#unteilbar-Demonstration in Berlin: 240.000 für Solidarität und gegen Rassismus

Tobi Hansen, Infomail 1024, 14. Oktober 2018

Das Ausmaß der Demonstration hatte alle TeilnehmerInnen und wohl auch die VeranstalterInnen positiv   überrascht. Fast eine Viertelmillion demonstrierte allein in Berlin (242.000 laut OrganisatorInnen). Zusammen mit den zeitgleich laufenden Demos in Frankfurt/Main und Karlsruhe waren am 13. Oktober mehr als eine Viertel Million Menschen auf der Straße gegen Rassismus und für Solidarität. Das Motto „Unteilbar“ steht für das Ziel, die Geflüchteten nicht gegen den „Sozialstaat“ auszuspielen, MigrantInnen nicht gegen die Masse der Bevölkerung. Alle sollten Teil eines gemeinsamen Kampfes für eine solidarische Gesellschaft sein. Mit einem recht allgemeinen, breiten und in vielen Punkten auch sehr vagen Aufruf gelang es den InitiatorInnen, eine UnterstützerInnenliste zu organisieren, die wahrscheinlich größer war als bei den Protesten gegen das „Transatlantische Freihandelsabkommen“ (TTIP) im Jahr 2015.

So ergab sich auch ein recht „buntes“ Bild der Proteste. Viele NGOs wie Amnesty International, Oxfam und Co., sehr viele Initiativen zur Solidarität mit den Geflüchteten wie „Seebrücke“, lokale Berliner Strukturen und Bündnisse, ein großer Gewerkschaftsblock, der paritätische Wohlfahrtsverband, MigrantInnenverbände, die Linkspartei, die Grünen, die SPD (ganz am Ende) waren ebenso vertreten wie zahlreiche Organisationen der außerparlamentarischen „radikalen“, antikapitalistischen Linken. Im Gegensatz zur letzten Demo gegen die AfD in Berlin gab es diesmal deutlich weniger „Party“ und mehr politischen Inhalt auf der Straße. Dabei wollen wir nicht kritisieren, dass es Musik und Party auf Demos gibt, nur möge das nicht zum Ersatz für politischen Inhalt werden.

Führende Kräfte

Viele Teilnehmende brachten ihre Empörung und die Ablehnung des Rechtsrucks auf die Straße, hatten sich selbst Plakate gemalt oder nahmen bereitwillig solche von Gruppen und Organisationen in die Hände. Die Masse stellte einen Querschnitt aus „Zivilgesellschaft“, einer reformistisch geprägten ArbeiterInnenklasse und auch progressiver „Mittelschichten“ dar, die gegen Rassismus und für Solidarität auf die Straße gegangen sind. Von Jung bis Alt zeigten viele ihr Engagement auf der Straße. Die „radikale“ Linke war naturgemäß in der Minderheit, aber durchaus beachtlich vertreten – und stieß auf TeilnehmerInnen, die durchaus offen für eine Verbindung von Antirassismus, sozialer Frage und Kampf waren.

Dabei ist auch verständlich, dass viele eher die NGOs oder die Seebrücke als führende Kräfte verstehen, schließlich stehen diese Gruppierungen in der direkten Konfrontation mit dem staatlichen Rassismus und/oder der „Festung Europa“ – durchaus im Gegensatz zu den Parteien der „Linken“, vor allem zur Regierungspartei SPD. Das ist erst mal ein Fakt, wenn es auch ein bezeichnendes Licht auf die europäische Linkspartei wirft, dass Initiativen wie Seebrücke zur Zeit glaubwürdiger und vor allem aktivistischer gegen Seehofer und Salvini Politik machen als die parlamentarisch fixierten reformistischen oder links-bürgerlichen Kräfte.

Taktisch recht klug – man könnte sagen, mit einer Dosis Schuldbewusstsein – lief daher die SPD am Ende der Demo mit, Linkspartei und Grüne waren mit großen Blöcken weiter vorne zu sehen. So manche Ex-WählerInnen haben sich auf der Demo wahrscheinlich gefragt, wie viele Seehofer- und Maaßen-Kröten in der Großen Koalition noch geschluckt werden müssen, bevor sie untergeht.

Trotz des Aufspringens der Sozialdemokratie und der Teilnahme zahlreicher bürgerlicher Kräfte (Grüne, Kirchen, …) war die Demonstration nicht nur eine gegen die AfD und andere offene RassistInnen, sondern auch gegen die Große Koalition. Vielen Redebeiträge bei der Auftaktkundgebung und von den über 35 Lautsprecherwagen thematisierten die schlechte soziale Lage vieler Arbeitsloser und MigrantInnen, die verfehlte neo-liberaleWohnungsbaupolitik, die verheerende und unglaubwürdige „Klimapolitik“ der Bundesregierung, die auf Diesel, Braunkohle und Profite setzt. Zugleich wurde die Misere im Pflegebereich angeprangert und zur Solidarität mit dem aktuellen Arbeitskampf bei Ryanair aufgerufen.

Dass viele öffentliche Medien sehr zuvorkommend berichtet haben, z. B. im Gegensatz zur Großdemo gegen TTIP 2015, liegt sicherlich daran, dass es auch den Versuch gibt, die #unteilbar- Demo für das aktuelle Deutschland und dessen Regierungspolitik zu instrumentalisieren. Zweifellos besteht diese Gefahr, zur Zeit aber wohl mehr darin, dass die Grünen ihren Einfluss auf die Masse der DemonstrantInnen erhöhen, während SPD und Linkspartei politisch angeschlagen sind. Die SPD zahlt den wohlverdienten Preis für die Große Koalition, die Linkspartei muss sich mit Sahra Wagenknecht und deren Populismus rumschlagen.

Neben der Gefahr eine Vereinnahmung oder Begrenzung einer entstehenden Massenmobilisierung gegen Rassismus und Rechtsruck durch die Grünen besteht aber auch die Möglichkeit der Entstehung einer realen Kraft, die diesen nicht nur mit Demos, sondern auch mit Kampagnen gegen Rassismus, Wohnungsnot, Prekarisierung entgegentreten kann. Kurzum, diese Bewegung kann zu einer kämpferischen werden, wenn die radikale Linke, wenn RevolutionärInnen darin eingreifen.

Diese Gefahr sehen offenkundig nicht nur die RechtspopulistInnen der AfD, die FDP, sondern auch die CDU. Deren Berliner Landesverband bezeichnete die Demonstration als Machwerk von „dubiosen Organisationen“. Die Präsenz von VertreterInnen der „Roten Hilfe“ unter den OrganisatorInnen und zahlreicher „linksradikaler Blöcke“ stelle eine gefährliche Öffnung der Zivilgesellschaft zum „Linksextremismus“ dar. „Wenn heute demokratische Politiker oder gar Minister Seite an Seite mit linksextremistischen Organisationen durch die Stadt ziehen, dann ist das entweder naiv oder politisch unverantwortlich,“ pöbelte der Berliner CDU-Generalsekretär Stefan Evers.

Sahra, Sahra, wo bist du? Das Volk steht auf und du schaust zu!

Einige Tage vor der Demonstration hatte Sahra Wagenknecht zweierlei geschafft. Zum einen verstieß sie als Linkspartei-Fraktionsvorsitzende gegen den Beschluss der eigenen Fraktion zur Unterstützung von #unteilbar, zum anderen erklärte sie als „Aufstehen“-Initiatorin, warum ihre „Sammlungsbewegung“ zur Demonstration nicht aufrufen würde. Auch wenn die Forderung nach offenen Grenzen im Aufruf gar nicht vorkommt, so würde dieser „in der Tendenz“ in diese Richtung gehen – und damit würden Menschen „ausgegrenzt“: „Man grenzt damit natürlich Teile von Menschen aus, die genauso bereit wären und überzeugt sind, dass man Rassismus entgegentreten muss.“

Wagenknecht unterschob dem Aufruf ihr „Feindbild“ der „offenen Grenzen“, obwohl diese als Forderung nicht explizit vorkamen, und wünscht sich Proteste gegen Rassismus, in denen auch diejenigen ihren Platz finden, die für eine „Regulierung“ der Aufnahme von Geflüchteten sind, also de facto für Obergrenzen und willkürliche Festlegungen gemäß ihrer kapitalistischen Verwertbarkeit. Hier offenbart sich der reaktionäre Charakter aller Forderungen nach Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen – und es gehört schon ein gehöriger Schuss Demagogie und Sozialchauvinismus dazu, die Forderung nach offenen Grenzen, also nach Streichung aller rassistischen Einreisebeschränkungen und Kontrollen, als „ausgrenzend“ zu bezeichnen.

Dass allerdings bei manchen von „Aufstehen“ gerade der letzte politische Restverstand am Ausdünnen ist, beweisen manche „Theorien“, die im Vorfeld der Demonstration lanciert wurden. Demnach wäre die „offene Gesellschaft“ der Kampfbegriff des internationalen Finanzkapitals schlechthin, welches durch den Finanzier Soros nun auch mit #unteilbar seine bösen „replacement migration“, „Umvolkungspläne umsetzen wolle. Soros musste in Ungarn wegen staatlichen Antisemitismus’ seine „Zelte“ abbrechen. Dass er nun von ähnlichen Theorien aus Teilen der sog. „Linken“ hier bedacht wird, zeigt die politische Verrohung, Verwirrung wie auch den Rechtsruck in dieser deutlich an. Auf der anderen Seite ist dies auch für „Aufstehen“ ein „Lackmustest“: Gelten allein die Kommentare der Ikone und kann sich dahinter jeder reaktionäre Dreck verstecken oder führen die bewussteren Teile dort zumindest einen Kampf gegen diese Art von Rechtsruck in der Methode? Vom Kampf gegen die Ikone wollen wir hier und jetzt mal nicht ausgehen.

Ausblick

Ähnlich wie z. B. die „umfairteilen“-Demos vor einigen Jahren bergen diese Großevents stets die Gefahr, dass danach erst mal Schluss ist. Nicht nur die zivilgesellschaftlichen Organisationen, auch linke Parteien und Gewerkschaften entziehen sich nur allzu gerne der weitergehenden Aufgaben, aus einer Massendemonstration, also einer im Kern symbolischen Aktion, eine kämpferische Bewegung zu machen. Von #unteilbar geht bei vielen die Erwartung aus, dass dieses Signal in die „Republik“ ausstrahlt, dadurch Kämpfe vor Ort zusammenführt, die quasi auch lokal „unteilbar“ sein sollten und sich damit geeint dem Rechtsruck entgegenstellen könnten.

Dazu sind aber die Gewerkschaften, die Linkspartei (hier und da vor Ort auch die SPD) und Organisationen der außerparlamentarischen „Linken“ entscheidend – hier muss ein „Ruck“ durch die Klasse gehen, hierauf muss die Initiative liegen!

Hier wäre es wichtig, in den nächsten Wochen auf (Folge)-Konferenzen von #unteilbar den antirassistischen Kampf zu verallgemeinern, ihn mit den „anderen“ sozialen Kämpfen zusammenzuschweißen und gemeinsame Initiativen zu entwickeln. Wohnungsnot, schlechte Ausstattung des Bildungsbereichs, anstehende Privatisierungen des öffentlichen Dienstes, weitere Verschärfung der inneren Repression durch Landesgesetze, Aufrüstung und Kriegspolitik, eine drohende neue wirtschaftliche Krise – all dies kann zusammengeführt werden in den lokalen Kämpfen wie auch in bundesweiten Mobilisierungen.

Mit den Demonstrationen der letzten Wochen in Hamburg (Welcome United), gegen die Rodung vom Hambacher Forst (#hambibleibt), den Seebrücke-Demos, den Mobilisierungen gegen AfD und Nazis, gegen die Polizeiaufgabengesetze haben sich viele Hunderttausend gegen den Rechtsruck und Rassismus positioniert. Es ist nun gerade die Aufgabe der Linken, der Organisationen der ArbeiterInnenklasse, dies mit mehr Inhalt zu füllen. Dass sich die Gewerkschaften und Massenparteien wie DIE LINKE vor dieser Aufgabe drücken, ist nicht die Schuld des „breiten“ Protestes auf der Straße, sondern zeigt deren politisches Unvermögen an.

Es ist nicht zwingend, dass eine Massendemonstration mit Hunderttausenden ins politische Fahrwasser der Grünen und NGOs geführt wird, es bei einem einmaligen Ereignis bleibt und bei einer vagen Plattform ohne konkrete Forderungen und Kampfmethoden. Doch die Aufgabe, eine solche Ausrichtung in die Bewegung zu tragen, können RevolutionärInnen nicht an andere delegieren. Es ist notwendig, dass alle Kräfte der „radikalen Linken“, die für ein Aktionsbündnis, eine gemeinsamen Kampffront gegen den Rechtsruck und die Angriffe der Regierung eintreten, gemeinsam für den Aufbau einer solchen Einheitsfront agieren. Nur so wird es möglich sein, auch Massenorganisationen zur Aktion zu zwingen.




Auf den Bäumen muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …

Augenzeugenbericht von Martin Eickhoff, Infomail 1023, 4. September 2018

Ich schaue unter mich: Wahnsinn, gut 20 Meter über der Erde, ich reiche einer befreundeten Aktivistin die Hand, nun habe ich es geschafft. Ich sitze in einem der berüchtigten Baumhäuser im Hambacher Forst, liebevoll auch Hambi genannt. Mein Rucksack und mein Schlafsack werden parallel hochgezogen und nun bin auch ich auf der Plattform angelangt, die die nächste Zeit mein Zuhause sein wird, fernab von meiner Wohnung und meinem Bett. Selber nicht nur stiller Protestler sein, sondern aktiv am Widerstand teilhaben und mich mit meinen Fähigkeiten einbringen. Auch wenn mir klar ist, dass es nicht ungefährlich ist und ich Klettern in meiner pädagogischen Ausbildung und bei diversen Umweltgruppen gelernt habe. Dass ein Mensch, mit dem ich gute Gespräche führte, am Tag, als ich das zweite Mal den Hambi besuche, tödlich verunglückt ist, wird mir erst im Nachgang bewusst.

Während die Kohlekommission der Regierung über den Zeitplan für den Ausstieg verhandelt, will der Energiegigant RWE Fakten schaffen und ihn einfach hinausschieben. Dieser will den Hambacher Wald ohne Not weiter roden und damit neue Flächen für den Braunkohleabbau erschließen und zeigen, dass er an einem gesellschaftlichen Konsens zum Ausstieg aus dem umweltfeindlichsten Energieträger überhaupt nicht interessiert ist.

Die Politik schiebt die Verantwortlichkeiten von einer Instanz auf die nächste. Während meiner Zeit im Hambi kam auch Anton Hofreiter mit einer Delegation der Bundestags-Grünen vorbei. In persönlichen Gesprächen will er keine klare Stellung beziehen, wie auch? Im Landtag von Nordrhein-Westfalen haben die Grünen ja schließlich für die Rodung gestimmt und nun eiert er herum, während wir mit ihm sprechen und er unsere Barrikaden skeptisch anschaut, die wir seit dem frühen Vormittag errichten – eine ziemlich anstrengende Angelegenheit. Wer hier noch Fakenews von unterirdischen Tunnelsystemen glaubt, sollte mal zwei Stunden einen Spaten in die Hand nehmen. Als Hofreiters Handy klingelt, ist er erleichtert, denn er muss „zu einem wichtigen Termin“. Wir sind auch erleichtert, dieses Rumgeeiere von „Arbeitsplätzen“, „Mehrheit“, „ist halt so“ nicht länger ertragen zu müssen und genießen gemeinsam erstmal eine leckere vegane Gemüsepfanne. Einfaches leckeres Essen, aber auch gemeinsames Yoga oder Spiele gehören genauso zum Hambialltag wie der Barrikadenbau, Seminare, gemeinsames Musizieren und Tanzen.

Das reale Geschehen hier spielt sich fern der Propaganda von RWE und Polizei ab, die sich wahrscheinlich vorstellen, den ganzen Tag würden wir nur Molotowcocktails bauen und Straftaten begehen.

Die Polizei? Obwohl jeder Mensch in Uniform aus Gewissensgründen seinen Dienst verweigern kann, gibt es durchaus auch welche, wo Mensch bei der Polizeikontrolle spürt, dass ihnen nicht wohl dabei ist, was sie tun. Jedoch der Großteil hinterfragt die Befehle nicht und kann auch sein Tun nicht begründen, sondern agiert einfach als blinde/r BefehlsempfängerIn. Jedoch unsere Stimmung und Aktivität können sie nicht trüben, ob sie nachts mit Scheinwerfern versuchen, uns wach zu halten, oder eine Reiterstaffel schicken, während wir um den Menschen trauern, der tödlich verunglückt ist.

Als wir mitbekommen, dass mehrere Unternehmen ihre Hebebühnen nicht mehr für die Räumung zur Verfügung stellen wollen, stoßen wir gemütlich mit einem Gläschen Rotwein auf 20 Metern Höhe an. Diese Firmen waren von aufmerksamen WaldspaziergängerInnen auf die unsachgemäße Nutzung ihrer Geräte aufmerksam gemacht worden. In ihren Erklärungen weisen beide Firmen auch darauf hin, dass sie im Voraus nicht über die geplante Verwendung ihrer Maschinen informiert wurden.

Großartig ist auch: In Gesprächen mit Menschen aus der direkten Umgebung außerhalb des Waldes wird klar, dort berührt die Situation sie immer mehr. Sie schauen den Stream aus dem Wald, teilen Videos auf Facebook und Twitter. Die Menschen vor Ort merken, dass ihr Wald, in dem sie sonntags spazieren gingen, bald für immer weg ist. An den wöchentlichen Waldspaziergängen mit einem Naturpädagogen nehmen inzwischen über 8.000 Menschen teil. Viele AnwohnerInnen zeigen sich solidarisch, lassen einen duschen oder Wäsche waschen oder stellen Lebensmittel oder auch Hilfsmittel wie Decken zur Verfügung. Denn bei strömendem Regen und Wind kann es auch mal ziemlich unangenehm auf einem Baum werden, auch wenn die Baumhäuser überdacht sind – eine nicht angenehme, aber doch nützliche Erfahrung.

Insgesamt ein großartiges Gemeinschaftsgefühl, gegenseitige Unterstützung und Teilen sowie Einbindung jedes Menschen. Auch wenn es nicht allen bewusst ist, aber so sieht gelebter Kommunismus aus und nicht wie in Staaten wie der früheren DDR, der Sowjetunion oder Nordkorea.

Es ist wichtig, nicht nur für den Wald, sondern für die Herzen jedes einzelnen Menschen zu kämpfen und gegen die Profitgier kapitalistischer UnternehmerInnen sowie für eine Gesellschaft, in der Menschen im Einklang mit der Natur im Mittelpunkt stehen und nicht die Profitgier von Unternehmen wie RWE. Eine Welt, die von einem solidarischen Miteinander und nicht einem Gegeneinander geprägt ist.




Hambacher Forst und Ende Gelände: Welche Strategie gegen die Kohlekonzerne?

Leo Drais, Neue Internationale 232, Oktober 2018

Der Kampf um den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung spitzt sich zu. Selbst der Tod eines Journalisten am 19. September führte nur zu einer vorübergehenden Aussetzung der Räumung des Hambacher Forstes. Diese hatte das Bauministerium von Nordrhein-Westfalen am 12. September angeordnet. In den Morgenstunden des 13. September begann der brutale Einsatz. Der Staat fuhr dafür ein Großaufgebot an Polizei und schwerem Gerät auf. Neben Wasserwerfern und Räumpanzern wurden auch Arbeitsbühnen, Kräne, Bagger und Maschinen zum Holzeinschlag vorgehalten. Mehrere Polizeihundertschaften und das Spezialeinsatzkommando sind vor Ort und räumen die Baumhäuser. Als Vorwand hierfür dienen dem Bauministerium von ihnen nicht eingehaltene Brandschutzbestimmungen.

Der eigentliche Hintergrund ist freilich, dass der Energiekonzern RWE, seines Zeichens Eigentümer der Waldes, ab Mitte Oktober über 100 ha des einst riesigen Forstes roden will, um an die Braunkohle darunter zu kommen. Das Bündnis „Ende Gelände“ hatte daher zu großen Blockadeaktionen im Hambacher Tagebau vom 25.-29. Oktober aufgerufen. Doch die Ereignisse haben die Planungen überrollt.

Wöchentlich finden Massenproteste am Hambacher Forst mit tausenden Menschen statt, organisiert von Umweltschutzorganisationen wie BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland), NABU (Naturschutzbund Deutschlands), Greenpeace, attac, den Grünen sowie Teilen der radikalen Linken. Währenddessen tagt in Berlin die sogenannte „Kohlekommission“, um bis zum Jahresende einen Plan zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu erarbeiten, wobei anzunehmen ist, dass der Ausstieg um viele Jahre verschleppt werden wird, während die selbst gesteckten Klimaziele Deutschlands (Reduktion des Treibhausgasausstoßes bis 2020 um 40 % im Vergleich zu 1990, Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung von 18 % bis 2020) in Rauch aufgehen.

Beim Kampf um den Hambacher Forst geht es dabei letztlich um weit mehr als den Erhalt eines Waldstücks und die Braunkohleverstromung. Er ist ein Bestandteil des Kampf um wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel und zur Sicherung der natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz – ein Ziel, das angesichts verschärfter kapitalistischer Konkurrenz in noch weitere Ferne rückt.

Braunkohle und Widerstand

Der Tagebau Hambach ist Teil des rheinischen Braunkohlereviers, dessen Brennstoff in den naheliegenden Kraftwerken zur Stromerzeugung verfeuert wird. Neben dem Rheinland ist die Lausitz das zweite große Braunkohleabbaugebiet in der Bundesrepublik. Die in den rheinischen Kraftwerken freigesetzten Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) zählen zu den höchsten CO2-Emissionen durch Elektrizitätswerke weltweit. Die Auswirkungen sind aber nicht nur die Freisetzung von CO2, sondern auch das Umkrempeln des Lebensraumes der Menschen zwischen Köln und Aachen. Acker- und Waldflächen sind verloren, Ortschaften und Verkehrswege wichen ebenso den riesigen Löchern in der Erde. Hinzu kommen Belastungen des Grundwassers und hochgiftiger Feinstaub.

Daher gab es mit Beginn des Braunkohleabbaus bereits Widerstand in den angrenzenden Ortschaften gegen ihre Umsiedlung. Viele davon existieren heute nicht mehr. Heute hat der Protest gegen den Kohleabbau seinen Schwerpunkt vor allem im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel und für „Klimagerechtigkeit“. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine Kritik am CO2-Ausstoß der sogenannten Industrienationen wie z. B. Deutschland, dessen negative Folgen (Dürre, Anstieg des Meeresspiegels, Stürme,…) vor allem die ausgebeutete halbkoloniale Welt zu tragen hat.

Viele AnwohnerInnen unterstützen zum Teil seit Jahren die Proteste gegen RWE & Co. Ein Großteil der Bevölkerung im Rheinland hält den Polizeieinsatz für überzogen, der der teuerste in der Geschichte von Nordrhein-Westfalen werden könnte.

Die Frage der Protestform

Der Einsatz, mit dem die AktivistInnen im Hambacher Forst Bäume besetzten oder im Rahmen von „Ende Gelände“ immer wieder in Tagebaue im Rheinland oder in der Lausitz eindrangen, verdient enormen Respekt. Es wurde große öffentliche Aufmerksamkeit für die Thematik erzeugt und zumindest kurzzeitig der Betrieb gestört. Der Kampf der BaumhausbewohnerInnen bei der Verteidigung des Waldes verdient unsere Solidarität. All jene, die hierbei staatliche Repression erfahren, sind bedingungslos zu verteidigen.

Die Aktionsform, durch Besetzungen umweltschädliche Maßnahmen zu verhindern, hat eine lange Tradition in der Bewegung, die bis in die 1970er und 1980er Jahre zurückreicht. Um erfolgreich zu sein, muss sie allerdings auch mit einer Massenbewegung und Unterstützung verbunden sein. Ansonsten ist es für die Herrschenden ein Leichtes, die Bevölkerung gegen AktivistInnen in Stellung zu bringen und ihre Aktionen zu isolieren.

Im Hambacher Forst ist die Verbindung zweifellos gegeben. Die Aktiven der Besetzung sind politisch im wesentlichen libertär, anarchistisch oder (post)autonom geprägt. Aktionsbündnisse wie „Ende Gelände“ werden von der „Interventionistischen Linken“ und anderen post-autonomen Kräften dominiert. Die Massendemonstrationen und -aktionen wiederum werden vor allem von den Umweltverbänden und zu einem geringeren Teil Gruppierungen wie attac getragen – im „Hintergrund“ steht die Grüne Partei, in geringerem Maße die Linkspartei.

Auch wenn die radikaleren, anti-kapitalistisch ausgerichteten Kräfte den Aktionen ihren Stempel aufdrücken, so stellen die Umweltverbände die Masse und sind letztlich politisch in der Vorhand.

Dies hat zwei Gründe. Erstens können solche Besetzungen und militanten Aktionen einer Minderheit letztlich ohne eine unterstützende Masse und die Gewinnung der Öffentlichkeit nicht gehalten werden. Zweitens zielen sie natürlich darauf, Druck auf die Landesregierung auszuüben, RWE bei der Rodung zu stoppen und einen möglichst raschen Kohleausstieg zu erzwingen.

Doch wie dieser genutzt wird – darüber entscheidet keine „Bewegung“ und bestimmen erst recht nicht die BesetzerInnen oder „Ende Gelände“. Die Dynamik der Bewegung versuchen vielmehr die VertreterInnen von Greenpeace, BUND und der Grünen – ohne jegliche Kontrolle der Basis – beim Schacher am Verhandlungstisch der Kohlekommission für sich zu nutzen. Bislang mit bescheidenem Erfolg, werden doch „Ausstiegsdaten“ wie 2038 kolportiert. RWE will erst 2045 den Braunkohletagebau einstellen, Greenpeace soll sich angeblich mit 2030 anfreunden können. Inzwischen wollen die LobbyistInnen Fakten schaffen, da sie verhindern wollen, dass auch der noch verbliebene Teil des Hambacher Forstes „ungenutzt“ bleibt.

Die Umweltbewegung, vor allem aber die radikaleren AktivistInnen stehen hier vor einem Dilemma. Mit ihren Aktionsformen, ihren Mitteln können sie nicht mehr leisten, stehen ihn im Grunde nur zwei strategische Optionen des Ausstiegs aus der Kohleverstromung und vor allem zur Reorganisation der Energiewirtschaft offen. Bei der einen läuft es auf eine generelle Reduktion, wenn nicht die Abschaffung industrieller Großproduktion hinaus, die durch „selbstverwaltete“ Formen der Kleinwirtschaft ersetzt werden soll. Ein solches Ziel ist nicht nur utopisch angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse. Es ist auch reaktionär, weil damit weder die Mittel zur Verfügung stünden noch die notwendige Koordination globaler Maßnahmen möglich wäre, um den Klimawandel zu stoppen und die Bedürfnisse von Milliarden Menschen auf der ganzen Welt zu befriedigen (einschließlich einer massiven Ausdehnung der Industrieproduktion auf große Teile der sog. „Dritten Welt“).

Der andere Ausweg ist ein Abkommen mit Kapital und Regierung zum „ökologischen Umbau“ der Gesellschaft. Daran werkelt zur Zeit die „Kohlekommission“.

Kapital und Arbeit

Ein solcher „grüner“ Deal wird nicht funktionieren. Eine gewisse Beschleunigung des Kohleausstiegs mag zwar erreichbar sein – aber sicher keine ausreichenden Maßnahmen beim „Gesamtpaket“ Klimawandel. Selbst das sog. 2-Grad-Ziel rückt global in weite Ferne.

Die zur Erreichung dieses Ziels notwendigen Maßnahmen sind schlichtweg nicht durchsetzbar, solange die Umweltpolitik an den Profitinteressen des Kapitals ihre Grenze findet, solange RWE & Co. bestimmen, was zu welchen Bedingungen produziert und verkauft wird.

Nehmen wir nur RWE, einen letztlich kleinen Teil des Gesamtproblems. Der Konzern macht riesige Profite durch die Stromproduktion, wobei die gleichzeitige Zerstörung unserer Lebensgrundlage billigend in Kauf genommen wird. Wenn nun gefordert wird, aus der Kohleverbrennung auszusteigen, ist es für die KapitalistInnen und auch die Regierung ein Leichtes zu sagen, das gefährde die Jobs der 9.000 Beschäftigten im Rheinland. Doch dieses Argument ist nur ein Vorwand. Die Kohleverbrennung ist vielmehr billig und daher ein zentrales Element im Profit von RWE (Nettogewinn 2017: 1,9 Mrd. Euro). Weiterhin hat RWE bereits massiv in die Braunkohleverstromung investiert, z. B. durch Kauf des Hambacher Forstes. Diese Investitionen hat ein kapitalistischer Staat wie Deutschland zu schützen und dementsprechend verhalten sich CDU, SPD, AfD und FDP – und auch die IG BCE. Und natürlich sind auch die Grünen für einen Deal mit dem Kapital zu haben, wie sie mit ihrer Zustimmung zur Rodung des Forstes in der ehemaligen rot-grünen Landesregierung hinlänglich bewiesen haben.

Tatsächlich sind die Jobs jedoch absolut zweitrangig für die KapitalistInnen und ihre staatlichen HelferInnen in der Landesregierung und im Bundestag. Wenn die Streichung von Stellen in den Augen der KapitalistInnen ihren Gewinn erhöhen könnte, so würden diese auch auf die eine oder andere Weise dem Drang nach Profit zum Opfer fallen. Ein Beispiel dafür findet sich in den 1990er Jahren, wo RWE tausende Arbeitsplätze durch Rationalisierung gestrichen hat.

Eine besonders unrühmliche Rolle bei der Verhandlung um den Kohleausstieg nimmt die sogenannte ArbeiterInnenbürokratie ein. In diesem Fall sind das konkret die Betriebsräte und die Führung der Gewerkschaft IG BCE (Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie). Jüngst haben Betriebsräte vor einem „vorschnellen“ Kohleausstieg gewarnt – auch hierbei wird wieder das Jobargument bemüht. Das ist kein untypisches Verhalten für die offiziellen „Arbeitnehmer“vertreterInnen, wobei sie letztlich den KapitalistInnen in der Argumentation nachlaufen. Das ist auch kein Zufall, denn ihre privilegierte Stellung ist im Rahmen der „Sozialpartnerschaft“ absolut abhängig von der Energieindustrie. Dementsprechend hat die IG BCE die Arbeitsplatzstreichung in den 1990er Jahren auch fleißig mit getragen.

In der Tat braucht es eine Perspektive für die Beschäftigten im Kohlebergbau und in den Kraftwerken und, wie diese für den Kampf gegen die Konzerne gewonnen werden können. Wie es mit den rund 21.000 Menschen (Lausitz und Rheinland) nach einem Kohleausstieg weitergehen soll, beantwortet der aktuelle Aufruf von „Ende Gelände“ leider nicht und erst recht nicht der bürgerliche Teil der Umweltbewegung. Zwar wird im Aktionskonsens geschrieben, dass sich die Aktionen nicht gegen die RWE-MitarbeiterInnen richten, viel mehr aber leider nicht. In der Umweltbewegung gibt es Tendenzen, die ArbeiterInnen in der Energiebranche als GegnerInnen zu betrachten.

Das mag hervorgerufen sein durch Konfrontationen mit dem RWE-Wachschutz oder, weil die ArbeiterInnen mit dem Energiekonzern selbst gleichgesetzt werden. Allerdings ist dies unserer Ansicht nach nicht zielführend. Vielmehr sollte es darum gehen, die Beschäftigten von RWE von ihrer aktuellen Bindung an die Interessen „ihrer“ Konzerne, von RWE, Vattenfall und Konsorten zu brechen und für unseren Kampf zu gewinnen. Das schließt auch ein, ihnen eine Perspektive für die Zeit „nach der Kohle“ vorzuschlagen. Dazu gehören eine Weiterbeschäftigung ohne Lohnverlust und Einsatz bei anderen, für den Umbau des Energiesektors wichtigen Aufgaben.

Diese Perspektive ist nur gegen die Kapitalinteressen durchsetzbar. Erst recht gilt das für die Umstrukturierung des Energiesektors selbst und die Umstellung von Produktion und Konsum im Interesse des Erhalts der Umwelt wie der Menschen. Das ist ohne die Enteignung der Konzerne einfach unmöglich.

Hier zeigt sich aber auch, warum die ArbeiterInnenklasse nicht nur als politische Unterstützerin gewonnen werden, sondern sich zum zentralen Subjekt im Kampf für den Klimawandel erheben muss:

  • Nur sie verfügt über das technische Know-how für einen geplanten Ausstieg aus der Kohleverbrennung (nicht nur in Elektrizitätskraftwerken, sondern auch in Heizkraftwerken) hin zu erneuerbaren Energien.
  • Sie hat Zugang zu den Produktionsmitteln (Tagebau, Kraftwerk, Forschung) und kann dadurch die Produktion lahmlegen.
  • Durch das Lahmlegen der Produktion im Rahmen eines politischen Streiks kann massiv Druck auf Kapital und Staat ausgeübt werden. Dabei kann der Organisationsgrad der Arbeitenden erhöht werden, z. B. durch Aufbau von Streikkomitees und Verteidigung des Streiks gegen Repression.
  • Die Organisierung der ArbeiterInnen durch den politischen Kampf kann die Grundlage dafür schaffen, dass die Arbeitenden im Rahmen einer entschädigungslosen Enteignung der Energiekonzerne selbst die Kontrolle über die Produktion übernehmen und sie dahingehend planen, dass ein schnellstmöglicher Ausstieg aus der Kohleenergie möglich wird, ohne dass es zu ihren Lasten geschieht.

Der Umsetzung dieser Strategie steht derzeit vor allem die Politik der Gewerkschaftsbürokratie entgegen. Nichtsdestotrotz bleibt sie notwendig, da Kapital und Staat unfähig und unwillig sind, auf zügigem Wege aus der zerstörerischen, aber profitbringenden Kohleenergie auszusteigen. Andernfalls ist zu erwarten, dass der Kohleausstieg, wenn er denn kommt, über Arbeitsplatzstreichungen und Steuern auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung finanziert werden soll. In diesem Kontext schlagen wir einen Forderungskatalog vor, der Eckpunkte zur Energiewende mit einer klassenkämpferischen Perspektive verbindet:

  • Solidarität mit den BesetzerInnen: Rodung des Hambacher Forstes verhindern! Bullen raus aus dem Wald, organisierte Gegenwehr gegen die Räumungsversuche! Massenaktionen gegen RWE und Kohleindustrie! Bundesweite Aktionskonferenz zur Durchsetzung des Kohleausstiegs!
  • Für die ökologischen Katastrophen ist die herrschende Klasse verantwortlich – daher soll sie für die Schäden aufkommen! Entschädigungslose Enteignung der Energie- und Transportindustrie unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für den schnellstmöglichen organisierten Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung und Einstieg in klimaneutrale Erzeugung im Rahmen eines Energieplans unter ArbeiterInnenkontrolle! Für einen solchen Plan auf europäischer und weltweiter Ebene, der Verkehr, Industrie, Haushalte, Strom- und Wärmegewinnung integriert!
  • Weg mit dem Emissionsrechtehandel und der Subventionierung von „regenerativer Energie“! Den „blind“ wirkenden Marktmechanismen setzen wir das bewusste, planmäßige Eingreifen in die Produktion entgegen. Für die Förderung von Energie und Ressourcen sparenden Techniken, bezahlt vom Kapital!
  • Für ein globales Programm zur Wiederaufforstung von Wäldern, der Renaturierung von Mooren und zum Schutz des Bodens und der Meere als CO2-Senken! Entschädigungslose Enteignung von LandbesitzerInnen, nachhaltige Bewirtschaftung unter Kontrolle der ArbeiterInnen und BäuerInnen!
  • Für Forschung nach neuen Energien wie Kernfusion und zur Lösung der Speicherproblematik der erneuerbaren Energien, zur Minimierung bzw. Beseitigung des Schadstoffproblems (Atommüll) unter ArbeiterInnenkontrolle und auf Kosten der Energiekonzerne!
  • Gegen die Spaltung von Umweltbewegung und Beschäftigten in umweltgefährdenden Betrieben! Umschulung und neue Arbeitsplätze zu gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen! Gegen prekäre Beschäftigung in der Branche erneuerbarer Energien: gleiche Bedingungen für alle Beschäftigten in Windkraft-, Solarbetrieben wie für jene in Bergbau, AKWs und bei den Stromkonzernen!



#ausspekuliert-Demo in München: 10.000 Menschen demonstrieren für bezahlbaren Wohnraum

Veronika Schulz, Infomail 1020, 17. September 2018

Nachdem dieses Jahr bereits in anderen Städten Großdemonstrationen stattfanden, wurde es auch in München Zeit für Widerstand gegen InvestorInnen, Hedgefonds und die Wohnungspolitik der Landesregierung. Innerhalb nur weniger Wochen hat der „Münchner Mieterstammtisch“, gegründet von verschiedenen MieterInnengemeinschaften, die Themen bezahlbares Wohnen und soziale Ausgrenzung durch Immobilienspekulation fest in der öffentlichen Debatte verankert. Mittlerweile unterstützen mehr als 100 Organisationen, Parteien und Verbände das Bündnis unter dem Motto #ausspekuliert. Am Samstag, genau eine Woche vor dem Einzug der Wies’nwirtInnen, folgten mehr als 10.000 Menschen dem Aufruf zum symbolischen „Auszug der Münchner“ aus der teuersten Großstadt Deutschlands. Neben SPD und Linkspartei war auch die ver.di-Jugend in großer Zahl mit eigenem Demozug vertreten, der sich mit der #ausspekuliert-Demo verbunden hat. Unter dem Motto „Ohne Moos wohnungslos“ wurde auf die besonders prekäre Situation von Azubis und jungen Lohnabhängigen aufmerksam gemacht, für die ohne Bürgschaft von Eltern eine Wohnung schlicht nicht zu haben ist.

Die aktuelle Misere auf dem deutschen Wohnungsmarkt mit rasant steigenden Mieten ist das Resultat des stetigen Abbaus sozialer Förderprogramme bei gleichzeitiger Privatisierung. Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland hat sich innerhalb der letzten 10 Jahre von 200.000 auf 1,2 Millionen versechsfacht. In München haben sich die Mieten seit 2010 um 50 % erhöht. Im Schnitt kostet der Quadratmeter 17 Euro!

Es sind mittlerweile nicht nur GeringverdienerInnen, die sich die Mieten in München nicht mehr leisten können. Das Problem der explodierenden Quadratmeterpreise betrifft längst auch FacharbeiterInnen, junge Familien und RentnerInnen. Das bedeutet eine Verdrängung von den Menschen, die die Stadt beleben, am Laufen halten, ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, in die Vororte. Dies führt nach und nach zu einem Verlust der städtischen Vielfalt und Kultur. Die ImmobilienspekulantInnen wie „Deutsche Wohnen“ machen Rekordgewinne – auf unsere Kosten. Die Filetgrundstücke luxussanierter Wohnungen teilen Immobilienverwaltungen und InvestorInnen untereinander auf, um sie einer kleinen, finanzkräftigeren Klientel als den bisherigen BewohnerInnen anzubieten.

Der Wohnungssektor ist Teil des kapitalistischen Gesamtsystems. Der MieterInnenkampf muss daher als Klassenkampf geführt werden (z. B. durch Einbeziehung der Gewerkschaften und anderer Organisationen, die sich auf die ArbeiterInnenklasse beziehen). Wir können uns nicht mit der Besetzung und Beschlagnahme vorhandenen Wohnraums sowie einer Mietpreisbremse begnügen, sondern schlagen auch ein Programm öffentlicher Wohnungsbau- und Sanierungsmaßnahmen zu Tariflöhnen und bezahlt aus Unternehmerprofiten vor:

  • Der Staat soll selbst sozialen Wohnungsbau betreiben, nicht das private Wohnungskapital subventionieren. Die Immobilienwirtschaft und WohnungsbauspekulantInnen müssen entschädigungslos enteignet werden – unter Kontrolle der MieterInnen und von ArbeiterInnenräten.
  • Kommunalisierung des Grund und Bodens, Baubetrieb in kommunale Hand für Neubau und Altbausanierung!
  • Bezahlung des Wohnungsbaus und von Sanierungen im Interesse der MieterInnen durch das beschlagnahmte Vermögen des Wohnungs- und Baukapitals und eine progressive Besteuerung der Profite!
  • Kontrolle der Wohnungsbaugesellschaften, Verwaltungen und der Mietpreise durch die MieterInnen, deren VertreterInnen und MieterInnengemeinschaften, begleitet von ArbeiterInnenkontrolle über das Wohnungsbauwesen.



Brasilien: Vom Widerstand zum Kampf für eine sozialistische Gesellschaft

Liga Socialista, März 2018, Flugblatt für das Sozialforum in Salvador da Bahia, Infomail 994, 19. März 2018

Seit der Amtsanfechtung der Präsidentin Dilma Rousseff von der ArbeiterInnenpartei (PT) befinden wir uns praktisch in einer Putschsituation. Heute ist es auch klar, dass es nicht einfach ein konstitutioneller Umsturz durch den Kongress ist. Es ist eine durchgängige Linie erkennbar vom FIESP (dem mächtigen Unternehmerverband von Sao Paulo; deutsch: „Industriellenverband des Staates Sao Paulo“), den großen Medienkonzernen (unter der Führung des „Rede Globo“; deutsch: „Netzwerk Globus“) bis zur bürgerlichen Justiz – nicht nur in Person des Richters Sérgio Moro, sondern auch in Gestalt des Obersten Bundesgerichts (Supremo Tribunal Federal, STF).

Der Putsch gegen die ArbeiterInnenklasse

Die Abgeordneten und SenatorInnen der rechten PutschistInnen sind offensichtlich in alle möglichen Korruptionsaffären verwickelt. Derzeit dehnt sich dies auch auf die Exekutive aus, wo der amtierende Präsident Temer und seine MinisterInnen überhäuft sind mit Anschuldigungen und bis zum Hals in Verfahren stecken. Davon sind auch der ehrenwerte Richter Moro und das Oberste Bundesgericht STF nicht ausgenommen, die offensichtlich die Verfahren gegen die rechten PutschistInnen verschleppen, während sie die gegen PT-FunktionärInnen beschleunigen – vor allem das gegen Lula da Silva, den sie jetzt in zwei Instanzen ohne jeglichen konkreten Beweis verurteilt haben.

Der Putsch hat klare Ziele, die wir benennen können: Entfernung der PT aus der Regierung; die Verurteilung von Lula als dem klaren Führer der PT; die Zerschlagung der PT als der Partei, die von der ArbeiterInnenklasse geschaffen wurde und auch heute noch von deren Mehrheit als „ihre“ Partei angesehen wird; Durchsetzung der neoliberalen Austeritätspolitik durch Angriffe auf die ArbeiterInnen- und RentnerInnenrechte; radikale Kürzung der Staatsausgaben in Bezug auf öffentliche Dienst- und Sozialleistungen; Privatisierung der öffentlichen Reichtümer und Unternehmen in einem beschleunigten Ausverkaufsprozess.

Daher können wir zusammenfassen, dass es sich um einen Putsch gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse handelt, nicht nur um einen Angriff auf ihre Rechte, sondern auch auf „ihre“ Organisationen wie PT, CUT (Gewerkschaftsdachverband) und die einzelnen Gewerkschaften. Dieser Angriff richtet sich auch gegen die demokratischen Freiheiten, wie sie in die Verfassung eingeschrieben sind, wie das Assotiationsrecht, Versammlungsrecht auf öffentlichen Plätzen und das Recht, Gewerkschaften zu bilden. Nicht nur sahen wir Polizeirazzien gegen Studentenversammlungen auf Universitäten, gegen Gewerkschaftsversammlungen, wir sahen auch die Verurteilung von Lula ohne Beweis, aus politischen Gründen, um ihn an seiner demokratischen Kandidatur bei der nächsten Wahl zu hindern.

Gegen die Militärintervention in Rio de Janeiro

Der jüngste Angriff ist die Militärintervention in Rio de Janeiro, die durch ein Dekret des Präsidenten Temer befohlen wurde. Die öffentliche Sicherheit des Bundestaates von Rio wurde unter das Kommando des intervenierenden Armeegenerals Walter Souza Braga Netto gestellt, der am Tage des Eingreifens erklärte: „Rio ist jetzt das Versuchslabor für das ganze Land“ (G1 Rio, 27.2.2018, 21:54). Mit anderen Worten besteht für den ganzen Wahlvorgang 2018 die Gefahr, dass er gar nicht stattfindet. Der nächste Schritt des Putsches könnte tatsächlich die Militärintervention im ganzen Land sein. Dagegen müssen wir leider eine gewisse Passivität einiger Linker in Bezug auf die Intervention in Rio feststellen. Viele tun so, als ob es sich um eine punktuelle Erscheinung handele, und spielen die Gefahr einer ausgeweiteten Militärintervention herunter.

In der gegenwärtigen Situation darf die brasilianische Linke sich nicht verzetteln. Die Einheitsfront gegen die Angriffe auf die ArbeiterInnen und RentnerInnen muss sich fortsetzen für die nächste Konfrontation, jetzt vor allem die Verteidigung der demokratischen Rechte. Parteien wie die PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) und PCB (Kommunistische Partei Brasiliens) haben korrekt erkannt, dass die Verurteilung von Lula ohne Beweis ein Angriff auf das demokratische Recht seiner Kandidatur ist – bei gleichzeitiger politischer Unabhängigkeit von dessen politischer Kampagne selbst.

Die PSTU hat dagegen seit Beginn des Putsches diesen nicht als solchen erkannt und sich daher in eine de facto Einheitsfront mit den PutschistInnen begeben unter dem scheinradikalen Slogan „Weg mit Dilma – weg mit allen“. Dies setzt sich heute fort, indem sie in Einheitsfront mit den PutschistInnen die Verhaftung auch von Lula wegen Korruption verlangen.

Auf der anderen Seite ist das Problem die Position derjenigen Sektoren der PT, die die Allianz mit Teilen der PutschistInnen fortwährend verteidigen. So zum Beispiel in Minas Gerais, wo der Gouverneur Fernando Damata Pimentel (PT) nicht mit der PMDB (Partei der Demokratischen Bewegung von Temer) bricht, der gültige Tarifverträge mit den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes verletzt und die Privatisierungspolitik von Aécio Neves (seinem neoliberalen Vorgänger) fortsetzt. In Ceará ist der Gouverneur Camilo Santana (PT) es selbst gewesen, der an Temer herangetreten ist, um die Militärintervention in seinem Bundesstaaat zu fordern.

Die Linke muss in dieser Situation hart bleiben und auch vor allem von der PT fordern, mit den bürgerlichen AllianzpartnerInnen zu brechen, Demonstrationen in Verteidigung der demokratischen Freiheiten und gegen die Militärintervention sowie für das Recht von Lula organisieren, als Präsidentschaftskandidat anzutreten.

Die Wahlen 2018

In dieser schwierigen Lage müssen wir die Einheitsfronttaktik korrekt anwenden, um die Pläne der PutschistInnen zu durchkreuzen. Im Wahlprozess ist es klar trotz Differenzen unter den Linken, dass wir ihn nützen müssen zur Konfrontation gegen den Feind, die putschistische Rechte, die dabei die Interessen der Bourgeoisie und des Imperialismus voranbringen will. Wir müssen daher darüber im Klaren sein, dass Schluss sein muss mit irgendwelchen Allianzen mit diesen Parteien der Rechten. Wir können ganz klar die Konsequenz der Klassenkollaboration am Schiksal der PT ablesen. Es muss endlich Ende sein mit dem alten Lied: „Ohne Allianzen wird es keinen Sieg geben“.

Obwohl die PT-Politik es geschafft hat, dass Brasilien „gnädigerweise“ durch die UNO von der Karte der Hungerländer genommen wurde, haben genau diese Allianzen mit den offen bürgerlichen Parteien die PT in den Strudel der Korruption gezogen, sie ihrer Identität beraubt. Was am schlimmsten ist, haben sie dazu geführt, dass sie in der Regierung an der Spitze einiger entscheidender Angriffe auf die Rechte der ArbeiterInnen stand. Das andere Problem ist, dass die Kampagne für Lula sich vollkommen auf die juridische Frage konzentriert, als ob es irgendeine Hoffnung auf eine Unabhängigkeit der bürgerlichen putschistischen Justiz gäbe.

Falls wir in diesem Jahr Wahlen haben sollten, muss uns klar sein, dass dies ein entscheidender Moment der Konfrontation mit den PutschistInnen und FaschistInnen (um Jair Bolsonaro) sein wird, an den Wahlurnen, aber vor allem auf der Straße. Die Parteien der Linken müssen sich für diese Konfrontation organisieren. Die ArbeiterInnenklasse muss in diese Auseinandersetzung vorbereitet hineingehen oder es droht eine schwere Niederlage und die Konfrontation mit den FaschistInnen.

Die PT hat die Kandidatur Lulas bekräftigt und behauptet, dass sie keinen „Plan B“ habe. Auch wenn wir nicht mit der Politik der PT übereinstimmen, ist die Kandidatur von Lula eine des Widerstandes gegen den Putsch. Sollte die PT tatsächlich keinen Ersatzkandidaten haben, wird dies daher zur Konfrontation führen, da die Verhaftung von Lula ziemlich sicher ist. Wenn es 2018 Präsidentschaftswahlen ohne Beteiligung von Lula gibt, so wird dies ein offensichtlicher Betrug zur Legitimierung des Putsches vor der Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft sein.

Für eine sozialistische Gesellschaft

Wir, die Militanten der Liga Socialista, wissen um die Wichtigkeit der Einheit der Linken in diesem entscheidenden Moment. Mit dem Putsch hat die falsche, die bürgerliche Demokratie ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie hat sich als Diktatur des Kapitals entlarvt, die durch ihr Instrument, den Kongress, das Volk in Bezug auf seine in Dekaden des Klassenkampfes des Proletariats errungenen Rechte und Zugeständnisse angreift.

Die bürgerlichen Institutionen sind gescheitert. Wir fühlen uns nicht verpflichtet, den bürgerlichen Staat zu kurieren, sondern im Gegenteil, wir müssen ihn zerschlagen, um auf seinen Überresten einen neuen, sozialistischen Staat zu errichten.

Um den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft voranzubringen, brauchen wir eine linke Kandidatur, die unabhängig von den bürgerlichen Parteien, den UnternehmerInnen und BänkerInen ist. Diese Kandidatur müsste sich auf die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften stützen und eine wahrhafte Armee der ArbeiterInnen bilden, die sich aufbaut aus Räten in den Stadtteilen, Wirtschaftszweigen etc.. Sie müsste zielen auf die Errichtung einer Regierung der ArbeiterInnen in Dorf und Stadt.

Das Programm müsste sich konzentrieren auf: die Rücknahme aller Privatisierungen; die Rücknahme aller Angriffe der Putschregierung, vor allem der Arbeitsreform; die Umwandlung von Petrobras in einen zu 100 % staatlichen Betrieb wie auch die Nationaliserung der verschleuderten Bodenschätze und Schürfrechte wie bei Pre-Sal; die automatische Erhöhung der Mindestlöhne entsprechend der Kaufkraftentwicklung; Enteignung von Firmen, die Massenentlassungen durchführen, die die Wirtschaftspolitik der ArbeiterInnenregierung boykotieren oder behindern bzw. von Unternehmen, die zentral für die Ökonomie des Landes sind; Absicherung der gesetzlichen Renten durch Besteuerung der Reichen; Verstaatlichung der Medien ohne Entschädigung unter Kontrolle der ArbeiterInnen; eine Agrarreform, die Großgrundbesitz und Agrobusiness enteignet; progressive Bestuerung der großen Vermögen und Erbschaften.

  • Verteidigen wir unsere Rechte und Errungenschaften!
  • Verteidigung der demokratischen Rechte!
  • Kein Ausschluss Lulas von der Präsidentschaftswahl!
  • Stopp der Militärintervention!
  • Weg mit dem Putschisten Temer!
  • Allgemeine Wahlen sofort!



Geschichte – Können Frauen kämpfen?

Avenita Holzer, Frauenzeitung Nr. 5, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION (Deutschland), ArbeiterInnenstandpunkt/REVOLUTION (Österreich) März 2017

Aber natürlich! Arbeitsrechte wurden erkämpft, Wahlrechte ebenfalls. Trotzdem zweifeln heuteimmer noch einige Menschen daran, dass Frauen fähig sind ihre Kämpfe selbst zu führen. Das entspricht in keinem Fall der Wahrheit. Sowie bei Kämpfen für Frauenrechte genug solidarische Einbindung von Männern passieren muss, sind Frauen bei Arbeitskämpfen, als  (meist doppelt) Ausgebeutete, zumeist an vorderster Front dabei.

Frauen abzusprechen in Kämpfen aktiv sein zu können, sie ständig in die Opferrolle zu drängen und sie damit vom Subjekt zum Objekt zu machen, ist etwas, dass in den verschiedensten Formen vorkommt. Ob nun bei Rechten, die Frauen am liebsten vor dem Herd in der Küche anketten wollen, manchen bürgerlichen Feminist*innen wie Alice Schwarzer, die gerade muslimischen oder osteuropäischen Frauen absprechen wollen, eigenständig zu kämpfen, oder sogar bei machen Linken. Dabei beweisen die neuen Ereignisse Tag für Tag, welche Rolle Frauen wirklich in Bewegungen spielen: ob nun beim Arabischen Frühling, im Kampf gegen den Daesch oder dem Widerstand gegen Trump. Am Beispiel der Februarrevolution in Russland, die dieses Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum feiert, wollen wir dies nochmal aufschlüsseln.

Wenn von der russischen Revolution gesprochen wird, fallen einem der Sturm aufs Winterpalais, die Verhaftung der provisorischen Regierung und die Aprilthesen ein – falls man sich überhaupt gut damit auskennt. Aber dass der eigentliche Prozess dieser russischen Revolution viel länger war, ja eigentlich den Anfang mit der Revolution 1905 und dem Petersburger Blutsonntag nahm, wird oft nur nebenbei erwähnt. Erfolgreich waren diese Aufstände zwar nicht, aber trotzdem haben sie für die damaligen Revolutionär*innen viele Lehren enthalten, auch in Bezug auf das Potenzial von Frauen. Deshalb muss auch auf die Ereignisse im Februar 1917 ein besonderes Augenmerk gelegt werden, wenn die Oktoberrevolution verstanden werden soll.

Das Jahr 1917 zeichnete sich vermutlich am meisten durch den Krieg aus. Seit 1914 herrschte der 1. Weltkrieg und das wirtschaftlich schwache Russland war quasi am Ende. Die Menschen waren unzufrieden mit ihrer Situation, Nahrungsmittel waren knapp und Streiks begannen, trotz der vorhergegangenen Burgfriedenspolitik wieder aufzuflammen. Auch wurde in der Duma (quasi ein Parlament, das als Zugeständnis nach den Protesten 1905 diente, aber de facto keine Entscheidungsgewalt hatte) ein radikalerer Kurs eingeschlagen und die Menschen konnten mit ihren derzeitigen Lebensgrundlagen nicht mehr viel anfangen.

Die tatsächliche Revolution, die aus eben diesen Missständen entflammte, begann in Petrograd, mit den Industriearbeiter*innen der Stadt. Am 23. Februar nach dem in Russland geltenden julianischen Kalender (in Mittel- und Westeuropa der 8. März nach dem dort gültigen gregorianischen Datum) – dem internationalen Frauenkampftag –begann ein Streik, der für das [bis dahin] zaristische System der Todesstoß sein sollte. An diesem Tag fandenim Arbeiter*innen- und Industriebezirk Wyborg einige Treffen in Textilfabriken statt, die sich speziell an Frauen richteten und ihre Ausbeutung im Verhältnis zum Krieg thematisierten. Auf diesen Treffen kochte der Zorn über, Arbeiter*innen stimmten für Streik und setzten Worte gleich in Taten um. Sie gingen von Fabrik zu Fabrik, um die Arbeiter*innen auf die Straßen zu bekommen. Gegen Mittag waren es schon 50.000 Streikende aus 21 Betrieben. Am Ende des Tages waren 20-30 % der Arbeiter*innen im Streik. Damit aber war die Sache nicht erledigt, der Kampfgeist nicht aufgebraucht. Die Revolte ebbte nicht ab, die Armee erwies sich als ohnmächtig, insbesondere deshalb, weil die Masse die Soldaten aufforderte sich ihnen anzuschließen. Insbesondere auf das Drängen der Soldatenfrauen befolgten auch einfache Soldaten zu einer nicht unbeträchtlichen Zahl diesen Aufruf.

Somit zeigt sich: die Rolle der Frauen in der Februarrevolution ist besonders herauszuheben. Obwohl alle sozialistischen Parteien nicht zum Streik aufgerufen hatten, ergriffen die Frauen die Initiative, holten andere Arbeiter mit ins Boot und schafften es auch, Teile der Soldaten für sich zu gewinnen. Die Frauen von Petrograd hinterließen einen solchen Eindruck, dass sie nicht einmal von dieser Geschichtsschreibung totgeschwiegen werden konnten. Denn besonders in der bürgerlichen Gesellschaft scheint Geschichte oftmals so, als ob nur weiße Männer eine relevante Rolle gespielt haben. „Geschichtsschreibung ist männlich“ ist ein Satz, der einem immer wieder an den Kopf geworfen wird und bis zu einem gewissen Grad auch berechtigt ist. Denn Jahrtausende von Unterdrückung sind nichts, was nicht auch auf die Geschichte einen maßgeblichen Einfluss hat.

Abgesehen von diesem Kapitel der Geschichte, welches allein schon ausreicht, um das selbstbestimmte und kämpferische Handeln von Frauen belegen zu können, finden sich viele weitere Versuche und erfolgreiche Revolten in den gesellschaftlichen Klassenkämpfen. Ein Beispiel dafür wären die Suffragetten-Bewegung in England oder die Bestrebungen Clara Zetkins in Deutschland, die sich um das Wahlrecht für Frauen bemühten. Anzumerken ist hierbei, dass Zetkin diese Kämpfe nie isoliert von der Arbeiter*innenklasse, sondern mit ihr führen wollte, während die Suffragetten-Bewegung vorwiegend von bürgerlichen Frauen dominiert wurde.

Auch heute sieht man bei Protesten, wie in Polen und den USA gegen frauenfeindliche Politik die Kräfte mobilisiert werden. Doch um dauerhaft die Gefahr der Rechtspopulist*innen, die Frauenrechte einschränken wollen, aufzuhalten, braucht es mehr als kurzzeitige Proteste. Sie sind wichtig, dochohne Perspektive setzen sie nur ein Statement und verebben dann wieder,ohne dauerhaft gesellschaftliche Veränderung bezweckt zu haben. Es ist eine Illusion zu glauben, man könnte nur Schritt für Schritt zu Verbesserungen kommen oder Sexismus in dieser Gesellschaft auflösen. Deshalb müssen, wie auch in der Vergangenheit, die Kämpfe für die Verbesserung der Situation der Frau mit dem für einen wirtschaftlichen und politischen Umbruch verbunden werden, wie uns das Beispiel der Februarrevolution gezeigt hat. Denn alleine sind wir wesentlich weniger stark als gemeinsam!




USA – „Women’s March“ als Sammelpunkt für „Anti-Trump-Proteste“

Christian Gebhardt, Frauenzeitung Nr. 5, ArbeiterInnenmacht/REVOLUTION (Deutschland), ArbeiterInnenstandpunkt/REVOLUTION (Österreich) März 2017

Der Präsident, der eigentlich nicht sein sollte – Donald Trump, der nicht nur mit sexistischen Äußerungen im Wahlkampf auf Stimmenfang ging, wurde am 20. Januar als 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Während viele Menschen dachten, als Präsident werde er sich ändern müssen, machte er in seiner Antrittsrede klar, wohin der Weg gehen soll. Seine Versprechen sollen umgesetzt werden, ohne Wenn und Aber.

Dies führte dazu, dass am Tag nach der Vereidigung, am 21. Januar, die größten Demonstrationen weltweit seit den Protesten gegen den Irakkrieg 2001 stattfanden. Der „Women’s March“ (Frauenmarsch) markierte bisher den Höhepunkt der Anti-Trump-Bewegung. Aber nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt gingen bei über 650 Demonstrationen schätzungsweise rund 5 Millionen Menschen auf die Straße.

Die größten fanden in Los Angeles (750.000), Washington, D.C. (500.000), Chicago (500.000), New York (200.000) und Boston (175.000) statt. Aber nicht nur in den Metropolen der „liberalen Küsten“ gingen die Menschen an diesem Tag auf die Straße. Auch in den konservativeren Regionen regte sich sichtbarer Widerstand: 60.000 in Austin (Texas), 15.000 in Nashville (Tennessee) und 60.000 in St. Paul (Minnesota).

Diese Zahlen zeigen, dass es eine große Masse Menschen in den USA gibt, die Präsident Trump schon am zweiten Tag seiner Präsidentschaft entgegentreten und ihren Unmut über ihn kundtun wollten. Aber nicht nur in den USA, auch weltweit trieb die Angst vor den Auswirkungen seiner Präsidentschaft die Menschen auf die Straße. Dass dies nicht zu Unrecht geschah, bewiesen u. a. die kurz darauf folgenden Dekrete zum „Einreisestopp“ für Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern und zum „Mauerbau“ an der Grenze zu Mexiko.

Klassencharakter der Proteste

Was als „Marsch der Frauen“ begann, weitete sich schnell zu einer größeren „Anti-Trump“-Demonstration aus. Nicht nur die sexistischen Äußerungen Trumps sollten angeprangert und die Furcht der US-amerikanischen Frauen vor Rückschritten in der Frauenpolitik artikuliert werden. Auch etliche andere Themen darüber hinaus sollten zur Sprache kommen. Es waren Slogans und Schilder zu sehen zu den Themen Frauenrechten, Rechte für People of Color (Black Lives Matter), Rechte für Muslimas, ImmigrantInnen, LGBTQ-Menschen und auch zu ökologischen Fragen. Aber bei den Schildern blieb es auch. Die Organisation der Proteste blieb stark in den Händen der bürgerlichen Frauenbewegung und der Demokratischen Partei.

Dennoch kam es zu einer interessanten Entwicklung. Rund um die Frage des „Rechts auf Abtreibung“ mussten die OrganisatorInnen einen prinzipiellen Standpunkt einnehmen und luden Organisationen, die sich offen gegen das Recht auf Abtreibung aussprechen, nicht zur Teilnahme am Marsch der Frauen ein. Ihnen wurde die persönliche Teilnahme zwar offen gehalten, öffentlich durften sie jedoch nicht als unterstützende Organisationen auftreten.

Auch wenn hier viele positive Entwicklungen stattfanden, wie diese klare Abgrenzung zu AbtreibungsgegnerInnen bzw. die progressive Ausweitung und Verbindung mit anderen Protestbewegungen, muss auch darauf hingewiesen werden, dass noch viele Schritte hin zu einer effektiven Bekämpfung des Präsidenten Trump vonnöten sind. Einer davon ist die Überwindung der starken Kontrolle der Proteste durch die Demokratische Partei sowie die bürgerlichen Feministinnen. Der Marsch der Frauen (wie auch die daran anschließenden Proteste gegen den Einreisestopp) wurde stark von diesen organisiert sowie kontrolliert. Die ihnen nahestehenden Medien bewarben den Marsch über Wochen hinweg, was auch zu der großen und tiefgreifenden Teilnahme geführt hat.

Die meisten offiziellen Redebeiträge fokussierten sich darauf, dass mit einer Wahl Clintons zwar alles besser gewesen wäre, Mensch sich nun aber auf das Wesentliche konzentrieren müsste. Dies sei nun die Verteidigung der Demokratie, die allen Menschen und „AmerikanerInnen“ dienen solle. Gewährleistet wird dies durch das geschlossene Auftreten aller als „AmerikanerInnen“ und „PatriotInnen“. Durch gutes Zureden und unter Druck setzen könne Trump schon zur Einsicht gelangen und sich den notwendigen demokratischen Prozessen anpassen.

Sollte es Trump trotz dieser Proteste nicht vollbringen seine Ansichten zu ändern, wird auf die kommenden Wahlen 2020 verwiesen. In diesen soll die Demokratische Partei mit Hilfe aller „wahren AmerikanerInnen“ den Republikanern ihre absolute Mehrheit streitig machen. Wer eine Perspektive abseits des Wahlkalenders für die Bewegung suchte, hatte bei der Demokratischen Partei und den bürgerlichen Feministinnen kein großes Glück. Menschen, die durch die bis 2020 geplanten Maßnahmen betroffen sein werden (u. a. durch die Rücknahme der Gesundheitsreform), wird dies nicht viel weiterhelfen. Aber welche Perspektive kann es geben?

Proletarische Frauenbewegung als Weg zu einer ArbeiterInnenpartei

Auch wenn der geplante Fokus des „Women’s March“ durch die große Beteiligung etwas verloren ging, hat er dennoch gezeigt, dass Frauen ein großer Bestandteil der Anti-Trump-Bewegung darstellen und auch eine Mobilisierungsfähigkeit aufweisen. Jedoch wurde unmissverständlich klar, dass die Kontrolle der Proteste fest in den Händen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte liegt. Dies wird schlussendlich aber nur dazu genutzt werden, um die Unterstützung der derzeitigen Anti-Trump-Proteste in Richtung Demokratische Partei zu kanalisieren, welche aber keine klare Alternative für die Bewegung darstellen kann.

Die jetzigen Proteste und Streiktage im Rahmen der Kampagne „DayWithoutUs“ sind Schritte in die richtige Richtung. Innerhalb der bestehenden Bewegung müssen Revolutionärinnen offen für den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung eintreten und den Bruch mit den bürgerlichen Kräften suchen. Der Schritt, die Abtreibungsgegnerinnen von den Protesten auszuschließen, ist hier ein erster, wenn auch kleiner, der unbedingt verteidigt und ausgebaut werden muss. Daneben muss der Kampf gegen Sexismus ebenso wie gegen Rassismus innerhalb der gesamten ArbeiterInnenklasse unbedingt betont werden. Die Situation von Women of Color, die wesentlich weniger verdienen als weiße Männer und Frauen, statistisch unter mehr sexuellen Übergriffen zu leiden haben und zudem gegen den in den USA verankerten staatlichen Rassismus kämpfen müssen, macht es notwendig, dass ihre Forderungen von einer proletarischen Frauenbewegung integriert werden, um eine erfolgreiche Bewegung zu gewährleisten.

Eine solche proletarische Frauenbewegung kann davon ausgehend nicht nur ein Bestandteil und Ausgangspunkt für überwältigende Demonstrationen sein, sondern auch eine wichtige Komponente im Aufbau einer dringend notwendigen ArbeiterInnenpartei in den USA spielen. Nur durch sie kann die ArbeiterInnenklasse als Ganze ihre Macht entfalten und die auf den Demonstrationen aufgeworfene Forderung nach der Absetzung Trumps wirklich erreichen: „Hehe, hoho, president Trump has got to go!“




G8: Plünderer der Welt

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

In den G 8-Staaten ist die Wirtschaftsmacht der Welt konzentriert. Von den 200 größten Industriekonzernen kommen 171 aus den USA, Deutschland, Japan, Britannien, Frankreich, Italien und Kanada. Es sind vor allem diese Konzerne, die von der bestehenden kapitalistischen Weltwirtschaftordnung profitieren.

Die G 8 sind ein wichtiger Teil dieser Ordnung. Zwischen den aktuellen Gipfeltreffen koordinieren diverse Experten- und Ministerrunden die Politik der führenden imperialistischen Staaten. Die Finanz- und Wirtschaftsminister aller Staaten außer Russland treffen sich zwischen den jährlichen Gipfeln, um das internationale Währungssystem einigermaßen stabil zu halten und ihre Wirtschaftsinteressen abzustimmen.

Außerdem beherrschen sie praktisch alle wichtigen Institutionen der Weltwirtschaft – den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank und sämtliche regionale Entwicklungsbanken.

Profite aus der „Dritten Welt“

Der Reichtum der imperialistischen Metropolen speist sich aus zwei Quellen: erstens aus der Ausbeutung der Lohnabhängigen in den großen Industrieländern selbst; zweitens aus der Aneignung von Extraprofiten und dem nationalen Reichtum der „ärmeren“, vom Imperialismus beherrschten Länder, die wiederum aus der Überausbeutung der Arbeiterklasse der halbkolonialen Welt, der Ausbeutung der Bauernschaft oder der Aneignung der dortigen Rohstoffe und Industrien stammen.

So befindet sich ein immer größerer Teil der Wirtschaft der „Dritten Welt“ in den Händen westlicher Konzerne. Das betrifft nicht nur „boomende“ Länder wie China, wo mehr als ein Drittel aller Exporterlöse direkt an westliche Multis geht. Noch mehr trifft das auf die fast vollständig ausgebluteten Länder Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens zu, wo mittlerweile ein großer Teil aller Rohstoffvorkommen und der Dienstleistungen Monopolbesitz westlicher Konzerne sind.

Diese Politik wird seit den 70er Jahren und der Schuldenkrise in den 80er Jahren systematisch betrieben durch Auflagen des IWF und die Bedienung der Zinsen durch Übertragung öffentlichen Eigentums. Für die Bevölkerung hat das dramatische Auswirkungen: elementare medizinische und öffentliche Versorgung fehlt, traditionelle Lebensgrundlagen (z.B. in der Landwirtschaft) werden zerstört, was wiederum Landflucht, Anwachsen der Slums usw. hervorruft.

Heute müssen rund 1,4 Milliarden Menschen (d.h. etwa die Hälfte aller Lohnabhängigen) auf der Welt mit einen Tagesverdienst von weniger als 2 Dollar überleben.

Neoliberale Ordnung überall

Bei den  G 8-Treffen geht es neben dem Streben nach größtmöglicher Öffnung der Märkte der „Dritten Welt“ auch darum, die Konkurrenz untereinander zu „regulieren.“ Kein Wunder also, dass die Frage der Energieversorgung im Zentrum der Gipfel 2006 und 2007 steht. Hier geht es nicht nur um die Sicherung der Öl- und Gasvorkommen im Nahen Osten. Es geht auch um den Einfluss auf das russische Öl (respektive Russlands Einfluss auf die Weltwirtschaft) oder die Interessen der deutschen und französischen Atomindustrie (Siemens, Framatom), die ihre beherrschende Weltmarktstellung sichern und ausbauen wollen.

Die G 8 richten nicht nur die „Dritte Welt“ nach ihren Vorstellungen ein. Auch in den eigenen Ländern sollen die Profite durch verschärfte Ausbeutung – Abschaffung von ArbeiterInnenrechten, „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes – sowie die fast vollständige Privatisierung öffentlicher Leistungen in die Höhe getrieben werden.

Auf dem Gipfel in St. Petersburg stand aktuell die Frage der Bildung, d.h. der Koordinierung der neoliberalen Angriffe auf das Bildungssystem, im Mittelpunkt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass auf solchen Gipfeln Strategien abgesprochen und vorangetrieben werden, die sich dann z.B. in den akllen Angriffen auf die Studierenden zeigen.

G 8 = Krieg und Besatzung

Seit dem 11. September 2001 stehen der „Krieg gegen den Terrorismus“, die „Sicherheitspolitik“ und die Vorbereitung immer neuer Kriege und Besatzungsoperationen im Zentrum aller G 8-Gipfel.

Aktuell bereiten die westlichen Großmächte einen Militärschlag und Sanktionen gegen den Iran vor.

Die von den USA geführte „Koalition der Willigen“ führte den Krieg gegen die Taliban-Herrschaft in Afghanistan und gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak. Beide reaktionären Regimes waren ursprünglich von den USA und ihren Alliierten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion und gegen andere Regionalmächte wie den Iran militärisch und politisch aufgerüstet worden. Erst, als sie als Verbündete nicht mehr gebraucht wurden, „entdeckten“ die führenden westlichen Staatsmänner den verbrecherischen Charakter dieser einstigen Vasallen.

Die USA führen diese Kriege, um ihre Weltmachtstellung zu behaupten und auszubauen. Hinter Krieg und Besatzung stehen immer wirtschaftliche und politische Ziele – nicht erst seit Bush.

„Euroasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft in Zukunft ausgetragen wird.“ (Zbigniew Brezinski, Berater mehrerer US-Regierungen und des britisch/US-amerikanischen Ölmultis BP Amoco, aus: Die einzige Weltmacht, S. 57)

EU und Deutschland verfolgen eigene Interessen

Die EU oder Russland bedienen sich ähnlicher Mittel. Russland führt seit Jahren einen brutalen Krieg in Tschetschenien und unterstützt reaktionäre und korrupte Regimes in Zentralasien, um seine eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele in Zentralasien und im Kaukasus durchzusetzen.

Die wesentlich größere, mit den USA konkurrierende Macht formiert sich jedoch mit der EU unter deutsch-französischer Führung. Die EU macht nicht nur bei der US-Politik offen oder versteckt mit (z.B. indem Flughäfen zur Verfügung gestellt werden), sie verfolgt immer offensiver auch eigene imperialistische Interessen – im Nahen Osten, in Afghanistan oder jetzt auch im Kongo, wo sie unter deutsch-französischer Führung als UN-Mandatsmacht fungiert. Damit einher geht ein massiver Anstieg der Konkurrenz zwischen den beiden mächtigsten Wirtschaftsblöcken der Welt. Als Resultat dessen werden wir Zeugen von immer weitgehenderen Angriffen auf die Lohnabhängigen in ganz Europa bei gleichzeitig verstärkter Auspressung der osteuropäischen Länder innerhalb der EU.

Als Teil der  G 8 und drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt baut die BRD (teilweise über die NATO, verstärkt über die EU) ihre militärischen Kapazitäten aus.

Das geht auch aus dem neuen Weißbuch der Bundeswehr hervor. Die „Welt“ zitiert Verteidigungsminister Jung: „Vorrangige Interessen seien die Förderung der transatlantischen Stabilität und die Sicherung des Wohlstandes durch freien und ungehinderten Welthandel.“

Und weiter: „Hierbei gilt es wegen der Export- und Rohstoffabhängigkeit Deutschlands, sich besonders den Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden.“

Die  G 8-Staaten sind nicht nur die größten Kriegstreiber. Sie sind auch die größten Kriegsgewinner. Die Rüstungskonzerne in den USA, in Europa, Russland und eben auch in der BRD fahren Rekordaufträge ein und machen Rekordgewinne. So belaufen sich z.B. die Kosten für den Eurofighter auf mindestens 19,5 Milliarden Euro. Insgesamt soll bis 2015 allein für die Bundeswehr Kriegsgerät im Wert von rund 150 Milliarden beschafft werden.

Während täglich Menschen durch die Aktionen der Besatzungssoldaten sterben, brummt das Rüstungsgeschäft. Nicht nur in den USA oder Russland, sondern mehr und mehr auch in der EU. 2005 haben die EU-Länder die USA als größten Waffenexporteur der Welt überholt. Dass deutsche Waffen in aller Welt mitmorden, stimmt heute mehr denn je seit 1945.

G 8 = Zerstörung der Umwelt

Ökologische Katastrophen sind nicht einfach Naturereignisse. Als der Hurrikan Katrina New Orleans verwüstete, starben viele Menschen oder wurden obdachlos. Aber sie wurden es nicht einfach wegen der Flutwelle. Ihr Tod, ihr Elend waren auch das Resultat der Politik der Regierung Bush und ihrer Vorgänger. Der öffentliche Verkehr wurde praktisch abgeschafft. Arme, die keine Autos hatten, mussten in der Stadt zurückbleiben. Die Nationalgarde wurde nach New Orleans geschickt – nicht, um der Bevölkerung zu helfen, sondern um zu verhindern, dass diese an die Lebensmittel in den Supermärkten rankam.

Seit Jahren verändert sich das Weltklima rasch. Die G 8 und andere Industriestaaten geben vor, dass ihnen die Umwelt ein großes Anliegen wäre. Das ist reine Heuchelei!

Die Industriestaaten des Nordens sind nach wie vor die größten Umweltverschmutzer. Gleichzeitig zwingen sie Länder der „Dritten Welt“, ihre Umweltauflagen niedrig zu halten, damit das Kapital dort investiert. Die USA haben bis heute nicht einmal das Kyoto-Protokoll zur Reduktion der Treibgasemissionen unterzeichnet.

Die EU und besonders Deutschland geben sich gern als ökologische Vorreiter. Auch das ist weit entfernt von der Wahrheit. Die mächtigen Energiekonzerne wie EON oder Ruhrgas machen genauso mit beim Kampf um möglichst günstigen Zugriff auf Gas und Öl.

Die Energiewirtschaft und die Kraftwerksbauer forcieren gleichzeitig den Atomstrom als „saubere“ Alternative, obwohl nach wie vor die Fragen der Sicherheit wie der Endlagerung ungelöst sind. Kein Wunder, dass die Energiewirtschaft und Konzerne wie Siemens auf einen Wiedereinstieg in den AKW-Bau drängen, um für den chinesischen und indischen Markt und die dort winkenden Profite Vorzeigeobjekte präsentieren zu können.

Die Agrarindustrie wird zunehmend von einigen wenigen Konzernen wie Monsanto oder der deutschen Bayer AG beherrscht. Genetisch manipuliertes Saatgut wird patentiert. Die Bauern werden, hier und v.a. in der „Dritten Welt“ gezwungen, dieses Saatgut (plus die Pestizide) von Bayer, Monsanto oder anderen zu kaufen. Damit werden Millionen landwirtschaftliche ProduzentInnen in den Ruin getrieben. Gleichzeitig weiß niemand, welche Folgen die großflächige Anwendung der Gentechnik auf den Boden, die Umwelt und die Gesundheit hat. Für die Profite der Konzerne werden ganze Landstriche und Millionen KonsumentInnen zu Versuchskaninchen. So wird allein in Brasilien genetisch modifizierter Mais auf Feldern von der Größe Dänemarks angebaut.

Klar ist, dass die Gewinne der Konzerne ins Unermessliche steigen – die Zerstörung der Umwelt, die Ausrottung vieler Arten, die Auslaugung des Bodens müssen die Armen und die KonsumentInnen bezahlen.

Auf welcher Seite die G 8 stehen, ist auch klar. Die Frage der „Patentierung“ u.a. von Genen und die polizeiliche Durchsetzung dieses Rechts stehen im Zentrum der beiden nächsten Gipfel.

Enteignung von Grundversorgung

Die Zerstörung der Umwelt und der Lebensbedingungen sind auch ein direktes Resultat von Liberalisierung und Privatisierung. So verlieren Millionen und Abermillionen ihre Existenz in der Landwirtschaft aufgrund der zunehmenden Monopolisierung der Agrarindustrie oder aufgrund der Zerstörung des Bodens durch diese.

Gleichzeitig wird in den Städten und auf dem Land die Grundversorgung der Menschen privatisiert. Wasser, Müllentsorgung, Strom usw. sind für viele in den Slums der „Dritten Welt“ (aber mittlerweile auch in Europa) nicht mehr erschwinglich.

Hinter diesen menschlichen und ökologischen Katastrophen steht ein System. Vor fast 150 Jahren hat schon Karl Marx bemerkt: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und die Arbeiter.“

Für dieses kapitalistische System der Zerstörung von Mensch und Natur stehen die G 8. Es ist dieses System, das verhindert, dass die Technik und die Produktivkräfte vernünftig, zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen eingesetzt werden.

G 8 und Imperialismus

Die G 8 stellen eine der zentralen Institutionen zur Organisierung der imperialistischen Weltordnung dar – in einer Periode, die durch eine zunehmende Krisenhaftigkeit des Kapitals aufgrund einer enormen Überakkumulation des Kapitals, verschärfter Konkurrenz und einem globalen Angriff auf die Ausgebeuteten und Unterdrückten sowie die Notwendigkeit der Verallgemeinerung des Widerstandes dagegen geprägt sind.

D.h. die aktuellen Schwerpunktsetzungen der G 8 rühren nicht aus dem „Willen“ der Herrschenden (genauso wenig, wie die tieferen Gründe für die US-Politik in der Person Bushs oder irgend eines anderen Präsidenten zu finden wären), sondern aus den strategischen Erfordernissen des imperialistischen Monopol- und Finanzkapitals.

Wir sehen uns hier in der Tradition Lenins, der die imperialistische Epoche als Stadium der „Neukombination“ der verschiedenen Kapitalformen begreift. Industrie- und Bankkapital verschmelzen zu dem, was Lenin im Anschluss an Hilferding „Finanzkapital“ nennt.

Dieses Finanzkapital wird bei Lenin (und den meisten marxistischen Theoretikern) anders verstanden als heute üblich. Der Mainstream der Anti-Globalisierungsbewegung und viele Wirtschaftsjournalisten verstehen das Finanzkapital eigentlich als Kredit, „Spekulation“, Aktien- und Finanzmärkte usw., also als Kapital in Geldform. Lenin hingegen:

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzen oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“

Allerdings sieht Lenin dabei zu Recht eine dominierende Rolle des Bankenkapitals in diesem Verhältnis. Das ergibt sich logisch daraus, dass letzteres zumeist Kapital in Geldform ist. Als solches ist es im Unterschied zum in Maschinen, Rohstoffen usw. vergegenständlichten industriellen Kapital an keine bestimmte stoffliche Grundlage gebunden.

Ebenso korrekt erkennt Lenin, dass mit der Vorherrschaft des Finanzkapitals dem Export von Kapital gegenüber dem Warenexport eine immer größere Rolle zukommen muss (wiewohl letzterer selbst im Gefolge des Kapitalexportes zunimmt).

Die Entwicklung zum Finanzkapital begreift Lenin als eine nicht rückgängig zu machende, notwendige Entwicklungsstufe des Kapitals – die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise sind dabei nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: sie wirken gewissermaßen auf „höherer“ Stufenleiter fort.

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausmaße erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht‘ besitzen.“

Folgerichtig lehnt Lenin die kleinbürgerliche Kritik am Finanzkapital und am Imperialismus ab, weist jeden Versuch, den Kapitalismus kleiner und mittlerer Produzenten wieder herzustellen, als reaktionär und utopisch zurück (z.B. die Anti-Trust-Bewegung). In Wirklichkeit erkannte Lenin und viele andere Marxisten vollkommen zurecht, dass die technische Weiterentwicklung der Produktionsmittel ein wichtiger Schritt zur Realisierung des Sozialismus waren und noch immer sind. Nur kann ein noch so weitläufiger technischer Fortschritt unter dem System des Kapitalismus nie für die Vergrößerung des Wohlstandes der Menschen genutzt werden, sondern wird immer ein Faktor zur weiteren Niederhaltung und Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse zugunsten des Profits genutzt werden.

Die Welt ist aufgeteilt

Lenins Theorie wäre unvollständig und unverständlich, wenn wir nicht einen anderen Aspekt der Entwicklung des Kapitalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts in Betracht ziehen würden: die Welt ist unter den kapitalistischen Monopolen und Großmächten aufgeteilt.

Das heißt nicht, dass damit jegliche vorkapitalistische Produktionsweise schon verschwunden wäre. Allerdings sind diese Überreste mehr und mehr in den kapitalistischen Weltmarkt integriert, untergeordnet, werden durch moderne Klassenverhältnisse ersetzt – unter der Fuchtel des Kapitals.

Das bedeutet auch, dass die „zu spät gekommenen“ kapitalistischen Länder nicht den Weg der „fortgeschrittenen“ einfach nachvollziehen können. Sie sind von Beginn an als imperialisierte – ob in kolonialer oder in formell unabhängiger, halb-kolonialer politischer Form – in den Weltmarkt integriert.

Für Lenin ist „Imperialismus“ eine ökonomische, politische und historische Gesamtheit. Imperialistische Politik ist Resultat der verschärften Konkurrenz zwischen den Mächten und Großkapitalen, und ist somit selbst politische Folge der Vorherrschaft des Finanzkapitals über alle anderen Kapitalformen. Lenin lehnt es daher kategorisch ab, „Imperialismus“ als eine besondere, „schlechte“ oder „aggressive“ Politik der kapitalistischen Staaten zu definieren. Eine nicht-imperialistische Politik der kapitalistischen Großmächte ist schlichtweg unmöglich.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals bedarf immer der staatlichen Absicherung dieser Herrschaft gegen die Arbeiterklasse, aufbegehrende Kolonien oder halb-koloniale Staaten („Schurkenstaaten“, wie man heute sagen würde). Insbesondere tendiert sie immer wieder zum Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den verschiedenen Gruppen des Finanzkapitals und den imperialistischen Mächten – zum imperialistischen Krieg.

Daraus ergibt sich auch eine Reihe von Schlussfolgerungen für die Revolutionsperspektive: Kampf gegen den Imperialismus, gegen das Monopol – aber nicht, um „vor-monopolistische“ Zustände wieder herzustellen, nicht um das „gute, schaffende“ Kapital gegen das „schlechte, raffende“ in Schutz zu nehmen.

Die Perspektive ist vielmehr folgende: Enteignung der Enteigner, Reorganisierung der Produktion auf großer Stufenleiter unter Leitung des Proletariats und im Weltmaßstab!

Wenn Lenin vom Imperialismus als einem „sterbenden, verfaulenden“ Kapitalismus spricht, betont er damit vor allem, dass der Imperialismus in seiner Gesamtheit ein Entwicklungsstadium darstellt, in dem die kapitalistische Produktionsweise reaktionär geworden ist. Es ist eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, daher auch eine Epoche massiver sozialer Erschütterungen, von Krieg, Konterrevolution und Revolution.

Lenins Imperialismustheorie ist also gleichzeitig auch eine Revolutionstheorie, die den internationalen Charakter der Revolution, die Notwendigkeit der Erringung der Staatsmacht durch die organisierte Arbeiterklasse und die Organisierung und Führung der Klasse in einer revolutionären Kommunistischen Internationale beinhaltet.

Welches Einheit brauchen wir?

Der Gipfel 2007 ist auch enorme Chancen für die deutsche und internationale Linke, für die verschiedenen, in den letzten Jahren isoliert gebliebenen Protestbewegungen, ihre Aktionen zu bündeln und im Rahmen einer internationalen Großdemonstration sowie weiterer konfrontativer Aktionen gegen den Gipfel und zentrale Einrichtungen des deutschen Imperialismus in der Region Massen zu mobilisieren und zu politisieren, ja ein Stück weit über den symbolischen Charakter des Protests hinauszukommen und an die Tradition vieler anderer militanter Gipfelproteste anzuknüpfen (wie z.B. in Genua).

Es geht darum, über den Anlass des G 8 -Gipfels hinaus, den Abwehrkampf gegen den Generalangriff im Inneren und die imperialistische Kriegs- und Besatzungspolitik nach Außen zu bündeln und weiter voranzubringen.

Dazu müssen Fordrungen an alle ArbeiterInnenorganisationen, an Gewerkschaften, die WASG und die Linkspartei, gestellt werden, aktiv gegen diese Angriffe zu mobilisieren.

Es bedarf aber auch des Kampfes um eine politische Ausrichtung der Proteste und Mobilisierungen, welche die G 8 und die hinter ihnen stehende kapitalistische und imperialistische Politik offen ins Visier nimmt – und nicht die illusorische „Reformierung“ der G 8 oder anderer imperialistischer Institutionen zum strategischen Ziel erklärt. Gerade das unterscheidet uns von den meisten reformistischen Organisationen und der Gewerkschaftsbürokratie.

Es geht auch nicht darum, den G 8 die utopische Perspektive einer „herrschaftsfreien Gesellschaft“ entgegenzusetzen, die ohne proletarische Machtergreifung und planwirtschaftliche Reorganisation der Weltwirtschaft erreicht werden könnte. Diese Position der Libertären und AnarchistInnen ist nur die Kehrseite des Reformismus.

Daher haben wir uns daran beteiligt, einen internationalistischen Pol in der Mobilisierung aufbauen. Ein solcher Block oder Pol muss sich jedoch nicht nur durch radikalere Forderungen, sondern durch eine aktive, vorwärts treibende Rolle in der Gesamtmobilisierung auszeichnen, ohne sich in der Aktion von anderen Spektren sektiererisch abzukapseln.

Vor allem brauchen wir aber eine politische Alternative zu den verschiedenen Spielarten des Reformismus, Anarchismus oder „Post-Operaismus“. Daher kämpfen wir in vielen Ländern für den Aufbau neuer Arbeiterparteien und treten dafür ein, dass diese (oder Ansätze dazu) von Beginn revolutionären Charakter haben, ohne unsere programmatischen Vorschläge zu einem Ultimatum zu erklären.

So wie Lenin aus seiner Imperialismusanalyse (und der damit verbundenen Charakterisierung des sozial-chauvinistischen Charakters der Sozialdemokratie) die Notwendigkeit des Aufbau der Kommunistischen Internationale ableitete, ist unsere Meinung nach die zentraler Schlussfolgerung aus einer aktuellen Analyse des Imperialismus und Kapitalismus heute der Kampf für den Aufbau neuer revolutionärer Arbeiterparteien und einer neuen, Fünften Internationale.

Das zentrale Problem für den Klassenkampf weltweit ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der objektiven Voraussetzungen der sozialistischen, internationalen Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus einerseits und dem Fehlen einer revolutionären Massenkraft des Proletariats, die einen Weg weisen kann, die Klasse zu einer Klasse für sich zu machen. Ohne ein politisches Instrument ohne eine revolutionäre Partei und Internationale, ist die Überwindung diese Kluft unmöglich, die Schaffung einer solchen Kampforganisation der Arbeiterklasse daher auch die zentrale Aufgabe unsere Zeit. Auf dass die G 8 und das kapitalistische System, das sie verteidigen, auf dem Müllhaufen der Geschichte lande.




Nieder mit den G8! Nieder mit der imperialistischen Weltordnung!

Entwurf der Liga für die Fünfte Internationale (L5I) zur Mobilisierung und Diskussion über die weitere Kampfperspektive nach dem Gipfel, Neue Internationale 120, Mai 2007; Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Versteckt hinter einem kilometerlangen 2,5 m hohen Zaun, bewacht von Hundertschaften von Spezialsicherheitskräften und 15.000 ‚normalen‘ PolizistInnen, von See her geschützt durch kreuzende Kriegsschiffe und aus der Luft abgeschirmt durch die Luftwaffe – unter diesen Vorkehrungen kommen die SpitzenvertreterInnen der 8 mächtigsten Länder der Erde vom 6.6 – 8.6. zusammen.

Der Krieg der G8 gegen die Weltbevölkerung

Kein Wunder, dass sie jedes Jahr ihren Gipfel wie einen Krieg vorbereiten, denn sie führen diesen Krieg tatsächlich – GEGEN UNS, gegen die lohnabhängige Bevölkerung und die Jugend der Welt.

Seit der Jahrtausendwende haben ihre Kriege an Zahl und Opfern zugenommen:

• die von den USA und Britannien geführten Invasionen und Besetzungen im Irak und Afghanistan,

• die von den USA bewaffneten und unterstützten zionistischen Angriffe auf den Libanon,

• die imperialistischen Interventionen in Afrika, die äthiopische Invasion in Somalia mit Hilfe der USA,

• die EU-Intervention im Kongo,

• die fortdauernde EU- und US-Besetzung des Kosovo.

Bush und seine Verbündeten planen, diese Liste in den kommenden Monaten und Jahren noch zu verlängern.

Die Zusammenziehung der Truppen für einen Luftkrieg gegen den Iran ist im Gange. Die Ziele werden nicht nur Atomforschungszentren betreffen, sondern auch die militärischen Anlagen und Verkehrswege des Landes.

Die USA, die EU und Israel haben ihre Kräfte gebündelt, um die Beseitigung der demokratisch gewählten Hamas-Regierung in Palästina zu fordern.

Syrien und Nordkorea sind ebenfalls mit Angriffen bedroht worden, falls sie den Forderungen von USA und EU nicht nachkommen.

Es gibt Pläne für eine gemeinsame Intervention von UN und NATO in der Darfur-Region im Sudan.

Bush versucht einen ‚letzten Stoß‘, um den irakischen Widerstand zu zermalmen, während der britische Regierungschef Blair seine Truppen nach Afghanistan im Glauben verlegt, dass der Krieg dort ‚gewinnbar‘ sei.

Trotz seiner Verstrickung im Nahen und Mittleren Osten droht das Weiße Haus weiterhin Venezuela und blockiert Kuba.

Der Krieg im Inneren

Der fortwährende Krieg für die Errichtung einer neuen Weltordnung ist auf Jahrzehnte – ja für „alle Zeiten“ angelegt worden.

Dieser Krieg ist in die Metropolen zurückgekehrt in Form von großen Angriffen auf soziale und demokratische Rechte. Die Liste von ‚terroristischen Organisationen‘ enthält Dutzende von nationalen Befreiungsbewegungen, die gegen Diktaturen oder Besatzungsmächte kämpfen.

Die EU, die USA und ihre Verbündeten haben Organisation wie die FARC, den baskischen Widerstand, die palästinensischen Befreiungsbewegungen, linke türkische und kurdische Organisationen im Fadenkreuz. Jeder Widerstand, ob bewaffnet oder nicht, wird als Terrorismus abgestempelt. Erschreckendster Ausdruck davon ist die ‚außergewöhnliche Auslieferung‘ von Kriegsgefangenen oder auch nur Verdächtigen an Länder, in denen sie brutalste Folterung erwartet. Guantanamo Bay ist ein Gefangenenlager außerhalb der Reichweite von nationalem oder internationalem Recht.

Am stärksten von Unterdrückung in den imperialistischen Ländern betroffen sind die lange ansässigen Gemeinschaften ausländischer Herkunft ebenso wie ArbeitsimmigrantInnen aus jüngerer Zeit, AsylbewerberInnen sowie die islamischen Gemeinschaften, die alle des Terrorismus verdächtigt und der Inhaftierung oder Abschiebung rechtlos preisgegeben werden können.

Aber dies ist nicht der einzige Aspekt des Krieges der Herrschenden „im Inneren“. Sie führen auch Krieg gegen alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften der Arbeiterklasse, der Bauern und der Arbeitslosen. Auch in Ländern, die vom Imperialismus ausgebeutet werden, ist die selbe neoliberale Offensive im Gange, koordiniert durch die internationalen Finanzeinrichtungen und durchgeführt von den Agenten der herrschenden Kapitalistenklasse.

Privatisierung, Arbeitsplatzverlagerung, Deregulierung, Lohndrückerei, zunehmende Arbeitslosigkeit und unsichere Arbeit bilden den Hauptstoß der neoliberalen Offensive. Die Handelsrunde von Doha hat einer neuen Liberalisierungswelle des Welthandels die Schleusen geöffnet und soll den Verkauf von Staatsbesitz und die Öffnung von natürlichen Ressourcen der so genannten „Dritten Welt“ für die multinationalen Konzerne erzwingen.

Ein System in wachsender Krise

Trotz allen Geredes über eine ‚bessere Zukunft‘ stehen die G 8-Führer für ein System, das zu Umweltkatastrophen in den nächsten Jahrzehnten führen wird, wenn dieses System nicht gestürzt wird.

Die Europäische Union hat unter deutschem Vorsitz die Verfassungsfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt, d. h. sie will die neoliberale Verfassung durchsetzen, die in Frankreich und den Niederlanden 2005 von der Bevölkerung abgelehnt worden ist. Sie beschleunigen die Erfüllung des Aufgabenkatalogs aus der Lissaboner Agenda, um Europa zum mächtigsten und dynamischsten kapitalistischen Block zu machen und als echter Herausforderer gegen das US-Imperium im Streben nach Vorherrschaft in der Welt antreten zu können.

Die G 8 präsentieren die Beherrscher der Welt. Aber ihre Herrschaft, so allmächtig sie auch erscheinen mag, wird zunehmend durch innere Widersprüche und Krisen zerrüttet. Eine immer kleinere Zahl von internationalen Konzernen wie Wal-Mart, Microsoft, Siemens, Nissan, Exxon Mobil, die in ihrer Jagd nach Profiten von immer schärferer Konkurrenz angetrieben werden, wollen alle Schranken gegen die Ausbeutung niederreißen, die Unabhängigkeit von Staaten, Schutzgesetze, staatliche Wohlfahrt und Bildungssysteme.

Die stagnierenden Profitraten in Amerika, Europa und Japan haben zu massiven Kapitalströmen nach China, Indien oder Osteuropa geführt: auf der Suche nach billiger Arbeitskraft, Rohstoffen und neuen Märkten. Das hat aber nicht die Überakkumulation des Kapitals in den imperialistischen Kernländern überwinden können. Im Gegenteil, die inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems verschärfen sich: die Konkurrenz zwischen den Monopolen, die Angriffe auf halbkoloniale Länder und die wachsende Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten. Der unvorstellbare Reichtum Weniger und die gesteigerte Verarmung der Massen in der Weltbevölkerung gehen Hand in Hand.

Frauen stehen im Kreuzfeuer der Globalisierung. Neoliberale Reformen haben die sozialen Wohlfahrtssysteme, öffentliche Versorgung mit Kinder-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen gekappt, die Frauen bei der Kinderbeaufsichtigung und Altenpflege in der Familie in Anspruch nehmen könnten. In Afrika und Asien haben Aids und andere Seuchen den Frauen riesige Lasten aufgebürdet, während die öffentlichen Gesundheitsdienste zusammenbrechen. Die Globalisierung hat wiederum viele Millionen Frauen in China und Südasien zusätzlich in die kapitalistische Lohnarbeit eingegliedert, aber zu prekären Bedingungen, überlangen Arbeitszeiten und lächerlichen Löhnen, d. h. sie werden besonders krass ausgebeutet. Im ‚zivilisierten‘ Europa, werden islamische Frauen wegen ihrer islamischen Kleidung verfolgt. In Ländern, die patriarchal und religiös autoritär verfasst sind, wird ihnen soziale und politische Gleichstellung im Namen reaktionärer Religion verwehrt.

Im den imperialistischen Kernländern bilden zumindest in „guten Zeiten“ Steuersenkungen und Privilegien für die gut ausgebildeten Eliteschichten der Arbeiterschaft und der bürokratische Apparate eine ‚Massenbasis‘, eine verfälschte öffentliche Meinung zu Gunsten von neoliberalen Reformen und Kriegen. Auf diese Schicht stützen sich die reformsozialistischen, „kommunistischen“ und Labour Parteien. Aber die Massenmitgliedschaften dieser Parteien bröckeln schnell und sie verlieren das Vertrauen ihrer Wählerschaft durch ihre Unterordnung unter den Neoliberalismus und den imperialistischen Krieg, besonders wenn sie regieren.

Der Erdteil Afrika ist ständiger Tagesordnungspunkt auf den Sitzung der G 8, des IWF und anderer imperialistischer Institutionen und wird durch die neoliberale Arznei des IWF und der europäischen und nordamerikanischen ‚Helfer‘ vergiftet. In Wahrheit saugen sie wertvolle Rohstoffe und Agrarprodukte aus dem ärmsten Erdteil heraus.

Selbst wo die Weltwirtschaft rasch wächst, wie in China oder Indien, geschieht dies auf Grundlage von Überausbeutung der Arbeiterklasse und geht einher mit der ‚Überbevölkerung‘ von Millionen und der gewaltigen Zerstörung von Land, der Verschmutzung von Flüssen und dem Ausstoß von giftigen Gasen in die Luft.

In Europa gehören Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne, Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme, grausamer Rassismus und die Errichtung einer ‚Festung‘ Europa auch mitten im ‚Aufschwung‘ der gegenwärtigen Wirtschaftskonjunktur zum Alltag für Millionen.

Nur die zynischen LohnschreiberInnen der Kapitalisten malen eine rosige Zukunft für dieses System oder entdecken den Vormarsch der ‚Demokratie‘ in Afghanistan und im Irak. Lediglich die sozialdemokratischen und Labourparteien und die Nichtregierungsorganisationen können sich vorstellen, dass der Kapitalismus ein ‚menschlicheres und zivileres Antlitz‘ bekommen könnte. Sie betteln darum, die G 8 und andere imperialistische Institutionen mögen doch die ‚Armut in die Geschichte verbannen.‘ Nein! Der Weltkapitalismus, der Imperialismus ist ein System sich steigernder Ausbeutung, von Dauerkriegen, Folter und Besatzung und der Anwendung immer barbarischerer Mittel zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Handvoll imperialistischer Mächte.

Das Problem der Umweltzerstörung durch den Klimawandel, der die Weltbevölkerung mit immer stärkeren ‚Naturkatastrophen‘ bedroht – Stürme, Überschwemmungen, Verwüstungen, Seuchen usw. haben sie nicht ernsthaft angepackt. Das wird kommenden Generationen ein schreckliches Schicksal bescheren, wenn die Milliarden nicht den wenigen Milliardären die Macht entreißen.

Der Widerstand wächst

Doch der heutige Weltkapitalismus ist auch eine Welt voller Kämpfe, Massenwiderstand, Revolutionen, die alle zunehmend die imperialistische und kapitalistische Weltordnung bedrohen.

In Europa haben 2005 die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über die neoliberale EU-Verfassung  den imperialistischen Vereinigungsplänen Europas eine Krise beschert. Die Kämpfe der französischen Jugendlichen in den Banlieus sowie landesweit gegen das Gesetz zur Diskriminierung von jungen Lohnabhängigen (CPE), der international abgesprochene Streik der Dockarbeiter gegen das neoliberale Lohndrücker- und Arbeitsplatzvernichtungsprojekt zeigen, dass Siege möglich sind, wenn wir die Methoden des Klassenkampfs benutzen und von Teilsiegen voran schreiten zum Angriff gegen die höchste Herrschaftsebene der Banker und Konzernaufsichtsräte.

In diesem Widerstand haben Frauen eine hervorragende Rolle gespielt. In Südasien haben sich Frauen in der Textilindustrie und anderen Ausbeutungsstätten organisiert und heldenhaft zur Wehr gesetzt. In Lateinamerika sind Frauen führend in den Volksmassenbewegungen gegen neoliberale Regierungen, Privatisierungen von Wasser und IWF-Programme. In jedem Kampf, auf jedem Erdteil, bauen neue Generationen von jungen KämpferInnen die Kräfte der Revolution wieder auf.

Der bewaffnete Widerstand und die Abwehrkämpfe im Libanon, im Irak und in Afghanistan haben den USA und ihrem Polizisten in Nahost, Israel, wichtige politische Niederlagen zugefügt. Sie haben bewiesen, dass selbst die mächtigsten Armeen mit hoch technisierter Bewaffnung durch entschlossenen Widerstand, der in den Massen verankert ist, geschlagen werden können.

Die revolutionäre Situation in Lateinamerika während der letzten Jahre (Argentinien, Bolivien, Venezuela und Mexiko) hat nicht nur den Griff der USA über ihren vermeintlichen ‚Hinterhof‘ in noch vor 10 Jahren unvorhergesehener Weise gelockert. Der Fortschritt der Massenbewegung von Arbeitern, Bauern, indigener Bevölkerung, der Land- und Stadtarmut hat auch das Bedürfnis nach einem ‚sozialistischen Projekt‘, nach einem gemeinsam geführten Kampf auf Weltebene gegen den Imperialismus und für eine neue Internationale auf die Tagesordnung gesetzt.

Was tun in Heiligendamm?

Auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm vom 6.-8.6.2007 werden sich die Premierminister und KanzlerInnen der mächtigsten kapitalistischen Länder als ‚Retter der Welt‘ aufspielen. Dabei wollen sie nichts anderes retten als ihren eigenen Besitz und ihre Herrschaft  über die Welt, die Riesenprofite der multinationalen Großkonzerne, ihren freien Zugang zum Weltmarkt und ihr ‚Recht‘, dies mit allen Mitteln durchzusetzen.

Das meinen sie mit „Effektivierung von Finanzstabilität“, „Investitionsfreiheit“ und „Sicherung von Energieressourcen“. Deshalb sind Mittelost, Afghanistan und der Sudan die Hauptinteressensregionen, wo die Imperialisten ihre Herrschaft sichern wollen.

Wenn sie von ‚Sicherheit‘ reden, verstehen sie darunter ihre eigene Sicherheit und wie unsere Kämpfe am Erfolg gehindert werden können, wie unsere Errungenschaften und die Bewegung zerstört werden können, wie sie uns schlagen können.

Deshalb müssen wir so viele ArbeiterInnen, Jugendliche, MigranntInnen, Frauen, AktivistInnen aus allen Ländern wie möglich zum Gipfel nach Heiligendamm in Marsch setzen. Wir rufen zu einer internationalen Massendemonstration am 2.6. auf und wollen dort einen massenhaften anti-imperialistischen antikapitalistischen internationalistischen Block bilden! Wir rufen gleichfalls zu einer massenhaften Beteiligung an den Aktionstagen, dem Versuch zur Blockade des Gipfels und des Militärflughafens in der Nähe von Rostock, einem großen NATO-Stützpunkt in Nordeuropa auf.

Wir werden eifrig in den Aktionen und Diskussionen tätig sein und für die Notwendigkeit zu kämpfen eintreten.

Unser Kampf gegen die G 8 und das System, das sie schützen, beginnt nicht erst mit der Mobilisierung gegen den Gipfel und hört auch nicht nach dessen Beendigung auf.

Die G 8 ist eine internationale Koordination der herrschenden Klassen der größten imperialistischen Mächte, wo sie ihre Konflikte zu lösen versuchen, ihre gemeinsamen Ziele festlegen und eine Strategie ausarbeiten zur Steigerung von Ausbeutung und Plünderung auf der Suche nach mehr Profit.

Uns, den ArbeiterInnen, der Jugend, den Unterdrückten fehlt ein solches „Netzwerk“. Trotz der Erfolge der letzten Jahre werden unsere Kämpfe oft falsch geführt, ausverkauft oder verloren, weil sie isoliert bleiben.

Im letzten Jahrzehnt sind viele Versuche unternommen worden, die Kämpfe zusammen zu bringen, sie zu koordinieren, z.B. in den Sozialforen auf Welt- oder Erdteilebene.

Aber trotz Hunderttausender Menschen, die daran teilnahmen, sind sie Debattierklubs geblieben, weil sie von reformistischen und linksbürgerlichen Politikern statt von den BasisaktivistInnen beherrscht worden sind. In Heiligendamm werden diese falschen Führer genau wie in Edinburgh 2005 wieder danach trachten, die Mobilisierung in eine Sackgasse zu manövrieren, indem sie einen Kapitalismus mit einem menschlichen Anstrich propagieren und an die Herrschenden appellieren, die G 8 zu reformieren oder zu erweitern, statt den Kampf aufzunehmen, um das Räubernest auszuheben und das System, das sie vertritt, zu beseitigen.

Die falschen FührerInnen in unseren Reihen – GewerkschaftsbürokratInnen, SpitzenrepräsentantInnen der Europäischen Linkspartei und der brasilianischen Partido Trabalhadores, GeschäftsführerInnen der großen Nichtregierungsorganisationen, Attac-AkademikerInnen und populistischen FührerInnen der halbkolonialen Welt – sind politisch verantwortlich für die Störung und Zerstörung eines besser aufgestellten, politisch entschlosseneren und internationaleren Widerstands gegen den Kapitalismus. Heute sind wir mit der Aussicht auf einen neuen Krieg und eine neue neoliberale Offensive in der Europäischen Union nicht besser vorbereitet als 2001/2002. Wir werden also wieder improvisieren müssen. Die antikapitalistischen und antiimperialistischen Kräfte werden die Führung übernehmen müssen, aber diesmal müssen wir dauerhaftere und demokratischere kämpfende Organisationen schaffen.

Diesen Wandel können wir herbeiführen, wenn wir all jene Kräfte aufrufen, die sich einer klassenkämpferischen, antikapitalistischen und antiimperialistischen Politik verpflichtet fühlen, sich zusammenzuschließen, um:

• Kampfstrukturen landes, region-, erdteil- und weltweit aufzubauen

• Kampforgane aufzubauen, die alle Teile der Ausgebeuteten und Unterdrückten einbeziehen und diese Organisationsformen unter deren Kontrolle stellt, wie bei den Aktionsausschüssen der französischen Jugend  im Kampf gegen die diskriminierenden Arbeitsgesetze oder wie bei der Kommune von Oaxaca geschehen.

Um aber das imperialistische System wirklich bekämpfen zu können und gegen dessen Offensive gewappnet zu sein, brauchen wir nicht nur bessere Organisierung oder Koordinierung, wir müssen auch eine klare Alternative zum Kapitalismus als System und nicht nur zum Neoliberalismus anbieten. Der Kapitalismus in seinem imperialistischen Endstadium wird kein einziges Problem der Menschheit lösen, auch nicht das der wachsenden Bedrohung durch eine weltweite Umweltkatastrophe.

Nur wenn wir dieses System überwinden, das sich auf die Jagd nach  Profit, auf gnadenlose Konkurrenz gründet und untrennbar mit Krieg, Hunger, Armut und Umweltzerstörung verbunden ist, und es ersetzen durch eine Gesellschaft, die bewusst plant, können wir das Leben nach den Grundbedürfnissen aller organisieren, Klassen abschaffen und alle Formen sozialer Ungleichheit, auch in Bezug auf Geschlecht, nationale oder ethnische Zugehörigkeit ausmerzen.

Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir auch die entsprechenden Mittel dazu einsetzen. Wir brauchen politische Werkzeuge, mit denen wir die alte Welt zerstören und eine neue aufbauen können: eine Jugendinternationale, eine internationale proletarische Frauenbewegung und vor allem eine neue massenhafte Arbeiterinternationale, die sich ihrer Vorgänger als würdig erweist, gegen den Imperialismus und für die sozialistische Revolution kämpft!

Eine andere Welt ist möglich – eine sozialistische Welt. Wir können sie nur durch eine Weltrevolution erreichen.




Kritik der Manifeste der antikapitalistischen Bewegung

Eine Erwiderung auf Monbiot, Albert & Callinicos

Von Richard Brenner, Jeremy Dewar und Sean Murray, Revolutionärer Marxismus 34, Mai 2004

Da sich unterschiedliche politische Strömungen in der antikapitalistischen Bewegung herauszuschälen beginnen, rezensieren Richard Brenner, Jeremy Dewar und Sean Murray die programmatischen Stellungnahmen dreier Schlüsselfiguren (auf dem Europäischen Sozialforum, Paris, November 2003):

„Das Zeitalter des gegenseitigen Einverständnisses – Ein Manifest für eine neue Weltordnung“ von George Monbiot

„Parecon – Leben nach dem Kapitalismus“ von Michael Albert

„Ein antikapitalistisches Manifest“ von Alex Callinicos.

Namen, Programme, Klassen

„…eine, äußerst mannigfaltige Schattierungen zulassende, Mischung aus den weniger auffälligen kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen der verschiedenen Sektenstifter,…“ Friedrich Engels, Anti-Dühring (MEW Band 20, Berlin 1962, S. 19)

Für einige Kommentatoren drückt die Unfähigkeit der Globalisierungsbewegung, die gegen Neoliberalismus und Krieg entstand, einen Namen für sich festzulegen, ihre Stärken aus – ihre Heterogenität, ihren Pluralismus‘ und ihre Fähigkeit, verschiedene Gruppen zu umfassen. Aber diese Unentschlossenheit – wie die Zuneigung der Bewegung zu losen Formen der Organisation und der Ablehnung demokratischer Entscheidungsfindung – maskiert in Wirklichkeit eine dramatische Schwäche. Es wird immer deutlicher, dass die Bewegung gespalten ist – in nicht nur unterschiedliche, sondern gegensätzliche Projekte, Ziele und Klasseninteressen.

Dies zeigt sich in der wachsenden Bevorzugung des Namens Globale Gerechtigkeitsbewegung statt Antikapitalistische Bewegung durch einflussreiche Persönlichkeiten. Während der letztere die oft angemerkte Schwäche hat, nur das zu sagen, wogegen man ist anstatt das, wofür man steht, „löst“ der erstere das Problem nur, indem er die wichtigste Frage offen lässt: Können die Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen Welt innerhalb der Grenzen des Kapitalismus überwunden werden?

Die Kräfte, durch welche die Bewegung entstand, kamen von Straßenaktionen. Angespornt durch den Volksaufstand in Chiapas in der Mitte der 90er Jahre und relativ unbelastet durch den fesselnden Einfluss der sozialdemokratischen Bürokratie, begann ein breites Spektrum von aktivistischen Bewegungen, ihren Protest zu koordinieren.

Während der Demonstration in London am 18. Juni 1999 mündeten die Straßenfeste und Aktionen der britischen radikalen Umweltinitiative „Reclaim the Streets“ in einen Massenprotest gegen das kapitalistische System. Im November jenes Jahres zog in Seattle eine koordinierte Aktion von nie da gewesener Breite eine solche Unterstützung von Arbeiter-, Umwelt- Studenten- und internationalistischen und Nichtregierungsorganisationen an, dass diese die Absage des WTO (Welthandelsorganisations)-Gipfels erzwang.

In den Jahren 2000 – 2002 folgten Proteste in Prag, Nizza, Göteborg und Genua gegen die internationalen finanziellen Institutionen und politischen Konferenzen der globalen herrschenden Klasse. Diese Demonstranten nannten den Gegner beim Namen – das war die antikapitalistische Bewegung, eine Bewegung aus „einem Nein und vielen Jas“.

Nach Genua im Sommer 2002 schossen überall in Italien Sozialforen aus dem Boden. Trotz des globalen „Krieges gegen den Terror“ durch die USA nach dem 11. September, wuchs die Bewegung eher an, als dass sie kleiner wurde. Gipfel des Widerstandes auf dem Kontinent zogen Tausende von Aktivisten an. Das Europäische Sozialforum (ESF) in Florenz gab im November 2002 einen Aufruf für eine vereinte Aktion gegen den Irak-Krieg für den 15. Februar 03 heraus – ein Aufruf, der von 20 Millionen befolgt wurde: die größte weltweit koordinierte Aktion gegen den Imperialismus in der Geschichte! Als ein Mittel, um Aktionen zu koordinieren, ist die Bewegung ein unzweifelhafter Erfolg.

Jedoch machte sie in der Entwicklung einer überzeugenden Vision von einer alternativen Gesellschaft und einem realistischen Weg zur sozialen Veränderung keinen Fortschritt. Noch war sie dazu in der Lage, weil die neue Bewegung anders als frühere weltweite antikapitalistische Bewegungen wie die II. Internationale zwischen 1889 und 1914 oder die III. Internationale zwischen 1919 und 1924 keine demokratischen Strukturen hatte, in denen politische und programmatische Entscheidungsprozesse stattfinden konnten.

So ist die Rolle, Analysen und Ziele der neuen Bewegung auszudrücken, einzelnen Journalisten und Akademikern zugefallen. Viele dieser Stimmen waren schnell dabei, Zurückhaltung einzufordern. Unter dem Deckmantel, genau das anzubieten, was fehlte – nämlich ein klares Programm und ein Weg voran – wurde der gegen das System gerichtete Charakter der Bewegung selbst in Frage gestellt.

Dieses Jahr erschienen während der Vorbereitung des Weltsozialforums in Cancún und des ESF in Paris einige Manifeste. Jedes verdient eine Diskussion innerhalb der Bewegung – die Delegierten sollten darauf bestehen, dass dies in einem vollständig demokratischen Umfeld stattfindet. Jedoch bestätigt jedes dieser Programme, dass die Bewegung einen Prozess der internen Differenzierung durchmacht und dieser sich entlang der sozialen Klassenlinie vollzieht.

Von welchem historischen Klassenstandpunkt gehen die sich widerstreitenden Manifeste aus, welche Interessen fördern sie und welche sozialen Kräfte können sie realisieren? Wenn die Diskussionen in und um das ESF die widerstreitenden sozialen Klassen in der Bewegung, die Klassenbedeutung und das Wesentliche der verschiedenen Tendenzen offen legen, dann wird dies ein großer Schritt nach vorn im ideologischen Reifeprozess der Bewegung sein.

George Monbiot: Zustimmung zum Kapital

„ … andererseits die mannigfaltigsten sozialen Quacksalber, die mit allerhand Flickwerk, ohne jede Gefahr für Kapital und Profit die gesellschaftlichen Missstände aller Art zu beseitigen versprachen…Leute, die außerhalb der Arbeiterbewegung standen und eher Unterstützung bei den „gebildeten“ Klassen suchten.“

Engels, Vorwort zur englischen Ausgabe des Kommunistischen Manifest von 1888 (MEW Band 4, Berlin 1959, S. 580).

Ein Buch, für das auf dem ESF stark geworben wurde, ist „Das Zeitalter der Übereinstimmung – ein Manifest für eine neue Weltordnung“ vom britischen Journalisten George Monbiot. Er schimpft leidenschaftlich gegen die offenkundige Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Weltordnung – und trampelt auch auf einigen „Selbstverständlichkeiten“ der antikapitalistischen Bewegung herum.

„Wir haben uns erlaubt, uns vorzustellen, dass wir die konsolidierte Macht unserer Gegner mit einem Wirrwarr von sich widersprechenden Vorstellungen konfrontieren können. Während es einfach einen Konflikt zwischen der Geschlossenheit der Bewegung und der ihrer Vorschläge gibt und während die Verfolgung eines überzeugenden politischen Programms einige Teilnehmer ihr entfremden wird, ist es sicherlich auch wahr, dass, wenn wir einmal der existierenden Weltordnung eine tödliche Drohung präsentiert haben, wir Unterstützer in einem noch größeren Umfang anziehen werden, als wir bisher angezogen haben…

… Die Vorstellung, dass Macht von etwas wie Anti-Macht aufgelöst und ersetzt werden kann, hat einige Verbreitung unter den Anarchisten in der reichen Welt, wird aber als sagenhafter Unsinn von den meisten Kampagnenteilnehmern in der armen Welt angesehen; dort wird die Realität von Macht sehr stark erfahren. Nur weil wir nicht unsere Muskeln spielen lassen, heißt das nicht, dass andere Menschen ihre nicht spielen lassen. Macht tritt immer dort zutage, wo widerstrebende Interessen mit ungleichem Zugang zu Ressourcen – entweder materiellen, politischen oder psychologischen – aufeinander prallen…

… Die Frage ist nicht, wie wir die Welt von Macht befreien, sondern wie die Schwachen zuerst diese Macht gewinnen und diese dann zur Rechenschaft ziehen. Wir müssen die Macht der Globalisierung ausnutzen und indem wir ihre unumstößliche Entwicklung verfolgen, ihre Institutionen stürzen und diese mit den unseren ersetzen (1).“

Dieser Auszug fasst drei wichtige Punkte der Ausrichtung für die Bewegung heute zusammen: dass 1. ideologische Geschlossenheit eine Voraussetzung für Fortschritt ist, nicht eine Bedrohung des langfristigen Wachstums der Bewegung; dass 2. die Macht der Regierenden der gegenwärtigen Weltordnung nur gebrochen werden kann, wenn sie mit einer größeren Macht konfrontiert werden, die in materiellen sozialen Interessen, die mit denen der Herrschenden zusammenstoßen, verwurzelt ist; und dass 3. die Entwicklung einer weltweiten Wirtschaft und Kultur mit fundamentalen Aspekten des gegenwärtigen Systems in Widerspruch steht, was die Zerstörung der alten Welt und die Schaffung einer neuen notwendig und möglich macht, die der Mehrheit der Menschheit verpflichtet ist.

Alles wahr … aber hier endet die Weisheit von Monbiot auch schon. Das „überzeugende politische Programm“, das er vorschlägt, ist streng auf Reformen begrenzt. Auch wenn sie umgesetzt würden, beließen sie die Schlüsselinstrumente der Vorherrschaft in den Händen der kapitalistischen Klasse. Die politische Macht und Institutionen, die er anstrebt, sind nur Instrumente, um die Aktionen der US-amerikanischen und europäischen Kapitalisten unter Druck zu setzen und zu mäßigen. Die alternativen sozialen Kräfte, die er nutzbar machen will, sind eher die kapitalistischen Regierungen und die Herrscher der „Dritten Welt“ als die Volksmassen. Seine „unumstößliche Entwicklung der  Globalisierung“ führt nicht zu einer Gesellschaft, die frei von Kapitalismus und Ausbeutung ist, sondern zu einer, in der weltweite Unternehmen fortfahren, Ressourcen und Menschen auszubeuten und das Privateigentum intakt bleibt.

Kurz: Monbiot schlägt ein Programm für einen humaneren, gerechteren und nachhaltigeren Kapitalismus vor. In Klassenbegriffen gesprochen, ist das ein liberales bürgerliches Programm.

Seine vier Vorschläge sind: ein demokratisch gewähltes Weltparlament; eine demokratisierte UN-Vollversammlung mit der Machtbefugnis des Sicherheitsrates; eine internationale Zollunion, um Handelsdefizite auszuschließen und Schulden zu verhindern; und eine faire Handelsorganisation, um „ die Reichen zu beschränken“ und gleichzeitig die Armen zu emanzipieren.

Wenn man die „praktischen“ Details näher betrachtet, dann wird klar, dass es einfacher wäre, den Kapitalismus in seiner Gesamtheit zu stürzen, als eine einzige von Monbiots Forderungen umzusetzen.

Nehmen wir als erstes das Weltparlament. Jedes auch nur teilweise demokratische Forum in der Geschichte – vom Dritten Stand bis hin zur Pariser Kommune – ist eine Hervorbringung der unterdrückten Klasse gewesen, die einen Kampf gegen ihre Beherrscher geführt hat. Um eine weltweite Institution der repräsentativen Demokratie zu erreichen, die in der Lage ist, die Gesellschaft im Interesse der Mehrheit zu reorganisieren, muss unser Ausgangspunkt der Kampf der Armen in der Welt, der Arbeiterklasse, der Arbeitslosen und der Bauernschaft sein.

Im Laufe des Widerstandes müssen sie Organe ihrer eigenen Macht aufbauen, die nationalen kapitalistischen Staaten, welche sie niederhalten, stürzen und indem sie ihre soziale Revolution ausweiten, ihre neuen demokratischen Institutionen zusammenschließen, um die weltweite Produktion und Verteilung auf nachhaltige, gerechte und nicht ausbeutende Weise zu koordinieren. Das ist kein von einem großen Reformer entworfenes Schema, sondern Ausdruck wirklicher geschichtlicher Entwicklung.

Monbiot jedoch hat anscheinend eine bessere Idee. Jeder Erwachsene auf der Erde sollte eine Stimme für ein Parlament – sagen wir mal – mit 600 Vertretern haben („jeder mit einem Wahlkreis von 10 Millionen Menschen“, streicht er hilfsbereit heraus). Die Wahlkreise werden nationale Grenzen überschreiten. Die Mitglieder sollten keine Verbindung mit nationalen Regierungen haben, sagt er uns, aber die Nationalstaaten werden weiter existieren. Mit atemberaubender Naivität meint er, dass, „wenn die Vereinigten Staaten einem Mitglied des Jemen sagen würden, dass, wenn es nicht seine Politik ändern würde, würden sie die Hilfe, die sie seiner Landesregierung geben, streichen; dann könnte es antworten, dass die Entscheidungen, die es trifft, nichts mit der Regierung zu tun haben (2).“

Wie will Monbiot angesichts des Netzwerks von kapitalistischen Nationalstaaten – das er nicht zerschlagen will! – ein Parlament errichten? Ganz einfach. „Unsere erste Aufgabe besteht darin, dass wir Werbeschriften und Websites veröffentlichen, die diese Idee erklären.“ Die zweite Aufgabe, vielleicht zeitraubender und teurer, besteht darin „eine Befragung von soviel Menschen in der Welt wie möglich durch willkürlich ausgewählte Stichproben, so wie es das Budget, das wir einnehmen, es erlaubt, durchzuführen, um herauszufinden, ob unser Vorschlag eine Zustimmung innerhalb der Bevölkerung erhält oder nicht (3).“

Wenn nicht, „ sollten wir den Prozess der Entwicklung beenden“. Einen weniger überzeugenden Aufruf für einen Unterstützungsfond kann man sich kaum vorstellen.

Da er an diesem Thema Gefallen gefunden hat, fährt Monbiot fort, dass, wenn die meisten Menschen, die befragt wurden, dies begrüßen würden, dann wären wir in einer stärkeren Position, um Unterstützungsfonds zu sammeln und „eine Wahlkommission einzusetzen, die mit professionellen Menschen – mit einem strikt neutralen Mandat – ausgestattet ist.“ Aber wie die sechs Milliarden Menschen auf der Welt ihre Zustimmung zu der Auswahl (durch wen?) dieses „neutralen“ Teams von gelehrten Verfassungs- und demographischen  Experten ausdrücken wollen, bleibt unklar.

„Der Plan wird dann teuerer, komplexer und risikoreicher.“ Wie können wir die 5 Milliarden $ zusammenbringen, die die weltweiten allgemeinen Wahlen kosten werden, wie Monbiot schätzt? Ein kleiner Anteil, sagt er, könnte von einzelnen Personen und Wohlfahrtseinrichtungen erhoben werden. „Die einzigen Körperschaften, die genügend Fonds besitzen, um den Rest zu liefern, sind jedoch die Staaten, die internationalen Institutionen und Unternehmen und natürlich sollten wir vorsichtig sein, von ihnen Geld zu akzeptieren (4)“.

Eine Unterstützung durch Unternehmen ist – bemerkt er mit seinem diesmal seltsam gesunden Menschenverstand – „komplett ausgeschlossen“. Jedoch könnten vielleicht, stellt er sich stolz vor, einige „liberale Staaten“ oder „wohlgesonnene UN-Einrichtungen“ ein paar Millionen springen lassen. Schließlich  verlässt sich Monbiot auf vernünftigere und zuverlässigere Quellen: „eine weltweite Lotterie, die enorme Preise anbietet“, oder Spenden von Reservefonds einer internationalen Zollunion,die zugegebenermaßen nicht existiert, aber er versichert uns, diese sollte wirklich existieren, auch wenn seine Vorschläge für ihr Zustandekommen genauso utopisch sind wie die für das Weltparlament selbst.

Die antikapitalistische Bewegung, die Gewerkschaften, lokale Graswurzel-Initiativen, Jugendgruppen, Bauernbünde, NGOs, die sich auf den Staat und karitative Spenden verlassen, sollten ihre mühsam gesammelten Fonds nicht dafür abzweigen, dem Kampf gegen die Unternehmer und ihre Staaten nachzugehen, gegen Ungerechtigkeiten Kampagnen zu führen, Parteien zu bilden und zu Wahlen auf Plattformen des Widerstands gegen das Kapital anzutreten, unsere eigene rechtliche und physische Verteidigung gegen andauernde Polizeiattacken zu organisieren, sondern für eine hirnverbrannte Befragung als Übung für eine unmöglich zu organisierende weltweite allgemeine Wahl, die in und neben den existierenden repressiven Staatsstrukturen stattfinden soll. Was könnte dieses Parlament überhaupt tun? „Moralische Autorität“ gegenüber den Herrschenden der Welt ausüben.

Die größte Demonstration in der menschlichen Geschichte und die Verurteilung durch die Mehrheit der anderen Staaten hielten die USA und Britannien nicht davon ab, den Irak im Jahr 2003 anzugreifen. Eine allgemeine Zustimmung hinderte Bush nicht daran, den Vertrag von Kyoto bzgl. der globalen Erwärmung zu zerreißen. Von einem Weltparlament jedoch, das über keine Staatsgewalt und keine ökonomischen Druckmittel verfügt, wird erwartet, dass es jene zum Gehorsam zwingen wird.

Mit seinem zweiten Vorschlag einer reformierten UN-Vollversammlung, welche die Macht des Sicherheitsrates übernimmt, schweift Monbiot plötzlich von seiner utopischen Traumwelt ab und widmet sich der Frage, wie dem existierenden UN-Sicherheitsrat etwas entgegenhalten werden kann. Er schlägt ein demokratisches Sicherheitssystem vor, das „nicht nur von fünf selbsternannten Regierungen, sondern von der gesamten Generalversammlung kontrolliert wird“. Jede Stimme einer Nation soll gemäß ihrer Bevölkerung und „demokratischen Legitimation“ (durch welche Kriterien?) gewichtet werden. Aber er kann sich nicht um die Tatsache herumdrücken, dass die USA „mit sogar größerer Feindschaft auf diese Vorschläge reagieren wird als sie es gegenüber dem internationalen Strafgerichtshof getan hat“. Also was ist zu tun?

Seine erstaunliche Antwort? Weltweiter ökonomischer Krieg. Er schlägt vor, dass der Rest der Welt den Dollar fallen lassen und die Währungsreserven in Euro oder Yüan transferiert werden sollen. Im Handel soll auf Nicht-Dollar-Währungen bestanden werden. Um nicht missverstanden zu werden, behauptet er: „Der Rest der Welt hat, mit anderen Worten, die Mittel, um die US-Ökonomie zu ruinieren und dadurch ihren Status als globaler Hegemon zu gefährden. Dies könnte notwendig werden, wenn wir eine Weltordnung aufbauen sollen, die auf Fairness und Gerechtigkeit beruht (5).“

Wenn man die offensichtliche Tatsache weglässt, dass dies rasch zu einer globalen militärischen Konfrontation führen würde, auf die uns Monbiot allerdings nicht vorbereiten mag, existiert noch folgendes kleines Problem – nämlich der gegenwärtige Unwille der nationalen kapitalistischen Regierungen, diesem gefährlichen Kurs zu folgen. Jedoch wird an diesem Punkt erwartet, dass die Massen – bis eben auf den Status von Lotteriescheinkäufern oder von Wählern in 10 Millionen starken Wahlkreisen reduziert – die Szene betreten … natürlich verfassungskonform. Die Regime werden „diesen Mut nur finden, wenn ihre Wählerschaften  [nur Demokratien, bitte!] .. ihrer Pflicht nachkommen und die Möglichkeit eines neuen Weltkrieges verhindern (6).“

Monbiots andere Vorschläge – die internationale Zollunion und die faire Handelsorganisation – sind anderen Schuldenabmilderungs- und fairen Handelsreformen, die bereits in der antikapitalistischen Bewegung vorgetragen wurden, ähnlich. Wir haben diese woanders untersucht (7). Hier ist relevant, dass Monbiot der Überzeugung ist, dass diese in der gleichen Art und Weise wie das Weltparlament und der neue demokratische Sicherheitsrat herbeigeführt werden können: durch eine Kombination von moralischer Autorität und eines koordinierten Aufstands der kapitalistischen Regierungen der „Dritten Welt“. All dies soll unter friedlichem Druck der Massen stattfinden.

Die Mehrheit der Weltbevölkerung sind ArbeiterInnen in Industrie und Dienstleistungsgewerbe, Bauern oder arbeitslose Menschen. Wenn sie in einer genügenden Anzahl und Stärke mobilisiert werden können, um eine weltweite Wahl einzuberufen, geschweige denn, um die Mehrheit der nationalen Regierungen der Welt in eine ökonomische und deswegen wahrscheinlich militärische Konfrontation mit den USA zu zwingen, dann könnten sie für sich selbst eine Rolle in Anspruch nehmen, die weit über die einer Komparsenarmee oder Lobbygruppierung von Monbiot hinausgeht. Dann könnten sie ihre eigenen Interessen und Forderungen voranbringen.

Wenn das Volk des Nahen Ostens sich in einer Massenbewegung organisieren würde, stark genug, um den Präsidenten Mubarak oder das  Haus Saud dazu zu zwingen, mit den USA zu brechen und aufzuhören, als Gendarmen für das westliche Kapital zu handeln, könnten sie auch soweit gehen, diese reaktionären Regime herauszufordern und zu stürzen.

Was aus jeder Seite von „Das Zeitalter der Übereinstimmung“ heraussticht, ist etwas, was Monbiot selbst nicht aussprechen kann. Ja, die Entwicklungsländer wurden von den westlichen Mächten daran gehindert, einer „normalen“ kapitalistischen Entwicklung zu folgen. Ja, eine demokratische Revolution, um den Weg für diese Entwicklung zu öffnen, eine bürgerlich-demokratische Revolution ist eine dringende Notwendigkeit. Aber den Bitten von Monbiot zum Trotz: die brutale Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass die halbkoloniale Bourgeoisie diese nicht durchführen wird und sie auch nicht durchführen kann. Sie ist mit Tausenden Fäden an die herrschenden Klassen der fortgeschrittenen Mächte gebunden, sie ist in Bezug auf ihren persönlichen Reichtum und ihre Privilegien davon abhängig, wenigstens einen modus vivendi mit den USA und der EU aufrechtzuerhalten. Vor allem fürchtet sie die Mobilisierung ihrer eigenen Massen weit mehr als das Weiße Haus.

Aber es gibt einen Weg. Hunderte Millionen ArbeiterInnen, Bauern und Arbeitslose können an die Spitze der demokratischen Revolution treten und zu antikapitalistischen, sozialistischen Aufgaben fortschreiten. Das ist keine neue Erfindung – diese Konzeption ist als „permanente Revolution“ bekannt.

Wenn sie ihren Widerstand koordinieren, können die Millionen ihre eigenen demokratischen Räte bilden wie die Pariser Kommune oder die Sowjets in den frühen Jahren der Russischen Revolution. Sie können nicht nur darum kämpfen, die Handlungen der großen Unternehmen, die jeden Aspekt der Weltwirtschaft und des politischen Lebens dominieren, abzufedern; sie können die Kontrolle über ihre Ressourcen und die Macht erobern, indem sie diese in Gemeineigentum überführen. Sie können nationale kapitalistische Regierungen stürzen und ihre eigene demokratische Herrschaft errichten, die auf ihren eigenen Räten und ihrer eigenen Herrschaft beruhen. Sie können beginnen, Produktion und Verteilung demokratisch zu planen.

Indem man die Arbeiterklasse als Teil der globalen „Gerechtigkeitsbewegung“ in einer neuen weltweiten politischen Partei organisiert, kann die Arbeiterklasse an die Spitze dieser revolutionären Entwicklung gelangen – statt dass sie durch das unmögliche Projekt eines Weltparlamentes abgelenkt wird, könnte sie ihre Revolution verbreiten. Wenn man sie in einem Land beginnt und sie dann international ausdehnt, könnte ein globaler Produktionsplan das Chaos des kapitalistischen Marktes ersetzen – und dies unter der demokratischen Kontrolle der ProduzentInnen und KonsumentInnen selbst.

Monbiot sagt ausdrücklich, dass die ArbeiterInnen und Bauern, die im Kapitalismus ausgebeutet werden, nichts von dem tun sollen. Die globalen Unternehmen sollen in privater Hand bleiben. Sie sollten streng reguliert werden, dann wären sie „verantwortlich“. Wenn ihre Missstände korrigiert sind, wäre in seinen Augen an diesen Organisationen wirklich nichts verkehrt: „im Prinzip ist ein Unternehmen ein Mittel, um Waren und Dienstleistungen in Geld umzutauschen, ein Vehikel, das Reichtum zu und von der Bank trägt (8).“

Dies ist ein grober und gefährlicher Unsinn, eine Entschuldigung für den Kapitalismus. Diese Unternehmen sind nicht nur Vehikel, um Reichtum zu bewegen – sie beuten Millionen von arbeitenden Menschen aus. Obwohl Monbiot die Ideen, die von Marx im Kommunistischen Manifest, vor 150 Jahren niedergelegt wurden, abzulehnen versucht, ist es heute wahrer als jemals zuvor, dass die Profite der großen kapitalistischen Unternehmen  nicht – wie er es sich vorstellt – durch „Ausleihen von Geld für Zinsen“, was nur eine Beschreibung des Kreditsystems und des Leihkapitals ist, fundamental gesichert sind. Privatbesitz an Produktionsmitteln schafft das System der Lohnsklaverei, unter welchem die ArbeiterInnen mit dem Lohn nicht den Wert der Waren erhalten, die sie produzieren, sondern nur den Wert der Waren, die notwendig sind, um sie am Leben zu erhalten und um sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit zwingen zu können. Der Rest – der Mehrwert – wird vom Kapitalisten einbehalten, der mit anderen Privatbesitzern konkurrieren muss, indem er die Kosten der Produktion drückt und die Intensität der Arbeitsverausgabung erhöht. Dies ist heute die Quelle von aller Ungleichheit in der Welt, vom habgierigen und instabilen Charakter der gegenwärtigen Weltordnung aus Armut, Unterdrückung, Konkurrenz, Umweltzerstörung und Kriegstreiberei.

Aber Monbiots Verpflichtungdem kapitalistischen Systems gegenüber geht so tief, dass er die Handlungen der Regierenden der „Dritten Welt“ fördert. Dagegen steht er konkreten Schritten der arbeitenden Bevölkerung, die das kapitalistische Eigentum herausfordern und kontrollieren könnten, dermaßen feindlich gegenüber, dass er sogar gegen ein Verbotder Kinderarbeit opponiert! Ein Missstand, der immerhin bereits im 19. Jahrhundert von einer Kampagne für den gesetzlichen Schutz durch die Arbeiterklasse ausgemerzt wurde. Er sagt, ein Verbot „würden viele Familien, die so arm sind, dass sie keine andere Wahl hätten, als ihre Kinder zur Arbeit zu schicken, äußerst übel nehmen“. Das ist genau dasselbe Argument, das von korrupten PR-Beratern gebraucht wird, die Firmen wie Nike, Adidas und Gap geholfen haben, ihren Ruf in Bezug auf die Ausbeutung der Kinder zu verteidigen (9).

Dass die Arbeiterklasse Kinderarbeit verbieten muss, um so auch allgemein Lohnsenkungen zu stoppen, dass ein Verbot der Kinderarbeit die Kapitalisten zwingen würde, mehr Erwachsene zu höheren Löhnen einzustellen, dass ein Ende des wirtschaftlichen Missbrauches von Kindern deren Bildungsniveau erhöhen würde und damit auch die Arbeitsproduktivität in jeder existierenden Gesellschaft, dass dies eher den Lebensstandard erhöhte, als dies in den europäischen Ländern eingeführt wurde, dass es schlicht falsch ist, dass Privatfirmen Kinder als Sklaven in Fabriken treiben,um ihre Kindheit mit Schufterei zu verlieren – all das begreift Monbiot nicht.

Genauso wenig versteht er die Folgen, wenn man den fundamentalen Gegensatz von Kapital und Arbeit intakt lässt. Weil er nicht die Abschaffung dieses Antagonismus vorschlägt, muss sein System ein unsicheresGleichgewicht zwischen entgegengesetzten Kräften etablieren – regulierte, konkurrierende Kapitalblöcke, angeglicheneNationalstaaten, ausgedehnte Schlichtungssysteme zwischen den Klassen. Es wäre eine vonBürokratInnen und VerwalterInnen geprägte Welt – und sie wäre von Natur aus instabil. Um diesen künstlichen Waffenstillstandinnerhalb der kapitalistischen Konkurrenz, Kämpfe zwischen den Nationen und den Klassenkonflikt aufrechtzuerhalten, pflichtetMonbiot John Maynard Keynes‘ Vorschlag für eine Weltpolizei bei. Monbiots System würde nicht ein Zeitalter der Harmonie eröffnen, sondern ein globalisiertes Zeitalter des Zwangs.

Aber genug von Monbiots komplett hoffnungslosen Projekten und erbärmlichen Entschuldigungen für das Kapital. Eine Analyse der Klasseninteressen enthüllt,dass es nur einen wirklichen Grund dafür gibt, dass dieses absurd inadäquate Manifest überhaupt diskutiert wird, ganz zu schweigen davon, dass es ernsthaft in der Bewegung debattiert würde. Es ist ein bürgerliches Programm mit bürgerlichen Zielen. Es würde die antikapitalistische Bewegung auf eine hilflose und zusammenhanglosepressure group reduzieren.

Monbiot verwendet einige Seiten seines Buches darauf, Marx´ Kommunistisches Manifest anzugreifen. Vergeblich – schon vor 150 Jahren stand es weit über dem Niveau von Monbiot. Marx beschrieb darin, was er den konservativen oder bürgerlichen Sozialisten nannte: Leute wie Monbiot:

„Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.

Seinen entsprechenden Ausdruck erreicht der Bourgeoissozialismus erst da, wo er zur bloßen rednerischen Figur wird.

Freier Handel! im Interesse der arbeitenden Klasse; Schutzzölle! im Interesse der arbeitenden Klasse…das ist das letzte, das einzige ernstgemeinte Wort des Bourgeoissozialismus.

Ihr Sozialismus besteht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind – im Interesse der arbeitenden Klasse (10).“

Aber geben wir Monbiot das letzte Wort. Er appelliert anuns: „Ich bitte Euch nur um eine Sache – lehnt diese Vorschläge nicht ab, bis Ihr bessere habt, die diese ersetzen (11).“ Deshalb wollen wir fortfahren, einige weitere Vorschläge zu untersuchen.

Albert: Zukunftsvision oder Neuigkeiten aus dem Nichts?

Für Antikapitalisten ist Michael Albert weit attraktiver als Monbiot. Ganz anders als der hat Albert nie antikapitalistische DemonstrantInnen in der bürgerlichen Presse wegen Gewalttätigkeit verurteilt, noch bevor  das Ereignis überhaupt stattgefunden hatte, wie es Monbiot im British Guardian vor Londons Maidemonstrationen 2002 tat. Darüber hinaus verteidigt Albert auch nicht den Kapitalismus; er will sich seiner vollständig entledigen und ihn durch ein anderes, faireres, gerechtes und leistungsfähigeres System ohne Privateigentum und Ausbeutung ersetzen. Er nennt dieses System Parecon – eine partizipatorische Ökonomie (Teilhaberwirtschaft).

Alberts Bemühen besteht darin, zu zeigen, dass es im Gegensatz zu den Behauptungen der Neoliberalen eine funktionierende Alternative zum Kapitalismus gibt. Zu einem großen Teil schöpft Parecons „Leben nach dem Kapitalismus“ aus marxistischem Denken und ähnelt ihm bezüglich der Frage, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft organisiert sein müsste.

Aber seine Arbeit hat zwei Defizite. Er erklärt nicht, wie eine solche Gesellschaft ins Leben gerufen werden könnte und deshalb notwendig auch durch die konkreten Umstände ihrer Entstehung aus dem Kapitalismus heraus geprägt würde. Er versucht, ein Modell nichtkapitalistischer Produktion und Verteilung zu schaffen, während er eine unverzichtbare Voraussetzung für ihren Erfolg meidet – demokratische Institutionen zentraler Wirtschaftsplanung.

Albert greift den Kapitalismus dafür an, „Armut, schlechte Gesundheit, verkürzte Lebenserwartung, eingeschränkte Lebensqualität und Umweltkollaps zu erzeugen“. Er schlägt vor, die imperialistischen Gremien IWF, Weltbank und WTO durch „eine internationale Vermögensagentur, eine Weltinvestitionshilfeagentur und eine Welthandelsagentur“ zu ersetzen, die daran arbeiten, die Grundwerte von Parecon zu erreichen: Gerechtigkeit, Solidarität, Diversifizierung, Selbstverwaltung und ökologisches Gleichgewicht. Aber anders als Monbiot erkennt Albert, dass der einfache Ersatz der globalen Institutionen der Imperialisten durch bessere zum Scheitern verdammt ist, solange Kapitalismus existiert.

Albert schlussfolgert korrekt, dass wir den Kapitalismus durch ein anderes Wirtschaftssystem ersetzen müssen, wenn wir dauerhafte Errungenschaften erzielen möchten. Während er nicht den Versuch unternimmt zu sagen, wie wir den Kapitalismus beseitigen können, behauptet er doch, dass „um den Kapitalismus hinter sich zu lassen, Parecon-orientierte Antigobalisierungsaktivisten eine institutionelle Vision anböten, die aus denselben“ inneren Werten „abgeleitet wäre (12).“

Seine Vision impliziert, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln – Firmen, Fabriken, Bergwerke und Bauernhöfe, wo der gesellschaftliche Reichtum hergestellt wird – abgeschafft ist. Statt dessen gehört das Produktivvermögen der Gesellschaft Allen gleich. Albert streicht zurecht heraus, dass dieses Privateigentum die Grundlage des Kapitalismus und für dessen massive Ungleichheit darstellt. Wenn wir es abschaffen, kann kein Individuum, keine Gruppe Macht, Reichtum oder Privilegien aus der Ausbeutung ableiten.

„Niemand verfügt über Reichtum, Einkommen oder wirtschaftlichen Einfluss im Unterschied zu dem, was jeder besitzt, mittels unterschiedlichen Zugangs zu Eigentum an Produktionsmitteln.“

Unter Parecon würde unsere Welt nicht mehr von Entscheidungen kontrolliert, die in Vorstandsbüros von Weltfirmen gefällt werden. Wir würden nicht länger damit auskommen müssen, korrupte und nichtrepräsentative Politiker in scheindemokratische Körperschaften zu wählen, die den Mehrheitswillen ignorieren und nur im Interesse der Reichen und Mächtigen regieren. Stattdessen hätten wir eine von demokratischen Räten verwaltete Welt. Arbeiterräte werden jeden Arbeitsplatz planmäßig lenken, „an dem jeder Arbeiter die gleichen umfassenden Beschlussrechte und Verantwortung hat wie jeder andere.“ Diese Räte gestalten und unterhalten den Arbeitsplatz, weisen Aufgaben und Pflichten allen, die dort arbeiten, gleich zu, entscheiden über auszuführende Arbeiten und notwendige Hilfsquellen für die Arbeitsstätte.

Der Markt wird nicht mehr blind über unsere Verbrauchsartikel für uns entscheiden. An seiner Stelle verfügten wir über KonsumentInnenräte, organisiert auf Ortsebene, die den Verbrauch festlegen und planen. Denn wenn „wir anerkennen, dass Verbrauchsaktivität wie die in der Produktion größtenteils gesellschaftlich ist“, müssen „wir darauf beharren …“, dass Entscheidungsfindungsprozesse über Konsumtion wie über Produktion partizipatorisch und gleichberechtigt sind (13).“

Auch die Art, wie wir arbeiten, wäre unter Parecon radikal verschieden von heute. Albert führt die Vorstellung eines „balancierten Berufskomplexes“ ein, bei dem jeder von uns Zeit damit zubrächte, eine ihn befähigende Arbeit zu verrichten, die jedem von uns eine „gleiche Chance zu Teilnahme an und Nutzen vom Treffen von Arbeitsplatzentscheidungen“ verliehe. Albert betrachtet dies als Methode, um die „fabrikmäßige Arbeitsteilung“ niederzureißen, wobei einige den ganzen Tag in der Fertigungslinie zubringen, während andere nur Entscheidungen treffen und die zukünftige Erzeugung planen.

Er betont, dass wir immer eine gewisse Arbeitsteilung brauchen (d.h. nicht alle können Arzt oder Atomphysiker sein), nichtsdestotrotz „solltest du eine gewisse übrige Zeit an erfreulicheren und dich befähigenden Aufgaben arbeiten, wenn du an einem besonders unangenehmen und abstumpfenden Unterfangen jeden Tag oder jede Woche eine Zeitlang wirkst.“ Bis wir die Notwendigkeit langweiliger, sich wiederholender und profaner Tätigkeit beseitigen können, soll unter Parecon jeder seinen fairen Anteil daran leisten müssen.

Im Kapitalismus ist unsere Bezahlung kein Abbild davon, wie gesellschaftlich notwendig oder wertvoll unsere Arbeit ist. Krankenpflegekräfte strampeln sich dabei ab, ihre Aufgabe zu erfüllen, während Berufszocker Millionen an der Börse verdienen. In einer von Parecons Prinzipien getragenen Welt würde die Arbeitsvergütung darauf beruhen, „wie viel Anstrengung oder Opfer wir bei unserer nützlichen Tätigkeit erbracht haben.“ Welche Sorte Arbeit für die Gesellschaft nützlicher und wertvoller wäre, würde demokratisch von Arbeiter- und Verbraucherräten bestimmt.

Die Sphären von Produktion und Konsumtion würden durch diese Räte koordiniert, die Planpreise festsetzen und sie miteinander mittels Verbesserungsbüros und Arbeitserleichterung-durch-Iteration (Wiederholung)-Komitees auf nationalem Niveau ausgehandelt. Beim Planen dieser Preise:

„müssen Arbeiterteilhaber die Vorteile aus weniger Arbeitsaufwand oder Nutzen weniger produktiver Techniken gegen den Verlust an Verbraucherwohlergehen abwägen. Verbrauchergenossen müssen gleichfalls die Vorzüge von Konsumnachfrage gegen die erforderlichen Opfer zu deren Herstellung gewichten.

Partizipatorische Produzenten müssen eine gerechte Arbeitsbürde von einer zu leichten oder zu schweren und Marxkritiker unterscheiden. Konsumteilhaber müssen ebenso vernünftige Verbrauchswünsche von übertriebenen oder übermoderaten unterscheiden.

Jeder muss die wahren sozialen Kosten und Nutzen dessen, was sie konsumieren oder produzieren kennen, einschließlich der quantifizierbaren und nicht messbaren Konsequenzen ihrer Bedürfnisse (14).“

So weit, so gut. Aber wir haben drei wesentliche Fragen. Könnte dieses Modell ohne zentrale Planinstanz funktionieren? Wenn nicht, würde eine solche notwendig undemokratisch werden und somit das Gleichheitsgebot und die Effektivität des Systems unterlaufen? Und: könnte eine Teilhaberwirtschaft ohne eine solche oberste Instanz überhaupt entstehen?

In wichtigen Zügen ähnelt Alberts Modell einem, das von Eugen Dühring vorgeschlagen worden ist, einem deutschen Reformanhänger und Marxkritikers des 19. Jahrhunderts. Dühring befürwortete ein Wirtschaftskommunenmodell, die Produktpreise festlegen würden und per Güteraustausch miteinander in Beziehung träten. Er schrieb: „Namentlich werden die einzelnen Wirtschaftskommunen innerhalb ihres eignen Rahmens den Kleinhandel durch völlig planmäßigen Vertrieb ersetzen (15).“

In einigen Einzelheiten unterschied sich sein System von Parecon. Es bildete Preise aus den Durchschnittsproduktionskosten, wohingegen das von Albert den Preisfestsetzungsgremien oder Verbesserungsinstitutionen gestattet, ebenso andere gesellschaftliche und Umweltkosten ins Kalkül einzubeziehen. Dühring behielt Geld aus Edelmetall bei, während Albert darauf besteht, dass sein Geld keine Barform trüge und allein als Verrechnungsmittel für Arbeitszeit und andere demokratische bestimmte soziale Werte existieren würde.

Die offensichtliche Schwäche im Dühringschen System lag darin, dass jedes Individuum angeblich mit seinem Geld anstellen können sollte, was ihm beliebte. Dies schuf für sie die Möglichkeit, Bargeld zu horten und dementsprechend des erneuten In-Kraft-Tretens von Kredit und Schulden. Noch wichtiger aber: eine Wirtschaftsgemeinde könnte Geldzahlungen von einer anderen annehmen, d.h. eine Kommune könnte Arbeitskraft ausbeuten und ihre Profite in Geldform zurück in die Ökonomie zirkulieren, ohne dass eine andere wüsste, woher dieses Geld stammte. Beides, Anreiz und Möglichkeit, Geld in Kapital zu verwandeln, wäre in Kraft und würde unweigerlich in Profiteurstum und letztlich Finanzkapital münden.

Albert behauptet, unter Parecon könne das nicht passieren. Zurecht hebt er hervor, Löhne könnten anteilig zur individuellen Verausgabung der Arbeitskraft gezahlt werden und dafür brauche es keinen Bargeldkreislauf; „Geld“anteile können gegen das Reservoir an Gütern und Dienstleistungen durch Kontoführung per Computer geltend gemacht werden (vermutlich ein kompliziertes Kreditkartensystem). Aber wie kann eine Kommune ohne Zentralplanung daran gehindert werden, Preise festzusetzen, die nicht fair die Sozialkosten widerspiegeln? Wie kann eine Gemeinde davon abgehalten werden, ihre höhere oder niedrigere Arbeitsproduktivität auszudrücken?

Auch Friedrich Engels bedachte das, als er auf Dührings Modell einging. Er beobachtete:

„Wenn das Metallgeld also schon im Verkehr der Wirtschaftskommune mit ihren Mitgliedern nicht als Geld fungiert, sondern als verkleidete Arbeitsmarke, so kommt es noch weniger zu seiner Geldfunktion im Austausch zwischen den verschiednen Wirtschaftskommunen. Hier ist, unter den Voraussetzungen des Herrn Dühring, das Metallgeld total überflüssig. In der Tat würde eine bloße Buchführung hinreichen, die den Austausch von Produkten gleicher Arbeit gegen Produkte gleicher Arbeit viel einfacher vollzieht, wenn sie mit dem natürlichen Maßstab der Arbeit – der Zeit, der Arbeitsstunde als Einheit – rechnet, als wenn sie die Arbeitsstunden erst in Geld übersetzt. Der Austausch ist in Wirklichkeit reiner Naturalaustausch; alle Mehrforderungen sind leicht und einfach ausgleichbar durch Anweisungen auf andre Kommunen. Wenn aber eine Kommune wirklich gegenüber andern Kommunen ein Defizit haben sollte, so kann alles ‚im Universum vorhandne Gold‘, und wenn es noch so sehr ‚von Natur Geld‘ sein sollte, dieser Kommune das Schicksal nicht ersparen, dies Defizit durch vermehrte eigne Arbeit zu ersetzen, falls sie nicht in Schuldenabhängigkeit von andern Kommunen geraten will (16).“

Logisch sticht dieser Einwand, ob nun die Gemeinde Bargeld gebraucht oder nicht. Selbst bei der Buchführung würden sich Wertunterschiede zwischen den Kommunen selbst bemerkbar machen.

Albert ist auf dieses Argument vorbereitet. Seine Antwort erschöpft sich nicht darin, Parecon verfüge über keinen Markt aufgrund seiner Mitgliederplanung und Planpreise, sondern dieser könne gar nicht entstehen.  Er schreibt: „Es kann darum noch nicht passieren, weil die Gesellschaft es schlicht nicht zulässt. Die Planprozedur wird die [Ausbeuter-]Firma nicht mit Betriebsmitteln beliefern und deren Erzeugnisse nicht annehmen (17).“

Woher weiß er das? Ohne Zentralbehörde könnte das jeder Produzenten- oder Verbraucherrat tun. Das System ausgehandelter Verhältnisse zwischen autonomen Einheiten würde das ermöglichen. Alberts Anteilseignerökonomie weist die Besonderheit auf, die erste Produktionsweise zu sein, die in eine Krise schlittert, bevor sie selbst existiert. Er hat darauf zwei Antworten. Eine ist absurd idealistisch, die andere verletzt die Maximen seines Systems.

Die erste besagt, Ausbeutung lohne sich nicht, weil sie mit sich bringe, sozialer Außenseiter zu werden. „Falls aber tatsächlich eine Schwarzmarktschieberin es fertig bringt, Leute bezahlen zu lassen … wie erklärt sie ihren daraus entspringenden Überfluss? Die jeden Konsumprotz begleitende soziale Ächtung, die Mogeln aufdecken würde … wäre ein sehr hoher Preis, der für ein Einkommen zu zahlen wäre, das über eine schon komfortable und sozial reiche Existenz hinaus geht, für die Parecon typisch sorgt (18).“

Lassen wir die Tatsache beiseite, dass in der ganzen Menschheitsgeschichte ein überdurchschnittliches Einkommen statt Ächtung eher Neid erzeugte. Das würde unter Parecon nicht eintreten, weil es den Leuten schon gut ginge. Mit einem Gedankensprung hat sich Albert aus den Niederungen des praktischen Problems befreit. Er übergeht das zentrale Problem, wie wir von einer Marktwirtschaft, in der es der Mehrheit nicht besonders komfortabel geht, zu einer vergesellschafteten Wirtschaft gelangen können, ohne dass der Markt Elemente demokratischer Planung schluckt, reintegriert, letztlich sich unterwirft und eine ausbeuterische Eigentümerklasse reproduziert.

Wenn die neue Gesellschaft entsteht, werden die Leute noch arm und ungleich sein. Natürlich ist die Gefahr eines wieder hochkommenden Marktes auf dieser Stufe am größten.

Alberts zweite Antwort auf das Problem ist, dass es der Planablauf „nicht erlauben wird.“ Und tatsächlich, wie sehr er auch immer die Planung als in vollständiger Übereinkunft und zwischen den verschiedenen ArbeiterInnen- und KonsumentInnenräten bzw. -zusammenschlüssen ausgehandelte Angelegenheit darzustellen versucht, ist er gezwungen, die Auffassung von Verbesserung-durch-Wiederholung-Körperschaften zu entwickeln, die indikative Preise zur Prüfung durch örtliche Gremien festsetzen und sie revidieren, sobald diese wiederum Vorschläge unterbreiten. „Überoptimistische und anders undurchführbare“ Vorschläge werden „zurechtgestutzt.“ Mittels des Prozesses aufeinander folgender Wiederholungen „rücken die Vorschläge enger an gegenseitige Durchführbarkeit heran“. Dadurch schafft die Vorgehensweise „gleichzeitig Gerechtigkeit und Effizienz.“

Das ist fein, wenn das System gut eingeführt ist und von allen verstanden wird, um an der Hebung des Lebensstandards zu arbeiten. Aber bevor wir wieder die Normen untersuchen können, wie diese Partizipationswirtschaft funktioniert, müssen wir etwas Unmittelbareres untersuchen: wie eine Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zu demokratischer Planwirtschaft sich diesem Prozess stellen mag.

Hier sieht das Bild plötzlich schon weniger rosig aus. Strittige Vorschläge aus den unzusammenhängenden Einheiten sind unausweichlich. Armut, Konflikte über Entwicklungserfordernisse, ein umfangreicher Privatsektor und zunehmender Schwarzmarkt, Sabotage durch die ehemaligen Kapitalisten und ihre Unterstützer, Intervention ausländischer kapitalistischer Mächte, Verknappungen infolge von Embargos, Abwägen der Erfordernisse an Rüstungsproduktion, Lebensmittelversorgung und Luxusgütern, Festlegung, wie das gesamtgesellschaftliche Mehrprodukt zugeteilt wird – all dies sind Fragen auf Leben und Tod, die eine wirkliche nachkapitalistische Gesellschaft durch „wiederholte Annäherungen zurechtstutzen“ muss. Vielleicht möchten einige Räte oder „Erleichterungsausschüsse“ nicht stets dem endgültigen „Wiederholungsgleichungsergebnis“ des Mehrheitsplans zustimmen. Was dann?

Hier kommt nun ins Spiel, warum der zentrale Plan unentbehrlich ist. Nicht, weil Marxisten Leute herumkommandieren möchten, sondern weil wir eine nachkapitalistische Gesellschaft nicht nur auf dem Papier, sondern in der realen Welt erschaffen wollen! Darum müssen wir unsere Anstrengungen auf die Aufgaben des Übergangs richten. Und hier, in Umschreibung des Woodie Guthrie-Zitats, mit dem Albert sein Buch einleitet “wissen die meisten in der antikapitalistischen Bewegung die Wahrheit, aber sie wollen nicht zugeben, dass sie sie kennen.“

Nur: den Aufbau der Gesellschaft, die Albert beschreibt, zu beginnen, bedeutet Enteignung des Privateigentums. Es gibt nur einen Weg, dies zu bewerkstelligen – die Arbeiterklasse muss es konfiszieren. Es gibt keine Chance, das ohne Zerbrechen der repressiven Staatsmaschine der Kapitalisten zu tun und koordinierte Gewalt anzuwenden, diese daran zu hindern, das wieder rückgängig zu machen. Das ist eine zentrale Autorität – der Staat; ob wir wollen oder nicht.

Wenn einzelne Unternehmen nicht Privateigentum sein sollen, müssen sie kollektiv angeeignet und kontrolliert werden. Um das umzusetzen, müssen sie unter dem Schutz derselben Gewalt stehen, die die früheren Besitzer enteignet hat. Das bedeutet Staatseigentum, ob man’s mag oder nicht.

Albert mag es nicht. Ohne diese Elemente ist seine aber Parecon einfach unmöglich, wird sie nie eintreten. Er erkennt das – zögernd -, weil er sich weigert zu umschreiben, wie seine Gesellschaft sich aus der alten herausschält.

Der Grund dafür ist eine tödliche Furcht davor, wohin Zentralplanung führen mag. Er glaubt, der Schrecken bürokratischer und gegen die ArbeiterInnen gerichteter Planung, wie sie von der elitären Kaste im ehemaligen Ostblock exerziert wurde, entspringt als direktes Resultat aus der zentralen Planwirtschaft und dass diese deshalb – koste es, was es wolle – vermieden werden müsse.

Wenn das stimmt, ist alles verloren. Eine demokratisch geplante Gesellschaft mit Gemeineigentum wie Parecon kann, wie wir gezeigt haben, ohne Zentralplanung nicht entworfen werden. Wenn aber zentrale Planung unvermeidlich in die Vorherrschaft einer neuen Elite, Unterdrückung, Ungleichheit, Unergiebigkeit und Stillstand mündet, wird sie schließlich ebenso zusammenbrechen wie der Stalinismus. Wenn zentrale Planwirtschaft unweigerlich zum Stalinismus führt, dann gibt es wirklich, wie Margaret Thatcher sagte, keine Alternative.

Die Geschichte ist jedoch kein Beleg für diese pessimistische Sichtweise. Das erste Land, in dem zentrale Planung angepackt wurde, war rückständig; die Mehrzahl seiner Bevölkerung war nicht in moderne kapitalistische Produktion einbezogen, sondern Bauern. Es wurde sofort zum Ziel verheerender ausländischer Invasionen und die Revolution vermochte es nicht, sich auf fortgeschrittenere Länder zu verbreiten. Zur Zeit, als die Fünf-Jahres-Pläne entworfen wurden, war die UdSSR schon von einer selbsternannten bürokratischen Kaste beherrscht, die sich selbst Privilegien zuschanzte und die Selbsttätigkeit der ArbeiterInnen mehr fürchtete als die kapitalistische Restauration. Die nachfolgenden „Kommandowirtschaften“ des Ostblocks wurden von stalinistischen Parteien direkt gemäß dem Moskauer Modell errichtet; jede Spur von Organisation der Arbeiterklasse und Demokratie wurde ausgelöscht, bevor (!) sie das kapitalistische Eigentum bürokratisch enteigneten.

Warum sollte die nächste soziale Revolution so enden? Nächstes Mal beginnen wir womöglich in einem entwickelteren Land oder haben größeren Erfolg bei der Ausbreitung der neuen Gesellschaftsverhältnisse, damit die Anstrengungen der Werktätigen mehrerer Länder zusammenfließen. Sicherlich müssten wir, um erfolgreich zu sein, eine von den stalinistischen Parteien getrennte und ihnen gegenüber unversöhnliche politische Partei geschaffen haben – weil die Stalinisten darauf bestehen, die Revolution auf ein bürgerlich demokratisches Stadium zu beschränken, und sich sträuben, zur sozialistischen Planwirtschaft vorwärts zu schreiten. Vor allem würden wir dafür eintreten, jeden zur Rechenschaft zu ziehen und zu kontrollieren, der vom Volk beauftragt ist, in der Verwaltung eines Zentralplans zu arbeiten.

Was sind diese Mittel? Albert beschreibt sie selbst. In seiner Kritik an der zentralen Planwirtschaft polemisiert er ausschließlich gegen das bürokratische Kommandosystem. MarxistInnen können vieles, was er sagt, gutheißen. Aber im Kapitel seines Buches, wo er Parecon von Zentralplanung abgrenzt, erläutert er mit bewundernswerter Klarheit exakt die Methoden,, die man anwenden muss, um jedes Planungssystem demokratisch zu kontrollieren, lokal und zentral.

Er legt dar, dass Planungs- und Verwaltungsrollen umlaufend gewechselt werden (rotieren) können. Selbst wenn Schlüsselbestandteile des Planablaufs von jemand erledigt werden müssten, der besonders für diese Aufgabe eingeteilt wurde; „würde das noch nicht bedeuten, es gäbe eine Klasse von Koordinatoren in der Wirtschaft, genauso wenig wie die Tatsache, dass es eine Geschäftsführungsfunktion in vielen Industrien der Parecon gibt, beinhaltet, es gäbe dort eine abgetrennte Koordinatorenklasse … Es ist nicht die Existenz wichtiger technischer oder konzeptioneller Aufgaben per se, die die Klassenspaltung hervorruft, sondern eher wie diese unter der Volksmasse aufgeteilt werden (19).“

Exakt! Aber warum soll dies nur für Aufgaben gelten, die sich mit lokalen Themen befassen, aber nicht für regionale oder (inter)nationale? Die Verhinderung von Bürokratie ist ein kritischer Auftrag beim Aufbau eines nachkapitalistischen Systems, aber die Mechanismen dafür können sowohl auf einen zentralen Plan wie auf eine Reihe integrierter und ausgehandelter Pläne vor Ort Anwendung finden. Wesentliche Prinzipien dabei sind: das Treffen demokratischer Entscheidungen; die Freiheit von Parteien, innerhalb der Arbeiterräte zu wirken und für Ergänzungen und Änderungen an Planungsschwerpunkten zu werben; Rotation von bürokratischen (Verwaltungs-) Aufgaben; kein Individuum soll mehr verdienen als den durchschnittlichen Facharbeiterlohn; Abwählbarkeit aller Personen aus jeder Position; öffentlicher Zugang zu allen Mitteln und Konsequenzen, die den Planentwurf ermöglichen; Dezentralisierung von soviel Planablauf wie möglich, was soviel demokratische Zentralisierung wie nötig gestattet.

So kann die Herrschaft über Personen wirklich zu einer Verwaltung von Sachen  zu werden beginnen, ohne dass die Mehrheit daran gehindert wäre, Schritte einzuleiten, um die Unterdrückung von Marktelementen und den Erfolg des Übergangs zu demokratischer Planwirtschaft sicherzustellen bzw. zum Sozialismus, wie wir sie fortan nennen werden.

Wenn Albert noch über einige immanente bürokratische Tendenzen beunruhigt sein sollte, täte er besser daran, seine Sorgen nicht nur auf demokratische Zentralplanung zu beziehen, sondern auch auf seine Verbesserungsausschüsse in der Parecon, geschweige denn die kryptozentralen „Verbesserung-durch-Wiederholung-Körperschaften.“

Das Problem mit Alberts Parecon-Schema rührt nicht vom Faktum her, dass er ein nicht perfektes Modell der Zukunftsgesellschaft gemalt hat, sondern daher, dass er überhaupt ein solches zu „malen“ versucht. Das ist ein fehlerhaftes Vorhaben, das niemals wissenschaftlichen Charakter haben kann, weil es nicht vom Realen ausgeht. Jedes bedeutende nachkapitalistische Projekt muss im Wirklichen begründet sein, d.h. es muss den Kapitalismus und die in ihm wohnenden Widersprüche und die Tendenzen, die über ihn hinaus weisen, als Ausgangspunkt nehmen.

Im Kampf gegen den Kapitalismus werden die arbeitenden Menschen zum Widerstand gezwungen, ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln. Mit Arbeiter- und Bauernräten bilden sich die Keime zukünftiger Verwaltungsorgane. Aber unter keinen Umständen, in keiner revolutionären Situation haben diese Organisationen auch nur begonnen, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem zu ersetzen außer dort, wo sie die politische Macht mit Gewalt erobert und einen neuen Staatstyp zur Unterdrückung des Bürgertums organisiert haben. Die Notwendigkeit eines Zentralplans erwächst daraus.

Das Experiment der russischen Revolution und deren Niederlage sowie die kompromittierten stalinistischen Parteien haben gewiss außerordentlichen Schaden, Ernüchterung und Verzweiflung innerhalb der Arbeiter- und antikapitalistischen Bewegung hinterlassen. Auf der Habenseite ist eine Bestimmtheit überall offensichtlich, ihre negativen Konsequenzen zu vermeiden. Im Soll haben sie AktivistInnen veranlasst, einer Vorbedingung fürs Voranschreiten zu einer nachkapitalistischen Ordnung den Rücken zuzukehren.

Aber die Alternative besteht eben nicht darin, dazu zurückzukehren, verklärte Utopien am Reißbrett zu entwerfen, Beschreibungen einer auf dem Papier perfekten Gesellschaft auzuklüngeln. Jede Zukunftsperspektive muss die „Drecksarbeit“ des Übergangs zum Sozialismus mitdenken.

In diesem Sinne ist Parecon keine Landkarte einer neuen Gesellschaft, sondern eine geistige Zustandsbeschreibung der radikalen Intelligenz eingangs des 21. Jahrhunderts, die immer noch von den Niederlagen des 20. traumatisiert ist.

Worin besteht der Klassencharakter an Alberts Vorschlag? Es gibt nur eine Klasse, die objektiv Grund hat, sowohl den zentralisierten Staatsapparat der Großkapitalisten als auch den zentralisierten Halbstaat der Arbeiter zu fürchten. Es ist das Kleinbürgertum, die Mittelklasse, die von den Großkonzernen enteignet worden ist und das auch von der Enteignung durchs Proletariat erschreckt wird. Mit dieser Aussage wollen wir Albert nicht beleidigen oder seine Absichten in Frage stellen, noch weniger seine Hingabe an den Kampf gegen den Kapitalismus. Es geht darum, die objektive Klassenbasis hinter seinem utopischen Vorschlag auszumachen – und sie zugunsten der Alternative der Arbeiterklasse abzulehnen.

Callinicos koordiniert den Konsens

Alex Callinicos, führendes Mitglied der britischen Socialist Workers Party (SWP) und Sekretär der Internationalen Sozialistischen Tendenz hat „An Anti-Capitalist Manifesto“ (Ein Antikapitalistisches Manifest) herausgegeben. Seine Vorstellungen über das Wesen des Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung und seine Perspektive für die Weiterentwicklung der Bewegung wird zweifellos von vielen antikapitalistischen und Anti-KriegsaktivistInnen gelesen werden.

Was ist also das Problem? Dass es kein konsequent proletarisches Programm ist! Das Manifest ist ein weiterer Schritt Callinicos´ Richtung Anpassung an Politik und Praxis der von ihm erhofften Verbündeten rechts von der SWP innerhalb der Bewegung. Es versucht, einen Kompromiss zwischen den derzeit in der Bewegung modischen Ideen und den Prinzipien des Kommunismus herzustellen. Würde sein Programm umgesetzt, führte es die Arbeiterklasse und die antikapitalistische Bewegung in die Katastrofe.

Zuerst ist hier festzuhalten, dass seine Organisation zwar die Vorstellung von demokratischer zentraler Planung unterstützt, sein Programm jedoch ein Modell einer postkapitalistischen Wirtschaft ohne einen solchen Mechanismus vorstellt. Er entwickelt den von Pat Devine vorgebrachten Gedanken einer „verhandelten Koordination“ zwischen lokalen und regionalen Planungseinheiten von Produktion und Distribution – mit deutlicher Ähnlichkeit zu Alberts Parecon.

Der Unterschied ist, dass Devines Modell scheinbar eine Lösung für die oben skizzierten Probleme gibt. Nach Callinicos ist Devine der Ansicht: „Grobe Wirtschaftsparameter – die Bereiche wie die makroökonomische Ressourcenverteilung zwischen individueller und kollektiver Konsumtion, Sozial- und Wirtschaftsinvestitionen, Energie- und Transportpolitik und Umweltprioritäten abdecken – werden auf nationaler Ebene von einer gewählten repräsentativen Versammlung auf Basis einer Reihe verschiedener von Experten entworfener Pläne entschieden (20).“

Gleichzeitig sagt Devine: „Ausgehandelte Koordinationsgremien würden ermöglichen, dass Wirtschaftsentscheidungen bewusst und unter Berücksichtigung der Gesamtsituation, aber ohne zentrales Verwaltungskommando koordiniert werden, doch auf einer ausreichend dezentralisierten Grundlage, auf der lokale Kenntnisse zum effektiven Einsatz gelangen (21).“

Um effektiv zu sein, sollte Wirtschaftsplanung natürlich auf möglichst dezentralisierter Ebene stattfinden. Doch Callinicos schweigt sich über die unmoderne Tatsache aus, dass die von ihm erwähnte gewählte Versammlung bei ihren Entschlüssen über „grobe Parameter“ demokratische Autorität ausüben und sich erforderlichenfalls über unpassende Elemente lokaler Planung hinwegsetzen würde. Das Schlüsselelement zu einer funktionierenden dezentralisierten Planung ist ein starkes zentrales Planungsgremium – obgleich eines unter breitester und striktester demokratischen Prüfung und Kontrolle.

Es ist durchaus möglich, dass Callinicos davon wirklich überzeugt ist. Dann sollte er es offen aussprechen – und nicht mit vagen Begriffen hantieren, die so gestaltet sind, dass sie im derzeitigen „staatsfeindlichen“ Diskurs unbemerkt durchschlüpfen. Warum? Um das zu erreichen, müssen Millionen dafür kämpfen. Sie davon zu überzeugen, erfordert eine Arbeiterpartei, die aktiv den Kampf gegen den vorherrschenden Gedanken, zentrale Planung führe automatisch zu Stalinismus, aufnimmt und ihm nicht durch Begriffsschöpfungen ausweicht.

Kern des Buches ist ein von Callinicos so benanntes „Übergangsprogramm“. Diese Bezeichnung stammt ursprünglich von Leo Trotzki, der auf dieser Grundlage 1938 ein Programm für die Vierte Internationale entwickelte. Wie wir sehen werden, folgt Callinicos Programm aber einer gänzlich anderen Methode als jener von Trotzki. Während Trotzki in seinen Forderungen gegenwärtige Kämpfe der Arbeiterklasse mit der Revolution, der Arbeitermacht über den Staat und einer Planwirtschaft verknüpfte, präsentiert Callinicos stattdessen eine Reihe miteinander nicht verbundener Reformen gemeinsam mit einer möglichst vagen Erklärung der Notwendigkeit einer Revolution – einer Erklärung, die jede Erwähnung der Kampfformen, der Organisationsmuster und der Formen von Massenaktionen vermeidet, die eine Revolution erst zur Wirklichkeit werden lassen.

Als Alibi führt Callinicos an, dass seine Forderungsliste nur eine richtungsweisende Funktion hat und „andere mit umfassenderen und phantasievolleren Programmen daherkommen könnten (22).“  Und weiter: „Trotz allem, diese Forderungen sind nicht bloß ein aus der Luft gegriffener Wunschzettel. Sie stellen Antworten auf die gegenwärtige Realität dar und wurden allesamt von bestehenden Bewegungen aufgestellt. Gleichzeitig liegt es in der Tendenz dieser Forderungen, die Logik des Kapitals zu untergraben … obwohl sie nicht notwendigerweise aus explizit antikapitalistischen Gründen formuliert worden sein mögen, beinhalten diese Forderungen eine implizit antikapitalistische Dynamik. Sie sind das, was Trotzki Übergangsforderungen nannte, Reformen, die aus der Wirklichkeit bestehender Kämpfe entstehen, deren Umsetzung jedoch im gegenwärtigen Kontext die kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen in Frage stellen würde (23).“

Nun denn, das ist nicht das, was Trotzki unter Übergangsforderungen verstand. Nach Jahrzehnten von Verleumdungen, mit denen seine Ideen seitens der Stalinisten überhäuft wurden, hätte man gehofft, dass zumindest Trotzkis Anhänger davon Abstand nehmen, seine Ideen noch  weiter entstellt zu unterbreiten. In seinem Programm von 1938 erklärte er Übergangsforderungen wie folgt und verdeutlicht, dass jede dieser Forderungen nur den Kapitalismus in Frage stellen wird, wenn sie als Teil eines Systems vorgebracht wird, das sie mit der Notwendigkeit einer Revolution verbindet:

„Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten „Minimal“-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte der Arbeiter und ihre sozialen Errungenschaften. Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d.h. revolutionären Perspektive. In dem Maße wie die alten „Minimal“-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen  – und dies geschieht auf Schritt und Tritt -, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte „Minimalprogramm“ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren (24).

Nun, untergraben die in Callinicos´ Programm aufgeführten Forderungen die Kapitallogik und schaffen sie in ihrer Gesamtheit eine Brücke von der heutigen Situation zur Revolution?

Er schlägt zum Beispiel die Unterstützung der Tobinsteuer vor, obwohl er keine Agentur vorweisen kann, die diese erheben oder durchsetzen könnte. Ja, er kritisiert sogar in einem Abschnitt des Buches diese mickrige 0,01%-Steuer auf internationale Tauschgeschäfte als „eine Methode zur Reform des Kapitalismus – und insbesondere der Rehabilitierung der nationalen Kapitalismen (25).“ Weiter hinten erklärt Callinicos, wie die französische Regierung von Lionel Jospin eine Änderung im November 2001 durchgedrückt hat, die die Tobinsteuer unterstützte, um sich „ein sozialistisches Image zu kultivieren“, während sie „in Wirklichkeit Staatsbetriebe im Wert von 240 Mrd. FF (36,4 Mrd. €) privatisierte, mehr als alle sechs vorangegangenen Regierungen zusammen.“ (S. 90) Wie also untergräbt diese Steuer die Kapitallogik?

In seiner Gesamtheit enthält Callinicos´ Programm von Übergangsforderungen: die Streichung der Schulden der „Dritten Welt“; die Einführung der Tobinsteuer; die Wiederherstellung der Kapitalkontrollen; ein allgemeines Grundeinkommen; die Verkürzung der Arbeitswoche; die Wiederverstaatlichung und Beendigung der Privatisierung; eine progressive Besteuerung; die Abschaffung der Einwanderungskontrollen; ein Programm zur Verteidigung der Umwelt; die Auflösung des militärisch-industriellen Komplexes; die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten.

Mit keinem Wort wird erwähnt, wie diese Forderungen durchgesetzt werden sollen – kein Wort darüber, wie die Auseinandersetzungen zur Umsetzung dieser Forderungen mit dem Kampf für die soziale Revolution verbunden werden können. Es ist völlig korrekt, Reformen zu unterstützen, die die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse unabhängig davon verbessern, ob sie für sich genommen die Bewegung zur Revolution hinführen. Doch die Vorstellung, dass solche Reformen ohne Einbindung in ein in sich verbundenes Forderungssystem irgendwie automatisch zum revolutionären Kampf hinüber wachsen können, ist völlig falsch und geradewegs gefährlich. Diese Vorstellung legitimiert die Idee, dass RevolutionärInnen lediglich für Reformen kämpfen müssten und die Geschichte oder „der Prozess“ das Übrige hinzufügten. Sie liefert eine Entschuldigung für systematischen Opportunismus.

In der Geschichte der marxistischen Bewegung waren Übergangsforderungen alles andere als ein Katalog solcher, miteinander nicht verbundener Reformen: Sie sind ein Mittel von RevolutionärInnen, eine Brücke zwischen den unmittelbaren dringlichen Bedürfnissen der ArbeiterInnen heute und dem Ziel der Arbeitermacht zu schlagen. Friedrich Engels äußerte sich schon 1847 über diese Methode:

„Alle Maßregeln zur Beschränkung der Konkurrenz, der Anhäufung großer Kapitalien in den Händen einzelner … sind als revolutionäre Maßregeln nicht nur möglich, sondern sogar nötig. Sie sind möglich, weil das ganze insurgierte Proletariat hinter ihnen steht und sie mit bewaffneter Hand aufrechterhält. Sie sind möglich, trotz aller von den Ökonomen gegen sie geltend gemachten Schwierigkeiten und Übelstände, weil eben diese Schwierigkeiten und Übelstände das Proletariat zwingen werden, immer weiter und weiter zu gehen bis zur gänzlichen Aufhebung des Privateigentums, um nicht auch das wieder zu verlieren, was es schon gewonnen hat. Sie sind möglich als Vorbereitungen, vorübergehende Zwischenstufen für die Abschaffung des Privateigentums, aber auch nicht anders (26).“

Hier wurde die gesamte Übergangsmethode erklärt. Ausgehend von den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiterklasse sammeln solche Forderungen die ArbeiterInnen um die Durchsetzung von Maßnahmen, die im Laufe der Entwicklung die politische und wirtschaftliche bürgerliche Macht beeinträchtigen und die Selbstorganisation der ArbeiterInnen („mit bewaffneter Hand“) stärken. Da diese Maßnahmen die Fähigkeit der Kapitalisten zu Konkurrenzfähigkeit und Akkumulation behindern, werden die Arbeiterklasse und ihre Verbünden sich gezwungen sehen weiterzugehen, bis der Kapitalismus selbst gestürzt ist.

Doch Engels und nach ihm Trotzki betonten, dass diese Maßnahmen nur möglich sind, wenn sie mit der Machteroberung verbunden werden.

Nehmen wir z.B. das universelle Mindesteinkommen. Soll dieses auf einem vernünftigen Niveau durchgesetzt werden, muss es durch industriellen Kampf errungen werden. ArbeiterInnen müssen Streikkomitees aufbauen und eine Schlacht gegen ihre eigene Gewerkschaftsbürokratie führen, die eine solche Kampagne aufs Abstellgleis leiten will.

Um ausreichende Einkommensniveaus festzulegen, werden in den Arbeitervierteln Preiskontrollkomitees aufgebaut werden müssen, damit sie nicht von den Ökonomen und der Inflation getäuscht werden. Unternehmer können Bankrott anmelden und Arbeiter entlassen oder sogar die Betriebe schließen; dann müssen die ArbeiterInnen die Fabriken besetzen und die Öffnung der Geschäftsbücher fordern sowie sich für die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle engagieren.

Wie die jüngsten Ereignisse in Argentinien zeigen, ist dies auch nur eine „vorübergehende Zwischenstufe“ und, „um nicht auch das wieder zu verlieren, was es schon gewonnen hat“, wird das Proletariat für eine Arbeiterregierung kämpfen müssen, die die gesamte Wirtschaft auf eine sozialistische Basis stellen kann.

Diese Überlegungen sind in Callinicos´ Manifest nicht enthalten. Ja, es läuft gerade auf das Gegenteil hinaus: „Die oben angeführten Forderungen werden an Staaten gerichtet, die entweder allein oder gemeinsam handeln. Darin spiegelt sich die Tatsache wider, dass trotz der Globalisierungswirkungen die Staaten weiterhin die wirksamsten Mechanismen in der aktuellen Verfassung weltweit darstellen, um Ressourcen für die Umsetzung kollektiv beschlossener Ziele zu mobilisieren (27).“

Hierin offenbaren sich die Grenzen von Callinicos´ Vision. Natürlich sollten wir Forderungen an den kapitalistischen Staat stellen, aber wir dürfen keine Illusionen in dessen Fähigkeit wecken, „Ressourcen für Umsetzung kollektiv beschlossener Ziele zu mobilisieren.“ Man kann sich nicht auf den kapitalistischen Staat verlassen, antikapitalistische Ziele durchzusetzen. Dieser kann nur vorübergehend gezwungen werden, Maßnahmen im Interesse der Arbeiter zuzugestehen – doch er wird bald versuchen, diese wieder einzukassieren. Dennoch stimmt es, dass eine Staatsmacht tatsächlich der „wirksamste Mechanismus“ ist, die Ziele der Arbeiterklasse zu erreichen; welche Form diese annehmen muss, das zu erwähnen, ringt sich Callinicos jedoch nicht durch: es muss ein proletarischer Halbstaat sein, der nur auf der zu Trümmern zerschlagenen repressiven Staatsmacht der Kapitalisten errichtet werden kann.

Die Weltarbeiterklasse wird eine demokratische und zentralisierte Planung aufbauen müssen, nicht nur eine einvernehmliche Koordination zwischen regionalen und lokalen Planungseinheiten oder klassenunspezifische „Staaten“, sondern eine Arbeiterregierung und einen Arbeiterstaat. Dies wäre eine Diktatur über die bisher herrschende Klasse: nicht nur, damit dem Kapitalismus die Chance einer Konterrevolution entzogen wird, sondern auch, um den Lebensstandard von sechs Milliarden Werktätigen zu heben, damit sie wirklich ihr eigenes Schicksal kontrollieren können.

Der schwächste Teil im Programm von Callinicos ist seine Beschreibung, wie das erreicht werden kann. Obwohl die Zeitung der SWP in ihrer Kolumne „Where we stand“ (Wofür wir eintreten) allwöchentlich zu Arbeiterräten, einer Arbeitermiliz und einer Revolution zur Zerschlagung des Staates aufruft, fordert das „Antikapitalistische Manifest“ nichts davon.

Jedes Übergangsprogramm, das heute diesen Namen verdient, würde an die vielversprechendsten, kämpferischen und potenziell revolutionären Aspekte der antikapitalistischen Bewegung anknüpfen und Forderungen entwickeln, die ihre weitere Entwicklung mit dem Kampf für eine Revolution verbinden. Nachdem sich die Massen in Genua in organisierter Selbstverteidigung versucht hatten, würde es wie Trotzkis Übergangsprogramm für proletarische Verteidigungskommandos werben, die mit der Aufgabe beginnen, die DemonstrantInnen und Streikenden gegen Polizeiangriffe zu verteidigen, sich jedoch weiterentwickeln können, um das Gewaltmonopol der Kapitalisten in Frage zu stellen.

Es würde auf die Sozialforen in Italien und die Volksversammlungen in Argentinien als Beispiele für das Wachstum von Volksdemokratie zeigen und für Räte der Arbeiter, Bauern und der städtischen Armut auf Delegiertenbasis zur Koordinierung des Kampfes auf breitest möglicher Grundlage und als alternative Machtbasis in der Gesellschaft aufrufen: die Keime einer zukünftigen Arbeiterrepublik. Und es würde für die Zerschlagung des staatlichen Repressionsapparates, seine gewaltsame Demontage durch die Arbeiter aufrufen; jenes Apparates, den die Kapitalisten gegen die antikapitalistische Bewegung und gleichermaßen gegen die Völker der „Dritten Welt“ einsetzen. Das, und nur das, ist eine soziale Revolution.

All dies fehlt diesem utopischen Programm, das die Kampferfordernisse für eine „verhandelte Koordination“ mit den reformistischen Intellektuellen der heutigen globalen Gerechtigkeitsbewegung eintauscht. Am revolutionärsten Höhepunkt seiner Analyse – seinem kühnsten Vorstoß – schreibt Callinicos:

„Doch letztere Option [eine Revolution] wäre nicht nur eine Revolution im Sinne einer Systemtransformation: sie könnte nur durch die Überwindung – gewaltsam falls nötig – des Widerstandes seitens des Kapitals und jener, die es hinter sich mobilisiert hat, erreicht werden (28). “

Falls nötig? Das kann doch nur bedeuten, „vielleicht wird es nicht nötig sein“. Susan George, George Monbiot, Luca Casarinis und Co. können erleichtert aufatmen, dass ihnen diese Katastrofe vielleicht erspart bleibt. Kann man ernsthaft von RevolutionärInnen erwarten, dass sie zu Gunsten dieser „Welterneuerer“  ihre Argumentation abschwächen und im Zeitalter des Krieges gegen den Terror, von Genua und dem Bombardement von Bagdad die Möglichkeit erwägen, Gewalt sei nicht von Nöten?

Das ist eine verächtliche Absage an den Marxismus, der von Kopf bis Fuß eine Kriegsdoktrin für den Kampf darstellt und dessen Begründer vor über 150 Jahren schrieben: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung (29).“

Für RevolutionärInnen stellt das Übergangsprogramm eine „Brücke” zwischen den heutigen Anforderungen der Kämpfe von Millionen und der Notwendigkeit einer Revolution dar. Alex Callinicos´ Manifest hingegen ist eine Brücke zu liberalen Ökonomen wie Susan George und Monbiot … eine Brücke, über welche die antikapitalistische Bewegung besser nicht gehen sollte …

Jene gesellschaftliche Klasse, die als Bindeglied zwischen den zwei Hauptklassen agieren will, die scharfen Kanten des Klassenkampfes zu glätten sucht und für sich selbst die Nische einer unersetzbaren Vermittlerin zwischen den großen sozialen Kräften zu gestalten anstrebt – diese Klasse ist das Kleinbürgertum. Letztlich spricht Callinicos die Ängste und Ziele eben dieser Klasse aus. Diese Methode ist der revolutionären kommunistischen Bewegung als Zentrismus bekannt: ein politisches Phänomen, das die Programme von Revolution und Reformismus miteinander zu versöhnen sucht.

Einige Schlussfolgerungen

Was muss nun ein konsequent antikapitalistisches Manifest heute umfassen?

Es sollte gegen das System stehen und sich nicht nur gegen auftretende Ungerechtigkeiten und gegen Unrecht in den heutigen Verteilungs- und Vertretungssystemen wenden, sondern auch gegen die ausbeuterischen Produktionsverhältnisse des Kapitals insgesamt.

Es würde Partei ergreifen und überall die Selbstorganisation und Massenaktionen der Arbeiterklasse, Bauernschaft und Jugend zu fördern suchen.

Den Völkern der „Dritten Welt“ stellen sich brennende demokratische Fragen, die ein solches Programm aktiv aufgreifen würde durch den Kampf für volle Rechte einschließlich der nationalen Unabhängigkeit und für die Beendigung von manipulierten Handelskonventionen und die Streichung der Schulden. Es würde davor warnen, dass die Kapitalisten der Entwicklungsländer diesen Kampf nicht mit voller Konsequenz führen werden, und darauf bestehen, dass die Arbeiterklasse im Bündnis mit der Bauernschaft an die Spitze dieser Auseinandersetzung gelangen und im Verlauf zu den eigenen sozialistischen Aufgaben voranschreiten muss.

Es würde die Vision einer Gesellschaft bestärken, die ihre Grundlage in repräsentativen Räten der ProduzentInnen und KonsumentInnen findet, und darlegen, wie diese entstehen können. Es würde als Ausgangspunkt nicht das Ideal, sondern die Realität haben. Zu Beginn steht daher nicht die Frage, wie solche Gremien am besten auf einem leeren Blatt Papier entworfen werden können, sondern das Auffinden bestehender Organisationen, die im Kampf geboren wurden – wie die Sozialforen in Italien, die Volksversammlungen in Argentinien – sowie die Überlegung, wie sie ausgeweitet, entwickelt und gestärkt werden können. Strukturen, die eine zukünftige Gesellschaft regieren werden, können sich nur formen, wenn sie schon heute als Massenorgane im Widerstand gegen das Kapital entstehen.

Es würde offen und nicht mit verschleierten Begriffen für die einzig gangbare Alternative zum Kapitalismus agitieren: für eine zentral geplante Wirtschaft auf der Grundlage von Gesellschaftseigentum. Es würde darauf bestehen, dass diese nur dann effizient und nachhaltig funktionieren kann, wenn der Planungsprozess demokratisch vor sich geht, und aufzeigen, wie sich diese Möglichkeit bereits in kapitalistischen Organisationsformen und im Widerstand der Klasse gegen das Kapital abzeichnet.

Ein solches Programm würde Forderungen zur Abdeckung der dringenden Bedürfnisse der heutigen Zeit aufstellen. Anstatt die Erwähnung solcher „Reformen“ zu umgehen oder sie als Allheilmittel zu verkaufen, würde es sie mit der Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes des kapitalistischen Systems verknüpfen und dabei die zentrale Voraussetzung für eine geplante und rationale Organisation der Gesellschaft immer herausstreichen: dass die bewaffneten Repressionskräfte der Kapitalisten zerbrochen werden müssen. Dies kann nur durch einen gewaltsamen Akt geschehen. Das Schicksal unserer Kultur hängt von dessen Ausgang ab – hier ist kein Platz für Unklarheit.

Daher kann das proletarische Programm keine Zugeständnisse an „moderne“ – in Klassenbegriffen: kleinbürgerliche – Gedanken machen, dass die antikapitalistische Bewegung die Fassung einer in sich geschlossenen politischen Alternative meiden, sich von demokratischen Entscheidungsfindungen fernhalten und dem Kampf um die Macht aus dem Weg gehen sollte. Denn gerade das Gegenteil tut Not. Ein konsequentes Manifest der Klasse würde nicht von der Frage ausgehen, wie die Einheit der Arbeiterorganisationen mit Akademikern und Journalisten der Mittelschichten gewahrt werden oder ein programmatischer Kompromiss zwischen diesen Kräften eingefädelt werden kann, sondern am Anfang die Frage stellen, wie die Einheit der ArbeiterInnen im Kampf für ihre eigene Macht organisiert werden kann.

Die einzig mögliche Schlussfolgerung ist, dass die Organisationen der Arbeiter, der Arbeitslosen, der armen Bauern und der Jugend sich in einer politischen Partei zusammenschließen müssen – einer neuen Weltpartei der sozialen Revolution – als lebendige Verkörperung dieses Programms, als Instrument zu seiner aktiven Umsetzung mittels Agitation und Organisierung. Das – und nicht eine Fortsetzung der Inkonsequenz, bürgerlicher Reformen, utopischer Schemata oder ausgehandelter Kompromisse – ist der einzige Weg nach vorn für die Bewegung.

Glücklicherweise ist die programmatische Diskussion in der globalen antikapitalistischen Bewegung nicht eine Dreiecksdiskussion zwischen Monbiots bürgerlichem Reformismus, Alberts kleinbürgerlichem Utopismus und Callinicos´ zentristischem Versuch, einen Kompromiss zwischen den ArbeiterInnen und der Mittelschichtsintelligenz auszuhandeln.

Dem ESF wird auch das kürzlich erschienene Programm der Liga für die Fünfte Internationale vorliegen, dessen Titel keinen Platz für fatale Unklarheiten lässt und durchgängig die Interessen einer Klasse, der Weltarbeiterklasse, zum Ausdruck bringt: Manifest für die Weltrevolution.

 

Fußnoten:

(1) George Monbiot, Das Zeitalter der Übereinstimmung – ein Manifest für eine neue Weltordnung (engl., eigene Übersetzung ins Deutsche) , London 2003, S. 14-15

(2) ebd., S. 88

(3) ebd., S. 98

(4) ebd., S. 91

(5) ebd., S. 136 – 137

(6) ebd., S. 137

(7) Liga für eine Revolutionäre Kommunistische Internationale, Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg, Berlin 2001

(8) Monbiot, a.a. O., S. 235

(9) ebd., S. 225

(10) Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Band 4, Berlin (Ost) 1959, S. 489

(11) Monbiot, a.a.O., S. 4

(12) Michael Albert, Parecon – Leben nach dem Kapitalismus (engl., eigene Übersetzung ins Deutsche), London 2003, S. 9

(13) ebd., S. 94

(14) ebd. S. 123

(15) Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“), MEW Band 20, Berlin (Ost) 1962, S. 279

(16) ebd., S. 282 f.

(17) Michael Albert, Parecon – Leben nach dem Kapitalismu, S. 268

(18) ebd., S. 269

(19) ebd., S. 272

(20) Alex Callinicos, An Anti-Capitalist Manifesto (engl., eigene Übersetzung ins Deutsche), Cambridge 2003, S. 125.

(21) Zitiert nach Callinicos, a.a.O., S. 126

(22) ebd., S.139

(23) ebd., S.140

(24) Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen o.J., S. 6

(25) Callinicos, a.a.O., S.34

(26) Friedrich Engels, Die Kommunisten und Karl Heinzen, MEW Band 4, Berlin (Ost) 1959, S. 313

(27) Callinicos, a.a.O., S. 139

(28) ebd., S.141

(29) Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S. 493