Antikrisenbewegung – erste Ansätze verbreitern und koordinieren!

Jan Hektik, Neue Internationale 250, Oktober 2020

Die kapitalistische Krise droht – verschärft durch die Corona-Gefahr –, Millionen in den Ruin zu treiben. Über 5 Millionen KurzarbeiterInnen, fast 3 Millionen Arbeitslose, anstehende Massenentlassungen und Schließungen oder auch eine wachsende Zahl von Pfändungen sprechen eine klare Sprache. Die Lohnabhängigen sollen für die Krise zahlen – entweder jetzt oder später durch Sozialabbau, Kürzungen und Privatisierungen.

Dies kommt zwar nicht unerwartet, jedoch trifft es unsere Klasse in einem Stadium, in welchem sie fast gänzlich unvorbereitet auf die notwendigen Kämpfe ist. Die Gewerkschaften fahren einen Kurs der Sozialpartnerschaft, der insbesondere in Krisenzeiten zum Scheitern verurteilt ist und durch die Bürokratie gegen den Willen von Teilen der Basis aufrechterhalten wird. Die Bildung der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ stellt einen wichtigen Versuch dar, diese Blockade zu durchbrechen. Jedoch ist es unwahrscheinlich, dass dies ausreichen wird.

Was benötigt wird, ist eine Antikrisenbewegung, welche den Anschluss an die arbeitende Klasse sucht und mit Demonstrationen und Streiks gegen alle Angriffe, Zugeständnisse und sonstigen Krisenmaßnahmen kämpft. Diese Bewegung muss es schaffen, den Schulterschluss der Beschäftigten, der Arbeitslosen und der sozial Unterdrückten zu erkämpfen, um geschlossen solche Einschnitte abzuwehren. Sie muss Fragen wie Mindestlohn, den Kampf gegen alle Entlassungen und Besteuerung der Reichen ebenso thematisieren wie die Wohnungsfrage, Rentenkürzungen, Gesundheitsversorgung, den Kampf gegen Rassismus und Sexismus und die Zerstörung der Umwelt.

Hierfür ist es notwendig, dass linke Organisationen vereint gemeinsame Aktionen organisieren. Dies bedeutet nicht, sämtliche inhaltlichen Differenzen über den Haufen zu werfen und sich auf den kleinsten gemeinsamen (inhaltlichen) Nenner zu einigen, sondern vereint in Aktion zu treten, während gleichzeitig die eigenen unterschiedlichen Inhalte innerhalb dieser nach außen und innen getragen werden und so einen Wettstreit in den Massen um diese geführt wird.

Hierfür haben wir gemeinsam mit dem Solidaritätsnetzwerk ein Bündnis gegründet, dessen erste gemeinsame Aktion eine Intervention beim Schulstreik von Fridays for Future am 25.09.20 darstellte. Weitere Aktionen sind geplant, die nächste wird gegen einen Aufmarsch des „Dritten Wegs“ am 03.10.20 stattfinden.

Zweifellos ist das nur ein kleiner Schritt im Kampf um die Bewegung, die nötig ist, sich den Angriffen von Kapital und Regierung erfolgreich entgegenzustellen. Wir müssen daher versuchen, diesen Ansatz zu verbreitern und mit anderen, ähnlichen Initiativen zu verbinden.

Nur so wird es möglich sein, die unerlässliche Beteiligung bürokratisch kontrollierter und reformistisch dominierter Massenorganisationen zu erzwingen. Ohne die Millionen, die unter Kontrolle von Gewerkschaftsführungen stehen, oder Hunderttausender, die noch immer auf SPD und Linkspartei hoffen, werden wir nämlich nicht in der Lage sein, die Kraft unserer Klasse, der ArbeiterInnen, zu entfalten und tatsächlich wirkungsvoll Widerstand gegen die Krise zu leisten.

Unsere Vorschläge für eine Bewegung gegen die Krise lauten:

Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin! 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!
  • Öffnung der Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Schulen, Umsetzung von Schutz- und Hygieneplänen unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit stehen! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich! Mindestlohn von 15 Euro/Stunde – Mindesteinkommen für Arbeitslose und RentnerInnen in der Höhe von 1.600 Euro/Monat!
  • Keine Milliardengeschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Keine Rendite mit der Miete! Für die Aussetzung aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co.! Nutzung von Leerstand, um Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen Räume zur Verfügung zu stellen!
  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle! Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe!
  • Nein zu allen Einschränkungen des Demonstrations-, Versammlungs- und Streikrechts!



Krise und Klassenkampf: Warum wir eine Antikrisenbewegung brauchen

Martin Suchanek, Neue Internationale 249, September 2020

2020 ist von Pandemie und Krise geprägt. Vor unseren Augen entfaltet sich der tiefste ökonomische Einbruch seit den 1930er Jahren, wenn nicht in der Geschichte des Kapitalismus. Fast alle Länder der Welt befinden sich in einer Rezession, deren Dauer noch immer unabsehbar ist. In diesem Jahr soll die Weltwirtschaft (gerechnet als Summe aller Bruttoinlandsprodukte) nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds um durchschnittlich 4,9 % schrumpfen. So die Einschätzung vom Juni 2020 – und diese unter der optimistischen Annahme, dass es zu keiner 2. Welle des Corona-Virus im Herbst kommt.

Die Pandemie hat die Krise zwar nicht verursacht, wirkt dabei aber wie ein Katalysator – und wird das auch weiter tun, insbesondere was den Einbruch des Welthandels betrifft.

Die Folgen für die Lohnabhängigen, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, große Teile des KleinbürgerInnentums und die Mittelschichten sind verheerend. Die Krise wird eine massive Vernichtung von Kapital erfordern, von Bereinigung der Konkurrenz und damit den Kampf um die Neuaufteilung von Märkten und geostrategischen Einflussgebieten zwischen den imperialistischen Kapitalien und Mächten – USA, China, aber auch Deutschland, Russland, Frankreich, Britannien, Japan – wie auch wichtigen eigentlich halb-kolonialen Regionalmächten – Indien, Türkei, Brasilien, … – massiv verschärfen.

Selbst in den USA, dem nach wie vor reichsten und mächtigsten kapitalistischen Land, verloren über 40 Millionen ihre Jobs. In den vom Imperialismus beherrschten, halb-kolonialen Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und Osteuropas werden die Folgen noch weitaus verheerender ausfallen.

Lage in Deutschland

Allein aus diesen Gründen sollte die Schaffung einer Anti-Krisenbewegung auf der Hand liegen. Doch die letzten Monate zeigen, dass dies auf beachtliche Schwierigkeiten stößt.

Dabei hat die Krise natürlich auch Deutschland und die EU erfasst. Das BIP von deren Mitgliedsstaaten soll allein 2020 um über 10 % schrumpfen. Für Deutschland ist ein Einbruch von nur 7,8 % prognostiziert.

Zweifellos verfügt der hiesige Imperialismus aufgrund der Weltmarktstellung des deutschen Kapitals, aber auch der extremen Arbeitsproduktivität, eines riesigen Billiglohnsektors und damit einer hohen Ausbeutungsrate über vergleichsweise große Konkurrenzfähigkeit und größere Reserven als viele andere Staaten. Jedenfalls konnte die Bundesregierung ein milliardenschweres Konjunkturprogramm auflegen, Milliarden zur Rettung strategisch wichtiger Unternehmen wie der Lufthansa bereitstellen und die Kurzarbeit bis Ende 2021 verlängern. Im Vergleich zu anderen Ländern erwies sich auch das Gesundheitssystem als weniger kaputtgespart.

Die Regierung beglückwünscht sich dazu, dass sie das Land bisher „gut“ durch die Krise geführt hätte. Selbst die parlamentarische Opposition – mit Ausnahme der AfD, die im Moment jedoch mit eigenen Machtkämpfen zu tun hat – weiß nicht recht, ob sie der Einschätzung der Regierung zustimmen oder diese kritisieren soll. Furchterregend sind die „Kritiken“ von Grünen, Linkspartei und FDP für die Große Koalition jedenfalls nicht. Die Unternehmerverbände sind mit der Regierung Merkel weitgehend zufrieden. Auch die massive Neuverschuldung betrachten sie als alternativlos – erhalten doch die Unternehmen den Löwenanteil der Gelder.

Auch der EU-Haushalt und die noch vor einem Jahr undenkbare gemeinsame Verschuldung erfreuen sich nicht nur großkoalitionärer Unterstützung, sondern stoßen im Bundestag, bei Kapital und Gewerkschaften auf wenig Einwände.

Auch wenn die Oppositionsparteien offiziell die Politik der nationalen Einheit unter Corona für beendet erklärt haben, so wirkt diese nach. CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne bringen sich für den Wahlkampf 2021 in Stellung und schließen verschiedenste Koalitionen nicht aus. Die SPD bringt zwar auch eine „linke“ Regierung mit Grünen und Linkspartei ins Spiel – und ernennt zugleich das Gesicht des rechten Flügels zum Kanzlerkandidaten. Doch so kann sie sich zumindest an einer etwaigen „Transformationskoalition“ abarbeiten und noch ein Stück weiter zur „Mitte“ rücken.

Gewerkschaften

Entscheidend ist freilich, dass die Gewerkschaften einen zentralen Teil des nationalen Schulterschlusses in der Krise mit zu verantworten haben. Gegen die drohenden Massenentlassungen, Kürzungen, Flexibilisierung usw. setzen sie verbissen auf SozialpartnerInnenschaft, „gerechte Verteilung der Lasten“, Kurzarbeit und „europäische Zusammenarbeit“ – nicht der ArbeiterInnen und Unterdrückten, sondern der bürgerlichen Regierungen und der EU-Kommission.

Die sozialdemokratisch kontrollierten und geführten Gewerkschaften und die Betriebsräte in den Großunternehmen erweisen sich als entscheidende soziale Stütze der kapitalistischen Krisenpolitik der Großen Koalition.

Natürlich bedeutet das nicht, dass es nicht auch bedeutende Konflikte zwischen den einzelnen Kräften des nationalen Schulterschluss gäbe. So preschen diverse Unternehmerverbände mit massiven Forderungen nach Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen, einer „Aussetzung“ des Mindestlohns für besonders „arme“ Betriebe, … vor. Es ist kein Zufall, dass diese Forderungen insbesondere von kleineren Kapitalen und aus dem KleinbürgerInnentum  kommen, weil sie in diesen Formen der Verschärfung der Ausbeutung (Erhöhung des absoluten Mehrwerts) die einzige unmittelbar greifbare Form sehen, ihre Unternehmen am Leben zu halten.

Umgekehrt wissen auch die Großkapitale, dass zuverlässige, also partnerschaftliche Gewerkschaften und Betriebsräte in Krisenzeiten viel wert sein können, um den Betriebsfrieden zu sichern, um Strukturanpassung und Umstellung der Produktion zu gewährleisten. Sie kennen außerdem ihre „PartnerInnen“ als Menschen, die sich für „ihr“ Unternehmen ins Zeug legen und gern zu Kompromissen bereit sind.

Allein, die kommende Krise wird diese Kompromissfähigkeit auf die Probe stellen, nicht weil die Bürokratie diese aufkündigen wollte, sondern weil die kapitalistische Konkurrenz ein historisches Maß an Personalabbau, Umstrukturierung, Veränderung der Produktion verlangen wird und damit auch die sozialpartnerschaftliche Regulierung an den Rand ihrer Möglichkeiten bringt.

Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen sind sich dieser Spannung bewusst. Die Führungen von ver.di und IG Metall wissen, dass sie ihren Mitgliedern nicht nur sozial gestalteten Verzicht bieten können, sondern zumindest auch so tun müssen, dass sie etwas im Interesse der Lohnabhängigen bewegen wollen. Das betrifft einerseits das scheinbare Zaubermittel Kurzarbeit. Andererseits spiegeln das auch Tarifforderungen wie 4,8 % in der Tarifrunde öffentlicher Dienst wider wie die nach einem bundesweiten Manteltarifvertrag im öffentlichen Personennahverkehr oder nach einer 4-Tage-Woche in der Metall- und Elektroindustrie. Wenn die IG Metall-Führung dabei im Voraus auf vollen Lohnausgleich und erst recht auf Personalausgleich verzichten will, so belegt dies, wie sehr diese Form von Arbeitszeitverkürzung im Rahmen der sozialpartnerschaftlichen Logik bleibt.

Hoffnung auf das Kapital

Letztlich hofft nicht nur Olaf Scholz, sondern hoffen auch alle Gewerkschaftsapparate und die gesamte SPD, dass die Wirtschaft durch die Regierungsmaßnahmen mit einem „Wumms“ aus der Krise kommt. Im Klartext heißt das: Sie setzen auf die überlegene Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals, so dass mit dem „Wumms“ Unternehmen anderer Länder plattgemacht oder Extraprofite durch die Ausbeutung von Arbeitskräften in anderen Regionen erzielt werden.

Das ist jedoch ungewiss. Erstens verfolgt nicht nur der deutsche Imperialismus diese „Idee“. Auch Länder wie China, Japan, die USA und viele mehr werden das versuchen – und das heimische Kapital hat dabei keineswegs die besten Karten. Zweitens schrumpfte der Weltmarkt in der Krise dramatisch und wird angesichts der Pandemie, aber auch der Tendenz zum Protektionismus und zur ökonomischen Blockbildung weiter viel volatiler bleiben als vor der Krise. Das macht auch verständlich, warum die Regierung einen neuen Anlauf zur kapitalistischen Einigung der EU macht, weil diese als ökonomischer Raum, als erweiterter „Heimathafen“ für das deutsche Kapital fungieren kann.

Daraus können wir in jedem Fall ersehen, dass sich die Partnerschaft zwischen Gewerkschaften, SPD einerseits, CDU/CSU und Unternehmerverbänden (und in gewisser Weise auch mit Grünen und FPD) andererseits keineswegs nur auf betriebliche und gewerkschaftliche Belange erstreckt, sondern auch auf die Sicherung der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus.

Im Grunde würde auch die Linkspartei gerne als linker Flügel dabei mitspielen. Die anderen  trauen ihr aber nicht so recht, weil es ihnen zu riskant erscheint, der Linkspartei ein Mitsprachrecht in außenpolitischen, geo-strategischen und EU-politischen Fragen einzuräumen. Sie gilt noch zu sehr als Friedenspartei. Wie die SPD vor über 100 Jahren und die Grünen im Jugoslawienkrieg gezeigt haben, kann das sehr schnell ins Gegenteil umschlagen. Doch selbst wenn die Linkspartei sich weiter verrenkt, so wird sie kurzfristig für eine Regierung auch nicht gebraucht. Umso blamabler ist es, dass sie selbst in dieser Lage einer imaginären Reformkoalition nachläuft, statt sich wenigstens als kämpferische, links-reformistische Partei zu präsentieren.

Bremsen

All diese Faktoren erklären, warum die Führungen der Gewerkschaften und die reformistischen Parteien jede Bewegung blockieren und, wo diese unvermeidlich ist, diese von oben kontrollieren und beschränken oder ins Leere laufen lassen wollen. Dieses Problem wird sich sicherlich hinsichtlich der kommenden Tarifrunden stellen. Andererseits müssen linke GewerkschafterInnen und linke Organisationen in diese eingreifen, um der Gewerkschaftsführung die Kontrolle des Kampfes zu erschweren. Eine andere Methode konnten wir bei Voith in Sonthofen beobachten. Die IG Metall konnte dort einen monatelangen Streik nicht verhindern. Aber sie unterstützte ihn nicht, ließ ihn so langsam an seine Grenzen stoßen, so dass er in einer Niederlage endete. Diese Taktik, Streiks formell zu unterstützen, aber auf den Einzelbetrieb beschränkt stattfinden zu lassen, kommt in der aktuellen Situation einem Sterben auf Raten gleich, weil Schließungen einzelner Betriebe eines Konzerns auf lokaler Ebene besonders schwer zu verhindern sind, weil das Kräfteverhältnis und auch die Möglichkeit, ökonomischen Druck aufzubauen, in einer Krise schlechter sind als in Phasen der Expansion des Kapitals.

Das Problem der Kontrolle und Verhinderung von Bewegungen und Kämpfen beschränkt sich natürlich nicht auf die Gewerkschaften. Bei Fridays for Future (FFF) spielt die Grüne Partei eine vergleichbare, in gewisser Weise noch beschämendere Rolle. Die Spitzen der Gewerkschaften und Betriebsräte sind wenigstens formal gewählt, die Führung von FFF hat sich einfach selbst qua „Geburtsrecht“ fest etabliert, eine Konferenz, eine Wahl oder demokratische Kontrolle gab es nie. In den Gewerkschaften ist es auch kein Geheimnis, dass der Apparat und der gesamte Laden letztlich sozialdemokratisch kontrolliert wird. Die Parteibücher und Verbindungen zur SPD sind durchaus bekannt. Bei FFF wurde lange behauptet, dass die Bewegung „überparteilich“ sei, um dann zu erfahren, dass diese „überparteilichen Menschen“ wie Luisa Neubauer für die Grünen zum Bundestag kandidieren.

Wo bleibt die „radikale“ Linke?

All das erklärt auch, warum sich die rechten Hygiene-Demos von wirren QuerdenkerInnen bis zu Nazis als Pseudo-Opposition präsentieren konnten, die vor allem unter kleinbürgerlichen Schichten zu fischen versuchen.

Die antirassistischen Massendemonstrationen im Juni in Solidarität mit Black Lives Matter, aber auch gegen das Rassismusproblem in Deutschland selbst verdeutlichten, dass auch in Corona-Zeiten große Mobilisierungen und Aktionen möglich sind. Das Anwachsen der neu-rechten Demos im August macht aber auch klar, dass diese entstehende kleinbürgerliche, reaktionäre Bewegung nicht einfach verschwinden wird oder wegdemonstriert werden kann. Letztlich muss ihr der soziale Nährboden entzogen, eine Massenbewegung gegen die Verarmung, Verelendung, Arbeitslosigkeit … in den Betrieben, im öffentlichen Dienst, an den Unis und Schulen, in den Wohnvierteln aufgebaut werden.

Von den Apparaten der ArbeiterInnenbewegung können wir die Initiative dazu nicht erwarten, so wichtig es auch ist, ihre Mitglieder, ihre Basis zu gewinnen und zu mobilisieren. Dazu muss die „radikale“ Linke, ob nun klassenkämpferische GewerkschafterInnen, MieterInnenbewegung, AntirassistInnen, Umweltbewegung, … jedoch selbst eine politische Initiative ergreifen.

An Einzelkämpfen, Mobilisierungen für bestimmte Themen, gegen Räumungen, gegen Braunkohlekraftwerke oder auch rassistische und faschistische Angriffe, selbst an Warnstreiks oder einzelnen betrieblichen Abwehrkämpfen wird es nicht mangeln. Alle diese verdienen und brauchen Solidarität und Unterstützung.

Für sich allein werden sie jedoch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht verändern. Das ist angesichts der geringen Größe der Kräfte links von der Linkspartei, der „radikalen Linken“ und linker GewerkschafterInnen auch nicht von diesen zu verlangen.

Aber sie können die Initiative für ein Aktionsbündnis ergreifen, das alle wichtigen politischen, gesellschaftlichen und betrieblichen Aspekte des Kampfes gegen die Krise bündelt und zusammenfasst. Eine solche Kraft wäre natürlich noch immer zu schwach, die Angriffe von Kapital und Regierung zu stoppen, ein Antikrisenprogramm im Interesse der Masse der Bevölkerung durchzusetzen, den Kampf gegen alle Entlassungen zu führen, Betriebsschließungen zu verhindern, gleiche Rechte für alle, die hier leben, durchzusetzen usw. usf.

Aber eine solche Kraft könnte als Hebel fungieren, um den Einfluss des Reformismus und der Gewerkschaftsapparate über die Klasse in Frage zu stellen und die Gewerkschaften, die Linkspartei, ja selbst Teile der SPD und damit ihre AnhängerInnen zur Aktion zu zwingen.

Wo beginnen?

Angesichts dieser Situation müssen wir die Frage ins Zentrum rücken, wie wir den notwendigen Klassenwiderstand entfalten. Wenn wir nicht anfangen, Widerstand aufzubauen, werden seitens des Kapitals Fakten geschaffen. Dabei ist es jetzt unsere Aufgabe, Antworten auf die aktuellsten Fragen zu geben: Wer verhindert die Zwangsräumung, wenn man aufgrund von Kurzarbeit die Miete nicht zahlen kann? Wie retten wir die Geflüchteten, die aktuell an der EU-Außengrenze zum Tode verurteilt werden? Wie wehren wir uns gegen Entlassungen und Sparmaßnahmen?

Wir müssen jetzt anfangen, Antworten auf diese Fragen zu geben – auch als kämpferische Minderheit. So können wir für größere Teile der Lohnabhängigen und Aktive sozialer Bewegungen sichtbar werden, Orientierung vermitteln und zu einem Sammelpunkt des gemeinsamen Handelns geraten.

Entscheidend werden dabei Forderungen sein, um eine gemeinsame Bewegung aufzubauen. Die drängendsten Fragen für Millionen Lohnabhängige müssen dabei im Zentrum stehen. Wir schlagen folgende Punkte für die Neuformierung einer Antikrisenbewegung vor:

Wir zahlen nicht für Pandemie und Krise!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin! 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!
  • Öffnung der Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Schulen, Umsetzung von Schutz- und Hygieneplänen unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit stehen! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Keine Milliarden-Geschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Keine Rendite mit der Miete! Für die Aussetzung aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co.! Nutzung von Leerstand, um Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen Räume zur Verfügung zu stellen!
  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle! Selbstverteidigung gegen rassistische und faschistische Angriffe!

Dafür müssen wir aktiv werden. So können wir unsere Forderungen und die Verteidigung demokratischer Rechte, einschließlich des Streikrechts, miteinander verbinden. Unmittelbar geht es darum, all jene zu vereinen, die beim nationalen Schulterschluss von Kapital und Kabinett nicht weiter mitmachen wollen, all jene, die im Betrieb, an Schule, Uni und im Stadtteil eine neue Antikrisenbewegung aufbauen wollen. Es hilft nichts, darauf zu warten, dass reformistische und gewerkschaftliche Führungen die Initiative ergreifen. Das müssen wir vielmehr selbst tun.




Erster Mai – Versuch einer bundesweiten politischen Bilanz

Martin Suchanek, Infomail 1102, 5. Mai 2020

Vorweg der positive Teil der politischen Bilanz: Trotz eines bundesweiten Demonstrationsverbotes, trotz der je nach Bundesland verschiedenen Beschränkungen von Kundgebungen auf 20–50 Personen beteiligten sich am Ersten Mai tausende Menschen an den linken, gewerkschafts-oppositionellen, klassenkämpferischen, antirassistischen, antimilitaristischen und antikapitalistischen Aktionen.

In Städten wie Stuttgart und München konnten linke Bündnisse Demonstrationen mit 500–600 TeilnehmerInnen faktisch durchsetzen; in Berlin beteiligten sich am Abend gut 3.000 Menschen an der Revolutionären Erster-Mai-Demonstration. In Leipzig versammelten sich auch mehrere Hundert.

Neben diesen größeren Aktionen fanden zahlreiche kleinere Kundgebungen statt, die soziale Fragen (Arbeit, Wohnen), die Solidarität mit den Geflüchteten, die Auswirkungen der Doppelkrise von Corona-Gefahr und Rezession auf Frauen, Jugendliche, ausgegrenzte Menschen, den Kampf der ArbeiterInnenklasse in verschiedenen Sektoren in den Mittelpunkt rückten. Kritik am Kapitalismus, an der Bundesregierung und an der nationalen Abschottung bildete ein zentrales Thema vieler diese kleineren Manifestationen.

Die Gruppe ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION beteiligten sich an einer Reihe dieser Aktionen, in einigen Städten auch als MitorganisatorInnen. Redebeiträge unserer Strömung sind auf den Facebook-Seiten von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION gestreamt und können dort weiter abgerufen werden.

Gewerkschaften?

Die Spitzen des DGB fehlten am Ersten Mai. Sehen wir einmal von peinlichen Pseudoaktionen wie einer Kundgebung von 10 SpitzenfunktionärInnen am Brandenburger Tor  in Berlin ab, so beschränkte sich ihre Aktivität auf eine virtuelle Veranstaltung von mehreren Stunden. Die Demonstrationen der DGB-Gewerkschaften, alle betrieblichen und gewerkschaftlichen Mobilisierungen waren schon vor  Wochen abgesagt worden.

Im Web feierten sich die reformistischen Gewerkschaftsspitzen selbst und stimmten das Hohelied der SozialpartnerInnenschaft an. „Wir streiten dafür, dass die Ungleichheit im Land nicht weiter wächst,“ verkündete DGB-Chef Reiner Hoffmann und machte gleich deutlich, wie er sich das vorstellt: „Das schnelle und entschlossene Handeln der Bundesregierung war richtig, auch die Rettungsschirme für die Wirtschaft unterstützen wir. Jetzt aber kommt es darauf an, Beschäftigung nachhaltig zu sichern und ein gesellschaftliches Auseinanderdriften zu verhindern.“ (Ebenda)

In guter Tradition der Klassenzusammenarbeit agiert die Bürokratie als Bittstellerin. Nachdem das Kapital („die Wirtschaft“) mit Milliarden-Geschenken bedient wurde, soll auch den ArbeiterInnen geholfen werden. Schließlich soll bei der „PartnerInnenschaft“ für alle Klassen etwas abfallen, sinniert Hoffmann. Dann klappt es auch mit dem „Zusammenhalt“ in der Gesellschaft und vor allem im Betrieb, dann können sich alle gemeinsam ins Zeug legen für höhere Anteile auf dem Weltmarkt, dann funktioniert die SozialpartnerInnenschaft wie geschmiert.

Dumm nur, dass die KapitalistInnenklasse ihre Profite nur auf Kosten der „PartnerInnen“ steigern kann, dass sie in der Konkurrenz nur dann bestehen kann, wenn Profitabilität und Ausbeutungsrate stimmen. Die Bourgeoisie, ihre medialen und politischen Sprachrohre warnen folgerichtig davor, dass man den Menschen nicht zu viel versprechen könne. Schließlich könne nicht jede/r gerettet werden, weder am Krankenbett noch was ihren/seinen Lebensunterhalt betrifft. Nur wenn es dem Kapital gut gehe, wenn also die Profite steigen, könne es irgendwann einmal allen gutgehen.

Systematisch spielen die UnternehmerInnenverbände die weiter bestehenden Gefahren der Pandemie, deren internationale Ausbreitung wie die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Welle,  systematisch herunter. Die Hygienevorschriften, die bei der Wiedereröffnung der Geschäfte, Betriebe, Schulen und Verwaltungen beachtet werden sollen, existieren zumeist nur auf dem Papier. Schließlich geht der Profit vor.

Lassen wir einmal beiseite, dass Gesundheit und Wohlbefinden der Masse im Kapitalismus nie hoch im Kurs standen, so sollte es spätestens jetzt auch mancher/m SpitzenvertreterIn der Gewerkschaften dämmern, dass die gegenwärtige Krise den ohnedies immer auf eine Minderheit der Klasse berechneten sozialpartnerschaftlichen Spielräumen den Boden entzieht. Die Große Koalition, die Ideologie der nationalen Einheit, des Zusammenrückens gegensätzlicher Klassenkräfte ist nur das Schmiermittel, mit dem die Lohnabhängigen eingeseift werden sollen, während historische Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse vorbereitet werden.

Die schäbigen Tarif(nicht)abschlüsse, die in Nacht- und Nebelaktionen ohne jede innergewerkschaftliche Diskussion von der Bürokratie ausgehandelt wurden, bedeuten nicht nur Verrat an den Interessen der Lohnabhängigen. Der vorauseilende kampflose Verzicht auf Lohnerhöhungen, das „Aussetzen“ von Tarifrunden wie im Nahverkehr hilft dem Kapital nicht nur ökonomisch – es ermutigt geradezu zu den nächsten großen Angriffen.

Dass die Mai-Kundgebungen des DGB nur virtuell stattfanden, spricht Bände über den Verfall und die Blauäugigkeit seiner Führungen. Am Beginn einer weltweiten Pandemie und der größten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren, deren beider Kosten Staat und Kapital auf die Lohnabhängigen abwälzen wollen, zieht sich die Gewerkschaftsbürokratie in den virtuellen Raum zurück, als ob es keinen Unterschied mache, ob Hunderttausende demonstrieren oder online Schönwetterreden abspulen.

Passivität ermutigt die Rechten

Die politische Passivität und das fatalistische Hoffen auf SozialpartnerInnenschaft und Regierung ermutigen leider auch reaktionäre kleinbürgerliche, rechts-populistische oder gar faschistische Kräfte, sich als pseudoradikale Opposition zu gebärden.

Wären hunderttausende GewerkschafterInnen am Ersten Mai auf die Straße gegangen – und das wäre auch bei Einhaltung des nötigen Sicherheitsabstands möglich gewesen –,  hätten die Lohnabhängigen das öffentliche Bild in zahlreichen Städten geprägt. Die rechten, sog. „Hygienedemos“ am Berliner Luxemburgplatz oder der reaktionäre kleinbürgerliche Aufmarsch „Querdenken 711“ in Stuttgart wären unerfreuliche Randerscheinungen geblieben.

Der Zulauf dieser Demonstrationen stellt auch ein vernichtendes Urteil für die Führungen der Gewerkschaften, von SPD und Linkspartei dar. Die Sozialdemokratie, einschließlich ihres vorgeblich linken Führungsduos, präsentiert sich als Merkels loyalste Gefolgschaft. Die SPD-MinisterInnen dürfen ein paar kleine Zugeständnisse wie die Erhöhung des KurzarbeiterInnengeldes präsentieren – und nicken ansonsten den CDU-Kurs ab. Die Gewerkschaftsspitzen und ein großer Teil der Führung der Linkspartei begleiten das zumeist unkritisch.

Zugleich treibt die Krise jedoch auch einen großen, um seine Existenz fürchtenden Teil des mittleren und kleinen Kapitals, von KleinbürgerInnen aller Art, von lohnabhängigen Mittelschichten und sogar Teilen der ArbeiterInnenaristokratie oder demoralisierter ArbeiterInnen zu rechts-populistischen Scheinprotesten.

Reaktionäre Kritik

Dort vermengt sich die klassenübergreifende Angst der „kleinen Leute“ mit Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten (also auch „halben“ Lügen“), Irrationalismus.  Garniert wird all das mit Forderungen nach „Demokratie“, „Freiheit“, „Selbstbestimmung“ – allesamt scheinbar unschuldige Werte der bürgerlichen Gesellschaft.

Ihre Klage greift dabei zwar reale Probleme und Missstände – soziale Polarisierung, Verarmung, Stützung der Reichen, … – auf. Diese werden jedoch in ihren Ursachen nicht erfasst, sondern mit einer kleinbürgerlich-reaktionären Weltsicht verbunden. Die reale Gefahr der Pandemie wird systematisch, pseudo-wissenschaftlich und verschwörungstheoretisch relativiert, ja geleugnet – durchaus ähnlich dem aberwitzigen Wahn der sog. „KlimaskeptikerInnen“ und deren Wissenschaftsfeindlichkeit.

Hinter dieser Mischung drängt freilich auch das kleinbürgerliche handfeste Geschäftsinteresse hervor. Auf dem Stuttgarter Wasen werden zwar die Grundrechte beschworen und es wird die Einschränkung des Demonstrationsrechts angeprangert. Zugleich erscheint aber die Gewerbefreiheit, der Kauf und Verkauf der Waren als oberste Freiheit überhaupt. Wer sie verletzt, ruiniert das „hart arbeitende“ Gewerbe. Das Recht auf Bierausschank wird zur Sache „der Freiheit“.

Unbewusst, aber umso treffsicherer erkennt der/die WarenproduzentIn, dass Kauf und Verkauf der Waren den realen Gehalt seiner Freiheit darstellen, sein höchstes Menschenrecht – und trifft damit unbewusst den Kern eines realen Verhältnisses, sofern Kauf und Verkauf von Waren tatsächlich eine Grundbedingung der kapitalistischen Produktion und der sich über ihr erhebenden bürgerlichen Gesellschaft darstellen.

Und weil das KleinbürgerInnentum wie alle Mittelklassen und -schichten in der Krise noch mehr durch die Konkurrenz und die Umstrukturierung des Produktionsprozesses an die Wand gedrückt und „deklassiert“ zu werden droht, geht es auf die Barrikaden. Demagogisch und geschickt wendet es sich dabei scheinbar auch gegen das Großkapital und gegen einzelne Hate-Figuren des Establishments wie Bill Gates oder „Gutmenschen“ wie Angela Merkel. Die notwendigen Folgen und Missstände des Kapitalismus werden so fein von einer angeblich heilen Welt der „reinen“ und „ehrlichen“ Marktwirtschaft abgetrennt,, wo es keine Krisen und Shutdowns gebe.

Vor den Karrens des KleinbürgerInnentums

Die Lohnabhängigen, die solchen Mobilisierungen auf den Leim gehen, werden nicht nur durch eine krude Mischung aus sozialen Fragen, Halbwahrheiten und reaktionären Erklärungen geködert. Die KleinunternehmerInnen üben auch den Schulterschluss mit den ArbeiterInnen, indem sie an sie als WarenbesitzerInnen appellieren und ein gemeinsames Interesse anmelden. Sie argumentieren etwa so: „Wenn wir unsere Betriebe wegen der unverantwortlichen Corona-Einschränkungen nicht weiter betreiben können, verlierst Du Deinen Arbeitsplatz. Da wir aber beide ‚arbeiten’ wollen – ich als UnternehmerIn, Du als mein/e Beschäftigte/r – und da Du ohne mich keine Arbeit findest und ich Dich natürlich gern weiter beschäftigen würde, sollten wir gemeinsam demonstrieren, quasi eine Volksfront gegen Regierung und Elite bilden.“

Dass diese reaktionäre Ideologie, die nur zum Preise der politischen Unterordnung der ArbeiterInnen unter das KleinbürgerInnentum zu haben ist, verfangen kann, ja auch verfängt, wird durch die Passivität der Gewerkschaften gefördert. Aber nicht nur das. Auch die jahrzehntelang verbreitete und umgesetzte Politik der SozialpartnerInnenschaft, der Zusammenarbeit der Klassen erleichtert der rechts-populistischen und kleinbürgerlichen Demagogie ihr Spiel. Nachdem die Gewerkschaftsbürokratie und die Sozialdemokratie (und letztlich auch die Linkspartei) immer wieder den Ausgleich, also damit auch die Zusammenarbeit zwischen den Klassen predigen, nachdem die Betriebsräte und die Gewerkschaftsspitzen eng mit „ihren“ Großunternehmen verbunden sind, drängt sich natürlich die Frage auf, was an einem Bündnis mit den „rebellischen“ KleinunternehmerInnen, mit den „WutbürgerInnen“ falsch sein soll, wenn es um „Demokratie“ und „Menschenrechte“ geht.

Hinter den eher zufälligen Führungsfiguren von „Querdenken 711“ wie dem IT-Unternehmer Michael Ballweg oder dem kleinbürgerlichen „Demokratischen Widerstand“ scharen sich auf den Demos offen die organisierten Rechten AfD, NPD oder die Identitäre Bewegung zusammen. Zufallsfiguren wie Ballweg oder die ursprünglichen InitiatorInnen der „Hygiene“-Demos werden von diesen rasch beiseite geschoben, wie in Berlin schon jetzt Woche für Woche beobachtet werden konnte. Die reaktionäre, rabiate Dynamik und Gefahr zeigt sich auch beim Angriff auf ein ZDF-Kamerateam an Rande der rechten Demonstration am 2. Mai in Berlin. Die Polizei rätselt zur Zeit darüber, ob es sich dabei um rechte oder linke „ExtremistInnen“ gehandelt habe. Unstrittig ist jedenfalls, dass diese Aktion einen objektiv reaktionären Charakter trug und, ob nun von „echten“ Rechten oder von komplett verblödeten IdiotInnen durchgeführt, nur irrationalistischen, populistischen und faschistischen Kräften zugutekommen kann.

Es geht aber noch eine andere Gefahr von diesen Demonstrationen aus. VertreterInnen der UnternehmerInnenverbände greifen die Rufe nach „Grundrechten“, „Demokratie“ und „Freiheit“ auf, um gegen die Einschränkung der Produktion, des Handels und der Dienstleistungen mobilzumachen. Die Freiheit des Profits geht vor – und die KapitalistInnen inszenieren sich im Trump-Stil als die echten VolksvertreterInnen. Hinter der demokratischen Fassade verbirgt sich also ein Sammelsurium reaktionärer, kapitalistischer wie kleinbürgerlicher, Interessen, die den Aktionen ihren Stempel aufdrücken.

Wie nahe diese „Volks-Proteste“ am herrschenden Kapitalinteresse orientiert sind, zeigt sich zugleich darin, wie unterschiedlich v. a. die Stuttgarter Demonstration im Vergleich zu linken Aktionen unter den Corona-Bedingungen behandelt wurde. In Frankfurt/Main wurden dutzende DemonstrantInnen am 1. Mai wegen angeblicher Verstöße gegen Auflagen festgenommen. Die Berliner Revolutionäre Erster-Mai-Demonstration konnte nur gegen ein massives Polizeiaufgebot und die repressive Politik des Senats durchgesetzt werden – und das auch nur zeitweilig. Dort knüppelten und prügelten Bullen, unter anderem wurde eine Kameraassistentin des ZDF verletzt. Am Stuttgarter Wasen durften 4.000–5.000 ungestört bei Bier und Volksfeststimmung kleinbürgerlich-reaktionären Ergüssen lauschen.

Die klassenkämpferische und radikale Linke

Die DGB-Gewerkschaften waren ein Totalausfall. Dabei zeigen Streiks wie jener bei Voith in Sonthofen, dass es möglich ist auch in Corona-Zeiten zu kämpfen, Streikbruch oder den versuchten Abtransport von Maschinen zu verhindern. Mit ihrer Passivität lassen die Gewerkschaftszentralen auch diese KollegInnen schmählich in Stich.

Einige wenige kämpferische Verwaltungsstellen und linke gewerkschaftliche Zusammenschlüsse wie die „Vereinigung kämpferischer GewerkschafterInnen“ (VKG), ver.di-AktivistInnen im Gesundheitswesen oder der Arbeitskreis Internationalismus der IG Metall Berlin retteten am 1. Mai die Ehre der Bewegung. Gemeinsam mit diesen Kräften spielte die radikale, klassenkämpferisch, antikapitalistisch, antirassistisch und internationalistisch ausgerichtete Linke diesmal eine sehr positive Rolle.

Aufgrund der zahlreichen, wenn auch oft kleineren Aktionen lässt sich eine Gesamtzahl der TeilnehmerInnen schwer schätzen. Es waren aber bundesweit deutlich mehr als 10.000, auch eindeutig mehr, als die Rechten mobilisieren konnten. So fanden in Städten wie Berlin dutzende linke Kundgebungen am Ersten Mai statt, darunter eine der VKG auf dem Alexanderplatz oder eine sehr beeindruckende vor dem Vivantes-Klinikum am Urbanhafen. Die zahlreiche Aktionen in der gesamten Bundesrepublik verdeutlichten, dass einen großen Teil der politisch heterogenen „radikalen“ Linken in der aktuellen Situation das Bedürfnis eint, aktiv zu werden. Dabei ging es am 1. Mai nicht nur um Gesundheit und Wirtschaftskrise, sondern sehr viele Facetten der aktuellen Lage wurden thematisiert. Rassismus, Abschiebungen und Rechtsruck, die Lage der Jugend und vor allem von SchülerInnen, Anti-Militarismus und Anti-Sexismus sowie die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Klimawandel bildeten immer wiederkehrende thematische Bestandteile der Kundgebungen.

Natürlich wurden auch die Beschneidung demokratischer Rechte, der zunehmende Autoritarismus und die Aushebelung des Demonstrationsrechtes scharf kritisiert. Aber die linken Kundgebungen verbanden dies mit fortschrittlichen Zielen, mit den Interessen der Lohnabhängigen und Unterdrückten, von Bewegungen wie den Frauenstreiks der letzten Jahre, Fridays for Future und der Klimagerechtigkeitsbewegung – und oft auch mit einer Kritik am Kapitalismus als ausbeuterischem System und der Notwendigkeit des Kampfes für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Kurzum, sie unterschieden sich qualitativ von den reaktionären Aufmärschen, ja stellten ihr Gegenstück dar.

Die 10.000 oder mehr AktivistInnen, die bei diesen Kundgebungen und Demonstrationen sichtbar wurden, stellen ein wichtiges klassenkämpferisches, antikapitalistisches Potential dar. Ihm kommt in der nächsten Periode eine wichtige politische Bedeutung für den Kampf gegen die Auswirkungen der Krise zu. Es kommt darauf an,  sich dieser Möglichkeiten,  Aufgaben und politischen Verantwortung auch bewusst zu werden.

Angesichts der historischen Krise des Kapitalismus, die sich zurzeit entfaltet, drohen auch historische Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse, die nur durch Massenaktionen – Besetzungen, Streiks bis hin zu politischen Generalstreiks – abgewehrt werden können. Die AktivistInnen, die am Ersten Mai auf der Straße waren, brachten diese Notwendigkeit mehr oder weniger bewusst zum Ausdruck. Sie signalisierten auch, dass sie trotz Repression und Beschränkung zum Kampf bereit sind.

Potential nutzen – Anti-Krisenbewegung aufbauen!

Dies sind gute Voraussetzungen für weitere Aktionen. Andererseits müssen wir uns vor Augen halten, dass diese Schicht zwar auf eine weit größere Anzahl von Sympathisierenden zurückgreifen kann, insgesamt aber eine, wenn auch durchaus beachtliche, Minderheit in der Klasse darstellt.

Sie kann ihr Potential in den nächsten Monaten unter Beweis stellen, wenn sie die politische Initiative ergreift und weiterführt, die sie am Ersten Mai ansatzweise gezeigt hat. Dazu müssen die DemonstrantInnen und ihre SympathisantInnen zu einer organisierten Kraft, zum Kern einer Bewegung werden. Dazu müssen sie vor Ort in Anti-Krisenbündnissen und beim Aufbau der Vernetzung kämpferischer GewerkschafterInnen vereint werden.

Solche Strukturen brauchen wir, um lokal, regional, bundesweit und international eine Massenbewegung gegen die Auswirkungen der Krise aufzubauen – eine Bewegung, die selbst mobilisiert, die demokratischen Rechte verteidigt, die Basisstrukturen im Stadtteil und im Betrieb, an der Uni oder in der Schule aufbaut. Die kämpferische Minderheit, die am Ersten Mai auf der Straße war, könnte eine Initiatorin einer solchen Bewegung sein und zugleich auch eine Kraft bilden, die die Massenorganisationen der Klasse, die Gewerkschaften, reformistische Parteien zur Aktion zwingt oder durch Aufforderungen zur gemeinsamen Aktion mehr und mehr Mitglieder dieser Organisationen in die Bewegung zieht.

Der Aufbau einer Anti-Krisenbewegung, von Anti-Krisenbündnissen stellt sich zur Zeit für die gesamte Linke als Aufgabe – sie muss angegangen werden oder das Potential des Ersten Mai droht, ungenutzt zu verpuffen.

Zugleich erfordert der akute Charakter der Krise eine Diskussion über Bündnisse hinaus. Er wirft die Frage nach einem politischen, revolutionären Programm der ArbeiterInnenklasse auf, das den Kampf gegen Pandemie und Krise mit dem gegen den Kapitalismus verbindet. Die Aufgabe von RevolutionärInnen besteht darin, den Aufbau einer Bewegung gegen die Krise und den Aufbau einer revolutionären Partei nicht als Gegensatz, sondern als einander bedingende und befruchtende Ziele zu begreifen. Lasst uns die Sache angehen!




Wir zahlen nicht für Virus und Krise! Anti-Krisenbewegung aufbauen!

Martin Suchanek, Neue International 246, Mai 2020

Über vier Millionen KurzarbeiterInnen, eine tiefe Rezession, drohende Massenentlassungen bei gleichzeitiger Überarbeitung im Gesundheitswesen oder im Einzelhandel verdeutlichen: Die aktuelle Krise des Kapitalismus stellt eine des Gesamtsystems, der gesamten Produktion und Reproduktion dar. Schon heute sind die Schwächsten und Unterdrücktesten (Geflüchtete, Alte, Kranke, Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, …) am härtesten betroffen. Die Ausgangssperren bewirken z. B. gleichzeitig einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt, die insbesondere gegen Frauen und Kinder ausgeübt wird.

Die Krise wird die gesamte Klasse der Lohnabhängigen mit extremer Härte treffen – FacharbeiterInnen in der Großindustrie, prekär Beschäftigte, Geflüchtete oder noch einigermaßen „gesicherte“ Teile im öffentlichen Dienst. Die Kosten dieser Krise – und damit die, die das Kapital und sein Staat uns aufhalsen wollen – werden viel größer sein als 2008/2009. Dies wird aktuelle Probleme zusätzlich verstärken: ob Rechtsruck, Umweltzerstörung, Kriegsgefahr oder Angriffe auf das Arbeitsrecht.

Widersprüchliche Lage

All jene, die dagegen Widerstand leisten wollen, befinden sich in einer widersprüchlichen Lage. Wir stehen nicht nur vor dem Problem der Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit und der Aushebelung demokratischer Rechte. Wir stehen auch vor dem Problem, dass zur Zeit die Regierung die öffentliche Meinung bestimmt. Merkel ist es – nicht zuletzt mithilfe von SPD und DGB-Gewerkschaften – gelungen, eine Art nationalen Schulterschlusses zu inszenieren. Praktisch alle Medien, alle Landesregierungen sowie die Führungen von UnternehmerInnenverbänden und Gewerkschaften unterstützen ihn. Im Grunde macht auch die parlamentarische Opposition mit – einschließlich großer Teile der Linkspartei.

Das wird sicher nicht so bleiben. Schon heute stellen Teile der AfD und der extremen Rechten das auf reaktionäre Weise in Frage. UnternehmerInnenverbände fordern nicht nur Milliarden für das Kapital, sondern auch die Abschaffung von Rechten der ArbeiterInnenklasse, „Streichung“ des Urlaubs. Viele planen Massenentlassungen usw.

Gleichzeitig herrschen in der ArbeiterInnenklasse und selbst in größeren Teilen der Linken das Hoffen auf Staat und SozialpartnerInnenschaft oder Lähmung und Schweigen vor. Und das, obwohl die drohende soziale, gesellschaftliche Katastrophe durchaus klar sichtbar wird.

Wie Widerstand entfalten?

Angesichts dieser Situation müssen wir die Frage ins Zentrum rücken, wie wir den notwendigen Klassenwiderstand entfalten. Wenn wir nicht anfangen Widerstand aufzubauen, werden seitens des Kapitals Fakten geschaffen. Dabei ist es jetzt unsere Aufgabe, Antworten auf die aktuellsten Fragen zu geben: Wer verhindert die Zwangsräumung, wenn man aufgrund von Kurzarbeit die Miete nach August nicht zahlen kann? Wie retten wir die 40.000 Geflüchteten, die aktuell an der EU-Außengrenze auf den griechischen Inseln zum Tode verurteilt werden? Wie wehren wir uns gegen Entlassungen und Sparmaßnahmen?

Wir müssen jetzt anfangen, Antworten auf diese Fragen zu geben – auch als kämpferische Minderheit. So können wir für größere Teile der Lohnabhängigen und Aktive sozialer Bewegungen sichtbar werden, Orientierung vermitteln und zu einem Sammelpunkt des gemeinsamen Handelns geraten. Hierbei kommt den linken und klassenkämpferischen Demonstrationen am Ersten Mai eine wichtige, mobilisierende Funktion zu. Sie setzen ein sichtbares Zeichen gegen den „nationalen Schulterschluss“ und stellen eine sichtbare Alternative zu rechten, verschwörungstheoretisch inspirierten Aktionen dar.

Diese Aktionen sollen zu einem Ausgangspunkt für die Bildung von Antikrisenbündnissen auf lokaler und bundesweiter Ebene werden. Entscheidend werden dabei Forderungen sein, um die herum wir zum Ersten Mai und darüber hinaus mobilisieren, um eine gemeinsame Bewegung aufzubauen. Die drängendsten Fragen für Millionen Lohnabhängige müssen dabei im Zentrum stehen. Wir – ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION – schlagen folgende Punkte für die Neuformierung einer Antikrisenbewegung vor:

Gesundheit vor Profite!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin! 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!
  • Keine Wiederöffnung der Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen und Schulen ohne Schutz- und Hygieneplan unter Kontrolle der Beschäftigten!

#stayathome – wir zahlen nicht!

  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit stehen! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Keine Milliarden-Geschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!

Keine Rendite mit der Miete!

  • Für die Aussetzung aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co.! Nutzung von Leerstand, um Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen Räume zur Verfügung zu stellen!

#leavenonebehind

  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle!

Dafür müssen wir aktiv werden – über den Ersten Mai hinaus. So können wir unsere Forderungen und die Verteidigung demokratischer Rechte, einschließlich des Streikrechts, miteinander verbinden. Unmittelbar geht es darum, all jene zu vereinen, die beim nationalen Schulterschluss von Kapital und Kabinett nicht weiter mitmachen wollen, all jene, die im Betrieb, an Schule, Uni und im Stadtteil eine neue Antikrisenbewegung aufbauen wollen.




Erster Mai 2020 – Wir zahlen nicht für Virus und Krise!

Diskussionsbeitrag von ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, Infomail 1100, 22. April 2020

Während im Mai Produktion und Schulen wieder anlaufen sollen, sollen am Ersten Mai alle Kundgebungen und Demonstrationen untersagt bleiben. Ein generelles Demo-Verbot lässt sich zwar bundesweit nicht mehr durchsetzen, aber die Einschränkungen laufen faktisch auf das Verbot von Massendemonstrationen hinaus, auch wenn die Menschen noch so sehr auf Ansteckungsgefahr achten würden. In vielen Städten und Bundesländern wie z. B. in Berlin droht selbst kleinen Aktionen massive Repression. Für uns – und wohl auch für einen großen Teil der radikalen Linken oder klassenkämpferischer ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen – stellt die entscheidende Frage eigentlich weniger dar, ob, sondern wie und mit welcher politischen Stoßrichtung wir am Ersten Mai aktiv werden. Die bundesweite Diskussion zur Frage ist daher begrüßenswert – und auch, dass eine Reihe von Gruppierungen und Bündnissen zur Aktion aufruft.

Besondere Bedeutung kommt unserer Meinung nach dabei dem Aufruf der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“ (VKG) zu. Nicht, weil dieser so viel besser als andere wäre, sondern weil es von politisch-strategischer Bedeutung für unsere zukünftigen Kämpfe ist, dass wir die Auseinandersetzung in die Betriebe und Gewerkschaften tragen.

Drohende Katastrophe

Über vier Millionen KurzarbeiterInnen, eine tiefe Rezession, drohende Massenentlassungen bei gleichzeitiger Überarbeitung im Gesundheitswesen oder im Einzelhandel verdeutlichen, dass die aktuelle Krise des Kapitalismus‘ eine des Gesamtsystems, eine der gesamten Produktion und Reproduktion darstellt. Natürlich sind schon heute die Schwächsten und Unterdrücktesten (Geflüchtete, Alte, Kranke, Frauen aus der ArbeiterInnenklasse, …) am härtesten betroffen. Die Ausgangssperren bewirken z. B. gleichzeitig auch einen massiven Anstieg häuslicher Gewalt, die insbesondere Frauen und Kinder trifft.

Es ist absehbar, dass diese Krise die gesamte Klasse der Lohnabhängigen mit extremer Härte treffen wird – ob nun FacharbeiterInnen in der Großindustrie, prekär Beschäftigte oder die noch einigermaßen „gesicherten“ Teile im öffentlichen Dienst. Die Kosten dieser Krise – und damit die, die das Kapital und sein Staat uns aufhalsen wollen – werden viel größer sein als 2008/2009 oder bei den Einschnitten durch die Agenda 2010. Dies wird die aktuellen Probleme noch verstärken: ob Rechtsruck, Umweltzerstörung, Kriegsgefahr oder Angriffe auf Arbeitsrechte.

All jene, die dagegen Widerstand leisten wollen, befinden sich aktuell in einer widersprüchlichen Lage. Wir alle stehen nicht nur vor dem Problem der Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit und der Aushebelung demokratischer Rechte. Wir stehen auch vor dem Problem, dass zur Zeit die Regierung die öffentliche Meinung bestimmt. Merkel ist es – nicht zuletzt mithilfe von SPD und DGB-Gewerkschaften – gelungen, eine Art nationalen Schulterschluss zu inszenieren. Praktisch alle Medien, alle Landesregierungen sowie die Führungen von UnternehmerInnenverbänden und Gewerkschaften unterstützen ihn. Im Grunde macht auch die parlamentarische Opposition mit – einschließlich großer Teile der Linkspartei.

Das wird sicher nicht immer so bleiben. Schon heute stellen Teile der AfD und der extremen Rechten das auf reaktionäre Weise in Frage. Auch UnternehmerInnenverbände fordern nicht nur Milliarden für das Kapital, sondern auch die Abschaffung von Rechten der ArbeiterInnenklasse, „Streichung“ des Urlaubs usw.

Gleichzeitig herrschen in der ArbeiterInnenklasse und selbst in größeren Teilen der Linken das Hoffen auf Staat und SozialpartnerInnenschaft oder Lähmung und Schweigen vor. Und das, obwohl die drohende soziale, gesellschaftliche Katastrophe durchaus klar sichtbar wird.

Wie Widerstand entfalten?

Angesichts dieser Situation müssen wir am Ersten Mai die Frage ins Zentrum rücken, wie wir den notwendigen Klassenwiderstand entfalten. Denn wenn wir jetzt nicht anfangen, Widerstand aufzubauen, dann werden seitens des Kapitals Fakten geschaffen. Dabei ist es jetzt unsere Aufgabe, Antworten auf die aktuellsten Fragen zu geben: Wer verhindert die Zwangsräumung, wenn man aufgrund von Kurzarbeit die Miete nach August nicht zahlen kann? Wie retten wir die 40.000 Geflüchteten, die aktuell an der EU-Außengrenze auf den griechischen Inseln zum Tode verurteilt werden? Wie wehren wir uns gegen drohende Entlassungen und kommende Sparmaßnahmen?

Wir müssen jetzt anfangen, Antworten auf diese Fragen zu geben – auch als kämpferische Minderheit, um für größere Teile der Lohnabhängigen und Aktive sozialer Bewegungen sichtbar zu werden. Wir werden kämpferische ArbeiterInnen, SchülerInnen, MigrantInnen nur schwer für zukünftige gemeinsame Aktionen und Bündnisse gewinnen können, wenn ihnen das Abhalten einer Aktion oder Demonstration als Selbstzweck erscheint.

Die Form kann vielmehr flexibel gehandhabt werden. Zum Schutz der TeilnehmerInnen sollten wir bei Straßenaktionen (z. B. einer Demo) auf Gesichtsmasken und Abstand Halten achten. Das folgt aus unserer Verantwortung für die TeilnehmerInnen. Aber ein Auftreten ist auch notwendig, um den Herrschenden die Scheindebatte möglichst zu erschweren, dass Demos ein besonderes Gesundheitsrisiko darstellen würden (während es Öffnungen von Betrieben und Schulen anscheinend nicht sind).

Entscheidend ist jedenfalls der Inhalt, um den wir für den Ersten Mai mobilisieren. Die drängendsten Fragen für Millionen Lohnabhängige müssen dabei im Zentrum stehen. Wir schlagen folgende zentralen Punkte/Forderungen für den Ersten Mai und für die Neuformierung einer Anti-Krisenbewegung vor:

Gesundheit vor Profite!

  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern und Intensivmedizin. 500 Euro/Monat mehr für alle Beschäftigten in den Pflegeberufen!

#stayathome: Wir zahlen nicht für die Krise!

  • Keine Wiederöffnung der Unternehmen ohne Schutz- und Hygieneplan unter Kontrolle der Beschäftigten!
  • Gegen alle Entlassungen! 100 % Lohnfortzahlung für alle, die in Kurzarbeit sind! Keine Aushebelung von Arbeitszeitbeschränkungen und Arbeitsrecht!
  • Keine Milliarden-Geschenke für die Konzerne – massive Besteuerung von Vermögen und Gewinnen! Entschädigungslose Enteignung der Banken und des Großkapitals unter Kontrolle der Beschäftigten!

Keine Rendite mit der Miete!

  • Für das Aussetzen aller Miet- und Kreditzahlungen für die arbeitende Bevölkerung! Enteignung der großen Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. Nutzung von Leerstand, um die Räume Bedürftigen wie Geflüchteten und Obdachlosen zur Verfügung zu stellen!

leavenonebehind

  • Abschaffung von Lagersystemen und rassistischen Asylgesetzen: Offene Grenzen und StaatsbürgerInnenrechte für alle!

Dafür sollten wir am Ersten Mai aktiv werden. Wir sollten dabei Demonstrationen und Kundgebungen möglichst dort organisieren, wo die Menschen leben und arbeiten, die wir erreichen wollen. Das kann im Kiez (wie in Berlin-Friedrichshain) sein, wir sollten aber unsere Solidarität und Perspektive auch vor Unterkünften von Geflüchteten, vor Kliniken und Krankenhäusern (natürlich nur in Absprache mit den dort Untergebrachten oder Beschäftigten) zum Ausdruck bringen.

So können wir den Ersten Mai zu einem Kampftag für unsere Forderungen und zur Verteidigung demokratischer Rechte – einschließlich des Streikrechts machen. Ein solches politisches Signal zielt darauf ab, unmittelbar all jene zu vereinen, die beim nationalen Schulterschluss von Kapital und Kabinett nicht weiter mitmachen wollen und die im Betrieb, an der Schule, Uni und im Stadtteil eine neue Anti-Krisenbewegung aufbauen wollen.




Frauen und Krise – Great crisis rises up

Leonie Schmidt, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

Die Welt ist in Aufruhr. In vielen Ländern wie zum Beispiel
in Chile, im Libanon oder im Irak existieren Volksbewegungen, die sich
Angriffen auf die Arbeiter_Innenklasse oder korrupten Regierungen widersetzen.
Das Wachstum der Weltwirtschaft verlangsamt sich und die
Angst vor einer erneuten weltweiten Rezession steigt an. Des Weiteren steigen
die Spannungen zwischen großen imperialistischen Mächten wie, besonders
zwischen den USA und China, und drücken sich durch Schutzzölle auf Stahlteile
und Einzelteile für Smartphones etc. aus.

 Politisch-ökonomische Weltlage

2019 befand sich die Weltwirtschaft kurz vor einer Phase der
Rezession. Rückgang bzw. Stagnation des Profits im Vergleich zu vorherigen
Jahren waren allgegenwärtig. Nur wenige Branchen schafften es, eine
Profitsteigerung zu erzielen. 11 Jahre seit Ende des letzten globalen
Wirtschaftsabschwungs 2008 deutet eine Kombination von Faktoren wie
stagnierende oder sinkende Profite, schwache oder rückläufige
Investitionstätigkeit in Kapitalausrüstung, zunehmende Firmenverschuldung,
Protektionismus und Handelskriege darauf hin, dass ein erneuter
Konjunktureinbruch nicht mehr fern ist.

Besonders hart traf es das verarbeitende Gewerbe
(Baugewerbe, Industrie und Handwerk) deren Geschäftsmanagerindex (PMI) weltweit
unter 50 fiel. Dieser gilt als Schwellenwert zwischen Expansion und
Kontraktion. In Deutschland lag dieser bei 40, in den USA und China knapp über
50. Der Dienstleistungssektor hingegen schaffte es, weiterhin seinen Profit zu
steigern. So verhalf dieser Griechenland, das BIP immerhin um 2 % zu
steigern. Laut Analyst_Innen von JP Morgan verlangsamte sich das gesamte
Wachstum der Weltwirtschaft in 2019 aber stark, alle 10 Wirtschaftssektoren waren
davon betroffen. Des Weiteren sank die Mehrwertrate, da die Lohnkosten nicht
durch Gewinne kompensiert werden konnten.

Das Wachstum der Industrieländer als Gruppe dürfte bis 2020
auf 1,4 % sinken, was auch auf die anhaltende Schwäche des verarbeitenden
Gewerbes zurückzuführen ist. Das Wachstum in Schwellen- und Entwicklungsländern
dürfte sich in diesem Jahr auf 4,1 % beschleunigen. Es wird aber nur von
einer verbesserten Leistung einer kleinen Gruppe großer Volkswirtschaften
ausgegangen, von denen einige aus einer Phase erheblicher Schwäche hervorgehen.

Etwa ein Drittel der Schwellen- und Entwicklungsländer (wir
bezeichnen diese als Halbkolonien) wird in diesem Jahr voraussichtlich
zurückfallen, da sich Exporte und Investitionen schwächer entwickeln. Es wird
erwartet, dass sich das US-Wachstum in diesem Jahr auf 1,8 % verlangsamt,
was die negativen Auswirkungen früherer Zollerhöhungen und der erhöhten
Unsicherheit widerspiegelt. Das Wachstum des Euroraums dürfte im Jahr 2020
aufgrund der schwachen industriellen Produktivität auf 1 % nach unten
fallen. Die Erwerbslosenzahlen 2019 in der EU liegen bei 16 Millionen
(6,3 %) und haben damit erst gerade das Vorkrisenniveau 2007 (7,1 %)
unterschritten Die BRD weist zwar das höchste Erwerbstätigkeitsniveau seit der
Wiedervereinigung auf), doch diese Jobs werden immer unsicherer und prekärer.

Allerdings beruhen diese Zahlen auf ungewissen Faktoren und
können sich auch noch verschlechtern, besonders relevant sind hier
Wirtschaftskriege und Spannungen oder ein stärkerer Einbruch des Profits in den
bedeutenden Volkswirtschaften, der auf andere überschwappt.

Vorhersagen

Die Vorhersagen der großen Wirtschaftsanalyst_Innen für 2020
fallen aber allesamt recht positiv aus. Zumindest soll sich die Weltwirtschaft
stabilisieren und etwas erholen, Risiken bleiben aber weiterhin vorhanden. Es
wird vom IMF mit einem Weltwirtschaftswachstum von 3,5 % gerechnet, also
einem leichten Anstieg im Gegensatz zu 2019, welcher mit 3,2 %
vorhergesagt wurde. Die Weltbank hingegen geht nur von einem Wachstum bis 2,5
 % aus.

Die mild optimistischen Vorhersagen der Analyseinstitute für
2020 berufen sich auf der negativen Entwicklungskurve der Weltwirtschaft
entgegenwirkende Faktoren. So konnte ein rezessiver Einbruch der größten
Volkswirtschaften bei Produktion und Investitionen 2019 vermieden werden – zum
Preis niedrigen BIP- und Produktivitätswachstums. Die globalen
Finanzierungskosten befinden sich auf historischem Tiefstand teils aufgrund der
Zentralbankpolitik des „billigen Geldes“ (Nullzins, Quantitative Easing), aber
auch aufgrund geringer Kreditnachfrage durch Staat und Kapital als Folge
ausbleibenden Investments. Aktien- und Wertpapiermärkte erreichen dagegen ein
ungeahntes Hoch. Die Arbeitslosenzahlen bleiben im Gegensatz zur Großen Depression
der 1930er Jahre niedrig.

Der zugrunde liegende tendenzielle Fall der Profitrate muss
über kurz oder lang die entgegenwirkenden Ursachen übertrumpfen. Der Ausbruch
einer neuen Krise wird umso sicherer erfolgen, weil die Geldpolitik darin
versagt hat, die Wachstumsraten von vor 2007 wiederherzustellen. Die letzte
Dekade sah die längste Zeit ohne Rezession, aber auch die mit dem schwächsten
Wirtschaftsaufschwung nach einer solchen. Keynesianisches Gegensteuern durch
gesteigerte Staatsinvestitionen (und –schulden) hatte bereits in den
Konjunkturkrisen zuvor versagt und wird diesmal auf die Barriere der
schwindelerregend gestiegenen Budgetverschuldung stoßen.

Handelskrieg USA-China

Die größten Sorgen bereitet den Analyst_Innen der
Handelskrieg zwischen den USA und China. Dieser war 2019 stark eskaliert und
führte zu Abstürzen auf beiden Seiten. China haben die Sanktionen und
Strafzölle auf Importwaren in die USA bereits 35 Milliarden US-Dollar gekostet.
Für die USA erhöhten sich die Produktionskosten massiv und es wurden zwar neue
Jobs in der Stahlindustrie erschaffen, wie von Trump versprochen, allerdings zu
viel schlechteren Bedingungen und für viel weniger Lohn.

Trumps Ziel war also nie, die US-amerikanische
Stahlproduktion zu stärken, sondern von Anfang an, der Konkurrenz eine Warnung
zu verpassen. Denn Chinas Wirtschaft ist in den letzten Jahren massiv gewachsen
und stellt die größte Gefahr dar. Gerade im Bereich von IT und Hochtechnologien
ist es Vorreiter und mit vielen anderen Wirtschaften vernetzt. So lag Chinas
Wirtschaftswachstum 2018 bei 6, 57 %, das der USA nur bei 2,93 %. Berichten
zufolge hatte China zugestimmt, landwirtschaftliche Waren der USA im Wert von
50 Mrd. USD zu kaufen, während die USA anboten, die bestehenden Zölle für
chinesische Waren um bis zu 50 % zu senken. Der Konflikt ist somit also
keinesfalls beigelegt, allerhöchstens kurzzeitig entschärft. Eine erneute
Verschärfung kann aber zu massiven Einstürzen im Welthandel führen.

Kampf um die Neuaufteilung der Welt

Der Handelskrieg zwischen den USA und China trägt allerdings
auch noch ein geopolitisches, militärisches Markenzeichen, denn als neu
wachsender Imperialist muss China natürlich die Vormachtstellung des
US-Imperialismus global angreifen. Die chinesische Armee hat sich in einen
Rüstungswettlauf mit den USA gestürzt. Die Eskalation im Konflikt zwischen den
USA und dem Iran, einer zunehmend selbstsicheren Regionalmacht, verkörpert eine
weitere drohende Gefahr.

Beide hängen miteinander zusammen, denn der Iran und China
führen eine gute Handelsbeziehung. So gingen 27,4 % der Exporte des Irans
nach China, 27,8 % der Einfuhren kommen daher. Öl, Gas und auch die
Relevanz des Irans in Chinas „Seidenstraßenprojekt“ spielen dabei eine
entscheidende Rolle.

Der Rückgang des Welthandels und der Investitionstätigkeit
hat besonders die sog. aufstrebenden Ökonomien getroffen. Deren Wachstum war in
den letzten 6 Jahren fast überall niedriger als in den 6 Jahren vor Ausbruch
der letzten Rezession. In Brasilien, Russland, Argentinien, Südafrika und der
Ukraine gab es gar keines.

Von 2010–2018 nahm das Verhältnis von Auslandsverschuldung
zum BIP der Entwicklungsländer um mehr als die Hälfte auf 168 % zu – ein
schnellerer jährlicher Anstieg als während der Schuldenkrise Lateinamerikas.
Laut Schuldenreport der Weltbank 2020 befinden sich 124 von 154 erfassten
Ländern im kritischen Bereich kurz vor der Staatspleite, 2 mehr als im Vorjahr.
60 % dieser Länder stehen vor einer schlimmeren Situation als 2014.

Entscheidend für die Weltordnung wird also die Konkurrenz
zwischen der aufstrebenden imperialistischen Großmacht China und den USA um die
Weltherrschaft werden. Ihr Ringen wird den regionalen Auseinandersetzungen
immer mehr ihren Stempel aufdrücken. Die Gefahr des Ausbruchs eines III.
Weltkriegs wächst.

Wen trifft es besonders hart?

Es ist „natürliche“ kapitalistische Logik, dass in Zeiten
der Rezession die sinkenden Profite durch Entlassungen, Kürzungen von
Arbeitszeit und Lohn und andere Angriffe auf die Arbeiter_Innenklasse wie
beispielsweise Rentenreformen aufgefangen werden sollen. So zum Beispiel
aktuell in Frankreich, wo Macron mit seinen neoliberalen Reformen das
Renteneintrittsalter auf 64 anheben möchte oder in Chile, wo die Regierung eine
Erhöhung der Preise für öffentliche Verkehrsmittel durchsetzen wollte, aber
daraufhin mit Massenprotesten konfrontiert wurde.

Die Krise wird auf dem Rücken der Arbeiter_Innenklasse
ausgetragen. Jedoch trifft es hier besonders Frauen. Mit der Krise 2007/08
wurden Teilzeitjobs und Leiharbeit stark ausgebaut, damit die Kapitalist_Innen
ihren Profit dennoch weiter vermehren können und zur Not ohne viel Aufwand die
Arbeiter_Innen entlassen können, wenn die nächste Rezession einsetzt.

In den imperialistischen Ländern sind sie häufig von
Arbeitslosigkeit und unsicheren, prekären Beschäftigungsverhältnissen geplagt.
So arbeiten in Deutschland 2019 30,5 % Frauen in solchen „atypischen“
Verhältnissen, aber nur 12,2 % der Männer. Das wird als freiwillige
Entscheidung für mehr Familien- oder Freizeit beispielsweise vom Bundesamt für
politische Bildung gewertet, ist aber reine Ideologie, denn die unentgeltliche
Reproduktionsarbeit fällt überwiegend den Frauen zu. So wird auch
ausschließlich von Frauen erwartet, Job und Familie zu verbinden, und sie sind
gezwungen, Teilzeit oder unsichere Jobs zu akzeptieren, wenn sie Kinder
großziehen.

Auch Frauen in Halbkolonien (wie bspw. Indien oder Pakistan)
sind oft im prekären Bereich beschäftigt. Hier variieren die Zahlen je nach
Land zwischen 45 %-76 %. Die Beschäftigung findet hier auch oft im
informellen Bereich statt, wo angemessene Bezahlung, Schwangerschaftsurlaub,
eine sichere Arbeitsumgebung oder gar gewerkschaftliche Organisierung zurzeit
undenkbar sind. Viele dieser Frauen arbeiten in Textilfabriken (in welchen für
H&M, Primark und Co produziert wird), in sogenannten
Sonderwirtschaftszonen, in denen sie für einen Hungerlohn ausgebeutet,
teilweise eingesperrt und zur Arbeit gezwungen werden. Auf Sicherheit wird kaum
geachtet. Oftmals kommt es zu Gebäudeeinstürzen oder Fabrikbränden neben dem
Umgang mit gefährlichen Chemikalien ohne wirkliche Schutzkleidung.

Weltweit sind Frauen besonders von Armut betroffen. Demnach
leben 5 Millionen mehr Frauen als Männer in extremer Armut. Des Weiteren sind
mehr Frauen von Altersarmut betroffen. In Deutschland sind es 20 % der
Frauen, aber nur 15 % der Männer. Das erklärt sich durch geringeren Lohn
während der Arbeitszeit und Unterbrechungen zum Großziehen der Kinder.

Noch immer ist es Frauen laut UNO in 104 Ländern nicht
erlaubt, bestimmte Berufe auszuüben. In 18 Ländern können Männer ihren
Ehefrauen grundsätzlich verbieten zu arbeiten. So müssen Frauen in
Saudi-Arabien beispielsweise für die Ausübung bezahlter Arbeit generell die
Erlaubnis eines männlichen Vormunds einholen. So spiegelt sich auch die
finanzielle Abhängigkeit der Frauen wider, da sie sowohl in imperialistischen
als auch in halbkolonialen Ländern nach wie vor weniger Lohn erhalten als
Männer. In Deutschland sind es beispielsweise 21 %, 17,3 % in
Großbritannien, in Pakistan hingegen 34 %.

Der Kampf um finanzielle Gleichstellung ist also weltweit
keineswegs abgeschlossen. Aber selbstverständlich gibt es auch andere Bereiche,
in denen Frauen strukturell benachteiligt werden. So kam es mit der Krise
2007/08 auch zu einem Anstieg nationalistischer Gefühle, da die Mittelschichten
der imperialistischen Länder sich vor einem sozialen Absturz und dem Verlust
ihrer Privilegien fürchteten. Um reaktionäre Angriffe und die Stärkung der
nationalen Wirtschaft zu fördern, wurden fremdenfeindliche und chauvinistische
Ideologien geschürt.

Diese sorgten auch für ein Rollback bei Frauen- und
LGTBIA-Rechten. So beispielsweise der Versuch der weiteren Illegalisierung von
Abtreibungen, aber auch das Aufbegehren der Rechten gegen das
„Gendermainstreaming“ (die Integration der Gendergleichstellungsperspektive in
politische Prozesse, wie von der Weltfrauenkonferenz in Nairobi 1985
festgelegt).

Dadurch kam es auch zu vermehrten gewalttätigen und
sexualisierten Angriffen auf Frauen sowie auch auf die körperliche und sexuelle
Selbstbestimmung. So erleben auch mehr Frauen Gewalt in Beziehungen als Männer
und werden auch häufiger von ihrem (Ex-)Partner ermordet. Voruntersuchungen zu
einer Studie der WHO zeigen, dass 35 % der weltweiten Morde an
Frauen von Intimpartnern begangen werden, aber nur 5 % aller Morde an
Männern von ihren Partnerinnen. Gemeinsamer Kampf gegen Ausbeutung und für
Frauenbefreiung

Gemeinsamer Kampf gegen Ausbeutung und für Frauenbefreiung

Die Auswirkung der Krise, die Ausbeutung der Arbeiter_Innenklasse
und die Unterdrückung der Frau stehen also in einem engen Verhältnis zueinander
und bedingen sich teils gegenseitig. Um genug Widerstand aufbauen zu können,
ist es daher wichtig, auch die männlichen Proletarier für den Kampf zur
vollständigen Frauenbefreiung zu gewinnen. Gegen die kommende Krise muss sich
die Gesamtklasse in Stellung bringen, ein revolutionäres Antikrisenprogramm
annehmen. Um unsere Stärke und Fähigkeit zu steigern, müssen wir in alle
ökonomischen und sozialen Kämpfe intervenieren, um ihre Vorhut für unsere
Reihen zu gewinnen. Dieses Aktionsprogramm muss auch Antworten auf das Rollback
gegen die Rechte der arbeitenden Frauen geben.

Gleichzeitig muss es aber eigene Strukturen (sog. Caucuses)
innerhalb der Arbeiter_Innenbewegung (z. B. in Gewerkschaften) für Frauen
geben, da sie einer doppelten Unterdrückung und spezifischen Formen
sexistischer Diskriminierung unterliegen Das Gleiche trifft auf ebenso auf
andere Unterdrückte (Jugendliche, MigrantInnen usw.) zu. Denn so revolutionär
eine Bewegung oder eine Partei auch sein mag, niemand ist frei von im
Kapitalismus erlernten Unterdrückungsmechanismen und auch in den eigenen
Strukturen müssen diese diskutiert und bekämpft werden.

 Dennoch kann
aber nur ein gemeinsamer internationaler Kampf der gesamten
Arbeiter_Innenklasse für eine Befreiung aller Unterdrückten sorgen, der sich
gegen den Kapitalismus stellt und für eine sozialistische Revolution eintritt,
da die Abschaffung der unbezahlten Reproduktionsarbeit, welche unüberwindbar
mit dem Kapitalismus vereint ist, ihre vollständige Sozialisierung und
Aufteilung auf alle Geschlechter im Interesse der gesamten ArbeiterInnenschaft
liegt, auch wenn unterm Kapitalismus ihr weiblicher Teil jene weit überwiegend
verrichtet.

Wir als Marxist_Innen treten daher für eine internationale
multi-ethnische, proletarische Frauenbewegung ein mit dem Recht auf gesonderte
Treffen in Arbeiter_Innenorganisationen wie Gewerkschaften. Deshalb müssen
diese auch massiv unter den prekär Beschäftigten rekrutieren und dürfen sich
nicht auf die Verteidigung der relativ privilegierten, ausgebildeten und
sicherer beschäftigten (arbeiter_innenaristokratischen) Schichten beschränken.

Daher fordern wir:

  • Gleiche Rechte für Frauen bei Wahlen, auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungswesen, an allen öffentlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen!
  • Für ein Programm gemeinnütziger öffentlicher Arbeiten mit Vollzeitstellen und auskömmlichen Tariflöhnen für Frauen, bezahlt aus Unternehmerprofiten und Vermögensbesitz!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Mindestlohn für alle Frauen, um ein Mindesteinkommen zu sichern, das die Reproduktionskosten deckt und ein Leben ohne Abhängigkeit vom (männlichen) Partner erlaubt!
  • Arbeitsschutz in allen Produktionsstätten! Für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, wo es bisher verboten ist!
  • My Body, my Choice: Für das vollständige Recht auf Abtreibung ohne Fristen und Mindestalter, sexuelle Selbstbestimmung und das Prinzip des sexuellen Konsenses! Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln!
  • Kostenloser Zugang zu Gesundheitsversorgung, Pflegeeinrichtungen, Krankenversorgung und gesicherte Renten für alle Frauen! Wir fordern kostenlose und bedarfsorientierte Kinderbetreuung, öffentliche Kantinen und Wäschereien – um eine gesellschaftliche Gleichverteilung der Reproduktionsarbeiten auf alle Geschlechter sicherzustellen!
  • Um Frauen aufgrund ihrer Doppelbelastung durch Erwerbstätigkeit und Reproduktionsarbeit eine politische Teilnahme zu erleichtern, treten wir zudem für eine Vergesellschaftung sämtlicher Haushalts-, Sorge- und Reproduktionsarbeiten ein!
  • Recht auf Scheidung auf Wunsch! Ausbau und Sicherstellung von Schutzräumen für Frauen (wie z. B. Frauenhäuser)!
  • Kostenlose, kollektive Selbstverteidigungsstrukturen, um es Frauen zu ermöglichen, sich selbst vor Übergriffen zu schützen, unterstützt von Frauen- und Arbeiter_Innenbewegung!



Aufruf zum Internationalistischen Block beim globalen FFF-Aktionstag

Internationalistischer Block in Berlin, 12.00 Brandenburger Tor, ArbeiterInnenmacht Infomail 1078, 25. November 2019

Wir rufen zum globalen Klimastreik von Fridays for Future am 29. November und zu den Aktionen von Ende Gelände im Lausitzer Braunkohlerevier vom 29.11. bis 01.12. auf.

Gemeinsam mit Arbeiter_Innen, Schüler_Innen, Student_Innen
und Arbeitslosen unterstützen wir diese Aktionen.

Es ist längst keine graue Theorie mehr: Viele Menschen
leiden unter den Folgen des Klimawandels, vor allem in den ärmeren Regionen der
Welt. Tödliche Hitzewellen, massives Artensterben, Überschwemmungen oder
jahrelange Dürren sowie gezielte staatliche Eingriffe in das Ökosystem
entziehen vielen Menschen ihre Nahrungs- und Lebensgrundlage. All dies sind
Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels.

Auch ist es längst keine
graue Theorie mehr, wer für diesen verantwortlich ist.

Es sind nicht

  • die
    Milliarden Lohnabhängigen, die um über die Runden zu kommen, ihre Arbeitskraft
    verkaufen müssen,
  • die
    Bauern und Bäuerinnen, die weltweit mit immer weniger und schlechterem Land
    überleben müssen,
  • die
    KonsumentInnen, die von Hartz IV und prekären Jobs leben müssen,
  • auch
    nicht die Beschäftigten in der Braunkohleindustrie in der Lausitz.

Es sind jene kapitalistischen Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse,

  • die Mensch und Natur
    unterwerfen und  Arbeiter_Innen auf
    der ganzen Welt ausbeuten
  • die die Atmosphäre,
    Böden mit Monokulturen vereinnahmen,
  • die Rohstoffe der sog.
    „Dritten Welt“ plündern,
  • natürliche Ressourcen
    als Waffe gegen Mensch und Natur einsetzen und damit

ganze Ökosysteme  im Interesse kapitalistischer und
imperialistischer Systeme nachhaltig zerstören.

Gemeinsam wollen wir die Verhältnisse sichtbar machen und
benennen, die durch Konkurrenz und die Jagd nach immer größerem Profit
angetrieben werden. Die Unmenschlichkeit des globalen kapitalistischen,
imperialistischen Systems ist kein Betriebsunfall „falscher“ oder „schlechter“
Politik – es ist diesem immanent und zwar auf globaler Ebene.

Dass die Auswirkungen auf andere Länder vernachlässigt
werden, bringt einige Absurditäten der aktuellen „Klimapolitik“ und auch des
sog. „Green New Deal“ zutage. Beispiel Elektromobilität: Es soll hierzulande
flächendeckend auf Elektroautos gesetzt werden, da Verbrennungsmotoren der
Atmosphäre schaden. Dabei werden allerdings in großen Mengen Materialien wie
Lithium verbaut, die in halbkolonialen Staaten wie Bolivien und Chile abgebaut
werden. Die Natur wird dort vergiftet und ausgetrocknet, gleichzeitig werden
die Arbeiter_Innen vor Ort dadurch keinen Reichtum erlangen. Sie sollen in
Armut und Elend die wichtigen, aber billigen Rohstoffe abbauen, die die
gewinnbringenden Produktionen der imperialistischen Nationen sichern.

So
steht aktuell das 12.000 Jahre alte Hasankeyf am Tigris in der Kurdistan-Region
in der Türkei kurz vor seiner Zerstörung durch den von der Türkei
fertiggestellten Ilisu-Staudamm. Dabei setzt die Türkei Wasser als Waffe ein.
Die Flutung durch diesen Staudamm führt zu einer Massenvertreibung der dort
angesiedelten Bauern und Bäuerinnen, die ihre Heimat zugunsten wirtschaftlicher
und politischer Interessen verlassen müssen und damit weitgehend ihre
Lebensgrundlage verlieren. Das Ökosystem des Tigris, einer der letzten
größeren natürlichen Flüsse des Mittleren Ostens, wird nachhaltig zerstört.
Dies hat verheerende Folgen für die Trinkwasserversorgung fast aller Großstädte
in der Region bis hin zu Auswirkungen in den Nachbarstaaten. So wird es zur
Austrocknung der Mesopotamischen Sümpfe im Süden des Irak kommen, was wiederum
zu vermehrten Sandstürmen im Süden des Iran führen wird.

Sobald es jedoch in der Konkurrenz um Macht und Rohstoffe zu
Konflikten kommt, werden diese selten direkt geführt, sondern durch
Stellvertreter_Innenkriege, der Finanzierung antidemokratischer Kräfte und der
Flut  von Waffenexporten auf dem
Rücken der Unterdrückten halbkolonialer Staaten ausgetragen.

Einen dieser Kriege im Rahmen einer Assimilierungspolitik zu
Lasten der kurdischen Bevölkerung erleben wir zur Zeit in Rojava (Nordsyrien),
in das die Türkei einmarschiert ist und das sie nun in Absprache mit Russland,
dem Assad-Regime und mit Unterstützung des Westens neu aufteilt. In Palästina
und Kaschmir erleben wir eine Verschärfung von Besetzung, Unterdrückung,
Vertreibung der Bevölkerung. In Bolivien wird Evo Morales weggeputscht. Dies
sind nur einige Beispiele dafür, wie eng Imperialismus, Ausbeutung,
Unterdrückung und der Kampf um Ressourcen verzahnt sind.

Die deutsche Regierung und die EU unterstützen Kriege und
Unterdrückung, weil sie Länder „befrieden“, die EU gegen Geflüchtete weiter
abschotten und selbst bei der Neuordnung der Welt mitmischen wollen. Für die
Auswirkungen der imperialistischen Politik und der kapitalistischen Konkurrenz
wollen sie nicht zahlen. Im Gegenteil: Menschen, die als Resultat dieser
Konflikte und der Folgen des Klimawandels zur Flucht genötigt werden, können
kaum noch auf Asyl in den reichen Staaten hoffen, da diese sich mehr und mehr
mit Hilfe von Zäunen, von Grenzen, Kontrollen und letztlich Waffengewalt gegen
Migration abschotten.

Dabei sind es eben die imperialistischen Länder, die den
Klimawandel und die Klimazerstörung zugunsten wirtschaftspolitischer Interessen
in einem wesentlichen Maß zu verantworten haben und die auch Schuld an den
Konflikten sind, die zu Flucht und Vertreibung führen. Der Kampf gegen Krieg,
Ausbeutung, Klimawandel und Kapitalismus muss daher ein internationaler Kampf
sein.

  • Lasst
    uns den Klimastreik von FFF mit Arbeitsniederlegungen in den Betrieben und
    Protestaktionen verbinden!
  • Entschädigungslose
    Enteignung der Klimakiller, der großen Konzerne, unter Kontrolle der
    Beschäftigten und Gewerkschaften! Ausstieg aus der Kohle durch Verstaatlichung,
    Weiterbezahlung aller Beschäftigten zu ihren Löhnen und Umstellung der
    Produktion unter Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung!
  • Massive
    Besteuerung des Kapitals, der Reichen und Vermögensbesitzer zur Finanzierung
    der notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz – hierzulande wie den Ländern des
    globalen Südens!
  • Öffnung
    der Grenzen für alle MigrantInnen und Geflüchteten!
  • Nein zu
    allen imperialistischen Kriegen und Interventionen!
  • System
    change, not climate change!



Extinction Rebellion: Alle Klassen für das Klima?

Jan Hektik/Martin Suchanek, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Extinction Rebellion (XR) ist bekannt als radikaler Teil der
Umweltbewegung und als enge Bündnispartnerin von Fridays for Future. Gerade in
Großbritannien und den USA steht sie im Fokus der öffentlichen Debatte. Doch
wofür tritt XR ein? Was sind ihre Taktiken? Und was ihre Stärken und Schwächen?
Mit diesen Fragen möchte sich dieser Artikel auseinandersetzen.

Was macht Extinction Rebellion?

XR ist eine auf öffentlichkeitswirksame Aktionen abzielende
Bewegung, die vor allem in Großbritannien viele AnhängerInnen und große
Protestaktionen organisiert hat. Auch in Deutschland existieren ca. 30
Ortsgruppen, Tendenz rasch steigend. Mittlerweile soll XR bundesweit rund
16.000 Mitglieder haben.

Zunächst einmal muss man positiv hervorheben, dass durch XR
viele Jugendliche aktiv auf die Straße gehen und in Konflikt mit dem
bürgerlichen Staat treten, gegen den wir letztlich die Rettung unserer
Lebensgrundlagen durchsetzen müssen. Weiterhin hat XR es geschafft, zumindest
in Großbritannien eine große Öffentlichkeit zu erreichen und so die allgemeine
Debatte maßgeblich zu beeinflussen. Dies geschieht vor allem in Aktionen
zivilen Ungehorsams wie Straßenblockaden aber auch in künstlerischen
Protestformen wie z. B. „Die-Ins“ (sich an öffentlichen Orten massenweise tot
stellen). Dort erreichten die Aktionen teilweise eine Größe von 6.000
TeilnehmerInnen, was aber inzwischen auch zu hunderten, wenn nicht tausenden Verhaftungen
führte. Laut XR ist es sogar das Ziel, solche zu provozieren, um eine größere
Öffentlichkeit zu schaffen. Weiterhin soll gewaltfrei agiert werden, damit die
Öffentlichkeit sich eher mit den Protesten solidarisiert, also „die richtigen
Bilder geschaffen werden.“

In Deutschland organisierte XR bislang eine symbolische
Blockade der Internationalen Automobilausstellung sowie Aktionen um Fridays for
Future und die Kampagne plant vom 7. Oktober an, „Berlin lahmzulegen“, wozu
mehrere tausend AktivistInnen erwartet werden.

Grundforderungen

Bevor wir uns mit den Aktionsformen auseinandersetzen, geben wir zunächst die drei Grundforderungen von XR auszugsweise wieder:

„Sagt die Wahrheit!

Die Regierung muss die existenzielle Bedrohung der ökologischen Krise offenlegen und den Klimanotstand ausrufen. Alle politischen Entscheidungen, die der Bewältigung der Klimakrise entgegenstehen, werden revidiert. (…)

2. Handelt jetzt!

Die Regierung muss jetzt handeln, um die vom Menschen verursachten Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf Netto-Null zu senken. (…)

3. Politik neu leben!

Die Regierung muss eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Darin beraten und entscheiden zufällig ausgewählte Bürger:innen darüber, wie die oben genannten Ziele erreicht werden können. (…) Die Regierung verpflichtet sich, die Beschlüsse der Bürger:innenversammlung umzusetzen.“

Diese drei Forderungen stellen für XR gemeinsam mit 10 „Prinzipien und Werten“ das inhaltliche Konzept dar.

Vertrauen in bürgerliche Politik

Die Grundforderungen verdeutlichen einen zentralen
Widerspruch, der sich durch die ganze Bewegung zieht. Einerseits präsentiert
sie sich als radikaler, internationaler und aktionistischer Flügel der
Umweltbewegung. Andererseits bleiben die Forderungen sogar weit hinter deren
reformistischen oder selbst linken kleinbürgerlichen Teilen zurück. Während z.
B. reformistische Parteien, attac oder die verschiedenen NGOs konkrete
Forderungen aufstellen, belässt es XR bei einem allgemeinen Aufruf an die
Regierung. Diese solle nicht nur „die Wahrheit sagen“ und „endlich handeln“,
sie soll darüber hinaus auch selbst festlegen, welche Maßnahmen notwendig sind,
damit die Klimaziele bis 2025 erreicht werden können.

Dieselben Regierungen, die über Jahrzehnte versagt und die
Interessen der großen Kapitale bedient haben, sollen wie durch ein Wunder zu
„Klimaretterinnen“ mutieren. Und nicht nur das. Sie sollen nicht einmal
konkrete Forderungen z. B. nach Besteuerung der Profite der großen Konzerne
oder Ausbau des öffentlichen Nachverkehrs umsetzen, sondern selbst entscheiden,
wer wie welchen Anteil an den notwendigen Maßnahmen und deren Kosten übernehmen
soll. Mit anderen Worten: es wird der bürgerlichen Regierung überlassen zu
entscheiden, wie viel UnternehmerInnen oder Lohnabhängige, arm oder reich
„beitragen“ müssen. Allenfalls wird unverbindlich angemahnt, dass „die
Bedürfnisse der Menschen, die von der ökologischen Krise am stärksten
betroffenen sind, (…) Priorität“ haben sollen. Solche Allerweltserklärungen
könnten selbst Trump, Merkel und Johnson unterzeichen – sie verpflichten
schließlich zu nichts.

Klassen?

XR gibt sich zwar militant und kämpferisch, offenbart aber ein rühriges Vertrauen in das bestehende politische System. Die Bindung des Staatsapparates und der Regierung an die Interessen des Kapitals kommt erst gar nicht vor. XR strebt vielmehr eine Bewegung aller Klassen an, wenn aufgerufen wird, sich „der Rebellion für das Überleben anzuschließen, unabhängig von Religion, Herkunft, Klasse, Alter, Sexualität, Geschlecht sowie politischer Neigung.“ (https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind)

So richtig es ist, für eine Bewegung unabhängig von
Religion, Nationalität, Geschlecht, sexueller Orientierung einzutreten, so
problematisch wird es, wenn „politische Neigung“ und „Klasse“ keine Rolle
spielen sollen.

Was die „politische Neigung“ betrifft, so ist schon der
Begriff problematisch. Ob jemand rassistische oder anti-rassistische,
internationalistische oder nationalistische, bürgerliche, kleinbürgerliche oder
proletarische politische Positionen vertritt, ist eben keine Frage einer
„Neigung“ wie z. B. ob jemand lieber Wasser mit oder ohne Kohlensäure trinkt.
Es geht hier darum, welchen politischen, letztlich welchen Klassenstandpunkt
eine Person oder gar eine ganze Bewegung einnimmt. So richtig es ist, dass wir
für neue Menschen offen sein müssen, so bedarf es auch einer klaren Abgrenzung
gegenüber rassistischen und nationalistischen Positionen, so müssen bürgerliche
und kleinbürgerliche pro-kapitalistische Positionen offen politisch bekämpft
werden. Alles andere läuft nicht auf eine „bunte“ Bewegung hinaus, sondern auf
eine Unterordnung der großen Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten.

BürgerInnenversammlung?

Darüber hinaus lehnen wir auch die Forderung nach
BürgerInnenversammlungen ab, deren Mitglieder gar nicht gewählt, sondern per
Los, also rein zufällig bestimmt werden sollen. Ein solches Gremium wäre nicht
nur leicht von Regierung und bürgerlichen ExpertInnen manipulierbar, es wäre
auch undemokratischer als jedes Parlament.

Auch dieses verschleiert zwar, wer die eigentliche Macht in
der Gesellschaft ausübt: die EigentümerInnen von Energie-, Autokonzernen und
Transportunternehmen, von Banken und Versicherungen, von Medien und
IT-Unternehmen, um nur einige wichtige Teile der KapitalistInnenklasse zu
nennen. Sie haben kein Interesse daran, einen effektiven Klimaschutz zu
schaffen, sobald er ihren Profitinteressen entgegensteht.

Aber zu den Parlamentswahlen treten wenigstens politische
Parteien an, die verschiedene Klassenkräfte repräsentieren (können), die die
Lohnabhängigen somit als Feld nutzen können, ihr Programm zu vertreten. Selbst
das würde bei der Verlosung zur „BürgerInnenversammlung“ völlig entfallen.
Statt die Regierung und den Staatsapparat besser zu kontrollieren, würden diese
in Wirklichkeit gestärkt werden.

Kontrolle und Räte

Wirklicher Klimaschutz erfordert daher, nicht weitere, gar
noch undemokratischere Anbauten am bürgerlichen Staat vorzunehmen, sondern
vielmehr den Kampf für klassenspezifische, in den Betrieben, Unternehmen,
Stadtteilen und Kommunen verwurzelte Strukturen der Gegenmacht. Diese müssten
z. B. kontrollieren, was zu welchem Zweck erforscht wird. Diese müssten die
Schwerpunkte für eine nachhaltige Produktion im nationalen wie internationalen
Maßstab festlegen. Solche Organe wären Mittel der ArbeiterInnenkontrolle, die
vor allem in den großen Energie-, Verkehrs- und Verschmutzungsindustrien, in
den Banken usw. eingeführt werden müssten. Sie müssten die Aufstellung eines gesellschaftlichen
Plans kontrollieren, der ökologische Ziele und die Bedürfnisse der Mehrheit der
ProduzentInnen und KonsumentInnen in den Mittelpunkt stellt.

Solche Kontroll- und Kampforgane würden ihrerseits rasch mit
den Machtorganen der Unternehmen wie des Staates zusammenstoßen. Um deren
unvermeidlichen Widerstand zu brechen, müssten sie selbst den Schritt von
Organen der Gegenmacht zu Organen der ArbeiterInnenmacht, einer sozialistischen
Umgestaltung machen.

Anhang: Welche Aktionsform?

Daher treten wir für massenhafte, kollektive Aktionsformen,
die den Kern der verantwortlichen Industrien treffen, ein: Streiks,
Besetzungen, Massendemonstrationen. Auch eine Platzbesetzung wie sie XR in
London ausgeführt hat, kann sinnvoll sein. Es braucht aber vor allem demokratisch
gewählte Organe von ArbeiterInnen, Unterdrückten und Jugendlichen.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage der
Gewaltfreiheit. Da es hierbei um das Überleben der Menschheit geht, ist
eigentlich klar, dass im Notfall leider Gewalt angewendet werden muss – schon
allein zur Selbstverteidigung gegen die unvermeidliche Repression durch den
Staat oder unternehmensnahe rechte Kräfte. In der Tat wäre die Alternative,
weiter zuzulassen, dass Klimakiller unsere Umwelt zerstören, alles andere als gewaltfrei.
Sie bedeutet nämlich massenhafte Vertreibung und letztlich die Zerstörung der
Lebensgrundlage vieler Millionen Menschen.

Die Frage lautet daher, welche Art von Gewalt und
Aktionsform für uns sinnvoll ist. Sicher können „Die-Ins“kurzzeitig ein medienwirksames
Symbol darstellen. Wirklich unter Druck setzen wird dies aber weder Regierung
noch Konzerne. Erst eine massenhafte militante Streikaktion kann das tun. In
diesem Sinne sollten die Schulstreiks fortgeführt werden und die Verbindung zu
ArbeiterInnen suchen. Die Polizei wird nicht geneigt sein, solche Aktionen mit
Samthandschuhen und Humor zu behandeln, aber diese können organisiert und
kollektiv verteidigt werden.




25.000 gegen IAA und Automobilkonzerne: Wie weiter nach dem politischen Erfolg?

Martin Suchanek, Infomail 1068, 16. September 2019

Die Autoindustrie und die IAA haben Probleme. Am letzten Wochenende kam noch eines dazu. 25.000 beteiligten sich am 14. September an einer Großdemonstration, darunter 18.000 an einer großen Fahrrad-Sternfahrt. Rund 600–1000 Protestierende blockierten an zwei, zeitweilig an drei Eingängen die IAA, wenn auch zum größten Teil „nur“ symbolisch. Politisch ging das Wochenende eindeutig an die Umweltbewegung. Allein die Großdemonstration ließ die VeranstalterInnen der IAA und ihr überholtes „Verkehrskonzept“ alt aussehen.

Die deutsche Autoindustrie redet sich indessen die Welt
weiter schön. In einer Presseerklärung dankt sie der Polizei für ihr
umsichtiges Handeln. Der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernhard
Mattes, hat sogar die Chuzpe, die IAA als Beitrag zur ökologischen Umgestaltung
darzustellen.

SchönrednerInnen in der Defensive

Zuerst freue er sich, dass die IAA allein am 14. September
60.000 zahlende BesucherInnen zählte, dass die Probefahrten mit den rund 70
neuen Automodellen, Offroad-Parcours und E-Tracks seit Tagen ausgebucht wären.
Worin bei stetig steigenden Marktanteilen der spritfessenden SUVs wie auch bei
Rekordgewinnen der Konzerne der „Beitrag“ zur ökologischen Nachhaltigkeit
besteht, bleibt wohl das Geheimnis der SchönrednerInnen der Autolobby.

Mattes scheint darunter die Beteiligung an der
„gesamtgesellschaftlichen Debatte um Klimaschutz und nachhaltiger Mobilität“ zu
verstehen. Daran hätte sich die IAA mit einem „offenen Bürgerdialog mit
hochrangigen Vertretern der Automobilindustrie, der Politik und Gewerkschaften“
beteiligt, bei dem vor allem die drei Vertreter von Bosch, Daimler und Porsche zu
Wort kamen. Selbst der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann (SPD) sagte seine
Teilnahme an der Selbstinszenierung der Industrie ab, nachdem er als Redner
ausgeladen worden war. Schon die Rede eines harmlosen Reformisten scheint bei
der peinlichen Werbeveranstaltung unkalkulierbar, dem „offenen Dialog“ abträglich.

Die Vertreterin von Fridays for Future, die auch als
Staffage bei dieser Inszenierung hätte fungieren sollen, sagte sofort ab. Unter
tosendem Beifall griff sie dies zynische Manöver der Autoindustrie auf der Abschlusskundgebung
am 14. September an.

Massendemonstration

Die Beschwörungsformel der Autolobby, dass Markt, Innovation
und „freiwillige“ Vereinbarungen alle Problem lösen würden, entpuppt sich
allein schon angesichts von Skandalen, Korruption und SUV-Hype als
unfreiwillige Realsatire. Wenn den 25.000 und den Menschen, die die IAA
blockierten, eines klar war, so die Tatsache, dass Klimaschutz und
Profitinteressen der Großkonzerne nicht miteinander vereinbar sind. Die
Mobilisierung gegen die symbolträchtige IAA, diese Hohe Messe des Fetischs
Automobil, brachte Massen auf die Straße.

Die Demonstration verdeutlichte – gewissermaßen als
Mikrokosmos der aktuellen Lage der Bewegung – deren Stärken und politische
Schwächen.

In den letzten Jahren entwickelte sich in Deutschland, aber
auch weltweit eine Massenbewegung gegen die drohende Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen, eine „Umweltbewegung“. Das zeigen die Aktionen gegen die
Braunkohleindustrie am Hambacher Forst und „Ende Gelände“ ebenso wie Fridays
for Future und auch dieses Wochenende.

Zweitens können wir davon ausgehen, dass diese Bewegung
weiter Bestand haben und wachsen wird.

Dazu trägt allein schon die reale Weigerung der Konzerne bei, jede auch noch so unbedeutende Maßnahme hinzunehmen oder gar umzusetzen, die ihre Profite zu gefährden droht. Und dazu trägt auch bei, dass „die Politik“ der Bundesregierung wie aller bürgerlichen Parteien immer wieder ihre Grenzen an den Profitinteressen der Konzerne findet.

Diese spielen zwar heute das Spiel vom Pseudo-Klimaschutz
mit, wohl wissend, dass der reaktionäre Schwachsinn der KlimaleugnerInnen von
der AfD zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist, dass er nur ein Minderheitenprogramm
mehr oder weniger wild gewordener KleinbürgerInnen darstellt. Das kann sich
ändern. Zur Zeit jedoch geben sich Kapital und Kabinett „ökologisch“, wohl
darauf hoffend, der Bewegung durch Einbindung der Umweltverbände, der GRÜNEN,
durch „Umweltprogramme“, die dem Kapital nicht schaden, den Wind aus den Segeln
zu nehmen.

Diese Pseudoaktivität erkennen zweifellos auch immer mehr
AktivistInnen der Bewegung – einschließlich der sog. Umweltverbände und NGOs.
Andererseits – und hier kommen wir zu den Schwächen der Bewegung – läuft deren
gesamte politische Strategie darauf hinaus, die Industrie und „die Politik“
durch Bewegung und Dialog, durch „Vernunft“ und „Druck von der Straße“ auf eine
wirkliche „Umkehr“ zu verpflichten. Das schließt durchaus Verbote und
Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Kapitalgruppen, Unternehmen oder Produktsparten
ein – allerdings in Form einer politischen „Wende“, die das Privateigentum an
den Produktionsmitteln, Markt und Konkurrenz in Kraft lässt. Am Profit haben
die Naturschutzverbände und die GRÜNEN, die die Bewegung politisch dominieren,
nichts auszusetzen – er sollte nur „ökologisch sinnvoll“ reinvestiert werden.
Die Marktwirtschaft soll nicht nur „sozial“, sondern auch „ökologisch“
reguliert werden.

Hier erhebt sich eine Hauptfrage der gesamten Bewegung und
somit ein zentraler Hebel für eine revolutionäre Klassenpolitik: die
Eigentumsfrage. Wer die Macht der Konzerne wirklich brechen will, der muss sie
enteignen – entschädigungslos und unter ArbeiterInnenkontrolle. Wer den Konsum
der Gesellschaft wirklich nachhaltig verändern will, der muss auch die
Produktion umgestalten. Produktion für die Bedürfnisse der Massen und im Sinne
ökologischer Nachhaltigkeit erfordert die Enteignung des Kapitals, die
Ersetzung einer profitorientierten Marktwirtschaft durch demokratische Planung
im Interesse der Mehrheit der Weltbevölkerung.

Diese Fragen drängen sich in der Bewegung durchaus auf – und
zwar, wie z. B. die Wohnungsfrage und der bisherige Erfolg der Kampagne
„Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ zeigen, durchaus nicht nur im Umweltsektor.

Führungsproblem

Die Grüne Partei, die Führungen der (klein)bürgerlichen
Umweltverbände, der NGOs, aber auch von Fridays for Future stehen dieser
Perspektive entgegen. Für sie existiert die Eigentumsfrage, die Klassenfrage
allenfalls am Rande. „Bestenfalls“ stellt sie für diese Parteien und
Organisationen eine Frage der „sozialen Gerechtigkeit“, des „Ausgleichs“, einer
angeblich „fairen Verteilung“ dar – ohne das grundlegende gesellschaftliche
Klassenverhältnis in Frage stellen zu wollen. Allenfalls soll das Gewicht der
gesellschaftlichen Interessen „sozial“ verschoben werden.

Eine solche Politik, die auch die reformistischen Parteien
SPD und Linkspartei sowie die Gewerkschaftsführungen verfolgen, kommt einer
Quadratur des Kreises gleich. Sie ist zum Scheitern verurteilt, wie alle
„Reformbemühungen“ der letzten Jahrzehnte gezeigt haben. Allenfalls können sie
für bestimmte Perioden soziale Verbesserungen für die Ausgebeuteten schaffen.
Doch in einer Krisenperiode wie der aktuellen bietet auch das keine dauerhafte
Perspektive, sondern allenfalls eine kurzfristige Linderung, die so rasch wie
möglich vom Kapital wieder in Frage gestellt wird.

Das bedeutet keineswegs, dass RevolutionärInnen der
kleinbürgerlichen oder reformistischen Flickschusterei am Kapitalismus nur
abstrakt Enteignung und Revolution entgegenstellen sollen. Eine solche Politik
wäre letztlich nicht revolutionär, sondern bloß doktrinär.

Es geht vielmehr darum, den Kampf um unmittelbare
Forderungen mit dem gegen das System zu verbinden. Dazu gehört die Forderung
nach einem kostenlosen öffentlichen Nahverkehr und dessen Ausbau unter
Kontrolle der Beschäftigten und NutzerInnen – finanziert durch die massive
Besteuerung der Gewinne und der großen Vermögen. Dazu gehört die Forderung nach
Umstellung der Automobilproduktion unter Kontrolle der Beschäftigten und
Gewerkschaften. Dazu gehört der Kampf gegen alle Entlassungen – auch in den
„umweltschädigenden“ Industrien, deren fortlaufende Bezahlung zu den
bestehenden Löhnen und Gehältern sowie eine etwaige Umschulung für den Einsatz
in neuen, umweltschonenden Bereichen ohne Lohnverlust.

Und die Gewerkschaften?

Ein solcher Kampf erfordert freilich, dass die
Gewerkschaften (und die gesamte ArbeiterInnenbewegung) selbst verändert werden
müssen. Die Spitzen von ver.di und IG Metall unterstützen den globalen
Klimastreik am 20. und 27. September zwar verbal und „moralisch“, doch sie
weigern sich, offen dazu aufzurufen.

Natürlich stehen einem Klimageneralstreik tarifrechtliche,
legale, vor allem aber politische Hürden entgegen. Ein offener Aufruf zum
Klimastreik hätte nämlich nicht nur mit Klagen und Drohungen zu kämpfen, er
würde vor allem einer Aufkündigung der Sozialpartnerschaft gleichkommen –
jedenfalls in den Augen der Unternehmerverbände und der Regierung. Da das die
Bürokratie auf keinen Fall riskieren will, haben wir es mit der absurden
Situation zu tun, dass die Gewerkschaften zwar den Klimastreik „gut“ finden –
aber keinesfalls auch nur in den Geruch kommen wollen, ihn praktisch
durchzuführen. Da aber die DGB-Gewerkschaften die einzigen Organisationen sind,
die einen realen Generalstreik auch durchführen könnten, entpuppen sich die
Beschlüsse der Spitzen als Luftnummern.

Eine tragische Konsequenz dieses politischen Versagen
besteht darin, dass es so erscheint, als würden wohlwollende UnternehmerInnen
nicht minder zum Gelingen der Mobilisierung am 20. September beitragen als die
ArbeiterInnenbewegung. Bislang haben rund 2.500 Unternehmen zur Unterstützung
von Fridays for Future aufgerufen. Diese Entwicklung legitimiert angesichts der
Passivität der Gewerkschaften unwillkürlich eine klassenübergreifende Politik,
die sich Unterstützung bei Gewerkschaften und „umweltorientierten“
GeschäftsbetreiberInnen sucht. Zweifellos entspricht das auch der
vorherrschenden Ideologie, dem vorherrschenden Bewusstsein einer ideell
weitgehend kleinbürgerlich geprägten Bewegung.

Die Schwäche der Gewerkschaften – wie überhaupt der organisierten
ArbeiterInnenbewegung – zeigte sich leider auch bei den Protesten gegen die
IAA. Gewerkschaftsfahnen waren praktisch nicht zu sehen. Die Linkspartei trat
gerade mit einem kleinen Block am Ende der Demo in Erscheinung. Überhaupt war
die organisierte Linke sehr schwach vertreten. Wir, die Gruppe
ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION, beteiligten uns mit dem Transparent „Konzerne
enteignen!“ an der Aktion und mit mehreren Verkaufsteams. Dabei stieß die Frage
der Enteignung auf reges Interesse und Zuspruch. Die Bewegung erweist sich also
durchaus als offen für linke, anti-kapitalistische, ja
revolutionär-kommunistische Positionen. Sie müssen aber auch verbreitet,
bewusst und offen in die Bewegung getragen werden. Zweifellos versuchten das
auch einige linke Blöcke (z. B. von Fridays for Future Köln) – aber
insgesamt war dieser Teil leider nur schwach vertreten.

Extinction Rebellion

Bei den Blockaden stellten radikalere AktivistInnen sicherlich einen größeren Teil der Anwesenden. Die dominierende Kraft bildete hier „Extinction Rebellion“, das sich als aktivistischer, radikaler Flügel der Bewegung präsentiert und Zulauf erhält. Zweifellos stellt diese Gruppierung verglichen mit dem Lobbyismus der NGOs und Umweltverbände einen Schritt nach links dar, der sie attraktiv macht. Zugleich bezieht sich die Radikalität von Extinction Rebellion aber fast ausschließlich auf die Aktion – Blockaden und andere Formen des „zivilen, gewaltfreien Ungehorsams“. Politisch inhaltlich entpuppt es sich allenfalls als linke Spielart kleinbürgerlichen Populismus. So gipfeln die Forderungen von Extinction Rebellion Deutschland darin, dass die Regierung (!) „den Klimanotstand ausrufen“ und „jetzt handeln“ müsse. Insbesondere müsse sie „eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Darin beraten und entscheiden zufällig ausgewählte Bürger:innen darüber, wie die oben genannten Ziele erreicht werden können. Sie werden dabei von Expert:innen unterstützt. Durch die zufällige Auswahl der Bürger:innen werden alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden.“ (https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/unsere-forderungen)

Angesichts der drohenden Katastrophe gibt es für Extinction
Rebellion nur noch BürgerInnen, keine Klassen, keine einander entgegensetzte
Interessen, Ziele, Strategien und Programme. Diese Unterschiede müssten
vielmehr in den Hindergrund treten. Was sich als „radikale“ Alternative zum
Parlamentarismus präsentiert, stellt sogar noch einen Schritt hinter die
bürgerliche Demokratie dar, wo die „RepräsentantInnen“ der „BürgerInnen“
wenigstens per Wahl und nicht durch Zufall (Los) bestimmt werden. Hier
offenbaren sich die reaktionären Implikationen eines kleinbürgerlichen
Radikalismus, der vom Klassencharakter der Gesellschaft nichts mehr wissen will
bzw. nie wissen wollte.

Umweltfrage ist Klassenfrage

RevolutionärInnen müssen daher nicht nur die Politik der GRÜNEN,
der Umweltverbände und NGOs, von SPD, Linkspartei und Gewerkschaften
kritisieren, sondern auch den keineswegs so radikalen Flügel der Bewegung und
dessen kleinbürgerliche Ideologie.

Das erfordert:

1. Die Unterstützung der Bewegung, die Mobilisierung für und
Beteiligung an den Aktionen. Wir rufen zur Unterstützung der Demos am 20.
September, aber auch zu Blockaden wie am 15. September in Frankfurt auf.

2. Entscheidend geht es darum, das Gewicht der
ArbeiterInnenklasse ins Spiel zu bringen. Die Politik der Gewerkschaftsführungen
und der ReformistInnen stellt dabei das zentrale Hindernis dar. Das andere
bilden aber auch die realen kleinbürgerlichen Vorurteile und die nicht minder reale
Ignoranz von Teilen der Umweltbewegung gegenüber den Existenzängsten von
Lohnabhängigen.

Auch daraus erklärt sich die geringe Repräsentanz der
Kernschichten der ArbeiterInnenklasse wie auch deren unterdrücktester Teile –
MigrantInnen, prekärer Beschäftigten – in der Bewegung. Der Appell, das eigene
„Konsumverhalten“ zu überdenken und ändern, kann Menschen, deren
Konsummöglichkeiten ohnedies jährlich mehr und mehr durch Teuerung und
Einkommensverlust beschnitten werden, nur wie Hohn vorkommen. Die Forderung
nach einem pauschalen „Wachstumsstopp“ wird  vielen Menschen in den vom Imperialismus dominierten Ländern
des Südens oder auch Osteuropas, die an Deindustrialisierung oder extrem
einseitiger, selektiver Entwicklung leiden, nur als arrogante Vorstellung von
Öko-KolonialistInnen erscheinen. Und das zu Recht.

Die einzige Lösung besteht auch hier in der Eigentums- und
Systemfrage und drückt sich in Forderungen wie den folgenden aus: Enteignung
der imperialistischen Konzerne und InvestorInnen, nach sofortiger Streichung
der Auslandsschulden, nach einem Investitionsplan unter ArbeiterInnenkontrolle
gemäß der Entwicklungsbedürfnisse der Massen und ökologischer Nachhaltigkeit.

Die Umweltkatastrophe wird nicht einfach von „den“ Menschen
verhindert werden. Die Interessen der herrschenden Klasse sind auf Gedeih und
Verderb mit der Aufrechterhaltung eines Systems verbunden, wo der Zweck der
Produktion in der Aneignung der Arbeit und an der Ausnutzung Natur zur
Profitmaximierung besteht. Daher nutzen die Appelle an die „Vernunft“ und
Einsicht der Herrschenden und ihrer Regierung regelmäßig – nichts! Sie offenbaren
allenfalls eine naive, geradezu rührselige Hoffnung in die bürgerliche
Regierung.

Die ökologische Katastrophe kann nur verhindert werden, wenn
jene Milliarden Menschen, die weltweit täglich den Reichtum der Gesellschaft
hervorbringen, produzieren und ausgebeutet werden, selbst ihr Schicksal in die
eigene Hand nehmen. Doch das ist nur möglich im Kampf gegen die
Klassenherrschaft des Kapitals und seine Zuspitzung zum revolutionären Sturz
der bestehenden Verhältnisse.

So richtig und wichtig Demonstration, Blockaden,
Platzbesetzungen auch sind – verglichen mit politischen Massenstreiks der
ArbeiterInnenklasse sind dies letztlich nur vorbereitende, weitgehend
symbolische Aktionsformen. Damit der Generalstreik gegen die Klimakatastrophe
wirksam wird, muss die ArbeiterInnenklasse zur zentralen Kraft der Bewegung
werden. Dies bedeutet jedoch keineswegs nur, ja nicht einmal in erster Linie
eine Veränderung der Aktionsform – es bedeutet vor allem eine Änderung des
eigentlichen Ziels: die Enteignung des Kapitals und die Errichtung einer
globalen, demokratischen Planwirtschaft. Nur so kann „system change not climate
change“ Wirklichkeit werden.




Deutsche Wohnen, Vonovia & Co.: Enteignung – ja klar! Entschädigung – nein danke!

Martin Suchanek, Neue Internationale 236, April 2019

Die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co.
enteignen“ hat schon jetzt wie eine Bombe eingeschlagen. Noch bevor die erste
Unterschrift gesammelt ist, bringen sich alle Kräfte des politischen und
wirtschaftlichen Establishments in Stellung.

Die Forderung nach Enteignung oder Vergesellschaftung aller
gewinnorientierten Konzerne, die in der Stadt über mehr als 3.000 Wohnungen
verfügen, ruft die VerteidigerInnen des Privateigentums auf den Plan. Dass es
Wohnungsnot und eine massive Steigerung der Mietpreise in Berlin und anderen
städtischen Ballungsgebieten gibt, bestreiten zwar auch die KritikerInnen der
Initiative nicht. Doch drohende Eingriffe in das Privateigentum oder gar die
Enteignung ganzer Unternehmen – beides rein juristisch betrachtet sogar nach
Grundgesetz und Berliner Landesverfassung zulässig – werden von CDU, FDP und
AfD mit allen möglichen „Argumenten“ madig gemacht.

Markt statt Enteignung?

So wittert der FDP-Politiker Sebastian Czaja in der
„Verzögerung und Verhinderung innerstädtischer Verdichtung“ eine Hauptursache
der Berliner Probleme. Es müsse eben mehr und höher hinaus gebaut werden, so
der weise Ratschlag. Dann würden, wenn dereinst das Angebot die Nachfrage
übersteigt, die Mieten wieder sinken. Schön für alle, die es solange schaffen,
bei rasant steigenden Wohnungskosten nicht in die Außenbezirke umsiedeln zu
müssen.

Die Wohnungsnot müsse, wie von einem treuen Anhänger des
freien Marktes nicht anders zu erwarten, mit noch mehr Markt überwunden wurden.
So gelte es, „den Weg zu Wohneigentum durch Senkung der Grunderwerbssteuer
fördern.“ Die GroßinvestorInnen sagen herzlich Danke.

Ähnlich Burkard Dregger von der CDU: „Gegen Wohnungsnot
helfen nur gemeinsame Anstrengungen, auch der Baugenossenschaften und privaten
Wohnungsbaugesellschaften.“ Für den Mann ist nicht nur die Enteignung
Teufelszeug, sondern selbst der Rückkauf privatisierter Wohnungen oder
Wohnungsbaugesellschaften, wie von der Berliner SPD favorisiert. Schließlich
soll lt. FDP und CDU wie auch der gesamten Immobilienbranche am Ende eben mehr
und nicht weniger privatisiert werden. Die hohe Miete sichert schließlich die
Rendite.

Im kapitalistischen Chor darf schließlich auch die AfD nicht
fehlen. Deren Abgeordneter Harald Laatsch weiß schließlich: „Für Mieter ist es
weitgehend unerheblich, wer Eigentümer ihrer Wohnung ist.“ Dafür würden
„Wohlstand und Altersversorgung durch Eigentumsbildung verbessert werden.“
Stimmt – wenn auch nur für die AktionärInnen der Wohnungskonzerne, denen er
beherzt beispringt:

„Nun erleben wir die Wiederkehr des sozialistischen
Gedankens. Linke Parteien und Aktivisten wollen ein neues Experiment auf Kosten
der Allgemeinheit.“

Privatisierung ruiniert MieterInnen

Dabei wollen offen bürgerlichen Parteien vor allem eins: die
Fortsetzung eines „Experiments“, dessen Kosten für die Allgemeinheit längst
bekannt sind.

Die Privatisierung im Wohnungssektor hat hunderttausende
MieterInnen spekulativen Wohnungsbaukapitalien ausgesetzt, die auf eine
schnelle Rendite setzen. Die Deutsche Wohnen (DW) hat es in Berlin zur
Marktführerin auf diesem Gebiet gebracht. Mehr als 100.000 Wohnungen befinden
sich in ihrer Hand. Steigende Mieteinnahmen – bei der DW im Jahr 2018
bundesweit 3,4 %, in Berlin sogar 3,6 % – tragen maßgeblich zur
Gewinnsteigerung bei. 2018 konnte der Konzern den operativen Gewinn auf 480
Millionen Euro steigern, was einer Zunahme von 11 Prozent gegenüber 2017
entspricht. Und das soll längst nicht das Ende der Fahnenstange sein.

Die Rendite für wenige entspricht den Mietpreiserhöhungen
für viele. In Berlin wurden zwischen 1995 und 2006 über 200.000 kommunale
Wohnungen privatisiert (davon rund die Hälfe unter dem rot-roten Senat). Die
Angebotsmiete stieg zwischen 2008 und 2015 um durchschnittlich 60 %, in
Ortslagen wie Neukölln und Kreuzberg um 100 %!

Geht es nach der bürgerlichen Opposition im Berliner
Abgeordnetenhaus, soll noch Öl ins Feuer gegossen und die private
Wohnungsspekulation weiter angeheizt werden.

Und der Senat?

Der einzig richtige Vorwurf dieser HalsabschneiderInnen an
den Senat und die Regierungsparteien besteht darin, dass diese selbst keine
Antwort auf die Wohnungsnot haben. Kein Wunder, denn der Senat laviert zwischen
den berechtigten Forderungen der MieterInnen einerseits und dem Druck des
Kapitals andererseits. Ersteren wird eine Nachbesserung der Mietpreisbremse,
ein Rückkauf der privatisierten Wohnungen und ein Wohnungsbauprogramm, vor
allem der Neubau von Sozialwohnungen, versprochen. Doch all das gleicht einem
Flickwerk, das hinter den eigentlichen Anforderungen ständig zurückbleibt.

Schließlich will es sich der Senat, vor allem SPD und Grüne,
mit der Bauwirtschaft, den Wohnungskonzernen und dem Finanzkapital nicht
verscherzen. Wie leicht, schnell und willfährig die Berliner Koalition vor
diesem Druck einknickt, verdeutlichte gleich am Beginn ihrer Amtsperiode die
Verleumdungskampagne gegen den linken Staatssekretär Andrej Holm, der innerhalb
weniger Wochen von „seiner“ Regierung bereitwillig geopfert wurde.

Zum richtigen Zeitpunkt

Vor diesem Hintergrund wird der Erfolg von „Deutsche Wohnen
& Co. enteignen“ verständlich. Die Initiative kam zum richtigen Zeitpunkt.
Hunderttausende MieterInnen wissen, dass es leider doch einen Unterschied
macht, ob man bei einem profitorientierten Wohnungskapital oder bei einer
kommunalen Wohnungsgesellschaft wohnt – z. B. wenn sie den/die längst
eingesparte/n HausmeisterIn suchen oder bei einer dringend notwendigen
Reparatur tagelang vom Callcenter vertröstet werden.

Mittlerweile haben sich zahlreiche MieterInnenkomitees in
Häusern privater Konzerne gebildet oder Vollversammlungen ihre Unterstützung
für „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ erklärt. Die Initiative hat schon
jetzt, vor Beginn der eigentlichen Unterschriftensammlungen für einen
Volksentscheid eine reale Massenbasis aufgebaut – und ein weiterer Zustrom ist
abzusehen.

Dies ist auch der Grund, warum die SPD nun in der
Wohnungsfrage etwas linker blinkt und auf Rückkauf privatisierter
Wohnungsgesellschaften als Alternative zur Enteignung setzt. Die Grünen stehen
dem Volksbegehren, das schließlich in einen Volksentscheid münden soll,
positiver entgegen. Die Linkspartei hat auf ihrem letzten Landesparteitag die
Unterstützung von „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ beschlossen und
präsentiert die Initiative fast schon als ihre eigene Idee – nicht zuletzt
auch, um von ihrer eigenen unrühmlichen Vergangenheit bei der Privatisierung
zehntausender Wohnungen abzulenken.

Unabhängig davon sollte die Initiative von allen Linken, Anti-KapitalistInnen
und RevolutionärInnen unterstützt werden – nicht nur durch das Sammeln von
Unterschriften, sondern auch durch das Aufbauen von MieterInnenkomitees und
demokratischen Basisstrukturen der Kampagne.

Pferdefüße

Das darf jedoch nicht über mehrere politische Schwächen und
Pferdefüße der Initiative hinwegtäuschen, die offen diskutiert und gelöst
werden müssen. Wir schlagen dazu eine Berliner Aktionskonferenz vor, die nicht
nur unten angesprochene Fragen besprechen, sondern dazu auch verbindliche
Beschlüsse fassen soll.

Die Frage der Beschränkung der Enteignungsforderung auf
Konzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen

Wie auch alle Beteiligten an der Initiative zugeben, ist
diese Höhe letztlich willkürlich. Im Grunde sollte es darum gehen, alle Konzerne,
die private Wohnungen zu Bereichungszwecken, also als Wohnungskapital nutzen,
zu enteignen. Deren ganzes Geschäftsmodell beruht darauf, rasch Rendite zu
machen und die Interessen ihrer AktionärInnen zu befriedigen. Ein solches
Modell ist nur machbar durch eine stetige Steigerung der Mieten, mit jeder auch
nur beschränkt „sozialen“ Wohnungspolitik ist es letztlich unvereinbar

Die Höhe der Entschädigung

Die Instrumente Volksbegehren und Volksentscheid sind selbst
in einen recht engen gesetzlichen Rahmen gezwängt – erst recht, wenn es dabei
um finanzielle Fragen geht, die den Haushalt oder das in der bürgerlichen
Gesellschaft höchste aller Rechte, das Eigentumsrecht betreffen. Daher sind
Enteignungen großer Unternehmen selbst gegen Entschädigung so selten. (Anders
ist das natürlich, wenn es sich um die Entschädigung von Kleineigentum im
Interesse des „Gemeinwohls“ handelt, als z. B. die Unternehmen der
ehemaligen DDR via Treuhand v. a. an das deutsche Großkapital übergeben
wurden).

Die Initiative sieht sich nun mit dem Problem konfrontiert,
dass eine entschädigungslose Enteignung wenigstens rechtlich umstritten ist und
leicht den Vorwand liefern kann, das Volksbegehren zu stoppen.

Daher findet dort eine Diskussion über die Höhe einer
möglichen Entschädigung statt. Der Senat und die Immobilienwirtschaft haben
ihrerseits erkannt, dass in diese Frage eine Chance besteht, die
Enteignungsforderung in den Augen der Bevölkerung zu diskreditieren.

Eine „amtliche Kostenschätzung“ des Berliner Senates geht
davon aus, dass die Enteignung von DW & Co. zwischen 28,8 und 36 Milliarden
Euro kosten würde. Dem liegt der aktuelle Marktwert zugrunde.

SprecherInnen des Bündnisses halten dagegen, dass dies ein
weit überhöhter Preis wäre, weil die Spekulation selbst den Marktwert
gesteigert habe. Damit ließe DW sich ihre überhöhten Mieten im Falle einer
Enteignung gewissermaßen noch einmal auszahlen. Aber auch andere „gerechtere“
Modelle gehen noch von 7,3 bis 13,7 Milliarden Euro aus.

Die Zahlen von 28–36 Milliarden wurden zweifellos bewusst
und als Steilvorlage für die Berliner Immobilienlobby lanciert, die diese auch
freudig aufgreift.

So erklärt der Verband der Berlin-Brandenburgischen
Wohnungsunternehmen (BBU): „Die Kosten würden einen gesamten Jahreshaushalt
übersteigen und wären mehr als das Sechsfache der bisherigen BER-Baukosten.“
Ein solches Desaster müsse verhindert werden, indem EigentümerInnen
EigentümerInnen bleiben.

In jedem Fall wird aber deutlich: Die Milliardensummen
müssten aus dem Berliner Haushalt, der jährlich rund 29 Milliarden beträgt,
also aus Steuern und das heißt vor allem aus denen von Lohnabhängigen bezahlt
werden. So soll ein politischer Spaltkeil zwischen Initiative und ArbeiterInnen
getrieben werden.

Zum anderen werden die Entschädigungshöhen in jedem Fall
dazu führen, dass es zu einer Klagewelle kommt. Die „Schuldenbremse“ wird
bemüht werden, um einen etwaig erfolgreichen Volksentscheid für illegal zu
erklären.

Schließlich wird der Druck dazu genutzt werden, im
Abgeordnetenhaus ein Enteignungsgesetz zu verwässern und auf die lange Bank zu
schieben, denn der Volksentscheid bedeutet selbst bei einer überwältigenden
Mehrheit noch lange nicht, dass er auch umgesetzt werden muss, da er das
Abgeordnetenhaus nur zur Formulierung eines Gesetzes verpflichtet, nicht jedoch
dessen konkreten Inhalt festschreibt.

Enteignung – ja, Entschädigung nein!

Unserer Meinung nach kann dieses Problem nur gelöst werden,
indem wir eine Entschädigung kategorisch ablehnen. Allenfalls kann, um
rechtlichen Vorgaben zur Durchführung der Volksbegehrens und später des
Volksentscheids Genüge zu tun, eine rein symbolische Entschädigung von einem
Euro versprochen werden.

Der Grundsatz sollte jedoch klar sein: Die Kapitale, die
sich ohnedies schon an den MieterInnen bereichert haben, sollen nicht
aufgekauft, sondern ihre Wohnungen entschädigungslos enteignet und unter
Kontrolle von MieterInnenkomitees kommunal verwaltet werden.

Damit würden wir erstens eine politische Flanke schließen.
Es wäre unmöglich, die MieterInnen gegen lohnabhängige SteuerzahlerInnen
auszuspielen. Es wäre – gewissermaßen als Nebeneffekt – auch unmöglich, die
Enteignung mit dem Hinweis auf deren hohe Kosten für den Haushalt in Frage zu
stellen.

Politisch würde also die Initiative klarer argumentieren
können.

Plan B notwendig

Zum anderen kann natürlich niemand bestreiten, dass die
Weigerung, eine „angemessene“ Entschädigung an die Immobilienhaie zu zahlen, zu
einer rechtlichen Auseinandersetzung um die Legalität eines Volksentscheides
führen kann.

Aber zu einer solchen Auseinandersetzung wird es
wahrscheinlich ohnedies kommen. Es wäre doch recht verwunderlich, wenn DW,
Vonovia & Co. eine Enteignung in Berlin zuließen, ohne die Gerichte
anzurufen und notfalls jahrelang dagegen zu prozessieren.

Hinzu kommt, dass es nur einen Zusammenbruch bzw. eine
Abwahl des gegenwärtigen Senats und andere parlamentarische Mehrheiten braucht
– und schon wäre jede legale Umsetzung wahrscheinlich auf parlamentarischer
Ebene gekippt oder zumindest in Frage gestellt.

In jedem Fall müssen wir damit rechnen, dass eine
„einfache“, legale Enteignung der großen Unternehmen nicht einfach aufgrund des
Drucks hunderttausender Unterschriften stattfinden wird. So „legal“ und
„verfassungskonform“ kann die Initiative nicht sein, weil die Frage letztlich keine
rechtliche, sondern eine des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ist – und
daher auch nur mittels Mobilisierung von Klassenkräften gelöst werden kann.

Daher tut die Initiative gut daran, sich strategisch und
taktisch folgendermaßen zu orientieren: Das Volksbegehren für den späteren
Volksentscheid, also das Sammeln der Unterschriften zum Erreichen dieser
zweiten Stufe sollte vor allem als politisches Mobilisierungsinstrument und
Mittel zur Sammlung und Organisierung von UnterstützerInnen begriffen werden.

Entscheidend ist jedoch, dass damit eine Bewegung aufgebaut
wird, die (a) die Komitees zum Sammeln von Unterschriften, MieterInnenkomitees,
Vollversammlungen usw. als Kampfinstrumente für weitergehende Aktionen versteht
(z. B. Massenproteste der MieterInnen, Besetzungen von Büros der DW …,
organisierten Mietenboykott) und (b) sich über Unterzeichnungskampagnen in den
Betrieben, Gewerkschaften, Büros, Unis, Schulen zu verbreitern sucht. Letztlich
geht es darum, die Mietenfrage auch in gewerkschaftliche und betriebliche
Auseinandersetzungen zu tragen – z. B. indem Mietsteigerungen durch
angemessene zusätzliche Lohnerhöhungen kompensiert werden und letztlich, indem
die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung auch mittels politischer Streiks
stark gemacht und ihre Einlösung erzwungen wird.

Auf diese Art könnte die Initiative ihr volles Potential im
Kampf für ein radikales, Wohnungsprogramm entwickeln, das den Kampf gegen
Mietwucher und Wohnungsnot mit dem gegen das kapitalistische System verbindet.