftsbürokratie) zu führen. Das Modell der Partei, das Lenin entwickelt hat, der Bolschewismus, kann nicht als fertige Formel, auf jede Situation aufgepfropft werden. Das Aussehen einer revolutionären Partei kann und wird sich je nach den historischen und nationalen Bedingungen ändern und anpassen.

Es gibt jedoch ausschlaggebende Grundprinzipien, die das Fundament jeder wirksamen revolutionären Partei bilden müssen. Diese wurden zuerst in Lenins klassischem Werk „Was tun?“ beschrieben. Darin findet sich auch die bis heute sehr umstrittene Aussage: „Klassenpolitisches Bewusstsein kann der Arbeiter:innenklasse nur von außen, d. h. nur von außerhalb des ökonomischen Kampfes vermittelt werden“. Damit wird weder geleugnet, dass Klassenbewusstsein im Kapitalismus oft in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit den Kapitalist:innen und ihrem Staat seine Keimzelle hat, noch bedeutet es, dass die Arbeiter:innenklasse sich nicht selbst emanzipieren kann, dass die Arbeiter:innen von „Außenseiter:innen“ geführt werden müssten, von einer Elite von Intellektuellen aus der Mittelschicht oder „Berufsrevolutionär:innen“, die als Parteibürokratie missverstanden werden könnten. Es bedeutet ganz einfach, dass Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen, also ausschließlich wirtschaftliche Kämpfe, die von den Gewerkschaften allein geführt werden,sich nicht spontan zu einem Kampf für den Sozialismus entwickeln werden; sie werden nicht automatisch ein revolutionäres sozialistisches Bewusstsein schaffen.

Die „spontane“ Perspektivee der Gewerkschaften geht von der des jeweiligen Berufs oder der jeweiligen Branche aus, und ab einem bestimmten Punkt behindern diese Unterteilungen eine klassenumgreifende Sichtweise. Zweitens sind die Arbeiter:innen immer starken Einflüssen „von außen“ ausgesetzt, d. h. von einer Gesellschaft, in der die herrschenden Ideen die der herrschenden Klasse sind. Dies wird durch die unaufhörliche Propaganda in den Schulen, Medien, Kirchen, Moscheen und Tempeln erreicht, die alle betonen, dass der Kapitalismus das einzig mögliche System sei.

Dieses propagandistische Trommelfeuer, das darauf abzielt, die Arbeiter:innenschaft zu spalten und von den Ideen der herrschenden Klasse beherrschen zu lassen, kann nur durch die Prinzipien des Sozialismus und der Revolution gekontert werden – und diese kommen „von außerhalb“ der Sphäre der reinen und einfachen Gewerkschaftsbewegung. Sie können systematisch nur von einer politischen Partei geschaffen und verbreitet werden, deren Ziel es ist, alle zersplitterten und sektoralen Kämpfe auf eine politische Dimension zu heben, auf der der Kapitalismus als Feind identifiziert werden kann. Natürlich kann diese Partei nicht „außerhalb“ der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse stehen. In dieser Hinsicht muss sie sich radikal von den reformistischen parlamentarischen Parteien unterscheiden, die den Kampf in den Betrieben den Gewerkschaften oder vielmehr ihren Funktionär:innen überlassen, die Politik weitgehend auf Wahlen beschränken und deren Parteiprogramme die Ziele auf das verkürzen, was die Führer:innen für populär halten und ihnen „Macht“, d. h. ein Regierungsamt in der Zwangsjacke des kapitalistischen Staates, verschaffen wird.

Eine leninistische Partei braucht Mitglieder, die die unermüdlichsten und aufopferungsvollsten Aktivist:innen sind, die nicht nur richtungweisend in die gegenwärtigen Kämpfe eingreifen, sondern auch erklären können, dass der Kapitalismus die Ursache für Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit und Sozialkahlschlag und darüber hinaus auch für Rassismus, Sexismus und Krieg ist. Sie müssen an den gefährlichsten Orten des Klassenkampfes zu finden sein. Sie müssen sich die Anerkennung ihrer Kolleg:innen als die zuverlässigsten Anführer:innen, die Vorhut des Klassenkampfes, erarbeiten.

Laut Lenin müssen die Parteimitglieder Kader sein, eine militärische Analogie, die sich auf das Netzwerk von Unter- und Feldoffizier:innen einer Armee bezieht. Sie müssen Berufsrevolutionär:innen sein, Personen, die nicht nur ein paar freie Abende der Politik widmen, sondern sie zum Mittelpunkt ihres Lebens machen. Die große Mehrheit dieser Menschen muss aus Arbeiter:innen bestehen, wenn sie im Klassenkampf führend sein will. Eine revolutionäre Partei kann das Wachstum einer Massenbewegung der Arbeiter:innenklasse, mit der sie untrennbar verschmolzen ist, sprunghaft ankurbeln. Das Beispiel der bolschewistischen Partei zeigt, warum sie in der Lage war, die „spontane“ Revolution vom Februar 1917 in die bewusste Machteroberung durch die Arbeiter:innenräte im Oktober zu verwandeln. Diese Schlüsselprinzipien revolutionärer Politik, des revolutionären Programms und des Internationalismus sind heute genauso ausschlaggebend wie zu der Zeit, als Lenin sie entwickelte, und es ist die brennende Aufgabe der revolutionären Sozialist:innen, sie in den gewaltigen Kämpfen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen, in die Tat umzusetzen.

Nachdem sie gesehen hatten, dass die Massenparteien der Arbeiter:innenbewegung, sozialdemokratische, Labour und solche, die sich „kommunistisch“ nennen, allgemein ein Hindernis für die Entfaltung der Kampfkräfte darstellten, zogen leider viele junge Aktivist:innen während der Massenkämpfe von 2009 – 2015 daraus den Schluss, dass politische Parteien als solche den Kampf nicht voranbringen könnten. Sie setzten ihnen spontane soziale Bewegungen entgegen wie bei der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo, der Wall Street in New York, der Puerta del Sol in Madrid oder des Syntagma-Platzes in Athen. Die Alternative sei, so dachten sie, sich auf eine direkte Massendemokratie zu beschränken. Aber das Leben hat bewiesen, dass die Demokratie eines einzigen Ortes oder eines kurzen Augenblicks, auch wenn sie manchmal zum Sturz von Regierungen oder Diktator:innen führt, diese nicht durch die Macht der einfachen arbeitenden Menschen, der Ausgebeuteten und Unterdrückten ersetzen kann. Ein solcher tatsächlicher Machtwechsel innerhalb der Gesellschaft wird nur dann stattfinden, wenn sich eine politische Gegenformation zu den alten Parteien herausbildet, mit der Entschlossenheit und Fähigkeit, diesen auch zu verwirklichen.

Eine revolutionäre Partei muss mit dem Reformismus der alten Linken brechen. Ihre eigenen Mitglieder müssen sie demokratisch kontrollieren. Ihre Aufgabe besteht nicht in erster Linie darin, Wahlen zu gewinnen, und deshalb sollte sie nicht von ihren Abgeordneten und örtlichen Funktionär:innen kontrolliert werden, die über die Mitgliedschaft herrschen, ihre eigene Politik machen und dafür Spitzengehälter und Spesen kassieren.

Im Gegensatz zu den kapitalistischen Parteien darf die revolutionäre Partei keine Versprechungen machen und dann, wenn sie an der Macht ist, das tun, was die Bosse und Bänker:innen diktieren. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Anhänger:innenschaft von Millionen von Menschen zu gewinnen, indem sie diese zum Handeln anleitet. Die Wahlen sollten dazu genutzt werden, ihr Programm für Massenaktionen bekanntzumachen, Propagandist:innen und Agitator:innen in die Räte und Versammlungen zu schicken, um die Vertreter:innen der Kapitalist:innen anzuprangern, aber vor allem, um in aller Öffentlichkeit zu den Massen zu sprechen. Ihre Aufgabe ist es nicht, vorgeblich populäre, in Wirklichkeit aber von den millionenschweren Medien diktierte Ideen zu propagieren. Wenn Parteiangehörige Mandate als Abgeordnete bzw. Ratsmitglieder gewinnen, dürfen nicht diese die Partei kontrollieren, sondern müssen umgekehrt der Kontrolle der Partei unterstehen.

Eine solche revolutionäre Partei könnte heute einen enormen Einfluss innerhalb der Widerstandsbewegungen ausüben, indem sie für Taktiken argumentiert, die die Bewegung voranbringen, allen Ausgebeuteten und Unterdrückten eine Stimme gibt, Rassismus, Sexismus und imperialistische Kriege ebenso bekämpft wie Ausbeutung und Armut. Es ist die Aufgabe einer revolutionären Partei, sich in jede Bewegung zu stürzen, sei es für höhere Löhne oder mehr Demokratie, für Gerechtigkeit zugunsten der national, rassistisch oder geschlechtlich Unterdrückten, und in jedem Fall die Praxis einer einheitlichen Kampffront zu verfechten, während sie geduldig ihre Politik und ihr Programm erklärt und die besten Kämpfer:innen in ihre Reihen holt. In den Gewerkschaften würde eine solche Partei die Basis organisieren, um die Führung zu übernehmen. Während die Gewerkschaftsspitzen zögern, wirksame Maßnahmen gegen die Kürzungen zu ergreifen, könnte eine revolutionäre Partei die Arbeiter:innen darauf orientieren, einen Generalstreik zu koordinieren, mit oder ohne die Gewerkschaftsführer.:innen. Nur mit den Erfahrungen solcher prinzipienfesten Kämpfe wird eine revolutionäre Partei, die diesen Namen verdient, auf eine revolutionäre Situation vorbereitet sein, in der der Kapitalismus gestürzt werden kann.

7.1 Für eine neue, Fünfte Internationale!

Die Arbeit zum Aufbau neuer revolutionärer Parteien in jedem Land muss von Anfang an mit dem Kampf für eine neue Internationale verbunden sein. Die objektive Notwendigkeit, die dies gebietet, sind die globalen Antworten, die zur Bekämpfung von Krieg, kapitalistischer Krise und Klimakatastrophe erforderlich sind. Das Programm zur Bekämpfung dieser und vieler anderer damit verbundener Gefahren muss auf einer internationalen Aktion und einer internationalen Organisation beruhen, die sich dafür starkmacht. Diese Organisation ist eine Fünfte Internationale, die an die Errungenschaften der Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten Internationale vor ihrem Zusammenbruch und ihrer Degeneration anknüpft und auf deren Programmen und Praxis aufbaut.

Es ist eine völlig falsche Vorstellung, dass es vor der Gründung einer Internationale zunächst eine Reihe von starken nationalen Parteien geben muss, die jeweils in „ihrer“ Arbeiter:innenklasse fest verankert sind. Diese Konzeption verkennt, dass alle Organisationen, wenn sie isoliert voneinander aufgebaut werden, dazu neigen werden, eine Politik zu verfolgen, die die Grenzen ihres spezifischen Milieus widerspiegelt, und Gefahr laufen, dem Druck und den Verzerrungen eines nationalen Charakters zu erliegen. Die Marx’sche Losung – Arbeiter:innen aller Länder, vereinigt euch – ist keine rhetorische Floskel.

Dieses Ziel für die Parteien der Arbeiter:innenklasse muss damit verbunden sein, alle bestehenden Massenorganisationen der Ausgebeuteten und Unterdrückten zu ermutigen, den gleichen Weg zu gehen, angefangen beim Aufbau organisierter ständiger Verbindungen der Solidarität und gemeinsamer Aktionen mit Gleichgesinnten in aller Welt. Der Aufbau einer neuen Internationale ist keine Aufgabe, die auf kleine revolutionäre Propagandagruppen beschränkt ist, und sie muss auch nicht auf deren Vereinigung oder die Lösung ihrer strategischen und taktischen Differenzen warten, so wichtig dies auch sein mag.

Die Aufgabe, eine Nachfolge der vier historischen Internationalen aufzubauen, muss der Massenvorhut der Arbeiter:innen gestellt werden, denjenigen, die heute an der Spitze der Kämpfe stehen. Es ist möglich, dass die Schicht der Arbeiter:innenmilitanten und die Aktivist:innen der vielen Bewegungen der sozial, ethnisch oder geschlechtlich Unterdrückten, die nicht von bürgerlichen Führungen dominiert werden, eine internationale Versammlung oder ein internationales Forum schaffen können, in denen dieser Aufbau – ähnlich wie bei der Internationalen Arbeiter:innenassoziation (der Ersten Internationale) oder der sogenannten antikapitalistischen Bewegung um die Wende zum 21.Jahrhundert – beginnen kann.

Das schließt jedoch nicht aus, dass kleine Tendenzen wertvolle Arbeit leisten, indem sie Propaganda betreiben und sich in begrenztem Umfang im Klassenkampf engagieren, internationale Organisationen aufbauen und gemeinsame Programme entwickeln. Trotzki war der Auffassung, dass revolutionäre Kommunist:innen schon in den frühesten Vorphasen der Partei Gesinnungsgenoss:innen auf der ganzen Welt suchen und die Strategie, Taktik und organisatorischen Grundlagen für eine „Weltpartei der sozialistischen Revolution“ schaffen müssen. So gründeten er und seine Mitstreiter:innen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs die Vierte Internationale. Aufgrund der ungünstigen objektiven Bedingungen – der Zweite Weltkrieg und das Überleben und die Ausbreitung sowohl der bürgerlichen Demokratie als auch der degenerierten Arbeite:innenrstaaten – übten der Stalinismus und die Sozialdemokratie enormen Druck auf die winzigen Kaderkerne aus, und die Vierte Internationale machte eine zentristische Degeneration und Zersplitterung durch, lange bevor sie mit den revolutionären Massenvorhutkräften verschmelzen konnte.

Nichtsdestotrotz hat die trotzkistische Tradition in ihren verschiedenen Abspaltungen und innerhalb einer Vielzahl von internationalen Tendenzen oft einige wichtige Prinzipien ihres Gründers bewahrt. Ihr Fehler bestand und besteht darin zu glauben, dass sie mit ihren geringen Kräften immer noch die Vierte Internationale Trotzkis repräsentiere oder auch dass entweder durch einfaches Wachstum oder die Wiedervereinigung einiger oder aller ihrer entarteten Fragmente eine neue Internationale gegründet werden könnte. Es ist ein ähnlicher Irrtum zu glauben, dass kleine Propagandagesellschaften, die Dutzende oder gar Tausende zählen, in Wahrheit revolutionäre Parteien darstellen.

Die Revolution des 21. Jahrhunderts und eine erneuerte klassenbewusste Arbeiter:innenbewegung, die politisch unabhängig von allen bürgerlichen Kräften ist, muss von Anfang an auf dem Prinzip des Internationalismus aufbauen, d. h. im Hier und Jetzt die Aufgabe angehen, eine neue, proletarische internationale Kampforganisation aufzubauen.

Der Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit, die Internationalisierung der Produktion, die Angriffe auf die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und Migrant:innen, die Bedrohung durch Handels- und heiße Kriege zwischen rivalisierenden imperialistischen Blöcken, um nur einige der Schlagzeilen unserer Agenda zu nennen, erfordern einen koordinierten gemeinsamen Kampf über Grenzen hinweg und revolutionäre Veränderungen im Weltmaßstab. Ein Rückzug auf nationale „Lösungen“ kann die Reaktion nur stärken, ja ist selbst ein Ausdruck des Erstarkens dieser Kräfte.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte die Antiglobalisierungsbewegung Foren des Austauschs und setzte auf ihrem Höhepunkt Massenaktionen in Gang oder verband sie miteinander, darunter Demonstrationen von Millionen gegen den Irakkrieg. Einige ihrer führenden Köpfe sprachen die Möglichkeit einer Fünften Internationale an, um sie dann wieder fallen zu lassen, als sich eine neue Krise, die Große Rezession, am Horizont abzeichnete. Letztlich scheiterte sie jedoch daran, dass ihre reformistische und kleinbürgerliche Führung nicht bereit war, in national verankerten Massenorganisationen, seien es Gewerkschaften oder politische Parteien, für verbindliche internationale Entscheidungen aufzutreten.

Die Große Rezession und die verheerenden Auswirkungen der Krise, die Massenbewegungen des Arabischen Frühlings, die Kämpfe in Griechenland und die Besetzung von Plätzen haben die Notwendigkeit einer Internationale erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Doch auch hier versagte die Linke auf globaler und kontinentaler Ebene. So ist die europäische reformistische, aber auch die radikale und antikapitalistische Linke an der Aufgabe, den Widerstand gegen den kapitalistischen Sozialraubzug europaweit zu vereinen, völlig gescheitert. Sie hat sich als unfähig erwiesen, auch nur ansatzweise ein europäisches Aktionsprogramm gegen Krise und Kapitalismus zu entwickeln. Trotz ihres populistischen Charakters hatten der Chávismus und die bolivarische Bewegung vorübergehend den gemeinsamen Kampf in Lateinamerika und darüber hinaus proklamiert. Doch dies erwies sich als Märchen.

Nach dem Beginn einer neuen globalen Krisenperiode, nach der größten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg, hat sich die reformistische Arbeiter:innenbewegung auf das nationale Terrain zurückgezogen. Ihr „Internationalismus“ beschränkt sich im Wesentlichen auf Sonntagsreden und Grußadressen. Dies entspricht der Position der Arbeiter:innenbürokratie, deren „Verhandlungsmacht“ an ihre nationale Kapitalist:innenklasse gebunden ist und dabei hinter der Internationalisierung des Kapitals selbst zurückbleibt.

Auch die „radikale“ linksreformistische, zentristische, anarchistische oder libertäre Linke sucht heute ihr Heil in der Orientierung auf das nationale Rückzugsgebiet. Selbst den meisten „internationalen Organisationen“ gelingt es heute nicht mehr, ihre Politik auf ein internationales Programm, eine gemeinsame Strategie und Taktik zu gründen. Entweder sind sie national ausgerichtete Sekten, um die andere Sektionen wie Satelliten kreisen, oder sie sind zunehmend nur noch lose Netzwerke, die sich weigern, verbindliche Beschlüsse zu fassen. Damit werfen sie nicht nur alle Lehren aus dem Scheitern der Antiglobalisierungsbewegung, sondern auch der Degeneration der Zweiten und Dritten Internationale über Bord.

Das bedeutet, dass der größte Teil der globalen Linken eine politisch passive, wenn nicht gar bremsende Haltung gegenüber den spontanen Tendenzen zur Bildung internationaler Bewegungen einnimmt. Dabei haben sich in den letzten Jahren internationale Kampagnen und Bewegungen über nationale Grenzen hinweg ausgebreitet wie die #MeToo-Frauenbewegung gegen sexistische Übergriffe, der Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels und die Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, die Flüchtlingsbewegungen, die die Abgrenzungspolitik der EU und USA in Frage stellten.

Dann gab es Ansätze zur grenzüberschreitenden Koordinierung von Arbeiter:innenkämpfen, Solidaritätsbewegungen gegen imperialistische Interventionen und reaktionäre Putschversuche. All diese Mobilisierungen stellen Möglichkeiten für grenzüberschreitende, ja, Erdteile übergreifende Kämpfe und koordinierte Aktionen dar. Sie gehen jedoch noch nicht über die „Vernetzung“ eigenständiger nationaler Kampagnen hinaus, erst recht entwickeln sie kein internationales Programm für koordinierte Aktionen. Dies ist jedoch nicht die Schuld der Aktivist:innen, die sie in Gang gesetzt haben. Es ist vor allem das Versäumnis der organisierten Linken.

Viele von ihnen haben aus den Niederlagen die grundfalsche Schlussfolgerung gezogen, dass internationale Kämpfe und der Aufbau einer Internationale heute nicht auf der Tagesordnung stehen könnten, größere Organisationen und Bewegungen zunächst auf nationaler Ebene aufgebaut und entwickelt werden müssten. Nur auf dieser Grundlage sei eine grenzüberschreitende Koordination von Kämpfen und Organisationen möglich und sinnvoll. Dieses platonische Verhältnis zum internationalen Klassenkampf stellt ein grundsätzliches politisches Problem unserer Zeit dar, es ist selbst Ausdruck eines globalen Rechtsrucks, eines Erstarkens des Nationalismus, und so verschärft die nationalbornierte Politik das Problem.

Revolutionäre Marxist:innen, Internationalist:innen und Antikapitalist:innen müssen diese reaktionäre Tendenz unversöhnlich bekämpfen. Sie müssen sich den spontanen internationalistischen Tendenzen unter den Arbeiter:innen, in der Frauenbewegung, der Jugend, den Kämpfen gegen Imperialismus und Umweltzerstörung zuwenden. Nur so wird es möglich sein, diese Aktivist:innen und Kämpfer:innen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen. So wie Revolutionär:innen für die Umgestaltung der Gewerkschaften auf internationaler Ebene kämpfen müssen, so müssen sie sich für länderübergreifende Aktionskonferenzen und eine demokratisch verantwortete Kampfkoordination einsetzen. Die Sozialforen, die sich Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts formierten, können als Modell dienen, ohne ihre Schwächen, das Fehlen verbindlicher Beschlüsse und gemeinsamer Aktionen, zu wiederholen.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in Erhebungen auf nationaler Ebene sollten Revolutionär:innen stets die Notwendigkeit einer neuen Internationale betonen. Die Gefahr eines imperialistischen Krieges, die uns jetzt droht, macht dies umso dringlicher. Wir treten zwar von Anfang an für ein revolutionäres Programm ein, aber wir können die Zustimmung zu diesem Programm nicht zur Vorbedingung für gemeinsame internationale Kampfstrukturen und echte Schritte zum Aufbau einer neuen Masseninternationale machen. Um wirksam und zielstrebig für eine solche Perspektive eintreten zu können, müssen Revolutionär:innen selbst auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms von Übergangsforderungen, eines Programms der sozialistischen Weltrevolution, kämpfen.

Wir rufen alle Genoss:innen, alle sozialistischen, kommunistischen und trotzkistischen Strömungen, die mit einer solchen Perspektive übereinstimmen, dazu auf, ein internationales Programm, das wir hier zur Diskussion stellen, als eine gemeinsame revolutionäre Antwort auf die bevorstehenden Angriffe zu erarbeiten.

LFI-Kongress, 25. Juni 2023




Tarifeinigung bei der GDL: Die 35-Stundenwoche kommt, aber …

Stefan Katzer, Neue Internationale 282, Mai 2024

Die Tarifverhandlungen zwischen der GDL und Deutschen Bahn sind beendet. Nach sechs Streikrunden, die sich über mehrere Monate hinzogen, konnte die GDL ihre Kernforderung schließlich weitgehend durchsetzen: die Reduzierung der Arbeitszeit für Schichtarbeiter:innen auf 35 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Wochenarbeitszeit soll nach der erzielten Einigung mit der Deutschen Bahn zwischen 2026 und 2029 schrittweise auf die nun vereinbarten 35 Stunden reduziert werden.

Für die Erfüllung dieser zentralen Forderung haben die Kolleg:innen der GDL hart gekämpft. Sie mussten sich dabei von bürgerlichen Medien und Politiker:innen immer wieder vorhalten lassen, egoistisch zu agieren und die Interessen der Bahnreisenden nicht zu berücksichtigen. Politiker:innen der FDP und CDU/CSU forderten deshalb während des Streiks immer wieder eine Einschränkung des Streikrechts, da dieses von der GDL unverhältnismäßig eingesetzt würde, um vermeintlich vollkommen überzogene Forderungen durchzusetzen.

Zentrale Forderung erkämpft

Betrachten wir den Abschluss, so hebt er sich positiv von denen der DGB-Gewerkschaften ab insofern, als ein zentrales Kampfziel, wenn auch längst nicht für alle Beschäftigten oder Mitglieder der GDL, erreicht wurde. Die 35-Stundenwoche stellt, auch wenn sie, wie wir sehen werden, mit einigen Zugeständnissen erkauft wurde, einen Teilerfolg dar. Nun steht es den Kolleg:innen frei zu wählen, ob sie ihre Arbeitszeit reduzieren oder weiterhin 40 Stunden arbeiten möchten, wobei jede zusätzliche Stunde mit einer Erhöhung von 2,7 % entlohnt werden soll. Allerdings gelten zugleich auch schmerzhafte Abstriche. Erstens wurde im Gegenzug für die Arbeitszeitverkürzung die Zahl zusätzlicher Urlaubstage von 12 auf 6 reduziert. Zweitens beinhaltet das Wahlmodell auch, dass angesichts der Personalknappheit weiter Druck ausgeübt werden wird, doch das 40-Stundenmodell statt der 35 Stunden zu „wählen“. Damit haben sie dann zwar mehr auf dem Konto, aber auch noch mehr Stress bei einer ohnedies schon überlasteten Belegschaft.

Noch größer sind die Probleme, wenn wir auf die Frage des Entgeltes blicken. GDL und Deutsche Bahn haben sich darauf verständigt, eine zweiteilige Erhöhung der Entgelte von insgesamt 420 Euro vorzunehmen. Die erste Erhöhung soll im August diesen Jahres erfolgen, die zweite im April 2025, wobei die Erhöhung jeweils 210 Euro betragen soll. Darüber hinaus wird eine Inflationsausgleichsprämie von 2.850 Euro in zwei Stufen ausgezahlt werden. Auszubildende sollen jeweils die Hälfte der geplanten Erhöhungen erhalten.

Damit bleibt die GDL deutlich hinter ihrer Forderung von 555 Euro bei einer Laufzeit von einem Jahr zurück. Bei der Inflationsprämie von 3.000 Euro fallen die Abstriche vergleichsweise gering aus. Doch diese stellt keine tabellenwirksame Erhöhung dar, was sich langfristig negativ auf die Einkommenssituation der Beschäftigten auswirkt. Die nun festgelegte Laufzeit mit 26 Monaten ist sehr lang, rechnet man die 420 Euro auf ein Jahr um, so bleiben von den geforderten 555 Euro gerade 194. Das kann sich noch bitter rächen, sollte die Inflation in dieser Zeit wieder stärker ansteigen und damit die nun erkämpften Erhöhungen auffressen.

Mit der Forderung, bestehende Tarifverträge für Netzbetrieb und -instandhaltung zu übernehmen, setzte sich die GDL ebenfalls nicht durch.

Schließlich hat der Abschluss auch Auswirkungen auf die Tarifvereinbarungen der GDL mit anderen privaten Verkehrsunternehmen. Diese sind z. T. besser als der Abschluss bei der Bahn, inkludieren aber auch den Vorbehalt, dass sie nur gelten, sofern auch die Bahn AG diese übernimmt. Bei eine Pressekonferenz hat „Kämpfer“ Weselsky in bester sozialpartnerschaftlichen Manier auch schon verkündet, dass diese Unternehmen auf ihn zukommen mögen, er stünde für eine „gütliche“ Einigung gern zur Verfügung.

Auf die volle Durchsetzung der aufgestellten Forderungen war die Strategie der Gewerkschaftsführung um den Vorsitzenden Claus Weselsky erst gar nicht ausgerichtet. Hierin unterscheidet sie sich nicht von denjenigen der DBG-Gewerkschaften, die die aufgestellten Forderungen der Kolleg:innen in intransparenten Verhandlungen häufig abmildern oder den Kampf abwürgen, ohne dass die Kolleg:innen dies nachvollziehen können.

Bürokrat Weselsky

Wäre die volle Durchsetzung der Forderungen das Ziel gewesen, hätte Weselsky den von den Kolleg:innen in einer Urabstimmung Ende Dezember 2023 befürworteten unbefristeten Erzwingungsstreik auf die Tagesordnung setzen müssen, um den Druck auf die Deutsche Bahn deutlich zu erhöhen. Das tat er aber nicht. Stattdessen ignorierte er das Votum der Beschäftigten und nutzte sein Mandat, um hinter verschlossenen Türen in Verhandlungen mit dem Bahnvorstand zu treten, der seinerseits die Unmöglichkeit der Erfüllung der Kernforderung der GDL immer wieder betonte, um ihr schließlich doch, wenn auch im Gegenzug für massive Abstriche beim Entgelt, nachzugeben. Dieses undemokratische Manöver der Gewerkschaftsbürokratie macht deutlich, dass die GDL sich allenfalls partiell von den DGB-Gewerkschaften unterscheidet und keinesfalls ein wirkliches Kampforgan in den Händen der Beschäftigten darstellt.

Von vornherein fokussierte Weselsky auf die Durchsetzung der in der Tat sehr bedeutenden Forderung der Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden. Dass die GDL sich hier durchsetzen konnte, ist ein wichtiges Signal für andere Kolleg:innen. Es macht deutlich, was möglich ist, wenn die Führung der Gewerkschaften nicht von vornherein mit beiden Füßen auf der Bremse steht, um die berechtigten Interessen der Beschäftigten nach besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen mit denen des „eigenen Unternehmens“ oder des „Standorts Deutschland“ in Einklang zu bringen.

Kampf in den Gewerkschaften

Der Streik der Lokführer:innen wurde somit vor allem getragen von der Entschlossenheit der Kolleg:innen, für ihre Forderungen zu kämpfen, auch wenn sie dafür von der bürgerliche Presse heftig kritisiert wurden. Nur auf der Grundlage dieser Entschlossenheit konnte er letztlich erfolgreich sein. Kampfbereite Gewerkschafter:innen sollten sich jedoch nicht davon abhängig machen, ob ihre Führung ihnen den notwendigen Freiraum gewährt, um effektiv für ihre Forderungen zu kämpfen. Bei vielen Tarifrunden haben wir in der Vergangenheit immer wieder beobachten können, wie die Gewerkschaftsfunktionär:innen den Kampf ausbremsen und vorzeitig abbrechen, obwohl die betroffenen Kolleg:innen durchaus bereit gewesen wären, weiterzukämpfen.

Deshalb ist es zentral, dass die Kolleg:innen an der Basis zu jeder Zeit die Kontrolle über den Streik ausüben. Sie müssen es sein, die über die Forderungen, die Kampfmaßnahmen und die Dauer des Streiks entscheiden. Auch die Verhandlungen sollten, anders als beim Streik der GDL, transparent geführt werden. Diejenigen, die als gewählte Delegierte in Verhandlungen mit der Gegenseite treten, sollten gegenüber der Basis rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sein. So können die Gewerkschaften zu einem wirkungsvollen Instrument in den Händen ihrer Mitglieder werden, um ihre Interessen durchzusetzen und Verbesserungen für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Dafür müssen wir innerhalb ihrer Reihen kämpfen.




Indien: Modis Streben nach „Hindu Rashtra“

Minerwa Tahir/Shahzad Arshad, Neue Internationale 282, Mai 2024

Bis zu 969 Millionen Inder:innen werden in den nächsten sechs Wochen ihre Stimme bei den indischen Wahlen 2024 abgeben, die am 19. April begonnen haben. Das sind mehr als 10 Prozent der Weltbevölkerung. Dass die von Narendra Modi geführte Nationale Demokratische Allianz (NDA) die Wahl für eine dritte Amtszeit gewinnen wird, ist weitgehend unumstritten. Im Mittelpunkt dieser Wahl steht die Frage, ob es der Hindutva-Rechten gelingen wird, 400 der 543 Sitze zu gewinnen oder nicht (Hindutva: Hindunationalismus). Ein solch massiver Sieg würde sie in die Lage versetzen, eine entscheidende Änderung der weltlichen indischen Verfassung durchzusetzen – eine Änderung, die das Land formell als „Hindu Rashtra“, d. h. als hinduistischen Mehrheitsstaat, festschriebe.

Unter der Aufsicht von 15 Millionen Menschen, die von der indischen Wahlkommission eingesetzt werden, wird die Wahl schätzungsweise rund 8,6 Milliarden US-Dollar (USD) kosten. Die Stimmabgabe endet am 1. Juni, die Ergebnisse werden am 4. Juni bekanntgegeben.

Mehr als 2.600 Parteien treten zu den Wahlen an, aber Modis Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei) ist sowohl subjektiv siegessicher als auch objektiv in den Umfragen vor den Wahlen führend. Die Partei, die seit 2014 fest an der Macht ist, strebt bei dieser Wahl eine dritte Amtszeit an. Im Jahr 2019 gewann die BJP von Narendra Modi 303 Sitze, und die von ihr gebildete Koalition erhielt 352 Sitze im indischen Parlament, der Lok Sabha (1. Kammer, Unterhaus). Die BJP hat das Ziel ausgegeben, bei der diesjährigen Wahl mehr als 400 Sitze zu gewinnen. Die Partei unterscheidet sich von den anderen Hauptkonkurrentinnen durch ihre hindunationalistische Politik und ihr Bestreben, den säkularen Kern der indischen Verfassung, der die formale Gleichheit aller Glaubensrichtungen garantiert, auszuhöhlen und durch eine hinduistische Mehrheitsherrschaft zu ersetzen. Diese reaktionäre Politik ist mit Versprechungen zur wirtschaftlichen Entwicklung verknüpft.

Die BJP ist die reichste Partei Indiens und wird von Großkapitalisten wie Mukesh Ambani und Gautam Adani unterstützt, die in Asien an erster bzw. zweiter Stelle der reichsten Menschen stehen. Dies hat es der BJP auch ermöglicht, die indischen Medien fest im Griff zu behalten. Adani kaufte den Medienkonzern NDTV, woraufhin sich der kritische Nachrichtensender in ein Sprachrohr der BJP verwandelte. Im Gegenzug hat die BJP-Regierung viele Energie- und Infrastrukturaufträge der Regierung an Adani-Firmen vergeben. Ein kürzlich ergangenes Gerichtsurteil enthüllte, wie sehr die BJP von einer undurchsichtigen Form der Wahlkampffinanzierung, den so genannten Wahlanleihen, profitiert hat. Die Partei erhielt mehr als 60 Mrd. Rupien (570 Mio. Britische Pfund/GBP) an Spenden, weit mehr als jede andere politische Partei. In der Zwischenzeit sahen sich andere wichtige Kandidat:innen des Oppositionsbündnisses (Indian National Developmental Inclusive Alliance, abgekürzt: INDIA), das sich aus über 27 Parteien einschließlich des Indischen Nationalkongresses zusammensetzt, staatlichen Repressionen ausgesetzt. Der Vorsitzende der Aam Aadmi Party (AAP; Partei des einfachen Mannes), der auch Ministerpräsident des Unionsgebiets Delhi ist, Arvind Kejriwal, wurde vor den Wahlen in einem Korruptionsfall inhaftiert, während die Kongresspartei ihre Parteigelder von den Steuerbehörden einfrieren lassen musste.

Die indische Wirtschaft im Wandel der Zeit

Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1947 war der indische Kapitalismus durch ein hohes Maß an staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft gekennzeichnet, um die industrielle Entwicklung und das Wachstum zu fördern und die soziale Stabilität zu gewährleisten. Politisch wurde dies von der Kongresspartei überwacht, die das Land jahrzehntelang regierte. Doch dieses Modell stieß an seine Grenzen, wie andere Formen kapitalistischer Staatsintervention auch.

In den 1990er Jahren ergriff die vom Kongress geführte Regierung Liberalisierungsmaßnahmen, die die wirtschaftlichen Beschränkungen lockerten und dem Privatsektor die Möglichkeit gaben, sich zu entfalten. Dennoch behält die Regierung ihr Monopol in den Bereichen Verteidigung, Energie, Banken und einigen anderen Branchen bei. Der Beitrag der Landwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt ist gesunken, was jedoch nicht auf einen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, sondern auf eine Zunahme des Industrie- und Dienstleistungssektors des Landes zurückzuführen ist. Die chemische und pharmazeutische Industrie sowie die Auto- und Motorradherstellung bilden zusammen mit dem Abbau von Eisenerz, Bauxit, Gold, Kohle, Öl und Gas das industrielle Rückgrat Indiens. Die große Zahl qualifizierter, englischsprachiger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte bildet den Sektor Informationstechnologie und Outsourcing von Unternehmensdienstleistungen. Die wichtigsten Sektoren sind Informationstechnologie, Dienstleistungen, Landwirtschaft und verarbeitendes Gewerbe. Der Dienstleistungssektor machte im Jahr 2022 48,4 % des BIP aus, während der Anteil der Landwirtschaft auf 16,7 % [1] sank.

Heute will Indien in die Fußstapfen Chinas treten und Milliarden in den Bau von Straßen, Häfen, Flughäfen und Eisenbahnen investieren. Die Modi-Regierung hat das nationale Straßennetz zwischen 2014 und 2022 um 50.000 Kilometer erweitert, was einer Steigerung der Gesamtlänge um 50 Prozent entspricht. Diese Investition in die Infrastruktur soll die Verbindungswege in der kolossalen Geografie Indiens verbessern und so den Gütertransport erleichtern. Ein Teil der Aufträge für diese Megaprojekte wird an Großkapitalist:innen vergeben, die Modis Verbündete sind. Die Herrschaftsform ist extrem bonapartistisch, wobei die Unabhängigkeit der Medien, Justiz und Strafverfolgungsbehörden bis hin zur offenen Unterstützung des Regimes untergraben wird. Um ihre Herrschaft über die Massen durchzusetzen, stützt sich die Regierung nicht nur auf repressive Staatsapparate wie Polizei und Armee, sondern auch auf die paramilitärischen Milizen der verschiedenen rechtsextremen Hindutva-Gruppen der Sangh Parivar (Familie der Organisationen; Dachorganisation der hindunationalistischen Parteien und Organisationen).

Nach Angaben der Weltbank schrumpfte das reale BIP in Indien im Wirtschaftsjahr 2020/2021 aufgrund der COVID-19-Pandemie, doch erholte sich das Wachstum im Geschäftsjahr 2021/2022 stark. Im Zeitraum 2022/2023 wuchs das reale BIP um schätzungsweise 6,9 Prozent. Dieses Wachstum erklärt sich durch „eine robuste Inlandsnachfrage, eine starke Investitionstätigkeit, die durch die von der Regierung forcierten Infrastrukturinvestitionen gestützt wurde, und einen lebhaften privaten Verbrauch, insbesondere bei den Besserverdienenden“.

Indien liegt heute auf Platz fünf der BIP-Weltrangliste und hat damit seinen ehemaligen Kolonialherrn, das Vereinigte Königreich, überholt. Gemessen am BIP hat es nur noch USA, China, Deutschland und Japan vor sich. Mit einem BIP von 3,94 Billionen USD liegt es knapp hinter Japan mit 4,11 Billionen USD und vor imperialistischen Mächten wie Russland mit 2,06 Billionen USD und Frankreich mit 3,13 Billionen USD [2]. Indiens Pro-Kopf-BIP ist zwischen 2014 und 2023 um 55 % gestiegen und wird in den nächsten Jahren voraussichtlich um mindestens 6 % pro Jahr wachsen.

Das indische Pro-Kopf-BIP, das ein Maß für den Lebensstandard ist, beträgt jedoch nur 2.730 USD. Das Pro-Kopf-BIP Japans liegt bei 33.140 USD, das des Vereinigten Königreichs bei 51.070 USD. Die Unterernährung bei Kindern ist hoch, 67 % der Kinder in der Altersgruppe von sechs bis 59 Monaten sind unterernährt. Kurzum, das Wirtschaftswachstum schlägt sich nicht wirklich in einer Verbesserung des Lebensstandards der indischen Bevölkerung nieder.

Mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren hat Indien eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Dennoch sind laut ILO gebildete Inder:innen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren eher arbeitslos als solche ohne Schulbildung. Die Arbeitslosenquote junger Inder:innen mit Hochschulabschluss liegt bei über 29 % und ist damit fast neunmal so hoch wie die derjenigen, die weder lesen noch schreiben können, so der Bericht. Die Ungleichheit zwischen den Klassen ist extrem festgefügt. Einerseits leben etwa 60 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen in Indien von weniger als 3,10 USD pro Tag, der mittleren Armutsgrenze der Weltbank. Andererseits schenkte Mukesh Ambani seiner Frau zu ihrem 44. Geburtstag einen Airbus im Wert von 60 Millionen USD, der über ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, Satellitenfernsehen, Wi-Fi, eine Skybar, Duschen und ein Büro verfügt.

Zwar hat Indien in den letzten Jahrzehnten ein massives Wachstum erlebt, doch muss man dies relativieren, wie es beispielsweise der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts in seinem Artikel „Modi and the rise of the billionaire Raj“ [3] tut. Er untersucht die offiziellen Wachstumsstatistiken und argumentiert, dass all das Gerede, Indien werde China irgendwann einholen, nur ein „Hype“ ist, und weist auf grobe Ungenauigkeiten in den Wachstumszahlen selbst hin: „Nehmen Sie die Wachstumszahlen. Wenn westliche Ökonom:innen die Wachstumszahlen für China erhalten, schreien sie immer, dass sie gefälscht sind. Doch in Wirklichkeit ist es Indiens nationales Statistikamt, das ,mit der Wahrheit sparsam umgeht’.  Die BIP-Zahlen enthalten dubiose Kategorien wie ,Diskrepanzen’.  Diese beziehen sich auf die Differenz zwischen dem realen BIP-Wachstum von etwa 7,5 % pro Jahr und dem realen Wachstum der Inlandsausgaben von nur 1,5 % pro Jahr.“

Darüber hinaus weist er auf zwei wichtige Unterschiede zwischen der indischen und der chinesischen Wirtschaft (und damit ganz allgemein zu den imperialistischen Staaten) hin:

  • Das Wachstum hat das niedrige Produktivitätsniveau in großen Teilen der Wirtschaft, insbesondere in der Landwirtschaft, nicht überwunden.

  • Zwei Drittel der Arbeiter:innenklasse sind in Kleinbetrieben mit weniger als 10 Beschäftigten tätig. Die dort erzielten Profite beruhen darauf, dass die Löhne und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter:innen unter die Reproduktionskosten gedrückt werden, so dass sie trotz ihrer extrem rückständigen technologischen Basis einige Gewinne erzielen können.

Andererseits hat Indien auch einige hochqualifizierte Sektoren entwickelt, aber auch ein wucherndes Parasitentum im Immobilien- und Finanzsektor, die zu einem eher fiktiven Wachstum beitragen. Alles in allem ist die indische Wirtschaft ein Beispiel für eine ungleichmäßige und kombinierte Entwicklung des Kapitalismus mit einer Regierung, die eindeutig das Ziel verfolgt, Indien zu einer „Weltmacht“ zu machen – allerdings auf der Grundlage der Wirtschafts- und Sozialstruktur eines halbkolonialen Landes mit enormen Disproportionen und inneren Widersprüchen.

Indien auf der Weltbühne

Mit seiner stark zunehmenden Bevölkerung und einer rasch wachsenden Wirtschaft will Indien ein wichtiger Akteur auf der Weltbühne werden. Das Land ist von Ölimporten abhängig und ist der drittgrößte Ölverbraucher der Welt. Für Investor:innen, Hersteller:innen und Konsumgütermarken wird Indien zunehmend als aufstrebende Alternative zu China gesehen. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Peking und dem größten Teil der westlichen Welt – insbesondere nach dem Wiedererstarken der US-Hegemonie im Gefolge der russischen Aggression gegen die Ukraine – erfreut sich Indien gesunder Beziehungen zu den meisten großen Volkswirtschaften und zieht Investitionen an.

Dies hat die Modi-Regierung auch dazu veranlasst, die traditionellen Positionen des indischen Kapitalismus zu ändern, einschließlich ihrer Haltung zur Besetzung Palästinas. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober hat sich die indische Regierung im Washingtoner Lager offen auf die Seite Israels gestellt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Adanis  Rüstungsunternehmen Aero Defence seit 2016 einen Pakt mit dem israelischen Waffenhersteller Elbit geschlossen hat.

Doch ebenso wie auf wirtschaftlicher Ebene stehen auch die internationalen Ambitionen Indiens vor echten Herausforderungen. Während der globale Antagonismus zwischen den USA und China und ihren jeweiligen Verbündeten einen gewissen Handlungsspielraum zulässt, bedeuten die gleichen Spannungen, dass die „Partner:innen“ darauf drängen werden, Indien auf Linie zu bringen, was es zu einem wichtigen, aber dennoch untergeordneten Verbündeten macht.

Die widersprüchliche Lage, in der sich der indische Kapitalismus befindet, erklärt auch den Vorstoß zur bonapartistischen Herrschaft im Landesinneren und die Notwendigkeit, durch Populismus, Rassismus und Hinduchauvinismus eine soziale Massenbasis dafür zu schaffen.

Muslimische Minderheiten gegen rechtsextreme Mobs

Dieser Wandel ist nicht nur auf die Hinwendung der aufstrebenden Regionalmacht zum Westen zurückzuführen, sondern auch auf eine jahrzehntelange staatlich sanktionierte Politik der Unterdrückung der 200 Millionen Muslim:innen des Landes. Während der BJP-Regierung wurde Islamophobie als staatliche Politik normalisiert. Der Bau des Ram Mandir (hinduistischer Tempel in Ayodhya) an der Stelle, an der einst die Babri-Masjid-Moschee stand, ist der extremste Ausdruck des antimuslimischen Rassismus und Hasses in Indien. Dieser Rassismus äußert sich auch in der politischen Unterdrückung muslimischer Aktivist:innen wie Umar Khalid und Sharjeel Imam, die seit Jahren unter nicht kautionsfähiger Anklage inhaftiert sind.

Vor den diesjährigen Wahlen kündigte Innenminister und Modis rechte Hand Amit Shah Pläne zur Verabschiedung und Umsetzung des reaktionären Citizenship Amendment Act (CAA; Staatsbürger:innenschaftsänderungsgesetzes) an. Das Gesetz wurde im Dezember 2019 verabschiedet und löste Massenproteste aus, bei denen Dutzende von Menschen getötet und andere verhaftet wurden. Es erlaubt nur nicht-muslimischen religiösen Minderheiten aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, die Staatsbürger:innenschaft in Indien zu beantragen. Im selben Jahr entzog das Modi-Regime auch Dschammu und Kaschmir seinen Sonderstatus und annektierte das besetzte Gebiet effektiv. Darüber hinaus wurde im nordöstlichen Bundesstaat Assam das Nationale Bürger:innenregister (NRC) eingeführt, was dazu führte, dass etwa zwei Millionen Menschen, zumeist Muslim:innen, die indische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Amit Shah versprach die landesweite Umsetzung des NRC im November 2019, gefolgt von der Verabschiedung des CAA im Dezember. Die diskriminierende Absicht der Regierung wurde offensichtlich.

Die Gewalt, die im Anschluss an die CAA-NRC-Einführung in Delhi ausbrach, wurde zu Recht als Pogrom gegen Muslim:innen bezeichnet [4] [5]. Es handelte sich um systematische und organisierte Gewalt gegen Muslim:innen, und alles, was als Beweismittel gegen die Täter:innen verwendet werden konnte, wie etwa Überwachungskameras, wurde von den Polizist:innen zerstört. Geschäfte und Häuser, die Muslim:innen gehörten, wurden identifiziert und so gezielt angegriffen, dass alle anderen, die sich in der Nähe befanden, unversehrt blieben. Muslimischen Frauen wurden die Kopftücher heruntergerissen und sie wurden sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Es gab eine beunruhigende Ähnlichkeit mit den Pogromen gegen Juden und Jüdinnen in den 1930er Jahren in Deutschland, als Hindumobs Moscheen und islamische Schreine angriffen, religiöse Schriften verbrannten und verschiedene Waffen einsetzten, um die Minderheitengemeinschaft zu töten, zerstören und terrorisieren. Die Polizei weigerte sich entweder einzugreifen, oder in den Fällen, in denen Beamt:innen an den Schauplätzen der Gewalt eintrafen, unterstützte sie die Täter:innen, warf Steine auf die Muslim:innen oder stand als gleichgültige Zuschauer:innen da, während der Mob „Delhi Police Zindabad“ (Lang lebe die Polizei von Delhi) rief.

Eine Reihe von Muslim:innen war nach diesen Ereignissen gezwungen, ihre Häuser für immer zu verlassen. Die Polizei zwang einige von ihnen später, ihre Klagen gegen Angriffe auf ihr Leben und Eigentum zurückzuziehen. Die Gewalt des Mobs wurde von einer gezielten Dehumanisierung und Verunglimpfung der muslimischen Gemeinschaft in den Mainstream- und „sozialen“ Medien begleitet. Es ist kaum zu übersehen, dass der Versuch des Modi-Regimes, die Staatsbürger:innenschaft neu zu definieren, an die nationalsozialistischen Staatsbürger:innenschaftsgesetze von 1935 erinnert, die den ersten Schritt zum Völkermord an Juden und Jüdinnen markierten. Tatsächlich hat eine Reihe von BJP-Vertreter:innen sowie Führer:innen anderer rechter und faschistischer Hindutvaparteien der Sangh Parivar ausdrücklich die Absicht geäußert, einen solchen Völkermord an den Muslim:innen zu begehen. Kurz gesagt, muslimische Menschen werden gezwungen, aus gemischten Vierteln abzuwandern, was zu einer Ghettoisierung führt [6].

Der Ruf „Jai Shri Ram“ (Gegrüßet seist du, Herr Ram) ist nicht mehr nur ein religiöser Ausdruck. Er ist zu einem Mordaufruf geworden. Zahlreiche Videos in den sozialen Medien zeigen, wie Hindumobs Muslim:innen angreifen und schikanieren und sie zwingen, den Gesang zu wiederholen. Muslim:innen werden häufig als „Ausländer:innen“ beschimpft, und muslimische Männer werden beschuldigt, einen „Liebesdschihad“ zu begehen, d. h. eine angebliche Verschwörung, um Hindu-Frauen „wegzustehlen“, indem man sie dazu bringt, sich in sie zu verlieben.

Ermutigte Hindumobs haben Muslim:innen gelyncht, weil sie Rindfleisch gegessen haben, und sind ungestraft davongekommen. Sie haben Journalist:innen getötet. Andere virale Videos zeigen, wie muslimische Frauen am hinduistischen Holi (Frühlingsfest) belästigt werden, indem sie mit farbigem Wasser bespritzt werden. Diese Täter:innen wurden von verschiedenen rechtsextremen und faschistischen Organisationen der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationale Freiwilligenorganisation), der Modi seit seinem achten Lebensjahr angehört, radikalisiert und indoktriniert. Der Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, der fanatische Antimuslim Yogi Aditjanath, drohte, jede/n im Meer zu ertränken, die/der sich weigere, den yogischen Gruß an die Sonne zu sprechen. Seine inzwischen formell aufgelöste, aber immer noch existierende Privatarmee, die Hindu Yuva Vahini, mobilisierte junge Männer, um den Schutz der Kühe durchzusetzen, den „Liebesdschihad“ zu bekämpfen und „Ghar Wapsi“ (Heimkehr) durchzuführen, d. h. die „Rückbekehrung“ von Muslim:innen und Christ:innen zum Hinduismus und in geringerem Maße zum Sikhismus.

Ghar Wapsi ist ein Programm, das auch von der RSS und der Vishva Hindu Parishad (VHP; Welt-Hindu-Rat, einer weiteren rechtsextremen hindunationalistischen Organisation, die zu Sangh Parivar gehört) verfolgt wird und auf der irrigen Vorstellung beruht, dass alle Menschen in Indien von Haus aus Hindus sind. Das eigene Überlegenheitsgefühl als Wesen des Programms lässt sich daran ablesen, dass der Prozess der Konversion als „Shuddhi“ bezeichnet wird, was Reinigung bedeutet, und als Rückkehr zur „wahren“ Religion angesehen wird.

Warum die BJP möglicherweise keine 400 Sitze gewinnt

Trotz des überwältigenden Sieges im Jahr 2019 hat Modis Partei bei der letzten Wahl nur 37 Prozent der Stimmen erhalten. Die BJP dominiert im Hindi-Sprachgürtel in Nordindien, aber die östlichen und südlichen Bundesstaaten, insbesondere Kerala und Tamil Nadu, haben sich dem Hindumehrheitsrausch nicht angeschlossen. Die BJP hat sich bemüht, sich in diesen Gebieten populär zu machen. Der Erfolg dieser Bemühungen muss sich erst noch zeigen.

Der Kongress unter damaliger Führung von Rahul Gandhi hatte 2019 einen Stimmenanteil von 20 Prozent. Zu den zentralen Wahlkampfthemen der Partei, deren Anhänger:innenschaft sich aus säkularen Hindus, Muslim:innen und anderen Minderheiten zusammensetzt, gehören in diesem Jahr, Modi als Bedrohung für die Demokratie zu brandmarken und eine Politik gegen Ungleichheit vorzuschlagen, z. B. ein gesetzliches Recht auf einen Ausbildungsplatz, Mindestpreise für Landwirte, Bargeldtransfers in Höhe von 100.000 Rupien an arme Familien und ein Mindestlohn von 400 Rupien pro Tag. Trotz dieser Versprechen bleibt die Kongresspartei eine Partei des Kapitals, was sich in den Positionen der Parteiführung zu Schlüsselfragen wie der Einweihung des Ram Mandir in Ayodhya, der von der Partei vorgeschlagenen Kastenzählung für positive Maßnahmen und der Reaktion auf die Ereignisse vom 7. Oktober zeigt. Darüber hinaus ist das INDIA-Bündnis nach wie vor zersplittert, da eine Reihe von Parteiführer:innen zur BJP übergelaufen ist und andere sich untereinander über verschiedene Themen streiten.

Im letzten Wahlkampf hat die BJP versprochen, Arbeitsplätze für die Millionen von arbeitslosen Inder:innen zu schaffen und das Leben der Massen durch Wohlfahrt zu verbessern. Das hat sie nicht gehalten. Die chronische Arbeitslosigkeit, insbesondere bei jungen Menschen, und die hohe Inflation könnten sich bei den Wahlen gegen die BJP auswirken.

Die indische Linke

Kommunistische Parteien und Gewerkschaften haben in einigen Teilen Indiens immer noch eine gesellschaftliche Basis und hätten mit einem sozialistischen Programm eine Alternative zum Aufstieg der Rechten bieten können. Sie sind jedoch ihrer stalinistischen Tradition der Klassenkollaboration treu geblieben und haben sich dem von der Kongresspartei angeführten Bündnis INDIA angeschlossen. Die Kandidat:innen von INDIA, einschließlich der Stalinist:innen, sind mit der Idee hausieren gegangen, dass die einzige Möglichkeit, die hinduistische NDA-Allianz an der „Zerstörung der Demokratie“ zu hindern, darin besteht, eine INDIA-Regierung zu wählen.

Angesichts der Stärke der Modi-Regierung, ihrer Kontrolle über die repressiven staatlichen Kräfte und des Einsatzes hinduchauvinistischer und halbfaschistischer Kräfte, um die Arbeiter:innenklasse und die Bauern- und Bäuerinnenschaft, religiöse und ethnische Minderheiten, Student:innen und Frauen anzugreifen, sehen viele von ihnen ein solches Bündnis als kleineres Übel gegenüber Modi und als einzige Möglichkeit, die Macht der BJP zu stoppen oder zumindest einzudämmen.

Auf den ersten Blick scheint ein solches klassenübergreifendes Bündnis, das Parteien, die Teile der indischen Bourgeoisie vertreten, und Parteien wie die kommunistischen Parteien, die organisch mit der Arbeiter:innenklasse und den Gewerkschaften verbunden sind, umfasst, die Kräfte gegen den hindunationalistischen Feind zu verstärken. Aber in Wirklichkeit summieren sich die Kräfte der antagonistischen Klassen nicht zu einer stärkeren Kraft, sondern lähmen sich gegenseitig. Genauer gesagt werden sie die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Schichten der Gesellschaft lähmen. Der Kongress als Partei der indischen Bourgeoisie wird einem solchen Bündnis nur zustimmen, wenn die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sich den bürgerlichen Interessen unterordnen. Eine Kongressregierung würde den Kampf in ihrem eigenen Interesse eindämmen und dadurch die Massenbasis schwächen und demoralisieren. Selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass INDIA gewinnt, wäre dies also eine Katastrophe für die Arbeiter:innenorganisationen.

Deshalb lehnen wir ein solches Bündnis entschieden ab. Sollte eine INDIA-Regierung an die Macht kommen, wäre es immer noch ein rechtskapitalistisches Regime, das die langjährige Tradition der Kongresspartei fortsetzen würde, neoliberale kapitalistische Politik einzuführen und umzusetzen.

Das Großkapital unterstützt Modi, weil er alle seine Wünsche in Bezug auf die Privatisierung und Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte erfüllt hat und das aggressive Ziel verfolgt, Indien als eine Kraft zu etablieren, mit der auf der Weltbühne gerechnet werden muss. Modi würde dieses politische Programm nach seiner Rückkehr an die Macht sicherlich fortsetzen. Das würde auch Rahul Gandhi tun, nur dass er das gleiche Programm in einem sozialdemokratischen Jargon verkaufen würde. Die indische Wirtschaft ist unter diesem Programm gewachsen und das Land ist zu einer Weltmacht aufgestiegen, aber es ist ein „arbeitsloses Wachstum“ geblieben. Nichts davon würde sich unter einer von Gandhi oder Kejriwal geführten Regierung ändern, denn trotz der populistischen Rhetorik über die Beschäftigungskrise und die Inflation teilen die wichtigsten bürgerlichen Oppositionsparteien Modis Abscheu vor den arbeitenden Massen und demokratischen Rechten für die Massen und Minderheiten. Die Anti-Pakistan-Rhetorik, Kejriwals Untätigkeit während des Pogroms in Delhi und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel durch die Kongresspartei in den 1990er Jahren sowie die Tatsache, dass die rechtsextreme Shiv Sena (SHS; Shivajis Armee) Teil dieser Allianz ist, sind nur einige Merkmale dieser „säkularen“ Front. Daher weisen wir die Illusion zurück, dass die indischen Massen für diese Volksfront namens INDIA stimmen sollten, um das Land durch ein kleineres Übel zu schützen.

Der Weg nach vorn

Stattdessen rufen wir die kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und alle sozialen Bewegungen der Student:innen, Frauen, Bauern und Bäuerinnen, der Dalits, der national und religiös Unterdrückten auf, mit ihren bürgerlichen „Verbündeten“ zu brechen und sich auf die kommenden, unvermeidlichen Kämpfe vorzubereiten.

Bei den indischen Wahlen können Koalitionen in jedem Wahlkreis nur eine/n Kandidat:in aufstellen. Wir rufen die Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und alle unterdrückten Menschen Indiens, wie Frauen, sexuelle, religiöse und nationale Minderheiten auf, in Wahlkreisen, in denen ein/e bürgerliche/r Kandidat:in der INDIA-Allianz kandidiert, ungültig zu wählen. In den Wahlkreisen, in denen Kandidat:innen der kommunistischen Parteien und der Gewerkschaften kandidieren, rufen wir die ausgebeuteten und unterdrückten Massen auf, zu ihren Gunsten zu stimmen, und fordern sie auf, sich auf den kommenden Kampf vorzubereiten.

Eine solcher Aufruf wäre jedoch äußerst kritisch. Das heißt, wir rufen dazu auf, für sie zu stimmen, weil sie sich auf die Unterstützung der Massen der Arbeiter:innenklasse berufen können, zumindest in einer Reihe von Wahlbezirken. Aber gleichzeitig lehnen wir ihre klassenkollaborationistische Politik und ihr reformistisches Programm ab. Die verschiedenen kommunistischen Parteien Indiens haben die Erfahrung gebracht, dass sie arbeiter:innenfreundliche Versprechungen machen, wenn sie nicht an der Macht sind, und dann eine investor:innenfreundliche Politik betreiben, wenn sie durch die Stimmen der Arbeiter:innenklasse an die Macht kommen. Sie waren ihrer Basis gegenüber nie rechenschaftspflichtig und haben wenig getan, um sicherzustellen, dass die Macht den ausgebeuteten und unterdrückten Massen gehört. Das muss sich ändern.

Deshalb rufen wir diese Kandidat:innen und ihre Parteien auf, eine Einheitsfront gegen Angriffe auf demokratische und soziale Rechte zu bilden, die alle unterdrückten Schichten einschließt. In Zeiten zunehmenden rechten Terrors müssen wie Selbstverteidigungsmilizen gegen organisierte faschistische Mobs, Streikbrecher :innen oder staatliche Repression aufbauen. Diese Aufgaben sind notwendig, auch wenn die Führer:innen der reformistischen Arbeiter:innenparteien sie ablehnen. Wir rufen die arbeitenden und unterdrückten Massen auf, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mit Hilfe der folgenden Forderungen eine Einheitsfront und Selbstverteidigungsmilizen aufzubauen:

  • Nieder mit CAA, NRC! Aufhebung der reaktionären Gesetze: gleiche Rechte für alle, unabhängig von Kaste, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung!

  • Arbeitsplätze für alle! Arbeitszeitverkürzung, um mehr Jobs zu schaffen!

  • Mindestlohn von 20.000 Rupien für alle! Gleitende Lohnskala: für jedes Prozent Inflation 1 % Lohnerhöhung!

  • Subventionen für Bauern und Bäuerinnen! Landumverteilung durch Enteignung der Großgrundbesitzer:innen!

  • Kostenloser Strom, Gas, Lebensmittel und Wohnungen!

  • Von Arbeiter:innen geführte Unterkünfte für Frauen und sexuelle Minderheiten!

  • Freilassung aller politischen Gefangenen einschließlich Umar Khalid und Sharjeel Imam! Aufhebung des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen (Prevention of Unlawful Activities Act)!

  • Freiheit für Kaschmir! Autonomie wiederherstellen, indische Truppen raus aus Kaschmir! Autonomie für alle Staaten im Nordosten!

  • Für eine massive Besteuerung der Reichen und Gewinne! Enteignet die Ambanis, Adanis und andere Reichtumsanhäufer:innen! Nutzt ihren Reichtum unter Kontrolle der Arbeiter:innen um eine allgemeine Gesundheitsversorgung, Arbeitslosenunterstützung und andere Sozialleistungen bereitzustellen!

Solche Forderungen würden zentrale Probleme der Massen ansprechen. Aber sie würden von einer neuen Modi-Regierung und der Kapitalist:innenklasse (und in der Tat auch von einer Kongress-geführten Regierung) als Kriegserklärung angesehen werden. Sie können nur durch entschlossenen Kampf durchgesetzt werden.

In den letzten zehn Jahren haben die Gewerkschaften, die Bauer:innenorganisationen, die Frauen- und Student:innenbewegungen oder der Kampf gegen die CAA und NRC mit mehreren eintägigen Streiks, an denen mehr als 100 Millionen Arbeiter:innen beteiligt waren, gezeigt, dass die sozialen Kräfte, die eine Modi-Regierung letztendlich besiegen könnten, existieren und bereit sind, in großer Zahl auf die Straße zu gehen.

Aber eine solche Bewegung müsste über eintägige, symbolische Streiks oder Massendemonstrationen hinausgehen. Sie müsste eine Bewegung sein, die den indischen Kapitalismus durch Massenstreiks – bis hin zum Generalstreik – durch Besetzungen, Demonstrationen und andere Formen des Massenkampfes zum Stillstand bringen könnte. Eine solche Bewegung müsste nicht nur eine Einheitsfront der Führungen der KPen, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sein. Sie müsste vor allem eine Einheitsfront der Massen selbst sein, die sich auf kämpferische Organisationen in den Betrieben, an Schulen und Universitäten stützt. Sie muss auf Aktionsräten in den Fabriken und Büros, in der Stadt und auf dem Land fußen.

Ein solcher Kampf, auch wenn er mit wirtschaftlichen und demokratischen „unmittelbaren“ Forderungen beginnt, könnte sich zu einem Kampf um die Macht entwickeln – zum Teil wegen seiner inneren Dynamik, aber auch wegen der Reaktion, die ihm von einer Modi-Regierung entgegengebracht würde. Daher müsste er auch Selbstverteidigungsorgane schaffen und dafür kämpfen, den Repressionsapparat zu lähmen und schließlich zu zerschlagen, indem er die einfachen Soldat:innen aufruft, Soldat:innenkomitees zu bilden.

Der Traum der Rechtsextremen von der Errichtung eines Ethnostaats, der von einer Hindutvadiktatur geführt wird, kann durch den Kampf der Arbeiter:innenklasse zerschlagen werden, der die Notwendigkeit aufwirft, eine Arbeiter:innenregierung zu schaffen, die sich nicht auf die Institutionen des bürgerlichen Staates stützt, sondern auf die durch den Kampf geschaffenen und entwickelten Organe, d. h. auf die Arbeiter:innen- und Bäuer:innenräte und eine bewaffnete Volksmiliz. Eine solche Regierung würde das Großkapital enteignen und einen Notfallplan einführen, um die Bedürfnisse der Massen zu befriedigen, und sich zu einer zentralen Planwirtschaft entwickeln. Sie würde echte Gleichberechtigung und Chancengleichheit für alle ausgebeuteten und unterdrückten Massen einführen. Um diese Regierung zu bilden, brauchen wir die Arbeiter:innenklasse, die die Führung für eine solche Revolution übernimmt.

Die Führungskrise, die jahrzehntelang unbewältigt blieb, muss durch den Aufbau einer Arbeiter:innenpartei auf einem revolutionären Programm gelöst werden. Wahrer Frieden und Gleichheit für alle können nur durch eine Arbeiter:innenregierung erreicht werden, die den Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Südasien aufnimmt. Wir rufen alle Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, Sozialist:innen und Unterdrückten auf, sich uns in dieser Mission anzuschließen und Teil des Aufbaus einer Fünften Internationale zu sein!

Endnoten

[1] https://www.investopedia.com/articles/investing/043015/fundamentals-how-india-makes-its-money.asp

[2] www.imf.org

[3] https://thenextrecession.wordpress.com/2024/04/19/india-modi-and-the-rise-of-the-billionaire-raj/

[4] https://www.aljazeera.com/opinions/2021/2/24/why-the-2020-violence-in-delhi-was-a-pogrom

[5] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2020/02/what-happened-delhi-was-pogrom/607198/

[6] https://www.aljazeera.com/news/2021/2/23/fear-migration-a-year-after-anti-muslim-violence-in




Vom Widerstand zur Befreiung. Wie kommen wir zu einem sozialistischen Palästina?

Jaqueline Katherina Singh, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, April 2024

Frieden. In Sicherheit zu leben, ohne dass Städte zerbombt werden. Sich frei bewegen zu können, ohne Kontrollen. Eine Möglichkeit zurückzukehren. Die Olivenbäume, die niedergebrannt wurden, wieder pflanzen zu können. Davon träumen viele. Doch was heißt das praktisch und wie kommen wir dahin? Wir wollen im Folgenden erläutern und erklären, was wir meinen, wenn wir für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina eintreten.

Es würde bedeuten, dass alle Bewohner:innen – egal welcher Religion oder Nation, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht nicht nur neben-, sondern miteinander leben können. Praktisch würde es bedeuten, dass an Schulen alle Sprachen angeboten würden – ob Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch. Und dieses Angebot hört nicht dort auf, sondern erstreckt sich auf alle staatlichen Institutionen und kulturellen Räume. Es würde bedeuten, dass Palästinenser:innen und arabische Israelis nicht von höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern die Arbeit auf alle aufgeteilt wird. Es würde bedeuten, dass in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Quotierungen eingeführt werden, sodass alle Zugang zu allen Berufen und Bereichen haben und systematische Verarmung verhindert wird. Es würde bedeuten, dass das Rückkehrrecht auch für alle Palästinenser:innen gilt und die Siedler:innenkolonien aufgelöst werden. Dass die Bereiche, die in Schutt und Asche gelegt worden sind, wieder aufgebaut werden und Wasser, Elektrizität, Wärme, Lebensmittel sowie medizinische Versorgung nicht mehr Mangelware sind, sondern nach Bedarf für alle verfügbar – unter Kontrolle der Nutzenden und Arbeitenden.

Im Grunde handelt es sich dabei v. a. um grundlegende demokratische Rechte. Doch die Geschichte von über 75 Jahren Vertreibung und Besatzung seit Gründung des Staates Israel zeigt, dass diese durch Reformen oder die illusionäre Zweistaatenlösung nicht verwirklichbar sind. Dies gilt umso mehr angesichts eines Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung Gazas, einer Bodenoffensive, der bisher rund 40.000 Menschen – in der Mehrzahl Zivilist:innen – zum Opfer gefallen sind. Daher scheint selbst die Verwirklichung von demokratischen Rechten als eine unfassbar weit entfernte Utopie.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Verweigerung ebendieser in die imperialistische Ordnung des Nahen Ostens, wie sie nach 1945 etabliert wurde, in den zionistischen Staat von Beginn an eingeschrieben ist. Eine demokratische Lösung des sog. Nahostkonflikts ist unmöglich, solange Israel als rassistischer Staat existiert. Der Ausschluss und die Vertreibung der Palästinenser:innen sind in seine Existenzweise eingeschrieben. Daher kann er auch nicht reformiert, sondern muss revolutionär zerschlagen und durch einen binationalen sozialistischen Staat ersetzt werden.

Wir müssen dabei streng zwischen dem zionistischen Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden. Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h. die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von Sozialist:innen zu verteidigen. Genauso rückschrittlich ist jedoch auch die Erwartung, dass die Palästinenser:innen als Staatsbürger:innen zweiter Klasse (wenn überhaupt) existieren müssen und sich unterzuordnen zu haben.

Im Folgenden werden uns daher damit beschäftigen, welche Strategie nötig ist, um den heutigen Kampf gegen den völkermörderischen Krieg mit dem für ein sozialistisches Palästina zu verbinden, und wie diese untrennbar mit dem Kampf gegen Zionismus und Imperialismus in der gesamten Region und in den imperialistischen Ländern zusammenhängt.

Grundannahmen

Dabei ist es vollkommen klar, dass im Hier und Jetzt der Kampf für einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Arme und Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrollen und Bedingungen durch die Besatzungsmacht im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. Denn die Bomben fordern hier und jetzt ihre Opfer, während gleichzeitig mehr Land in der Westbank annektiert wurde und sich mehr Palästinenser:innen in israelischer Haft befinden als je zuvor. Die Lage scheint manchen aussichtslos, vor allem, da die israelische Offensive in aller Härte mehr als 7 Monate andauert. Doch wir glauben, dass es wichtig ist, nicht nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden. Denn letzten Endes verschafft diese zwar Milderung, aber sie wird nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch für direkte Verbesserungen kämpft – einen sofortigen Rückzug der israelischen Truppen beispielsweise.

Zeitgleich braucht es jedoch darüber hinaus eine Debatte darüber, was ein freies Palästina ist – und wie wir dahin kommen. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir über Taktiken und Strategien diskutieren und versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen – um eine Einstaatenlösung mit Rückkehrrecht für die Vertriebenen möglich zu machen. Bevor wir zu konkreten Forderungen und Vorschlägen für die aktuelle Solidaritätsbewegung kommen, wollen wir ein paar Grundannahmen festhalten:

1. These: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein internationalistischer. Weder können die aktuelle Situation drastisch verändert noch ein eigener Staat allein aus Palästina oder Israel heraus selbst erkämpft werden.

Es ist klar: Ohne den jahrzehntlangen heroischen Widerstandskampf der palästinensischen Massen wäre der „Konflikt“ längst reaktionär befriedet worden. Daher ist Solidarität mit ihm Voraussetzung für jeden Internationalismus, auch wenn dies keineswegs bedeutet, die Politik der palästinensischen Führungen zu unterstützen. Angesichts der militärischen Übermacht, dem Andauern des Konfliktes und dem aktuellen Kräfteverhältnis vor Ort wird deutlich, dass selbst der entschlossenste Widerstand alleine nicht ausreicht. Da der israelische Staat seitens der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Mächte gestützt wird, braucht es massiven Druck, der nur seitens der internationalen Arbeiter:innenklasse erbracht werden kann. Ob Massenproteste, Solidaritätsstreiks und/oder Boykotte: Die Palette der Möglichkeit ist vielfältig.
Dabei muss auch deutlich werden, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Ob nun beim Kampf in Syrien gegen Assad, in Rojava gegen Erdogan oder in Kaschmir gegen die indische Besatzung – Solidarität mit diesen Bewegungen ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ein zentraler, notwendiger Schritt um das Gelingen der jeweiligen Befreiungskämpfe zu sichern.

2. These: Der Kampf für ein freies Palästina kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen die imperialistische Machtinteressen richtet – und gegen die (ausländische wie einheimische) Bourgeoisie.

Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass eine Zweistaatenlösung nicht möglich ist. Stetiger Kampf um Land sowie Ressourcen sorgt nicht nur für Vertreibung, sondern auch dafür, dass der Zugang zu gewissen Ressourcen für einen Teil limitiert bleiben muss, solange diese Verteilung unter kapitalistischen Verhältnisse stattfindet. So wie zwei Individuen nicht beide zur selben Zeit über exklusives Privateigentum an etwas Gleichem verfügen können, können auch nicht zwei Völker exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Ebenso kann ein bürgerliches, kapitalistisches Palästina nur möglich sein, wenn sich eine imperialistische Macht dazu entscheidet, als Schutzmacht zu fungieren. Das bedeutet nicht nur Abhängigkeit und Ungewissheit, sondern Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung durch diese – sowie die nationale Kapitalist:innenklasse. Dass das keine Alternative sein kann, zeigen schon jetzt die Auswüchse der Korruption unter PNA (Palästinensische Autonomiebehörde)- und Hamas-Verwaltung.

Die einzige fortschrittliche Lösung ist deshalb das Gemeineigentum, also die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Das heißt: Wenn das Ziel ist, dass vorhandene Ressourcen in der Region unter allen, die dort leben, gleichmäßig aufgeteilt werden sollen, dann bedarf es einer Einstaatenlösung, bei der Produktionsmittel und Boden verstaatlicht werden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern stehen. Der Kampf gegen Besatzung, Zionismus und Imperialismus muss also immer aktiv verbunden werden mit dem gegen Ausbeutung. Daraus resultiert, dass der Kampf für ein befreites Palästina einer für ein sozialistisches, für einen binationalen Arbeiter:innenstaat sein sollte – vor Ort und international.

3. These: Keine Befreiung ohne Revolution

Weder Besatzungsmacht noch Kapitalist:innen werden ihre Position friedfertig aufgeben. Das ist dem Großteil der sich im Widerstand befindenden Kräfte klar. Die Taktik des Guerillakriegs baut auf langfristigen Auseinandersetzungen mit einer militärischen Übermacht auf. Doch während die militärischen Anstrengungen vor Ort dafür sorgen können, die Kosten der Besatzung in die Höhe zu treiben – sie alleine können das Morden und systematische Unterdrückung nicht stoppen und limitieren gleichzeitig die eigenen Mittel des Widerstandes.
Statt darauf zu hoffen, dass andere arabische Staaten oder der Iran sich in den Krieg hineinziehen lassen, braucht es vielmehr den Aufbau einer internationalistischen Arbeiter:innenbewegung – die sich auch in ihrem eigenen Interesse aktiv dazu entscheidet, in den Konflikt einzugreifen.

Darüber hinaus hat die 1. Intifada gezeigt, dass Massenproteste der gesamten Bevölkerung das Mittel sind, am effektivsten den zionistischen Staat und seine scheinbare Allmacht erschüttern zu können. Angesichts des Landraubs im Westjordanland, der bewaffneten Siedler:innen, die willkürlich die palästinensischen Bewohner:innen drangsalieren und vertreiben, bedarf es einer revolutionären Massenbewegung, die in einem Massenaufstand mündet. Die Erfahrung zeigt dabei, dass alle großen Bewegungen wie Massenstreiks, Blockaden usw. bewaffneter Selbstverteidigungsorgane bedürfen, um sich gegen die israelische Armee und rassistische und faschistische bewaffnete Siedler:innen zur Wehr setzen zu können.

Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teil der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.

4. These: Eine revolutionäre Partei und Internationale sind notwendig

Um den gemeinsamen Kampf in den verschiedenen Bereichen koordiniert führen zu können, braucht es mehr als Bewegungen, Bündnisse, Kampagnen. Es braucht eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei und Internationale – in Palästina und weltweit. Eine revolutionäre Partei in Palästina würde sich dabei vor allem auf die palästinensischen Lohnabhängigen

stützen müssen. Sie müsste zugleich die antizionistischen Teile der jüdischen Intelligenz und der Arbeiter:innenklasse organisieren, enge Verbindungen zu revolutionären Parteien in den arabischen Staaten und auf der gesamten Welt aufbauen, um den Kampf zu koordinieren.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, gegen den Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der von der Hamas geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der unterdrückenden Macht anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung erwächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende und jede Kollaboration mit der Besatzung. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei Erstere nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie die im Iran, in Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien. Dabei verfolgen wir auch eine Politik, jeden Bruch, jede Spaltung im zionistischen Lager auszunutzen, zu vertiefen und im besten Fall Lohnabhängige vom Zionismus zu brechen.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hegt daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen. Die jüdisch-israelische Arbeiter:innenklasse wird sich – wie jede Klasse, die den Kolonialismus ihrer „eigenen“ Bourgeoisie unterstützt – nur befreien können, wenn sie mit diesem bricht und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennt.

2. Die Arbeiter:innenklasse im Nahen Osten

Eine zentrale Rolle im Kampf für die Befreiung Palästinas kommt den umliegenden Nachbarländern zu. Schon allein die Millionen palästinensischen Geflüchteten und die zentrale Rolle der Geflüchtetencamps in Jordanien oder im Libanon für den palästinensischen Befreiungskampf zeigen, dass dieser eng mit dem Schicksal der umliegenden Länder verbunden ist. So gab es im Zuge des Vergeltungsschlags Israels gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas massive Protestwellen in den umliegenden Ländern. Im Irak, Iran, in Ägypten, Syrien und Jordanien sind Hunderttausende in Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Straße gegangen. Diese Proteste stellen Ansatzpunkte dar, die Arbeiter:innenklasse für revolutionäre Forderungen zu gewinnen.

a) Solidarität mit Palästina heißt Kampf dem Imperialismus!

Gleichzeitig hegen viele die Hoffnung, dass die dort Herrschenden Palästina befreien werden. Doch solchen Illusionen müssen wir entschieden entgegentreten. Weder Nasser oder Chomeini haben Palästina befreit, noch werden es El-Sisi oder Erdogan tun. Ihre Solidarität ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Sie zeigen sich vermeintlich an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Sie sind weder gewillt, in größerem Umfang palästinensische Geflüchtete aufzunehmen, noch eine wirkliche Konfrontation mit den imperialistischen Schutzmächten Israels zu suchen. Ihre zeitweilige zumindest verbale Konfrontation mit Israel liegt mehr in ihrer Konkurrenz um die Gunst der imperialistischen Länder begründet.

Außer den Huthis im Jemen hat kein Staat wirkliche Angriffe auf die imperialistische Präsenz unternommen. Doch nicht einmal zu einer Verurteilung der Angriffe auf den Jemen und die Huthis können sich sie meisten arabischen Regime durchringen. Ägypten könnte, wenn es denn wollte und bereit zur Konfrontation mit den USA und der EU wäre, den Suezkanal für den internationalen Warenverkehr sperren und so einen massiven wirtschaftlichen Druck auf die imperialistischen Staaten ausüben. Doch statt dessen bringt man sich lieber als „Vermittler“ und Verbündeter ins Geschäft.

Sie verraten den palästinensischen Befreiungskampf, sobald ihrer eigenen Stellung als Herrschende oder ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den imperialistischen Ländern Gefahr droht, denn ein wirklich befreites, sozialistisches Palästina würde selbstverständlich auch ihr eigenes Ende bedeuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben Ägypten und Jordanien in den letzten Jahren auch weitere Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain die Beziehungen zu Israel normalisiert und es international anerkannt haben. Das heißt: Wir können wir uns im Kampf nur auf Organisationen der Arbeiter:innenklasse verlassen, welche die heuchlerische Solidarität der Herrschenden aufdecken muss.

Deswegen ist ein wichtiger Punkt, den Einfluss imperialistischer Kräfte wie USA, EU, Russland und China auf die Region zurückzudrängen. Während die US-Invasionen der Vergangenheit die heutige Realität maßgeblich prägen, so muss man auch gegen „das kleinere Übel“ kämpfen, wie den russischen Imperialismus, der das Assadregime stützt. Die Praxis zeigt: Russland und China vertreten ihre eigenen imperialistischen Interessen, auch ihre Solidarität mit Palästina kommt über reine Lippenbekenntnisse, um Handelsbeziehungen aufzubessern, nicht hinaus.

  • Stopp aller Wirtschaftsbeziehungen mit, aller Waffenlieferungen an Israel!

  • Für die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel!

  • Für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum!

  • Streiks, Blockaden und Arbeiter:innenboykott, um effektive Sanktionen gegen Israel durchzusetzen und strategische Versorgungsgüter für seine imperialistischen Unterstützer:innen zu blockieren.

b) Solidarität mit Palästina heißt Sturz der eigenen Regime!

Es muss der Zusammenhang aktiv dargestellt werden zwischen dem Leid der palästinensischen Bevölkerung und dem Elend vor Ort. Nicht nur, dass die Regierungen sich weigern, ernsthafte Maßnahmen im Interesse der Palästinenser:innen zu tätigen, sie tragen die Vorherrschaft und Ausbeutung seitens der imperialistischen Mächte aktiv mit – und sorgen so für eine Verelendung der Bevölkerung vor Ort. Doch wie? Ansatzpunkte für den Kampf können beispielsweise die Verschlechterung der Lebensqualität vor Ort und die aktuell sehr hohe Inflationsrate sein. Arbeiter:innen müssen in Protesten Forderungen, wie die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation, aufwerfen und diese mit Streiks durchsetzen.

Die Solidaritätsproteste müssen genutzt werden, aus der aktuellen Defensive zu kommen, die beispielsweise die Militärdiktaturen mit sich gebracht haben. Das schreibt sich leichter als getan, schließlich agieren Revolutionär:innen und Linke vor Ort unter halb- oder illegalen Umständen. Aber gleichzeitig bieten eben diese Proteste, die Möglichkeit, die Organisierungsarbeit wieder aufzunehmen.

Die gemeinsame Organisierung mit palästinensischen Geflüchteten erhöht die Kampfkraft. Diese muss mit der Forderung nach gleichen Löhnen und demokratischen Rechten für alle verbunden werden. Revolutionär:innen müssen dabei für die Öffnung der Grenzen zu Gaza und der Westbank kämpfen und eine Verbindung zum palästinensischen Befreiungskampf suchen.

  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedem Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von Vertreter:innen aus Betrieben, Elendsvierteln, Arbeiter:innenorganisationen, Frauen, Kleinhändler:innen und Verbraucher:innen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die Arbeiter:innen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat:

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, Exekutivpräsident:innen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!

c) Aus Fehlern lernen: Für einen zweiten Arabischen Frühling!

Dabei kann es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht das Aufflammen eines zweiten Arabischen Frühlings, in welchem sich die Arbeiter:innen in den umliegenden Ländern gegen ihre eigenen Unterdrücker:innen organisieren und die Bourgeoisie als herrschende Klasse stürzen. Das heißt auch, aus den existierenden Erfahrungen Lehren zu ziehen.

Nicht nur der Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfs ist in großem Maße davon abhängig, ob es das Proletariat der umliegenden Länder schafft, den Klassenkonflikt zuzuspitzen, eigene demokratische Organe aufzubauen, Industrien unter ihre Kontrolle zu stellen, das Kapital zu enteignen und die Macht zu übernehmen. Auch die eigenen Despot:innen aus ihren Machtpositionen zu jagen, hängt davon ab. Es ist  zentral, dass Arbeiter:innenstrukturen auf eine Doppelmachtsituation hinarbeiten und schließlich die Macht erkämpfen, damit die Aufstände nicht wieder in Militärputschen enden. Dabei müssen Revolutionär:innen die Verbindung der palästinensischen Befreiung mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse in den Nachbarländern aufzeigen und für Solidaritätsstreiks, also politische Streiks eintreten. Hier wird schnell deutlich, dass es nicht nur den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken braucht, sondern auch demokratische Selbstverteidigungsmilizen, um die Kämpfe zu verteidigen. Denn die Herrschenden werden weder massenhafte Aufstände noch Generalstreiks zur Umsetzung politischer Forderungen, geschweige denn den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken freiwillig dulden. Damit massenhafte Aufstände und revolutionäre Situationen nicht im Sande verlaufen oder durch konterrevolutionäre Bewegungen zunichtegemacht werden, braucht es die Kampfkraft der internationalen Arbeiter:innenklasse. Das heißt, auch wir in den imperialistischen Ländern müssen in Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf die Straße gehen und den Klassenkampf vor Ort zuspitzen.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Enteignung des Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für Regierungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die sich auf Räte und Milizen stützen und die Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung reorganisieren. Für die permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten! Für revolutionär-kommunistische Parteien als Teil einer wiedergegründeten Internationale!

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Ob Belgien, Italien oder die Niederlande: Welche positive Rolle die Arbeiter:innenklasse in den westlichen Zentren spielen kann, haben bereits einige Vertreter:innen gezeigt. Sie sind dem Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften nicht nur mit warmen Worten begegnet, sondern mit Taten. Doch wie kann die Kriegstreiberei insgesamt gestoppt werden?

a) Schluss mit der Komplizenschaft: Stoppt die Waffenlieferungen und Unterstützung der Kriegsindustrie!

Der westlichen Arbeiter:innenklasse kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie.

Gegen Repression und für mehr Druck ist es zentral, dass die bestehenden Bewegungen sich koordinieren und gemeinsame Aktionen, Forderungen und Slogans hervorbringen. Dabei stellen Blockaden seitens der Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar. Es braucht aber eine politische Kampagne, die das Verbot jeglicher Waffenexporte und Unterstützung des Krieges in finanzieller Form fordert. Statt Waffen braucht es medizinische Soforthilfe, statt finanzieller Unterstützung der israelischen Kriegsindustrie Mittel zur sofortigen Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau Gazas – unter Kontrolle der Palästinenser:innen selbst, nicht durch irgendwelche NGOs oder Statthalterregime.

  • Schluss mit Komplizenschaft: Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen nach und finanzieller Unterstützung an Israel! Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste! Für die Offenlegung aller Verträge!

  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!

b) Schluss mit Repression und antimuslimischer Hetze!

Eine weitere Aufgabe bildet der Kampf gegen massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze, die seit Oktober massiv zugenommen haben. Sie versuchen dabei nicht nur, den Widerstand der Palästinenser:innen zu diskreditieren, sondern helfen auch dem weiteren Erstarken von rechten Kräften in den westlichen Staaten. Das heißt: Wir müssen der Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, entschlossen entgegentreten. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt. Ebenso müssen wir gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina einstehen. Wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Antiterrorlisten der EU und USA.

  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten Antiterrorlisten der USA, EU oder anderer Mächte!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

Revolutionäre Organisation ist notwendig

Der Aufbau einer Massenbewegung, die sich vernetzt und koordiniert, ist mehr als notwendig. Aber um Generalstreiks, Enteignung und die Zerschlagung bürgerlicher Staaten durchzusetzen, braucht es Kräfte innerhalb der Bewegung, die dafür argumentieren und bereit sind, den Kampf aktiv zuzuspitzen. Dies entsteht nicht aus reiner Spontanität. Die historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse haben gezeigt, dass diese aus sich heraus eher reformistisches Bewusstsein tragen, sich demnach im Kampf spontan eher innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bewegen. Das Verständnis für die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus geht darüber hinaus und muss daher von außen in die Arbeiter:innenklasse hineingetragen werden. Dafür brauchen wir ein revolutionäres Programm, das eine dialektisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, vergangene und aktuelle Kräfteverhältnisse in den Blick nimmt und daraus entsprechende Strategien und Taktiken entwickelt. Forderungen und Grundannahmen dafür haben wir versucht zu skizzieren. Sie sollen uns Revolutionär:innen als gemeinsame Handlungsgrundlage dienen und als Vermittlung zwischen revolutionärer Theorie und Praxis fungieren. Wichtig dabei ist, dass sie an die spezifischen Situationen der verschiedenen internationalen Kämpfe angepasst werden und an den jeweiligen Gegebenheiten ansetzen. Sie müssen ein System von Übergangsforderungen darstellen, das die Brücke schlagen kann von Minimalforderungen, die theoretisch schon im Kapitalismus umgesetzt werden könnten, über die Grenzen kapitalistischer Herrschaft hinweg und dadurch die soziale Macht von der einen Klasse in die Hände der anderen überführen.

Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden, die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.




Sudan: Ein Jahr Bürger:innenkrieg

Dave Stockton, Infomail 1251, 19. April 2024

Im Sudan wütet nun seit einem Jahr ein verheerender Krieg. Er wurde von den westlichen Medien weitgehend ignoriert und seit dem 7. Oktober durch Israels Genozid in Gaza aus den Schlagzeilen verdrängt. Doch das Leid der sudanesischen Bevölkerung ist mit diesem Konflikt vergleichbar, was die Zahl der Vertriebenen, die Gräueltaten an der Zivilbevölkerung und die drohende Hungersnot angeht. In der Hauptstadt Khartum wurden viele Gebäude zerstört, und in al-Faschir, der Hauptstadt von Schamal Darfur (Nord-Darfur), mussten 40.000 Menschen aus ihren Häusern fliehen, als die Schnellen Eingreiftruppen (RSF) versuchten, die Stadt einzunehmen.

Quellen der Vereinten Nationen sprechen von „Massengräbern, Gruppenvergewaltigungen, wahllosen Angriffen in dichtbesiedelten Gebieten“ und der Vertreibung von 8,1 Millionen der 45 Millionen Einwohner:innen des Sudan, darunter mindestens 1,76 Millionen, die in arme Nachbarländer wie den Tschad geflohen sind. Mindestens 292 Menschen sind an Cholera gestorben, und bis zum 17. Februar 2024 gab es über 10.700 Verdachtsfälle.

Einem in der Zeitschrift The Middle East Eye zitierten Bericht zufolge sind seit Ausbruch der Kämpfe 37 Prozent der sudanesischen Anbauflächen unbewirtschaftet und die Weizenproduktion des Landes ist um 70 Prozent zurückgegangen. Hungersnöte plagen das Land, und obwohl am 15. April auf einer Geber:innenkonferenz in Paris Hilfsgelder in Höhe von 1,7 Milliarden Pfund (knapp 2 Milliarden Euro) zugesagt wurden, wird die Lieferung schwierig, weil die Krieg führenden Kommandeur:innen Vorräte für ihre eigenen Truppen beschlagnahmen.

Wie der Krieg begann

Die Kämpfe nahmen ihren Anfang im April 2023 zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan und seinem Stellvertreter Mohamed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti, der die paramilitärische RSF leitet. Seit ihrem Putsch gegen die Zivilregierung von Abdalla Hamdok im Oktober 2021 hatten sie ein Militärregime geführt.

Der Krieg brach in der riesigen Hauptstadt Khartum aus, breitete sich aber schnell auf andere Teile des Sudan aus, darunter Darfur, Port Sudan und im Dezember 2023 auch auf das bis dahin friedliche Projekt Gezira, das landwirtschaftliche Kerngebiet des Landes am Zusammenfluss von Blauem und Weißem Nil.

Sowohl Burhan als auch Dagalo traten während des blutigen Krieges in Darfur zwischen 2003 und 2008, in dem 300.000 Menschen getötet und 2,5 Millionen zu Flüchtlingen wurden, erstmals als militärische Führer in Erscheinung. Dagalo führte die berüchtigten Dschandschawid-Milizen (deutsch: berittene Teufel) an, die einige der schlimmsten Gräueltaten verübten und gleichzeitig durch die Goldminen in Darfur enorm reich wurden.

Doch die beiden Diebe zerstritten sich, angeblich wegen Burhans Versuch, die RSF in Darfur und Khartum unter sein eigenes Kommando zu stellen. Dagao erkannte, dass dies bedeutete,  den Zugang zu den Reichtümern von Darfur, einschließlich Gold, Mineralien, Öl und landwirtschaftlichen Erzeugnissen, abtreten zu müssen.

Ausländische Mächte

Der Zusammenstoß zwischen diesen korrupten Führern war zum Teil darauf zurückzuführen, dass sie um die Unterstützung der rivalisierenden imperialistischen Gruppen warben, die ebenfalls Zugang zu den Reichtümern und der strategischen Lage des Sudan bekommen wollten: der US-Imperialismus und seine europäischen Verbündeten, die sich mit China und Russland messen, sowie die Beteiligung regionaler Mächte wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Ägypten und Iran. Sie alle haben sich in den Sudan eingemischt. Nach Angaben der New York Times liefern die VAE heimlich Waffen an die RSF.

Tatsächlich bildet der Sudan selbst nur einen Teil eines Krisenbogens, der sich westlich über die Sahelzone zieht und auch den Tschad, Mali, Burkina Faso und Niger umfasst. In diesen Staaten kam es zu Militärputschen, die die französische Vorherrtschaft massiv schwächte oder gar durch andere ersetzte, oft unter Beteiligung Russlands (militärisch) und Chinas (Finanzen und Handel). Im Osten erstreckt er sich bis zu den Staaten am Roten Meer und Horn von Afrika.

Auch dort sind die Staaten von Konflikten und Rivalitäten geplagt. Äthiopien, Eritrea, Somaliland (Nordwestregion Somalias, völkerrechtlich nicht anerkannt) und Somalia haben alle die Hilfe der superreichen Rentierstaaten der Arabischen Halbinsel angezogen oder gesucht. Außerdem intervenieren die Huthis (Ansar Allah; Helfer:innen Gottes) im Jemen in den Gazakrieg. Diese Staaten liegen strategisch günstig in der Nähe oder an der Straße von Bab al-Mandab, die den Indischen Ozean mit dem Roten Meer und von dort aus mit dem Suezkanal verbindet. Etwa 20 Prozent des weltweiten Containerschiffsverkehrs werden durch diese Meerenge geleitet.

Entscheidende Lektionen

Der aktuelle Bürger:innenkrieg stellt aber vor allem Maße das Ergebnis der Niederlage der demokratischen Revolution im Sudan bzw. ihres Scheiterns dar, die Macht der rivalisierenden sudanesischen Kriegsherr:innen zu brechen und sich auf die Machteroberung der Arbeiter:innenklasse zuzubewegen.

Ende 2018 und bis ins Jahr 2019 hinein verfolgte die Welt mit Bewunderung, wie ein Massenaufstand, an dem sich Student:innen, Arbeiter:innen und Frauen beteiligten, das militärisch-islamistische Parteiregime von Präsident Omar (Umar) al-Baschir herausforderte, der seit dreißig Jahren an der Macht war. Die Proteste wurden von jugendlichen Widerstandsnachbarschaftskomitees auf der Straße organisiert. Im April wurde al-Baschir durch das Militär gestürzt. Am 21. April 2019 kündigte Abdel Fattah Burhan einen Militärischen Übergangsrat an, der „den Aufstand und die Revolution ergänzt“ und versprach, dass er sich „für die Übergabe der Macht an das Volk“ einsetzen würde. Dies war natürlich eine dreiste Lüge.

Der Rest des Jahres war von Massendemonstrationen geprägt, die sich mit Verhandlungen mit den politischen Parteien abwechselten. Im Oktober 2019 wurde eine zivile Regierung unter der Leitung von Abdalla Hamdok eingesetzt. Es war jedoch klar, dass diese immer noch unter der Vormundschaft von Burhan stand. Die unruhige Doppelherrschaft zog sich über zwei Jahre hin, in denen Hamdok seine Unterstützung in der Bevölkerung verspielte, indem er die von den ausländischen Gläubigern des Sudan diktierten Wirtschaftsreformen durchsetzte. Im Januar 2022 trat er schließlich zurück, so dass das Militär bis zur Spaltung zwischen der RSF und der SAF wieder an der Macht war.

In einem vor vier Jahren verfassten Artikel haben wir die Lehren aus den Revolutionen des Arabischen Frühlings gezogen, insbesondere aus der größten von ihnen, der in Ägypten. Da das militärische Oberkommando unter Abd al-Fattah as-Sisi (Abdel Fatah El-Sisi) seine Macht über die Angehörigen der Armee behielt, führte der Putsch gegen den gewählten Präsidenten der Muslimbruderschaft, Mohammed Mursi, zur raschen Wiedereinführung einer Militärdiktatur, die genauso schlimm war wie die von Husni Mubarak (Hosny Mubarak) oder noch strenger.

Wir sagten: „Die sudanesischen Revolutionär:innen werden zweifellos an das Schicksal des Arabischen Frühlings 2011 in Ägypten, Syrien, Jemen und Libyen denken, wo trotz des Mutes der jungen Revolutionär:innen ihrer Bewegung durch eine brutale Rückkehr des alten Regimes zerschlagen wurden. Solange das Oberkommando der Armee, die islamistischen Parteien und die Staatsbürokratie intakt bleiben, selbst wenn ihre derzeitigen Führer:innen zur Seite oder zurücktreten, wird die Gefahr einer Konterrevolution bestehen bleiben. Die einzige Antwort ist eine Revolution, die den ganzen Weg geht, die repressive Macht des Staates zerbricht, der korrupten Kapitalist:innenklasse die Kontrolle über die Wirtschaft entreißt und die Macht in die Hände der arbeitenden Menschen legt.“

Im Sudan ist der brutale Bürger:innenkrieg das Ergebnis einer unvollendeten Revolution, was einmal mehr das Wort des französischen Jakobiners Louis Antoine Saint-Just bestätigt: „Wer die Revolution halb macht, schaufelt nur sein eigenes Grab“. Unter den harten Bedingungen des Bürger:innenkriegs und unabhängig davon, welchen reaktionären Deal die ausländischen Mächte den Kriegsparteien aufzwingen, müssen die sudanesischen Revolutionär:innen die Lehren aus den vergangenen Jahren ziehen und sie in einem Programm und einer Partei verankern.

Zu diesen Lehren gehört nicht nur die enorme Gefahr, das Militär unangetastet zu lassen, d. h., in leninistischen Begriffen, nicht „die bürokratische militärische Staatsmaschine zu zerschlagen“, sondern auch die fatale stalinistische Volksfrontstrategie des Bündnisses des Bündnisses mit und der Unterordnung unter bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte. Die Führung der Arbeiter:innenklasse ist auch bei eine Umwälzung, die als „demokratische“ Revolution beginnt, der einzige Weg, um selbst ihre demokratischen Ziele zu verwirklichen, und um dies zu erreichen, muss die Revolution dauerhaft werden, d. h. zur Errichtung der Macht der Arbeiter:Innenklasse und zu sozialistischen Aufgaben übergehen.




Keine Waffen für Völkermord: Wie organisieren wir Palästinasolidarität in deutschen Gewerkschaften?

Jaqueline Katharina Singh/Robert Teller, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die starke Einbindung Israels in den europäischen Wirtschaftsraum verschafft der Arbeiter:innenklasse hierzulande auch einen großen Hebel. Streiks, Boykotte von Warenlieferungen und vor allem Waffen können die Kriegsmaschinerie wirklich treffen. Doch wie kommen wir dazu? Wie durchbrechen wir die Unterstützung der Bundesregierung durch die Gewerkschaftsspitzen?

Welche unmittelbaren Kampfziele sinnvoll sind, hängt angesichts dieses Kräftverhältnisses sicher auch von den jeweiligen Umständen ab. In jedem Fall sollten sie aber mit den dringenden Forderungen der gesamten Bewegung in einen Zusammenhang gestellt werden: nach einem sofortigen Waffenstillstand, dem Ende des Kriegsverbrechens der vorsätzlichen Aushungerung und dem Rückzug des israelischen Militärs aus Gaza. Laut einer aktuellen Umfrage (Statista, 22.03.2024) halten 69 % der deutschen Wahlberechtigten das militärische Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt – und es spricht wenig dafür, dass unter Lohnabhängigen oder Gewerkschaftsmitgliedern die Verhältnisse grundlegend anders sind.

Doch eine von dieser Mehrheit getragene Bewegung gibt es derzeit nicht. Um diese aufzubauen, reicht es offenbar nicht, an weitverbreitete Sympathie und Mitgefühl mit den Palästinenser:innen anzuknüpfen, wenn zugleich das gesamte „demokratische Spektrum“ mit schweren moralischen Geschützen aus allen Rohren auf alles schießt, was nur nach Palästinasolidarität riecht. Mit einer starken gewerkschaftlichen Palästinasolidarität wäre es möglich, über den symbolischen Protest auf der Straße hinaus die israelische Kriegsmaschine zu behindern – durch Blockade von militärischen Gütern, die auf dem See- oder Luftweg transportiert werden, Lahmlegung von Produktionsketten, die für Israel produzieren, aber auch Druck auf Universitäten oder Unternehmen, die über Kooperationen mit Israel indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt sind. Doch in Deutschland scheinen wir davon weit entfernt.

Deutsche Gewerkschaften und Palästina

Entgegen manchen Aktionen internationaler Gewerkschaften veröffentlichte der DGB am 10. Oktober eine Solidaritätsbekundung und offenen Brief an Arnon Bar-David, den Vorsitzenden der Histadrut, unter dem Titel „Solidarität mit Israel“. Dort heißt es unter anderem: „Jede Form von Terrorismus, willkürlichen Tötungen und Verschwindenlassen ist inakzeptabel und wird auf unseren entschlossenen Widerstand stoßen. Die letzten Tage haben uns gezeigt, wie tief Antisemitismus in den Gesellschaften der Welt verwurzelt ist. Wir sind schockiert und besorgt, wie brutal der Antisemitismus auch hier in Deutschland zu Werke ging. ‚Nie wieder’ ist für uns kein leeres Bekenntnis – im Gegenteil. Es ist unsere feste Überzeugung. Wir bekämpfen Antisemitismus hier in Deutschland, aber auch in unseren weltweiten Gewerkschaftsorganisationen. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Sie in Ihrem Kampf zu unterstützen, wir stehen eng an Ihrer Seite.“

Dieses Schreiben wirkt noch gemäßigt im Vergleich mit dem der DGB-Jugend, welches am 18.10. verabschiedet wurde. Der Titel „Solidarität mit unseren Freund*innen in Israel“ sagt  alles. Dabei erweist sich diese Linie der Solidarität mit dem israelischen Staat seither als das, was sie immer schon war: die Unterstützung eines Kriegs gegen die Bevölkerung von Gaza unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“.

Damit nicht genug. Als Gewerkschafter:innen offen die Demonstration „Gaza: Die Waffen müssen schweigen!“ im Januar in Köln unterstützten, war der Apparat bedacht, sehr schnell eine Pressemitteilung herauszugeben und klarzumachen: Der DGB ruft nicht dazu auf. Stattdessen beteilige man sich an der Aktion „Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus – in Solidarität und Mitgefühl mit Israel“. Zwar wird in diversen Stellungnahmen immer mal wieder erwähnt, dass man auch für die Zweistaatenlösung eintrete. Aber darin erschöpft sich schon die „Kritik“ an der israelischen Regierung. Wenige Worte sind für die Situation der Palästinenser:innen reserviert, noch weniger für praktische Initiativen, um wenigstens deren Leid zu lindern. Der Grundton ist klar: Der 7. Oktober sei ein isoliertes, kontextloses Ereignis, dass sich gegen Jüdinnen und Juden richtet – und die Verbrechen der israelischen Besatzung – ob illegaler Siedlungsbau, stetige Gewalt oder Gazablockade werden davon isoliert –, weil schon die Kontextualisierung des 7. Oktober als „Relativierung“ gilt.

Solidarität mit Israel – schon vor dem 7. Oktober

Die einseitigen Stellungnahmen und das aktuelle Schweigen zur Lage der palästinensischen Bevölkerung sind allerdings keine Überraschung. Bereits vor dem 7. Oktober wurden antizionistische Positionen mit aller Kraft in deutschen Gewerkschaften bekämpft: Unter der Schirmherrschaft der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas (SPD), hat der DGB-Jugendausschuss das erste Mal im März 2023 eine Sitzung in Israel abgehalten – und die Resolution „Solidarity forever – Deklaration zur Zusammenarbeit der DGB-Jugend und Histadrut“ verabschiedet. 2021 wurde das Palästinakomittee in Stuttgart vom „Festival gegen Rassismus“ der DGB-Jugend ausgeschlossen. 2017 kam bei der Bundesjugendkonferenz des DGB der Antrag „Boykotte boykottieren“ durch, der sich gegen die Zusammenarbeit mit der BDS-Kampagne und Gruppe FOR Palestine (For One State and Return) richtete. Hinzu kommen regelmäßige Austauschprogramme, wo Gewerkschaftsvertreter:innen Israel besuchen können – während auf die Situation der Palästinenser:innen wenig eingegangen wird. Das sind keine Einzelfälle, sondern eine politische Linie. Aber woher kommt diese?

a) Sozialpartnerschaft und mangelnde Basisstrukturen/Kontrolle

Ein Faktor ist die Sozialpartnerschaft, also die Politik der institutionalisierten Mitverwaltung des Kapitalismus zugunsten kleiner Verbesserungen für die Arbeitenden insgesamt. Deutlich spürbar bei Tarifrunden wie zum TVöD 2023 oder der Politik der Gewerkschaften während der Coronapandemie, führt sie letzten Endes zur Befriedigung von Konflikten. Denn es geht der Gewerkschaftsbürokratie darum, ihre eigene Position als Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit aufrechtzuerhalten – und damit des Kapitalismus. Ein Resultat davon ist ebenfalls – um die eigene Position wahren zu können –, den bürgerlichen Staat und die Außenpolitik des deutschen Imperialismus zu stützen.

Sichtbar wurde dies im Zuge des Ukrainekriegs, als Massenmobilisierungen gegen die im Zuge des Krieges stattfindende Aufrüstung und parallel laufende Einkommensverluste ausblieben. Ein zusätzlicher Faktor, der den Beschluss solcher Resolutionen begünstigt, ist der Aufbau und die Struktur der Bürokratie selbst. Statt Rechenschaftspflicht sowie direkte Wähl- und Abwählbarkeit können sich einmal gewählte oder eingestellte Bürokrat:innen für mehrere Jahre an ihre Posten klammern – ungeachtet ihrer politischen Positionen. Doch beide Punkte alleine reichen nicht aus, um die Situation in Deutschland zu verstehen. Schließlich finden wir sowohl Elemente der Sozialpartner:innenschaft als auch von der Basis losgelöste Strukturen ebenso in anderen Gewerkschaften – die jedoch weitaus progressivere Positionen bezüglich Palästina einnehmen.

b) Rolle der SPD und Zionismus der deutschen Linken

Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die SPD. Nach über 150 Jahren Klassenverrat könnte man hoffen, dass der Einfluss der Sozialdemokratie aus den Gewerkschaften verschwunden sei. Doch ist das letztlich nur eine Hoffnung und nicht Realität. Als bürgerliche Arbeiter:innenpartei ist sie vor allem in der Bürokratie und den Funktionärsschichten vertreten – und prägt auch ideologisch die internationale Politik der Gewerkschaften. Die SPD verteidigte schon früh die Gründung Israels. Neben der außenpolitischen Unterstützung der USA und der Westintegration kam als verstärkendes Moment die Verbindung zum Labourzionismus und zur Kibbuzbewegung hinzu, die als sozialistisches Modell idealisiert wurde. Wenn die SPD in den 1970er Jahren auch mit Vertreter:innen der PLO Beziehungen aufnahm, so standen sie sowie von ihr kontrollierte Jugendorganisationen schon seit den 1960er Jahren für eine starke politisch-ideologische Unterstützung des Zionismus.

c) Unterstützung der USA und Westintegration

Es überrascht also nicht, dass die staatstragenden Spitzen der DGB-Gewerkschaften – fest eingebunden in die als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisierte Klassenzusammenarbeit – auch außenpolitisch Patriot:innen sind und ins Horn der Staatsräson tuten. Den gewerkschaftlichen Initiativen für einen Waffenstillstand schlägt daher nicht nur staatliche Repression und mediale Stimmungsmache entgegen, sondern auch der Apparat der eigenen Gewerkschaft. Die meisten Initiativen haben sich daher bislang darauf beschränkt, durch offene Briefe Öffentlichkeit zu schaffen. Oft knüpften sie an einen Solidaritätsaufruf palästinensischer Gewerkschaften vom 16. Oktober an oder nahmen auf andere internationale Initiativen Bezug. Das alles könnte einen dazu veranlassen, den Kampf in den Gewerkschaften für sinnlos zu betrachten. Doch auch wenn dies verständlich ist – richtig ist diese Position keinesfalls.

Eine Solidaritätsbewegung mit Palästina ist erfolgreicher, wenn sie Streik als Mittel einsetzen kann, um den Krieg zu beenden. Zum einen baut Streik ökonomischen Druck auf – was Regierungen wesentlich stärker unter Druck setzt als einfache Demonstrationen. Zudem haben italienische oder belgische Arbeiter:innen gezeigt, dass Waffenblockaden so einfacher durchzusetzen sind. Mehrfach gab es Streikaufrufe, die sich an die Allgemeinheit gerichtet haben. Es ist zwar nachvollziehbar, sich an alle zu richten, gleichzeitig sind sie in der Leere verpufft. Es braucht konkrete Organisationen, die ihre Mitgliedschaft mobilisieren, um das existierende Potenzial zu bündeln. Gleichzeitig ist man so viel mehr gegen Repression geschützt. Der Kampf richtet sich gegen die Interessen des deutschen Imperialismus und seine Sozialpartnerschaft. Bei der Frage einzuknicken, weil „der Gegenwind zu scharf ist“, sorgt dafür, dass dessen Stellung gestärkt wird – was sich negativ auf andere gewerkschaftliche Kämpfe auswirkt. Denn der Kampf gegen Standortborniertheit findet auch an anderen Stellen statt, nicht nur wenn es um internationale Solidarität mit Kämpfen geht.

1. Bundesweite Vernetzung

Wenn die Solidaritätsbewegung mit Palästina erfolgreich sein soll, müssen wir also dafür eintreten, das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu ändern. Um handlungsfähig zu sein, ist es wichtig, dass die bereits Aktiven sich bundesweit vernetzen und Teil von Basisstrukturen werden. Ziel muss sein, die bisherigen Aktivitäten nicht nur zu bündeln, sondern auch gemeinsam nächste Schritte anzugehen. Wie genau das passieren kann, wollen wir im Folgenden klären:

2. Breite politische Aufklärungskampagne

Die ständige Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen propalästinensische Stimmen etwa entfaltet ihre Wirkung nicht nur durch Angst, selbst zur Zielscheibe von Repression zu werden, sondern in der breiten Masse vor allem dadurch, dass die meisten Menschen verständlicherweise eben keine Antisemit:innen sein wollen. Diese Unsicherheit lässt sich nur durch eine bewusste politische Auseinandersetzung auflösen. Die Kolleg:innen müssen selbst verstehen, was Antisemitismus ist (und was nicht), um gegen ungerechtfertigte Angriffe gerüstet zu sein. Hierfür bräuchte es eine politische Aufklärungskampagne. Das heißt: Es braucht verständlich geschriebenes Material, das über die aktuelle Situation aufklärt und gleichzeitig auf die häufigsten Kritikpunkte, die in der Debatte kommen, Gegenargumente liefern. Dieses Material kann ein Ergebnis einer bundesweiten Vernetzung sein.

Hilfreich ist dabei etwa ein Blick unter die Oberfläche der selbstverliebten deutschen bürgerlich-nationalistischen „Erinnerungskultur“, die es erst ermöglicht, die eigenen Verbrechen der Vergangenheit als Legitimation für neue Massaker zu instrumentalisieren. Vermitteln sollten wir auch, dass das Konzept des „jüdischen Schutzraums“ selbst einen rassistischen Charakter trägt, es im Gegensatz steht zur traditionellen Position der Arbeiter:innenbewegung, für die Gleichberechtigung aller Ethnien und Nationen einzutreten und für deren kollektive Verteidigung gegen Angriffe, wo immer sie leben. Keinesfalls sollte die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, verschwiegen oder kleingeredet werden – sondern wir sollten erklären, dass wir dessen Instrumentalisierung für die außenpolitischen Interessen des deutschen Imperialismus ablehnen und daher auch keine Illusionen in den deutschen Staat schüren, dass dieser den Antisemitismus ernsthaft bekämpft.

Ebenso notwendig ist es, Klarheit zu schaffen über die Kräfte des palästinensischen Widerstandes wie der Hamas. Wir sollten die dämonisierende Hetze gegen diese (und auch gegen den 7. Oktober) als das offenlegen, was sie ist: Chauvinismus, der einen Genozid rechtfertigen soll. Dabei sollten wir aber die politischen Schwächen der palästinensischen Bewegung und unsere Kritik am reaktionären Charakter der Hamas nicht verschweigen, denn dies würde gerade nicht dazu führen, dass Kolleg:innen ihre Position in einem politisch repressiven Klima selbstständig verteidigen können. Um eine gewerkschaftliche Verankerung der Palästinasolidarität zu schaffen, ist es daher auch notwendig, eine breite und offene Debatte um deren Ziele zu führen, um den Charakter des Krieges und um die Interessen, die der eigene Imperialismus hier verfolgt. Dann ist es auch möglich, die Palästinasolidarität auf eine allgemeinere Grundlage der Klassensolidarität zu stellen: Jeder israelische Sieg in Gaza macht auch den deutschen Imperialismus selbstbewusster und aggressiver – nach außen und innen. Er verschärft den Rassismus, schränkt demokratische Rechte ein (und damit auch die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenklasse insgesamt) und bereitet seine eigenen Kriege vor.

Umgekehrt schwächt ein erfolgreicher Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Vertreibung, gegen das Morden nicht nur ihren Kampf für nationale Selbstbestimmung. Er schwächt nicht nur den zionistischen Unterdrückerstaat, sondern auch die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und weltweit, weil er Mächten wie den USA oder auch der BRD und ihren herrschenden Klassen Paroli bietet und allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zeigt, dass scheinbar unbesiegbare Staaten nicht unverletztlich sind.

3. Konkrete Beschlüsse erkämpfen

Um eine gewerkschaftliche Solidarität aufzubauen, sollten wir uns auch an positiven Beispielen orientieren. Gerade wenn man unter schwierigen Bedingungen kämpft, ist es motivierend zu sehen, was in anderen Ländern erreicht wurde: etwa das „National Labor Network for Ceasefire“, dem über 200 US-Gewerkschaften angehören, oder der Aufruf von 14 spanischen Gewerkschaften, den Waffenhandel mit Israel zu beenden.

Ziel muss es sein, in den lokalen Gliederungen konkrete Beschlüsse zu verabschieden. Inhalt dieser sollte sein: die Ablehnung, deutsche Waffen nach Israel zu schicken sowie den Krieg finanziell zu unterstützen, gegen die Beteiligung deutscher Unternehmen am illegalen Siedlungsbau (wie beispielsweise durch Axel Springer) und stattdessen für eine sofortige, permanente Waffenruhe. Einen entsprechenden Vorschlag findet ihr am Ende des Textes. Die Landesdelegiertenversammlung der GEW Berlin hat beispielsweise Ende November zwei Statements verabschiedet. In einem heißt es: „Ebenso verurteilen wir die unverhältnismäßigen Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Gaza, die bereits Tausende zivile Opfer gefordert haben, die Vertreibung der Bevölkerung und die Blockade des Gazastreifens. Wir fordern die Beendigung der Luftangriffe und der Blockade sowie den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazstreifen. Ein Krieg mit dem Ziel der ‚Vernichtung der Hamas’ (Benjamin Netanjahu) würde viele Tausende Tote unter den Palästinensern in Gaza fordern. Als erster Schritt wäre eine sofortige Waffenruhe erforderlich.“

Die internationalen Aktionen und Aufrufe können nicht nur als positive Beispiele genutzt werden. Es sollte auch in den Debatten aufgezeigt werden, dass der DGB internationale Beschlüsse hat, die er nicht umsetzt und konkret dagegen arbeitet. Wichtig ist dabei, dass es nicht nur darum geht, viele Forderungen oder möglichst lange Texte zu verabschieden, sondern dass man die Kolleg:innen dafür gewinnt, sich in der jeweiligen Gliederung öffentlich zu positionieren und auch aktiv werden zu können.

4. Gemeinsam in Aktion treten

Ob Infoveranstaltungen mit Gewerkschafter:innen aus anderen Ländern, Blöcke auf Palästinasolidaritätsdemonstrationen, Proteste vor Gewerkschaftszentralen oder Betriebsversammlungen zum Thema: Die Palette ist breit, wenn es darum geht, was alles getan werden kann. Ziel ist es, an dieser Stelle mit Kolleg:innen ins Gespräch zu kommen, aber zeitgleich auch eine klare Kante zur bisherigen Politik des Gewerkschaftsapparates zu zeigen –  mit dem Ziel, diesen unter Druck zu setzen, sich zu positionieren und bestenfalls die Mobilisierungen zu unterstützen.

Widersprüche aushalten, Druck ausüben

Wir wollen ehrlich sein: Das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu verändern. wird nicht einfach sein. Für Aktivist:innen ist es zentral zu verstehen, dass die Aktivitäten im Wechselspiel zueinander stehen. Einzelne Beschlüsse alleine werden das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften nicht kippen. Deswegen müssen die Aktivitäten Teil einer gesamtgesellschaftlichen, politischen Solidaritätskampagne sein. Ohne diese wird es schwer, etwas in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite kann eine Solidaritätskampagne nur schlagkräftig werden können, wenn es uns gelingt, einen Teil der Gewerkschaftsaktivist:innen für eine internationalistische, fortschrittliche Politik zu gewinnen.

Deswegen muss die Kampagne bewusst Druck auf die Gewerkschaften ausüben und aufzeigen, was die Konsequenzen des Schweigens und der Billigung des Krieges gegen die Palästinenser:innen sind. Sich abzuwenden oder auf den Konflikt nicht einzugehen, führt dazu, der Politik des Burgfriedens das Feld zu überlassen – und schwächt die Bewegung sowie die Arbeiter:innenklasse. Schließlich hat die Berichterstattung im Zuge des 7. Oktober sowohl zum Erstarken des antimuslimischen Rassismus als auch Antisemitismus geführt und droht auf lange Sicht, insbesondere rechte, reaktionäre Kräfte wie die AfD zu stärken.

Für uns als Marxist:innen ist der Kampf in den Gewerkschaften deswegen unerlässlich. Gleichzeitig geht er für uns damit einher, dauerhaftere Strukturen gegen die Politik der Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen – eine klassenkämpferische Basisbewegung, die nicht nur versucht, Posten in der Bürokratie abzugreifen und „links“ zu besetzen, sondern eine kämpferische Opposition gegen diese bildet. Wir halten dies für zentral, nicht nur im Kampf in Solidarität mit Palästina, sondern auch in allen internationalistischen Kämpfen – sei es, um Solidaritätsstreiks zu organisieren für Bewegungen wie im Kongo, Frankreich oder Pakistan, sei es, um politische Angriffe abzuwehren, wie eine Verschärfung des Streikrechts oder den immer weiter voranschreitenden Rechtsruck oder schlicht und einfach, Reallohnverluste bei einfachen Tarifauseinandersetzungen hinzunehmen. Doch so etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Lasst uns deswegen gemeinsam Widerstand aufbauen – nicht nur gegen den Krieg in Gaza, sondern gegen die imperialistische Politik, die das ermöglicht und überall auf der Welt tagtäglich ihre Opfer fordert!

Vorschlag: Stopp aller Waffenlieferungen an Israel – sofort!

Die Angriffe der IDF und die Politik der israelischen Regierung haben über 40.000 Menschen in Gaza das Leben gekostet, Hunderttausende obdachlos gemacht und vertrieben, Zehntausenden droht der Tod durch Verhungern. Der drohende Angriff auf Rafah wird diese Katastrophe verschärfen. Vor unseren Augen vollzieht sich ein Genozid am palästinensischen Volk.

Dazu dürfen wir Lohnabhängige, dürfen wir Gewerkschafter:innen nicht schweigen. Wir müssen aktiv werden und alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um das Morden zu stoppen, einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Armee, die Öffnung der Grenzen für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten.

Damit das Morden gestoppt wird, kämpfen wir dafür, dass sämtliche Unterstützung für den Genozid durch Deutschland unterbleibt – das heißt vor allem sofortiger Stopp von Waffenlieferungen an Israel!

Als Gewerkschafter:innen können und müssen wir zusammen mit Schüler:innen und Studierenden die Solidaritätsbewegung auf der Straße unterstützen. Wir müssen aber auch die Solidarität in die Betriebe, in die Abteilungen und Büros tragen. Wir werden gemeinsame Anträge in gewerkschaftliche und betriebliche Gremien einbringen, die folgende Positionen und Forderungen an die DGB-Gewerkschaften beinhalten:

Wir brauchen eine Kursumkehr in den DGB-Gewerkschaften! Wir treten für die Durchführung von Solidaritätsdiskussionen ein, wie sie von den palästinensischen Gewerkschaften seit Monaten gefordert werden.

  • Kein weiteres Schweigen zum Genozid! Schluss mit der Politik der Unterstützung für Bundesregierung und Krieg!

  • Offene und demokratische Diskussion in den Gewerkschaften und Betrieben, wie das Morden gestoppt werden kann!

  • Veröffentlichung, Verbreitung und Einhaltung der Resolutionen der internationalen Gewerkschaftsverbände gegen Krieg, Hunger und Waffenlieferungen durch die Vorstände der deutschen Gewerkschaften!

Wir schlagen gewerkschaftliche und betriebliche Mobilisierungen um folgende grundlegende Forderungen vor:

  • Sofortiger Waffenstillstand, Rückzug der IDF, Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen an die Bevölkerung!

  • Stopp aller Waffenlieferungen an Israel! Abzug aller deutschen Truppen aus dem Nahen Osten!

  • Entkriminalisierung der Palästinasolidarität und aller palästinensischen Organisationen!

  • Verhinderung von Waffentransporten nach Israel durch Massendemonstrationen, Arbeitsniederlegungen, Streiks und Blockaden!



Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Resolution des Palästina-Kongress 2024: Wir klagen an!

Resolution des Palästina Kongress 2024, Berlin, den 14. April 2024, Infomail 1251, 17. April 2024

Vorwort: Der Palästina-Kongress wurde am 12. April von der Berliner Polizei aufgelöst. Dennoch konnten am 14. April die geplanten Beiträge als Live-Stream übertragen und die Resolution-Resolution vorgestellt werden, die vorab mit unterstützenden Organisationen abgesprochen worden war. Wir veröffentlichen das Dokument, das ursprünglich auf https://palaestinakongress.de/ publiziert wurde, und rufen zur Unterzeichnung der Resolution auf. You can sign the resolution here!

Wir klagen an.

Die Palästinenser:innen erleiden einen Völkermord.

Israel vernichtet Gaza und seine Bevölkerung. Mehr als 40‘000 Palästinenser:innen wurden bis Ende März durch das israelische Militär getötet. In Gaza starben seit Oktober 2023 mehr Kinder als in allen weltweiten Konflikten von 2019 bis 2022. Fast alle Bewohner:innen Gazas wurden aus ihren Wohnorten vertrieben. Mehr als eine Million Menschen leiden an schwerem Hunger. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser und Medizin ist unterbrochen. Infrastruktur, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, Verwaltungsgebäude und Wohnblocks wurden zerbombt.

Die Ermordung Zehntausender und die Vertreibung Hunderttausender konstituieren einen Genozid. Die israelische Kriegsführung zielt auf die Zerstörung der palästinensischen Nation und darauf, deren mit der Nakba 1948 begonnene Vertreibung aus Palästina zu vollenden und zur Flucht nach Ägypten oder in andere Länder zu zwingen.

Die Bundesregierung leistet Beihilfe zum Völkermord.

Deutschland ist der zweitwichtigste Waffenlieferant für den Genozid. Seit Oktober 2023 verzehnfachte der Bundessicherheitsrat bestehend aus Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt, Annalena Baerbock, Boris Pistorius, Christian Lindner, Nancy Faeser, Marco Buschmann, Robert Habeck und Svenja Schulze, sowie seinen Beisitzern Carsten Breuer, Dörte Dinger, Steffen Hebestreit und Günter Sautter die Waffenlieferungen an Israel.

Deutschland leugnet den Genozid. Nach der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes, der Anzeichen für genozidale Bestrebungen seitens des israelischen Staates sah, war es Vizekanzler Robert Habeck, der erklärte, dass der Vorwurf des Völkermordes „jeglicher Grundlage entbehre“. Die Mehrheit der privaten und öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender, als auch deutscher Zeitungen beteiligt sich an einer Desinformationskampagne.

Deutschland unterstützt die genozidale Hungerpolitik der israelischen Regierung. Während sich bereits im Januar 2024 die Hungersnot in Gaza ausbreitete, erklärte die Ministerin für Zusammenarbeit Svenja Schulze, die humanitäre Unterstützung Deutschlands an die Palästinenser:innen und die UNRWA einzustellen. Die westliche „Notversorgung“ durch eine Luftbrücke und auf dem Seeweg fungieren letztlich als humanitäre Flankendeckung für den Krieg.

Die Versammlungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Freiheit von Presse und Wissenschaft werden eingeschränkt, um Proteste für einen Waffenstillstand zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht durch Verordnungen der Innenminister. Es geschieht auch mit der Unterstützung regionaler und lokaler Politiker:innen, sowie der bereitwilligen Ausführung deutscher Polizist:innen und Verwaltungsbeamt:innen. Dass viele dieser Verordnungen „legal“ sind, zeigt, wie groß der repressive und antidemokratische Spielraum in Deutschland bereits seit Jahrzehnten ist. Heute werden Gesetze in Bundes- und Landesparlamenten debattiert, die fundamentale demokratische Rechte für jede und jeden dauerhaft und tiefgreifend einschränken werden.

Nie Wieder für alle.

Der Genozid in Gaza stellt daher ähnlich wie der Vietnam Krieg eine Zäsur in Deutschland dar. Die Regierung unterstützt schamlos und vor der Weltöffentlichkeit einen Völkermord. Der Lärm der Bombardements in Palästina wird nur durch das Verharmlosen, ja das vielfach dröhnende Schweigen zu den Kriegsverbrechen übertroffen. Deutsche Politiker:innen bemühen eine zynische Neuinterpretation der Geschichte und rechtfertigen im Namen des „Nie Wieder“ ihre Unterstützung eines Genozids.

Wer mit der Tötung von israelischen Zivilist:innen am 07. Oktober die Zerstörung und Ermordung der gesamten palästinensischen Zivilisation in Gaza rechtfertigt, begräbt auch jeden Anspruch auf Menschlichkeit und Demokratie. Die deutsche Regierung versucht diesen Genozid mit dem Recht auf „Selbstverteidigung“ zu rechtfertigen. Gleichzeitig spricht sie allerdings den Palästinenser:innen, die seit 76 Jahren Entrechtung und Vertreibung erleben, jedwedes Recht ab. Diese werden vielmehr rassistisch diffamiert, Protest wird unter den Generalverdacht des „importierten Antisemitismus“ gestellt. Hinter dieser Hetze und Diffamierung steht ähnlich wie zu Zeiten des Vietnam-Kriegs kalte geo-strategische Berechnung, insbesondere des deutschen und US-amerikanischen Imperialismus. In solchen Berechnungen gelten nicht alle Menschenleben gleichviel. Wir stellen uns gegen diese Entmenschlichung und die hinter ihnen stehenden Interessen.

Widerstand ist gerechtfertigt.

Wir, die Teilnehmer:innen des Palästina Kongresses erklären unseren Widerstand gegen diese aggressive und verbrecherische Politik. Wir verpflichten uns, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Vollendung des palästinensischen Genozids und damit eines weiteren Genozids unter deutscher Beihilfe zu verhindern.

Wir erklären, die Namen der Verantwortlichen deutschen Entscheidungsträger:innen nie zu vergessen. Ihre Schuld ist nicht reinzuwaschen. Heute klagen wir sie moralisch an. Doch wir werden nie ruhen, bis sie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Wir wissen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung die Waffenlieferungen an Israel und die Kriegstreiberei der Regierung ablehnt. Trotz Lügen, Diffamierung und Hetze wird mehr und mehr Menschen bewusst, dass die Politik der deutschen Regierung zum Völkermord und zur Vertreibung von Millionen Menschen führt. Wir wenden uns an diese Menschen, unsere Kolleg:innen, Nachbar:innen, Mitschüler:innen: Erheben wir uns gemeinsam, damit der Genozid gestoppt wird, damit die Menschen Gazas, die Menschen Palästinas leben können. Durchbrecht gemeinsam mit uns das Schweigen und erhebt diese Forderungen. Schließt euch unserer Bewegung gegen Genozid und Krieg an.

Vereinen wir unsere Kräfte mit den Palästinenerser:innen, die für ihre Freiheit kämpfen und mit der internationalen Bewegung gegen den Genozid. Schließen wir uns Millionen von Menschen an, die weltweit auf die Straße gehen, um ihre Regierungen unter Druck zu setzen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Protesten von Arbeiter:innen in Katalonien, Italien, Belgien und Indien, die sich geweigert haben, an Flughäfen und Häfen Kriegsgeräte zu beladen. Vereinen wir unsere Kräfte mit den Aktivist:innen, die in England Blockaden und Besetzungsaktionen gegen die britische und israelische Rüstungsindustrie organisiert haben.

Unser Kampf für die Lebenden, für die Befreiung und Selbstbestimmung Palästinas!

  • Sofortiger Waffenstillstand, sofortiger Rückzug der israelischen Armee · Vollständige Aufarbeitung aller begangener Kriegsverbrechen.

  • Sofortige Aufhebung jeglicher Beschränkungen humanitärer Hilfe nach Gaza und die volle Ausfinanzierung der UNRWA.

  • Sofortige Öffnung aller Grenzübergänge von Rafah bis Allenby. Reißt die Apartheidsmauern ein.

  • Vollständige Reparationen Israels, Deutschlands und weiterer Verbündeter an das palästinensische Volk.

  • Sofortige Einstellung jeglicher militärischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Unterstützung Israels durch den deutschen Staat sowie ein umfassendes Militärembargo.

  • Sofortiger Rückzug der Bundeswehr, der US-Armee und aller NATO-Truppen aus dem Roten Meer und dem Nahen Osten! Nein zu Aufrüstung und Sondervermögen der Bundeswehr für den Krieg!

  • Nein zu der Verwendung der zionistischen IHRA-Definition durch jegliche Institutionen oder staatliche Behörden, nein zur Legitimierung des Genozids im Schulunterricht. Stoppt die Exmatrikulation von Studierenden und Entlassungen von Lohnabhängigen, die sich mit Palästina solidarisieren!

  • Schluss mit der Kriminalisierung und Repressionen der Palästina-Solidaritätsbewegung in Deutschland. Sofortiger Stopp jeder Kriminalisierung palästinensischer Organisationen und Individuen sowie aller Abschiebungen. Öffnung der Grenzen und Aufnahme aller Geflüchteten bei vollem Recht auf Wohnen, Bildung und Arbeit.

  • Durchsetzung des Rückkehrrechts der palästinensischen Geflüchteten sowie Ende des seit über 76 Jahren andauernden zionistischen Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung des gesamten besetzten Palästinas.

Wir rufen dazu auf, diese Forderungen in Vereinen, Parteigliederungen, Gewerkschaften, Betriebsversammlungen, Studierenden- und Schüler:innenvertretungen, in Kollektiven und Clubs einzubringen, zu diskutieren und zu unterstützen.

Denn die Verantwortung liegt bei uns. Zur Verwirklichung dieser Ziele rufen wir zu einer breiten Kampagne von Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen den israelischen Staat in Deutschland auf. Wir fordern die Offenlegung aller Geschäftsbeziehungen und Verträge deutscher Unternehmen mit Israel!

Wir rufen Gewerkschaften, Beschäftigte und die Bevölkerung dazu auf, Waffenlieferungen aus Deutschland zu stoppen. Wir fordern die Gewerkschaften auf, dem Aufruf ihrer palästinensischen Schwesterorganisationen zu folgen und eine international koordinierte Kampagne gegen das Morden zu organisieren. Jegliche Rechtfertigung und Unterstützung des Genozids in jedweder Form sind durch Streiks, Blockaden, Besetzungen oder zivilen Ungehorsam zu stoppen.

Beteiligt euch an der bundesweiten Aktionswoche vom 15.-22. April anlässlich des Tages der palästinensischen Gefangenen. Heute hält der israelische Staat weit über 10’000 palästinensische Menschen, darunter viele Minderjährige, im Verstoß gegen internationales Recht und Kriegsrecht als Geiseln.

Mobilisiert und organisiert gemeinsam mit uns zentrale Großdemonstrationen am 15. und 18. Mai in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und weiteren Städten. Wir rufen euch auf, die europaweite Nakba-Demonstration am 19. Mai in Brüssel zu unterstützen. Lasst uns anlässlich des 76. Jahrestages der Nakba, der Vertreibung des palästinensischen Volkes aus ihren Heimstätten und Dörfern, bundesweit und international koordiniert ein Zeichen gegen Genozid, Vertreibung und Spaltung setzen.

Denn wir, palästinensische und jüdische, deutsche und internationale Stimmen wissen: Frieden kann es nur auf Basis von Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen, nur wenn die Unterdrückung der Palästinenser:innen voll und ganz beendet ist. Wir kämpfen für ein Ende des zionistischen Siedlerkolonialismus und seiner Apartheidpolitik vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer, einschließlich des Rückkehrrechts aller palästinensischen Geflüchteten.




Rezession im Superwahljahr: Politisch-Ökonomische Perspektiven 2024

Mo Sedlak, Die Flammende, Politisches Magazin des Arbeiter*innenstandpunkts, Frühjahr 2024, Infomail 1251

Die politischen Zeichen stehen auf Sturm, die Wirtschaft ist in der Flaute.

Die türkis-grüne Regierung hat keine Umfragemehrheit mehr und orientiert sich voneinander weg, hin zu einer schwarz-blauen beziehungsweise einer Ampelkoalition. Die FPÖ könnte klar auf Platz 1 gewählt werden und droht mit einem Regierungsprogramm des radikalen Rassismus und Sexismus, vor allem auch gegen queere Menschen. Die Rezession, die 2023 begonnen hat, kostet Arbeitsplätze und wird die Gewerkschaften zu einem noch zahmeren Verhandlungskurs bewegen. Die Inflation bleibt weiter hoch und über dem europäischen Durchschnitt, was Arbeiter:innen und Erwerbslose weiterhin sehr belastet. Seit dem Einbruch der Industrieproduktion letztes Jahr wird die österreichische Wirtschaft fast ausschließlich von der Konsumnachfrage getragen – die kann unter Arbeitsplatzverlusten, Inflation oder nicht erneuerten Staatshilfen jederzeit einbrechen. Durch die gestiegenen Zentralbankzinsen und die Großzügigkeit bei Corona-Unternehmenshilfen steht auch das Staatsbudget unter Druck. Sparpakete und Konsolidierungsmaßnahmen werden aber sicher nicht im Wahljahr beginnen – die nächste Bundesregierung wird dann aber ziemlich sofort zum Angriff auf soziale Absicherung und erkämpfte Errungenschaften übergehen.

2024 startet aber auch mit großem politischem Potential für linken Widerstand. Die SPÖ hat ihren linksten Parteivorsitzenden seit Jahrzehnten gewählt. Die KPÖ und ihre lokalen linken Verbündeten könnten erstmals seit Nationalratswahlen 1956 einziehen. Sie wären dann die einzige Oppositionspartei, die weder an eine Kapitalfraktion gebunden ist, noch über die Sozialpartnerschaft den österreichischen Kapitalismus verwaltet. Am Arbeitsmarkt steigt die Verhandlungsmacht der Arbeiter:innen durch Arbeitskräftemangel, Pensionierungswelle und abnehmender Ungleichheit zwischen Vollzeit- und Teilzeitstellen. Das hat es den Gewerkschaften erlaubt, die Lohnsteigerungen der letzten Jahre relativ breit zu verteilen, aber auch kämpferische Belegschaften zu beruhigen.

2024 wird auch ein Jahr der sich zuspitzenden imperialistischen Widersprüche. Internationalistische Forderungen werden die Arbeit von Revolutionär:innen prägen, internationalistische, anti-imperialistische und anti-militaristische Bewegungen sind aber auch an ihrem stärksten Punkt seit dem Irakkrieg. In den westlichen imperialistischen Ländern und besonders in Österreich wird der Anpassungsdruck hinter die Staatsräson mit zunehmender Propaganda und Repression ausgeübt, was zu steigendem Staatsrassismus aber auch zunehmenden Widersprüchen in der Linken führt.

Die Rechte treibt darüber hinaus eine Reihe von reaktionären Angriffen weiter, gegen die Rechte von Frauen, queeren Personen, Menschen mit Migrationsgeschichte und politischen Minderheiten. Die Hetze gegen trans Personen (und in der rechten Propaganda allen queeren Personen) ist zu einem Eckpunkt rechter Mobilisierungen geworden. Auch die ÖVP fordert die Rechte von queeren Personen einzuschränken, wenn sie beispielsweise ein Verbot von Drag Shows fordert oder für Förderungsstopps an queere Zentren eintritt. Der Rassismus der rechten Umfragemehrheit ist noch direkter und auf tödliche Weise wirksam. Das tausendfache Morden an den Außengrenzen, Schikanen und Polizeigewalt gegen Geflüchtete werden von der zunehmenden antimuslimischen Hetze angefeuert. Die Propaganda über „importierten“ muslimischen Antisemitismus reicht bis zu den Grünen und der SPÖ, dient aber vor allem dazu, den Antisemitismus von ÖVP- und FPÖ-Mandatar:innen zu rechtfertigen und die rassistisch diskriminierten Arbeiter:innen noch weiter zu marginalisieren. Dazu kommen offen diskriminierende Konstruktionen im Arbeitsrecht und Schikane-Anweisungen an das AMS, die die selbst konstruierten Sündenböcke für alles in einen entrechteten Mindestlohnsektor verbannen wollen.

Die sozialen Bewegungen sind in den letzten Jahren eher schwächer geworden. Linke Massendemonstrationen wie zu Black Lives Matter oder zum Rücktritt von Sebastian Kurz sind seltener geworden. Es gibt aber Ausnahmen: Die lang vorbereitete feministische Kampftagdemo am 8. März oder die Proteste der Elementarpädagog:innen. Die Mobilisierungsschwäche wird aber durch stärkere Strukturen und mehr Selbstbewusstsein ausgeglichen. Auch die Klimabewegung hat trotz immer kleinerer Demonstrationen einen aktivistischen Kern gehalten und ausgebaut. Diese klar außerparlamentarischen Strukturen werden in der Lage sein, den Regierungsangriffen mit Mobilisierungen zu antworten. Ob dieser Widerstand erfolgreich ist, hängt aber davon ab, ob eine gemeinsame Strategie und ein gemeinsames Aktionsprogramm gefunden werden können.

2023 war ein schlechtes Jahr, das hätte schlimmer sein können

In unseren politisch-ökonomischen Perspektiven für 2023 haben wir geschrieben, dass die österreichische und europäische Wirtschaft in eine Rezession bei gleichzeitigen hohen Inflationsraten schlittert. Das ist so auch passiert, darüber waren sich bürgerliche und marxistische Ökonom:innen aber sogar einig. In manchen europäischen Staaten ist aber zumindest die Preisexplosion zurückgegangen, auch die Wirtschaftsentwicklung schaut nur in einzelnen Kleinstaaten schlechter aus als in Österreich (Estland, Irland, Luxemburg und Ungarn). Der Hintergrund der Rezession waren die seit 2015 sinkenden Profiraten, die durch die massive staatliche Umverteilung während der Pandemie und eine stärkere Exportorientierung der österreichischen Industrie gedämpft wurden. Diese Gegentendenzen haben 2023 aber ihre dämpfende Wirkung verloren, auch unter dem Druck der Energiepreiskrise und der neuen Blockbildung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.

Die Rezession ist aber nicht in eine Krise übergegangen, Produktion und Reproduktion laufen weiter. Energieversorger und Industrie haben große Reserven, 2022 und 2023 haben sie sogar Rekordprofite gemacht. Die Wirtschaft wird vor allem durch die Konsumnachfrage der Arbeiter:innen stabilisiert, trotz der Kaufkraftverluste bei den unteren Einkommen . Wegen dem Arbeitskräftemangel und den hohen Profiten vor allem bei den stärksten Kapitalen hatten Firmen eine recht hohe Bereitschaft, Löhne zu erhöhen. Den Gewerkschaften ist es gelungen, viel von dieser Zahlungsbereitschaft in Kollektivvertragserhöhungen zu leiten statt in die individuelle Überzahlung von besonders gefragten Arbeiter:innen. Das stärkt die Konsumnachfrage und reduziert auch die Lohnungleichheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Gleichzeitig sind viele Abschlüsse hinter der Inflation zurückgeblieben, 2023 war für viele ein Jahr der Reallohnverluste.

Für die österreichische Industrie war der wichtigste Faktor im vergangenen Jahr aber die relative Stabilität auf den internationalen Güter- und Finanzmärkten. Die österreichischen Banken selber sind trotz der großen Investitionen in Russland ganz gut abgesichert. Eine internationale Finanzkrise hätte diesen dünnen Deich aber leicht überrollt, das war schon Anfang 2023 sichtbar:

„Gleichzeitig scheinen die europäischen Regulierungsbemühungen nach 2008 bei den österreichischen Geschäftsbanken schon zu Veränderungen geführt zu haben. Die Eigenkapitalquote ist, bis auf Kleinstbanken wie im berüchtigten Mattersburg, relativ stabil. Das wird nicht ausreichen, wenn es eine gesamtwirtschaftliche Krisendynamik gibt (das zeigt auch die jetzt schon langsamere Kreditvergabe). Derzeit deutet aber nichts darauf hin, dass diese in Österreich vom Bankensektor ausgehen würde.“

Mitte März 2023 kam es mit dem „ersten Bankenwackeln“ bei der Silicon Valley Bank und der Signature Bank New York, dann mit dem Zusammenbruch der Credit Suisse, zu so einer instabilen Entwicklung. In nur einer Woche musste die amerikanische Fed mehr Hilfsgelder ausschütten als jemals zuvor in so einem kurzen Zeitraum, sogar mehr als während irgendeiner Woche in der Finanzkrise 2008.  Die Bankgewinne haben sich über das Jahr 2023 aber stabilisiert, auch wegen der Übergewinne durch die Zentralbank-Zinserhöhungen: Sie verlangen und bekommen jetzt einfach mehr Geld für ihre Bankleistungen. Die Anzahl der geschäftsgefährdenden Kreditausfälle oder Kursstürze ist aber klein geblieben. Unter dem steigenden Zinsdruck leiden vor allem Arbeiter:innen mit Hypotheken oder Konsumkrediten, aber nicht die Profite.

Für die Arbeiter:innen und die Industrie in Österreich ist 2023 schlecht gelaufen, aber nicht so schlimm wie es hätte kommen können. Zum Beispiel nicht so schlimm wie für die österreichische Regierung. Schon seit Jahresbeginn haben sich ÖVP und Grüne aneinandergeklammert wie zwei Betrunkene am Heimweg, eine Regierung ohne Umfragemehrheit, deren Minister:innen nicht anerkannt werden und die sich heftig streiten, miteinander und parteiintern. ÖVP und Grüne stehen für die politische Koalition einer politischen Mitte ohne Verbindungen in die organisierte Arbeiter:innenklasse (wie die SPÖ) oder in die außerparlamentarische Rechte. Sie ist vor allem der Versuch, zwei Kapitalfraktionen zusammenzubringen, die Profiteur:innen einer kapitalistischen grünen Wende und die Verwalter:innen des alten Fossilkapitalismus, die neidisch auf die Subventions-Extraprofite schielen.  Politisch und ökonomisch ist diese Allianz gescheitert. Den großen Teil der ÖVP zieht es zurück ins rechte, teilweise rechtsautoritäre Lager, eine relevante Minderheit will die sozialpartnerschaftliche Stabilität einer großen Koalition zurück. Die Grünen sehen mal wieder die Felle der Macht davonschwimmen, können aber schwer noch mehr Zugeständnisse machen. Und selbst die sichern keine weitere Regierungsbeteiligung mehr ab.

Die Schwäche der Regierung hat aber auch etwas Gutes: Weder im Jahr der Instabilität noch im Wahljahr stehen staatliche Konsolidierung, Sparpakete und Sozialabbau auf der Tagesordnung. Die werden der nächsten Bundesregierung überlassen, eine Horrorvorstellung für Arbeiter:innen, Erwerbslose und alle, die staatliche Unterstützung brauchen würden. Welche Parteien nach der Nationalratswahl ans Ruder kommen, macht also, wenn überhaupt, nur einen Unterschied in der genauen Ausformung der Politik gegen die arbeitende Bevölkerung.

Internationale Dynamiken: Krieg, Instabilität und neuerwachender Internationalismus

In einem kapitalistischen Weltmarktsystem hängen die einzelnen Volkswirtschaften eng miteinander zusammen. Wirtschaftspolitik, nationale konzentrierte Kapitalfraktionen und Arbeitsmarktdynamiken führen zu natürlich trotzdem unterschiedlichen Entwicklungen. Das zeigt zum Beispiel die beständig überdurchschnittliche Inflation in Österreich. Aber wenn eine globale Krise anrollt, bleibt kein noch so national abgegrenztes Auge trocken.

Dass die Rezession gerade 2023 begonnen hatte, ist auch einem weltpolitischen Auslöser zu verdanken. Der russische Angriff auf die Ukraine und die folgende innerimperialistische Konfrontation unterbrachen Lieferketten und ließen die Energiepreise explodieren. Das verstärkte aber nur den ohnehin schon bestehenden inflationären Druck: Wegen der fallenden Profitraten setzten Kapitale immer mehr auf Preiserhöhungen statt auf Ausweitung der Produktion, in Erwartung ihre neuen Anlagen gar nicht mehr so profitabel einsetzen zu können.

Aber schon vor 2023 waren die internationalen Spannungen zu einer Belastung für die nationalen Kapitale geworden (außer ihr „idealkapitalistischer“ staatlicher Vertreter war zufällig gerade am erfolgreichsten). Der Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China beziehungsweise der EU, die Konfrontation von US- und Russland-gestützten Kräften in Syrien, und die zunehmende Aggression zwischen den USA und China hatte gezeigt, dass die Neuaufteilung der Welt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder mal an ihre Grenzen gestoßen war. Auf die Periode der Globalisierung folgte eine neue Blockbildung mit ernsthaften Deglobalisierungstendenzen.

Seit Oktober 2023 ist diese Lage mit dem Krieg in Gaza und seiner langsamen Ausweitung auf die gesamte Region deutlich eskaliert. Die USA wollen ihrem engen Verbündeten Israel Zurückhaltung einreden, weil sie eine Neuorientierung der arabischen Staaten hin zu China und Russland befürchten. Gleichzeitig weiten sie selbst den Krieg auf den Jemen aus und eskalieren die Besatzung im Irak weiter.

Das Massaker der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die genozidalen Vertreibungsfantasien der israelischen Staatsspitze haben Arbeiter:innen und Jugendliche weltweit mobilisiert. Sie sind die Mehrheit der Menschen, die in der größten internationalistischen Solidaritätsbewegung seit dem US-Überfall auf den Irak auf die Straße gehen. Die Versuche von reaktionären Regierungen und Bewegungen, die Bewegung zu dominieren, scheitern an deren unehrlicher Haltung zur palästinensischen Bevölkerung. Solange die Bewegung weiterhin massenhaft mobilisiert, wird die Vereinnahmung auch weiterhin schwierig. Gleichzeitig stellt sie eine ernsthafte Herausforderung für den imperialistischen Konsens dar, sich hinter die israelischen Massaker zu stellen. Sie kann auch zur Gefahr für die despotischen Regierungen in der Türkei, Ägypten und in den Staaten des mittleren Ostens werden, wenn sie ihre Opposition gegen die israelische Gewaltherrschaft auf den Kapitalismus und die Zusammenarbeit mit Imperialist:innen ihrer eigenen Regierungen ausweitet.

Aufstieg der Linken

Die hoffnungsvollen Zeichen in Österreich sind verhaltener als die Massendemonstrationen gegen Krieg und Besatzung. Das letzte Jahr hat trotzdem Erfolge für linke Kräfte in der Arbeiter:innenbewegung gebracht. Der interne Wahlsieg von Andreas Babler hat statt einer Reihe an immer rechteren Elendsverwalter:innen einen tatsächlich linken Sozialdemokraten an die Spitze einer Massenpartei gebracht. Sein Sieg war auch die Folge davon, dass sich der sozialchauvinistisch-rechte Flügel um Doskozil und der bürgerlich-rechte der Partei hinter Rendi-Wagner nicht einigen konnten. Bablers Wahl auf dem Parteitag zeigte auch, dass wichtige Teile der Parteibürokratie, vor allem in Wien, ihn als geringeres Übel als Doskozil gesehen haben. Trotzdem oder gerade deshalb ist es schwierig für seine Anhänger:innen, die Parteistrukturen zu ändern. Auch die Programmatik der Partei bewegt sich nur langsam, trotz der linken Rhetorik des neuen Vorsitzenden. Dazu kommt ein handfestes Problem: Für eine traditionelle Sozialdemokratie mit linker Rhetorik und verantwortungsvollem Co-Management fehlt die politisch-ökonomische Basis. Die Sozialpartner:innenschaft als staatstragendes Projekt ist tot und ihre Strukturen dezentralisieren sich zunehmend. Wenn die SPÖ-Linke ihre Versprechen umsetzen will, muss sie auf eine Konfrontation setzen, vor der die Partei seit Jahrzehnten zurückschreckt.

Trotzdem ist klar: Das neue Versprechen der Sozialdemokratie, durch Reformen zwar keine bessere Welt aber zumindest langsamere Verschlechterungen zu erreichen, vertritt Babler glaubhafter als seine Vorgänger:innen. Wenn es ihm gelingt, die Partei auf Konfrontationskurs zu bringen, wird das die Verhandlungsposition der Arbeiter*innen erst einmal stärken.

Die Illusion der Sozialpartner:innenschaft und die schnelle Einreihung in die europa- und außenpolitische Linie des österreichischen Kapitals sind aber Bablers zwei Achillesfersen. Sie bieten den Arbeiter:innen keine Perspektive in den weiter eskalierenden Krisen. Will die Linke in der SPÖ sich behaupten, braucht sie einen Weg zur Macht und einen Bruch mit der reformistischen Mitverwaltungslogik, sie muss die soziale Rhetorik ihres Vorsitzenden auf Klassenkampf stützen. Dazu gehört auch, die verkrusteten bürokratischen Parteistrukturen aufzubrechen, was aber aktuell nicht abzusehen ist. Auch der Parteitag auf dem ursprünglich weitereichende innerparteiliche Reformen angedacht waren, entpuppte sich als sehr zahm. Lediglich die Direktwahl (aber nicht mehr eine Abstimmung über mögliche Koalitionsabkommen) wurden umgesetzt.

Auch neben der SPÖ erstarkt die parlamentarische Linke. Die KPÖ hat nach dem Bürgermeisterinnenposten in Graz auch stabile 4 Mandate durch 11,7 % bei den Salzburger Landtagswahlen erreicht. In der Stadt Salzburg ist sie sogar zweitstärkste Kraft geworden. Die KPÖ baut wachsende Strukturen in den Bundesländern auf, bei der Nationalratswahl scheint sogar zum ersten Mal seit mehr als 50 Jahren ein Einzug möglich, entweder durch Überspringen der 4%-Hürde oder durch ein Regionalmandat in der Steiermark.

Die KPÖ hat durch die politische Allianz mit der Jungen Linken in der selbst ausgerufenen „kommunistischen Bewegung“ einen Schwung neuer Aktivist:innen und Kader bekommen. Die neue Bundesspitze und der Salzburger Landtagswahlsieger kommen aus der Jugendorganisation. Der Wahlerfolg spiegelt aber auch wider, dass eine relevante Minderheit vor allem in den Städten von der SPÖ desillusioniert ist, ohne sich nach rechts zu orientieren. Am Weg zum Wahlerfolg hat die KPÖ sich aber auch noch einmal weiter in die Mitte bewegt. Der Programmprozess weg von den Flügeln stalinistischer und eurokommunistischer Linksreformismus hin zu einer fast sozialdemokratischen Ausprägung wurde fortgesetzt. Auch schafft es die KPÖ weiterhin nicht, klassenkämpferische Antworten auf den eskalierenden Rassismus und die Klimakrise zu anzubieten.

Die Erfolge der KPÖ zeigen aber trotzdem eine gesellschaftliche Orientierung nach links und bieten durchaus Potential, innerhalb der Arbeiter:innenbewegung für klassenkämpferische und revolutionäre Forderungen einzutreten.

Regierungsrepression, Angriffe und das Damoklesschwert Konsolidierung

Babler und die KPÖ bekommen viel mediale Aufmerksamkeit. Das bedeutet auch viel medialen Druck. Bei Babler sind es vor allem die internationalistischen Positionen, für die er noch kurz vor der Vorsitzwahl eingetreten ist, die angegriffen und ins Lächerliche verzerrt werden. Bei der KPÖ wird die teilweise offene politische Bewunderung von Mitgliedern und einzelnen Funktionär:innen für das russische Regime angegriffen und der gesamten Partei vorgeworfen.

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober und dem folgenden Krieg der israelischen Armee gegen die Bevölkerung des Gazastreifens richten sich die Angriffe von Regierung und Medien auch gegen jede friedens- und neutralitätspolitische Position in der parlamentarischen Linken. Die österreichische Regierung nimmt im internationalen Vergleich eine besonders rechte Rolle ein. Zusammen mit nur einer Handvoll Ländern stimmte sie gegen Waffenstillstands-Resolutionen, die Kanzlerpartei wird nicht müde zu betonen, dass sie jeden israelischen Militäreinsatz unterstützt. Sogar humanitäre Hilfe wird teilweise als materielle Terrorunterstützung verunglimpft. Dieser Anpassungsdruck wirkt auf alle Aspekte des politischen Lebens und sogar in die Linke hinein.

Die propagandistische Mobilisierung richtet sich aber nicht vor allem gegen die Linke. ÖVP und FPÖ hetzen vor allem gegen Muslim:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte aus muslimisch geprägten Ländern, auch in der SPÖ, bei NEOS und den Grünen finden sich Unterstützer:innen für ungehemmten antimuslimischen Rassismus. Muslim:innen werden unter Generalverdacht gestellt, geschlossene Grenzen gefordert, SPÖ und ÖVP werfen sich gegenseitig vor, wegen „offener Grenzen“ Einladungen an Antisemit:innen ausgesprochen zu haben. ÖVP und FPÖ bereiten sich offensichtlich darauf vor, einen offen hetzerischen Wahlkampf zu führen. Die Toten in Israel und Palästina werden ihnen billige Stichwortgeber:innen für eine Kampagne sein, die Migrant:innen in Österreich weiter benachteiligen und das Morden an den europäischen Außengrenzen eskalieren wird. Das kaschiert auch den gängigen Antisemitismus von FPÖ-Spitzen und die Indifferenz der ÖVP gegenüber ihrer Koalitionspartnerin in mehreren Landtagen.

Neben Staatsrassismus und Hetze steigen aber auch Rassismus und Antisemitismus in der Bevölkerung an. Sowohl die israelitische Kultusgemeinde als auch die Meldestelle antimuslimischer Rassismus haben seit dem 7. Oktober eine Vervielfachung von Übergriffen und Straftaten berichtet. Kurz nach dem Kriegsbeginn wurden in Wien Autos mit Hakenkreuzen beschmiert (ein österreichischer Rechtsextremer wurde festgenommen) und ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs verübt. Die Hetze der staatstragenden Rechten wirkt auch in die Breite der Bevölkerung. Sie ist gemeinsam mit Queerfeindlichkeit, latenter Klimawandelleugnung und prinzipiellem Frauenhass die ideologische Klammer einer möglichen schwarz-blauen Regierung.

Widerständige Bewegungen

Es spricht einiges dafür, dass sich betroffene Communities das nicht so einfach gefallen lassen werden. Die Gegenmobilisierung rund um eine rechte Kundgebung rund um die Türkis Rosa Lila Villa brachte Tausende auf die Straße und in Blockadeversuche. Die feministische Kampftag-Demo am 8. März war so groß wie schon seit Jahren nicht mehr. Und Communities von rassistisch Unterdrückten, vor allem Muslim:innen, sind seit den Bombardements von Gaza immer wieder zu Tausenden auf die Straße gegangen. Während Teile der Bewegung, besonders Demonstrationen von bestimmten querfront-affinen Gruppen, rechts geführt sind, gilt das keineswegs für alle und nicht nur die kleinen linken Mobilisierungen stehen dagegen. Auch die Klimabewegung hat aus den Bewegungen rund um Fridays for Future und dann die radikalere Lobaubesetzung Strukturen und Netzwerke aufgebaut. Dazu gab es dieses Jahr auch wieder größere Reibungen im Zuge der Kollektivvertragsverhandlungen, insbesondere die Elementarpädagog:innen machten mit großem Protest und einem Streiktag auf sich aufmerksam.

Es existieren lose, aber mobilisierungsstarke Zusammenhänge rund um die Fragen, in denen die Rechte am radikalsten hetzt und wo SPÖ und KPÖ noch wenig Position beziehen. Diese Strukturen haben das Potential, Widerstand gegen die mögliche rechte Politik einer kommenden Bundesregierung aufzubauen. Dafür müssen sie sich aber, anders als bisher, auf eine Strategie und ein Aktionsprogramm einigen. Das muss sich gegen den gemeinsamen Nenner, bürgerliche Politik und deren Sponsor:innen im Kapital richten, statt die reaktionären ideologischen Versatzstücke als einziges Problem anzugreifen.

Selbstbewusste revolutionäre Organisierung

Die linken und linksliberalen Hoffnungen auf ein Superwahljahr 2024 könnten auf den ersten Blick entmutigend für Revolutionär:innen wirken, deren Aktivität nicht auf überhöhten Hoffnungen in Vertretungswahlen basiert. Die breiten Ängste vor einem weltweiten Rechtsruck und entsprechende Überlegungen über das kleinere, reformistische oder sogar konservative Übel als (selbsternannte) Brandmauer vor dem Rechtspopulismus schlagen in dieselbe Kerbe. Aber Entmutigung ist unangebracht. Die politisch aufgeladene Stimmung, die sichtbar großen Herausforderungen und die stärker werdenden internationalistischen Bewegungen sind ein Umfeld, in dem revolutionäre Arbeit notwendig und vielversprechend ist.

Die Eskalationen im Nahen Osten gehen weit über die grausamen Massaker hinaus, die nach dem Angriff am 7. Oktober vorherzusehen waren. Bombardements durch US-amerikanische und britische Truppen im Jemen, Beschuss zwischen irakischen Milizen und dem Iran, und der Schlagabtausch zwischen Israel und dem Libanon sind die Vorboten eines imperialistischen Kriegs auf mehreren Schlachtfeldern.

In der Ukraine wird nicht nur um die Selbstbestimmungsrechte gekämpft, sondern es stehen sich Vertreter:innen des westlichen und russischen Imperialismus gegenüber. Vor den türkischen Bombardements der kurdischen Selbstverwaltung fliehen selbst US-Truppen, eine Wiederkehr des IS wird in Kauf genommen. Das zeigt nicht nur den genozidalen Anspruch des NATO-Staates, sondern auch die Fragilität des ganzen Militärbündnisses. Der Konflikt zwischen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Imperialismus scheint vorerst nicht auszubrechen, spitzt sich aber immer wieder zu. In den Drohgebärden rund um Taiwan und gegenseitigen Sanktionsdrohungen offenbart sich, dass diese Konkurrenz fundamental ist. Sie wird nicht mit zwei Sieger:innen lösbar sein und sich bis zum 100-Jahres-Jubiläum des Volksrepublik China immer weiter zuspitzen.

Eine internationalistische Antwort ist in dieser Zeit schon richtig, aber nicht nur richtig. Sie wird viel mehr Menschen überzeugen, als wenn die Widersprüche weniger eskalieren, aber sie ist nicht nur überzeugend. Die imperialistischen Blöcke stehen sich wieder einmal direkt gegenüber. Weltweit sind Millionen auf der Straße, sie demonstrieren entweder für einen Rückzug der US- und EU-unterstützten Aggressionen oder gleich für deren Niederlage. Ein internationalistisches Programm ist notwendig und muss sich an eine internationale Massenbewegung richten.

Die Widersprüche in Österreich spitzen sich in fast unheimlicher Parallelität zu. Im wirtschaftlichen Abschwung 2024 eskaliert der Widerspruch zwischen ÖVP-Kürzungsplänen und SPÖ-Sozialstaatswünschen. Die Stoßrichtungen der Wahlprogramme lassen sich nicht mehr in einer großen Koalition oder der Sozialpartner:innenschaft zusammenfassen. Und keines davon bietet eine Perspektive für die Arbeiter:innen und Erwerbslosen, die von der Teuerung belastet und vom Arbeitsplatzverlust bedroht sind. Eine unabhängige, klassenkämpferische Antwort ist notwendig und setzt direkt an den Forderungen an, die Kolleg:innen in Warnstreiks fast aller großen Industriebranchen geäußert haben.

Die ÖVP geht mit Wahlprogrammen der FPÖ aus den 2010er-Jahren auf Stimmenfang. Neben ihrem Rechtsruck formuliert die FPÖ ein noch rechteres Programm: Massendeportationen, Jagd auf angebliche Volksverräter:innen, Angriffe auf Errungenschaften der feministischen Bewegung und Hetze gegen die LGBTQIA- Community. Die Pläne der deutschen AfD, millionenfach abzuschieben, sind durch investigative Recherchen öffentlich geworden, die FPÖ bekennt sich im Vergleich dazu ganz offen im Hauptabendprogramm zu Verfassungsänderungen, die so etwas möglich machen sollen. Dagegen sind Zehntausende auf die Straße gegangen. Auch wenn die zivilgesellschaftlichen Forderungen der Demonstrationen dem Rechtsruck nichts entgegensetzen können, zeigen sie zumindest das vorhandene Bewusstsein für eine notwendige Massenbewegung gegen Rechts.

Gegen die Klimabewegung, Gleichstellungspolitik und die Aktivitäten von LGBTQIA- Aktivist:innen hetzen ÖVP und FPÖ, als ob sie voneinander abschreiben würden. Sozialdemokratie und Linksliberale haben dem außer Lippenbekenntnissen nichts entgegenzusetzen. Im Aktivismus ist von ihnen nichts zu sehen und ihre Programme für Klimawende und soziale Berechtigung gehen an der Dramatik der Krisen vorbei. Gleichzeitig sind die Protestinitiativen in diesen Bereichen zwar klein, aber gut vernetzt. Sie haben Erfahrung mit großen Mobilisierungen und längeren Kampagnen, kennen auch die Konfrontation mit der Polizei. Wenn sie sich auf eine Proteststrategie einigen und gemeinsam für klare politische Ziele kämpfen, ist erfolgreicher Widerstand möglich.

Ein Aktionsprogramm für den Widerstand gegen Massenentlassungen, Sparpakete, Rassismus, sexistische und queerfeindliche Politik und die Klimakrisenpolitik der Regierung ist nötig, aber auch möglich. Vor allem in Wien, aber auch in der Steiermark, Oberösterreich und Tirol gibt es Bündnisse, um die herum sich so ein Aktionsprogramm aufbauen und die es weiterbringen kann. Es braucht aber auch die Analyse, die Erfahrung und einen glaubwürdigen Aktivismus von Revolutionär:innen, damit solche Bündnisse ihren Widerstand in einen Machtkampf verwandeln können.

Es geht nämlich um nicht weniger als um einen Machtkampf. Rechtsruck und Krieg kündigen einen Regimewechsel der Herrschenden an: Schluss mit der postpandemischen Großzügigkeit, Schluss mit der nur schleichenden Verschlechterung unserer Lebensumstände, Schluss mit dem Verzicht auf offene Gewalt in der geordneten weltweiten Machtaufteilung.

Protest allein und Etappensiege ohne Folgeerfolg reichen hier nicht aus. Deshalb wird im dynamischen Bewegungsmosaik auch die Organisierungsfrage wichtig und entscheidend sein. Zwei Rechtsparteien, die Massenanhänge mobilisieren wollen, wahrscheinlich der Staatsapparat in ihren Händen und eine stärker werdende Propagandamaschinerie knicken nicht vor Demonstrationen ein, auch wenn die Zehntausende auf die Straße bringen. Was wir der Offensive der Herrschenden entgegenwerfen, muss stabil genug für deren Angriffe sein, ohne sich durch Starrheit in die Defensive drängen zu lassen.

Die Wahlerfolge der KPÖ in Graz und Salzburg, die Wahl des ersten linken SPÖ-Vorsitzenden in diesem Jahrtausend und die Arbeit von LINKS in Wien zeigen, dass Parteien als Ausdruck und Methode linker Politik alles andere als tot sind. Österreich erlebt eine bei Wahlen durchaus erfolgreiche Linke während dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Der kommt aber mit den Schwächen der jeweiligen Parteiprogramme und -methoden.

Es ist notwendig, die Organisierungsfrage innerhalb der Bewegungen, eng an den Linksentwicklungen der Parteien, zu stellen. Aber es reicht nicht aus, in breiten linken Bewegungen aufzugehen und dafür Programm und Methode hintanzustellen. Ganz im Gegenteil werden Revolutionär:innen ihre Verankerung und ihren Aktivismus nutzen, um Aktivist:innen von unserer Politik zu überzeugen und Vorschläge an Strukturen zu machen. Denn eine erfolgreiche linke Politk muss es schaffen, breit und radikal aufzutreten. Nur so kann sie sich dem gesellschaftlichen Rechtsruck, der herrschenden Klasse kampfkräftig und erfolgsversprechend gegenüberstellen.