Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

In Zeiten
„bedrohter Identität“, wie in der gegenwärtigen „Krise der Globalisierung“,
gebiert der Kapitalismus reaktionäre Scheinlösungen mit ungeheuer aggressivem
Potential – allen voran das Urbild aller rassistischer Ideologien, den
Antisemitismus. Wieder wird das Unbehagen an der „kapitalistischen
Modernisierung“ dem „wurzellosen Kosmopolitismus“ angelastet – ein Kampfbegriff
der Rechten und auch von Teilen der sogenannten Linken, mit dem tiefe, auch
antisemitische Ressentiments angesprochen werden sollen.

Gleichzeitig hat
sich der Zionismus durch die aktuelle Entwicklung der israelischen Politik in
einen immer reaktionäreren Nationalismus gewandelt, der starke Momente des
Rassismus in sich aufgenommen hat – und im Krieg gegen die palästinensische
Bevölkerung weiter radikalisiert. Damit wird der berechtigte Kampf gegen den
Antisemitismus verwirrt durch einen Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs, der
gegen alle verwendet wird, die sich nicht bedingungslos hinter die
Apartheid-Politik der israelischen Regierung stellen.

Der unheilige
Schulterschluss von „Neuer Rechter“ und Zionismus heute macht deutlich, dass
wirklicher Kampf gegen den Antisemitismus zugleich in Abgrenzung zum Zionismus
erfolgen muss. Die berechtigten Anliegen der vielfältigen jüdischen
Gemeinschaften weltweit um Selbstbestimmung und Selbstschutz können nicht
reduziert werden auf und vereinnahmt werden durch die herrschende zionistische
Politik. Sie müssen in eine sozialistische, den Nationalismus überwindende
Perspektive der Lösung ethnischer Konflikte gestellt werden für eine Welt, in
der nicht nur jüdische Menschen zunehmend von „Diasporaisierung“ betroffen
sind. In diesem Zusammenhang muss die tatsächliche Position des revolutionären
Kommunismus zur „nationalen Frage“ nicht nur gegen pseudolinke Strömungen wie
die sog. „Anti-Deutschen“ verteidigt werden, sondern auch klar gegen deren
stalinistische oder kulturalistische Entstellungen – letztlich bleiben
Kommunismus und der bürgerliche Nationalismus Todfeinde!

Der Artikel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ bildet den Schwerpunkt dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus. Ursprünglich sollte der Artikel einen Teil der vorhergehenden Ausgabe unseres theoretischen Journals zum Thema „Populismus“ bilden, an das er auch anschließt. Aufgrund des Umfangs der Arbeiten entschieden wir uns jedoch dazu, das Material in zwei Nummern des „Revolutionären Marxismus“ zu veröffentlichen.

Der von Markus
Lehner verfasste Artikel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen
Nation“ entstand in enger Zusammenarbeit mit Michael Eff, insbesondere zu den
Kapiteln 1 und 9 sowie etlichen Ergänzungen im Text.

An den Artikel schließt sich ein Aktionsprogramm zu Palästina an, das von der „Liga für die Fünfte Internationale“ verfasst wurde und hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Es wurde zuerst in dem Buch „Against the Racist Endeavour. The dispossession of the Palestinians and its implications“ veröffentlicht, das 2018 von unserer britischen Sektion, Red Flag, publiziert wurde und einen historische Darstellung und Analyse der Entstehung Israels liefert. Das Aktionsprogramm skizziert kurz die brennendsten aktuellen Probleme und stellt der Politik der Vertreibung und Apartheid einerseits wie der Fiktion der sog. „Zweistaatenlösung“ die Perspektive eines gemeinsamen, multinationalen, säkularen Staates Palästina auf Basis voller demokratischer Rechte der PalästinenserInnen einschließlich des Rechts auf Rückkehr entgegen. Eine solche Perspektive erfordert freilich nicht weniger als die Verbindung des Kampfes gegen die nationale Unterdrückung mit dem für eine sozialistische Umwälzung, für die Schaffung eines ArbeiterInnen- und Bauern-/BäuerInnenstaates und einer sozialistischen Föderation im Nahen Osten.

Die künstlichen,
vom Imperialismus gezogenen Grenzen der gesamten Region bilden bis heute auch
ein zentrales Problem der „kurdischen Frage“ oder, besser gesagt, des Kampfes
gegen die Unterdrückung der KurdInnen. Weder die reaktionären, diktatorischen
oder halb-diktatorischen Regime in der Türkei, in Syrien, im Iran oder Irak
noch irgendeine der Weltmächte hat ein Interesse an der Befreiung dieses
Volkes. Allenfalls wird es als Fußtruppe im Kampf um die Neuaufteilung der
Region und zur Durchsetzung eigener Herrschaftsansprüche missbraucht.

Die „Thesen zur kurdischen Frage“ beinhalten daher auch eine Analyse der Ursachen der Unterdrückung der KurdInnen, einer der größten Nationen ohne eigenen Staat, und arbeiten heraus, warum der Kampf um ihre Selbstbestimmung notwendigerweise mit den Interessen der imperialistischen Staaten bzw. Blöcke wie auch der Regionalmächte des Nahen Ostens kollidieren muss. Die Forderung nach kurdischer Selbstbestimmung stellt implizit die gesamte „Ordnung“ der Region in Frage.

Die Thesen würdigen
nicht nur den Heroismus hunderttausender KämpferInnen gegen die Unterdrückung,
sie analysieren auch die Ursache für das Scheitern zahlreicher
Aufstandsversuche und den Verrat kurdischer Führungen im 20. und 21.
Jahrhundert. Unsere Solidarität mit dem Kampf gegen die UnterdrückerInnen und
deren imperialistische UnterstützerInnen – nicht zuletzt auch gegen jene
Deutschlands – ist bedingungslos. Aber sie ist nicht unkritisch. Die Thesen
skizzieren daher auch die Notwendigkeit eines Programms der permanenten
Revolution für Kurdistan als Alternative nicht nur zur pro-imperialistischen
Politik der DPK im Irak, sondern auch zur Tradition von PKK und PYD. Die Thesen
wurden im Sommer 2018 fertiggestellt und beschlossen. Die Entwicklung des
letzten Jahres hat ihre Kernaussagen bestätigt – ein Grund mehr, sie in dieser
Ausgabe des RM zu veröffentlichen.

Der Text „Gewerkschaften in Pakistan“ schließt den RM ab. Er wurde ursprünglich von unserer Pakistanischen Sektion, Revolutionary Socialist Movement, verfasst und 2016 auf Urdu als Broschüre veröffentlicht. Wir bedauern, dass wir den Text erst jetzt in deutscher Übersetzung vorlegen. Wir denken aber, dass er einen guten Überblick über Kernfragen des gewerkschaftlichen und politischen Klassenkampfes in Pakistan gibt und schon deshalb einem interessierten Publikum zugänglich gemacht werden sollte. Der Artikel verweist nicht nur auf die Bedingungen, unter denen die ArbeiterInnenklasse, Gewerkschaften und die politische Linke an einer Schnittstelle von Krise, Krieg und imperialistischer Konkurrenz zu agieren gezwungen ist, er legt auch dar, mit welcher Zielrichtung, welchem Programm dieser Kampf entwickelt werden kann.

Alle Texte des
RM beschäftigen sich mit reaktionären politischen und sozialen Folgen der
gegenwärtigen Krise des imperialistischen Weltsystems. Sie geben wenig Anlass
zu leichtfertigem Optimismus – aber die Texte zeigen auch, dass die Krise auf
die Notwendigkeit einer revolutionären, sozialistischen Umwälzung verweist,
dass die Alternative zu laufenden und drohenden Katastrophen nicht in einer
Politik des Rückzugs, sondern der kommunistischen Radikalität liegt. Nur eine
solche gibt berechtigen Anlass zur Hoffnung und zu einem historischen
Optimismus, der auf Vernunft und klassenkämpferischer Entschlossenheit basiert.
Um die Welt zu verändern, muss sie auch begriffen werden, wie schon der
Philosoph Spinoza zum Ausdruck brachte: „Nicht spotten, nicht klagen, nicht
verfluchen, sondern begreifen.“ Dazu will diese Ausgabe des Revolutionären
Marxismus betragen.




Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Die Internationale –
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer. (1)

Inhalt

Einleitung

1 Entstehung der „jüdischen Frage“ und des Antijudismus

2 Vielfalt des Judentums – gibt es ein jüdisches Volk?

3 Antisemitismus und „Kapitalismuskritik“

4 Antisemitismus und Massenpsychologie

5 Antisemitismus und Rassismus

6 Judentum, Kapitalismus und ArbeiterInnenbewegung

7 Antisemitismus und der Islam

8 Antisemitismus unter
muslimischen MigrantInnen in Europa

9 Antizionismus und
Antisemitismus

Endnoten

Einleitung

Eines der ältesten und wirksamsten Elemente des ausgrenzenden Populismus ist der Antisemitismus, die Ablenkung aller möglichen gesellschaftlichen Probleme auf die Juden und Jüdinnen als globalem Sündenbock. Nach der Shoa (2) und den Irrsinnigkeiten des Antisemitismus der Nazis bezieht sich wohl kaum noch jemand positiv auf den offen ausgesprochenen Begriff des „Antisemitismus“ (anders als dies noch vor 1945 der Fall war, als sich bestimmte rechte politische Parteien oder Vereinigungen stolz als „antisemitisch“ bezeichneten). Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht alle rechten und populistischen Bewegungen Elemente des Antisemitismus aufrechterhalten bzw. den Hass auf Sündenböcke, die mehr oder weniger etwas mit dem „Jüdischen“ zu tun haben mögen, weiterhin für ihre politischen Zwecke verwenden würden. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass auch in der deutschen und österreichischen Bevölkerung weiterhin ein gewisser Bodensatz an Antisemitismus besteht, der von rechten Organisationen auf mehr oder weniger subtile Weise bedient wird. Dies wird letztlich auch an der steigenden Zahl antisemitischer Delikte, die in ihrer Mehrheit nachgewiesenermaßen von nicht-migrantischen Menschen ausgehen, deutlich.

Andererseits hat sich der
Begriff „Antisemitismus“ zu einem politischen Kampfbegriff gewandelt, der von
verschiedenen Kräften als polemische Waffe gegen politische GegnerInnen
eingesetzt wird. Aktuell wird er stark für Kampagnen gegen angeblich in ihrer
Mehrheit antisemitisch eingestellte migrantische Bevölkerungsgruppen genutzt.
Dies bezieht sich erstens auf Regierungsparteien und bürgerliche
Öffentlichkeit, denen dies zur Verschärfung von Repressions- und
AusländerInnengesetzen dient. Dabei werden tatsächlich anti-jüdische
Einstellungen und Positionierung gegenüber der Politik Israels verwischt, um dramatische
„Integrationsprobleme“ zu beschwören, die alle möglichen Maßnahmen bis hin zur
Abschiebung rechtfertigen würden. Zweitens wird dies auch zur
Entsolidarisierung mit Geflüchteten genutzt, besonders gegenüber linker oder
liberaler Öffentlichkeit, eben um repressive Maßnahmen zu rechtfertigen.
Drittens ist es makaberer Weise ein Mittel der RechtspopulistInnen, die den
angeblichen Antisemitismus von Geflüchteten ebenso für ihre Propaganda nutzen
wie für die Einschränkung von Frauenrechten (für die sie ja auch sonst so viel
tun…). In ihren Einlassungen zum Antisemitismus erklären AfD oder FPÖ diesen
heute zu einem Problem, das nur bei Geflüchteten wiederauftauche. Dies beweise,
wie sehr der Islam „kulturfremd“ und Migration aus muslimischen Ländern zu unterbinden
sei. Ähnlich begründen ausgerechnet auch die polnische und ungarische Regierung
unter anderem die Ablehnung der Aufnahme von Geflüchteten aus muslimischen
Ländern. Andererseits hat der Rechtspopulismus zumeist eine Kehrtwende in Bezug
auf die Positionierung zum israelischen Staat vollzogen und sieht sich heute
mit der israelischen Rechten und den Regierenden in Israel in einer Front im
Kampf gegen die „muslimische Gefahr“.

Viertens verwendet auch die
israelische Regierung den Antisemitismusvorwurf gegen alle möglichen
KritikerInnen ihrer politischen und militärischen Maßnahmen, vor allem in Bezug
auf ihre Besatzungspolitik und ihren „Kampf gegen den Terror“. Bekanntlich wird
der Begriff des „Terrors“ dabei sehr weit gefasst. Jede Solidarisierung mit
solchermaßen definiertem Terrorismus wird dann in die Nähe von eliminatorischem
Antisemitismus gebracht (so wird Solidarisierung mit Opfern israelischer
Militäraktionen in Gaza wegen der dort gegebenen führenden Rolle der Hamas als
heimliche Sympathie mit dieser extremen Form des Antisemitismus diffamiert).
Durch die Verbindung mit dem „Kampf gegen den Terror“ der Neo-Konservativen und
ihrer Clash-of-Culture-Strategie wird die so erweiterte Gleichsetzung von
Antisemitismus und Antizionismus zum Element der Sicherheitsdoktrin aller
„westlichen“ Staaten. So werden dann z. B. Iran/Hisbollah zu zentralen
AgentInnen des Antisemitismus und der Bedrohung einer friedlichen Ordnung im
Mittleren Osten und der Welt überhaupt, also zu möglichen Ausgangspunkten einer
neuen Shoa.

Schließlich wird
„Antisemitismus“ auch als Kampfbegriff innerhalb der Linken (nicht nur in
Deutschland und Österreich) benutzt, um insbesondere Teile der
„anti-imperialistischen“ Linken als „verkappte“, „sekundäre“ AntisemitInnen zu
bekämpfen oder sie zumindest als „naive Hilfstruppen“ oder „VersteherInnen“ der
gefährlichen muslimischen AntisemitInnen zu „entlarven“. Die sogenannte
„anti-nationale“ Linke verbindet ihre Antisemitismus-Definition mit einer
Kritik an einer vorgeblich „verkürzten Kapitalismuskritik“ der
„anti-imperialistischen“ Linken. Mit ihrer oft überzogenen Kritik an
„völkischen“, „personalisierenden“ oder „nationalistischen“ Elementen bei
Anti-KapitalistInnen oder Anti-ImperialistInnen wird die sogenannte
Antisemitismus-Kritik zu einem Königsweg für die Rehabilitierung von
Reformismus und die Kapitulation vor den „liberal-demokratischen“
Imperialismen. Aktuell kann diese Funktion in der Auseinandersetzung in der
britischen Labour-Party studiert werden, wo der Streit um angeblich massenhaften
Antisemitismus und um die Anerkennung stark Israel-bezogener Definitionen des
Antisemitismus zu einem Haupthebel des Angriffs der Parteirechten gegen die
linksreformistische Labourführung um Jeremy Corbyn verwendet wird.

Offensichtlich sind die offiziellen
von staatlichen oder über-staatlichen Institutionen (oder auch vom
Wissenschaftsbetrieb) kodifizierten Antisemitismus-Definitionen zu einem
Kampffeld sich widersprechender Interessen geworden. Sowohl die israelische als
auch die US-Regierung üben hier zum Teil massiven Druck aus, um die Frage des
Staates Israel entscheidend in diese offiziellen Definitionen einzubringen. Mit
den oben beschriebenen Szenarien rund um Migrationspolitik und politische
Konflikte, in denen der Begriff zum Kampfbegriff geworden ist, ist es auch
nicht verwunderlich, dass auch z. B. in Deutschland gerade heftig an
entsprechenden Ausdehnungen der Antisemitismus-Definitionen gearbeitet wird –
inklusive der Partei „Die Linke“.

Offenbar ist die an sich schon
schwierige und von Hekatomben von Opfern belastete Frage des Antisemitismus
zusätzlich kompliziert durch die Verknüpfung mit der Geschichte des Zionismus,
der nationalistischen Strömung, die als Reaktion auf den Antisemitismus die
Lösung der „jüdischen Frage“ in der Gründung eines eigenen „Nationalstaats der
Juden und Jüdinnen“ sah – und die letztlich die Gründung von Israel im Gebiet
des damaligen britischen Mandatsgebietes Palästina vor 70 Jahren erkämpfte.
Offensichtlich entwickelten sich die dominierenden Strömungen des Zionismus
seither gegenüber der arabischen Bevölkerung (ob mit israelischer
Staatsbürgerschaft, in den besetzten Gebieten oder außerhalb Palästinas) zu
rassistisch-militaristischen Ideologien und Politiken. Davon kann auch der
israelische Staat als Ganzes nicht getrennt werden – wie sich gerade in der
letzten Änderung der Verfassung (Israel als der Staat der Juden und Jüdinnen)
klar gezeigt hat.

Eine der heute stark verwendeten offiziellen Definitionen des Antisemitismus, die der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken, IHRA), führt als eine von 11 wesentlichen Beispielen von gegenwärtigem Antisemitismus an: „Leugnung des Selbstbestimmungsrechtes des jüdischen Volkes, z. B. indem man die Gründung des Staates Israels als rassistische Unternehmung denunziert“ (3). Hier wird offensichtlich unterstellt, dass jede Analyse des rassistischen Charakters von Israel das Selbstbestimmungs- bzw. Existenzrecht des „jüdischen Volkes“ (abgesehen von der Frage, ob alle 15 Millionen der sich weltweit als Juden und Jüdinnen betrachtenden Menschen zu diesem einen Volk zählen mögen oder nicht) in Frage stellen würde und damit automatisch antisemitisch sei. Dies wird oft auch mit dem Vorwurf der „Doppelstandards“ (welcher Staat sei denn frei von Rassismus?) begründet – als wenn die Entstehung des Staates als Siedlerstaat im Zusammenhang mit der westlichen Kolonialgeschichte Israel nicht tatsächlich im Gegenteil mit anderen, ähnlichen Projekten vergleichbar machen würde.

Ziel des vorliegenden Artikels ist es zunächst, jenseits dieser aktuellen Auseinandersetzungen um den Antisemitismusbegriff eine historische Übersicht über die verschiedenen Formen des Antisemitismus zu liefern. Doch wird hier schon klar, dass es nicht einen, sondern viele „Antisemitismen“ gibt. Insbesondere sollen auch die Formen des europäischen Antisemitismus von den sich in den letzten Jahrzehnten gebildeten Formen des muslimischen Antijudaismus differenziert werden. Vor diesem Hintergrund sollen die aktuellen Auseinandersetzungen um den Begriff bewertet und eine differenzierte Strategie zur Bekämpfung sowohl der verschiedenen Formen des Antisemitismus als auch der missbräuchlichen Verwendungen des Begriffs in ihren Grundzügen dargestellt werden.

1 Entstehung der „jüdischen Frage“ und des Antijudaismus

Zunächst einmal wurzelt der in
Europa entstandene Antisemitismus in einer jahrhundertealten
kulturell-religiösen Tradition der Judenfeindlichkeit, dem sogenannten
„Antijudaismus“.

Natürlich sind moderner
europäischer Antisemitismus und traditioneller religiös-christlicher
Antijudaismus nicht gleichzusetzen, aber der moderne, rassistisch verankerte
Antisemitismus im „christlichen Europa “ wäre undenkbar und unerklärbar ohne
Berücksichtigung seiner religiös-kulturellen Verwurzelung.

1.1 Mythos „Diaspora“ und ihr
historischer Hintergrund

Es scheint eines der ältesten
historischen Rätsel zu sein, dass als „jüdisch“ bezeichnete gesellschaftliche
Gruppen über Jahrhunderte als „Volk ohne Land“, das in tausenden Gemeinden über
zahlreiche Länder, Völker, Kulturräume etc. verstreut lebte, doch als im Großen
und Ganzen kulturell homogene Ethnien überleben konnten und trotz aller
möglichen immer wieder erlittenen Verfolgungen nicht in der Assimilierung in
den jeweiligen Hauptvölkern verschwunden sind. Der Mythos will es, dass dem die
Vertreibung aus der ursprünglichen Heimat Israel/Palästina durch die RömerInnen
im Laufe des 1./2. Jahrhunderts vorausging; dass die Juden und Jüdinnen in der
Diaspora (4) von Ort zu Ort wandern mussten, zusammengehalten durch das starke
Band ihrer religiösen Gemeinschaft, mit der ewigen Hoffnung, einst in ihre
ursprüngliche Heimat zurückkehren zu können.

Tatsächlich sprechen die
historischen Quellen und archäologische Befunde dafür, dass schon vor den
Niederlagen in den drei „jüdischen Kriegen“ gegen die RömerInnen (66–135
u. Z.) und der Flucht/Vertreibung eines Teils der jüdischen Bevölkerung
des historischen Palästinas die überwältigende Mehrheit der Juden und Jüdinnen
in der Diaspora lebte, verteilt rund um das Mittelmeer, und hauptsächlich vom
(Fern-)Handel lebte – ähnlich wie übrigens auch andere Völker der Levanteküste,
wo die wichtigsten Handelswege aus Innerasien an der östlichen Mittelmeerküste
endeten. Es gab, als das phönizische Handelsimperium im Abstieg war, z. B.
auch viele Übertritte zum Judentum bei den PhönizierInnen und den
KarthagerInnen (Karthago war ursprünglich eine phönizische Kolonie). Der
deutlichste Beweis für diese Verbreitung ist der von HistorikerInnen so
genannte „Diaspora-Aufstand“ (115–117 u. Z.), mitten in diesen jüdischen
Kriegen, der jüdische Aufständische gegen die Politik des Kaisers Trajan vom
heutigen Libyen, über Zypern, Alexandria, Antiochia bis nach Mesopotamien
umfasste und beträchtliche militärische Kräfte des römischen Reiches band (5).
Auch wenn viele Zahlen der römischen HistorikerInnen übertrieben sein mögen,
zeigt sich hier klar das numerische Ausmaß der schon vor dem Ende des
Bar-Kochba-Aufstandes (136 u. Z.) bestehenden jüdischen „Diaspora“.

Tatsächlich ist die Übernahme
der Handelsmacht der PhönizierInnen im Mittelmeerraum durch Juden und Jüdinnen
ab dem 4. Jahrhundert vor der Zeitenwende kein Zufall. Die Nähe des Judentums
zu Phönizien ist nicht nur geographisch gegeben, sondern auch sprachlich und
kulturell. Phönizisch und Hebräisch gehören beide zur kanaanäischen
Sprachfamilie (6). Viele Bezugnahmen in der Bibel auf die in Kanaan
verbreiteten vorbiblischen religiösen Praktiken und Vorstellungen verweisen auf
die Verehrung von Baal (dem Hauptgott der PhönizierInnen). Die „neuen
israelischen HistorikerInnen“ wie z. B. Shlomo Sand verweisen heute den
biblischen Mythos von einem „jüdischen Volk“, das als geschlossene Einheit und
mit festem monotheistischen Glauben in Kanaan eingewandert ist, in das Reich
der Mythenbildung. Tatsächlich waren die HebräerInnen wohl eines von vielen
„Völkern“, die sich zusammen mit anderen KaananiterInnen und AramäerInnen in
der frühen Eisenzeit (die in dieser Region schon im 12. Jahrhundert
v. u. Z. begann) herausbildeten und in zwei lose gefügten
„Königreichen“ organisierten („Juda“ und das „Nordreich“). Diese wurden erst
von den biblischen Erzählungen, die erst zwischen dem 5. und 2. Jahrhundert
v. u. Z. entstanden, zu „jüdischen Königtümern“ gemacht. Tatsächlich
waren sie laut Shlomo Sand (7) nicht nur multiethnisch geprägt, sondern Jahwe
war nur einer von vielen Göttern wie auch die verschiedenen Baals, die dort
verehrt wurden (8). Erst die Eroberung des Nordreichs durch die AssyrerInnen im
8. Jahrhundert und von Juda durch das neubabylonische Reich im 6. Jahrhundert
schufen speziell in den Zentren der viel weiter entwickelten Großreiche eine
jüdische Elite, die begann, das monumentale Gebäude der monotheistischen
jüdischen Religion zu erstellen und zu verschriftlichen. Im Perserreich bekamen
diese Eliten die Möglichkeit, ihre religiösen Gebote in der persischen Provinz
Judäa gegen die „heidnische“ Konkurrenz immer mehr durchzusetzen (9).

Mit dem Sieg Alexanders des
Großen Ende des 4. Jahrhunderts über die PerserInnen und die Errichtung der
hellenistischen Staaten in der Region verbesserte sich die Situation des
Judentums nochmals außerordentlich. Die mit den PerserInnen eng verbundenen
PhönizierInnen verloren ihre Unabhängigkeit. Entweder durch Bekehrung oder
durch Zuwanderung vermehrte sich die Gemeinde jüdischer HändlerInnen in Städten
wie Tyros enorm (10). Gleichzeitig förderten speziell die PtolemäerInnen das
Judentum, holten eine große Zahl jüdischer HändlerInnen und Gelehrter nach
Alexandria und finanzierten eine großangelegte Übersetzung der biblischen
Schriften ins Griechische. Letzteres wurde zu einer starken Waffe zur
Verbreitung der jüdischen Religion als einer der frühesten konsequent
monotheistischen Religionen in der gesamten hellenistischen Welt. Der
Diaspora-Aufstand 300 Jahre später zeigt, wie weit im Mittelmeerraum die
offensive Missionierung des Judentums seit damals wohl gewirkt haben muss. Im
2. Jahrhundert v. u. Z. war das Judentum in Palästina so weit
erstarkt, dass es die hellenistische Herrschaft offen militärisch herausfordern
konnte. Mit den Makkabäer-Aufständen um das Jahr 160 v. u. Z. gelang
es für eine kurze Zeit von etwa 80 Jahren tatsächlich, einen jüdischen Staat
mit gewisser Unabhängigkeit zu etablieren, als „Königreich Judäa“, das eine Art
Theokratie war (mit dem Hohepriester als zentralem religiösen Führer). Diese
Unabhängigkeit wurde durch das Lavieren zwischen den SeleukidInnen und
RömerInnen möglich und endete damit logisch durch die Annexion als römische
Provinz Judäa 64 v. u. Z. durch Pompeius. Zwar führte die Integration
ins Römische Reich einerseits noch einmal zu einer günstigen Bedingung für die
Verbreitung des Judentums durch Missionierung. Andererseits mussten die
weitreichenden Ansprüche des damalig auf Expansion und Messianismus ausgerichteten
Judentums und die imperialen Ordnungsziele der RömerInnen unweigerlich zum
Konflikt führen. Die Aufstände der ZelotInnen („religiöse EifererInnen“) nach
66 u. Z. und der Bar-Kochba-Aufstand nach 132 u. Z. wurden von der
römischen Militärmacht als grundlegender Angriff auf die Integrität des Reiches
angesehen und daher mit brutalst möglicher Gewalt unterdrückt (11). Jerusalem
wurde für Jahrzehnte unbewohnbar und die einst blühende Provinz in die
untergeordnete Prokuratur „Syria Palästina“ umgewandelt.

Die Zerstörung des alten
jüdischen Zentrums führte also nicht allein zur Diaspora. Die „Zerstreuung“
(oder „Entsendung“, wie das Wort auch übersetzt werden kann) über
Mittelmeerraum und fruchtbaren Halbmond war schon vorher voll im Gang – und war
bis dahin weniger Vertreibung als vielmehr Ausbreitung entlang der Handelswege
und Missionierung mit messianischem Eifer. Doch nach der endgültigen Niederlage
im Bar-Kochba-Aufstand änderte sich der Charakter der Diaspora grundlegend. Die
bisherigen Zentren Jerusalem, Alexandria und Antiochia (letztere beiden durch
den Diaspora-Aufstand) hatten ihre Bedeutung verloren, und die Perspektive
einer militanten Ausbreitung bzw. der militärischen Durchsetzung eines eigenen
Staates hatte ausgespielt. Das Judentum beschränkte sich nunmehr auf das
Überleben seiner zerstreuten Gemeinden, legte das Missionarische ab. Es
entstand das pazifistische Rabbinertum. Zentrale Schriften des Judentums wie
die Mischna und die beiden Versionen des Talmuds entstanden in der ersten Zeit
dieses „neuen Exils“ und enthalten Auslegungen von Bibel und den Mizwot (12),
die das jüdische Leben auf die Anpassung an die Diaspora ausrichten. Die drei
heiligen Eide des Talmuds (Ketubot 111a) besagen: keine gewaltsame Rückkehr in
das „Land Israel“ ohne Zeichen des Messias; keine offensive Auflehnung gegen
die weltlichen HerrscherInnen in den Ländern, in denen man lebt; zu bewirken,
dass die Länder, in denen man lebt, die Juden und Jüdinnen gut behandeln. Auch
erst in dieser Zeit entstand die halachische Rechtsauffassung (Halacha ist die
auf dem Tanach, den normativen Bibeltexten, beruhende Rechtslehre), dass Jude
und Jüdin nur sein kann, wer eine Jüdin als Mutter hat oder eine langwierige
Konversionsprozedur (und u. a. bei Männern die Beschneidung) hinter sich
hat – die jüdischen Gemeinden wurden also gegenüber den sie umgebenden Völkern
stark abgeschlossen.

Unter diesen Geboten
verbreiteten sich nun die jüdischen Gemeinden im römischen Reich sehr viel
unspektakulärer. Am schnellsten erholte sich das Judentum in Nordafrika, von wo
aus es sich nach Spanien ausbreitete. Die missionarische Dynamik im Römischen
Reich war auf eine vom Judentum abgespaltene Sekte übergegangen: das
Christentum. Dieses übernahm nicht nur viele Diaspora-Gemeinden, sondern wurde
auch in der Levante und in Palästina bis zur Eroberung durch die AraberInnen
zur dominierenden Religion. Für die Juden und Jüdinnen außerhalb von Palästina
(wo sich nur kleine Gemeinden vor allem in Galiläa hielten) wurde das „Land
Israel“ zu einem mehr spirituellen Bezugspunkt, Jerusalem vor allem zum
Pilgerziel und die Synagoge zum Ersatz für den zerstörten Tempel.

1.2 Das Überleben in der
„Diaspora“ aus historisch-materialistischer Sicht

Der jüdische Marxist und
Trotzkist Abraham Léon hat in einer wegweisenden historisch-materialistischen
Studie (13) analysiert, dass es sowohl für die große räumliche Verteilung als
auch für das religiöse Band der jüdischen Gemeinden klare materielle Gründe
gibt: In den vorkapitalistischen Gesellschaften, bei denen der Charakter der
Hauptklassen durch die agrarische Naturalwirtschaft bestimmt war, mussten
wichtige Elemente der Warenzirkulation, insbesondere solche, die Fernhandel und
damit zusammenhängende Handwerke erforderten, von spezialisierten Schichten der
Bevölkerung ausgefüllt werden. Der Fernhandel und das Know-how spezialisierter
Handwerke erforderten einheitliche Sprache, Schrift und Weitergabe von
Erfahrungen und Ähnliches, was es am einfachsten machte, dass diese
gesellschaftlichen Schichten dann auch von einem „Volk“ gebildet wurden (ob
sich dieses Volk nun durch diese Tätigkeiten bildete, schon zuvor bestand oder
beides). Jedenfalls waren die Juden und Jüdinnen in dieser Funktion in der
Antike und dem Mittelalter keineswegs einmalig.

Der Zusammenbruch des Römischen
Reiches, die Herausbildung früher feudaler Strukturen im fränkischen Reich und
die Entstehung der dynamischen islamischen Staaten bis hin zur Iberischen
Halbinsel schienen den großen ökonomischen Wirtschafts- und Handelsraum der
Römerzeit auseinandergerissen zu haben. Tatsächlich führte dies gerade zum
Aufblühen der jüdischen FernhändlerInnen-Gemeinschaften. Durch ihre spezielle
Stellung als „Menschen des Buches“ konnten die Juden und Jüdinnen (anders als
andere ähnliche Gemeinschaften) auch unter islamischer Vorherrschaft ihre
Handelsprivilegien behalten und als nunmehr einzige Handelsschnittstelle
zwischen Ost und West sogar ausbauen (anfänglich konnten syrische ChristInnen
eine Zeit lang noch eine ähnliche Rolle spielen). Insbesondere unter den
UmayyadInnen im Kalifat von Córdoba kam es zu einem Erblühen von jüdischer
Kultur, Handwerk und Handelsaktivität, die sich mit dem Bedarf der fränkischen
Elite nach Fernhandelsprodukten und dem Know-how der Juden und Jüdinnen
(z. B. in Medizin und Technik) deckte (14). Es sollte nicht vergessen
werden, dass im mittelalterlichen Europa ein Großteil der jüdischen Bevölkerung
auf der Iberischen Halbinsel lebte (bei ihrer Vertreibung aus Spanien und
Portugal nach 1492 sollen es um die 400.000 gewesen sein). Neben diesen
„sephardischen Juden und Jüdinnen“ (15) waren die „aschkenasischen Juden und
Jüdinnen“ (16) im restlichen Europa eher Ableger und Außenposten, die bis ins
Hochmittelalter nur ein paar tausend Menschen in verstreuten Gemeinden zählten.

Die Sephardim entwickelten vom
8. bis zum 11. Jahrhundert die jüdische Kultur zu einem Höhepunkt in der
jüdischen Geschichte. Ihre VertreterInnen (wie Moses Maimonides) dachten nicht
im Traum an die Rückkehr nach Palästina (gemäß den erwähnten Eiden des
Talmuds). Maimonides entwickelte wie vor ihm schon Philon von Alexandria die
Theorie von den zwei Heimaten der Juden und Jüdinnen – dem „himmlischen
Jerusalem“ (erlebt in der Gemeinde und Synagoge) und der weltlichen,
unmittelbaren Heimat, in der man lebt. Ganz real differenzierte sich im
aufblühenden iberischen Gemeinwesen die jüdische Bevölkerung in Menschen mit
hohen Staatsämtern und großen Reichtümern, mit HandwerkerInnen, mit
SoldatInnen, mit Bauern und Bäuerinnen etc. Die Krise der muslimischen
Herrschaft in al-Andalus, verbunden mit fundamentalistischeren Strömungen, die
immer wieder politische Macht erlangten, erschütterte diese Stellung der
jüdischen Gesellschaft immer mehr. Die Ausbreitung der christlichen Königreiche
(Reconquista) und die Vertreibungen aus muslimischen Teilstaaten in diese neuen
Reiche führten immer mehr zu einer Angleichung an die Situation der Juden und
Jüdinnen im restlichen Europa.

1.3 Entstehung und Funktion des
mittelalterlichen Antijudaismus

Mit dem 11. Jahrhundert änderte
sich die vorteilhafte Situation der Juden und Jüdinnen in Europa insgesamt: Die
Entwicklung der städtischen Ökonomien im christlichen Europa brachte immer mehr
KonkurrentInnen für die jüdischen HändlerInnen und HandwerkerInnen hervor, und
von Land zu Land wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr in Nischen
abgedrängt. Von einer notwendigen und gebrauchten ökonomischen und
intellektuellen Sonderrolle wurden die Juden und Jüdinnen immer mehr zu einer
Randschicht. Eine der zentralen Funktionen, die ihnen ab dem Hochmittelalter
blieb, war die des Geldverleihs. Dies wurde gegenüber Handel und
spezialisiertem Handwerk die immer wichtigere Einnahmequelle.

Eine der üblichen Theorien zur
Entwicklung des Judentums im Hochmittelalter ist, dass sie durch das
entstehende Zunftwesen und den darin verankerten Ausschluss von
Nicht-ChristInnen aus handwerklichen Berufen gedrängt wurden und wegen des
Zinsverbots für ChristInnen ihnen damit nur die Nische des Geldverleihs blieb.
Tatsächlich weist Léon zu Recht darauf hin (17), dass dies für bestimmte
Handwerke gar nicht stimmt (z. B. Goldschmiederei, Optik), in denen
weiterhin viele Juden und Jüdinnen aktiv waren. Andererseits ist auch richtig,
dass es in feudalen Gesellschaften eben die Tendenz gibt, bestimmte
Bevölkerungsgruppen kastenartig auf bestimmte Tätigkeiten festzulegen. Der
Schritt vom Fernhandel, bei dem zunehmend Konkurrenz auftrat, zum Geldhandel,
nach dem durch die Ausdehnung der Warenzirkulation zunehmend Bedarf auftrat,
ist nun nicht so weit.

Jedoch ist zu beachten, dass in
einer feudalen Gesellschaft die Funktion des Geldverleihs noch sehr viel
weniger produktiv ist als im Kapitalismus. Er dient kaum der
Mehrwertproduktion, sondern vor allem als Konsumkredit, d. h. der
Umverteilung von Mehrprodukt, was im Allgemeinen höhere Zinsen und Sicherheiten
verlangt (18). Von daher sind in diesen Gesellschaften GeldverleiherInnen
besonders unpopulär bei den SchuldnerInnen („Wucherzinsen“). Dass sich die
Funktion des Geldverleihs bei den Juden und Jüdinnen festsetzte, entlastete
andere aufstrebende BürgerInnen von dieser unpopulären Profession.
Antijudaistische Mythen, Hetze gegen Juden und Jüdinnen, schließlich
gewalttätige Ausschreitungen gegen sie waren eine Folge dieser unglücklichen
Rolle, in die sie gedrängt worden waren. Ausschlüsse aus bestimmten
Tätigkeiten, Verbot von Landbesitz, Verbot des Waffentragens, Verbote für
bestimmte Ämter etc. waren mehr die Folge dieser materiellen Situation als
deren Ursache. Ausgangspunkt der Hetze waren letztlich vor allem die von
Schulden gegenüber Juden und Jüdinnen geplagten Feudalherren selbst, ob nun
Adelige oder KlerikerInnen. Die ersten brutalen Ausschreitungen und Morde an
Juden und Jüdinnen gingen zumeist unter Beteiligung von Rittern oder mit großen
Verwünschungen von Priestern und Bischöfen vor sich.

Diese Hetze gegen Juden und
Jüdinnen wurde von KlerikerInnen ideologisch überhöht, indem sie die Juden und
Jüdinnen zu den „MörderInnen Christi“ machten (sollte Jesus eine historische
Person gewesen sein, wäre er eigentlich von den RömerInnen ermordet worden).
Sie seien daher als Verdammte über den Globus zerstreut worden und würden jetzt
bei jedem Volk wie eine Plage einfallen. Als mit der Absperrung des Pilgerwegs
nach Jerusalem der Kreuzzugswahn in Gang gesetzt wurde, waren auch die Juden
und Jüdinnen ein Teil der Feindeswelt im Weltbild der Kreuzfahrer. Im
Zusammenhang mit den Mordfahrten ins „Heilige Land“ wurden dann auch die
berüchtigten Geschichten über Juden und Jüdinnen mitgebracht, wie z. B.
die Ritualmordlegenden, Brunnenvergifter-Vorwürfe, allgemeine
Verschwörungstheorien etc. Die ersten großen Judenpogrome in Mitteleuropa
fanden zu Beginn des ersten Kreuzzuges statt und wiederholten sich dann in
schlimmer Regelmäßigkeit.

Die Verunglimpfung, die das
Alte Testament gegen den vorbiblischen Baal-Kult betrieb, wendete sich jetzt
absurder Weise gegen die Juden und Jüdinnen selbst. Die den KanaanäerInnen
vorgeworfenen „teuflischen“ Rituale wie Kinderopfer oder Tempelhurerei – wie
sie von diversen Propheten der Bibel fürchterlich ausgemalt wurden –, wurden
jetzt der jüdischen Religion selbst angedichtet. Baal, in der Form des
„Beelzebub“, ging in die mittelalterlichen Teufelsvorstellungen über und wurde
jeweils in (wie auch immer vorzustellender) jüdischer Gestalt dargestellt.
D. h., das Judentum wurde immer mehr als eine Art Teufelskult
verunglimpft, dem Kindermord, Blutrituale (Dämonisierung von Beschneidung und
Schächten) und sexuelle Exzesse zu eigen seien. Möglich ist, dass viele
Ausschmückungen dieser Baal-Judentum-Schauergeschichten von den heimkehrenden
Kreuzzüglern mitgebracht wurden, die neben grauenhaften Erlebnissen oft auch
die erstmalige Konfrontation mit einer als sehr fremd erlebten und als
bedrohlich empfundenen Kulturwelt verarbeiten mussten.

Dabei darf die ökonomische
Funktion dieser Hetze und Verfolgung nicht vergessen werden. Tatsächlich war
auch im Hochmittelalter die Geldverleihfunktion der Juden und Jüdinnen
weiterhin für die Feudalherren wichtig und unumgänglich. Bei aller Hetze und
Gewalttätigkeit war man noch nicht auf dem Level, dass man von Seiten der
Herrschenden die Juden und Jüdinnen wirklich vertreiben wollte. Dies drückt
sich dann in den verschiedenen mittelalterlichen Staaten in unterschiedlichen
Schutzprivilegien aus. So erließen z. B. die Könige von England und Frankreich
und der deutsche Kaiser Erklärungen, die Juden und Jüdinnen jeweils unter ihren
besonderen Schutz stellten und schwere Strafen für Gewaltanwendungen gegen sie
androhten (was auch tatsächlich in vielen Fällen umgesetzt wurde). Im Gegenzug
wurden die Juden und Jüdinnen (die sich gleichzeitig nicht selbst verteidigen
durften) in fast völlige Abhängigkeit (wenn nicht gar Leibeigenschaft)
gegenüber der Zentralgewalt gebracht. Dies drückte sich dann in hohen Steuern
aus, die die Juden und Jüdinnen für diesen „Schutz“ an Könige, Kaiser oder
Landesfürsten zu entrichten hatten (19). Insbesondere in Frankreich und England
wurden die Juden und Jüdinnen so zu einem wichtigen Instrument zur Umverteilung
des feudalen Mehrprodukts vom niedrigen Adel an die feudalen Zentralgewalten.
Natürlich wurden die Juden und Jüdinnen auch zur Finanzierung der großen Herren
selbst gebraucht – was auch beinhaltete, dass von Zeit zu Zeit zur Behebung von
finanziellen Engpässen die „Schutzherren“ selbst zum Mittel der zeitweiligen
Vertreibungen der Juden und Jüdinnen griffen (so weit, bis ihre
Schuldenprobleme durch Aneignung von Pfandgütern der Vertriebenen gelöst
waren). Gerade durch die Aneignung der vom Adel wegen ihrer Schulden gegenüber
den Juden und Jüdinnen verpfändeten Güter konnte sich die landesfürstliche
Gewalt im 12. bis zum 14. Jahrhundert auf immer mehr Gebiete ausdehnen. In
England hatten die Juden und Jüdinnen im 13. Jahrhundert und in Frankreich im
14. Jahrhundert „ihren Dienst“ weitgehend erfüllt. Da sich entsprechende einheimische
Kauf- und Bankleute entwickelt hatten, wurden dann jeweils die Juden und
Jüdinnen ganz aus dem Land vertrieben. Sowohl in England als auch in Frankreich
entwickelte sich jüdisches Leben (jenseits der damals übrig gelassenen kleinen
Enklaven in der Provence, Marseille, Bordeaux und dem Elsass) erst wieder ab
dem 18. Jahrhundert.

1.4 Vertreibung aus West- und
Mitteleuropa, Ost-Migration

In Deutschland und Italien
verzögerte sich diese Art der Vertreibung durch die größere Zersplittertheit
der Landeshoheiten. Einerseits gab es rückständigere Gebiete, wo die
Entwicklung sowieso langsamer vor sich ging. Andererseits verliefen die Zyklen
von Vertreibung, Rückholung und Schutzknechtschaft in den verschiedenen
Fürstentümern unterschiedlich, so dass eine Vertreibung oft nur ins benachbarte
Fürstentum erfolgte. Dies führte jedoch auch dazu, dass sich in Mitteleuropa
der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus viel stärker mit der Krise des
Feudalsystems und dem aufkommenden Kapitalismus verband. Viel mehr noch als in
Frankreich oder England konnten die Juden und Jüdinnen zu Sündenböcken für die
Härten und Krisen des Frühkapitalismus gemacht werden. Andererseits wurden die
Juden und Jüdinnen immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt: Auch im
Bankwesen traten nord-italienische und deutsche Kaufleute und Bankiers immer
mehr an die Stelle der Juden und Jüdinnen. In der Folge verarmten sie, wurden
zu TrödlerInnen, PfandleiherInnen, kleinen DiebInnen etc. Anders als es die
allgemeine Vorstellung über die Juden und Jüdinnen im Mittelalter suggeriert,
waren Ghettoisierung, Pflicht zu „charakteristischer“ Judenkleidung, extreme
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit etc. erst eine Erscheinung des späten
Mittelalters oder der frühen Neuzeit.

Mit dem 16. Jahrhundert waren
die Aschkenasim fast völlig aus West- und Mitteleuropa verschwunden und fanden
ostwärts eine neue Zuflucht. Das Gebiet östlich des „Römischen Reiches
Deutscher Nation“ war seit dem späten Mittelalter im losen polnisch-litauischen
Staatengefüge organisiert, das nicht nur Polen und die baltischen Staaten,
sondern auch weite Teile Weißrusslands, der Ukraine und Rumäniens umfasste. Die
dort vorherrschenden feudalen Strukturen, die alten Handelsbeziehungen der
Juden und Jüdinnen und ihre dort gebrauchten Fertigkeiten führten dazu, dass
sie in Osteuropa noch lange eine ähnliche Nische ausfüllen konnten, wie sie sie
im Mittelalter in West- und Mitteleuropa hatten (20). Außerdem hatten mehrere
polnisch-litauische Könige die verfolgten Juden und Jüdinnen aus West- und
Mitteleuropa (durchaus aus eigennützigen Gründen) zur Ansiedlung eingeladen und
ihnen auch weitreichende Privilegien erteilt. Auch wenn das polnische Königtum
ebenso Schutzknechtschaftssysteme verwendete und vom Adel immer wieder Pogrome
inszeniert wurden, kam es lange nicht im selben Ausmaß zu Vertreibungen wie im
Westen. „Polen“ erschien lange Zeit als ein Hort der Toleranz für das Judentum,
trotz der gegenteiligen Propaganda der polnischen Kirche. Um 1600 lebten drei
Viertel aller Juden und Jüdinnen weltweit in Polen-Litauen und hatten dorthin
nicht zuletzt auch viele Elemente ihrer in Mitteleuropa aufgenommenen Sprachen
mitgenommen (vor allem Mittelhochdeutsch), woraus sich später in Kombination
mit slawischen Sprachen und dem Hebräischen das „Jiddische“ als eigenständige
Sprache entwickelte (ursprünglich „Mame-Loshn“, Muttersprache, genannt).

Mit der permanenten Staatskrise
ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts, der Bedrohung der Staatsintegrität von
außen (Russland, Habsburg, Preußen, Schweden) und der wachsenden inneren
nationalen und sozialen Widersprüche wurden die Juden und Jüdinnen wieder
einmal zu Sündenböcken. Ein Schlaglicht darauf wirft der Chmelnyzkyj-Aufstand
von 1648, der weite Teile der West-Ukraine unter Führung von Kosaken gegen die
Willkür des polnischen Adels mobilisierte. Die Aufständischen veranstalteten
dabei an den Juden und Jüdinnen, die angeblich hinter der Knechtschaft
gestanden hätten, grauenhafte Pogrome, denen etwa die Hälfte der ukrainischen
Juden und Jüdinnen zum Opfer fiel. Mit der Krise und den periodischen Pogromen
gingen eine stärker werdende soziale Diskriminierung und eine Tendenz zur
Ghettoisierung in „typisch jüdischen“ Kleinstädten oder Stadtteilen einher.
Besonders im 18. Jahrhundert begann sich in Polen-Litauen der Antisemitismus zu
verfestigen und die Freiräume immer mehr zu beschneiden. Der „Westen“ wurde nun
wieder zur Hoffnung auf mehr Toleranz, speziell für die Vermögenderen. Trotz
dieser „Umkehr“ blieb das Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen bis zum Zweiten
Weltkrieg das Gebiet mit der bei weitem größten jüdischen Bevölkerung weltweit;
mehr als die Hälfte aller Juden und Jüdinnen lebte zu Beginn des 20.
Jahrhunderts dort. Und während die Juden und Jüdinnen im Westen zumeist
wohlhabender und integrierter waren, waren die Juden und Jüdinnen in Osteuropa
Teile der ärmeren Bevölkerungsschichten und viel weniger sozial und politisch
integriert.

Zudem wurde Polen-Litauen Ende
des 18. Jahrhunderts vollständig unter drei Großmächte aufgeteilt und seiner
Unabhängigkeit beraubt: 1772, 1793 und 1795 teilten Russland, Preußen und
Österreich in Etappen das gesamte Gebiet untereinander auf und bestätigten dies
mit kleinen Verschiebungen auf dem Wiener Kongress (auf dem ein dem Zaren in
Doppelunion unterworfenes „Königreich Polen und Litauen“ geschaffen wurde). Auf
diese Weise kam der größte Teil der osteuropäischen Juden und Jüdinnen in den
Herrschaftsbereich der Zaren, ein kleinerer Teil (Galizien und Bukowina) unter
die Habsburger. Besonders die zaristische Politik war noch weit restriktiver
als zuvor die polnische: Juden und Jüdinnen wurden auf sogenannte
„Ansiedlungsrayons“ beschränkt, Grundbesitz wurde verboten, es wurden Quoten
für den Besuch höherer Schulen eingeführt etc. Schließlich „entdeckte“ auch das
Zarenregime die Nützlichkeit antisemitischer Sündenbockpolitik. Nach den
Unruhen wegen der Ermordung von Zar Alexander II. wurde von dessen Nachfolger
ein angebliches „jüdisches Komplott“ aufgedeckt und 1881 bis 1884 eine Welle
schrecklicher Pogrome ausgelöst. Dies führte schließlich zur Flucht von etwa 2
Millionen Juden und Jüdinnen aus dem Zarenreich. Im Zuge der Krise des
Zarenreiches kam es 1903 bis 1906 zu einer weiteren enormen Welle von Pogromen.

Schon mit dieser immer prekärer
werdenden Lage in Osteuropa setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
eine neue große jüdische Auswanderungs- und Fluchtbewegung ein. Teilweise
fanden jüdische Flüchtlinge im benachbarten Habsburgerreich liberalere
Bedingungen vor. Aber die ökonomischen Kapazitäten, besonders in Galizien und
der Bukowina (selbst wenn es in Lemberg und Czernowitz zu einer gewissen Blüte
kam), waren begrenzt. In Wien und Berlin wurden die Flüchtlinge zu Zielscheiben
eines neuen, aggressiven Antisemitismus. Auch viele andere europäische Länder nahmen
die Flüchtlinge aus dem Osten nicht mit offenen Armen auf. Ebenso blieb die
Auswanderung ins Osmanische Reich, auch nach Palästina, noch die Ausnahme.
Damit gab es vor allem ein Ziel für die große Auswanderungswelle: die USA. In
den USA wurden die osteuropäischen ProletarierInnen jüdischer Herkunft schnell
zu einem wichtigen Bestandteil der wachsenden ArbeiterInnenklasse und auch der
dortigen ArbeiterInnenbewegung. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist New York
die Stadt mit der größten jüdischen Einwohnerzahl – heute wird der Anteil
jüdischer Menschen in New York auf 1,5 Millionen geschätzt, mehr Juden und
Jüdinnen, als in Tel Aviv oder Jerusalem zusammen wohnen.

Trotzdem waren nach dem
Zusammenbruch des Zarenreiches weiterhin Millionen Juden und Jüdinnen unter die
Herrschaft der osteuropäischen Nachfolgestaaten von Zaren- und Habsburgerreich
gekommen. Insbesondere lebten im wieder erstandenen Polen nach 1918 immerhin
noch über 3 Millionen Juden und Jüdinnen, etwa 10 % der Bevölkerung. Auch
aufgrund der Verbindungen der jüdischen ArbeiterInnenbewegung zur Sowjetunion
war die polnische Zwischenkriegspolitik von starkem Antisemitismus, von
Diskriminierungen und Gewaltakten gegen Juden und Jüdinnen geprägt. Nach der
Okkupation durch Nazi-Deutschland bedienten sich die Nazis für ihr
Vernichtungswerk auch des Antisemitismus in Polen, in Weißrussland, der Ukraine
und Rumänien. Dass es heute so gut wie keine jüdische Bevölkerung mehr etwa in
Polen gibt, zeigt das ganze Ausmaß des Nazi-Vernichtungswerkes. Wer nicht in
Massenerschießungen, den Arbeitslagern oder den Gaskammern umkam, wurde im
Nachkriegs-Polen schnell durch den weiterhin grassierenden Antisemitismus
vertrieben.

1.5 Vertreibung der Sephardim
und erster antijüdischer Rassismus

Eines der einschneidendsten
antijudaistischen Ereignisse der frühen Neuzeit war sicherlich die Vertreibung
der Juden und Jüdinnen von der iberischen Halbinsel nach 1492. War dort bis
dahin das Zentrum der jüdischen Welt und die wohl entwickeltste und
zahlreichste jüdische Bevölkerung, so wurde diese im Laufe weniger Jahrzehnte
fast völlig ausgelöscht. Nach dem endgültigen Sieg über das letzte muslimische
Emirat (Granada), der Etablierung eines christlichen Zentralstaates
(Kastilien-Aragon), dem Aufbruch ins Kolonialzeitalter waren die Herrschenden
in Spanien entschlossen, alle Spuren von al-Andalus aus ihrem Königreich zu
tilgen. Dazu gehörten nicht nur die muslimischen, sondern auch die großen
jüdischen Bevölkerungsteile. Außerdem hatte sich das Königreich für diesen
letzten Krieg stark bei jüdischen Finanziers verschuldet. Im Alhambra-Edikt von
1492 wurde die große jüdische Bevölkerung (ohne Unterschied von arm und reich)
vor die Wahl gestellt, entweder das Land zu verlassen oder zum Christentum zu
konvertieren. Neben den Zehntausenden, die tatsächlich aus Spanien flohen, ist
wohl ebenfalls ein beträchtlicher Teil konvertiert. Aktuelle Gentests der
spanischen Bevölkerung zeigen angeblich, dass etwa 20 % der SpanierInnen
Genmarker aufweisen, die auf gemeinsame Vorfahren mit heute lebenden
sephardischen Juden und Jüdinnen deuten (21). Wie immer solche genetischen
Untersuchungen zu bewerten sind – dies deutet jedenfalls sowohl auf die
tatsächlich beachtliche Größe des jüdischen Bevölkerungsanteils zur Zeit der
Vertreibung hin als auch auf die große Zahl der Zwangskonvertierten.

Doch damit ist die Geschichte
des Leidens noch nicht vorbei. Die Konvertierten, mit dem Wort
„Marranos“/MarranInnen belegt (soviel wie „Abkömmlinge von Schweinen“ – ein
Schimpfwort, das also keine muslimische Eigenheit ist), wurden praktisch unter
Generalverdacht gestellt. Tatsächlich gab es noch lange Zeit Teile der
Konvertierten, die sogenannten „Krypto-Juden/-jüdinnen“, die ihren alten
Glauben im Geheimen weiterbetrieben (manche der Kryptogemeinden hielten bis ins
19. Jahrhundert durch, um sich dann wieder an die Öffentlichkeit zu trauen).
Die MarranInnen wurden allgemein des Kryptojudaismus und damit der Häresie
verdächtigt, was sie zu einem Zielobjekt grausamer Verfolgung durch die
Inquisition der katholischen Kirche und des spanischen Staates machte. Die
Inquisition war die erste europäische Institution, die rassistische Verfolgung
betrieb, indem sie Abstammungslinien untersuchte, um jemanden als Jude und
Jüdin zu „entlarven“. Die Inquisition entwickelte dabei die Theorie der
„Reinheit des Blutes“ („limpieza de sangre“), nach der Menschen „unreinen
Blutes“ niemals den „echten Glauben“ erlangen könnten (22). Für bestimmte
Berufe oder Ausbildungen musste ein Nachweis „altchristlicher Abstammung“
vorgelegt werden. Somit sollte verhindert werden, dass Juden und Jüdinnen mit
ihren geheimen Organisationen Staat und Gesellschaft „unterwandern“. Damit war
es die Inquisition, die dem Antijudaismus die Verschwörungstheorien der
geheimen jüdischen Bünde und ihrer Untergrabungsarbeit hinzufügten, die später
in solchen Machwerken wie den von der zaristischen Geheimpolizei fabrizierten
„Protokollen der Weisen von Zion“ einen traurigen Höhepunkt erreichten.

Portugal folgte
Kastilien-Aragon mit ähnlichen Motiven am Ende des 16. Jahrhunderts, wenn auch
nicht mit derselben Brutalität. Doch auch hier wurde im Laufe des 16.
Jahrhunderts entweder exiliert oder konvertiert. Viele der MarranInnen beider
Reiche entzogen sich der Inquisition durch Auswanderung speziell in die
Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent. So war laut verschiedener Quellen
ein großer Teil der portugiesischen PlantagenpächterInnen in Brasilien
marranischen Ursprungs. Wohlhabende Sephardim und MarranInnen zog es eher nach
Nordeuropa, wo in Amsterdam, Antwerpen, Hamburg, Altona, London und Manchester
große sephardisch/spaniolisch/portugiesische Gemeinden entstanden. Tatsächlich
ist ein beträchtlicher Teil der Zwangskonvertierten, sobald es möglich war,
wieder zum Judentum rückkonvertiert (die sogenannten „Anusim“). Unter den
Nachkommen sephardischer Flüchtlinge sind auffällig viele bedeutende Gelehrte,
PolitikerInnen und KünstlerInnen: Spinoza, Ricardo, Disraeli, Diego Rivera, um
nur einige wenige zu nennen.

Der allergrößte Teil der
vertriebenen Sephardim jedoch floh in das sich als neue muslimische Großmacht
konsolidierende Osmanische Reich. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen
und als „Fachkräfte-Immigration“ auch gebraucht. In Fez, Istanbul, Kairo,
Jerusalem, aber vor allem auch auf dem Balkan entstanden große sephardische
Gemeinden. Wieder waren sie für Fernhandel, Geldleihe und spezialisiertes
Handwerk wesentlich für die ökonomische Expansion der OsmanInnen und deren
Beziehungen zum „Westen“. Insbesondere am Balkan entstand in Saloniki eine der
größten sephardischen Gemeinden, die, um die Entwicklung anzudeuten, 1900 mit
80.000 etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachte (der größte Teil der Juden und
Jüdinnen von Thessaloniki wurde von den Nazis während der Okkupation
Griechenlands umgebracht) (23). Von Saloniki aus verbreiteten sich die
Sephardim über den ganzen Balkan und schließlich durch ihre engen
Handelskontakte auch ins benachbarte Habsburgerreich, wo in Wien eine
bedeutende sephardische Gemeinde entstand.

Natürlich bestanden schon vor
der sephardischen Einwanderung in der muslimischen Welt größere jüdische
Bevölkerungsgruppen, deren Nachkommen heute „orientalische Juden/Jüdinnen“ oder
Mizrachim (24) genannt werden. Besonders in Nordafrika waren sie schon vor der
Vertreibung eng mit den Sephardim verbunden und später von ihnen dominiert. In
der muslimischen Welt fand keine so starke Vereinheitlichung wie in Europa
statt, so dass unter Mizrachim sehr unterschiedliche kulturelle und ethnische
Gruppen zusammengefasst werden. Von den Sephardim sind sicher Juden und
Jüdinnen zu unterscheiden, die in den arabischen und persischen Regionen
lebten. Anders als in Europa gab es aufgrund der geringeren ökonomischen
Dynamik keinen derart systematischen Antijudaismus gegenüber den orientalischen
Juden und Jüdinnen wie in Europa gegenüber Aschkenasim und Sephardim.

2 Vielfalt des Judentums – gibt
es ein jüdisches Volk?

2.1 Ethnische und kulturelle
Differenzierung

Insgesamt wird aus diesem
Überblick klar, dass es schwer ist, überhaupt von „den“ Juden und Jüdinnen zu
sprechen. Die Geschichte und kulturelle Entwicklung von Aschkenasim, Sephardim
und Mizrachim ist so unterschiedlich, dass auch im heutigen Israel zwischen
diesen Gruppen große ethnische Unterschiede weiterbestehen (ganz zu schweigen
von den kleineren jüdischen Gruppen aus Äthiopien, Jemen und Indien, die heute
auch in Israel leben). Während weltweit etwa zwei Drittel der Juden und
Jüdinnen zu den Aschkenasim gerechnet werden, sind in Israel die
„orientalischen“ Juden und Jüdinnen (zu denen zumeist die aus der islamischen
Welt zugezogenen Sephardim gezählt werden) in der Mehrheit (3,8 der 6,6
Millionen Juden und Jüdinnen in Israel). Dies verweist auf eine weitere
Differenzierung in der Welt des Judentums jenseits der langen geschichtlichen
Entwicklung unterschiedlicher Gruppierungen in sehr verschiedenen Kulturräumen
– und auf die großen Unterschiede im Judentum in und außerhalb Israels.

2.2 Reformjudentum

Als sich Ende des 18.
Jahrhunderts das geistige Zentrum des Judentums in den deutschen Sprachraum
verschoben hatte, begann nicht nur ein der spanischen Zeit vergleichbarer
wirtschaftlicher und sozialer Aufschwung. In der Auseinandersetzung mit der
Aufklärung und der europäischen Philosophie entstand auch, was im Judentum
später die „Haskala“ genannt wurde – die „jüdische Aufklärung“. Unter den
Bedingungen einer wachsenden Integration einer sich mehr oder weniger
modernisierenden Gesellschaft war es vielen führenden Kräften im Judentum klar,
dass viele überkommene alte Zöpfe, von den religiösen Vorschriften bis zu kulturellen
Eigenarten, zu beenden seien und dass sich das Judentum eine moderne Form zu
geben habe. In der Folge entwickelte sich zuerst in Deutschland in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts das sogenannte „Reformjudentum“, das sich später
auch „liberales“ oder „progressives“ Judentum nannte (25). Auch wenn sich Teile
des mehr an Traditionen festhaltenden Judentums als „konservatives Judentum“
davon abspalteten – das Prinzip, dass der Kern der jüdischen Religion in den
ethisch-moralischen Vorschriften besteht, während Riten, Feste, Vorschriften
etc. der beständigen Veränderung unterliegen (z. B. auch, was die Rolle
von Frauen betrifft), hat sich im „westlichen“ Judentum im Wesentlichen
durchgesetzt. Heute sind „progressive“ oder „konservative“ Juden und Jüdinnen
außerhalb Israels die überwiegende Mehrheit, während in Israel das orthodoxe
Judentum weiterhin (auch über das offizielle Rabbinat) in religiösen Fragen den
größeren Einfluss besitzt. Purim als jüdischer Fasching, Chanukka als
„Weihnukka“ („Chrismukkah“), die Bar (Bat) Mitzwa als Familienevent à la
Konfirmation oder Jugendweihe etc. – auch das Judentum verbürgerlichte im 19.
Jahrhundert und profanisierte sich dabei in Anpassung an die „christliche“
Umgebung (Theodor Herzl feierte Chanukka unterm Weihnachtsbaum).

Einer der bekanntesten Vertreter der jüdischen Aufklärung war sicherlich Moses Mendelssohn, der nicht nur ein berühmter Berliner Philosoph war, sondern auch Begründer einer erfolgreichen Familie von UnternehmerInnen, Bankiers und KünstlerInnen. Seine Versuche, jüdische Identität jenseits von rabbinischem Traditionalismus zu definieren und mit einem Programm der politischen Emanzipation (Aufhebung diskriminierender Gesetzgebung) die Integration in moderne, möglichst säkulare Staaten anzustreben, wurde für das westliche Judentum für lange Zeit zum politischen Programm. Der jüdische Frühsozialist Moses Hess (eine Zeitlang Mitstreiter von Marx und Engels) formulierte es in historischer Perspektive: bei Mendelssohn finde man wieder die damals schon in Spanien vorexerzierte Lösung des Problems „wie man zugleich nationaler, patriotischer Jude im strengsten Sinne des Wortes bleiben und sich dennoch an dem Kultur- und Staatsleben desjenigen Landes, dessen Bürger man ist, so sehr beteiligen kann, dass dieses Land ein zweites Vaterland wird“ (26).

Für viele jüdische BürgerInnen
war dieser Doppelnationalismus Programm – einerseits Mitglied des
kulturell-geschichtlich bestimmten „jüdischen Volkes“, andererseits „guter“
Deutsche(r), US-AmerikanerIn, Franzose/Französin etc. zu sein. Moses Hess sah
dies kritisch: Er bemerkte, dass ein Großteil der ärmeren Juden und Jüdinnen
weiterhin brutal ausgegrenzt und diskriminiert war und auch gebildete Juden und
Jüdinnen wie er mit wachsendem Antisemitismus konfrontiert waren. Er vertrat
daher lange vor Theodor Herzl, dass die nationale Frage des Judentums nur durch
eine Rückkehr nach Palästina gelöst werden könne – wenn auch mit der
Perspektive eines sozialistischen Palästina. Im Unterschied zu Hess sah Marx in
der „Judenemanzipation“ an sich durchaus eine progressive und berechtigte
Bewegung. Allerdings sah er in der „politischen Emanzipation“ keine wirkliche
Lösung der „jüdischen Frage“: Nur die soziale Emanzipation, nämlich die
Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Ausgrenzung und
Diskriminierung von Minderheiten befestige, und nicht die formell-rechtliche
Gleichstellung sei die Lösung (27).

2.3 Säkulares Judentum

Schließlich muss erwähnt werden, dass aus dem westlichen Judentum schon sehr früh auch säkulare Strömungen hervorgegangen sind. Schon der aus dem Sephardischen stammende Baruch de Spinoza kritisierte die Irrationalität nicht nur der jüdischen Religion, betonte die historische Gewachsenheit der „heiligen Schriften“ (deren göttliche Autorenschaft er nicht anerkannte und aus Sicht einer historischen Bibelkritik besprach) und strebte eine Begründung der Vernunft aus sich selbst heraus an. Sein Konzept der „sich selbst begründenden unendlichen Substanz“ (keine äußere, sondern eine immanente Ursache der Welt) führt geradewegs zur Hegel’schen „Totalität“. Diese als „Pantheismus“ verstandene Lehre wurde in der Folge als Weg zur Begründung des Atheismus gesehen. Bereits seine jüdische Gemeinde in Amsterdam hatte Spinoza exkommuniziert – und bis heute gilt er dem Rabbinat als gefährlicher „Häretiker“. „Verflucht sei er… Der Herr möge seinen Namen unter dem Himmel tilgen“, heißt es in der überlieferten Ausschlusserklärung. Gleichzeitig trat er nicht zum Protestantismus über, mit dessen Autoritäten er sich genauso anlegte. Als Ausgegrenzter unter den Ausgegrenzten verlor er sein Vermögen und seine Familie – aber behielt seine Unabhängigkeit, lebte als einfacher Handwerker und schrieb bei Nacht Werke von messerscharfer Logik. Die dabei entstandenen Bücher, so bemerkte sein Briefpartner und Bewunderer, der Gelehrtenfürst Gottfried Wilhelm Leibniz, gehörten zu denjenigen, die in Europa den „allgemeinen Umsturz“ vorbereiten würden (28). Für viele Juden und Jüdinnen war Spinoza seither ein Vorbild für einen eigenen, unabhängigen Weg. Moses Hess wählte für seine „Menschheitsgeschichte“ den Untertitel „Von einem Jünger Spinozas“; Marx beschäftigte sich nicht nur stark mit Spinoza, er verteidigte ihn auch im Nachwort des „Kapital“ gegen Moses Mendelssohn; und die Hymnen von Heinrich Heine auf Spinoza sind nur zu bekannt. Schließlich beruft sich die Bewegung des „jüdischen Humanismus“ bis heute auf Spinoza als ihren „Gründungsvater“. In Israel ist der Philosophieprofessor Yaakov Malkin („Judentum ohne Gott?“) ein bekannter Vertreter eines nicht-religiösen Judentums, das sich in vielen akademischen und sozialen Initiativen organisiert. Es ist bezeichnend, dass 2016 gerade Malkin eine schwerwiegende Morddrohung von religiösen ExtremistInnen erhielt, die ihn als Repräsentanten eines in der Bibel zur Ausrottung bestimmten kanaanitischen Stammes brandmarkten (29).

Gegenüber den verschiedenen
religiösen Strömungen bezeichnen sich heute an die 40 % der Juden und
Jüdinnen in Israel als „säkular“, ein hoher Prozentsatz sogar als atheistisch.
Offensichtlich hat die Religion (außer in Bezug auf einige mehr kulturell
bedeutsame Traditionen) im Judentum gegenüber früher stark an Bedeutung für die
Bestimmung der „jüdischen Identität“ verloren. Auf die Entwicklung
sozialistischer und zionistischer Strömungen, die sich in vielen Teilen mit dem
säkularen Judentum überschneiden, wird später noch ausführlicher eingegangen.

2.4 Jüdische Identität und
Israel

Diese verschiedenen Strömungen
– liberales und konservatives Judentum, Sozialismus, Zionismus, Säkularismus,
Orthodoxie – prägten die Auseinandersetzungen im Judentum nicht nur im 19.
Jahrhundert. Auch wenn die Shoa viele Illusionen des liberalen Judentums
zerstörte und die Gewichte stark zum Zionismus verschob, sind alle diese Lager
bis heute neben den dargestellten ethnischen Vielheiten prägend. Diese
Differenziertheit ist wesentlich für Probleme rund um die Definition von
Antisemitismus. Denn wenn vom „Hass auf die Juden/Jüdinnen“ die Rede ist, wäre
erst mal zu fragen, was überhaupt „jüdisch“ sein soll und was denn „die Juden“
sind. Offensichtlich ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Religionsgemeinschaft schon lange nicht mehr bestimmend. Die gemeinsame
Abstammung (von Abraham, Jakob,…) ist einerseits ein unbrauchbarer religiöser
Mythos, andererseits eine rassistische Konstruktion (allein das spanische
Beispiel zeigt, wie sehr sich das Judentum auch mit anderen Ethnien vermischt
hat; zusätzlich zeigt die oben dargestellte Analyse der Diaspora, dass schon
das klassische Judentum ein Völkergemisch war, dessen gemeinsame Abstammung ein
mythologisches Konstrukt ist). Ebenso sehr ist auch die Vorstellung von einem
irgendwie geheim, über alle Grenzen zusammengehaltenen und organisierten
„Weltjudentum“ ein verschwörungstheoretischer Nonsens – es gibt weiterhin
außerhalb von Israel eine kulturell, sozial, politisch und religiös sehr
vielfältige Diaspora, die gegenüber den in Israel lebenden Juden und Jüdinnen
die Mehrheit darstellt und nicht mit der Politik des Staates Israel in eins
gesetzt werden kann.

Es bleibt natürlich die
gemeinsame Geschichte sowohl der Verfolgungen, aber auch der Blütezeiten und
kulturellen Errungenschaften. Wenn es etwas Kennzeichnendes gibt, dann den
Kosmopolitismus, die Fähigkeit, in vielen verschiedenen Regionen und Kulturen
zu wirken, für deren Austausch zu sorgen und bei aller Aufnahme von
Errungenschaften der Gastländer jeweils doch auch die eigene Identität zu
erhalten. Dabei wurde zumeist vor allem mit dem Wort, der Schrift und dem
Intellekt gearbeitet, nicht mit der Waffe. Dies führte natürlich nur zu oft zur
Kollaboration mit den jeweils Mächtigen, deren Spielball man wurde und deren
Willkür man letztlich ausgesetzt war. Insofern stellt der Zionismus einen
starken Bruch mit dieser „pazifistisch-intellektualistischen“ Kaufleute- und
Gelehrten-Tradition dar: Statt weiterhin der/die dienstfertige
„Opferjude/-jüdin“ zu sein, war man überzeugt, dass man so werden müsse wie
„die anderen Nationen“. Diese Herausbildung eines erst zionistischen, dann
israelischen Nationalismus ist eine neue Form von jüdischer Identität – aber
eine, die neben all den anderen, sich weiterhin erhaltenden, besteht!
Allerdings hat diese Identität, wie jeder Nationalismus, einen sehr
vereinnahmenden Anspruch. Letztlich behauptet der aktuelle Zionismus, dass
Israel „der“ Staat „des“ jüdischen Volkes sei (dies wird ja jetzt auch amtlich
so in der neuen Verfassung Israels festgelegt). All das andere jüdische Leben
sei eigentlich nur durch die Existenz dieses jüdischen Staates möglich und
Israel sei das gefundene Mittel, um der ewigen Geschichte von Flucht und
Vertreibung der Juden und Jüdinnen ein Ende zu setzen, die Heimstätte, zu der
letztlich alle Juden und Jüdinnen zurückkehren würden.

Die israelische Realität, die
immer mehr von Militarisierung, Rechtsnationalismus, religiösem Eiferertum
(„Siedler“-Bewegung) und vielfältigem Rassismus geprägt ist, wirkt andererseits
aber für viele Juden und Jüdinnen auch in Israel immer weniger anziehend. Die
Auswanderung ist bereits seit einigen Jahren höher als die Einwanderung (30).
Etwa eine halbe Million Israelis lebt heute im Ausland, von denen nach Umfragen
kaum jemand nach Israel zurück will. Fast die Hälfte davon gibt dabei die zu
starke Dominanz des Religiösen als Hauptgrund an (31). Inzwischen leben wieder
1,2 Millionen Juden und Jüdinnen in den Ländern der EU, und Deutschland ist
eines der beliebtesten Einwanderungsländer (wo inzwischen wieder an die 200.000
Juden und Jüdinnen leben). Wie immer man dies bewertet, eines ist klar: Israel
steht nur für einen Teil der jüdischen Menschen auf diesem Globus, und für
viele Juden und Jüdinnen ist es nicht ihr begehrter Ort zum Leben.

Offenbar ist dies durchaus ein
Problem für die israelische Regierung. In diesem Zusammenhang betonen
zionistische Organisationen im Einklang mit israelischen Institutionen immer
wieder das „Anwachsen des Antisemitismus“. Allgemein wurde mit der Migration
muslimischer Flüchtlinge nach Europa die „Naivität“ der europäischen Liberalen
gegeißelt. Terrorgefahr und Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen werden von
israelischen Medien und Politik immer wieder betont – natürlich garniert mit
Berichten über z. B. französische Juden und Jüdinnen, die sich nach
„Charlie Hebdo“ in letzter Not nach Israel in Sicherheit gebracht haben. Auch
in Deutschland wurde durch die entsprechende Berichterstattung unter der
jüdischen Bevölkerung eine große Verunsicherung und Anti-MigrantInnen-Stimmung
produziert, aber es wurde vergessen zu erwähnen, dass viele jüdische Gruppen,
bis hin z. B. zu den liberalen Gemeinden, dem durch Flüchtlingsarbeit
entgegenzuwirken versuchen).

In der aufgeregten Situation
der entscheidenden Knesset-Debatten um das Oslo-II-Abkommen erschien der
damalige Oppositionsführer Benjamin Netanjahu am Balkon über dem Zionsplatz in
Jerusalem vor einer Anti-Friedensdemonstrationen der israelischen Rechten. Vor
zehntausenden DemonstrantInnen hetzte er gegen den „Ausverkauf“ der
israelischen Interessen durch die Regierung Rabin/Peres. Er hörte auch nicht
damit auf, als die Masse laut vernehmlich „Tod Rabin“ skandierte und
Rabin-Strohpuppen verbrannt wurden. Einen Monat später, im November 1995, wurde
Premierminister Rabin tatsächlich von einem religiösen Israeli ermordet
(Netanjahu weist natürlich bis heute jede Mitverantwortung für diese Tat zurück).
Diese Kette von Ereignissen gehört wesentlich zu dem, was man heute die
fundamentale Umwälzung der politischen Verhältnisse in Israel nennt.

Netanjahu baute seine Angriffe
auf Rabins „Zugeständnisse“, vor allem auf die Ablehnung der Formel „Land für
Frieden“ auf. Mehrfach betonte er, wie die gesamte israelische Rechte, dass
kein/e israelische/r PolitikerIn das Recht habe, auch nur ein Stück Land des
von der Bibel versprochenen „Eretz Israel“ (der „Heimat Israel“) preiszugeben.
Das ideologische Konstrukt des vor 3.000 Jahren angeblich gegründeten
israelischen Gemeinwesens mitsamt des göttlichen Bundes, der den Anspruch auf
ganz „Kanaan“ begründet, hat sich für einen Teil der israelischen Gesellschaft
zur zentralen Frage der „jüdischen Identität“ verselbstständigt. Shlomo Sand
hat in einem aktuellen Artikel in der „Haaretz“ (32) entwickelt, dass sich mit
dem Scheitern des Oslo-Prozesses und der besagten konservativen Umwälzung die
ursprüngliche Identitätsstiftung des säkularen Awoda-Zionismus (33) erledigt habe.
Unfähig zu definieren, was ein „jüdischer Israeli“ ohne Bezug auf die Religion
sei, bei gleichzeitigem Beharren auf dem in der Bibel begründeten Anspruch auf
das „Land Israel“, gelang keine wirkliche Trennung von Religion und Staat. In
welcher Form auch immer würde daher der Zionismus zur Begründung der
rassistischen Unterdrückung der nichtjüdischen Bevölkerung dienen, die im
angeblich „versprochenen“ Land lebe. Seit dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg
der Rechten in Israel wurde die Vorherrschaft des säkularen Awoda-Zionismus
durch eine Koalition von religiösen TraditionalistInnen (die seit 1967 die
Besiedlung des gesamten „Eretz Israel“ als religiöse Pflicht sehen) und
ethnozentrierten NationalistInnen abgelöst. Die in Israel und den besetzten
Gebieten lebenden AraberInnen werden als eine Art AusländerInnen gesehen, die
man mehr oder weniger im „Eretz Israel“ dulden müsse. Der „uralte Anspruch“ auf
das Land ist dabei für die Religiösen der Grund für die Unduldsamkeit, wobei
gerade Jerusalem, Hebron und Jericho ganz zentral sind (gegenüber dem Israel in
den Grenzen vor 1967), was zur Unmöglichkeit einer Anerkennung auch nur
marginaler palästinensischer Selbstständigkeit in diesem Gebiet führt. Zugleich
ist der Ethnonationalismus von RechtspopulistInnen wie Avigdor Lieberman ganz
offen rassistisch, erklärt die AraberInnen „ihrem Wesen nach“ für nicht zur
Arbeit und zu friedlicher Nachbarschaft fähig. Aus beiden Haltungen heraus ist
eine Lösung, die das Selbstbestimmungsrecht der AraberInnen, die in Israel/Palästina
leben, respektiert, reine Unmöglichkeit.

Wie Shlomo Sand darlegt, ist damit nur offengelegt, was der Zionismus von Anfang an war: ein rassistisches Projekt, das niemals seit seinem Auftreten in Palästina ernsthaft die Möglichkeit eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens mit den AraberInnen in der Region in freier Selbstbestimmung auf dem Zettel hatte: „Schlussendlich waren die sozialistisch-zionistischen Siedler in nichts moralischer als die Kippa-tragenden rechten Siedler heute. Sie waren nur heuchlerischer, was aber auch ein wichtiger Unterschied ist. Wenn Heuchelei die gute Miene zum bösen Spiel ist, so deutet sie zumindest in bestimmten historischen Situationen auf einen Reflex der Zurückhaltung. Heute fällt jede Zurückhaltung weg“ (34).

Man sollte daher nicht übersehen, wie gefährlich die Versuche der israelischen Führung und einiger zionistischer Organisationen sind, die Frage der Anerkennung von Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit zum zentralen Kriterium für die Frage zu machen, ob jemand antisemitisch sei oder nicht. Der Antisemitismusbegriff wurde damit zum Kampfbegriff der sich in Israel immer mehr durchsetzenden rechten Identitätspolitik. Dass die Kritik am rassistischen Charakter der israelischen Politik „dem jüdischen Volk“ das Selbstbestimmungsrecht nehmen würde (wie das im Beispiel der IHRA-Definition von Antisemitismus gemacht wird), nimmt tatsächlich alle Juden und Jüdinnen in Geiselhaft, sich unverbrüchlich hinter Israel stellen zu müssen, und verengt jüdische Selbstbestimmung auf die Frage der unbedingten Verteidigung von Israel in seiner jetzigen Form. Auch in Israel lebende säkulare Juden und Jüdinnen wie Shlomo Sand und die Teile der Linken, die er repräsentiert, sehen im Zionismus einen systematischen Rassismus am Werk, der in der gegenwärtigen Regierungspolitik nur offen zum Ausdruck kommt. Die Fehlkonstruktion des zionistischen Charakters des Staates Israel zu kritisieren, heißt gerade nicht, das Selbstbestimmungsrecht der Juden und Jüdinnen in Israel zu leugnen. Nur wenn sich dieses Selbstbestimmungsrecht in Verbindung mit der freien und gleichberechtigten Entwicklung der PalästinenserInnen entfaltet, kann es sich tatsächlich verwirklichen. Marx formulierte es gegenüber der englischen ArbeiterInnenklasse in einer Resolution der „Internationalen Arbeiter Assoziation“ zur irischen Frage 1870 so: „Das Volk, das ein anderes Volk unterjocht, schmiedet seine eigenen Ketten.“ (35)

Die Verleugnung des
rassistischen Charakters des israelischen Staates, um kein „Antisemit“ sein zu
müssen, führt dazu, dass der immer offener zu Tage tretende Rassismus in
Siedlungspolitik, Besatzungsterror oder Militärwillkür zu Elementen der
„Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ erklärt wird. Dies ist ein Schlag auch
ins Gesicht der zahlreichen Juden und Jüdinnen, die sich nicht in dieser
„jüdischen Identität“ wiederfinden. Wie mehrere andere jüdische Organisationen
hat die „Jewish Voice for Labour“ zu Recht zur Kampagne zionistischer
Organisationen und Zeitungen in Britannien angemerkt (36): Wenn heute Labour
unter Jeremy Corbyn zur „Hauptgefahr für das Judentum weltweit“ erklärt wird,
da Corbyn das Beispiel der IHRA zunächst nicht anerkennen wollte, so stellt
sich schon die Frage der Gewichtung linker Kritik an Israel gegenüber der Gefahr
für Juden und Jüdinnen durch den Aufstieg der Rechten in Europa und den USA –
und immerhin haben die Orbán, Le Pen, Strache, Kaczyski, Bannon etc. kein
Problem mit der Anerkennung der IHRA-Definition. Letztere sehen sich ja in
einer Front mit der gegenwärtigen israelischen Führung gegen die
„Untermenschen“ mit muslimischem Hintergrund.

Es ist gerade die Achtung vor
der Vielfalt des Judentums, die Ablehnung des Konstrukts „der Jude/die Jüdin“
ebenso wie das Auseinanderhalten von Judentum und dem Konstrukt des
israelischen Staates, wodurch die Grundlage für den erfolgreichen Kampf gegen
den Antisemitismus heute gelegt werden kann. Eine unkritische Haltung zu den
rassistischen Tendenzen in Israel wird dagegen nur zur Front selbst mit
RassistInnen führen.

3 Antisemitismus und
„Kapitalismuskritik“

Eine der impliziten
Definitionen „des Jüdischen“, die im Kern des Antisemitismus verwendet wird,
ist die, „den/die Juden/Jüdin“ als die Verkörperung von Geld und Kapital zu
sehen – das Zerrbild des/r schachernden und wuchernden Juden/Jüdin. Wie ist
diese Identifikation zu erklären und welche gesellschaftliche Funktion hat sie?
Eine Analyse der Geld- und Kapitalgenese, wie sie Marx geleistet hat, kann zum
Verständnis führen, wie die „abstrakte Gewalt“, die hier entsteht, von den
Betroffenen mit der Versuchung der „Personalisierung“, der „Verkörperung“
beantwortet wird. Im Übrigen ist diese Tendenz zur verkürzten
Kapitalismuskritik in allen populistischen Bewegungen groß – weshalb auch der
Antisemitismus zumeist in der einen oder anderen Form implizit mitschwingt
(aktuell vor allem in Verschwörungstheorien rund um das globale Finanzkapital).

Gehen wir zunächst wieder
zurück in das mittelalterliche Europa: In einer wesentlich auf Naturaltausch
beruhenden Gesellschaft, in der zumeist Gebrauchswerte produziert wurden, in
der Markt, (Fern-)Handel und Geld zwar existierten und notwendig waren, aber
nicht im Zentrum wirtschaftlicher Aktivitäten standen, verkörperte, im wahrsten
Sinne des Wortes, der/die Jude/Jüdin das „ fremde “, unverstandene, ja,
unheimliche Geld.

Der einfache Naturaltausch
Produkt gegen Produkt wirft keine Fragen auf, ebenso wenig das unverhüllte
Ausbeutungsverhältnis Grundherr-Bauer/Bäuerin, beruhend auf außerökonomischer
Gewalt.

Aber was ist Geld? Warum kann der/die jüdische HändlerIn, WucherIn und GeldwechslerIn offensichtlich ohne körperliche Arbeit davon leben? Warum führt häufig wirtschaftlicher Kontakt mit der Geldwirtschaft zu Verarmung und Verelendung von Bauern/Bäuerinnen und HandwerkerInnen? Im/in der Juden/Jüdin personalisiert sich die Angst vor der nicht verstandenen Armut und der Hass auf die „nicht arbeitenden Reichen“. Dabei spielt der christliche Arbeitsbegriff eine nicht unwichtige Rolle. In der Forderung „Bete und arbeite“ wird die Askese beschworen, die der Befreiung vom Bösen dient. Die (schwere körperliche) Arbeit diente dem Lob Gottes. Deshalb „kann die Vertreibung der Händler aus dem Tempel als eine der Schlüsselszenen des Neuen Testaments gelesen werden. Der Handel mit Waren und besonders mit Geld wurde fortan als etwas sittlich zu Verurteilendes und für die Seligkeit Bedenkliches bewertet.“ (37)

In der Reformation wird alles, was als „Nicht-Arbeit“ gesehen wird, als parasitär und Schmarotzertum gebrandmarkt. Es entstehen nicht nur Arbeits- und Zuchthäuser. „Luther entwarf ein Konzept der Zwangsarbeit für Juden, war aber zugleich skeptisch bezüglich des Erfolgs, da er der Meinung war, dass ‚sie keine Arbeit gewohnt seien‘. Er plädierte deshalb für ihre Vertreibung. “ (38)

Der Gegenüberstellung von
(körperlicher) Arbeit als „Dienst an Gott“ und Handel/Wucher als „gottloses
Teufelswerk“ folgt im modernen Kapitalismus in rassistischer Weise die
Gegenüberstellung von „nationaler Arbeit“ („deutsche Arbeit“) und jüdischer
„Nicht-Arbeit“. So kann der deutsche „Volkskaiser“ Wilhelm II. Reden zum
„Schutz der deutschen“ Arbeit halten, und jeder wusste, wen das mit einschloss
(die KapitalistInnen, das „schaffende Kapital“) und wer die Bedrohung der
„deutschen Arbeit“ darstellte (die Juden/Jüdinnen, das parasitäre, „raffende
Kapital“). Der Spruch über dem KZ „Arbeit macht frei“ ist kein Zufall, sondern
zynische Folgerichtigkeit. Und es ist, nebenbei bemerkt, eine der bittersten
Ironien, die die Geschichte zu bieten hat, dass der Zionismus mit seiner Forderung
nach „jüdischer Arbeit“ (Awoda Ivrit) und „jüdischen Waren“ (Tozvet Ivrit)
ebenfalls einem völkisch-nationalen Begriff von Arbeit folgt, in rassistischer
Abgrenzung zur arabischen Bevölkerung in Israel/Palästina.

Die Abstraktion an sich, das Geld, und die damit verbundenen gesellschaftlichen Zwänge, werden im Juden/in der Jüdin als Person konkret, bekommen durch den Juden/die Jüdin ein Gesicht. Luther knüpft daran an, wenn er sagt, er habe nicht vor, „die Juden zu bekehren, welches ebenso möglich ist, als den Teufel zu bekehren…Summa es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt.“ (39) Man „kennt“ jetzt die Maske des Teufels, man weiß jetzt, wer am eigenen Elend Schuld ist: der Jude/die Jüdin. Es muss hier allerdings gesagt werden, dass bei PuritanerInnen und CalvinistInnen eine Neubewertung des Geldes erfolgte und das Alte Testament gegenüber dem Neuen Testament an Bedeutung gewann, so dass in der Folge auch der Judenhass an Bedeutung verlor – was, das sei hier nur erwähnt, Folgen bis heute hat (etwa in der ambivalenten bis z. T. positiven Haltung den Juden/Jüdinnen gegenüber durch die ansonsten erzreaktionären Evangelikalen in den USA).

Den Juden/Jüdinnen haftet also etwas „Teuflisches“ an. Im Johannes-Evangelium sagt Jesus zu den Juden/Jüdinnen: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“ (Joh. 8,44,) Die Figur des Teufels wird geradezu zu einer „Präfiguration des Rassebegriffs“ (G. Scheit) „Gäbe es den Teufel nicht, könnte vielleicht wirklich von einem ‚rein religiösen‘ Antijudaismus in den frühen Schriften des Christentums, ja, im Christentum insgesamt, gesprochen werden. Die Abgrenzung von den Juden würde in diesem Fall die Physis der Ausgegrenzten unangetastet lassen. Mit der besonderen Rolle aber, die dem Satan zufällt, lauert bereits im Evangelium die Möglichkeit des Rassenantisemitismus.“ (40) 

In einer Gesellschaft, in der
es die „unsichtbare Hand“ des Marktes nicht gibt, in der selbst Staaten eher
Personenverbände denn territoriale Einheiten sind, scheinen solche
Personifikationen die naheliegende Erklärung. D. h., schon beim
„traditionellen“ religiösen Antijudaismus greift es zu kurz, ihn nur als
manipulative Herrschaftsideologie zu verstehen. Denn obwohl die Herrschenden
die antijüdischen Vorurteile der Massen, insbesondere der Stadtarmut,
benutzten, um die Unterdrückten zu lenken und abzulenken, hatte der
Antijudaismus der Armen durchaus eigene, in den gesellschaftlichen Strukturen
verwurzelte Aspekte. Die antijudaistischen Gewaltausbrüche der Armen konnten
sich nämlich durchaus auch gegen die eigene „Obrigkeit“ wenden. Heute wie
damals greift jede Manipulationstheorie, wonach die Unterdrückten von den
Herrschenden nur gesteuert werden, zu kurz (dazu weiter unten).

„Was immer sich sonst noch über den Juden sagen ließ, er war zuallererst der ‚andere‘, der Christus und die Offenbarung verschmäht hatte. “ (41). Er war der Paria, dem alles zuzutrauen war, er war „Vorbote des Antichristen und der mächtige und geheimnisvolle Abgesandte der Kräfte des Bösen.“ (42). Hier konnte der moderne, rassistisch aufgeladene Antisemitismus leicht andocken. Die chiliastischen Erlösungswahnvorstellungen mittelalterlicher Armutsbewegungen, ursprünglich der Glaube an die Wiederkehr Jesu und die Errichtung seines tausendjährigen Reichs, finden ihre Fortsetzung im rassischen Antisemitismus, in der „mythischen Dimension der Rasse und der Heiligkeit des arischen Blutes“; einer „entschieden religiösen Version, der eines deutschen (oder arischen) Christentums, und führte zu einer Ideologie, die man als ‚ErlösungsAntisemitismus bezeichnen kann.“ (43)

Auch hier gibt es keine scharfe
Trennung zwischen traditionellem, religiösem Antijudaismus und modernem
rassebiologisch argumentierendem Antisemitismus. Schon bei der Vertreibung der
Juden/Jüdinnen aus Spanien 1492 wurde ihnen vorgehalten, dass sie nicht
„spanischen Blutes“ seien (und noch Lech Walesa betonte in einem Wahlkampf ,
dass er „polnischen Blutes“ sei, und jeder wusste, dass er damit antisemitische
Vorurteile in Polen bediente).

In der unverstandenen Welt des
Kapitalismus bietet diese Weltsicht eine einfache Orientierung in
unveränderlich Gut (der/die Deutsche/ArierIn) und unveränderlich Böse
(Wallstreet und Bolschewismus, gesteuert durch Juden/Jüdinnen).
Gesellschaftlich-ökonomische Prozesse werden auf das Bedürfnis nach
Sichtbarkeit von „Schuld“ heruntergebrochen.

Man kann Antisemitismus verstehen „als strukturelle Möglichkeit des individuellen und kollektiven Bewusstseins, das unbegriffene ‚Leiden‘ an der modernen Vergesellschaftung zu verarbeiten…“ (44). Weil das Kapital nicht als gesellschaftliches Ausbeutungsverhältnis erkannt wird, wird es nur auf der Erscheinungs- oder Zirkulationsebene wahrgenommen, dort, wo es nicht zu übersehen ist. Dementsprechend werden auch alle Übel dieser Welt am Geld festgemacht. Die antisemitische Propaganda kann hier an Alltagserfahrungen und Alltagssichtweisen anknüpfen, der nur mit klassenpolitischer Argumentation und Praxis zu begegnen ist und nicht mit reiner Aufklärung.

Und, hier nur ganz nebenbei,
die Propaganda der KPD zum Thema Antisemitismus war zu großen Teilen von
erbärmlicher Kurzsichtigkeit, Verkürzungen und Verharmlosungen geprägt. Im Kern
wurde der Antisemitismus auf eine Herrschaftsideologie zur Verführung und
Manipulation der Massen durch die Herrschenden reduziert.

4 Antisemitismus und
Massenpsychologie

Ein entlarvendes Detail des
„klassischen“ Antisemitismus in Europa sind die langlebigen Mythen rund um
Vorwürfe von Ritualmorden an nicht-jüdischen Kindern, die angeblich von
Juden/Jüdinnen aus bestimmten religiösen Gründen ausgeübt worden seien. Sie
reihen sich ein in ein absonderliches Gebilde von Vorwürfen wie
Hostienschändungen, Brunnenvergiftungen, Frauenraub, Pestverursachung,
Verächtlichmachung des „Heilands“ etc. Zumeist waren die unmittelbaren Anlässe
verbunden mit Pogromen oder schwerer Verfolgung und Vertreibung und führten
danach zu einer langen Erinnerungskultur, z. B. in der Verehrung der
angeblichen „Judenopfer“ (Wallfahrten, Reliquien, „Judensteine“, etc.). Die
genauere Untersuchung eines klassischen Einzelfalls soll die Mechanismen
aufzeigen, in denen sich der schon festgefügte Antisemitismus der frühen
Neuzeit in „Volkswut“ entlud.

4.1 Der „Judenmord“ und die
„Pogromstimmung“

Ein bekanntes Beispiel im
katholischen Kerngebiet ist der Kult des „Simon von Trient“ (italienisch
„Simone da Trento“) (45). Der 4-jährige Simon verschwand angeblich in den
Ostertagen des Jahres 1475 von zu Hause. Sofort wurden die drei Häuser der 30
in Trient lebenden Juden und Jüdinnen durchsucht und diese unter Hausarrest
gestellt. Als dann wenig später in der Nähe eines der Häuser die Leiche des
kleinen Jungen gefunden wurde, kam es zu einem pompös aufgezogen Prozess unter
Leitung des Bischofs von Trient. Übrigens betätigten sich während der ganzen
Ereignisse fundamentalistische Bettelmönche als organisierte Einpeitscher der
Menge. Interessant ist, dass sowohl der habsburgische Landesherr als auch das
reiche benachbarte Venedig und sogar der päpstliche Legat zu Gunsten der
beschuldigten Juden und Jüdinnen Partei ergriffen. Letzterer, der
Dominikaner-Bischof Giovanni dei Giudici, erkannte sofort, dass die Vorwürfe
haltlos und konstruiert waren und vertrat die offizielle Linie des Vatikans,
dass die Ritualmordlegenden „Aberglaube“ seien. Diese seit dem Mittelalter
verbreiteten Legenden besagten, dass Juden/Jüdinnen zum Pessachfest Blut
minderjähriger Christenkinder für die rituelle Herstellung der Matzen (der
traditionellen Brotfladen für das Fest) verwenden würden (die Entstehung dieser
Legenden in der Kreuzzugszeit wurde im Kapitel zum mittelalterlichen
Antijudaismus hergeleitet). Offiziell hatte der Vatikan mehrmals mit Berufung
auf die tatsächlichen jüdischen Glaubensvorschriften diese Legende als
Aberglaube zurückgewiesen. Als der Trentiner Mob mitbekam, dass der Vatikan
„gegen sie“ Stellung bezog, musste der päpstliche Legat vor dem wütenden, von
Bettelmönchen angeführten Mob ins benachbarte Rovereto fliehen. 14 unschuldige
Juden wurden grausam verbrannt, die weiblichen Familienmitglieder und Kinder
mussten konvertieren und ins Kloster gehen. Bemerkenswert ist, wie stark der
Hass und die Aggression gewirkt haben müssen, dass selbst der beträchtliche
Druck von Amtskirche, weltlicher Macht und möglicher ökonomischer Nachteile
(Venedig war die wichtigste Handelspartnerin) weggewischt wurden, um „der
Volksseele“ durch Folter und brutale öffentliche Hinmetzelung Befriedigung zu
verschaffen. Man kann davon ausgehen, dass die später so blühenden
Verschwörungstheorien vom jüdischen Einfluss auf den Vatikan, die
HabsburgerInnen und allgemein auf „die Wirtschaft“ schon in damaliger Zeit
Verbreitung fanden – so wie das in den schon zitierten Luther’schen Schriften
allzu deutlich zum Ausdruck kommt.

Freilich hat ihr sanfter
„Widerstand“ die Amtskirche später nicht daran gehindert, den „Simon von
Trient“ seligzusprechen und kräftig an der danach aufblühenden Wallfahrt zum
„wundertätigen“ Simon mitzuverdienen. (Die katholische Kirche hatte immer schon
eine große Expertise in Fragen des Kindesmissbrauchs.) Tatsächlich wurde Simon
zum Vorbild für unzählige andere angebliche „Judenopfer“ und die damit
etablierten Wallfahrten. So z. B. das berühmte „Anderl von Rinn“ nahe
Innsbruck, wo noch bis weit nach dem 2. Weltkrieg Wallfahrten zum „Judenstein“
stattfanden. Schon im 19. Jahrhundert hatten jüdische Gemeinden gegen solche
Wallfahrten bei den kirchlichen Obrigkeiten interveniert. Die Amtskirche hatte
dann immer im Prinzip den „Aberglauben“ verurteilt, aber mit Hinweis auf den zu
erwartenden „Volkszorn“ vom Eingreifen abgesehen. Erst das 2. Vatikanische
Konzil veranlasste langsame Veränderung, indem es alle mit Ritualmordlegenden
ausgesprochenen Seligsprechungen aufhob. Als in den 1980er Jahren der
Innsbrucker Bischof offiziell die Wallfahrt zum „Anderl von Rinn“ abschaffte,
erhob sich wiederum der beschriebene Volkszorn. Selbst die Exkommunikation des
Ortspfarrers konnte die „Gläubigen“ nicht an der Fortführung ihres
antijüdischen Rituals hindern. Selbst nach dem in den 1990er Jahren explizit
erfolgten Verbot durch den Bischof gibt es zum Jahrestag bis heute eine
Karawane aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus, die hier
auf Befragung gegen den vom „jüdischen Weltkapital“ gekauften Vatikan und
Bischof protestieren, die die „Wahrheit über die Juden“ unterdrückten (46).

4.2 Die veränderten Bedingungen
zu Beginn der Neuzeit

In dieser Geschichte der
Ritualmordlegenden finden sich viele der zentralen Elemente des
althergebrachten Antisemitismus: abenteuerliche Vorstellungen von menschenverachtenden
religiösen Vorschriften/Ritualen/Handlungen; archaische Mythen von Blutopfern
(sie wollen unser „reines Blut“ verunreinigen); die verderblichen Auswirkungen
der Anwesenheit der Juden und Jüdinnen gerade auf Kinder und Frauen, aber auch allgemein
für die „Normal“-Bevölkerung; schließlich der Hass auf die „großen
MachthaberInnen“, die von den Juden und Jüdinnen gekauft seien und angeblich
ihre schützende Hand über sie halten würden.

Dass sich der Zorn hier auch
gegen „Mächtige“ richtet, wenn auch der Hauptschlag gegen die Juden und
Jüdinnen geführt wird, zeigt den „irrationalen“ Druck, der hier bei den
beteiligten Massen im Spiel sein musste, so dass man nicht davor
zurückschreckte, sich selbst scheinbar mit den großen wirtschaftlichen und politischen
Mächten anzulegen. Tatsächlich war die ökonomische Bedeutung der jüdischen
HändlerInnen und HandwerkerInnen im 15. Jahrhundert (wie oben beschrieben)
bereits so zurückgegangen, dass sie für die herrschenden Klassen in West- und
Mitteleuropa keine wichtige Funktion mehr erfüllten bzw. dafür im entstehenden
Kapitalismus längst genug Konkurrenz zur Verfügung stand. Die „großen
Herren/Damen“ traten den antisemitischen Pogromen also trotz der angeblich
ewigen Schutzprivilegien nur sehr verhalten entgegen und waren sicher nicht
unglücklich darüber, dass sich die allgemeine Unsicherheit und Unzufriedenheit
angesichts der sozialen Krisen des Frühkapitalismus gerade an den Juden und
Jüdinnen austobte.

Der „klassische“ Antisemitismus
war wohl im Mittelalter entstanden, hatte aber seinen „Durchbruch“ und seine
„volle Blüte“ erst in der frühen Neuzeit entwickelt – also in der
Entstehungszeit des Kapitalismus. Denn für die Mächtigen hatten die Juden und
Jüdinnen ihre Rolle gespielt: Während man früher die Pogrome zur
Schuldentilgung bei Gelegenheit entfesselte, um dann die Juden und Jüdinnen
wieder zu rufen und ihnen zeitweise Schutz gegenüber dem „Volkszorn“ zu bieten,
war Letzteres nun nicht mehr unbedingt vonnöten. Man protestierte halbherzig
und ließ das Volk gewähren.

Dies zeigt natürlich, wie
berechtigt es ist, den klassischen Antisemitismus mit bestimmten Facetten einer
ungenügenden und falschen Kapitalismuskritik in Verbindung zu bringen, wie das
oben schon dargestellt wurde. Die Krise der alten feudalen Gesellschaft, die
scheinbar zerstörerische Wirkung des Geldes, ihre Personifizierung mit dem
„Wirken der Juden/Jüdinnen“, all dies gipfelte in solchen Volksbewegungen gegen
die Juden und Jüdinnen. Dabei zeigte sich an dem erwähnten Kindermord-Pogrom
das Element, das den „zerstörerischen“ Aspekt des Geldes mit dem scheinbar
religiös bewegten Massenbewusstsein verbindet: Die Wut gegen den
JudenverteidigerInnen aus dem Vatikan ist der Indikator.

4.3 Die Psychologie des
Pogromismus

Die Massenwut, die sich im Trientfall
auch gegen die „JudenschützerInnen“ richtete, zeigt, wie zwanghaft der
Irrationalismus hier wirkte. Es erinnert an Sigmund Freuds Vergleich des
Verhaltens religiöser Menschen mit dem von ZwangsneurotikerInnen. Die Analyse
des Unbewussten bei Freud zeigt, dass „unbewusst“ gerade nicht „unwirksam“
bedeutet – sondern ganz im Gegenteil. Das Verdrängte steht nur zu oft gerade im
Gegensatz zum scheinbar bewusst Gewollten und führt zu Verhalten, das Freud
„ambivalent“ nennt (die Dialektik würde „widersprüchlich“ dazu sagen). Dies
wird umso verwirrender, als sich das Verdrängte selbst in seinem Kern
verschieben, bewegen und verändern kann ebenso wie die bewussten Motive. Vieles
an den scheinbar „irrationalen“ Handlungen von Menschen kann erst aus dieser dialektischen
Bewegung von bewussten und unbewussten Triebkräften ihrer Motivationen erklärt
werden.

Der Psychoanalytiker Mario Erdheim betonte die gesellschaftspolitische Dimension dieses von Freud entwickelten Begriffs des Unbewussten: „Das Unbewusste wird für die Herrschaft dann relevant, wenn es darum geht, zum Wandel treibende, an den Voraussetzungen der Herrschaft rüttelnde Widersprüche zu neutralisieren. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft in Klassen spaltet und sich divergierende Klasseninteressen entwickeln, nimmt die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit zu“ (47). Die eigentlich möglichen Veränderungen und darauf basierenden Impulse der Unterdrückten werden verdrängt und Abwehr- und Anpassungsmechanismen entwickelt, um die wachsende Zahl der Entbehrungen, Erniedrigungen, Existenzängste etc. nicht in unmittelbare Aggression umschlagen zu lassen. „Durch Unbewusstmachung sollte verhindert werden, dass das durch die Machtträger hervorgerufene Anwachsen des Aggressionspotentials der Beherrschten in Kritik und aktiven Widerstand umschlagen könnte. … Gleichzeitig musste aber in Kauf genommen werden, dass die Aggression die ‚Exterritorialität des Unbewussten‘ (Freud) erlangte, d. h. vom Ich nicht mehr benützt, sondern bestenfalls abgewehrt werden konnte. … Wie Partisanen vom Wald aus jederzeit überraschend angreifen können, so kann auch diese Aggression von einem Augenblick auf den anderen zuschlagen und das Ich zu einem amokartigen, blinden Zerstörungswerk zwingen. Denkbar ist auch, dass die unbewusst gemachte Aggression kulturelle Einrichtungen, wie zum Beispiel die Religion, als Ersatzbefriedigungen verwendet, die einer eigenen, oft auch gegen die Herrschaft gerichteten Entwicklung folgen, der die herrschende Klasse ohnmächtig gegenübersteht“ (48).

In der Krise der Auflösung der
Feudalverhältnisse im 15./16. Jahrhundert in Mitteleuropa tauchten durchaus
Forderungen auf, die eine Möglichkeit der progressiven Veränderungen
enthielten: Die Enteignung des Grundbesitzes, die Entschuldung der Bauern/Bäuerinnen,
die Abschaffung der monetären Feudalabgaben, die Verteidigung der
gemeinschaftlichen Nutzung von Gemeindeland, die Ausdehnung der städtischen
Selbstverwaltung über die Städte hinaus, die Nutzung des technischen
Fortschrittes der Städte für die Modernisierung der Agrarwirtschaft etc.
Tatsächlich aber verschärfte sich die Ausbeutung durch die Monetarisierung des
Feudalsystems und die wachsende Verwandlung verarmender Landbevölkerung in
städtische Armut. Während sich die Aggression gegen die wachsende Ausbeutung
und Verarmung in den Bauernkriegen z. B. auf eine positive, die
Möglichkeiten der Veränderung aufgreifende Weise organisierte, war die
allgemeine Antwort die der Repression und Verdrängung. Wie Erdheim es
beschreibt, verschob sich das Aggressionspotential wesentlich in den Bereich
der Religion, die zum Ersatz für die Abfuhr der aufgestauten
Aggressionspotentiale wurde (damit sei nicht gesagt, dass diese bei den
Bauernkriegen überhaupt keine Rolle spielte).

In diesem Zusammenhang wird
auch das erneute Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus in dieser
Zeit verständlich. „Das Volk“, das durch die Krise unbewusst den Aufstand gegen
die Herrschenden wünscht, ist gleichzeitig von Schuldgefühlen gerade wegen
dieses Wunsches geplagt. Die Aggression und der (für die bösen Gefühle) zu
bestrafende Teil des Selbst werden auf einen alten äußeren Feind projiziert,
nämlich die gerade vor Ort anwesenden Juden und Jüdinnen. Und dabei ist es ganz
gleich, ob die Juden und Jüdinnen noch die ökonomische Funktion von einst
erfüllen – sie werden zu den RepräsentantInnen der Krisen erzeugenden neuen
Kapitalmächte. Ähnlich wie beim Kampf gegen die Menschen des „falschen
Glaubens“ in den Religionskriegen dieser Zeit werden die realen Menschen zu
einer Projektionsfläche für den eigenen Hass und zu den Schuldigen für all die
Nöte der Zeit. Die überkommenen Mythen, Erzählungen, Pseudo-Beweise über die
wahre Natur der So-und-so werden zu Instrumenten der Projektion. Fehlt nur noch
der Anlass – und natürlich sind Morde, speziell an Kindern oder jungen Frauen,
ein gern genützter Zünder, um Abwehrmechanismen des Ich bzw. das
Realitätsprinzip außer Kraft zu setzen und die Aggressionspotentiale
freizusetzen. Dazu lehrt die Psychoanalyse, dass in diesen Aggressionsausbrüchen
über solche Ereignisse auch die unbewusste Selbstbestrafung für den eigenen
Wunsch nach ebensolchen Tötungen enthalten ist, was die Wucht der Ausbrüche,
die solche Ereignisse auslösen, erklärt. Man denke nur aktuell an Kandel: Als
in dem kleinen Ort in Rheinland-Pfalz ein junger afghanischer Flüchtling wohl
in einem Eifersuchtsdrama seine Freundin erstach, wurde der Ort wochenlang von
wütenden Demonstrationen heimgesucht unter dem Motto „Mädchenmord – dank
Merkel“. Ähnlich in Chemnitz, wo ein Mord, der einzelnen muslimischen
Flüchtlingen angelastet wird, zum Anlass genommen wird für ungehemmte
Massenaggression gegen alles was „ausländisch“ oder „anders“ aussieht. Waren es
in Trient Bettelmönche und religiöse Losungen, so sind heute organisierte Nazis
die EinpeitscherInnen, und Religion wurde durch nationalistischen Rassismus
ersetzt.

Das Problem ist nicht die
Aggression an sich – die im Rahmen der Selbsterhaltung und, wenn das rationale
Ich letztlich die Kontrolle behält, ja auch in eine positive Richtung gelenkt
werden kann. Es geht um die unbewussten Quellen der Aggression, die jede
Kontrolle durchbrechen. Das Problem ist dann, dass „die Aggression nicht von
Selbsterhaltung gesteuert wird, sondern von Narzissmus und Ambivalenz“ (49).
Die Ambivalenz des Verdrängten, die Suche nach dem Ersatzobjekt für den
eigentlich gewünschten Aufstand gegen die Herrschenden und die gleichzeitige
Bestrafung dieses Ersatzobjektes gerade für diesen eigenen Wunsch wurde schon
dargelegt. Eine noch gefährlichere Quelle ist der Narzissmus, da er tatsächlich
zu eliminatorischen Einstellungen führt. Der Narzissmus stellt eine aufgrund
von aktuellen traumatischen Erfahrungen bedingte Regression in eine der
frühesten Kindheitsphasen dar. Charakteristisch beim Narzissmus ist die Vorstellung
vom allseits bewunderten Selbst, das im Mittelpunkt der (damit sehr kleinen)
Welt steht. In der Regression wird die Aufspaltung der Welt des Kleinkindes in
die freundliche (eigentlich als Erweiterung des Selbst zu sehenden) Seite (vor
allem durch die Mutter, soweit sie allzeit für die eigenen Bedürfnisse des
Kindes bereit ist) und die böse Seite (z. B. die Mutter, die tatsächlich
irgendwas verweigert oder gar nicht lieb ist) vollzogen. Im Märchen wird dies
treffend durch die Spaltung in die gute Mutter und die böse Stiefmutter
repräsentiert. Die Stiefmutter hat durch ihre Magie alles gegen die arme
Prinzessin (oder den Prinzen) verschworen, auch den eigentlich guten König. Die
Welt muss von dem Stiefmutter-Bann befreit werden muss, damit am Ende wieder
alles gut ist – indem die böse Stiefmutter getötet, eliminiert wird!

Es ist wohl klar, dass die
Juden und Jüdinnen in der Geschichte die Rolle der bösen Stiefmutter erhalten
haben. Für die Gekränkten und Erniedrigten, denen „unverständlicherweise“ von
den hohen Herren von Adel und Kirche nicht geholfen wird, erscheinen die Juden
und Jüdinnen wie die bösen MagierInnen, die ihre einst so gute Herrschaft mit
ihrer abstrakten, jüdischen Geldwirtschaft verzaubert haben. Die Juden und
Jüdinnen, als Verkörperung der abstrakten Macht des Geldes, werden zur „bösen
Seite der Macht“ des Narzissmus. Mit ihrer Vernichtung, so die Hoffnung, wird
der „Papa wieder gut“, werden die Mächtigen sich unser erbarmen. Daher gehört
die Wut auf die „JudenschützerInnen“ ganz unbedingt zum Ritual des Pogroms. Es
ist der Teil des Rituals, in dem der König (oder „Mutti“) wach geküsst werden
soll.

Erdheim verweist zu Recht
darauf, dass narzisstisch bedingte Aggression bei den Herrschenden sogar noch
weit verbreiteter ist als bei den Unterdrückten. Herrschaft an sich ist auf
engste mit Narzissmus verbunden (man will bewundert werden, nicht geliebt).
Umso mehr wird Aggression freigesetzt, je mehr die Unterdrückten unbotmäßig die
Bewunderung verweigern, ja, gar gegen die Herrschaft aufbegehren. Die
Herrschenden neigen sehr viel stärker zur unkontrollierten, eliminatorischen
Aggression als die Unterdrückten. Der kurze, heftige Furor der
Bauern/Bäuerinnen in den Bauernkriegen mag in schnellen Orgien der Befreiung
heftig gewesen sein – er war aber nichts im Vergleich zur systematischen,
massenmordartigen Hinrichtungswelle, an der sich die Herrschenden nach ihrem
Sieg ergötzt haben. So war denn auch der eliminatorische Antisemitismus gerade
bei den herrschenden Klassen in Deutschland nach den narzisstischen Kränkungen
von Novemberrevolution bis Versailles besonders ausgeprägt.

4.4 Massenpsychologie des
Faschismus

Auch ohne psychoanalytische Ausbildung hat Trotzki, der bekanntermaßen für eine ernsthafte Beschäftigung mit Freud eintrat, diese Mechanismen der Massenpsychologie meisterhaft analysiert, z. B. in seinen Untersuchungen des Faschismus. In seiner Kritik der KomIntern-Politik gegenüber dem Faschismus bemerkt er, dass die führenden KP-VertreterInnen den Charakter der faschistischen Gefahr verkannt hätten, unter dem Motto „Die Bourgeoisie kann doch keinen Aufstand gegen sich selbst machen“ (50). Trotzki dagegen hat erkannt, dass es gerade dem Faschismus gelinge, tatsächlich dem Bedürfnis des „Volksaufstandes“ entgegenzukommen und die Aggressionen auf entsprechende Ersatzobjekte zu richten – gleichzeitig aber die zentralen Ziele des Kapitals durch die Nutzung dieser „Aufstandsbewegung“ zur massenhaften Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu instrumentalisieren. Dass diese Umlenkung des Aufstandswunsches gelingt, wird von Trotzki auch eindeutig analysiert: „Der italienische Faschismus erwuchs unmittelbar aus dem von den Reformisten verratenen Aufstand des italienischen Proletariats… Der Zusammenbruch der revolutionären Bewegung wurde zur wichtigsten Voraussetzung für das Wachstum des Faschismus“ (51).

Es waren gerade die Demoralisierung, die Perspektivlosigkeit nach der Niederlage, die eine neue, „nationale“ Alternative zum Kampf gegen die BedrückerInnen als möglich erscheinen ließ. Dieser folgten wohl viele, die sich durch die sozialistische Bewegung bedroht sahen, aber auch demoralisierte ArbeiterInnen können so für den Bruch mit ihrem Klasseninteresse gewonnen werden. Hier erweist sich die besondere Schwere des Problems für SozialistInnen und KommunistInnen: Je mehr man vor der möglichen Revolution zurückschreckt, je mehr man die Krise des Kapitalismus laufen lässt und sich mit kleinen „Zwischenschritten“ zufriedengibt, desto mehr wächst das reaktionäre Potential in den demoralisierten Klassen durch die Unbewusstmachung ihrer revolutionären Wünsche.

Hiermit ist ein zentrales
Element der politisch-psychologischen Bedeutung des Antisemitismus entwickelt.
Mit den Mechanismen von Projektion und Regression werden die Juden und Jüdinnen
zum Ziel von Ersatz-Aufständen gegen das Kapital, speziell in Krisenzeiten.
Seit der Krise der frühen Neuzeit ist der zuvor religiös bestimmte
Antijudaismus zu einem im gesellschaftlichen Unbewussten fest verankerten
Antisemitismus geworden. In Krisenzeiten konnten Aggressionspotentiale nunmehr
immer wieder in mehr oder weniger gewalttätige Ersatz-Aufstände abgeführt
werden. Wie Erdheim aber zu Recht auch sagt, wäre es dabei falsch, einfach nur
von einer bewusst von den Herrschenden eingesetzten Sündenpolitik auszugehen.
Vielmehr sind diese Mechanismen der unbewussten Krisenbewältigung oft von den
Herrschenden kaum zu kontrollieren. Dies zeigt sich z. B. in den diversen
antisemitischen Ausbrüchen zu unvorhergesehenen Anlässen in der Kaiserzeit des
19./20.Jahrhunderts in Deutschland. Etwa um 1900, als in der westpreußischen
Kleinstadt Konitz ein Mann gefunden wurde, der scheinbar durch Ausbluten
ermordet wurde. Sofort wurde ein jüdischer Metzger in alter
Ritualmordlegenden-Form beschuldigt. Und getreu dem Muster wurde auch der aus
der Hauptstadt entsandte Kriminalist, der widerlegende Indizien fand, der
Judenschützerei beschuldigt und aus der Stadt getrieben. Natürlich wurde auch
die Regierung beschuldigt, mit den Juden/Jüdinnen unter einer Decke zu stecken.
Da dies beileibe kein Einzelfall ist, kann davon ausgegangen werden, dass dies
nur ein Indiz für festgefahrene Mechanismen des gesellschaftlichen Unbewussten
ist, die sich seit der Krise des 15./16. Jahrhunderts fest in Deutschland
verankert hatten. Und dies bedeutete unter anderem Antisemitismus als
„volkstümlicher“ Ersatz für den eigentlich notwendigen Aufstand gegen das
Kapital – ein unbewusst gespeister Antisemitismus, der sich entgegen aller
allzu einfachen Manipulationstheorien auch von den Herrschenden nur bedingt
kontrollieren lässt.

4.5 Antisemitismus und
„Kritische Theorie“

Antisemitismus- und
Faschismustheorie stellen auch zentrale Themen der sogenannten „Kritischen
Theorie“ dar, die vor allem im Umkreis des Frankfurter „Instituts für
Sozialforschung“ entstand. Begründet wurde dieses Institut in den frühen 1920er
Jahren von der jüdischen Industriellenfamilie Weil, auch aus Sorge über die
Erstarkung des Antisemitismus. Dazu kam, dass sich Felix Weil selbst zu einem
radikalen Marxisten entwickelt hatte, der für die Gründungsphase eine erste
„Marxistische Arbeitswoche“ mit solch zentralen Theoretikern wie Georg Lukács
und Karl Korsch organisieren konnte. Während in dieser Frühphase des Instituts
marxistische Gesellschaftstheorie im Vordergrund stand, wurde bald auch die
Psychoanalyse zur Grundlage (unter anderem durch die Einbeziehung des
Analytikers Erich Fromm). Als „analytische Sozialpsychologie“ versuchte die
„Frankfurter Schule“ die marxistischen, gesellschaftstheoretischen Analysen
solcher Phänomene wie des Antisemitismus durch psychoanalytische Erklärungen zu
ergänzen. Als paradigmatisch dafür kann der Aufsatz von Theodor Adorno „Die
Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda“ (52) gesehen
werden, der in engem Zusammenhang mit den Arbeiten von Ernst Simmel zu
Antisemitismus und Massenpathologie, bzw. von Max Horkheimer zum Komplex des
„autoritären Charakters“ steht (53). Der Artikel stammt aus einem
Forschungsprojekt „Antisemitismus“, das noch in der Exilphase des Instituts in
den USA durchgeführt wurde und viele bis heute wirksame Untersuchungsmethoden
zu dem Thema hervorgebracht hat.

Adorno setzt in dem Artikel die
Herangehensweise von Freud derjenigen der voranalytischen Psychologie in Bezug
auf Massenbewegungen entgegen. Letztere habe, z. B. bei Gustave Le Bon
(„Psychologie der Massen“), in der Herausbildung von „Massen“ grundlegend eine
gefährliche und das Individuum bedrohende Erscheinung gesehen, die im
Wesentlichen auf einem atavistischen Herdentrieb beruhe und von DemagogInnen
mittels „Suggestion“ oder einer Art „Massenhypnose“ manipuliert würden. Freud
bestreitet in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ dagegen die Existenz von so
etwas wie einem „Herdentrieb“. Umgekehrt: das immer mehr individualisierte,
vereinzelte „Ich“ der bürgerlichen Gesellschaft findet in der Masse eine Art
„Fluchtweg“ aus den als Vereinzeltes sich immer drängender ergebenden inneren
Konflikten. Statt also von einem „natürlichen Herdentrieb“ zur „nationalen
Vereinigung“ getrieben zu werden, ist diese „Natürlichkeit“ vielmehr eine
gesellschaftliche Konstruktion, die erst mit der Entwicklung einer hoch
individualisierten Zivilisation möglich wird. In diesem Sinn sagt auch Simmel,
dass der Antisemitismus nicht ein „Rückfall“ aus der Zivilisation ist, sondern
eine notwendige Folge oder Begleiterscheinung der voranschreitenden
Zivilisation.

Wenn nun die Herausbildung von
reaktionären Massenbewegungen vor allem irrationaler Natur, da gegen die
materiellen Interessen des Großteils der Beteiligten gerichtet, ist, was bringt
dann die Bindung der Individuen an diese hervor? Nach Freud müssen solche
„irrationalen Motive“ vor allem in unbewusst wirkenden Triebenergien gesucht
werden, die mittels Verdrängung und Regression zu mächtigen, von den
AkteureInnn selbst nicht durchschauten emotionalen Impulsen werden. Diese
Energien können unter bestimmten Umständen durch Identifikationsfiguren und
Feindbilderzeugung zu mächtigen politischen Waffen geraten.

Was sind nun nach Freud die
psychischen Energien, die hier im Spiel sind? Freud schließt hier im
Wesentlichen sexuelle Motive aus (auch wenn er auf unterdrückte homosexuelle
Momente, die auch im Faschismus eine Rolle gespielt haben, durchaus hinweist).
Im Allgemeinen führt direkte Sexualerfüllung eher weg von Massenbildung,
hintertreibt strenge Abgrenzungszwänge – wie Freud so schön sagt, durchbricht
die Liebe die Abgrenzungen „der Rasse, der nationalen Absonderung und der
sozialen Klassenordnung und vollbringt so kulturell wichtige Leistungen“ (54).
Traditionelle Massenorganisationen wie Kirche und Armee bestätigen dies durch
ihre sexuellen Enthaltsamkeitsregeln (zumindest der Fassade nach).

Wenn also die Momente der
irrationalen Massenbildung in der vorgenitalen Libidoentwicklung zu suchen
sind, dann liegt es nahe, wiederum auf die narzisstische Regression zu stoßen,
die wir schon bei der Psychologie des Pogroms besprochen haben. Die
Einverleibung der Realität in das narzisstische Ich, die Vergrößerung der
eigenen Persönlichkeit kann zur Identifizierung mit einem „größeren Ich“, einem
kollektiven Ich werden. Adorno nennt diesen Prozess in Anlehnung an Freud
„Idealisierung“ (55). Das Objekt der narzisstischen Liebe ist eigentlich das
eigene, idealisierte Selbst. Es ist eine aufgeblasene Figur, in der sich das
eigene, gedemütigte Ich wieder lieben kann. Die reaktionäre Führerfigur hat
nichts vom autoritativen, großen und gebildeten Vater, sondern muss gewisse
Züge des eigenen schwachen Ichs enthalten. Dies erklärt sicher die teilweise
Lächerlichkeit und Gewöhnlichkeit von „Führerfiguren“ von Hitler bis Trump, die
sie so geeignet macht als Identifikationsobjekte narzisstischer Selbsterhöhung.
Gefährlich wird es, wenn sich diese narzisstische Identifikation überlagert
damit, dass das eigene schwache Ich-Ideal (das zumeist in der
Auseinandersetzung mit den Eltern herausgebildet wurde) durch eben denselben
Ersatz-Vater verkörpert wird. D. h. die Über-Ich-Instanzen von Gewissen,
Moralvorstellungen etc. werden durch das idealisierte Führer-Selbst bzw. das imaginierte
kollektive Selbst, z. B. die „Volksgemeinschaft“ besetzt. In der modernen
Massenkultur ist die narzisstische Identifikation nach Adorno z. B. in der
Identifikation mit mittelmäßigen KünstlerInnen als großen „Stars“ Grundelement
– dies ist aber noch unterhalb der Idealisierung, da hierbei die Überhöhung ins
Ich-Ideal nur sehr beschränkt erfolgt. Es zeigt aber, wie sehr in der
spätkapitalistischen Gesellschaft auch heute die Mechanismen der Idealisierung
leicht wieder politisch angewendet werden können. Die „FrankfurterInnen“
betonten dabei stark die Tatsache des Autoritätsverlust der Elterngeneration
(z. B. die „vaterlose Gesellschaft“ der Nachkriegsgeneration nach dem
ersten Weltkrieg), durch die diese Ersetzung des überkommenen Über-Ichs gelingt
und die Umformung in die „autoritäre Persönlichkeit“ erleichtert wird.

Narzisstische Selbstaufblähung
ins Kollektiv und Unterwerfung unter das idealisierte Selbst als Ich-Ideal
ermöglichen die irrationale Massenbindung an reaktionäre, den Interessen dieser
Massen direkt zuwiderlaufende politische Bewegungen und Führergestalten. Das
heißt nicht, die faschistischen oder reaktionären Massenbewegungen aus der
Psychologie zu erklären. Wie Adorno bemerkt, erfordert die komplexe Psychologie
der reaktionären Massenbildung die gezielte Hervorbringung durch politische
Kräfte, die diese nutzen wollen. Dies muss nicht unbedingt bewusst und
„massenpsychologisch“ geplant erfolgen – die reaktionären Organisationen sind
zumeist schon aus Menschen zusammengesetzt, die eine Disposition für diesen
Idealisierungsprozess besitzen. Es kommt darauf an, dass es Kapitalkräfte gibt,
die das Potential solcher Gruppen auch für ihre Interessendurchsetzung nutzen
wollen.

Zu der narzisstischen Überhöhung des guten eigenen Ichs gehört (wie schon ausgeführt) die Abspaltung des bösen Teils der eigenen Welt. Die reaktionäre Massenbildung durch narzisstische Identifikation kommt nicht aus ohne die Brandmarkung des inneren und äußeren Feindes. Alle Herabsetzungen und Entbehrungen des realen Ichs, die nun im Führer-Ich eine Lösung zu finden scheinen, werden auf dieses Feindobjekt projiziert, das nun als einziges der Lösung entgegensteht. Die gegen das Judentum gerichtete narzisstische Aggression haben wir schon in der Analyse der antisemitischen Pogrome dargestellt. Im entwickelten Kapitalismus, so die These von Adorno bzw. Simmel, kann sich diese Aggression erhöhen bis auf die Ebene der Psychose – ähnlich wie bei narzisstischen Störungen, die in schizoider Paranoia enden. D. h. der moderne Antisemitismus entwickelt ein „System des Wahns“, das in irrationaler Weise alle möglichen „Bedrohungen“ mit teuflischen Verschwörungen des „Weltjudentums“ in Verbindung bringt. Die Anschuldigungen mögen so abstrus sein wie möglich (siehe z. B. die „Protokolle der Weisen von Zion“), zentral ist die Funktion bei der aggressiven Selbstvergewisserung: „Es ist daher nicht überraschend, dass der einzelne Antisemit sich über den Inhalt seiner Anschuldigungen und Verleumdungen wenig Gedanken macht, solange sie seinem Bedürfnis nach Aggressionsentladung dienen. Ferner glaubt der Antisemit an seine falschen Beschuldigungen der Juden nicht trotz, sondern wegen ihrer Irrationalität. Der Vorstellungsgehalt dieser Anschuldigungen ist Produkt des Primärprozesses im eigenen Unbewussten; seinem bewussten Denken wird es erst durch Suggestion des Massenführers zugänglich“ (56).

Die Steigerung der
antisemitischen Aggression hin zur Psychose erklärt auch die Möglichkeit der
Monstrosität von Menschen, die die industrielle Massenvernichtung von Juden und
Jüdinnen durchführen konnten. Das Projekt, mitten in einem große Ressourcen
verschlingenden Krieg, war jenseits jeden ökonomischen und militärischen Sinns.
Trotzdem wurde es mit der planmäßigen Rationalität eines/r psychotischen
SerienmörderIn durchgeführt. Die Zwanghaftigkeit des Massentötens in seiner
monströsen Irrationalität als Ganzes verschaffte offenbar den einzelnen
TäterInnen die Befriedigung, Teil einer großen „nationalen Befreiungstat“ zu
sein. Der/Die Einzelne war kein/e psychotische/r TäterIn, sondern
repräsentierte zumeist den mittelmäßigen kleinen deutschen Beamtentypus – die
„Banalität des Bösen“, wie es Hannah Arendt ausdrückte. Erst im faschistischen
Apparat wurde er/sie Teil einer psychotischen Masse.

Auch wenn die massenpsychologischen Erkenntnisse der kritischen Theorie wichtiges zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen haben, muss auf ein zentrales Problem hingewiesen werden. Anders als bei den zuvor genannten Erklärungen von Erdmann und Trotzki fehlt bei Adorno/Simmel der Bezug zum Klassenkampf vollständig. Bei den Erstgenannten kommt es aufgrund von Niederlagen in der Auseinandersetzung mit den Herrschenden bei einigen der Unterlegenen zu reaktionären Antworten, die emotional durch narzisstische Regression aufgeladen sind, während die Herrschenden Angriffe auf sich mit besonders gesteigerter narzisstischer Aggression beantworten. Bei Adorno/Simmel fehlt dieser Klassenbezug völlig. Vielmehr entwickelt Adorno die narzisstische Regression viel allgemeiner aus den Bedingungen der „Massenkultur“ in spätkapitalistischen Gesellschaften. Eine zentrale Aussage von Adorno dazu sei zitiert: „Die Menschen, mit denen er [der Faschismus] zu rechnen hat, befinden sich in der Regel in dem charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Misserfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen. Aus diesem Konflikt resultieren starke narzisstische Triebimpulse, die nur durch Idealisierung, als teilweise Übertragung der narzisstischen Libido auf das Objekt, absorbiert und befriedigt werden können“ (57).

Worauf Adorno hier als Ursache der Idealisierung abzielt, ist die Vereinzelung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der Waren- und Arbeitsmärkte, oder wie es Lukács nannte, die „Verdinglichung“ (58). D. h. die Beziehungen zwischen den Menschen werden im entwickelten Kapitalismus immer mehr durch die Beziehung zwischen „Dingen“ in ihrer Warenform ersetzt, die eigenen Eigenschaften entfremden sich in verdinglichter Gestalt als Elemente der „Arbeitskraft“, deren plötzlicher Entwertung man machtlos gegenübersteht. Diese Herrschaft der Warenform über die Subjekte erzeugt also nach Adorno die Tendenz zur narzisstischen Regression, als scheinbare Wiedergewinnung von Subjektivität und Wiederherstellung von sozialer Gemeinschaft.

Sicherlich erzeugt die immer
stärker werdende Tendenz zur Verdinglichung im Kapitalismus auch die
Disposition zur narzisstischen Regression und damit zur leichten Evozierbarkeit
von nationalistischem, rassistischem oder antisemitischem Hass. Die Auslassung
der Klassenfrage an dieser Stelle führt jedoch zu einem insgesamt
kulturpessimistischen Defätismus. Adorno erwähnt zwar in dem genannten Aufsatz
die Möglichkeit, dass Massenbewegungen auch solidarisch und fortschrittlich
sein können. Doch im Grunde widerspricht dies seiner eigenen Theorie des
Spätkapitalismus, in dem die ökonomische Krisenhaftigkeit durch den
„organisierten Kapitalismus“ aufgehoben und damit die Klassenbildung selbst
systematisch blockiert wäre. Bei seinen späteren Schriften kommen folgerichtig
Zweifel auf, ob nicht alle Massenbewegungen im Spätkapitalismus die Tendenz zum
Faschismus haben. Es mag Bewegungen geben, die sich der Warenförmigkeit und
autoritären Konkurrenz der FührerInnen entziehen (z. B. Ökologie,
Hausbesetzungen, u. ä.), aber sie müssen wohl im Kapitalismus eher am Rand
bleiben. Dagegen hat Lukács den Verdinglichungsbegriff eingeführt, um zu
zeigen, dass es eben für das bürgerliche und kleinbürgerliche Bewusstsein
keinen Ausweg aus dem Konflikt der nicht erfüllbaren Ansprüche an die
Individualität gibt. Er sah also eine klassenspezifische Disposition zum
Irrationalismus bei den bürgerlichen Klassen, insbesondere beim Kleinbürgertum.
Dagegen ermöglicht die Stellung des Proletariats im Produktionsprozess es
diesem, die Verdinglichung durch Solidarität und Entwicklung von Kontrolle über
den Arbeitsprozess eben gerade zu durchschauen und letztlich zu überwinden. Auf
der Grundlage von solidarischer Selbstorganisation und Entwicklung von Macht
über den eigenen Arbeitsprozess ist daher auch eine Massenbewegung möglich, die
selbstbewusste und kritikfähige Subjekte in einem demokratischen Prozess
verbindet, der zugleich gegen die Mächte der Verdinglichung und ihrer
bewaffneten Banden zur Gegenwehr in der Lage ist. Die Aufgabe des
revolutionären Klassenbegriffs in der Frankfurter Schule markiert nicht nur
einen grundlegenden Bruch mit dem Marxismus, sie führt auch dazu, dass sich
Ideologiekritik mit kulturpessimistischem Grundton einerseits auf die
Affirmation des Bestehenden bei realen sozialen Kämpfen andererseits
zurückziehen muss.

Die Analyse des „autoritären
Charakters“ und der „narzisstischen Massenkultur“ spielte um die 1968er Jahre
in der westdeutschen Linken eine große Rolle. Sie führte einerseits zu
kulturkritischen und antiautoritären Versuchen, die viel mit der Aufarbeitung
der verdrängten Nazi-Vergangenheit zu tun hatten. Auch wenn auf der Ebene des
Überbaus hier einiges in Bewegung kam, wurden die gesellschaftlichen
Verhältnisse so nicht grundlegend herausgefordert. Adornos These von einem
durch den Totalitarismus der Verdinglichung in der spätkapitalistischen
Massengesellschaft immer bestehenden Hang zur Faschisierung führte letztlich
dazu, dass viele Linke den Faschismus als permanente Gefahr (oder gar schon
Realität sahen). Antifa-Aktivität als Hauptschwerpunkt sowie Ablehnung
„autoritärer Strukturen“ wurden seither zu einem Charakteristikum der deutschen
Linken. Die tatsächliche neuerliche Rechtsentwicklung seit einigen Jahren haben
viele dann nicht erkannt (nach dem Motto: „Was unterscheidet denn die AfD von
der SPD“?) bzw. sind mit ihren Methoden nicht dazu in der Lage, sie zu
bekämpfen.

4.6 Antisemitismus und
Fetischismus der Wertformen

Der 1979 erstmals auf Deutsch
erschienene Artikel „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ (59) von Moishe
Postone kann als eine Art „Erweckungsschrift“ für die sogenannten
„antideutschen Linken“ gesehen werden. Allerdings gehen viele der Verkürzungen
der Letzteren weit an der Qualität dieses Artikels vorbei.

Postone geht von der Frage aus, warum gerade die Juden und Jüdinnen im Zentrum der faschistischen Gewalt stehen mussten, warum der Antisemitismus zentral für die Nazis sein musste. Er geht also über die Analyse von Adorno/Horkheimer hinaus, die die Unabdingbarkeit irgendeines inneren Feindes für die politische Mobilisierbarkeit der „autoritären Charaktere“ sahen – da hätten dann ja auch ganz andere als „Sündenböcke“ dienen können. Bestimmte Aspekte des von den Nazis ausgelebten Antisemitismus zeigen, dass er über Vorurteile, Fremdenhass, ja Rassismus weit hinausginge. Die systematische Verfolgung und letztlich industriell betriebene Vernichtung ist weder ökonomisch (absolute Mehrwertproduktion) noch militärisch (Blockierung von Schienenwegen mitten im Krieg) noch psychologisch („autoritärer Charakter“) erklärbar: „Ist die qualitative Besonderheit der Ausrottung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, dass Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu allgemein bleiben“ (60).

Postone grenzt
zunächst den „klassischen“ antijudaistischen und religiösen Antisemitismus vom
„modernen“ Antisemitismus, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
entstanden ist, ab. Wir werden letzteren ausführlicher im nächsten Kapitel
behandeln. Er betont jedoch als Kontinuum, dass auch der klassische
Antisemitismus mit seiner Verteufelung des Judentums diesem eine besondere, hintergründige
Macht zugesprochen hat. Rassismus unterstellt den fremden „Rassen“ immer schon
eine bedrohliche Macht, gegen die es gelte, sich zu behaupten. Doch im
Unterschied zu den als „Untermenschen“ gebrandmarkten „unterlegenen Rassen“,
die nur als potentielle Bedrohung gesehen würden, würden die Juden und Jüdinnen
als eine geheimnisvoll im Hintergrund wirkende tatsächliche Macht verteufelt.
Schon im klassischen Antisemitismus wird diese Macht mit Geld und Zins in
Verbindung gebracht. Im modernen Antisemitismus jedoch würde diese Macht um ein
Vielfaches allgemeiner und bedrohlicher dargestellt. Postone verweist
exemplarisch auf ein Nazi-Plakat, in dem der „fleißige, hart arbeitende
Deutsche“ bedroht wird durch einen fetten US-Kapitalisten auf der einen Seite
und einen mörderischen bolschewistischen Kommissar auf der anderen Seite – und
über den Horizont der Weltkugel sieht man einen Juden hervorkommen, der die
beiden Bedrohungen wie an Marionettenfäden steuert. Das „internationale
Weltjudentum“ wird dargestellt als unfassbare, abstrakte Macht des
Finanzkapitals im Hintergrund, die hinter allen schwer fassbaren
Krisenhaftigkeiten stehe und darüber hinaus an der Untergrabung der
überkommenen Kultur, an den bestehenden Gemeinschaften, der Schaffung des „Großstadtdschungels“,
der „kosmopolitischen“ Kultur etc. Schuld sei. Es ist überdeutlich, dass der
moderne Antisemitismus eine Verkörperung der Entwicklungsprobleme der
kapitalistischen Gesellschaften durch das Judentum versucht. Die Frage ist,
wieso eine solch irrsinnige Idee einen derart „naturwüchsigen“ Erfolg haben
konnte – und haben kann.

Die Antwort findet Postone in Marx‘ Konzept des „Fetisch“, mit dem die Differenz vom Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse und ihren Erscheinungsformen erklärbar wird. Begründet ist dies im Doppelcharakter der Ware als Wert und Gebrauchswert: Ware, wie auch Wert schaffende Arbeit müssen immer sowohl in konkret stofflicher Form, im konkretem Arbeitsprozess, bestehen, wie auch als abstrakter Wert, allgemein gesellschaftliche, abstrakte Arbeit sein. Vermittelt wird dies durch die Wertform, die beides in Beziehung setzt. In der Wertform vergegenständlichen sich die beiden Pole des Verhältnisses in der stofflich konkreten Ware (Gebrauchswert) und der symbolischen, abstrakten Repräsentanz des Wertes, dem Geld. „Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein Eigenleben, sie bilden eine ‚zweite Natur‘, ein System von Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich, sachlich und ‚objektiv‘ ist und deshalb natürlich zu sein scheint“ (61). Die scheinbare Naturhaftigkeit der Vergegenständlichung des Werts in den beiden Seiten der Wertform verglich Marx mit einer Art „Fetischglauben“, einer Projektion eigentlich gesellschaftlicher Verhältnisse in ein Verhältnis zwischen Dingen.

Die unmittelbare und zumeist beschriebene Folge dieses Fetischismus ist die typische „Rationalität“ in bürgerlichen Gesellschaften: der Glaube an Sachgesetzlichkeiten der verschiedenen Wertformelemente (Kapital, Lohn, Markt etc.), denen man wie gegenüber einem Naturgesetz nicht zuwiderhandeln könne. Dies betont die Vereinseitigung der einen Seite der Wertform, der abstrakten zumeist mit dem Geld identifizierten Seite. Postone meint nun, dass das Verständnis des Antisemitismus die Vereinseitigung der anderen Seite der Wertform betrachten müsse. „Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen, zum Beispiel Geld als ‚Wurzel allen Übels‘. Dem wird die bestehende, konkrete Seite dann als das ‚natürliche‘ oder ontologisch Menschliche, das vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe, positiv entgegengestellt“ (62).

Die „Naturalisierung“ von Arbeit, die weiterhin unter Bedingungen kapitalistischer Eigentums- und Austauschverhältnisse verrichtet wird, fetischisiert Arbeit zu „konkreter“ Arbeit, die ebenso vom Doppelcharakter konkrete Arbeit/Wert schaffende Arbeit geprägt ist – und damit weiterhin dem kapitalistischen Entfremdungsmechanismus unterliegt. Die „romantische“ Revolte der FaschistInnen gegen die Abstraktheit und Universalität kapitalistischer Rationalisierungsprinzipien endet in der Vergötterung der „völkischen“ Industrie als Fortentwicklung des „ehrlichen Handwerks“, die von der Herrschaft des unorganischen, unvölkischen, abstrakten Finanzkapitals befreit werden müsse. Daher der scheinbare Widerspruch im Faschismus zwischen „Revolte gegen das Kapital“ und Begeisterung für nationale Industrie, Technik und den Futurismus.

„Der ‚antikapitalistische‘ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktes stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude“ (63). Der Drang zur Abwehr der abstrakt-allgemeinen Zumutungen der kapitalistischen Akkumulation wird also durch die Naturalisierung, „Vermenschlichung“ sowohl der Gebrauchswertseite („der ehrlich arbeitende/n Deutsche/n“) als auch der „Konkretisierung“ der Wertseite in Form „des/r Juden/Jüdin“ scheinbar in eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen verwandelt.

Warum nun die Juden und Jüdinnen? Hier spielen einerseits
historische Gründe eine Rolle. Einerseits die schon im klassischen
Antisemitismus vorhandene Identifikation von Judentum mit Geld und Zins
tragendem Kapital. Andererseits, dass sich mit der Industrialisierung im 19.
Jahrhundert parallel die „Judenemanzipation“ vollzog, die es Juden und Jüdinnen
ermöglichte, in vielen Berufen aufzusteigen, in denen sie aufgrund der
traditionell guten kommerziellen Ausbildung Chancen dazu nutzen konnten. In
Verbund mit ihrer Integration speziell in den bürgerlichen Liberalismus mussten
sie vor allem vielen kleinbürgerlichen „KonkurrentInnen“ als Verkörperung des
sie überrollenden kapitalistischen Modernisierungsprozesses erscheinen.

Neben diesen historischen Gründen nennt Postone jedoch zwei Faktoren,
die sich direkt aus den Fetischformen ergeben. Erstens ergibt sich aus der Form
des Kapitalkreislaufes, dem Fetisch des Kapitals als sich selbst verwertendem
Wert die allgemeine Ablösung des mechanischen Modells im bürgerlichen Denken
durch das biologisch-organische Paradigma. Dieser Biologismus zeigt sich nicht
nur in organischen Gesellschaftsmodellen, sondern auch in einer Tendenz zum
Rassismus. Dazu passt die Biologisierung der Herrschaft des
Abstrakt-Allgemeinen der Wertform in Gestalt einer Rasse, die parasitär von den
natürlich, konkret-produktiven Rassen lebend, vampirartig sich an die Spitze
der Nahrungskette gesetzt hat – und wie ein Schmarotzer mit allen Mitteln
biologisch vernichtet werden müsse.

Zweitens erzeugt die Ableitung der bürgerlichen Staatsform aus dem Kapitalverhältnis die Dopplung des Menschen in den konkreten „bürgerlichen Menschen“, mit all seinen privaten Verhältnissen und Ungleichheiten, und den/die abstrakt-gleiche/n „StaatsbürgerIn“ – von denen alle den gleichen Rechten und Pflichten unterworfen sind, ganz gleich, „wo sie herkommen“. Diese Doppelung ist zugleich Ausdruck der Auflösung traditionaler, „gewachsener“ Gemeinschaften und ihrer kulturellen Eigenheiten. „In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen. Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret“ (64). Damit wurden Juden und Jüdinnen zumeist direkt mit der Auflösung der „Blut-und-Boden“-Bestimmung des in der nationalen Mythologie konstruierten „Volksstammes“ in Verbindung gebracht.

Insgesamt stellt der Antisemitismus nach Postone eine besonders gefährliche Form des Fetisches dar. Er ermöglicht die Bündelung des Unbehagens an der abstrakt-allgemeinen Rationalität des Kapitalismus in eine verkürzte, personalisierende Kapitalismuskritik. Durch die Ablenkung des „Aufstandes gegen den Kapitalismus“ auf die „Befreiung der Menschheit“ vom „parasitären Weltjudentum“ mussten die Nazis den Krieg gegen das Judentum permanent machen. Daher war die antisemitische Aggression nicht nur für die Machteroberung wesentlich. Es wäre falsch, so Postone, die Nazis an der Macht nur als gewöhnlichen Bonapartismus zu analysieren. Mit dem „Röhm-Putsch“ haben die Nazis keineswegs aufgehört, den „völkischen Kampf“ fortzuführen. Ihre Machterhaltung war wesentlich verknüpft mit der beständigen Steigerung antisemitischer Mobilisierung bis hin zur systematischen Eliminierung. „Die Ausrottungslager waren demgegenüber [der industriellen Fabrik gegenüber] keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske arische ‚antikapitalistische‘ Negation gesehen werden. Auschwitz war eine Fabrik zur ‚Vernichtung des Werts‘, das heißt zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu ‚befreien‘“ (65).

Postones These
vom Antisemitismus als Form des durch den Warenfetisch fehlgeleiteten Denkens
hängt stark von der Identifikation der abstrakten Seite der Wertformen mit „dem
Judentum“ ab. Die Wirksamkeit der von Marx beschriebenen Fetischformen liegt ja
darin, dass wir im Alltag des Kapitalismus wie selbstverständlich erleben, dass
wir uns dem scheinbaren Eigenleben von Preisen, Löhnen, Zinsen und anderen
Erscheinungsformen des Wertes wie Naturerscheinungen gegenüber zu verhalten
haben. Doch welche „alltägliche Einübung“ soll die Sachzwangartigkeit des
Marktes als „jüdisches Prinzip“ erscheinen lassen? Sicherlich gab es Ende des
19. Jahrhunderts eine gewisse Zahl jüdischer Kaufleute und Bankiers – doch
waren auch schon damals (vor allem aus Osteuropa kommend) das jüdische
Proletariat und jüdische Unterschichten in der Mehrheit. Die Identifikation
„des Judentums“ mit der Zirkulationssphäre ist real gesehen daher weiterhin
eine ideologische Projektion, die sich nicht direkt aus der Fetischbildung erklären
lässt. Auch wenn die Fetischtheorie die Tendenz zur Vergegenständlichung der
Abstraktheit der kapitalistischen Rationalisierungsprinzipien in Form von
Sündenbockgruppen jenseits seiner tatsächlichen NutznießerInnen hervorbringt –
dass es gerade die Juden und Jüdinnen sind, die davon betroffen sind, ist
keineswegs zwingend, sondern Resultat bestimmter historischer, ökonomischer,
sozialer, psychologischer und politischer Bedingungen.

Eine gängige
Verkürzung von Postones Antisemitismus-Analyse ist es, jede Form der
Personalisierung in der Kapitalismuskritik als „strukturell antisemitisch“ zu
entlarven. Auf Postones Artikel kann sich dies nicht stützen, da er ja zeigt,
dass es sich beim Antisemitismus gerade um eine fehlgeleitete Auflösung der
Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse handelt – nicht, dass hinter der
Verschleierung gar keine personalen Verhältnisse stehen! Postone analysiert
hier ja, dass die scheinbare „Konkretheit“ von produktiver Arbeit etc.
abgetrennt wird von der abstrakten Seite der Wertform, um scheinbar die
Herrschaft des Werts zu überwinden. In der „Kritik der personalisierten
Kapitalismuskritik“ wird jedoch zumeist übersehen, dass die gesellschaftlichen
Verhältnisse im Kapitalismus nicht nur aus der Herrschaft der abstrakten Wertform
bestehen. Das Kapital als Wertform ist als „Abstraktes“ nur auf der Ebene des
„Kapitals im Allgemeinen“ festzustellen (wie es Marx im ersten Band des
„Kapitals“ analysiert). Es kann natürlich nicht als Allgemeines konkret einzeln
auftreten, sondern muss sich in besonderen Formen des Zirkulations- und
(Re-)Produktionsprozesses verwirklichen. Damit nimmt es als Einzelnes die
Gestalt von Industrie-, Handels-, Finanzkapital etc. an und verteilt – über die
Konkurrenz vermittelt – den vom Kapital im Allgemeinen angeeigneten Mehrwert
als Revenue für die KapitaleignerInnen (Ausgleichung der
Durchschnittsprofitrate, Bildung der Zinsrate etc.). Also ist der Kapitalismus
nicht einfach ein abstrakter Kapitalverwertungsprozess des „Kapitals an sich“,
sondern funktioniert als Ausbeutungsprozess im Interesse der
PrivateigentümerInnen an Produktionsmitteln – egal welcher Nationalität oder
kulturellen Gruppe diese angehören mögen. Der „sich selbstverwertende Wert“ ist
daher Grundlage für die Bildung eines Klassenverhältnisses, das durch die
Fetischformen zugleich verschleiert wird. Während der Gesamtprozess die
ProduzentInnen dazu zwingt, sich jenseits aller beruflichen und ethnischen
Zugehörigkeiten – wie es Marx sagte – sich immer nüchterner, nackt als
Ausgebeutete oder AusbeuterInnen zu sehen, so erzeugen die Fetischformen die
Illusion von einer „natürlichen“ Gesetzmäßigkeit, nach der jede/r, der/die sich
nur anstrengt, im Kapitalismus bekommt, was ihm/ihr zusteht. Die
offensichtliche Falschheit von letzterem und das Zurückschrecken vor der
nackten Tatsache der Entfremdung führt zur hasserfüllten Projektion des
Grundproblems auf geeignete „äußere“ FeindInnen.

Was Postones
Antisemitismustheorie fehlt, ist dieser Bezug auf die Klassenfrage. Marx sah
den Kapitalismus neben dem Wert/Gebrauchswert-Widerspruch grundlegend durch den
Klassenwiderspruch von Kapital und Lohnarbeit gekennzeichnet. Die beiden
Widersprüche durchdringen sich an der Stelle des Konflikts zwischen Lohnarbeit
und Kapital, bei dem die Wertbestimmungen um Arbeitszeit und Wertbestimmung der
Ware Arbeitskraft notwendig in eine Antinomie, in Klassenkampf münden müssen.
Der Klassenwiderspruch tritt danach an vielen Stellen der Herausbildung der
Kapitalformen (bis hin zur Ebene des Staates) in immer neuen Formen auf.
Zusätzlich ist der Klassenwiderspruch sowohl mit Entstehung als auch mit
Überwindung des Kapitalismus verbunden durch den grundlegenden Widerspruch von
Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen. D. h. der
Klassenstandpunkt des Proletariats ermöglicht eben auch eine Überwindung der
Verdinglichungsformen des Wertes durch die unmittelbare Vergesellschaftung der
Beziehung von Produktion und Verteilung – also das Übergehen in eine neue,
sozialistische Produktionsweise.

Die Zielsetzung
der Enteignung der EigentümerInnen an den Produktionsmitteln ist fern von einem
Trieb zur biologischen Ausrottung von „parasitären Klassen“. Welche
Repressionsmittel eine sozialistische Revolution gegen die bisher herrschenden
Klassen einzusetzen hätte, ist Sache der selbstorganisierten VerteidigerInnen
der zu erkämpfenden demokratischen Vergesellschaftung.

Die Loslösung
von der Klassenfrage verunmöglicht es Postone gerade, die klassenspezifischen
Momente des Antisemitismus zu erfassen. Bei ihm ist aufgrund des Fetischcharakters
eigentlich jede/r (sogar „selbsthassende“ Juden/Jüdinnen) im entwickelten
Kapitalismus anfällig für eliminatorischen Antisemitismus (dies wird von vielen
„Antideutschen“ ja auch so verstanden). Tatsächlich war der radikale politische
Antisemitismus bis in die späten 1920er Jahre eine stark auf bestimmte
(klein-)bürgerliche Schichten beschränkte Erscheinung. Erst die Niederlagen der
ArbeiterInnenbewegung, ihre beständigen Kapitulationen, führten dazu, dass den
Nazis auch ein Einbruch in demoralisierte Schichten des Proletariats gelang.
Offenbar ist die Entwicklung des Klassenkampfes (in welcher Form auch immer),
neben der ökonomischen und politischen Gesamtdynamik, sehr wohl entscheidend
dafür, ob die falsche antikapitalistische Rebellion in der Form des radikalen
Antisemitismus größere Anhängerschaft gewinnen kann oder nicht.

Losgelöst von
der Klassenfrage muss also die Fetisch-Theorie des Antisemitismus zu einer
ständigen Suche nach strukturellem Antisemitismus bei antikapitalistischen oder
ökologischen („Biologismus!“) Bewegungen führen. Die Aufdeckung verkürzter
Kapitalismuskritik, von Naturalismus oder biologistischen Ausdrücken wird zur
Hauptbeschäftigung im „Kampf gegen jeden Antisemitismus“. Schließlich muss auch
Postones Unvermeidlichkeit des Antisemitismus und der Einmaligkeit des
Judentums als Personifikation verkürzter Kapitalismuskritik bezweifelt werden.
Schon der italienische Faschismus zeigt, dass dort der Antisemitismus keine
zentrale Rolle gespielt hat (ohne die Verfolgung von Juden und Jüdinnen als
Pflichterfüllung gegenüber dem deutschen Bündnispartner dort kleinzureden).
Offenbar ist das Element der Niederschlagung der revolutionären
ArbeiterInnenbewegung der roten Jahre viel wesentlicher gewesen, aus denen der
italienische Faschismus viel unmittelbarer hervorgegangen ist als der deutsche
Faschismus (der zehn Jahre nach der letzten ernsthaften revolutionären
Herausforderung an die Macht kam). Andererseits fehlt bei Postone ja auch das
Element der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus: Für den
italienischen Faschismus stand die Eroberung von Kolonien und der damit
verbundene Rassismus viel mehr im Zentrum der Ideologie als der Antisemitismus.
Die Hauptfunktionen des Faschismus bleiben, dass er unter Umständen für das Kapital
eine notwendige Waffe zur Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung ist sowie zur
nationalistisch-rassistischen Mobilisierung gegen „äußere FeindInnen“. Ob dabei
der Antisemitismus oder eine andere Form des Rassismus zur Machteroberung und
-erhaltung notwendig sind, hängt von den Umständen ab. Die von Postone
beschriebene Fetischform kann bestimmte pseudo-antikapitalistische Züge des
eliminatorischen Antisemitismus erklären. Eine allgemeine Theorie des
Zusammenhangs von Antisemitismus und Faschismus wird damit aber nicht
geliefert.

Die Ausläufer der Fetisch-Theorie sind in der deutschen Linken (nicht nur den „wertkritischen“ Anti-Deutschen) weithin bemerkbar. Exemplarisch sei hier die Jugendorganisation der Partei DIE LINKE angeführt. „[‘solid]“ hat in einer Resolution „Gegen jeden Antisemitismus“ auf ihrem Bundeskongress 2015 folgende „Definition“ des Antisemitismus niedergelegt: „Ein kritisches Verständnis von Antisemitismus geht in seiner Analyse nicht vom Objekt, sondern von der_dem Antisemit_in aus, welche_r die abstrakten Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft auf das Judentum projiziert. Antisemitismus richtet sich gegen ein überlegen und kontrollierend imaginiertes ‚jüdisches Prinzip‘, das die Ursache allen Übels darstellt. In der postnazistischen Gesellschaft tritt Antisemitismus häufig nicht mehr offen in der Verurteilung von Jüd_innen auf, dennoch ist er als Denkstruktur weiter vorhanden.“  (66)

Hier wird die
Fetisch-Theorie (Personalisierung der abstrakten Seite der Wertform)
verabsolutiert – alle Formen des Antisemitismus werden auf ein „Wesen“
zurückgeführt, es gibt keine unterschiedlichen Formen von Antijudaismus und
Antisemitismus, es gibt keine historischen oder gar klassenspezifischen
Bedingungen seiner Entstehung mehr – er wird rein essentialistisch auf den
Fetisch zurückgeführt. Dies führt nicht nur zu einer großen Beliebigkeit und
„Flexibilität“ des Antisemitismus-Vorwurfs – auch solche Phänomene wie der
„Bayern-Hass“ von Nicht-FC-Bayern-Fußballfans in Deutschland kann als „struktureller
Antisemitismus“ analysiert werden (so tatsächlich vom Bundesarbeitskreis [BAK]
Shalom). Es abstrahiert tatsächlich damit auch von den Opfern, da die
Personifizierung des Fetischs ja nicht unbedingt im Judentum erfolgen muss.
Dieser verkürzte Antisemitismusbegriff ist dazu geeignet, selbst in projektiver
Regression die Welt in Gut/Böse nach dem Prinzip der Entlarvung von
strukturellem Antisemitismus zu teilen und alle Schuldgefühle über einmal
selbst vertretene allzu „personalisierte Kapitalismuskritik“ auf politische
GegnerInnen zu projizieren.

Bezeichnend an
der Definition von „[‘solid]“ an der oben zitierten Stelle ist auch, dass
gleich im nächsten Satz folgt, dass sich der zeitgenössische Antisemitismus vor
allem in der diffamierenden Kritik an Israel äußere – eine Behauptung, die nur
sehr schwer aus dem zuvor definierten Fetisch-Begriff ableiten lässt. Oder kann
jemand darlegen, wie sich in der Wirkungsweise der Waffen der IDF ein „abstrakt
jüdisches Prinzip“ äußern sollte? Der Schluss ist nur logisch, wenn „das
Judentum“ mit Israel identifiziert wird – eine Identifikation, die gewöhnlich
den AntisemitInnen vorgeworfen wird. Deutlich wird daran, dass es wenig um die
tatsächlich z. B. in Deutschland real lebenden Juden und Jüdinnen oder das
reale Israel und seine konkrete Politik geht – dass – wie Moshe Zuckermann (67)
richtig bemerkt – Judentum und Israel hier vor allem Projektionsflächen dieser
angeblichen Anti-AntisemitInnen sind, die zur Denunzierung von
AntikapitalistInnen und AntiimperialistInnen dienen. Gerade für reformistische
Jugendorganisationen hat sich diese Form der „Kritik von Kapitalismuskritik“
und angeblichem Anti-Antisemitismus als sehr wirkungsvoll erwiesen, um jegliche
Linksabweichung und jeden Antiimperialismus moralisch zu verwerfen.

5 Antisemitismus und Rassismus

Mit der Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft insbesondere im Kolonialismus wurde es ideologisch
fragwürdig, Menschen anderer Herkunft und Kulturen aufgrund religiöser
Begründungen zu diskriminieren, zu unterjochen oder zu verfolgen. Ähnlich wie
bei den Unterschieden der Geschlechter nicht mehr auf gottgegebene Hierarchien
verwiesen werden konnte, wurde nun auch bei ethnischen „Bewertungen“ nach
Rechtfertigungen in der Biologie gesucht. Im 18. Jahrhundert wurde noch nach
sehr oberflächlichen äußeren Kriterien (Hautfarbe, Gesichtsformen, …) in
„schwarze“, „weiße“ und „gelbe“ Rassen unterschieden. Teilweise wurden noch
biblische Mythen herangezogen: So solle sich ja die Menschheit nach Noahs
Söhnen in die SemitInnen (Kinder des Sem), HamitInnen (AfrikanerInnen) und
JaphetitInnen (mehr oder weniger alle übrigen) geteilt haben. Während diverse
„hamitische“ Rassentheorien inzwischen längst das Zeitliche gesegnet haben,
überlebten die „semitischen Rassen“ ziemlich lange (heute jedenfalls noch im
Begriff des „Antisemitismus“; Bemerkung: Die Argumentation, die AraberInnen
seien doch auch SemitInnen, bringt nicht viel, weil dies natürlich bereits eine
Rassentheorie voraussetzt).

5.1 Der biologistische
Rassenbegriff

Mit der Entwicklung
biologischer Theorien der Arten, spätestens mit Linné, setzte auch die
Biologisierung des Rassenbegriffs ein. Nachdem die Sklaverei und die
millionenfache Entmenschlichung schwarzer Menschen offensichtlich der
Rechtfertigung durch „christliche“ oder moralisch höherwertige „Herrenmenschen“
bedurften, war es naheliegend, dass sich Theorien der „minderwertig“
entwickelten Rassen durchsetzten – dies noch verstärkt durch die Fortschritte
im tierischen Zuchtwesen und den biologischen Vererbungslehren. Mit den
Erfolgen der europäischen Kolonialreiche entstand in den herrschenden Klassen
die Überzeugung, dass die „weiße Rasse“ zur Dominanz über alle anderen bestimmt
sei und alle anderen Rassen untergeordnet oder möglicherweise zum Verschwinden
bestimmt seien.

Um diese Mentalität mit einem Schlaglicht zu beleuchten, sei hier ein Zitat von einem eigentlich „fortschrittlichen“ britischen Autor angeführt, Herbert George Wells (Autor berühmter Bücher wie „Zeitmaschine“, „Krieg der Welten“), der Mitglied der Labour-Party war, sich als Sozialist sah und sogar der Russischen Revolution mit Sympathie gegenüberstand. Trotzdem lesen wir in seiner Schrift „Anticipations“ (1902) über seine Vision einer zukünftigen Welt („Zukunftsrepublik“): „Und wie wird die neue Republik die minderwertigen Rassen behandeln? Wie wird sie mit den Schwarzen umgehen?… Mit dem gelben Manne?… Mit dem Juden? Mit jenen Horden schwarzer, brauner, schmutzigweißer und gelber Menschen, die der neuen Notwendigkeit der Effizienz nicht Rechnung tragen? Nun, die Welt ist eine Welt und keine karitative Einrichtung, und ich gehe davon aus, dass sie verschwinden werden… Und die Methode, deren sich die Natur bisher bei der Gestaltung der Welt bedient hat, so dass Schwäche daran gehindert wurde, wieder Schwäche hervorzubringen … ist der Tod…. Wenn die Minderwertigkeit einer Rasse demonstriert werden kann, dann gibt es nur eines … zu tun – und das ist, sie auszurotten“ (68).

H. G. Wells ging davon aus,
dass sich die Menschheit, um zu überleben, genetisch dem technischen
Fortschritt anpassen müsse und dass daher die „minderwertigen Rassen“ wegen
ihrer geringeren Rationalität die Existenz der Menschheit gefährden würden:
Sozialdarwinismus mit „humanistischer“ Begründung! Tatsächlich finden sich in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch viel schlimmere Schriften über die
Notwendigkeit der „Rassenauslese“. Politisch einflussreich geworden ist davon
vor allem Gobineaus Buch „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“
(69), das vor allem in der Mischung von Rassen die Ursache für den Niedergang
bestimmter Völker oder Reiche sah. Houston Stewart Chamberlains „Werk“ über die
Notwendigkeit der „Reinerhaltung der arischen Rasse“ und ihren notwendigen
Kampf um die Weltherrschaft gegen „das Judentum“ ist stark von Gobineau
beeinflusst und wurde zur Grundlage der „Rassentheorie“ im Entstehungsumfeld
des Nationalsozialismus (besonders in „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“)
(70). Direkt an Chamberlain schließt Hitlers „Chefideologe“ Alfred Rosenberg
an, der im „Mythos des 20. Jahrhunderts“ (71) alle bekannten Mythen über „die
Juden/Jüdinnen“ und ihre „Weltverschwörung“ (in die er insbesondere die
Russische Revolution als wesentlichen Erfolg des „Weltjudentums“ einbezieht)
mit den Theorien des Rassenkriegs von Gobineau und Chamberlain zusammenfasst.
Als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ und Beteiligter an der
Wannseekonferenz war Rosenberg nicht nur Theoretiker, sondern Praktiker der
„Ausrottung minderwertiger Rassen“.

Mit Auschwitz hat der Rassismus
aber lange nicht ausgedient. Auch wenn der Begriff der „Rasse“ danach immer
fragwürdiger wurde, ist die Betonung der „Differenz“ (an welchen Merkmalen auch
immer festgemacht) zwischen „zivilisierten“ Ethnien und den „anderen“ weiterhin
strukturell dieselbe wie damals, als ein H. G.Wells noch wie selbstverständlich
von „minderwertigen Rassen“ sprach.

5.2 Die Rassentheorie ist ohne
naturwissenschaftliche Grundlage!

Inzwischen ist zumindest
naturwissenschaftlich klar, dass der Begriffe der „Rasse“ im humangenetischen
Sinn kein relevantes Konzept darstellt. In der Biologie sieht man biologische
Arten als solche an, deren Mitglieder sich problemlos kreuzen und dies in
„freier Wildbahn“ auch tun. Insofern gibt es natürlich seit Tausenden von
Jahren nur eine noch lebende („rezente“) menschliche Art der Gattung Homo –
also den homo sapiens. Von „Rassen“ spricht die Biologie, wenn sich innerhalb
einer Art Differenzen ergeben, die auf dem Sprung zu einer neuen Art sind. Seit
den großen Fortschritten der Humangenetik weiß man, dass die Menschheit
ungeheuer weit von einer solchen Entwicklung entfernt ist. Wie Richard Dawkins
in seiner Einführung in die Evolutionsbiologie schreibt: „Wenn man
Proteinmoleküle aus dem Blut vergleicht oder die Gene selbst sequenziert, findet
man zwischen zwei beliebigen Menschen, die heute leben, weniger Unterschiede
als zwischen zwei afrikanischen Schimpansen“ (72). Zwischen zwei beliebigen
Menschen findet sich eine genetische Übereinstimmung von etwa 99,5 %. In
dem kleinen Bereich der Differenzen, in denen sich regionale Unterschiede durch
mutierte Gene finden lassen, ergibt sich auch nur eine Varianz von 6–15 %
– viel zu wenig, um im Sinn der Biologie von einer Rasse als Vorstufe zur
Spezies-Differenzierung zu sprechen. Außerdem finden sich die Unterschiede in
unwesentlichen, zufälligen Bereichen, die keine dominante oder rezente Wirkung
entfalten (selbst Theorien davon, welche Hautfarbe letztlich sich bei der
Menschheit durchsetzen würde, sind humangenetisch gesehen fragwürdig). Aufgrund
der für eine Art ungewöhnlich großen Verbreitung der Spezies homo sapiens sind
solche äußerlichen Unterschiede (z. B. in Bezug auf die Hautfarbe aufgrund
der Umweltbedingungen) zu erwarten. Schließlich sind Elemente der kulturellen
Wirkung (Theorie der „sexuellen Selektion“, z. B. aufgrund der
Durchsetzung bestimmter Schönheitsideale) in Bezug auf äußerliche Merkmale
(z. B. Haarfarbe) auch am Werk.

Die überraschende
Einheitlichkeit der Menschheit (z. B. auch im Vergleich zu unseren
nächsten Verwandten, den Schimpansen) lässt sich nach der heute gängigen
Theorie dadurch erklären, dass der homo sapiens vor rund 70.000 Jahren knapp
vor dem Aussterben stand (die genetischen Indizien dafür sind ziemlich
unzweifelhaft, nur für die Erklärung gibt es unterschiedliche Hypothesen,
z. B. Klimaveränderungen durch Vulkanausbrüche). Die Menschheit war auf
circa 15.000 Exemplare in einem eingrenzbaren geographischen Raum
zusammengeschrumpft („Flaschenhals“-Theorie). Eine Entwicklung von genetisch
wesentlich unterschiedlichen Rassen in einer evolutionsbiologisch gesehen
verschwindend kleinen Zeit wie 70.000 Jahren ist völlig ausgeschlossen.
Schließlich führt auch die immer globalere Vermischung der Menschheit dazu,
dass auch für die lange Zeit (anders als in gewissen Science-Fiction-Filmen)
zumindest auf „natürliche“ Weise nicht mit dem Erscheinen von neuen
Mutantenrassen zu rechnen ist.

5.3 Unsinnige Versuche einer
genetischen Begründung des Judentums

Ausgerechnet in Israel ist es
heute üblich geworden, mit Hilfe der Genanalyse „beweisen“ zu wollen, dass alle
Juden und Jüdinnen eine/n „letzte/n gemeinsame/n VorfahrIn“ im heutigen
Israel/Palästina gehabt hätten, also Israel das Land „der VorfahrInnen“, die
„Heimat aller Juden und Jüdinnen“ sei. Die oben besprochene immer ausufernder
werdende Identitätspolitik in Israel hat inzwischen alle möglichen
Wissenschaftsgebiete, vor allem aber Archäologie und Genetik, in Beschlag
genommen, um die „revisionistischen“ LeugnerInnen der „Wahrheit“ der Bibel zu
widerlegen. Für Ausgrabungen um den Tempelberg werden schon mal arabische
Unruhen als Kollateralschaden provoziert, wenn nur kleine Bruchstücke gefunden
werden, die angeblich unwiderleglich beweisen, dass es den ersten oder
Salomonischen Tempel gegeben habe (man erinnere sich an die absurden
Kontroversen um die Frage der Realität Trojas der homerischen Epen in Beziehung
zu den Ausgrabungen Schliemanns).

In eine ähnliche Kerbe schlagen
die „Beweise“ auf Grundlage von Genanalysen, nach denen so gut wie alle heute
lebenden Juden und Jüdinnen aus dem Gebiet von Palästina stammen sollen. Dies
richtet sich vor allem gegen die These von der missionarischen Diaspora vor dem
Bar-Kochba-Aufstand bzw. die These, dass ein großer Teil der Aschkenasim als
osteuropäische Juden und Jüdinnen eigentlich von konvertierten ChasarInnen
abstamme (wie in Fußnoten 11 und 13 erwähnt, bestand im 9./10. Jahrhundert
zwischen Wolga und Kaukasus kurzfristig ein jüdisches Königreich). 2002
veröffentlichte das „American Journal of Human Genetics“ eine Studie (73) der Universität
London, in der aus Vergleichen von heute lebenden aschkenasischen Juden und
Jüdinnen mit Vergleichsgruppen in den entsprechenden Regionen geschlossen
wurde, dass die Aschkenasim zu 90 % aus dem Nahen Osten stammen würden. Es
folgten weitere Studien insbesondere aus Israel, die weiter die Nachricht
verbreiteten, dass die ChasarInnen-Theorie endgültig „naturwissenschaftlich“
widerlegt sei. Dies wird so auch allgemein in der Literatur verbreitet.
Allerdings kam 2013 wiederum eine sehr breit angelegte Studie der „John Hopkins
School of Medicine“ heraus, die genau das Gegenteil „bewies“: dass nämlich die
kaukasischen Genmarker bei den Aschkenasim leicht dominant wären (74). Wie auch
immer der wissenschaftliche Wert dieser sich widersprechenden Studien zu
bewerten ist – sicher ist, dass man äußerst genau hinsehen sollte, was die
Genetik tatsächlich über die „Herkunft“ bestimmter Menschen und Völker aussagen
kann. Auch hier sei wieder auf die sehr eingehende Kritik von
Fehlinterpretationen der Genmarker-Genealogie durch Richard Dawkins hingewiesen
(75):

Ausgangspunkt ist, dass ein Gen
im Unterschied zum Menschen immer nur ein „Eltern“-Gen hat, das zufällig vom
Vater oder der Mutter „kopiert“ wurde. Ausnahmsweise werden Gene des
Y-Chromosoms und solche der Mitochondrien-DNA (mtDNA) nur vom Vater bzw. nur
von der Mutter vererbt. Dabei bleiben bestimmte Gruppen von Allelen gegenüber
sexueller Rekombination so stabil, dass sie als Gruppe über lange Zeit in der
Vererbung zusammenbleiben. So eine Gruppe nennt man einen Haplotyp. Auf dem
Y-Chromosom und der mtDNA hat man nun bestimmte Stellen identifiziert, an denen
sich mithilfe der Haplotypen ein jeweils weit zurück reichender Stammbaum
erkennen lässt (76). D. h. es gibt Verzweigungspunkte, bei denen durch
Mutation sich ein Haptlotyp in zwei oder mehr andere aufgeteilt hat. So hat
sich der im Nahen Osten weit verbreitete J-Typ (Y-Chromosom) etwa vor 20.000
Jahren vom in Europa verbreiteten I-Typ verzweigt. Wichtig ist, dass diese
Haplotypen völlig unwichtig in Bezug auf irgendwelche relevanten menschlichen
Eigenschaften sind – sie sind reine genetische Marker, über die gewisse
Verwandtschaftsbeziehungen ableitbar sind. Tatsächlich ist es so, dass es
messbare unterschiedliche Häufigkeitsverteilungen für sehr großflächige
Regionen gibt – gleichzeitig gibt es überall aber auch eine Durchmischung der
Haplotypen. So ist im Nahen Osten mit fast 50 % der J-Typ zwar dominant,
es gibt aber genauso den I- und R-Typ (die für Europa dominierenden Typen).
Umgekehrt ist in Mittel- und West-Europa der J-Typ auch signifikant
anzutreffen, in Spanien sogar zu 20 %.

Eine genaue Herkunft eines
Menschen wird sich daher aufgrund des Haplotyps kaum beweisen lassen. Es ist
wahrscheinlich, dass man bei einem heute lebenden jüdischen Menschen einen
Haplotyp finden wird, der darauf hindeutet, dass er in den letzten 2.000 bis
10.000 Jahren einen männlichen Vorfahren im Nahen Osten oder im Mittelmeerraum
hatte. Wenn man irgendein anderes Gen als diese Gruppe aus dem Y-Chromosom
nehmen würde, würde man aber sicher auch einen Vorfahren in irgendeiner ganz
anderen Region der Welt finden (mtDNA liefert aufgrund anderer Mutationsraten
sogar nur für viel längere Zeiträume sinnvolle Aussagen über die weiblichen
Vorfahren). Die Aussagekraft solcher Untersuchungen ist also eher sehr
bescheiden. Es lassen sich höchstens grobe Wahrscheinlichkeitsaussagen über
Wanderungsbewegungen von Großgruppen über längere Zeiträume anstellen, sofern
man dies durch andere Belege (z. B. Archäologie) untermauern kann. Das Einzige,
was diese Analysen über die regionalen Verbreitungen von Haplotypen klar zeigt,
ist, dass sich im Raum Europa/Naher Osten/Mittelmeer in den letzten 10.000 bis
2.000 Jahren die Völker in großem Umfang „durchmischt“ haben. Die Vorstellung
von sich klar von anderen abgrenzenden und nicht gemischt haltenden
Familien-/Stammes-Verbänden, die als Einheit an „ihrer“ Scholle hafteten, ist
eine Gobineau‘sche Absurdität, die durch diese Belege endgültig auf den
Misthaufen der ideologischen Geschichtsauffassungen gehört. Insofern setzt der
Versuch israelischer HistorikerInnen/GenetikerInnen, einen für Juden und
Jüdinnen typschen Haplotyp (zumeist J1) als Marker zu verwenden, schon voraus,
was bewiesen werden soll: dass das „jüdische Volk“ seit Tausenden Jahren als
„unvermischte“ und abgeschlossene Einheit bestanden habe und die heutige
Mischung von Haplotypen im Nahen Osten eine Entwicklung erst der letzten 2.000
Jahre sei. Auch die ChasarInnen-Theorie lässt sich so weder beweisen noch
widerlegen: Einerseits finden sich Haplotypen, die im Nahen Osten vertreten
sind, auch im ursprünglichen Siedlungsgebiet der ChasarInnen; andererseits weiß
niemand genau, wer die heutigen Nachkommen der ChasarInnen genau sind, mit
denen verglichen werden sollte (und z. B. im Kaukasus ist der Haplotyp J
auch stark verbreitet).

Wenn daher Firmen wie iGENA
heute Gentests für den Beweis jüdischer Abstammung um 99 Euro anbieten, so kann
man das nur unter Geschäft mit der Dummheit abbuchen. Angesichts der Geschichte
des Rassismus gegenüber Juden und Jüdinnen ist es allerdings makaber, wenn sich
heute israelische Institutionen ernsthaft damit beschäftigen, gentechnische
Beweise für die Herkunft aller Juden und Jüdinnen aus dem „Heiligen Land“ zu
finden – und wohl am liebsten noch den Haplotyp finden würden, der Juden und
Jüdinnen von den PalästinenserInnen unterscheidet (was, wie oben dargestellt
wurde, so gut wie unmöglich ist). David Ben Gurion, der erste israelische
Ministerpräsident, vertrat noch in den 1920er Jahren die These, dass ein Großteil
der damals in Palästina lebenden AraberInnen wohl von den Juden und Jüdinnen
abstamme, die nach der Zerstörung des Tempels im Land geblieben sind (77).
Jedenfalls ist die Wahrscheinlichkeit, gemeinsame Vorfahren von Juden und
Jüdinnen und PalästinenserInnen in dem einzig belegten jüdischen Gemeinwesen um
die Zeitenwende zu finden, sehr viel größer als für alle möglichen anderen
Völker. Mithilfe der Genetik wird sich jedenfalls keine Begründung für
Rassismus zwischen den Völkern finden lassen.

5.4 Der Rassismusbegriff nach
dem Ende des Rasse-Biologismus

Der Begriff der „Rasse“ ist
also nicht nur diskreditiert, sondern auch wissenschaftlich wertlos (was nicht
heißt, dass dieser Begriff nicht weiterhin pseudo-wissenschaftliche fröhliche
Urstände feiert). Dagegen ist der Begriff des „Rassismus“ weiterhin vollauf
berechtigt. Denn auch wenn dem Rassismus seine pseudo-wissenschaftliche
Begründung, ja sogar sein zentraler Kampfbegriff abhandengekommen ist, bleibt
das soziale Verhalten gegenüber ausgegrenzten Ethnien dasselbe. Wenn man nicht
mehr genetische Abstammung für die „Minderwertigkeit“ verantwortlich machen
kann, dann sind es eben die „fremde Kultur“, „Mentalität“, „Geschichte“ etc.
Der zeitgenössische „Rassismus“ ist einer der „kulturellen Differenz“. Zwangsläufig
wird mit dem Verlust des zentralen Begründungszusammenhangs der „Rasse“ und
angesichts der Vielfalt an „fremden“ Kulturen (auch aufgrund der globalen
Mobilität), die jetzt dem Rassismus anheimfallen, das Phänomen immer
zersplitterter. Deswegen gibt es eine Diskussion darüber, ob man nicht
eigentlich von „Rassismen“ statt einem „Rassismus“ sprechen könne oder ob
angesichts dessen der Begriff überhaupt noch sinnvoll sei. Tatsächlich wirkt
aber noch der alte Mechanismus: Immer noch werden bestimmte fremdartige,
„rückständige“ Merkmale („Muslime folgen doch einer mittelalterlichen Religion,
behandeln ihre Frauen schlecht, sind antisemitisch, sind grausam,…“) aufgrund
einer als nahezu unveränderlich angesehen „Kultur“ festgeschrieben und dadurch
naturalisiert und so eigentlich auch wieder pseudo-biologisch als vererbt
betrachtet.

5.4.1 Der postkoloniale Diskurs

Besonders die „cultural
studies“ und die „postkoloniale Theorie“ haben auf das Weiterbestehen des
Rasse-Diskurses, auch nach der Widerlegung eines naturwissenschaftlichen
Begründungszusammenhangs des Rasse-Begriffs, hingewiesen. Genannt sei hier vor
allem der aus Jamaika stammende schwarze Kulturphilosoph Stuart Hall, der für
beide Theoriestränge eine zentrale Person ist. Eine zusammenfassende
Darstellung seiner Rassismus-Theorie hat er in der Harvard-Vorlesungsreihe „Das
verhängnisvolle Dreieck: Rasse, Ethnie, Nation“ (78) publiziert.

Stuart Hall gehörte mit Eric
Hobsbawm (79) zu den dominierenden Publizisten des britischen Eurokommunismus,
besonders durch beider Beiträge in „Marxism Today“ Ende der 1970er Jahre bis
1991, das auch starken Einfluss auf die Debatten in der Labour-Party hatte.
Entwickelt wurde dort die auch auf dem Kontinent verbreitete Revision des
Marxismus, die die „Klassenpolitik“ im Wesentlichen durch eine an Gramsci
orientierte Hegemonie-Kritik ersetzte, heute vertreten im Ansatz der
„Netzwerklinken“. Hall und Hobsbawm gingen von einer radikalen Veränderung des
Kapitalismus hin zum „Post-Fordismus“ aus, durch den sich die klassischen
Großkonflikte des Klassenkampfes in eine Vielzahl von fraktalen
Auseinandersetzungen aufgelöst hätten, in denen sich Grundwidersprüche des
Kapitalismus widerspiegelten. Ähnlich wie beim strukturalistischen „Marxismus“
von Althusser sahen sie die „Identitäten“ der dabei um Hegemonie kämpfenden
Milieus nur „im Letzten“ durch die ökonomische Basis determiniert. Stuart Hall
blieb jedoch trotz seines Abgleitens in die Diskurs-Theorien von Foucault und
Laclau (80) bei der Betonung des Klassencharakters solcher Identitätsbegriffe
wie „Nation“ (im Unterschied zu Laclau betrachtet Hall diesen Begriff nicht
„neutral“, d. h. von links und rechts besetzbar) (81).

Auch wenn wir also den
Ausgangspunkt von Stuart Hall nicht teilen (die Kritik an den eurokommunistischen
und an Gramsci orientierten Revisionen des Marxismus haben wir andernorts (82)
ausführlich dargestellt), so sind Halls Beiträge zum Thema Rassismus doch
wichtige Angelpunkte der zeitgenössischen Debatte zu diesem Thema. Schon Anfang
der 1970er Jahre hatte Hall mit anderen Autoren des „New Left Review“ das
einflussreiche Buch „Policing the Crisis“ über die neue Bedeutung des Rassismus
für die Popularisierung des Neoliberalismus geschrieben (83). Darin führte er
aus, wie Panikmache um die „wachsende Kriminalität“ von angeblichen „schwarzen
Jugendbanden“ zu einem Aufschaukeln von Boulevardpresse und populistischer
Law-and-Order-Politik dienten. Hall lehnte dabei jedoch den einfachen
verschwörungstheoretischen Ansatz einer gezielten Kampagne oder eines Kurzschlusses
von „Geldmacht und Presse“ ab. Er betonte stattdessen, dass sich bei diesen
Pressekampagnen tiefere gesellschaftliche Strukturen zeigten, die einen
rassistischen „Common Sense“ darstellten, einen ritualisierten Diskurs, der
wesentlich sei für die Identitätsversicherung der „Mehrheitsgesellschaft“,
gerade in Zeiten der Krisenhaftigkeit dieser Identität. Die Abgrenzung
gegenüber den „gefährlichen Schwarzen“ diene zur Versicherung des angeblich
gemeinsamen „Common Sense“ der weißen BritInnen und zur Abwehr einer möglichen
alternativen Klassensolidarität unter den Unterklassen, die diesen gemeinsamen
britischen „Common Sense“ im Interesse der neoliberalen Krisenpolitik hätte
gefährden können. Umgekehrt seien damit schwarze Jugendliche in die Rolle einer
radikalen Ersatz-Avantgarde gebracht worden, die ihrem politischen Bewusstsein
kaum entsprach. Im Ergebnis habe sich möglicher Klassenkampf in die
ritualisierte Konfrontation der Mehrheits-„Kultur“ mit verschiedenen sich
abspaltenden mehr oder weniger widerständigen „Sub-Kulturen“ gewandelt.

Diese Bedeutung einer neuen
gesellschaftlichen Konstellation von „Rassenkonflikten“ entwickelt Hall auch in
seinem Harvard-Vortrag weiter. Hall geht davon aus, dass der Begriff „Rasse“
zwar diskreditiert sein möge, aber die dahinter stehende Kategorienbildungen –
„die Schwarzen“, „die MuslimInnen“, „die Juden und Jüdinnen“,… weiterhin in
allen möglichen politischen Diskursen aktiv sind oder sich immer wieder
regenerieren. Auch wenn es nicht mehr „politisch korrekt“ ist, unmittelbar von
körperlichen Eigenschaften wie Hautfarbe, Haarformen, Nasenformen usw. auf
kulturelle, moralische, intellektuelle etc. Verhaltensweisen zu schließen,
würde diese „Colour Line“ virtuell durchaus weiterbestehen (der Begriff der
„Colour Line“ (84) wurde von dem afro-amerikanischen Soziologen William Edward
Burghardt (W. E. B.) Du Bois um 1900 geprägt, um die Hierarchisierung der
US-Gesellschaft nach bestimmten ethnischen und rassistischen Kriterien zu
beschreiben). Hinter den „kulturellen Differenzen“ scheine weiterhin die
„biologische Spur“ durch. Hall spricht von Äquivalenzketten (85), die letztlich
die äußerlichen Merkmale mit der vermuteten Tiefenstruktur verbänden. Diese
Tiefenstruktur zeige sich in der weiterbestehenden fundamentalen Annahme
substantieller, „essentieller“, nicht-auflösbarer Unterschiede zwischen
Menschenkategorien, eben dem verhängnisvollen Gespann von „Rasse, Ethnie,
Nation“.

Er verweist hier auf die ersten
Diskurse zum Rassebegriff zu Beginn der euro-imperialistischen Expansion, als
TheologInnen angesichts der „UreinwohnerInnen“ in den neu entdeckten Gebieten
diskutierten, ob es sich um Menschen, Ergebnisse einer untergeordneten
Schöpfung etc. handele. Die Aufklärung, mit der Ablösung religiöser
Begründungen der essentiellen Differenz, habe dann dieses selbe Bedürfnis durch
den „wissenschaftlichen“ Begriff der Rasse ersetzt. Hall charakterisiert diesen
Zug der „Aufklärung“ zu Recht mit folgender Episode: Als die RevolutionärInnen
der Sklavenrepublik Haiti gegenüber der Französischen Republik für sich die
Erklärung der Menschenrechte einforderten, reagierte die Nationalversammlung
aus Paris mit der Bemerkung, dass diese Erklärung leider nur für „zivilisierte
Völker“ gelte. Dies trifft den Kern des arroganten Universalismus-Anspruches
der „westlichen Werte“, der allgemein und über alle Kulturen gestülpten
Menschheitsprinzipien, dass nämlich mit „Menschen“ nur die Menschen im globalen
„Westen“ gemeint sind. Der Kern des Rasse-Diskurses ist tatsächlich weiterhin
die Aufrechterhaltung einer globalen Hierarchie von „zivilisiert“ bis
„barbarisch“, die man entlang der virtuellen Colour Line je nach Bedarf
verschiedenen nicht-westlichen Erscheinungen anheften kann.

Für Hall haben die Diskurse zu
Rasse, Ethnie und Nation eine für die Bildung politischer Subjekte
entscheidende Funktion in der Schaffung von „Identität“. Die essentialistische
Unterscheidung von den „nicht-westlichen“, mehr oder weniger
„nicht-zivilisierten Anderen“ ist zentral für die eigene Selbstvergewisserung.
Gerade durch die Wackeligkeit dieser „Identität“ angesichts von sozialen und
kulturellen Veränderungen im Inneren (nicht bloß durch Migrationsbewegungen)
wird diese „Ich-Schwäche“ projiziert auf RepräsentantInnen des „Anderen“.
Dieses „System der Repräsentation produziert die unfreien, infantilen,
bösartigen, barbarischen, primitiven und hinterhältigen rassistischen
Narrative“ (86), die gleichzeitig Projektionen eigener Ängste und Wünsche sind.
Nicht verwunderlich spiegelt sich dieses Repräsentationssystem in der Identitätspolitik
der von Rassismus Betroffenen. Hall bezieht sich speziell auf die verschiedenen
Theorien und Bewegungen von Schwarzen in den USA und der Karibik, von
Pan-Afrikanismus bis zu „Nation of Islam“. Letztlich wird der „rassistische
Blick“ der Weißen gespiegelt, die essentialistische Zuschreibung der Andersheit
akzeptiert und bloß um 180 Grad umgewertet. Hall akzeptiert durchaus, dass
diese Identitätspolitik von Unterdrückten etwas anderes ist als die der
UnterdrückerInnen. Sie ist Ausdruck des Widerstands, der Vereinigung gegen die
UnterdrückerInnen und der Schaffung eines Raumes für die tatsächliche,
eigenständige Differenzierung und Entwicklung. Andererseits ist klar, dass in
dieser Form der Identitätspolitik die Verfestigung rassistischer Diskurse und
die Ablenkung von dem eigentlichen Ziel der Befreiung angelegt sind.

5.4.2 Rasse-Diskurs und
Antijudaismus

Hall hat sicherlich Recht, wenn
er das „ursprünglich Andere“ des Europäertums vor Beginn der kolonialen
Expansion, gleichermaßen in der Abgrenzung von Judentum und von Muslimen,
bestimmt. Sowohl die „islamische Gefahr“ als auch die systematisch erzeugte
Ausgrenzung der jüdischen „Nachbarn“ waren Kernelemente der Konstruktion einer
„europäischen Identität“. Antijudaismus wie auch MuslimInnen-Hass sind die
Urfiguren des europäischen Rasse-Diskurses, nach deren Muster die Abgrenzung
zum „Barbarentum“ im Kolonialismus umso leichter funktionieren konnte. Es ist
daher auch kein Wunder, dass sich der Antisemitismus mit dem Aufkommen des
„aufgeklärten“ Rassismus in die anderen Rasse-Ideologien bruchlos einreihen
konnte. Die in Teilen der deutschen Linken gängige Differenzierung des
Antisemitismus vom Rassismus gegen Schwarze hat hierbei auch einen gefährlichen
Aspekt: Das Argument, „gewöhnlicher Rassismus“ richte sich besonders gegen
unterdrückte Bevölkerungsgruppen, während den Juden und Jüdinnen die „heimliche
Weltherrschaft“ unterstellt würde, verkennt das viel wesentlichere Band des
Rassismus – die angebliche Bedrohung der „überlegenen europäischen Zivilisation“
durch Fremde, Nicht-WestlerInnen. Opfer der Shoa wurden in überwiegender Zahl
osteuropäische Juden und Jüdinnen, die in keiner Weise das Sinnbild des
Kapitalfetischs nach Postone darstellten, sondern vor allem ProletarierInnen
und Pauper waren. Die Nazis und ihre Vernichtungsmaschinerie präsentierten sich
über allem als „Retter vor dem osteuropäischen Untermenschentum“, das sie immer
wieder in diffamierend gedachten Bildern der Ostjuden und -jüdinnen
präsentierten. Dabei konnten sie sich auch des verbreiteten Antisemitismus in
Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine bedienen. Man muss die Shoa auch
als eines der letzten westlichen Kolonialismusprojekte zur „Europäisierung“ von
Osteuropa begreifen, wenn man die „Rationalität“ der industriellen
Massenvernichtung verstehen will. Postone oder Adorno konnten dagegen nur die
Mobilisierungsbedeutung des eliminatorischen Antisemitismus erklären. Als
industrielle Massenvernichtung ist die Shoa zwar singulär in der Geschichte –
nicht jedoch in Bezug auf die Fortsetzung der Barbarei der (west-)europäischen
Kolonialisierungsgeschichte, die viele solcher Episoden von rassistischen
Verbrechen kennt (vor allem die Verschleppung und Versklavung von Millionen von
AfrikanerInnen).

5.4.3 Jüdische Identität im Verhältnis
zu Rasse, Ethnie und Nation

Etwa 30 Jahre vor Halls Vortrag hatte Isaac Deutscher 1966 in der Londoner „Jewish Chronicle“ die Aufgabe gestellt bekommen, „jüdische Identität“ zu definieren und seine Antwort mit vielen autobiografischen Elementen veranschaulicht (87). Deutscher hatte im damals russischen Teil Polens vor dem Ersten Weltkrieg selbst eine orthodox-jüdische Erziehung bekommen, mit der er in Richtung Marxismus und jüdisch-russischer ArbeiterInnenbewegung gebrochen hatte. Damals berichtet er, hätten er oder seine FreundInnen sich kaum genötigt gefühlt, ihre „jüdische Identität“ zu bestimmen. Ihre Identität ging ganz in einer ArbeiterInnenbewegung auf, die zwar stark jüdisch geprägt war, aber sich kaum vor allem als „jüdisch“ definierte. Trotzdem habe sie eine Blüte jiddischer Literatur, eigene Intellektuelle, ein reges Versammlungs- und Kulturwesen, kurz eine starke Identität entwickelt. Zionismus und chassidische Orthodoxie waren gerade im Gegensatz zu dieser starken, sich vom traditionellen Judentum lösenden Diaspora-Kultur entstanden. Nachdem sich die Perspektive, in der ArbeiterInnenbewegung letztlich auch den Antisemitismus überwinden zu können, durch den Triumph der Nazis nicht erfüllt hatte und die osteuropäische Diaspora gründlich zerstört worden war, erst da haben sich die Verhältnisse völlig umgekehrt. „Und jetzt sollen wir die Vorstellung akzeptieren, dass ausgerechnet rassische Merkmale oder ‚Blutbande‘ die jüdische Gemeinschaft ausmachen? Wäre nicht genau das ein weiterer Triumph für Hitler und seine verkommene Philosophie? Wenn nicht die Rasse, was macht einen Juden aus? Religion? Ich bin Atheist. Jüdischer Nationalismus? Ich bin Internationalist. Nach keiner dieser Bedeutungen bin ich daher Jude. Wohl aber bin ich Jude kraft meiner unbedingten Solidarität mit den Verfolgten und Ausgerotteten. Ich bin Jude, weil ich die jüdische Tragödie als meine eigene empfinde; weil ich den Pulsschlag der jüdischen Geschichte spüre; weil ich mit allen Kräften dazu beitragen möchte, etwas für die wirkliche und nicht die trügerische Sicherheit und Selbstachtung der Juden zu tun“ (88).

Von einer „allumfassenden
jüdischen Identität“ zu sprechen, hielt Deutscher also zu Recht für unsinnig.
In den verschiedenen Diasporaländern und Regionen haben Juden und Jüdinnen ganz
unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen gesammelt, aber sich auch ganz
unterschiedlich in die jeweiligen Gesellschaften eingebracht. Dabei hat sich
eine Vielzahl verschiedener Identitäten entwickelt. Der Anspruch des Zionismus,
im angeblich nicht überwindbaren Antisemitismus die bestimmende Klammer für die
Juden und Jüdinnen zu sehen, ist dagegen nur eine negative
Identitätsbestimmung, die allein nicht trägt. Wie schon zuvor ausgeführt,
musste sich die zionistische Ideologie in Israel letztlich zu einem
Ethno-Nationalismus wandeln, also reaktionäre Identitätspolitik werden. Die
nationalistische Rechte in Israel hat nunmehr die „jüdische Identität“ ins
Zentrum der Verfassung gesetzt, und eines der zentralen Wahlkampfthemen der
Rechten ist jeweils die Angstmache vor der „demographischen Bombe“, der
angeblichen Gefahr, dass durch „die Fruchtbarkeit der AraberInnen“ (ein
klassisches rassistisches Motiv gegenüber Subalternen) die „jüdische Identität“
Israels in Gefahr sei, wenn das Land aus mehr als 20 % AraberInnen
bestünde (89).

Schon Deutscher hatte den Alleinvertretungsanspruch Israels und des Zionismus für „das jüdische Volk“ als nationalistische Vereinnahmung zurückgewiesen. Ebenso warnte er vor der neuerlichen „aufklärerischen“ Illusion in die „westlichen Demokratien“ – nicht unwesentlich angesichts des Fetischs von der „einzigen westlichen Demokratie in der Region“. Schon die jüdische Aufklärung hatte „zum Tanz um die Vernunft“ angesetzt und auf die Überwindung der alten Barbarei durch Toleranz und Aufklärung gehofft: „Aber gerade die Göttin der Vernunft hat sie im Stich gelassen, war sie doch eine höchst bürgerliche Gottheit, die Schutzheilige einer Gesellschaft, die vor lauter Geldmachen (keine ausschließlich jüdische Beschäftigung!) nicht dazu kam, ihre eigene Barbarei zu verdauen. Eine Gesellschaft also, die in jedem Augenblick akuter Gefährdung Rassismus und Nationalismus aufstachelt, die Xenophobie, den Hass auf den anderen und die Furcht vor den Fremden. Und wer ist so fremd wie der Jude?“ (90).

Die Juden und Jüdinnen in der
Diaspora und in Israel sind inzwischen im „globalen Westen“ angekommen und
scheinen auf der „sicheren Seite“ zu sein. Sie sind sozusagen die „Colour Line“
aufwärts geglitten, nachdem sie sich z. B. noch bis in die 1960er Jahre in
den USA laut Deutscher als die „weißen NegerInnen“ fühlen mussten. Die große
Migrationswelle aus Osteuropa in die USA hatte jüdische MigrantInnen und
Schwarze in die typische Konkurrenz subalterner Ethnien gebracht und speziell
nach dem Aufstieg vieler US-Juden und -Jüdinnen in die Mittelschichten eine
Tendenz zum Antijudaismus in breiten Teilen der schwarzen Bevölkerung in den
USA hervorgebracht. Israel gilt in fast allen Halbkolonien und bei vielen
rassistisch Unterdrückten, z. B. den Schwarzen in den USA, als Sinnbild
des Fortbestands der neokolonialen Ordnung unter US-Hegemonie. Die Juden und
Jüdinnen können jederzeit wieder zum Sündenbock für einen krisenhaften
Kapitalismus und seine verheerenden Auswirkungen in den Halbkolonien gemacht
werden. Insofern bleibt die erlangte „Sicherheit“ für die Juden und Jüdinnen
ein Trugbild, solange Kapitalismus und Imperialismus bestehen.

Andererseits lässt sich derzeit
auch der „Antisemitismus“-Vorwurf zum Kampfbegriff des westlichen Rasse-Diskurses
missbrauchen. Der in vielen antikolonialen und anti-rassistischen Bewegungen
übliche Protest gegen die israelische Politik wird durch Vorwürfe des
Antisemitismus und der Terroristenunterstützung als „rückständig“ und
„barbarisch“ verunglimpft. Wieder einmal ist ein Mittel gefunden, z. B.
MuslimInnen einen geringeren Zivilisationsgrad zuzusprechen, eben da sie
„wesentlich antisemitisch“ seien. In Verkennung der Wirkungen der israelischen
Politik auf Menschen aus Halbkolonien (besonders der muslimischen Welt) wird
deren Antijudaismus umstandslos in eins gesetzt mit dem eliminatorischen
Antisemitismus imperialistischer Länder. Gerade der sogenannte antideutsche
Diskurs entlarvt sich hier deutlich als Produkt postkolonialer Ignoranz, der
sich umstandslos in offen anti-muslimischen Rassismus verwandeln kann. Gerade
die Redeweise von Israel als der „einzigen westlichen Demokratie“ in der Region
macht die postkoloniale Denkweise nur allzu deutlich. So konnte sich Netanjahu
als einer der ersten StaatschefInnen mit dem semifaschistischen brasilianischen
Staatspräsidenten Bolsonaro über die gemeinsame Verteidigung „westlicher Werte“
durch Militäroperationen austauschen, ob nun in den schwarzen Favelas oder in
den eingezäunten besetzten Gebieten des Westjordanlandes.

5.4.4 Positiv-Wendung der
Diaspora

Dagegen ist die Umdeutung des
Diaspora-Begriffs bei Stuart Hall durchaus zukunftsweisend (91). Hall verweist
darauf, dass die um ihr Selbstbewusstsein ringende Bewegung der Schwarzen in
den USA diesen ursprünglich jüdischen Begriff sehr früh übernommen habe. Als
sich diese Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu organisieren
begann, hatte man durchaus ähnliche Vorstellungen wie der Zionismus: Die aus
Afrika Vertriebenen, in der schwarzen Diaspora Lebenden, entwickelten Ideen
einer Rückkehr in ein vom Kolonialismus befreites Afrika. Der „Panafrikanismus“
war eine stark von AfroamerikanerInnen wie Marcus Mosiah Garvey geprägte Idee,
die in der Phase der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in Afrika stark
an Einfluss gewann. Allerdings wurde schnell klar, dass sich die Schwarzen in
den USA weit von den sozialen und kulturellen Entwicklungen in Afrika entfernt
hatten. Die schwarze Bewegung in den USA veränderte sich daher konsequent zu
einer auf Nordamerika konzentrierten anti-rassistischen Bewegung bzw. einem
schwarzen Nationalismus in der Black Power-Bewegung.

Hall sieht die Entwicklung des
modernen Kapitalismus, die nicht erst mit der Globalisierung zur Erosion
nationaler und ethnischer Grenzziehungen geführt hat, allgemein durch eine
immer mehr um sich greifende „Diasporaisierung“ (92) der Gesellschaften
geprägt. Statt sich illusorischen oder in ihren Auswirkungen gefährlichen
„Rückkehrprojekten“ zu verschreiben, sollte die synkretistische, unzählige Kulturen
verbindende Netzwerkgesellschaft aus Diasporagemeinden vielmehr als Chance
einer Überwindung der alten, auf Differenzen beharrenden und Identitäten
aufzwingenden Formationen wie Rasse, Ethnie und Nation gesehen werden.
Letztlich verbleibt der im Westen vorherrschende Begriff der „notwendigen
Integration in die Mehrheitsgesellschaft“ beim Mythos der vereinheitlichten und
„zivilisierten“ europäischen Rasse stehen und verlangt nicht mehr und nicht
weniger als die assimilierende Anpassung an den Westen und seine angeblich
„universellen Werte“. So sah auch Deutscher die besondere Rolle der jüdischen
Diaspora, als zwischen/über den europäischen Kulturen und Nationen stehend,
sich sowohl außerhalb als auch innerhalb derer entwickelnd, diese befruchtend
wie auch umgekehrt von ihnen jeweils geprägt zu werden. Gerade diese
Sonderrolle, diese Position der Beteiligung wie auch der „Außenbetrachtung“
habe solche Persönlichkeiten ermöglicht wie Spinoza, Marx, Heine, Luxemburg,
Trotzki oder Freud (um nur einige zu nennen).

Die Positiv-Wendung des Diaspora-Begriffs, die Anerkennung des Prinzips „Meine Heimat ist, wo ich lebe, wo immer auch meine Vorfahren hergekommen sind“ (93) ist sicherlich eine richtige Entgegnung gegenüber nationalistischen Integrations-/Assimilationsprinzipien einerseits und unzähligen nationalistischen Projekten der Rückkehr in die „alte Heimat“ andererseits. Doch sollte dabei bedacht werden, dass, solange es eine kapitalistische Klassengesellschaft gibt, Unterdrückung nationaler und ethnischer Minderheiten ein eingebauter Automatismus ist. Die mit der Globalisierungsperiode einhergehende reale weitere Diasporaisierung der Weltgesellschaft geht einher mit einer immer wiederkehrenden Auferstehung von nationalistischen und rassistischen Ausgrenzungen. Hier zeigt sich auch die zentrale Schwäche der Analysen von Stuart Hall: Die Hoffnung auf die Auflösungserscheinungen des „verhängnisvollen Dreiecks“ und die Macht der dezentralen kulturellen Vielfalt erweisen sich angesichts der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Vergesellschaftung als brüchig. Die Krisenhaftigkeit jeglicher kapitalistischen Umwälzung der Gesellschaft führt letztlich auf die barbarischen Elemente von Rasse, Ethnie und Nation zurück. Die Klassensolidarität, die Erfahrung der gemeinsamen Kampfinteressen und die Organisierung von Interesse quer zur nationalistisch/rassistischen Spaltung bleiben weiterhin die wesentlichsten Verteidigungslinien gegenüber den Abgründen der Krisenpolitik. Letztlich bleibt die Klassenfrage durch ihre zentrale Rolle bei der Überwindung von Kapitalismus und Imperialismus grundlegend dafür, dass Rasse und Nation auf der Müllhalde der Geschichte landen können.

5.4.5 Antisemitismus als
Rassismus „sui generis“

Trotz dieser Einordnung des
modernen Antisemitismus in den im westlichen Kolonialismus entstandenen
Rassismus hat der Antisemitismus wesentliche Besonderheiten. Als Urform des
Rassismus, die die Ausgrenzung der Juden und Jüdinnen seit dem Mittelalter
darstellt, und durch die besondere Sündenbockrolle der Juden und Jüdinnen für
die hässlichsten Auswirkungen von Kapitalismus und Moderne wurde der
Antisemitismus zu einem Rassismus „sui generis“ (ein Rassismus der besonderen
Art). Er ist auch deswegen eine besondere Form des Rassismus, weil er in Europa
sehr viel weitergehende eliminatorische Folgen hatte, die zu einem historisch
singulären Vernichtungsprozess führten (94). Die im Antisemitismus geweckten
zerstörerischen Kräfte gehen auch über die Pogrom-Bewegungen, die wir für die
frühe Neuzeit analysiert haben, weit hinaus. Dieser besondere Prozess in der
kapitalistischen Entwicklung besonders in Deutschland muss im Folgenden
nachgezeichnet werden.

6 Judentum, Kapitalismus und
ArbeiterInnenbewegung

6.1 Judentum und die
Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland

Bis in die zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts schien sich die Geschichte des Judentums in Europa allgemein
zum Besseren zu wenden. Die schon besprochene „Judenemanzipation“ seit Ende des
18. Jahrhunderts erlaubte zumindest dem wohlhabenden Teil der jüdischen
Bevölkerung einen raschen Aufstieg. Während ehemalige jüdische
LumpensammlerInnen die Gunst der Stunde nutzten und zu großen
TextilunternehmerInnen wurden, stiegen die alteingesessenen
ZunfthandwerkerInnen in den Textilgewerben rasch ab und mussten nun z. B.
für „den/die Juden/Jüdin“ arbeiten. Damit war natürlich eine neue Quelle des
pseudo-antikapitalistischen Antisemitismus geschaffen. 1819 kam es
deutschlandweit zu den sogenannten Hep-Hep-Unruhen, in denen jüdische Geschäfte
und Unternehmen überfallen und geplündert wurden (95). Neben HandwerkerInnen
wurde der Mob vor allem von StudentInnen gebildet (letztere blieben in Form der
Burschenschaften danach auch weiterhin eine hartnäckige Brutstätte des
Antisemitismus). Diese Bewegung wurde letztlich durch die Metternich-Polizei
unterdrückt und schien für lange Zeit eine Episode im unaufhaltsamen Aufstieg
der bürgerlichen Juden und Jüdinnen zu sein. Für den Rest der kleinbürgerlichen
und proletarischen Juden und Jüdinnen blieben bis nach 1848 viele der ausgrenzenden
Bestimmungen und antisemitischen Übergriffe bestehen. Wie oben dargestellt,
wissen wir das unter anderem aus den Ausführungen von Moses Hess. Der
Antisemitismus hatte hier also auch die übliche Wirkungsweise des Rassismus
nach „unten“ – dies dann umso mehr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Denn zwei Ereignisse änderten
ab Anfang der 1870er Jahre die Entwicklung wesentlich. Einerseits führte die
mit dem Finanzkrach 1871 beginnende zwanzig Jahre lange Stagnationsphase zu
einer Diskreditierung der liberalen Eliten, was nicht nur zum Aufstieg der
organisierten ArbeiterInnenbewegung beitrug, sondern auch zum Nährboden für
populistische reaktionäre Bewegungen wurde. Unter anderem wurden die „jüdischen
Liberalen und KapitalistInnen“ zu allgemeinen Sündenböcken für Bewegungen wie
die Christsozialen in Österreich oder diverse deutschnationale Konservative in
Deutschland. Es muss beachtet werden, dass kleine Bauern/Bäuerinnen und
KleinbürgerInnen (im Handel und Handwerk) noch die größte gesellschaftliche
Gruppe darstellten und besonders vom wirtschaftlichen Niedergang betroffen
waren. Bevor sie eine Perspektive in der gerade stagnierenden Industrie finden
konnten, waren sie von Schulden und Niedergang betroffen. Wiederum wurden die
angeblich jüdischen GeldverleiherInnen und Bankiers zu den Sündenböcken dieser
Schichten.

Zweitens setzte mit den
anti-jüdischen Pogromen im Zarenreich in den 1880er Jahren eine massive
Flüchtlingswelle osteuropäischer Juden und Jüdinnen Richtung Westen ein. Die
Reaktion in den verschiedenen europäischen Ländern war ziemlich dieselbe wie
die anti-muslimische Hetze, die nach 2015 und der jetzigen sogenannten
Flüchtlingskrise  einsetzte. Die
armen „Ost-Juden und -Jüdinnen“, die zu Tausenden als Flüchtlinge zuerst nach
Deutschland oder Österreich-Ungarn kamen, waren mittellos und fanden wenig
Beschäftigungsmöglichkeit im gerade krisengeschüttelten Mitteleuropa. Auch die
liberalen jüdischen BürgerInnen konnten wenig mit ihnen anfangen und fürchteten
ein Wiederaufflammen des Antisemitismus. Es gab zwar Auswanderung weiter in
andere europäische Länder und die USA (und zum geringsten Teil nach Palästina),
aber es kamen immer mehr als wieder weiterzogen. Ghettoisierung, geringe
Integration etc. gingen Hand in Hand mit wachsender antisemitischer Propaganda
und wachsendem Zulauf zu den antisemitischen Parteien in Deutschland und
Österreich-Ungarn. Insofern entstand hier in Mitteleuropa eine unheilvolle
Mischung aus dem klassischen „antikapitalistischen“ Antisemitismus gegen das
„jüdische Kapital“ und aus dem klassischen Rassismus gegen sozial und kulturell
„tiefstehende“ MigrantInnen. Dies bereitete den Boden für die breite Aufnahme
der oben beschriebenen Theorien des Rassenkrieges gegen „das Judentum“ in der
folgenden kapitalistischen Epoche, die die globalen Widersprüche dieses Systems
erst richtig zum Ausbrechen brachte. Daher kann erst die zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts als die eigentliche Geburtsstunde des „modernen“ Antisemitismus
gelten. Auf der Grundlage des überkommenen Antijudaismus bildete sich in
Reaktion auf sozialistische und liberale politische Strömungen eine reaktionäre
politische Bewegung, deren Kernelemente Rassismus und Antisemitismus waren. Ob
unabhängig, oder in national-konservative oder monarchistische Parteien integriert,
Antisemitismus wurde in Ländern wie Deutschland oder Frankreich zu einem
Wesenselement der „politischen Rechten“.

In Frankreich kumulierte
wachsender Antisemitismus 1894 in der „Dreyfus-Affäre“, als dem
jüdisch-stämmigen Hauptmann Alfred Dreyfus eine Landesverratsaffäre
untergeschoben wurde. Nach einem skandalös tendenziös geführten Prozess, der
von schlimmen antisemitischen Mobilisierungen und Pressekampagnen begleitet
war, wurde Dreyfus zu lebenslanger Haft und Verbannung verurteilt. Durch den Einsatz
vieler mutiger Menschen und der sozialistischen Partei wurde der Prozess immer
wieder aufgenommen, wobei Armee und Ministerien mehrfach Entlastungsbeweise
verschwinden ließen bzw. den eigentlichen Landesverräter deckten. Alle diese
Ereignisse wurden von antisemitischen Organisationen benutzt, um eine jüdische
Verschwörung gegen die Ehre der Armee zu konstruieren. Wiederum wurde
zahlreiche geheime Verbindungen „der Juden und Jüdinnen“ in Staat und Armee
gesehen, die das katholische Frankreich stürzen wollten. Daher ist es nicht
verwunderlich, dass es 1899 zu einem versuchten Staatsstreich der „Ligue des
Patriotes“ (einer Vorläuferorganisation der „Action française“) kam, der
allerdings scheiterte. Dreyfus wurde 1900 begnadigt und 1902 rehabilitiert. Trotzdem
enthüllte die Affäre, wie stark mobilisierungsfähig für die politische Rechte
der Antisemitismus inzwischen geworden war. Er schuf in Frankreich allerdings
auch eine Tradition in der Linken zur eindeutigen Positionierung gegen den
Antisemitismus – führende Vertreter der Pro-Dreyfus-Kampagne waren neben dem
Dichter Émile Zola („J’Accuse…!“) die führenden sozialistischen Politiker
Jean Jaurès und Léon Blum.

Im deutschen Reich zeigte der
Berliner Antisemitismusstreik 1879 bis 1881, wie stark der Antisemitismus
inzwischen das „Bürgertum“ ergriffen hatte. Dieser wurde durch Artikel des
damals bekannten Historikers Heinrich von Treitschke losgetreten, der die
voranschreitende Herausbildung eines dem neuen Reich entsprechenden deutschen
Nationalgefühls durch „die Juden und Jüdinnen“ bedroht sah. Sie würden sich
nicht an die christlich-deutsche „Leitkultur“ anpassen, seien nicht
assimilierungsbereit und würden durch ihr Wirken das Bürgertum gemäß ihrem
„undeutschen“ Liberalismus und Geschäftssinn bedrohen. Seine Tiraden gipfelten
im Satz: „Die Juden sind unser Unglück“ (96) – er behauptete gar, dass dies
unter den „gebildeten Deutschen heute“ Gemeingut sei. Ursprünglich bezogen vor
allem nur jüdische ProfessorInnen gegen von Treitschke Stellung, während die Zentrumspartei
seine Thesen vorsichtig übernahm. Überraschend nahm dann 1880 der damals
berühmteste Historiker, Theodor Mommsen, vehement gegen „Rassenhass und
mittelalterliche Vorurteile“ Stellung und organisierte eine breite Opposition
gegen von Treitschke (97). Der intellektuellen Auseinandersetzung mit Mommsen
erwies sich von Treitschke letztlich nicht gewachsen und ruderte in
wesentlichen Punkten zurück. Der Antisemitismus war damit zwar nicht mehr
„salonfähig“, aber wirkte danach umso heftiger unter der Oberfläche der
akademischen Welt fort („Die Juden sind unser Unglück“ wurde später von den
Nazis wiederbelebt). Wichtiger als die akademische Auseinandersetzung war auf
politischer Ebene eine von von Treitschke unterstützte politische Bewegung, die
für eine „Antisemitismuspetition“ eine Viertelmillion Unterschriften im ganzen
Reich sammelte mit dem Ziel, die politische Gleichstellung (insbesondere das
Staatsbürgerschaftsrecht für eingewanderte „Ostjuden du -jüdinnen“) zu
verhindern. Der große plebiszitäre Zuspruch der Petition führte zu einer
Akzeptanz antisemitischer Politik bei den Parteien der Rechten.

1894 stellte Mommsen, der auch
einen „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ mitbegründet hatte, resigniert
fest: „Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, daß man da überhaupt mit Vernunft
etwas machen kann. Ich habe das früher auch gemeint und immer wieder gegen die
ungeheure Schmach protestiert, welche Antisemitismus heißt. Aber es nutzt
nichts. Es ist alles umsonst. Was ich Ihnen sagen könnte, was man überhaupt in
dieser Sache sagen kann, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche
Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Haß
und den eigenen Neid, auf die schändlichen Instinkte“ (98). Die hilflose
Haltung des aufrechten, liberalen Professors aus dem Herzogtum Schleswig
entspricht seinem Klassenstandpunkt – von dem der Bourgeoisie aus gibt es keine
Lösung für das Phänomen des Antisemitismus.

6.2 Antisemitismus und
Sozialdemokratie

Andererseits trat in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gesellschaftliche Kraft auf, die einen
ganz anderen Lösungsweg aufzeigte (und heute in den historischen Betrachtungen
zur jüdischen Geschichte zumeist ignoriert wird): die organisierte
ArbeiterInnenbewegung. Waren es noch in der Hep-Hep-Bewegung der sich
proletarisierenden HandwerkerInnen „die Juden/Jüdinnen“ und die neuen
Maschinen, was als Verderben erschien, so kämpften jetzt nicht-jüdische und
jüdische ArbeiterInnen gemeinsam gegen ihre Ausbeutungsbedingungen. In
Gewerkschaften und den sozialistischen Parteien fanden gerade die unteren
Schichten der Juden und Jüdinnen eine neue Heimat und Bedingungen zum Kampf um
ihre Gleichberechtigung. Dazu kam, dass mit dem Marxismus eine Theorie in der
ArbeiterInnenbewegung an Einfluss gewann, die eine durchdringende
Kapitalismusanalyse jenseits verkürzter Personalisierungen lieferte und das
Klasseninteresse des Proletariats in klarem Gegensatz zu solchen Phänomenen wie
Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus herausarbeitete. Die
an Marx und Engels orientierten Führungen der sozialistischen Organisationen
stellten sich denn auch mehr oder weniger klar gegen den Antisemitismus.
Exemplarisch sei auf den konsequenten Kampf von Engels gegen Eugen Dühring
verwiesen, der den Kampf um soziale Fragen mit Nationalismus und Antisemitismus
verbinden wollte. Dagegen wurde der Slogan „Antisemitismus ist der Sozialismus
für Dumme“ (99) aufgegriffen.

Allerdings zeigt bereits die
Resolution von Bebels „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ (100) auf dem
SPD-Parteitag 1893 schwerwiegende Mängel in der Analyse des Antisemitismus.
Auch wenn der reaktionäre Charakter des Antisemitismus auf der einen Seite
aufgezeigt und betont wird, dass er den Kampf gegen die kapitalistische
Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals, die jüdischen
KapitalbesitzerInnen ablenke, dass letztlich nur der Kampf für den Sozialismus
den Antisemitismus erledigen würde, so wird doch auf der anderen Seite viel von
der antisemitischen Mythologie über „das Wesen“ der Juden und Jüdinnen in Bezug
auf Geldgeschäfte aufgegriffen und somit dem Antisemitismus auch eine
widersprüchlich „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Massen der
Mittelschichten, die von der Krise betroffen wären und sich in Folge von den
antisemitischen Parolen verführen ließen, würden letztlich erkennen, dass die
AntisemitInnen den Kampf gegen die Ursachen ihrer Verelendung nur unzureichend
führen, um dann notwendig zu den KämpferInnen gegen die wahren Gründe ihrer
Verelendung weiterzuschreiten – den SozialdemokratInnen. Hier zeigen sich
bereits die verhängnisvolle Unterschätzung der Gefährlichkeit des
Antisemitismus und der ökonomistische Irrglaube, dass durch den konsequenten
Kampf um soziale Forderungen die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die
Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen würden. Diese Fehler in der
Unterschätzung der Wirkung des Antisemitismus wie auch in der Positionierung
zum Rassismus (z. B. in der Kolonialfrage) sollten sich in der
imperialistischen Epoche noch verschärfen und letztlich grausam rächen.

6.3 Kautsky und der „Jüdische
Bund“

Allerdings hatte der
langjährige „Chef-Theoretiker“ der SPD, Karl Kautsky, eine sehr klare Position
zum Antisemitismus: „Die Antisemiten sind jetzt unser gefährlichster Gegner“
(101). Er erkannte sehr wohl die Gefahr der Spaltung und der
Aggressionspotentiale, die sich letztlich auch gegen die sozialistische
Bewegung richten könnten. Insofern kritisierte er auch diejenigen
SozialistInnen, die angesichts der antisemitischen Kampagne in Frankreich um
die „Dreyfus-Affäre“ neutral bleiben wollten, da es ja nur um einen jüdischen
Bourgeois ging. Dazu formulierte Kautsky, was Grundlage jedes sozialistischen
Programms sein müsse: dass der Kampf um die Befreiung der LohnarbeiterInnen nur
erfolgreich sein könne, wenn er sich mit dem Kampf um die Freiheit „aller, die
unterdrückt werden“, verbinde, und erwähnt neben dem Kampf um Frauenbefreiung
und koloniale/rassistische Unterdrückung eben auch den gegen den Antisemitismus
(102). Allerdings, und dies passt zum Zentrismus von Kautsky im Allgemeinen,
führte er nie einen systematischen Kampf darum, diese Position zu einer
offensiven Stellung gegen den Antisemitismus auch zur Parteilinie zu machen,
sondern sie tolerierte die Taktik der deutschen und österreichischen
Parteiführungen, nur verhalten gegen den Antisemitismus zu agieren, um keine
Wählerstimmen deswegen zu verlieren. Kautsky beschränkte sich daher stark auf
theoretische Interventionen (er ist derjenige der Klassiker des Sozialismus,
der am meisten zu Judentum und Antisemitismus geschrieben hat). Bemerkenswert
ist sein Buch „Judentum und Rasse“ (103), da es eines der ersten Bücher eines
namhaften Publizisten war, das die Rassentheorie des Antisemitismus ausführlich
und wissenschaftlich begründet zurückwies.

Zugleich war Ende des 19.
Jahrhunderts die erste große, moderne jüdische Partei entstanden: der
„Allgemeine jüdische ArbeiterInnenbund“ (kurz „Bund“ genannt). Der „Bund“ war
nicht zufällig im zaristischen Russland (und dort vor allem in den polnischen
und weißrussischen Gebieten) entstanden. Einerseits war dort z. B.
gegenüber Deutschland (in dem bürgerliches und kleinbürgerliches Judentum sehr
viel zahlreicher war) ein sehr viel zahlreicheres jüdisches Proletariat
vorhanden, andererseits nahmen die Diskriminierung und Gewaltakte gegen Juden
und Jüdinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungemein zu. So konnte
der „Bund“ nach seiner Gründung 1897 in kurzer Zeit mehrere Zehntausend
Mitglieder gewinnen und sich auch auf die polnischen Gebiete in der
Habsburgermonarchie ausdehnen (Jüdische Sozialdemokratische Partei). Kautsky
begrüßte die Organisierung der jüdischen ArbeiterInnen, weil sie die „Juden,
den Paria unter den Nationen, in eine mächtige revolutionäre Kraft“ verwandeln
würde (104). Er erkannte mehr als andere, dass die Juden und Jüdinnen hier, im
Rahmen der internationalen sozialistischen Bewegung, zum eigenständigen,
selbstorganisierten Subjekt ihrer Geschichte geworden waren (daher setzte er
sich auch für die stimmberechtigte Aufnahme des Bundes in die Zweite
Internationale ein).

Tatsächlich löste aber die
Frage des Bundes eine lange, heftige Debatte in der sozialistischen Bewegung um
die Lösung der „jüdischen Frage“ aus, in der später auch die Frage des
Zionismus eine Rolle spielte. Der Großteil der SozialistInnen lehnte es ab, in
den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen (am vehementesten übrigens
Rosa Luxemburg). Man sah, wie viele liberale Juden und Jüdinnen sich auch die
Lösung der „jüdischen Frage“ wie auch des Antisemitismus in einer möglichst
raschen „Assimilation“ in die europäischen Nationen (die „Assimilation“ war
tatsächlich auch für viele jüdische Intellektuelle und AktivistInnen eine
angestrebte „Zukunftsperspektive“) erhofften. Eine Minderheit um Kautsky, der
hierin stark vom „Bund“ als Quelle zitiert wurde, sah das Judentum als „in
Auflösung begriffene Nation“, deren Unterdrückung aber den Kampf um einige
nationale Rechte im politischen („Autonomie“) und kulturellen (Schule, Sprache,
Religion,…) Bereich rechtfertigen würde. Kautsky verband die Assimilations-
mit einer Internationalismus-Perspektive: Im Rahmen der internationalen Kämpfe
der ArbeiterInnenbewegung würde es letztlich zu einer solchen Vermischung der
Völker kommen, dass auch die Unterschiede zwischen Juden und Jüdinnen und
Nicht-Juden und -Jüdinnen auf lange Sicht verschwinden würden.

In der russischen
Sozialdemokratie führte die Frage einer „jüdischen Nation“ und der daraus
folgenden der Notwendigkeit einer eigenen jüdischen ArbeiterInnenpartei zu
heftigen Auseinandersetzungen. Lenin lehnte die Vorstellung des „Bundes“ von
getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation
zusammenarbeiten würden, ab. Er vertrat dagegen die Position einer
einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für die jüdischen
ArbeiterInnen geben müsse (105). Dies war einer der Streitpunkte, die 1903 zur
Spaltung der russischen Sozialdemokratie führten. Kautsky vertrat zwar im
Prinzip Lenins Position, akzeptierte aber letztlich inkonsequent den Bruch des
Bundes mit der Gesamtpartei. Nach der Oktoberrevolution spaltete sich der
„Bund“, und der „Kommunistische Bund“ wurde zu einer Stütze der
Sowjetherrschaft.

Die Auseinandersetzungen um die
nationale Frage in der ArbeiterInnenbewegung Anfang der 1900er Jahre führten
allerdings auch zu einer Abspaltung von einigen tausend ArbeiterInnen Richtung
Zionismus. Während der „Bund“ die zionistische Perspektive, also die Lösung der
nationalen Frage durch die Schaffung eines eigenen jüdischen Staates, ablehnte
(wie auch Kautsky), existierten bis 1901 zionistische Gruppen nur als kleine
bürgerliche Zirkel in Russland oder Europa. Mit der Entstehung der „Jüdischen
Sozialdemokratischen Partei – Poale Zion“ („ArbeiterInnen Zions“) hatte der
Zionismus zum ersten Mal eine größere Partei hinter sich, die allerdings auch
mit den bisher bürgerlichen Programmen des Zionismus in Widerspruch geriet. Ab
etwa 1909 (dem zweiten zionistischen Weltkongress) änderte Poale Zion (damals
selbst schon eine internationale Massenorganisation) den Charakter des
Zionismus grundlegend zu einem praktischen Siedlungsprojekt in Palästina – mit
„sozialistischem Anspruch“. Sie lieferte damit die Grundlage für den späteren
Awoda-Zionismus. Kautsky kritisierte (wenn auch in sehr solidarischer Weise) die
Politik von Poale Zion als „utopischen Sozialismus“, der unweigerlich an den
Realitäten der kolonialen Herrschaft in der arabischen Welt scheitern müsse.

Im polnischen Staat der
Zwischenkriegszeit war die jüdische Bevölkerung in die zionistischen Parteien und
den „Bund“, umbenannt in „Polnischer Bund“, gespalten. Im Gegensatz zur
Sowjetunion, wo viele „BundistInnen“ zum Kommunismus übergegangen waren, war
der polnische „Bund“ ein Hort des Sozialdemokratismus und beteiligte sich trotz
des grassierenden Antisemitismus staatstragend am antikommunistischen,
polnisch-nationalistischen Regime, vor allem auf der Ebene der kommunalen
Selbstverwaltung. Eine Perspektive für die Verbindung des Kampfes zwischen
Sozialismus und Lösung der „jüdischen Frage“ wurde so nicht gefunden.
Allerdings beteiligten sich die militärischen Organisationen des „Bundes“ nach
Beginn des Zweiten Weltkrieges effektiv am Widerstand gegen die deutsche
Okkupation. Insbesondere im Warschauer Aufstand spielten „BundistInnen“ eine
herausragende Rolle. Nach 1945 wurde der „Bund“ in die Etablierung der
stalinistischen Herrschaft in Polen integriert, so wie auch in der
neugegründeten KP überproportional viele Juden und Jüdinnen vertreten waren. In
paradoxer Weise wurde sowohl in den stalinistischen Säuberungen als auch in der
Phase der Entstalinisierung unter Gomulka der Antisemitismus jeweils bis zum
Exzess genutzt. Dies führte bis Ende der 1950 er Jahre zu einem endgültigen
Verschwinden der „Bund“-Tradition in Polen.

Dagegen war durch die Migration
seit Ende des 19. Jahrhunderts aus Osteuropa eine große Zahl von „BundistInnen“
in die USA ausgewandert. Dort entstand eine Vielzahl an jüdischen
ArbeiterInnenorganisationen in der Tradition des „jiddischen Sozialismus“.
Insbesondere die Textilindustrie war ein Zentrum jüdischer ArbeiterInnen,
ebenso wie die dort tätigen Gewerkschaften (106). So wanderte denn auch das
Zentrum des internationalen jiddischen ArbeiterInnenbundes in der
Zwischenkriegszeit in die USA. Der „Bund“ trat gegen den Teilungsplan für Palästina
ein und behielt auch nach der Gründung des Staates Israel die Position eines
binationalen jüdisch-arabischen Staates unter Bedingungen der nationalen
Gleichberechtigung bei. Die Tradition des jiddischen Sozialismus hat sich in
verschiedenen linken Strömungen, z. B. innerhalb der „Democratic
Socialists of America“ bis hin zu den jüdischen UnterstützerInnen von Bernie
Sanders, fortgesetzt.

6.4 Lenin und die jüdische
Frage

Waren die SozialdemokratInnen im Westen in ihrem öffentlichen Auftreten aus Angst vor Verlust von Wählerstimmen sehr vorsichtig in ihren Stellungnahmen gegen Antisemitismus, so blieben hier (wie in vielen anderen Dingen) die russischen Bolschewiki unter Lenins Führung glasklar und prinzipienfest. Gerade aufgrund der erstarkenden ArbeiterInnenbewegung und besonders nach der Revolution von 1905 verwendeten die Herrschenden im zaristischen Russland die Antisemitismuskarte in besonders übler Weise. Etliche Pogrome rund um angebliche Ritualmorde wurden inszeniert, Verschwörungstheorien ohne Ende fabriziert (die berühmt-berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ waren ein Produkt der zaristischen Geheimdienste und -polizei Ochrana), und allenthalben waren Presse und Universitäten voll von antisemitischer Hetze (107). In dieser Situation schrieb Lenin 1913 einen Gesetzentwurf für die sozialdemokratische Duma-Fraktion, in der er die Abschaffung aller die Juden und Jüdinnen diskriminierenden Gesetze und die Anerkennung von Minderheitenrechten (z. B. Schulunterricht auf Jiddisch) forderte. In seiner akribischen Art fügte Lenin über 100 Gesetzesstellen bei, die diskriminierenden Inhalt gegenüber Juden und Jüdinnen enthielten und geändert werden müssten. In der Erklärung an die GenossInnen zu dem Gesetzentwurf schrieb Lenin: „Keine einzige Nationalität wird in Russland so unterdrückt und verfolgt wie die jüdische. Der Antisemitismus schlägt unter den besitzenden Schichten immer tiefere Wurzeln. Die jüdischen Arbeiter stöhnen unter einem zweifachen Joch: als Arbeiter und als Juden. Die Verfolgung der Juden hat in den letzten Jahren ganz unglaubliche Ausmaße erreicht. (…) die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihre Stimme gegen die nationale Unterdrückung zu erheben“ (108). Lenin schrieb mehrere Artikel über die Bedeutung des Gesetzentwurfes und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen in der ArbeiterInnenschaft auf. Kaum eine der anderen Parteien der Zweiten Internationale hat öffentlich eine so entschiedene praktische Stellung gegen den Antisemitismus bezogen. Auch wenn der Gesetzentwurf natürlich abgeschmettert wurde, hat er doch die Stellung der Bolschewiki gegen den Antisemitismus ein für allemal klar gemacht.

6.4.1 Sozialistische Position
zum Nationalismus

Dass Lenin, anders als viele
SozialdemokratInnen im Westen, nicht darauf vertraute, dass der Antisemitismus
schon mit dem Fortschritt des Klassenkampfes verschwinden würde, hängt mit
seiner generellen Analyse der „nationalen Frage“ zusammen. In den Jahren
zwischen der Revolution 1905 und dem Ersten Weltkrieg wurde für Lenin immer
klarer, dass die nationalen Fragen in den „Vielvölkerstaaten“ (Zarenreich,
Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich), aber auch in Asien und der
kolonialisierten Welt zu einem entscheidenden Faktor der Weltpolitik werden
würden. In den Jahren 1912 bis 1914 (bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs)
hielt sich Lenin im Exil in Galizien auf, das damals (seit der dritten Teilung
Polens Ende des 18. Jahrhunderts) zu Österreich gehörte und an der Grenze zum
zaristisch beherrschten „Kongresspolen“ lag. Er war damit mittendrin in den
polnisch/jüdisch/ukrainischen Nationalitätenproblemen. In dieser Zeit hielt er
nicht nur viele Vorträge zur nationalen Frage und leitete einen Parteikongress
zu dieser Frage in der Nähe von Zakopane, er schrieb auch zwei zentrale Artikel
dazu im theoretischen Organ der Bolschewiki, der „Prosweschtschenije“
(„Aufklärung“): „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ und „Über das
Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (109).

Ausführlich geht er dort auf Marx‘ und Engels‘ Position zur Frage des irischen Unabhängigkeitskampfes ein. Beide hatten ursprünglich erwartet, dass der Fortschritt der englischen ArbeiterInnenbewegung das Problem der Befreiung Irlands lösen würde, indem der Kampf gegen das englische Kapital auch die feudalen Unterdrückungsstrukturen in Irland auflösen würde. Zwei Faktoren ließen sie jedoch ihre Position verändern: Erstens erkannten sie, dass die englische ArbeiterInnenklasse politisch-ideologisch in wichtigen Teilen durch reaktionär-chauvinistische Positionen (z. B. durch die liberale Partei) gegenüber Irland beeinflusst wurde. Zweitens führte das Ausbleiben der progressiven Anstöße durch den englischen Klassenkampf dazu, dass sich agrarrevolutionäre und nationalistische Strömungen in Irland viel schneller zu einer republikanischen Bewegung verbanden als gedacht. „Wäre der Kapitalismus in England so rasch gestürzt worden, wie Marx anfänglich erwartete, so wäre in Irland für eine bürgerlich-demokratische, gesamtnationale Bewegung kein Raum gewesen. Nachdem sie aber einmal entstanden ist, gibt Marx den englischen Arbeitern den Rat, sie zu unterstützen, ihr einen revolutionären Anstoß zu geben und sie im Interesse ihrer eigenen Freiheit zu Ende zu führen“ (110).

Lenin zieht einige
Schlussfolgerungen aus dieser Herangehensweise von Marx: Einerseits ist es für
die Entwicklung von revolutionärem Bewusstsein der ArbeiterInnen in
unterdrückenden Nationen entscheidend, gegen jede Form von Chauvinismus, von
Unterdrückung und Diskriminierung anderer Nationen aufzutreten. Auch wenn es
unpopulär ist, müssen SozialistInnen hier in der eigenen Klasse
unmissverständlich auftreten und, wo nötig, Gegenpropaganda betreiben.
Andererseits ist die Unterstützung von Bewegungen für nationale Unabhängigkeit
von der Gesamtlage im Klassenkampf abhängig: Während die englische
ArbeiterInnenklasse nicht in einem entscheidenden Kampf gemeinsam mit der
irischen stand, war dies z. B. nach 1905 für die polnische und russische
ArbeiterInnenklasse sehr wohl gegeben. Die Zweite Internationale stellte daher
korrekterweise nicht die Losung für ein unabhängiges Polen ins Zentrum, da die
russischen und polnischen ArbeiterInnen eben gerade im Kampf zum Sturz des
Zarismus vereint waren. Zugleich verteidigte sie das prinzipielle Recht der
PolInnen auf Lostrennung von Russland, sollte dies mehrheitlich gewollt sein.

Dies drückte sich auch in der
Spaltung der polnischen ArbeiterInnenbewegung aus, deren rechter Flügel unter
Piłsudski (Polnische Sozialistische Partei, PPS) die nationale Frage in den
Vordergrund stellte, während die „Sozialdemokratie des Königreichs Polen, SDKP“
(Luxemburg, Jogiches, Marchlewski), ab 1900 „Sozialdemokratie des Königreichs
Polen und Litauens, SDKPiL“, den internationalen Klassenkampf ins Zentrum
stellte und dabei, im Gegensatz zu PPS, vor allem auch die Rechte der jüdischen
ArbeiterInnen einbezog. Gerade der immer stärker werdende Antisemitismus des
polnischen Nationalismus (auch in seiner „sozialistischen“ Form) war ein
gewichtiger Grund für die antinationale Haltung der SDKP. Nach 1905 wurde die
SDKPiL der russischen Sozialdemokratie assoziiert. Während Lenin mit Luxemburg
in der Frage der generellen Linie des Vorrangs des gemeinsamen revolutionären
Klassenkampfes übereinstimmte und klar aufseiten der SDKPiL gegenüber der PPS
stand, führte er eine harte Auseinandersetzung mit Luxemburg um die Frage der
Berechtigung und Bedeutung der Losung nach nationaler Selbstbestimmung.
Luxemburg lehnte die Position der Zweiten Internationale ab, das Recht auf
Loslösung zu verteidigen. Schon dies galt ihr als Zugeständnis an den
Nationalismus.

Um die Bedeutung dieser Differenz zu verstehen, hier einiges zur grundlegenden Herleitung der Problemstellung bei Lenin: Er geht davon aus, dass es in Bezug auf den Nationalstaat zwei widersprüchliche Tendenzen im Kapitalismus gibt. Einerseits dränge der Verwertungszwang des Kapitals zur Herausbildung eines „nationalen Marktes“, der durch einheitliche Standards, Sprache, Verwaltung, Infrastruktur, Bildungswesen und staatliche Institutionen organisiert wird. Andererseits erzeuge die Weltmarkttendenz des Kapitals ständig ein Infragestellen nationaler Grenzen und eine Ausdehnung bestimmter nationaler Kapitale zu Lasten von anderen. Beide Tendenzen kämen kombiniert und ungleichzeitig vor, auch wenn zunächst, beim Kampf gegen die feudale Zersplitterung, das erste Moment als revolutionär-demokratisches dominiere. Es gebe daher so gut wie keine Nationalstaaten, die nicht nationale Minderheiten oder ganze andere Nationen in ihre Grenzen eingeschlossen hätten. Nationalismus unterdrückter wie unterdrückender Nationen sei daher ein dem kapitalistischen System inhärentes Phänomen, das in immer neuen Formen produziert werde. Die Position der ArbeiterInnenklasse, die durch den internationalen Klassenkampf bestimmt ist, könne nur in Opposition zu und Überwindung von jeder Form des Nationalismus bestehen: „Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht‘, ‚sauber‘, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung der Nationen zu einer höheren Einheit, die vor unseren Augen wächst, mit jedem Eisenbahnkilometer, mit jedem internationalen Trust,…“ (111).

Dieses Primat von
Internationalismus und Aufhebung alles Nationalen (man sieht, wie weit weg
Stalin tatsächlich von Lenin war) müsse aber in einer Gesellschaft, die
durchzogen ist von nationaler Unterdrückung, von Unterdrückung ethnischer
Minderheiten und unvollendeten Aufgaben der demokratischen Revolution erkämpft
werden. Lenin malt das Bild einer Geschichte, die „im Westen“ Ende des 19.
Jahrhunderts die bürgerlich-demokratische Revolution in festgefügten
imperialistischen Nationalstaaten schon lange eingefroren hat, während sich
seit 1905, vom Zarenreich angefangen, eine Masse neuer demokratischer
Revolutionen an der „Peripherie“ ausbreitet: auf dem Balkan, in der Türkei, in
China, schließlich in den unterdrückten Kolonialvölkern in Asien und Afrika.
Überall dort stelle sich die Frage nach der Verbindung demokratischer
Forderungen, dem Kampf um nationale Unabhängigkeit in Verbindung mit dem
Klassenkampf des dort neu in die Kämpfe eintretenden Proletariats. In dieser
gewaltigen neuen Erschütterung gerade die Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht
zu ignorieren, hieße, diese Bewegungen wiederum dem bürgerlichen Nationalismus
zu überlassen.

Wie solle sich also das Proletariat zu Bewegungen gegen nationale Unterdrückung verhalten? Das Proletariat könne die Überwindung des Kapitalismus nur erreichen, wenn es seinen Klassenkampf mit dem Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung verbinde, darunter eben auch mit dem Kampf gegen nationale Unterdrückung, für Ausdehnung von Demokratie und gegen autoritäre Herrschaft, gegen jede Form von sozialer und klassenmäßiger Unterdrückung. Und was drücke das Prinzip des Kampfes gegen nationale Unterdrückung konkreter aus als das Prinzip, jeder Nation das Recht auf Lostrennung von einem sie unterwerfenden anderen Nationalstaat zuzugestehen? Das Selbstbestimmungsrecht bleibe eine hohle Phrase, wenn es nicht auch diese letzte Konsequenz, die Möglichkeit der Auflösung eines unterdrückerischen Nationalstaates, mit einbeziehe. Andererseits heiße dies noch lange nicht, dass die Lostrennung in jedem Fall vom Klassenstandpunkt her die richtige Folgerung wäre. Auch wenn das Recht zur Lostrennung verteidigt wird, so hänge es (wie im Fall Polens nach 1905 gezeigt) von den konkreten Kampfbedingungen gegen einen bestehenden Unterdrückerstaat ab, ob die Lostrennung auch von KommunistInnen propagiert werde. Zweitens hänge es auch von der Stärke und dem Charakter der nationalen Bewegung selbst ab. Lenin macht klar, dass das Proletariat zwar den Kampf gegen nationale Unterdrückung als fortschrittliche Tendenz unterstützt, gleichzeitig aber den Nationalismus selbst auch ablehnt: „Jede Bourgeoisie will in der nationalen Frage entweder Privilegien für ihre eigene Nation oder exklusive Vorteile für sie… Theoretisch lässt sich nicht mit Sicherheit voraussagen, ob die Lostrennung einer Nation oder ihre gleichberechtigte Stellung neben einer anderen Nation die bürgerlich-demokratische Revolution abschließen wird; für das Proletariat ist in beiden Fällen wichtig, die Entwicklung der eigenen Klasse zu sichern; für die Bourgeoisie ist wichtig, diese Entwicklung zu erschweren, indem sie deren Aufgaben zugunsten der Aufgaben der ‚eigenen‘ Nation in den Hintergrund schiebt. Daher beschränkt sich das Proletariat auf die sozusagen negative Forderung nach Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung, ohne einer Nation irgend etwas auf Kosten einer anderen Nation zu garantieren, zu gewährleisten“ (112).

Nichts könnte klarer zeigen,
dass heute in Israel-Palästina eine grundlegende Entrechtung der
palästinensischen Bevölkerung vorliegt. Auch die „palästinensische Autonomie“
in Westbank und Gaza ist nichts anderes als eine neue Form des israelischen
Besatzungsrechtes. Der Kampf um einen eigenen palästinensischen Staat ist daher
als Kampf gegen eine nationale Unterdrückung gerechtfertigt und muss von
SozialistInnen unterstützt werden. Andererseits ist der palästinensische
Nationalismus selbst nicht „an sich“ fortschrittlicher als irgendein anderer
Nationalismus. Auch wenn wir das Recht des Widerstands gegen die israelische
Besatzungspolitik bedingungslos unterstützen, heißt dies nicht, dass wir in der
Errichtung eines palästinensischen Staates unter den gegenwärtigen Führungen
eine fortschrittliche Lösung des nationalen Problems in Palästina sehen. Es gibt
für keine Ethnie in der Region irgendein „natürliches“, „historisches“ Recht
auf „nationalen Boden“. Dort lebende Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen
haben ein Recht auf gleichberechtigtes Zusammenleben. Daher lehnen
SozialistInnen alle Tendenzen im palästinensischen Nationalismus ab, die eine
Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Palästina implizieren würden. Dies steht
aber derzeit in keiner Weise im Vordergrund. Vielmehr ist es der israelische
Staat, der in brutaler und barbarischer Weise PalästinenserInnen in Massen
vertreibt und elementarer Rechte beraubt. Offenbar wäre auch ein losgetrennter
palästinensischer Staat (in welchen Grenzen, mit welchem Status von Jerusalem
und mit welcher Lösung für die Rückkehr von Flüchtlingen?) kein aussichtsreicher
Weg für ein friedliches und ökonomisch gangbares Zusammenleben beider Nationen.
Daher halten wir einen multiethnischen gemeinsamen Staat von Juden und Jüdinnen
und PalästinernserInnen auf der Basis von Gleichheit und Gleichberechtigung für
den einzig möglichen Lösungsweg für dieses Nationalitätenproblem. Nur so kann
ein Ausgleich für ein friedliches Zusammenleben geschaffen werden. Lenin führt
übrigens ausführlich als positives Beispiel die Schweiz als Beweis der
Möglichkeit eines multinationalen Staates mit vielen Sprachen und dem
Austarieren der unterschiedlichen regionalen und ethnischen Interessen an, auch
wenn dieses Lösungsmodell aus der Frühzeit der bürgerlichen Revolutionen
stammt.

6.4.2 Selbstbestimmung oder
„Autonomie“?

In Bezug auf die „jüdische
Frage“ in der Diaspora, insbesondere im damaligen Russland (in dem seinerzeit
fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung weltweit lebte), setzte sich Lenin
insbesondere mit der Politik des „Bundes“ auseinander, der sich auf die Losung
der „nationalkulturellen Autonomie“ stützte. Es ging in der Diaspora immer um
eine nationale Minderheit, die zwar in bestimmten Regionen mehr als in anderen
konzentriert war, aber nie in einem Prozentsatz, der ein eigenes nationales
Territorium definiert hätte. Die Frage der Lostrennung von oder der Schaffung
eines eigenen Staates in Russland stand also nicht auf dem Programm. Der „Bund“
griff stattdessen auf das Programm der österreichischen Sozialdemokratie
zurück, das diese ihrerseits im österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat zur
Lösung der nationalen Spannungen konzipiert hatte (113). Statt in der
tschechischen, slowenischen, kroatischen etc. nationalen Frage das Recht auf
Selbstbestimmung zu vertreten, versuchten die „Austro-MarxistInnen“, die
nationalen Spannungen durch die Propagierung der „national-kulturellen
Autonomie“ zu beschwichtigen. In Territorien mit bestimmter nationaler
Zusammensetzung, in Volkszählungen erhoben, sollten die Mehrheitsnationen das
Recht auf Bestimmung über das Schulwesen, die Kulturpolitik,
Verwaltungssprachen u. ä. erlangen, während die Fragen von Haushalt,
Sicherheit und allgemeiner Gesetzgebung weiterhin von der Zentralregierung
entschieden werden sollten.

Die Grenzen dieser Politik,
gerade in Bezug auf die österreichische Sozialdemokratie, zeigten sich
beispielhaft an zwei Fällen: Einerseits waren gerade durch die kapitalistische
Expansion im späten 19. Jahrhundert viele ArbeiterInnen durch das gesamte Reich
migriert, z. B. viele TschechInnen nach Wien und Umgebung. Andererseits
zerbrach aber letztlich die Einheit der tschechischen und österreichischen
Partei im Jahr 1908 an der Forderung nach Verwendung der tschechischen Sprache
auch an Wiener Schulen und Behörden. Der zweite Problemfall für die
AustromarxistInnen war eben die jüdische Frage. In Galizien, mit über 10 %
jüdischem Bevölkerungsanteil, wurde trotzdem die national-kulturelle Autonomie
dort als ein Recht nur der polnischen Nationalität gesehen, so wie die
österreichischen SozialdemokratInnen die Juden und Jüdinnen insgesamt wegen
eines nicht vorhandenen „jüdischen Territoriums“ nicht als Nationalität
anerkannten, der eine national-kulturelle Autonomie zugestanden werden könne.
Lenin charakterisierte in der nationalen Frage das Konzept der
national-kulturellen Autonomie als eine Form des Proudhonismus (114): So wie
dieser eine Ökonomie des „gerechten Tausches“ ohne Antasten des
Produktionsmittelbesitzes von PrivateigentümerInnen durch dessen „gerechte
Verteilung“ erreichen wolle, so würden die AustromarxistInnen versuchen, einen
Nationalismus ohne dessen „ungerechte“ Seiten zu etablieren: Nationen sollten
fein säuberlich voneinander in deren „angestammten“ Territorien geschieden
werden, in denen sie in Sprache und kulturellen Eigenarten für sich sein
könnten. Sei erst einmal das nationale Problem so entschärft, würde der
Nationen übergreifende Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie wie
von selbst ins Zentrum der Auseinandersetzungen rücken. Der Austromarxismus
verkennt somit die über die nationalen Grenzen hinausgehenden Tendenzen des
Kapitalismus, seine Tendenz zur Vermischung von Nationalitäten und die
wesentliche Vermengung von nationalen Problemen mit allen Problemen der
Politik, insbesondere bei der Herausbildung von Unterdrückungsstrukturen.
Letztlich „entschärft“ die Losung daher nicht die nationalen Probleme, sondern
gibt der realen Unterdrückungspolitik, im Gegensatz zur Losung des
Selbstbestimmungsrechts, „sozialistische“ Rückendeckung.

Der „jüdische Bund“ im benachbarten Zarenreich griff die Position der AustromarxistInnen trotz deren Politik in der jüdischen Frage begeistert auf, indem er sie um das Element der „Exterritorialität“ erweiterte. D. h., auch ohne eigenes „nationales Territorium“ sollten in jeder Region, gemäß der nationalen Zusammensetzung, für Minderheiten eigene Schulen, Kultureinrichtungen und die Verwendung der eigenen Sprache im Verwaltungswesen eingeführt werden. Lenin setzte hier zu einer grundlegenden Kritik am Nationalismus und an dem Begriff der „nationalen Kultur“ an (115): In jeder nationalen Kultur gebe es progressive und reaktionäre Momente, gemäß ihren Beziehungen zu den Klassen, zu demokratischen, sozialistischen oder aber bürgerlichen, klerikalen etc. Elementen; denn jede nationale Kultur (auch die unterdrückter Nationen) werde letztlich von den besitzenden Klassen beherrscht. Die „internationale Kultur“, die SozialistInnen letztlich anstrebten, sei eine, die die fortschrittlichen Elemente aller nationalen Kulturen in sich aufnehme, um sie von der „Herrenkultur“ zu befreien. In diesem Sinn strebe der Sozialismus nach „Assimilierung“ aller Kulturen im Internationalismus, und zwar im Sinn einer progressiven Aufhebung im dialektischen Sinn, nicht im Sinn einer „Auslöschung“. Gerade in der jüdischen sozialistischen und demokratischen Bewegung „haben sich die universal-fortschrittlichen Züge in der jüdischen Kultur deutlich gezeigt: ihr Internationalismus, ihre Aufgeschlossenheit für die fortschrittlichen Bewegungen des Zeitalters (der Prozentsatz der Juden in den demokratischen und proletarischen Bewegungen ist überall höher als der Prozentsatz der Juden in der Bevölkerung)“ (116). Diese jüdischen Beiträge in den fortschrittlichen Bewegungen würden überall dazu beitragen, dass die „besten Traditionen des Judentums“ in der „internationalen Kultur der ArbeiterInnenbewegung“ aufgingen.

Die Losung des Bundes würde
dagegen gerade zu Absonderung, zu Separatismus führen: eben weil z. B.
durch die getrennten Schulen, die gesonderten Kultureinrichtungen etc. in den
bestehenden jüdischen Gemeinden, die zumeist weiterhin von konservativen und
religiösen Führungen beherrscht würden, die rückständigen Elemente der
„nationalen Kultur“ gefestigt würden, statt eine gemeinsame Auseinandersetzung
gegen unterdrückerische und reaktionäre Kulturpolitik zu führen. Dies würde in
der Konsequenz z. B. sowohl den Kampf gegen den klerikalen und
militaristischen Einfluss auf die Schulen nach sich ziehen als auch die
Berücksichtigung des Jiddischen im Unterricht (bei entsprechender
SchülerInnenzahl) ermöglichen, und zwar nicht nur für jüdische Kinder.
Letztlich bedeutet diese Lenin’sche Politik auch die Ablehnung des sogenannten
Integrationsgedankens: Es gibt keine „nationale Leitkultur“, in die sich
Minderheiten zu integrieren haben. Letztlich geht es um die Gleichberechtigung
aller in einer Region vertretenen Nationalitäten, die eine gemeinsame
internationale Kultur (mit möglicherweise vielen Sprachen) entwickeln werden.
Diese Lösung von „Minderheitenfragen“ ermöglicht im Gegensatz zur
segregierenden Politik des Austro-Marxismus sowohl eine Selbstbestimmung in
Bezug auf Nationalitätenfragen als auch eine Verstärkung des Austausches und
der Verschmelzung zwischen den Kulturen.

Dies ist auch letztlich Lenins
Antwort auf die „jüdische Frage“: Es geht weder um Integration oder
Assimilation der Juden und Jüdinnen der Diaspora (wie der Diaspora jeglicher
Nationalitäten oder Ethnien), sondern, zunächst über den Weg der
Gleichberechtigung und der Bekämpfung aller Diskriminierung, letztlich um eine
internationale Kultur, eine Verschmelzung aller progressiven Elemente dieser
Teilkulturen unter Aufbewahrung der jeweiligen geschichtlichen und sozialen
Erfahrungen. Es ist klar, dass diese Perspektive der Überwindung von
Nationalismus und Unterdrückung nationaler oder ethnischer Minderheiten nur im
Zusammenhang mit einer sozialistischen Überwindung des Kapitalismus als
Weltsystem denkbar ist.

6.5 Antisemitismus und
Imperialismus

Der Erfolg des eliminatorisch
ausgerichteten Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert
lässt sich letztlich nur im Kontext des Imperialismus und des Scheiterns der
sozialistischen ArbeiterInnenbewegung im Hinblick auf die Überwindung des
Kapitalismus verstehen. Seit den 1890er Jahren hat der liberale Kapitalismus
sein Gesicht wesentlich verändert: Qualitätssprung in der Bedeutung des
Weltmarktes, Verschmelzung von Finanz- und Industriekapital, immer größere
international agierende Kapitale und darauf basierende aggressive
Großmachtpolitik, eine Weltordnung, durch wenige ImperialistInnen bestimmt.
Dies alles führte zum Aufbrechen der traditionellen nationalstaatlichen
Politik, zu wachsender Kriegsgefahr und raschem sozialen Wandel (schneller
Aufstieg und ebenso schneller sozialer Abstieg). Der Imperialismus zeigte sich
somit als ein Nährboden für Herrenmenschenideologien, die „zur Herrschaft
geborene Nationen“ von „shithole nations“ (Donald Trump) unterscheiden – und
natürlich die ideologische Konstruktion von „Parasiten-Völkern“, die sich in
„gesunde Herrenvölker“ einnisten.

Imperialismus bedeutet
einerseits verschärfte Konkurrenz der Kapitale auf dem Weltmarkt und Kampf der
Großmächte um die Aufteilung der Welt. Andererseits bedeutet er die
Mobilisierungen im Inneren dieser imperialistischen Mächte für diesen Kampf.
Zudem werden Teile der ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen durch die
imperialistischen Extraprofite in bessere soziale Positionen gebracht
(Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie). Soziale Besserstellung von
zumindest einem Teil der „eigenen“ ArbeiterInnen führt auch zu Einschränkungen
der Arbeitsmarktmigration (die bis dahin in Europa noch stark unreglementiert
war) und zum Eindringen kleinbürgerlicher Kultur und nationalistischer
Ideologie in gewisse ArbeiterInnenschichten. Mit dem Imperialismus wächst also
das Potential an chauvinistischer Mobilisierungsfähigkeit des jeweiligen
nationalen Kapitals für seine Weltmachtansprüche.

Daher erzeugt der Imperialismus
die Notwendigkeit und auch die Möglichkeit, den Rassismus nach außen und innen
zu verschärfen. Die chauvinistischen Mobilisierungen zu Gunsten der „eigenen“
Besitzansprüche verbinden sich mit Begründungen über die Minderwertigkeit von
Völkern, gegen die vorgegangen werden müsse. Der Imperialismus verkauft sich
als „Volksgemeinschaft“, die um ihren „Platz an der Sonne“ oder ihren „Lebensraum“
zu kämpfen habe, und dass man, wenn man diesen Kampf nicht führt, als „Rasse“
zum Untergang verurteilt sei. Die Terminologie mag sich geändert haben, denn
heute spricht man lieber vom „Zusammenstoß der Kulturen“ und der Notwendigkeit,
unsere „Lebensweise“ zu verteidigen, aber das Prinzip der ideologischen
Verschleierung der eigentlichen imperialistischen Ziele hinter strukturell
weiterhin rassistischen Pseudobegründungen ist dasselbe.

Der Imperialismus schafft nun
die kapitalistischen Krisen, die in den Grundwidersprüchen des Kapitals
angelegt sind, keineswegs ab – im Gegenteil: Er verschärft die Heftigkeit der
Krisen, die insbesondere das Kleinbürgertum immer wieder in seiner Existenz
bedrohen und auch die scheinbaren Sicherheiten der bessergestellten Teile der
ArbeiterInnenklasse wieder zerstören. Auch dann ist die Ablenkung der folgenden
Massenverzweiflung auf die angeblich dem ganzen Volk gemeinsamen FeindInnen im
Äußeren und Inneren für das Kapital wesentlich. Der Rassismus ist dabei eine nützliche
Waffe. Für das Kleinbürgertum ist schon seit Beginn der Neuzeit das Judentum
bei jeder Krise ein Hauptverdächtiger. In der Epoche des Imperialismus, in der
Finanz- und Industriekapital zusammenwachsen, werden diese altbekannten
FeindInnen nunmehr zum „Finanzjudentum“. Schon lange hatte das Kleinbürgertum
ideologisch zwischen dem guten, gerechten Tausch der „kleinen Betriebe“ und den
bösen Aspekten der großen Industrie und Geldwirtschaft unterschieden (siehe
z. B. bei Proudhon). Nunmehr verfestigte sich der
pseudo-antikapitalistische Antisemitismus immer mehr zu einer Abspaltung des
bösartigen, „jüdischen Finanzkapitals“ von einer an sich produktiven und dem
Volk wohlgesinnten nationalen Industrie. Bei den Nazis heißt das dann: das
„raffende jüdische Kapital“ gegenüber dem „schaffenden deutschen Kapital“
(117). Nachdem andererseits sozialistische Organisationen für viele Juden und
Jüdinnen zur politischen Heimat geworden waren und sich diese Organisationen
auch mehr oder weniger gegen die „nationalen“ Agitationen wandten, war klar,
dass die bürgerliche Ideologie den ganz großen Feind am Werk sah: die jüdische
Weltverschwörung durch Finanzkapital auf der einen Seite, internationalistische
SozialistInnen auf der anderen Seite, ergänzt durch die die „Volkskultur“
zersetzenden jüdischen Intellektuellen in Kunst, Wissenschaft und Presse.

Diese Tendenz zur Verschmelzung der „feindlichen Rassen“ in einen zusammengefassten Feind hat eine zwingende Logik, wie Abraham Léon bemerkte: „Ebenso wie es nötig ist, die verschiedenen Klassen in einer Rasse aufgehen zu lassen, muss diese Rasse auch einen gemeinsamen Feind haben: den internationalen Juden. Der Rassenmythos ist konsequenterweise von einem Gegenmythos begleitet: dem der Antirasse, des Juden. Die Rassengemeinschaft baut auf dem Hass gegen die Juden auf“ (118).

Dies ist ein entscheidender
Punkt. Die Verschärfung des Rassismus im Imperialismus bedingt, dass der
Antisemitismus tatsächlich eine neue Qualität bekommt: die Zuspitzung des
Rassismus in der Konstruktion einer Rasse, die angeblich alle anderen Rassen
als eine Art Antirasse bedroht. Natürlich können auch andere „Rassen“ wie
z. B. heute in vielen Teilen Europas „die MuslimInnen“ als Antithese zur
Evozierung der „Volksgemeinschaft“ dienen, die sich zur Verteidigung des
Abendlandes zusammenzuschließen habe. Aber hier ist der reale Gehalt der
angeblichen ökonomischen Bedrohung (Untergrabung des „Sozialstaates“ durch die
Kosten der Migration und Sicherheitsmaßnahmen) nicht von derselben Tragweite.
Beim Antisemitismus geht es um einen Protest, der einen „bösen“ Teil des
globalen Kapitalismus im Verbund mit deren angeblichen Hilfskräften in Politik
und Gesellschaft absprengen will. Er bedeutet die Schaffung einer zu
eliminatorischen Aktionen bereiten rassistischen Volksgemeinschaft (oder
„Rassegemeinschaft“, wie Léon es nennt). Er mobilisiert zum scheinbaren
Aufstand gegen das jüdische Kapital, um dies zu benutzen, die eigentlichen
GegnerInnen des Kapitals zu eliminieren – und um letztlich in Kauf zu nehmen,
dass der irrationale Pogromismus gegen die Juden und Jüdinnen aller Klassen
unkontrollierbar wird. Was auch immer die bürgerlichen Kreise, die die Nazis
1933 an die Macht brachten (mit dem Zweck der Zerschlagung von
ArbeiterInnenbewegung und parlamentarischer Demokratie) von deren
Antisemitismus hielten – ihnen musste bewusst gewesen sein, wie viele Elemente
von Adel, Bourgeoisie, Beamtenschaft, Militärs, KleinbürgerInnen etc. zur
tatsächlichen „Endlösung der Juden-/Jüdinnenfrage“ bereit waren. Der
militärisch-industrielle Apparat, der zur millionenfachen industriellen
Massentötung von 6 Millionen Juden und Jüdinnen eingesetzt wurde, war
allerdings in seiner Dimension kaum vorstellbar. Die Shoa ist sicher die
grauenvollste Ausprägung der Monstrositäten des Imperialismus.

Dass neben dem „jüdischen Kapital“ auch der internationale Sozialismus und viele Aspekte der kulturellen Moderne in dieses System der Antirasse gebracht werden, hat noch einen weiteren Aspekt. Sigmund Freud hat dies in den 1930er Jahren in seinen Analysen zum Antisemitismus (119) als verallgemeinerten Hass auf den Fortschritt bezeichnet. Der „jüdische Geist“ werde mit der Infragestellung von Traditionen und überkommenen Lebensweisen identifiziert, der alles mit abstrakten Prinzipien und einem universalistischen Gerechtigkeitsbegriff auf den Prüfstand setze. Selbstinfragestellung, Triebverzicht und geforderte Ich-Stärkung des Modernisierungsprozesses würden zu Abwehrreaktionen mit großem Aggressionspotential führen. Im Wesentlichen nimmt Adorno dies in der „Dialektik der Aufklärung“ wieder auf, wenn er den Antisemitismus als tief verwurzelt im modernen Zivilisationsprozess ansieht, als Leiden an „der mit Herrschaft verknüpften Rationalität“ (120). Wieder wird „der Jude/die Jüdin“ zur Verkörperung der sehr allgemeinen und komplexen kulturellen Widersprüche des neuzeitlichen Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses. Am deutlichsten wird diese „Kehrseite“ der modernen Rationalität im Judentum verkörpert bei Friedrich Nietzsche, der „den Juden und Jüdinnen“ den „Sklavenaufstand der Moral“ vorwarf (121). Das von den Zwängen und Einengungen der rationalisierenden Institutionen befreite Individuum (für das Nietzsche bei vielen Postmodernen heute so geschätzt wird) war dann damit der „vom Judentum befreite“ Herrenmensch (122).

6.6 Trotzki zu Antisemitismus,
Imperialismus und Perspektive des Judentums

Lew Bronstein, genannt Trotzki, war Kind von jüdischen Mittelbauern/-bäuerinnen in der Ukraine. Sein Vater hatte die Möglichkeit ergriffen, im jüdischen Ansiedlungsrayon in der Nähe von Odessa Land zu pachten, und hatte seinen Betrieb systematisch ausgedehnt. Trotz der Restriktionen, die nur 10 % der Juden und Jüdinnen zu höheren Schulen zuließen, konnte Trotzki sich den Weg bis zum Studium durchkämpfen. Er hatte also schon sehr früh mit den praktischen Folgen des Antisemitismus im Zarenreich Erfahrungen gemacht und war sich zeitlebens (wie er in späteren Schriften deutlich machte) der Wirksamkeit des Antisemitismus (nicht nur) in der russischen Gesellschaft bewusst. Er ging jedoch seit seinen ersten politischen Aktivitäten voll und ganz in der russischen und internationalen ArbeiterInnenbewegung auf und war nie auf den Gedanken gekommen, sich gesondert, in einer jüdischen Organisation wie dem „Bund“, zu betätigen. In einer Schrift aus dem Jahr 1937 sagt er: „Während meiner Jugend tendierte ich zu der Prognose, dass die Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Ländern mehr und mehr dort assimiliert würden und so die ‚jüdische Frage‘ praktisch automatisch verschwinden würde“ (123). Dies waren im Grunde die Auffassung der ArbeiterInnenbewegung zu Beginn des Jahrhunderts und auch die der meisten säkularen Juden und Jüdinnen. Dabei macht Trotzki klar, dass er diese „Assimilations“-Perspektive nie als einen Zwang zur Aufgabe einer Identität gesehen habe. In Bezug auf ein geplantes Ansiedlungsgebiet für Juden und Jüdinnen in der Sowjetunion (Birobidschan) bemerkte Trotzki, dass es in einer sozialistischen Gesellschaft weder einen Zwang zur Ansiedlung in einem bestimmten Gebiet noch einen Zwang zur Assimilierung geben dürfe, zwischen denen man zu wählen habe: „Ist es nicht korrekt zu sagen, dass eine sozialistische Weltföderation die Möglichkeit eines ‚Birobidschan‘ für diejenigen Juden und Jüdinnen schaffen würde, die sich in einer autonomen Republik als einer Arena für ihre eigene Kultur organisieren wollen? Es muss vorausgesetzt werden, dass die sozialistische Demokratie keine Zwangsassimilation zulässt“ (124).

In Bezug auf die Assimilationsprognose bemerkte Trotzki 1937, dass er seinen ursprünglichen Optimismus wie viele andere habe aufgeben müssen: „Die historische Erfahrung des letzten Vierteljahrhunderts hat diese Perspektive nicht bestätigt. Der niedergehende Kapitalismus hat überall einen wild gewordenen Nationalismus hervorgebracht, von dem ein Element der Antisemitismus ist. Die jüdische Frage wurde extrem gerade in einem der entwickeltsten Länder, in Deutschland, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Andererseits haben sich die Juden und Jüdinnen in verschiedenen Ländern stärker zusammengeschlossen, haben ihre eigene Presse, ihre eigene Literatur in jiddischer Sprache befestigt. Man muss daher anerkennen, dass die jüdische Nation sich für längere Zeit als eigenständig darstellen wird“ (125).

6.6.1 Trotzki über den eliminatorischen
Antisemitismus

Früher als viele andere
KommunistInnen erkannte Trotzki die extreme Gefahr, die von den Nazis ausging,
speziell auch für Juden und Jüdinnen. In den 1920er Jahren wurde er mit seinen
Mahnungen noch als Schwarzseher und Phantast verurteilt – inzwischen haben sich
seine Prognosen längst als überaus weitsichtig erwiesen. Trotzki ging nicht
davon aus, dass es sich beim Faschismus einfach um eine besondere Form der
Diktatur des Monopolkapitals handle. Er erkannte, dass Faschismus wesentlich
auf einer anti-modernistischen Massenmobilisierung beruht, die sehr aggressive
reaktionäre Momente weckt, die dann mit der Machtergreifung auch zu ständigem
Terror benutzt werden, also nicht einfach nur ein Mittel zur Errichtung einer
sonst wieder ganz „normalen“ Diktatur sind.

Im „Portrait des Nationalsozialismus“ analysiert Trotzki 1934 die Grundzüge der Nazi-Ideologie als Ausdruck eines durch die krisenhafte Entwicklung der Gegenwart verzweifelten Kleinbürgertums. Die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten suchten nach einer höheren „Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen Konkurrenz, Inflation, Krise und Zwangsversteigerung“ (126). Der grausamen Realität werde „der nationale Idealismus als Quelle des Heldischen entgegengestellt“ (127). In der post-religiösen Welt habe der Nationalsozialismus dieses „Höhere“ in der Rassenideologie gefunden: „Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen Bedingungen konstruiert“ (128). Praktisch führe dies zu einer besonders aggressiven Form des Chauvinismus, einer extremen Ausgrenzungspolitik gegenüber allen als „nicht-germanisch“ Eingestuften und einer Todfeindschaft gegenüber allen Feinden von „Rassenpolitik“, also vor allem gegenüber Liberalen und SozialistInnen.

Diese rückständige Ideologie finde ihren Rückhalt in verzweifelten Teilen der Gesellschaft, da die kapitalistische Entwicklung auch nur bedingt zu einer entsprechenden geistig-sozialen Höherentwicklung geführt habe: „Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne aufzuhören, an die magische Kraft von Geistern und Beschwörungen zu glauben (…). Was für unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden müsste, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei“ (129).

Diese „unverdaute Barbarei“, dieses „Kulturexkrement“, einmal an die Macht gekommen, etabliert natürlich nicht die Herrschaft des Kleinbürgertums. Wirtschaftspolitisch unterscheidet sich der Faschismus nicht sonderlich von anderen kapitalistischen Krisenregimen – jedenfalls bleibt das Privateigentum an den Produktionsmitteln weitestgehend unangetastet. Die chauvinistisch-rassistischen Elemente der kleinbürgerlichen Massenmobilisierung werden dagegen innen- wie außenpolitisch weiterhin genutzt. Wirtschaftspolitisch trifft es natürlich auch Teile der jüdischen Besitzenden, die aber nur einen verschwindend kleinen Anteil am gesamten Kapital ausmachten. Seine wirtschaftspolitisch ohnmächtigen Handlungen muss der Faschismus durch umso heftigere antisemitische Aktionen verbergen, gepaart mit der Ideologie vom produktiven „deutschen“ Kapital, das vom „raffenden“ jüdischen befreit werden müsse. „Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat“ (130).

Einmal an die Macht gekommen, würden die kleinbürgerlichen Illusionen, die „unverdaute Barbarei“, nicht einfach abgeschafft, sondern „von der Wirklichkeit abgetrennt und in Ritualhandlungen aufgelöst“ (131). Das Pogrom wird aus seiner mittelalterlichen Gestalt auf die Ebene der bürokratisch organisierten Aktion moderner Massenorganisationen gehoben. Im Kern jedoch erhebe sich der Faschismus „über die Nationen als reinste Verkörperung des Imperialismus… Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus … bedeutet die Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung von Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum Abtreten bewegen. Man kann ihn nur stürzen. Der politische Weg der Naziherrschaft führt zur Alternative Krieg oder Revolution“ (132).

Als die Alternative „Krieg“ immer klarer wurde, schrieb Trotzki 1938, wiederum als ungehörter „Prophet“: „Die Zahl der Länder, die Juden vertreiben, wächst ohne Unterlass. Diejenigen, die Juden aufnehmen, werden immer weniger. Dagegen wird die Verfolgung immer heftiger. Es ist ohne Schwierigkeit möglich, sich vorzustellen, was die Juden schon bei einem Ausbruch eines neuerlichen Weltkrieges erwartet. Aber auch ohne Krieg wird die nächste Entwicklung der weltweiten Reaktion zur physischen Ausrottung der Juden führen“ (133).

6.6.2 Kein Platz für jüdische
Flüchtlinge?

Gleichzeitig warnte Trotzki vor Illusionen in den „demokratischen Imperialismus“. Die Krisenregime in den USA, in Frankreich und Britannien hatten ihrerseits viele Elemente des Faschismus aufgenommen – nicht nur, was rassistische Kolonialpolitik, mörderischen Antikommunismus, autoritäre Politik betraf, sondern auch die Beförderung eines wachsenden Antisemitismus. Besonders drückte sich Letzteres in einer immer restriktiveren Abschottung gegenüber jüdischen Flüchtlingen aus: „Die Frage, hundert zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen, wird zu einem ‚Hauptproblem‘ für eine derartige Weltmacht wie die USA. In einer Ära der Luftfahrt, des Telefons, des Radios und des Fernsehens wird die Reise von einem Land in ein anderes durch Pässe und Visa gelähmt. Die Periode des Nachlassens des Welthandels … ist gleichzeitig eine Periode der enormen Steigerung von Chauvinismus und Antisemitismus. In der Epoche seines Aufstiegs holte der Kapitalismus die Juden aus dem Ghetto und benutzte sie als Instrumente seiner Handelsexpansion. Heute bemüht sich die niedergehende kapitalistische Gesellschaft, die Juden bis zum letzten Tropfen auszupressen; 12 Millionen Menschen von den rund 2 Milliarden, die die Erde bevölkern, d. h. weniger als 1 %, können heute keinen Platz mehr auf unserem Planeten finden! Inmitten der Ausdehnung nutzbaren Landes und der Wundertaten der Technik … hat es die Bourgeoisie fertiggebracht, unseren Planeten in ein ekelerregendes Gefängnis zu verwandeln“ (134). Mit der Tendenz zu Rassismus, Verfolgung, Krieg und den so produzierten Migrationswellen bringt der Imperialismus zugleich die Tendenz zu repressiven Grenzregimen und Konzentrationslagern hervor.

Dass die „demokratischen ImperialistInnen“ auch nach 1945 trotz der Erkenntnisse, die aus der Befreiung der KZs hätten gezogen werden können, weiterhin durch Antisemitismus geprägt waren, zeigt eine Episode, die Isaac Deutscher über die alliierte Militärverwaltung in Deutschland 1946 berichtete. Der britische Stellvertreter Eisenhowers, Generalleutnant Frederick Edgeworth Morgan, erklärte in einem Economist-Interview, es „drohe“ ein „Exodus“ von Juden und Jüdinnen aus Polen. Diese hätten „die Taschen voller Geld“. Sie würden alle „unglaubhafte“ Geschichten von Verfolgung und Gewalttaten berichten. Er vermute eine Organisation dahinter, die das alles finanziere. „Er glaube, dass eine ‚Weltorganisation der Juden im Entstehen‘ sei, die einen ‚ausgearbeiteten Plan für einen zweiten Exodus‘ hätten“ (135). Neben dem Entsetzen über einen solchen Ausbruch antisemitischer Stereotype an der Spitze der alliierten Administration (Morgan war auch noch für die Organisation der Flüchtlingsfrage verantwortlich) fragte Deutscher: „Was hat die zivilisierte Welt den Überlebenden von Bergen-Belsen, von Auschwitz, Dachau und Majdanek zu bieten? … Ist es denkbar, dass die großen demokratischen Nationen dieser Welt so hilflos geworden sind, dass sie den Juden nirgendwo auf dem Erdball einen Streifen Land anbieten können, oder einige hunderttausend Visa, um in ihre Länder einreisen zu können? Oder sind sie etwa so arm geworden, dass sie keine Geste der Barmherzigkeit mehr übrig haben für die elendsten Hinterbliebenen und Opfer dieses Krieges – die Überreste eines außergewöhnlichen, eines unglücklichen, aber nicht völlig unbedeutenden Volkes?“ (136).

6.6.3 Perspektive des jüdischen
Volkes nach der Shoa?

Diese Frage nach der Perspektive des jüdischen Volkes gerade unter den absehbaren Bedingungen der enormen Verfolgungen, die der moderne Antisemitismus in der Krise des Imperialismus hervorbringen würde, stellte auch Trotzki schon in den 1930er Jahren. Nachdem er, wie oben schon zitiert, die „Assimilations-Perspektive“ der alten ArbeiterInnenbewegung für inzwischen illusorisch erklärt hatte, hielt er zugleich weiterhin daran fest, dass eine fortschrittliche Lösung der Frage der jüdischen Nation nur im Rahmen einer globalen sozialistischen Perspektive möglich sei: „Ich weiß nicht, ob sich das Judentum je wieder als eigenständige Nation etablieren kann. Jedoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die materiellen Bedingungen für eine eigenständige jüdische Nation nur durch die proletarische Revolution hervorgebracht werden können. Es gibt auf unserem Planeten nichts, was den Anspruch einer Nation auf irgendein bestimmtes Territorium rechtfertigen würde“ (137).

Von diesem Prinzip ausgehend, beurteilte Trotzki sowohl die Massenmigration nach Palästina kritisch als auch den Versuch der UdSSR, eine autonome jüdische Region Birobidschan zu bilden. In Palästina würde die Massenmigration entweder mit Unterstützung des britischen Imperialismus durchzuführen sein oder im Widerstand gegen ihn. Und gerade als die antisemitische Verfolgung am schärfsten in Europa wütete, war das britische Einreiseregime nach Palästina am restriktivsten. Außerdem war auch Trotzki schon klar, dass ein jüdisch-arabischer Ausgleich unter den Bedingungen des britischen Mandats sehr schwierig sein würde. Er erkannte, dass in den arabischen Aufständen der 1930er Jahre berechtigter antikolonialer Widerstand mit „reaktionärem Islamismus und antisemitischem Pogromismus“ verbunden war (138). „Die Etablierung eines jüdischen Territoriums in Palästina oder irgendeinem anderen Land auf der Welt ist unvorstellbar ohne eine Einwanderung von großen Menschenmassen. Nur ein siegreicher Sozialismus könnte eine solche Aufgabe erfolgreich lösen. Dies müsste entweder auf der Grundlage einer gegenseitigen Verständigung erfolgen oder würde eine Art von internationalem proletarischem Tribunal erfordern, das die Frage aufnimmt und löst“ (139).

Tatsächlich führten die
Einwanderungsbeschränkungen in die USA (Immigration Act von 1924), ähnliche
Einschränkungen auf der ganzen Welt in den folgenden Jahren und der zunehmende
Antisemitismus in den 1930er Jahren dazu, dass die bis dahin geringen Zahlen
der zionistisch organisierten „Alija“ (der „Rückkehr“ in das gelobte Land)
stark in die Höhe schnellten: Die fünfte Alija von 1930 bis 1939 verdoppelte
die jüdische Einwohnerzahl in Palästina auf fast eine halbe Million. Danach
wurde die Einwanderung illegal als „Alija Bet“ (Ha’apala) weiterorganisiert,
was bis zur Staatsgründung Israels weitgehend über Untergrundorganisationen und
in starker Konfrontation mit den britischen Behörden geschah. Wie schon gesagt,
beinhaltete dies auch die Auseinandersetzung mit dem antijüdisch eingestellten
alliierten Besatzungsregime in Europa (sowohl im Westen als auch in den von der
Roten Armee besetzten Gebieten Osteuropas). Anders, als es Trotzki
vorhergesehen hatte, war trotz aller Widrigkeiten eine Massenmigration nach
Palästina erfolgt, die mit 650.000 Juden und Jüdinnen ein Ausmaß erreichte, das
für eine Staatsgründung reichte. Die politische Führung (insbesondere nach den
Unabhängigkeitskämpfen und der Einwanderungsorganisation) lag in den Händen des
aus der Poale Zion hervorgegangenen linken Awoda-Zionismus. Dieser mag durchaus
eine sozialistische Perspektive für das künftige Israel in seinen offiziellen
Erklärungen vertreten haben. Anders als die, in Palästina marginalen,
VertreterInnen des jüdischen Bundes trat er jedoch nicht für einen
jüdisch-arabischen Ausgleich ein, sondern für einen rein jüdischen Staat.

Insofern bleibt Trotzkis Einschätzung richtig, dass die berechtigte Perspektive einer Massenflucht nach Palästina nur dann zu einer fortschrittlichen Lösung der Frage der jüdischen Nation geführt hätte, wenn sie mit der Frage eines jüdisch-arabischen Ausgleichs verbunden worden wäre. Isaac Deutscher hat das Problem des Fehlens einer solchen Perspektive mit folgender Parabel veranschaulicht: „Einmal sprang ein Mann aus dem obersten Stock eines brennenden Hauses, in dem bereits viele seiner Familienangehörigen umgekommen waren. Er konnte sein Leben retten, aber im Herunterfallen schlug er auf jemanden auf, der unten stand, und brach diesem Mann Arme und Beine. Der Mann, der sprang, hatte keine Wahl, aber für den Mann mit gebrochenen Gliedern war er die Ursache seines Unglücks. Wenn sich beide rational verhielten, würden sie keine Feinde werden. Der Mann, der aus dem brennenden Haus entkam, würde, sobald er sich erholt hätte, versuchen, dem anderen Betroffenen zu helfen und ihn zu trösten; und jener hätte vielleicht eingesehen, dass er das Opfer von Umständen geworden war, die keiner von beiden unter Kontrolle hatte“ (140).

In Übertragung auf den Gründungsprozess Israels hätten jedoch die gerade dem Inferno Entkommenen keinen Gedanken an einen Ausgleich mit den PalästinenserInnen verschwendet. „Israel hat die Berechtigung für den Groll der Araber niemals anerkannt. Von allem Anfang an hat der Zionismus auf die Schaffung eines rein jüdischen Staates hingearbeitet und war froh, die arabischen Bewohner des Landes loszuwerden. Keine israelische Regierung hat sich je ernsthaft bemüht, das Übel aus der Welt zu schaffen oder zu mildern. Sie lehnten es sogar ab, das Schicksal der riesigen Flüchtlingsmassen in ihre Überlegungen einzubeziehen, solange die arabischen Staaten Israel nicht anerkannten, d. h., solange die Araber sich nicht politisch ergaben“ (141).

Die „jüdische Frage“ hat sich
seit 1948 sicherlich gewandelt. Heute gibt es einen Territorialstaat, in dem
eine jüdische Nation besteht. Dieser Nationalstaat hat jedoch einige Besonderheiten,
die aus der Art seiner Entstehung folgen. Aus einem Fluchtpunkt vor dem
weltweiten Antisemitismus wurde Israel zu einem Kolonialprojekt – und dies
ausgerechnet am Beginn einer Periode der (scheinbaren) Entkolonialisierung.
Nach einer Phase der Auseinandersetzung mit der in Palästina herrschenden
Kolonialmacht folgte ein Arrangement mit den alten europäischen und später mit
dem neu eingreifenden US-Imperialismus. Der entstandene jüdische Nationalstaat
beruht von Beginn an auf der Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung der Region
und einer extremen Militarisierung mit imperialistischer Unterstützung. Weder
von der Politik noch von der ökonomischen Potenz her kann Israel die jüdische
Diaspora als Ganzes aufnehmen, für diese sprechen oder gar als deren „Heimat“
angesehen werden. Israel und „das Judentum“ können deshalb weiterhin nicht in
eins gesetzt werden, auch wenn die „Diaspora“ und Israel eine komplexe
Beziehung haben.

Es ist unbestreitbar, dass es
heute eine zahlenmäßig bedeutsame jüdische Nation in Palästina gibt und als
solche auch in ihrer Existenz dort von SozialistInnen anerkannt werden muss –
ebenso wie die palästinensische. Irgendwelche historischen oder mythologischen
Ansprüche auf „unser Land“ haben für SozialistInnen keine Geltung. Die Frage
ist vielmehr, wie beide Nationalitäten in Palästina zu einem gleichberechtigten
und friedlichen Zusammenleben finden können. Wir gehen dabei wie Trotzki in den
1930er Jahren davon aus, dass dies nur in einer sozialistischen Perspektive
möglich sein wird, die die Klassenfrage vor die nationale Frage stellt und auf
diese Weise einen sozialistischen, binationalen Staat ermöglichen würde.
Gegenwärtig jedoch ist der bestehende Staat Israel durch rassistische
Ausgrenzung und Besatzung großer, von PalästinenserInnen bewohnter Gebiete
geprägt. Der Widerstand der PalästinenserInnen ist hiermit ein berechtigter
Kampf gegen die Unterdrückung nationaler Selbstbestimmung. Die Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechts der jüdischen Nation in Palästina ist damit nicht gleichbedeutend
mit der Anerkennung Israels als „jüdischer Staat“, weil damit in seinem Kern
das nationale Selbstbestimmungsrecht anderer dort lebender Nationalitäten
negiert wird genauso wie ein unberechtigter Vertretungsanspruch für alle
weltweit lebenden Juden und Jüdinnen damit verbunden ist. Ebenfalls haben
SozialistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das „Königreich Polen und
Litauen“ nicht anerkannt und es bekämpft, weil es das Konstrukt des russischen
Imperialismus war, das die Selbstbestimmung osteuropäischer Völker,
insbesondere der PolInnen, wesentlich unterdrückt hat. Sie haben stattdessen
für die Überwindung dieses politischen Konstrukts durch eine sozialistische
Föderation der betroffenen Nationen gekämpft.

6.7 Oktoberrevolution,
Stalinismus und der Mythos vom „linken Antisemitismus“

6.7.1 Perspektive der
Weltrevolution als Überwindung des Antisemitismus

Der Sieg des Faschismus und das
mörderische Wirken des eliminatorischen Antisemitismus waren in keiner Weise
notwendig und unvermeidlich. Das lässt sich nur durch die zumindest auf
globaler Ebene ausbleibende sozialistische Antwort auf die Menschheitskrise
namens Imperialismus verstehen. Die sozialistischen Mehrheitsparteien wurden
durch die Verbürgerlichung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in den
imperialistischen Ländern und die Integration ihrer bürokratischen Apparate in
Staat und Wirtschaft letztlich zu sozialchauvinistischen Bestandteilen des
bürgerlichen Systems. Mit ihrer Kapitulation zu Beginn des Ersten Weltkriegs
gingen die sozialistischen Mehrheitsparteien praktisch in das Lager der
Konterrevolution über, um diese Rolle dann am Ende des Krieges, während der
revolutionären „roten Welle“, konkret auszufüllen. Doch mit der Abspaltung der
kommunistischen Parteien und der siegreichen Oktoberrevolution war eine
revolutionäre Alternative entstanden, die in der notwendigen Radikalität dem
imperialistischen Weltsystem die sozialistische Weltrevolution als Strategie
entgegensetzte. Auch für viele Juden und Jüdinnen war die Perspektive der Weltrevolution
mit der Hoffnung auf die Überwindung von Diskriminierung und antisemitischer
Verfolgung verbunden, doch der jüdische „Bund“ beteiligte sich an dem Regime
der Februarrevolution und glitt mehrheitlich mit den Menschewiki in das Lager
der SozialchauvinistInnen ab. In der Folge spaltete sich die Linke des Bundes
ab und unterstützte die Bolschewiki in der Oktoberrevolution und im
Bürgerkrieg. Der „Kommunistische Bund“ blieb bis Anfang der 1920er Jahre als
eigenständige, aber mit der KPR(B) verbundene, Organisation bestehen.

In der frühen Sowjetunion
wurden, entsprechend der Lenin’schen Nationalitätenpolitik, verschiedenste
Maßnahmen zur Selbstbestimmung der jüdischen Menschen ergriffen. Dies betrifft
nicht nur die Einführung des Jiddischen als Unterrichtssprache in Schulen ab
einem bestimmten Anteil jüdischer SchülerInnen und die Förderung jiddischer
Literatur, eines jüdischen Nationaltheaters und drei überregionaler Zeitungen.
Es betrifft vor allem die Abschaffung aller diskriminierenden Beschränkungen für
Juden und Jüdinnen in der traditionellen russischen Gesetzgebung sowie die
Verwendung des Jiddischen als Amtssprache, wo notwendig. Zur Durchführung
dieser Maßnahmen wurden auch jüdische MinderheitenvertreterInnen in die
entsprechenden Sowjetorgane delegiert. In der Kommunistischen Partei wurde 1918
eine jüdische Sektion, die Jewsekzija, gegründet. Der jüdische „Kommunistische
Bund“ integrierte sich 1921 in die Jewsekzija, während „Bund“ und Poale Zion
bis 1926 legal weiterbestehen konnten. Es wurde zwar wie gegen alle religiösen
und nationalistischen Strömungen (vor allem die Russisch-Orthodoxe Kirche) auch
gegen das Rabbinat vorgegangen und das Hebräische im öffentlichen Gebrauch
verboten, jedoch wurde mit dem Nationaltheater „Habimah“ (Die Bühne) das erste
bedeutende jüdische Theater in hebräischer Sprache geschaffen. Dieses Theater
migrierte 1928 nach Palästina und wurde der Kern des heutigen israelischen
Nationaltheaters.

6.7.2 Die Degeneration von
Sowjetunion und KomIntern und die Folgen

Die Niederlagen der
revolutionären Welle des europäischen Proletariats nach dem Ersten Weltkrieg,
die Isolierung der Sowjetunion, deren bürokratische Degeneration und die
folgende Gleichschaltung und der Niedergang der KomIntern bildeten
entscheidende Voraussetzungen dafür, dass Faschismus und eliminatorischer
Antisemitismus in Europa den Siegeszug antreten konnten.

Schon 1919 standen die
KomIntern und die neu gegründeten kommunistischen Parteien vor der Aufgabe, aus
den Niederlagen politische Lehren zu ziehen – auch hinsichtlich des Auftauchens
neuer militanter Formen der extremen Gegenrevolution, des Faschismus.
Angesichts der Neuartigkeit dieser Form der Konterrevolution verwundert es
nicht, dass die wichtigsten Charakteristika von Faschismus und
Nationalsozialismus als reaktionär-kleinbürgerliche und „kämpferische“
Massenbewegungen nicht oder nur unzureichend erkannt wurden. So wurden darunter
oft und geradezu inflationär einfach Formen extremer Repression der
(halb)bonapartistischen Diktatur verstanden, im Extremfall wurden bereits frühe
Versionen der „Sozialfaschismustheorie“ vertreten. Damit einher ging somit auch
immer wieder eine Unterschätzung und Verkennung der Bedeutung des
Antisemitismus als ideologisches, völkisch-nationalistisches Bindungsmoment,
vor allem im Nationalsozialismus.

In ihrer Frühphase betrachtete
die KPD den Antisemitismus und völkischen Nationalismus zweifellos als eine
bedeutende Gefahr. Nicht zuletzt waren wichtige KPD-FührerInnen, z. B.
Luxemburg, dann Leviné (der Führer in der Münchner Räterepublik), selbst
prominente Ziele antisemitischer Hetze und Verschwörungstheorien. Zu Recht
verurteilte die KPD nicht nur Anschläge der Rechten und die Hetze gegen die KPD
und die ArbeiterInnenbewegung, sondern brandmarkte auch den reaktionären
Charakter antisemitischer Angriffe gegen jüdische Intellektuelle und
Bürgerliche, darunter auch die Ermordung Walter Rathenaus.

Die Analyse des Antisemitismus,
und erst recht des Faschismus, blieb jedoch unzureichend. Dies musste
notwendigerweise nicht nur mit einer Unterschätzung der faschistischen Gefahr
einhergehen, sondern konnte unter veränderten politischen Konstellationen auch
zu einer opportunistischen Anpassung an die nationalistische Rechte oder den
Antisemitismus führen. Die Ruhr-Besetzung 1923 ging in der KPD und in der
KomIntern mit einer Anpassung an nationalistische Stimmungen einher, weil die
nationale Frage nicht den Rechten überlassen werden sollte.

Einen ersten Höhepunkt stellten
die Schlageter-Rede Radeks und die folgende Eröffnung von (nur kurze Zeit
andauernden) Diskussionen mit VertreterInnen der „nationalistisch-völkischen“
Opposition dar. Diese Abenteuer verwirrten jedoch nicht die Rechten, sondern
die eigenen AnhägerInnen, erschwerten zugleich die Gewinnung
sozialdemokratischer ArbeiterInnen und rechtfertigten im schlimmsten Falle den
Antisemitismus.

Eine extreme Anpassung diesbezüglich finden wir in der Rede Ruth Fischers an der Humboldt-Universität am 25. Juli 1923 vor kommunistischen StudentInnen, zu der auch deren völkische KommilitonInnen eingeladen waren. Dort heißt es: „Das deutsche Reich (…) kann nur gerettet werden, wenn Sie, meine Herren von der deutschen völkischen Seite, erkennen, daß sie gemeinsam mit den Massen kämpfen müssen, die in der KPD organisiert sind.“ (142)

Und weiter: „Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner…“ (143)

Diese abstoßenden politischen
Abenteuer stießen jedoch auch auf offene Kritik – z. B. durch Zektin –,
wobei diese Kritik eng mit den Auseinandersetzungen um die sogenannte
Offensivtheorie, die nationale Frage und die Einheitsfrontpolitik verbunden
war. Entscheidend ist jedoch, dass hier der Antisemitismus nur noch als
verwerflich gilt, wenn er sich gegen die jüdischen ArbeiterInnen richtet. Die
Hetze gegen jüdische KapitalistInnen wurde hingegen von der KDP schon recht
früh verharmlost.

Nach 1925 und dem Sturz von
Fischer/Maslow verschwinden laut Kessler die antisemitischen Ausfälle
weitgehend aus der KPD-Politik, und sie spielen auch eine weit geringere Rolle
als im Fraktionskampf in der Sowjetunion. Allerdings kommt es mit der Wende zur
ultralinken Politik erneut zu schweren politischen Fehlern und einer
systematischen Verharmlosung des Antisemitismus in der Politik der Nazis.
Dieser wird ökonomistisch als „Trick“ bezeichnet, mit dem der Faschismus das
KleinbürgerInnentum und die ArbeiterInnen täuschen wolle. Seine Hetze gegen das
jüdische Finanzkapital wäre nur Schein, in Wirklichkeit würden sie das gesamte
Kapital – auch die jüdischen UnternehmerInnen – verteidigen.

Bis 1933 vermochte die KPD also
ähnlich wie andere Parteien der KomIntern die Bedeutung des Antisemitismus für
die Politik des Nationalsozialismus nicht zu begreifen. Ihre Position
durchläuft enorme Schwankungen, einschließlich von Phasen der politischen
Anpassung und Verharmlosung.

Allerdings stellten für die
KomIntern und die KPD der nach dem Ersten Weltkrieg aufkommende Faschismus und
die qualitativ gestiegene Bedeutung des Antisemitismus für die Reaktion
zweifellos neue Phänomene dar. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie nicht
„sofort“ richtig verstanden wurden. In diesem Sinne waren Schwankungen
unvermeidlich. Die zunehmende politische Degeneration der Kommunistischen
Internationale und der Sowjetunion verhinderte nicht nur eine Überwindung
dieser Schwächen, sondern verschärfte diese. Erstens erstickte sie die
innerparteiliche Demokratie und damit die offene Diskussion um die theoretische
und politische Klärung. Zweitens ging der Aufstieg der stalinistischen
Bürokratie selbst notwendigerweise mit einer Rehabilitierung des Nationalismus
einher.

Trotzki hat sicher Recht, dass
mit dem Verspielen der deutschen Revolution, der Unfähigkeit, die
Machtergreifung der Nazis zu verhindern, die KomIntern auf dem Weg in das Lager
der Konterrevolution war. Der Stalinismus hatte sich spätestens mit der
Volksfrontstrategie mit dem imperialistischen Weltsystem arrangiert, wenn auch
aufgrund seiner sozialen Basis in ArbeiterInnenstaaten in widersprüchlicher
Weise darin eingegliedert.

Die sogenannte Volksfront war
nicht nur ein strategischer Fehler, durch den der proletarische
Klassenstandpunkt und die revolutionäre Perspektive einer
bürgerlich-demokratischen Zwischenetappe untergeordnet wurden. Die angestrebten
BündnispartnerInnen, vor allem im Kleinbürgertum, wurden auch unkritisch ins
„progressive“ Lager schöngeredet. Statt deren reaktionäre Tendenzen, wie sie
sich im Faschismus klar gezeigt hatten, anzugreifen und sie zum Bruch mit den
kleinbürgerlichen Illusionen zu bringen, wurden umgekehrt kleinbürgerliche
Positionen übernommen, insbesondere was Nationalismus oder „Patriotismus“
betrifft. In der Ideologie der Trennung zwischen „patriotischen, produktiven“
Teilen der bürgerlichen Gesellschaft und „aggressiven Teilen des Monopol- und
Finanzkapitals“ schlug man sogar in dieselbe Kerbe wie die Nazis. Bereits in
der Volksfrontpolitik kam es zu einem völligen Bruch mit der
revolutionär-marxistischen Ablehnung des Nationalismus, indem man angeblich
progressiven Patriotismus vom imperialistischen Chauvinismus unterschied. Den
Gipfelpunkt erreichte diese Wende im Patriotismus der „Vaterlandsverteidigung“
der Sowjetunion, in dem die gesamte russische Geschichte in eine Emanation des
Fortschritts und der Verteidigungsnotwendigkeit gegen fremde AggressorInnen umgedichtet
wurde.

Wie in vielen anderen Fragen
zeigt insbesondere die Haltung zur jüdischen Frage den totalen Bruch des
Stalinismus mit dem revolutionären Marxismus, der in der frühen Sowjetunion
durchaus noch zu sehen war. Wenn heute die Aktivitäten Stalins und seiner
NachfolgerInnen (auch im Westen) dafür verwendet werden, um zu zeigen, dass der
revolutionäre Marxismus immer schon eine antisemitische Seite hatte, ja das
Urmodell des „linken Antisemitismus“ sei, so ist dies eine völlige Verkennung
des Bruchs in der Linken, der mit dem Sieg Stalins in der frühen Sowjetunion
einherging. Die in diesem Artikel dargestellten Positionen Lenins und Trotzkis
zur nationalen Frage und ihre klare Positionierung gegen den Antisemitismus
waren von der Überzeugung bestimmt, dass die sozialistische Revolution ein
internationaler Prozess sei, in dem der proletarische Klassenstandpunkt nur ein
internationalistischer sein könne, der sich von nationalistischen und
antisemitischen Haltungen befreien müsse. Ansonsten könne es sich nicht um
einen sozialistischen Standpunkt handeln, und man werde hinter der Bourgeoisie
hertrotten. Die stalinistische Wende zum „Sozialismus in einem Lande“, zur
Wiederentdeckung von Patriotismus und völkischem Populismus, um die permanente
proletarische Revolution zugunsten patriotischer Blöcke „progressiver“ Klassen
etc. aufzugeben, bedeutete letztlich die Aufgabe des revolutionären
Internationalismus zugunsten einer nationalen Außenpolitik der
„real-sozialistischen“ Staaten. Für die linke Kritik, nicht nur durch die von
Trotzki geführte Linksopposition, an dieser Aufgabe des revolutionären
Internationalismus erfand der Stalinismus bald den Begriff des „wurzellosen
Kosmopolitismus“. Während Stalin und seine BürokratInnen angeblich aus der
„Mitte des russischen Volkes“ kämen (auch wenn Stalin selbst eigentlich
Georgier war), seien die InternationalistInnen abgehobene Intellektuelle – oder
eben Juden und Jüdinnen. Anfänglich schreckte die Bürokratie noch vor direktem
Gebrauch des Antisemitismus zurück und verbarg die AdressatInnen der Angriffe
hinter dem Schönsprech-Begriff „wurzellose KosmopolitInnen“. So wurde dieser
Begriff im „Realsozialismus“ als Kampfbegriff sowohl gegen alles Jüdische als
auch gegen die internationalistische Linke allgemein verbreitet. Wenn heute
Sahra Wagenknecht und andere LinkspopulistInnen gegen „Linksradikale“ und
BefürworterInnen offener Grenzen den Begriff des „Kosmopolitismus“ verwenden,
kann vermutet werden, dass sie mehr oder weniger bewusst an diese Tradition
anknüpfen.

6.7.3 Bürokratie und
Antisemitismus

Trotzki erwähnt in seiner
Schrift „Thermidor und Antisemitismus“ (144), dass bereits in den
Fraktionsauseinandersetzungen 1923–1926 von der Stalin-Fraktion die Karte des
Antisemitismus gespielt worden sei, indem verbreitet wurde, die AnhängerInnen
der Linksopposition wären vor allem Juden und Jüdinnen (was nicht einmal der
Wahrheit entsprach). War dies noch verdeckt geschehen, so wurde nach dem
Wechsel von Sinowjew und Kamenew zur Linksopposition 1926 ganz offen gegen „jüdische
Umtriebe“ agitiert. Als Trotzki Bucharin (damals noch ein zentraler
Unterstützer der Stalin-Fraktion) auf diese Agitation ansprach, versprach
dieser, sie zu unterbinden. Heraus kamen jedoch nur unverbindliche
Distanzierungen vom Antisemitismus (145). Tatsächlich wurden die Ausschlüsse
und Exilierungen der Linksoppositionellen mit Mobilisierungen verbunden, auf
denen Slogans wie „Weg mit den Juden und Jüdinnen, rettet Russland“ die Runde
machten. Als die Bürokratie zu den großen Säuberungen ab 1934 ansetzte, wurde
die entsprechende „Einnordung“ auf die zu eliminierenden „FeindInnen“ schon mal
dadurch vorbereitet, dass alle bisher bekannten Parteinamen von Bolschewiki wie
Trotzki, Sinowjew, Kamenew durch ihre ursprünglich jüdischen Namen ersetzt
wurden. Auch Trotzkis Sohn, Sergei Sedow (im Gegensatz zu seinem älteren Bruder
ein völlig unpolitischer Naturwissenschaftler), der sein Leben lang den
Familiennamen seiner Mutter getragen hatte, wurde plötzlich in der Presse zu
Sergei Bronstein. Man warf ihm in einer Kampagne vor, die sowjetischen
ArbeiterInnen über das Trinkwasser vergiften zu wollen (die antisemitischen
Brunnenvergiftermythen lassen grüßen) und ließ ihn wie viele andere nach den
Schauprozessen 1936 erschießen.

Trotzki erklärte dieses Wiederaufleben des Antisemitismus in der Sowjetunion erstens mit der tief sitzenden antisemitischen Kultur in Russland, die durch die kurzen Jahre des revolutionären Prozesses nach der Oktoberrevolution nur am Beginn der Auflösung stand. Mit der stalinistischen Konterrevolution und der Wiederkehr des „Patriotismus“ kam auch der alte großrussische Chauvinismus in all seinen Facetten erneut zum Vorschein, und dies beinhaltete eben auch den Antisemitismus. Zweitens aber sah Trotzki auch einen soziologischen Grund für eine neue Art des Antisemitismus: Da die Sowjetunion einen hohen Bedarf an Staatsbediensteten hatte und diese überproportional in der jüdischen Stadtbevölkerung fand, gab es in der Sowjetbürokratie einen höheren Anteil an Juden und Jüdinnen. Aufgrund der Mangelwirtschaft der frühen Sowjetunion war „der Hass auf die Bürokratie durch Bauern und Arbeiter ein fundamentaler Zug des Sowjetlebens“ (146). Insofern nutzte die Stalin-Fraktion den Antisemitismus einerseits als Ventil für den Unmut mit der Bürokratie – nach dem Motto „die Sowjetbürokratie wäre für euch da, wenn da nicht so viele Juden und Jüdinnen wären“. Andererseits wurden auf diese Weise alle anti-sowjetischen und konterrevolutionären Bestrebungen umgelenkt auf die Stärkung des „großen Führers“; Antisemitismus wurde zum ständigen Mittel innerparteilicher Säuberungen.

Trotzki charakterisiert die
Sowjetbürokratie und ihre Führung, die ihre Privilegien in widersprüchlicher
Weise weiterhin auf der Grundlage nachkapitalistischer Eigentumsverhältnisse
erhielten, als geprägt durch das Gefühl eines ständigen Belagerungszustandes.
Dies wurde neben der allgegenwärtigen Repression auf ideologischer Ebene im
Wesentlichen mit drei Elementen beantwortet: einer dauernden Befeuerung mit
diversen Kampagnen, die den Alltag durchzogen; der Schaffung privilegierter,
arbeiteraristokratischer Schichten, die das Regime trugen; und schließlich
einem unverhohlenen Zurückgreifen auf Nationalismus und andere reaktionäre
Vorurteile, die auch den Antisemitismus einschlossen (147).

So wundert es nicht, dass auch
die Fortschritte, die die Oktoberrevolution für das jüdische Leben gebracht
hatte, unter Stalin nach und nach verschwanden: Abschaffung des jiddischen
Schulunterrichts, Schließung der jiddischen Zeitungen, Säuberung der jüdischen Vertretungsorgane,
Verbot aller selbstständigen jüdischen Organisationen (nicht nur der
zionistischen). 1930 wurde selbst die Jewsekzija aufgelöst. Ihre FührerInnen,
wie Semen Dimenstejn, wurden während der „großen Säuberungen“ 1936 als
„TrotzkistInnen“ verfolgt und liquidiert.

6.7.4 Sowjetunion im zweiten
Weltkrieg – Bollwerk gegen den Antisemitismus?

Isaac Deutscher hat in seiner
bekannten Biographie über Stalin (148) die Schwankungen und letztlich
Steigerungen des Antisemitismus im und nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich
dargestellt. Besonders deutlich stellt Deutscher dar, wie sehr die
Sowjetbürokratie nach Beginn der Nazi-Okkupation alle Register des
Nationalismus und Chauvinismus zu ziehen begann. Der „große Vaterländische
Krieg“ wurde in eine Reihe mit allen möglichen „Freiheitskriegen“ seit Iwan IV.
(dem Schrecklichen) gesetzt. Diese „vaterländische Gesinnung“ beinhaltete die
Verbreitung von Misstrauen gegen „WestlerInnen“ und andere „nichtrussische
Elemente“.

Nach Beginn des Zweiten
Weltkriegs und der Okkupation Ostpolens durch die „Rote Armee“ kamen
beträchtliche Teile der jüdischen Bevölkerung unter sowjetische Herrschaft. Da
die kommunistische Organisation in Polen schwach war, griff die
Sowjetbürokratie notgedrungen auf die Zusammenarbeit mit dem polnischen
jüdischen „Bund“ zurück. Mit Genehmigung Stalins wurde ein „Jüdisches
Antifaschistisches Komitee“ gegründet, zu dessen Führung die bekanntesten
Persönlichkeiten des „Bundes“ gehörten: Henryk Ehrlich und Victor Alter. Nach
dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 1941 wurde dieses Komitee
nach Moskau verlagert, während in den besetzten Gebieten bewaffnete Kräfte
verblieben. Stalin misstraute jedoch jeglicher unabhängiger Organisierung und
ließ die Führung des Komitees 1942 als „Nazi-Spione“ verhaften und liquidieren.
Während des Krieges blieb die Sowjetpropaganda zu den Gräueln gegen die Juden
und Jüdinnen unter deutscher Besatzung jedoch still, weil sie fürchtete, mit
pro-jüdischen Stellungnahmen den russischen Patriotismus zu schwächen (149).
Deutscher weist zu Recht auf den bezeichnenden Umgang mit dem Massaker von
Babij Jar (ukrainisch: Babyn Jar) hin: An diesem Ort nahe Kiew fand Ende
September 1941 eines der schrecklichsten Massaker an Juden und Jüdinnen durch
Massenexekution von mehr als 33.000 Menschen an nur zwei Tagen statt (durch
Einsatzgruppen von SS, SD und Wehrmacht). Dieser Kriegsgräuel konnte der
sowjetischen Öffentlichkeit nicht entgehen. Die Parteipresse stellte zwar das
empörende Ausmaß dar, verschwieg jedoch, dass es sich bei den Opfern
ausschließlich um Juden und Jüdinnen handelte. Auch nach der Eroberung Kiews
und in der Nachkriegszeit wurde weiterhin von Massakern an „sowjetischen
StaatsbürgerInnen“ gesprochen – es wurde bis über Chruschtschow hinaus
jegliches Mahnmahl oder jegliche Erinnerung an die Opfer als Juden und Jüdinnen
verhindert (es sollte sogar über den Ort des Geschehens ein Sportstadium gebaut
werden). In den 1960er Jahren führte diese Missachtung zu einer bedeutenden
Rebellion sowjetischer Intellektueller: Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht „Es gibt
kein Denkmal in Babij Jar“ löste eine heftige Kampagne gegen „KosmopolitInnen“
aus, die mit der Hervorhebung des speziellen jüdischen Schicksals das Leiden
der Sowjetbevölkerung herabsetzen und „Rassenhass“ schüren würden. Als der
berühmte Komponist Dmitri Schostakowitsch dem entgegentrat und in seiner
Symphonie Nummer 13 das Gedicht „Babij Jar“ Jewtuschenkos vertonte, konnte die
Aufführung 1962 trotzdem nur mit äußerster Mühe durchgesetzt werden. Dieses
Werk stellt ironischerweise eines der ergreifendsten künstlerischen Monumente
zur Shoa dar – trotz oder gerade wegen des Widerstandes, gegen den das Werk
zustande kam.

Auch wenn der „Roten Armee“ das
Verdienst zufällt, Konzentrationslager wie Auschwitz befreit und viele
Millionen Juden und Jüdinnen aus den Schrecken der Nazi-Herrschaft gerettet zu
haben, so bleibt der Makel der Untätigkeit während des Warschauer Aufstandes
(August bis Oktober 1944). Den sowjetischen Streitkräften wäre es ein Leichtes
gewesen, hier (in Abänderung ihrer Offensivpläne) den jüdischen und polnischen
KämpferInnen zu Hilfe zu kommen und somit das Massaker an 200.000 Menschen zu
verhindern. Zu der Zeit wurde bereits die Nachkriegsordnung in Osteuropa
vorbereitet, in der es nur die „Rote Armee“ als einzige bewaffnete Kraft im
sowjetischen „Einflussbereich“ geben sollte. Zu dieser Nachkriegsordnung in
Polen, im Baltikum, in der Ukraine und in Weißrussland gehörte auch, dass man
gegen KollaborateurInnen bei antijüdischen Verbrechen kaum vorging und
antisemitische Ausschreitungen weiterhin duldete. So wurde die Auswanderung der
überlebenden Juden und Jüdinnen aus Osteuropa durch die sowjetische Politik
wesentlich mitbefördert.

6.7.5 Die Sowjetunion und die
Gründung des Staates Israel

In die Phase des Kriegsendes
und der Nachkriegszeit gehört auch eine kurzzeitige Annäherung von Stalinismus
und Zionismus. Durch das Bündnis mit den USA und Großbritannien und die
Verhandlungen von Teheran, Jalta und Potsdam verfielen die StalinistInnen auf
die Illusion einer Fortsetzung dieser Kooperation nach dem Krieg, wodurch die
Welt in klar abgegrenzte Einflusssphären aufgeteilt sein würde. In Osteuropa
sollten unter Kontrolle der sowjetischen Militärmacht „Volksdemokratien“
entstehen, während in Westeuropa und Griechenland, trotz großer kommunistischer
Massenparteien, die „westliche Demokratie“ vorherrschen sollte. Anfang 1947
eröffneten jedoch die USA den „Kalten Krieg“ (offiziell mit der Verkündung der
Truman-Doktrin im März dieses Jahres). Während noch in Potsdam dem britischen
Imperialismus die Kontrolle über den Nahen Osten, Nordafrika und Griechenland
überlassen worden war, erwiesen sich die BritInnen weder in Griechenland noch
in Palästina ökonomisch und militärisch fähig, die Lage unter Kontrolle zu bekommen.
Dies veranlasste die USA, präventiv gegen das Vordringen des sowjetischen
Einflusses in der Region auf den Plan zu treten. Die Sowjetunion stand mit der
„Roten Armee“ im Norden des Iran und begann über nationalistische Militärs im
Irak und in Syrien, ebenfalls die Schwächephase der BritInnen auszunutzen. So
wurde auch Palästina zu einem Interventionsfeld sowohl der USA als der
Sowjetunion. Stalin setzte darauf, dass, ähnlich wie in Osteuropa, auch in
Palästina die linken ZionistInnen ein/e BündnispartnerIn für die Errichtung
einer „Volksdemokratie“ sein könnten.

Der linke Zionismus
organisierte sich vor allem um die „Hashomer Hatzair“ (Der Wächter; linke
zionistische Jugendorganisation) und linke „Poale Zion“-Organisationen, die
sich 1948 zur „Mapam – Vereinigte ArbeiterInnenpartei“ zusammenschlossen. Diese
war lange die zweitgrößte Partei in Israel nach der „Arbeitspartei“ (Mapai –
Israelische ArbeiterInnenpartei), die sich aus dem rechten Flügel der Poale
gebildet hatte. Heute hält nur noch die „Meretz“ (Energie), die aus mehreren
Umgruppierungen aus der Mapam hervorging, die Fahne des „linken Zionismus“
hoch. In der Phase um die Staatsgründung herum war Mapam eng mit dem
Stalinismus verbunden, und dies nicht nur in Palästina, sondern auch in Osteuropa.
Mapam/Hashomer-AktivistInnen waren wesentlich am Aufbau der „Haganah“ (Die
Verteidigung) beteiligt. Die Haganah war nicht nur eine militärische
Organisation in der Auseinandersetzung mit BritInnen und AraberInnen, sondern
auch wesentlich für die Fluchtwege aus Osteuropa ins Mandatsgebiet zuständig.
Diese Verbindungen wurden auch genutzt, um Waffen aus der Tschechoslowakischen
Volksrepublik nach Palästina zu befördern. Dies geschah natürlich mit voller
Unterstützung durch Stalin. Somit wurden sowohl die Haganah als auch die
„Palmach“ (Einsatztruppen) als Vorläuferinnen der israelischen Armee zentral
durch „sowjetische Geschwisterhilfe“ aufgebaut. Während die Mapam diese
Verbindung zum „volksdemokratischen Lager“ nutzte und mithilfe ihres
agrarsozialistischen Programms (sie war wesentliche Trägerin der linken
Kibbuz-Bewegung; Kibbuz: Sammlung, Versammlung, Kommune) auch die Schaffung
eines „sozialistischen“ Israel vorantreiben wollte, hatte die Mapai andere
Pläne. Nach Staatsgründung, Massenvertreibung von PalästinenserInnen aus dem
Teilungsgebiet und dem Sieg im ersten israelisch-arabischen Krieg wurde das
Bündnis mit der Sowjetunion nicht vertieft. Die neue Staatsräson eines mit
allen Mitteln zu verteidigenden „jüdischen Territoriums“ ließ eine Übereinkunft
mit Britannien und Frankreich opportuner erscheinen. Diese versprachen eine
erfolgversprechende Eindämmung des arabischen Nationalismus und seiner
antikolonialistischen Bestrebungen gegenüber Israel. Spätestens nach dem
Umsturz in Ägypten (Nasser, 1952) setzte die Sowjetunion in der Region auf die
Karte des arabischen Nationalismus und brach mit den einstigen zionistischen
Verbündeten. Endgültig wurde dies mit der Suezkrise 1956 vollzogen, mit der die
USA und die Sowjetunion die alten europäischen imperialistischen Mächte
Britannien und Frankreich großteils aus der Region verdrängten. Israel mutierte
zum engsten Verbündeten der USA in der Region (150).

6.7.6 Die „antizionistische“
Wende der Sowjetunion

Die Änderung der
Bündnisorientierung Israels nach 1948 führte auch in der Sowjetunion zu einer
anderen Haltung gegenüber dem Zionismus. Auch wenn zionistische Organisationen,
zumindest in Osteuropa, noch bis Anfang der 1950er Jahre aktiv sein konnten,
wurde die Lage für jüdische Organisationen in der Sowjetunion immer
schwieriger. Trotzdem wurde die spätere Ministerpräsidentin Golda Meir als
erste Botschafterin Israels 1948 von einer spontanen Masse jüdischer
SowjetbürgerInnen in Moskau empfangen, und dies in einer innenpolitischen
Situation, in der Stalin mit äußerster Härte gegen jegliche unabhängige
politische Regung vorging. Dies mag zusammen mit der Politik Israels dazu
geführt haben, dass die sowjetische Führung Ende der 1940er Jahre mit einer
neuerlichen Welle antijüdischer Aktionen begann (151). Zunächst wurden im
Rahmen der gerade sowieso vor sich gehenden Säuberungen (Liquidierung der
Leningrader Parteiführung aus innerfraktionellen Gründen) auch gleich sämtliche
jüdischen Organisationen ausgeschaltet. Das „jüdische antifaschistische
Komitee“ wurde als „zionistisches imperialistisches Element“ diffamiert, und
alle Führungspersönlichkeiten wurden liquidiert, darunter der langjährige
sowjetische Gewerkschaftsführer Losowski. Wiederum fielen 1950 viele
„wurzellose KosmopolitInnen“, darunter prominente KünstlerInnen und
ParteifunktionärInnen, dem stalinistischen Terror zum Opfer.

Aber auch in den inzwischen aus
„Volksdemokratien“ in „sozialistische Geschwisterstaaten“ gewandelten Staaten
Osteuropas wurde der Antisemitismus zum wesentlichen Element der Politik.
Wieder trifft Trotzkis Analyse des spezifischen Antisemitismus unter den
Bedingungen der bürokratischen Herrschaft zu. Aufgrund der Geschichte der
Linken und der soziologischen Zusammensetzung der Bürokratie waren auch in
Polen und der Tschechoslowakei viele ParteifunktionärInnen jüdischer Herkunft.
Der Unmut gegen die stalinistische Bürokratie konnte so auch hier auf die
„volksfernen KosmopolitInnen“ gelenkt werden. Dies wurde Anfang der 1950er
Jahre zu einer Reihe von „Säuberungen“ genutzt. Als einer der Höhepunkte wurde
im November 1952 überraschend der Generalsekretär der KPTsch, Rudolf Slánsky,
verhaftet und einer „trotzkistisch-titoistisch-zionistischen“ Verschwörung
angeklagt. Im Prozess wurde Israel als imperialistisches Spionagezentrum
dargestellt, das einen neuen Weltkrieg gegen die Sowjetunion vorbereiten würde.
Angeklagt wurden auch zwei Führer der Mapam, die mit Slánsky den von Stalin
angeordneten Waffendeal vor der Staatsgründung Israels organisiert hatten.
Natürlich war dies auch eine Reinwaschung Stalins für seine Fehleinschätzung in
Bezug auf die Entwicklung Israels. Slánsky spielte offenbar für Stalin (der den
Prozess persönlich angeordnet hatte) die Rolle des Sündenbocks. Andererseits
diente der kaum verhohlene Antisemitismus im Prozess der Mobilisierung der
Volksstimmung zugunsten der „volksnahen“ Teile der Bürokratie. Ironischerweise
wurden nach Stalins Tod antisemitische Kampagnen für die Säuberung von
„stalinistischen VerbrecherInnen“ genutzt, für die auch wiederum Juden und
Jüdinnen aus der Parteiführung herhalten mussten. So wurden die
jüdisch-stämmigen Politbüromitglieder Berman und Minc 1957 von Gomulka in Polen
als Verantwortliche der „Irrtümer und Fehler der Stalin-Ära“ aus der Partei
ausgeschlossen.

Noch kurz vor Stalins Tod im
März 1953 erreichten die anti-jüdischen Verfolgungen in der Sowjetunion ihren
Höhepunkt. Im Zusammenhang mit dem sich abzeichnenden Machtkampf um die
Nachfolge Stalins fabrizierte die Fraktion um den Geheimdienstchef Beria das
sogenannte „Ärztekomplott“. Jüdische ÄrztInnen, die als
„zionistisch-trotzkistisch-titoistische“ AgentInnen entlarvt worden waren,
seien Schuld am Tod mehrerer prominenter ParteiführerInnen gewesen (die
wahrscheinlich von Beria selber umgebracht worden waren). Die darauf
einsetzende Hetze und Verfolgung gegen jüdische AkademikerInnen (nicht nur
ÄrztInnen) erinnert an die finstersten Zeiten des Zarismus. Wahrscheinlich hat
nur Stalins Tod eine Eskalation in ein massenhaftes Pogrom verhindert. Mit der
Ausschaltung Berias war auch das „Ärztekomplott“ schnell vergessen.

Auch wenn in der Sowjetunion
nach Stalin antijüdische Verfolgungen in diesem Ausmaß nicht mehr vorkamen,
blieben viele Elemente der stalinistischen Politik gegenüber den sowjetischen
Juden und Jüdinnen erhalten. Eigenständige kulturelle und nationale
Vertretungsorgane blieben weiter verboten so wie auch das kulturelle und
religiöse jüdische Leben schwer behindert wurde. Die Beschuldigung, ein/e
„ZionistIn“ zu sein, gehörte bis zum Ende der Sowjetunion neben dem
Trotzkismus-Vorwurf zu den schärfsten Waffen der Bürokratie. Damit verbunden
waren Juden und Jüdinnen beständig verdächtig, AgentInnen fremder Mächte zu
sein und wurden so an vielen Arbeitsstätten diskriminiert. Ansonsten lebten
Juden und Jüdinnen seither frei von den schlimmsten Verfolgungen im Vergleich
zum Zarenreich oder zu der Herrschaft Stalins. Die fortgesetzte Diskriminierung
führte jedoch zur ständigen Tendenz zur Auswanderung nach Israel, die nach dem
Ende der Sowjetunion zu einer Massenauswanderung wurde.

6.7.7 Ein „linker
Antisemitismus“?

Während der Antisemitismus mit
dem revolutionären Marxismus unvereinbar ist, kann von einer Unvereinbarkeit
hinsichtlich des Stalinismus keineswegs gesprochen werden. Im Gegenteil: Dass
der Stalinismus für Antisemitismus derartig anfällig ist, stellt ein Ergebnis
des Bruchs mit dem internationalistischen proletarischen Klassenstandpunkt dar.
Es resultiert aus der konterrevolutionären Abkehr von der Perspektive der
permanenten Revolution – zugunsten besonderer „nationaler Wege“, die verbunden
sind mit Konzessionen an (klein-)bürgerlichen Nationalismus und letztlich auch
Chauvinismus. Der Bruch mit der Lenin’schen Methode in der Nationalitätenfrage
(Bekämpfung des Nationalismus, verbunden mit der Anerkennung des Rechts auf
Selbstbestimmung) führt zur ideologischen Kapitulation vor
klassenübergreifender Politik für „das Volk“. Damit sind auch die Ablehnung des
„wurzellosen Kosmopolitismus“ und der Antisemitismus nicht weit. Dies zeigte
sich durchaus auch nach 1968, als speziell in Deutschland viele plötzlich
„links“ Gewordene in maoistischen Sekten dem völkischen Gedanken frönten. Eine
bezeichnende Episode liefert dazu die Geschichte des jüdischen Autors Peter
Weiss. Als einer der bedeutendsten Schriftsteller der 1960er Jahre wurde er in
der Linken allgemein geschätzt wegen seiner klaren dramaturgischen Aufbereitung
der Frankfurter Auschwitz-Prozesse und ebenso wegen seiner Vietnam-Stücke. Als
er jedoch aufgrund der Revolution in Lateinamerika die stalinistische
Etappentheorie zu kritisieren begann und ein Stück zur Rehabilitierung Trotzkis
schrieb („Trotzki im Exil“), war es mit der Freude der „Linken“ vorbei. Die
Generalprobe im Düsseldorfer Schauspielhaus wurde von
stalinistisch-spontaneistischen Gruppen gestürmt. In der „linken“ Presse waren
die üblichen Anschuldigungen des „wurzellosen Kosmopolitismus“ zu lesen. Eine
„orthodoxe“ stalinistische Zeitung verstieg sich sogar zu der Behauptung, bei
dem Schriftsteller sei doch wohl „das Blut“ dicker als die marxistische
Grundeinstellung (anspielend auf die gemeinsame jüdische Herkunft von Trotzki
und Weiss) (152). Wenn heute ehemalige Mitglieder stalinistischer Kampfgruppen
ihre Kritik am „linken Antisemitismus“ und an der „Spur des Antisemitismus“ im
„Traditionsmarxismus“ beschwören, so sollten sie damit aufhören, ihre eigene
konterrevolutionäre Vergangenheit als Pseudo-MarxistInnen mit der wirklichen
Tradition des revolutionären Marxismus zu verwechseln.

7 Antisemitismus und der Islam

7.1 Ist der Islam
„antisemitisch“?

Während
der religiös bestimmte Antijudaismus im Großteil der Geschichte der
muslimischen Welt im Vergleich zu der des Christentums relativ gering
ausgeprägt war, gruben die fundamentalistischen IslamistInnen alle erdenklichen
Schmähungen Mohammeds über die Juden und Jüdinnen aus dem Koran aus und
vervollständigten sie richtiggehend zum System. Daraus wird von einigen
AutorInnen und insbesondere rechtspopulistischer Propaganda geschlussfolgert,
der Islam an sich sei grundlegend antisemitisch und der islamistische Terror
nur eine konsequente Umsetzung der inhumanen Lehrsätze des Koran (153).

Tatsächlich
sind solche Verkürzungen fern jeder historisch-kritischen Analyse der Ursprünge
des Islam und der Entstehungsgeschichte des Korans. Der Koran entstand in einer
stark vom Christen- und Judentum geprägten Region und war in vielem eine
Reaktion auf gesellschaftlich-religiöse Problemstellungen, die von den
christlich-jüdischen Gesellschaften ungenügend gelöst worden waren. Der Koran
macht von Anfang an klar, dass er sich als Fortführung der jüdischen und
christlichen heiligen Schriften sieht. Er sieht Mohammed als Abschluss der
Kette der Propheten von Moses (Musa) bis Jesus (Isa) so wie er für die
AraberInnen ebenso die Abstammung von Abraham (Ibrahim) postuliert, wenn auch
von dessen Sohn Ismael (nicht wie bei den Juden und Jüdinnen von Isaak). Eine
theologisch entscheidende Stelle des Koran ist die vierte Sure ab 152: Dort
werden die Juden und Jüdinnen als die „Menschen der Schrift“ bezeichnet, mit
denen Gott (Allah) ursprünglich den Bund geschlossen habe. Sie hätten die
Gebote jedoch wiederholt gebrochen, so dass immer wieder neue Propheten gesandt
werden mussten. Mit der (versuchten) Tötung von Jesus sei dann der Bund mit den
Juden und Jüdinnen endgültig zerbrochen. Gegenüber den ChristInnen wird jedoch
behauptet, dass diese sich durch die Gestalt des Jesus insofern täuschten, als
sie seine Göttlichkeit annahmen. Das sei zwar verständlich gewesen, habe aber
zu dem Frevel geführt, nicht mehr an die Einheit Gottes zu glauben. In Zeile 157
der besagten Sure wird dann behauptet, dass Jesus nur zum Schein am Kreuz
gestorben, tatsächlich aber rechtzeitig in den Himmel zur Seite Gottes gehoben
wurde. Damit sind für MuslimInnen die Juden und Jüdinnen denn auch nicht die
Mörder Jesu.

Das
religionsgeschichtlich Entscheidende an diesem Narrativ ist, dass es allzu
offensichtlich an verschiedene christliche Sekten-Diskurse der
Koran-Entstehungszeit anknüpft, die sich genau um die Fragen des „Bundes“ mit
bestimmten Völkern und der „Göttlichkeit“/“Menschlichkeit“ Jesu bewegten (154).
Der Koran hatte gegenüber den sehr viel komplexeren christlichen und jüdischen
Religionsvorstellungen und -geboten schlicht eine viel einfachere Struktur. Es
gibt letztlich einen Gott, einen Propheten (der die Vorgeschichte abschließt),
und die Unzahl der Gebote der Halacha (der jüdischen Rechtslehre) wird in der
Scharia auf wenige Prinzipien reduziert. Es ist falsch, dass sich der Islam im
7. Jahrhundert nur militärisch in der christlich-jüdischen Welt durchsetzte. Er
brachte den Menschen viel Vertrautes und entlastete sie von unnötigem
religiösen Ballast – kurz: Auch wenn die byzantinischen und germanischen
Fürstentümer militärisch besiegt wurden, so musste nicht viel Gewalt angewandt
werden, um einen Großteil der Bevölkerung zum Übertritt zum Islam zu bewegen.
Gleichzeitig galt für die „Menschen der Schriften“, also Juden und Jüdinnen
oder ChristInnen, die nicht konvertierten, nach dem oben dargestellten Narrativ
ein Schutzstatus. Die Scharia bzw. ihre Auslegung durch Rechtsgelehrte führte
Regeln ein, nach denen die „Dhimmis“ („Schutzbefohlene“) zu behandeln seien und
welche Rechte sie haben sollten. Ähnlich wie im christlichen Mittelalter waren
Dhimmis mit einer speziellen „Schutzsteuer“ belegt.

Insgesamt
gehört also der Islam genauso zu „unserem“ Kulturkreis wie Christen- und
Judentum und hat sich, offensichtlich mit vielen Ähnlichkeiten, aus denselben
entwickelt. Wenn der Islam faschistisch oder menschenverachtend sein soll, dann
könnte man dies mit derselben Logik auch für Christentum und Judentum ableiten.
Entscheidend ist, dass sowohl im christlichen Europa als auch in der
islamischen Welt die Religion letztlich den gesellschaftlichen Verhältnissen in
der jeweiligen Region unterworfen war, d. h., dass die Entwicklung der
Produktionsverhältnisse und Klassenauseinandersetzung die jeweilige Ausprägung
und Entwicklung der Religion bestimmten – nicht umgekehrt. Die Religion wurde
nur zu einem Mittel der Politik, Herrschaftsausübung und -legitimation bzw. als
Begründung für politische Veränderungen benutzt. Die seit dem islamischen
Mittelalter stagnative Entwicklung von Ökonomie und Klassenverhältnissen führte
im Islam zu sehr viel weniger großen Veränderungen, als sie das Christentum und
Judentum durch die kapitalistische Dynamik der europäischen Neuzeit erlebt
haben. Die relative „Ruhe“ für Juden und Jüdinnen in der islamischen Welt
gegenüber Europa erklärt sich also weniger aus einer speziell „toleranteren“
Religion, sondern aus der geringen Notwendigkeit, die jüdische Nischenwirtschaft
in den islamischen Ländern bis ins 20. Jahrhundert hinein grundlegend in Frage
zu stellen. Andererseits erklärt diese stagnative Entwicklung, dass die einst
dem „Westen“ vorauseilende, moderne islamische Religion, erstarrte und mit
ihren Rechts- und Moralvorstellungen hinter einem Christentum hinterherhinken
musste, das sich viel stärker an eine sich dynamisch verändernde neuzeitliche
Gesellschaft anpassen musste (wie z. B. in der „Reformation“ geschehen).

7.2 Geschichte des
Antisemitismus in der muslimischen Welt

Die
Geschichte radikaler islamistischer Sekten ist denn auch vor allem das Ergebnis
des Zusammenpralls der stagnativen islamischen Welt mit „dem Westen“, besonders
seit Beginn des Kolonialzeitalters. Entgegen auch vielen pragmatischen und mehr
oder weniger liberalen Rechtsschulen im Islam haben sich zwar über die
Jahrhunderte immer wieder fundamentalistische und gegenüber Nicht-MuslimInnen
unterdrückerische Strömungen entwickelt. Mit der Konfrontation mit dem Westen
begannen sie jedoch, rapide an tatsächlichem Einfluss zu gewinnen. So z. B. die
WahhabitInnen, die seit dem 18. Jahrhundert nicht nur reaktionäre
Scharia-Vorstellungen, sondern auch die These vom permanenten Dschihad gegen
Ungläubige entwickelten (die WahhabitInnen dominieren heute nicht nur das
Saudi-Regime). Die Geschichte des modernen Islamismus wird jedoch im
Allgemeinen an der Gründung der „Muslimbrüderschaft“ in Ägypten in den 1920er
Jahren festgemacht. Sie entstand einerseits aus einem anti-kolonialen Impuls,
aber gleichermaßen in Ablehnung der liberalen und sozialistischen Bewegungen,
die sich teilweise ebenso in der anti-kolonialen Opposition befanden. Insofern
ist der moderne Islamismus eine anti-westliche Utopie von einer, natürlich
unmöglichen, Rückkehr zu den „seligen Zeiten islamischer Größe“, zur Einheit
des Islam im legendären Kalifat.

Es
ist auch sicher richtig, dass die Führer der Muslimbrüderschaft die Nazis und
italienischen FaschistInnen als ihre Verbündeten im Kampf gegen die britischen
Kolonialherren sahen und auch ungefiltert wesentliche Teile von deren
antisemitischen Hetzschriften übernommen haben (155). Unsäglicherweise ist
seitdem „Mein Kampf“, aber besonders das Fake der „Protokolle der Weisen von
Zion“, auf Arabisch übersetzt. Die Charta der Hamas (die aus dem Ableger der
Muslimbrüderschaft in Palästina entstand) zitiert immer wieder aus den
„Protokollen der Weisen von Zion“, um zu begründen, warum „die Juden und
Jüdinnen“ die Wurzel allen Übels seien und aus Palästina vertrieben werden
müssen. Bekanntlich suchte der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini,
Unterstützung bei den Nazis und fand nach seiner Flucht aus Palästina in
Nazi-Deutschland Unterschlupf, von wo er den arabischen Aufstand mit
antisemitischer Hetze zu befeuern versuchte. All das hat sicher dazu
beigetragen, dass der moderne Islamismus einen primitiven
Weltverschwörungs-Antisemitismus als eines seiner Kernelemente enthält. Teile
dieses Islamismus wie z. B. der sog. Islamische Staat, die sich gewalttätig
organisieren und auch alle anderen Strömungen im antiimperialistischen Kampf
bis aufs Messer bekämpfen, müssen inzwischen sicherlich als ein neuer Typus
eines (islamistischen) Faschismus bezeichnet und bekämpft werden.

Dies
kann jedoch nicht von allen IslamistInnen gesagt werden, wie der Hamas oder den
ägyptischen Muslimbrüdern – also von Gruppen, von denen sich die radikalen
IslamistInnen zumeist abgespalten haben. Der Islamismus konnte in den letzten
Jahrzehnten ja nur durch das Versagen und die Niederlagen von säkularen
Bewegungen wie dem pan-arabischen Nationalismus groß werden. Von daher wurden
viele „zivile“ Elemente von diesen Bewegungen übernommen und zum Teil
pragmatische Übereinkommen mit ihnen getroffen. So hat die Hamas die
„Protokolle der Weisen von Zion“ aus ihrer Charta gestrichen (156), hat mit
säkularen Palästinenser-Organisationen Abkommen geschlossen und sich in einigen
Bereichen zivile Strukturen gegeben. Hamas oder andere Sektionen der
Muslimbrüderschaft haben sich auch mit bestimmten Regimen in den Golfstaaten
bzw. dem AKP-Regime verbündet, die von radikalen IslamistInnen bekämpft werden.
Insofern haben sich diese Teile des Islamismus in eine mehr
bürgerlich-nationalistische Richtung entwickelt – ohne ihre Gefährlichkeit für
demokratische und linke Kräfte zu verlieren und weiterhin antisemitische
Grundorientierungen aufrechtzuerhalten. Genauer auf die Einschätzung der Hamas
und unsere Haltung gegenüber der von ihr geführten Bewegung in Gaza gehen wir
in Kapitel 9.3 ein.

8 Antisemitismus unter
muslimischen MigrantInnen in Europa

Seit einiger Zeit mehren sich
die Berichte und Meldungen, die einen wachsenden Antisemitismus unter
muslimischen MigrantInnen behaupten. Auf die politischen Konsequenzen, die
daraus folgen, wurde schon hingewiesen. Der israelische Politikwissenschaftler
David Ranan (der derzeit am Forschungszentrum für Antisemitismusforschung an
der TU Berlin arbeitet) veröffentlichte im Frühjahr 2018 eine Studie zu diesem
Thema, die die Diskussion zumindest versachlichen kann (157).

8.1 Zur Problematik von Antisemitismusstudien

Es gibt inzwischen natürlich eine Unzahl an Studien zum Thema „Antisemitismus“. Zunächst stellt sich die Frage, welche Definition von „Antisemitismus“ überhaupt verwendet wird, wenn in diesen Studien von „wachsendem Antisemitismus“ die Rede ist. Wie wir bereits ausgeführt haben, sind diese Definitionen selbst ein Feld starker politischer Interessenskonflikte geworden. Man kann von Minimaldefinitionen ausgehen, die Antisemitismus als „Hass gegen Juden und Jüdinnen“ definieren, die diese zu Sündenböcken für die von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen erzeugten Krisenphänomene machen, was sich in hohem Aggressionspotential bis hin zum Auslöschungswunsch äußert. Doch wie soll ein solcher „Hass“ gesellschaftlich festgestellt, gar „gemessen“ werden? Ranan (158) stellt mehrere der üblichen Untersuchungsmethoden vor, etwa die schon sehr lange (seit 1913) durchgeführten Befragungen der Anti-Defamation-League (Anti-Diffamierungs-Liga, ADL). Die ADL stellt im Wesentlichen 11 Fragen, die typische antijüdische Stereotype enthalten. Werden 6 dieser Fragen gemäß dem Stereotyp beantwortet, gilt der/die Befragte als „antisemitisch“. Typische dieser Sätze sind „Juden verfügen über zu viel Macht in den internationalen Finanzmärkten“ oder „Juden haben zuviel Kontrolle über die US-Regierung“. Zu Recht meint Ranan dazu, dass mit diesen Fragen zwar klar werde, dass der/die Befragte starke Vorurteile und Verschwörungstheorien gegenüber Juden und Jüdinnen hegt, aber deswegen nicht notwendigerweise einen mit Aggressionen aufgeladenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen haben muss, der zu heftigen Aktionen bis hin zu Ausrottungsphantasien führen müsse. Sprich: Die Schlussfolgerung auf Antisemitismus ist stark hypothetisch. Für Deutschland etwa kommt die ADL zu dem Ergebnis, dass 56 % der Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund antisemitisch seien, gegenüber 16 % der sonstigen Bevölkerung. Über den Grad der reaktionären Einstellungen, die hinter den Antworten auf die Stereotypen-Fragen steckt, sagt dies aber wenig aus. Es kann durchaus sein, dass unter der geringeren Zahl der Deutschen (die seit ihrer Schulzeit gelernt haben, wie man solche Fragen „korrekt“ beantwortet) trotzdem weitaus mehr Menschen mit klassischer Sündenbock-Aggression gegenüber Juden und Jüdinnen stehen als bei den Befragten mit muslimischem Migrationshintergrund. Bei diesen – und dies ist die zentrale These von Ranans Untersuchung – ergibt sich die Bereitschaft, unsinnige Stereotype über Juden und Jüdinnen anzunehmen, aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den PalästinenserInnen und dem Kurzschluss daraus, dass auf „den Juden/die Jüdin“ allgemein zu beziehen. „Wenn Muslime über Israel sprechen, meinen sie auch Israel. … Ohne Zweifel lässt sich festhalten, dass antizionistische Äußerungen bei den meisten Muslimen keine Ersatzkommunikation darstellen, um verborgene antijüdische Haltungen zu kaschieren“ (159). D. h. während bei Muslimen im Allgemeinen die Empörung über die Politik Israels das Primäre ist, was bei einigen dann sekundär mit antijüdischen Vorurteilen begleitet wird, sind bei einigen Deutschen (und anderen EuropäerInnen) die antisemitischen Einstellungen das Primäre, um sich dann tatsächlich hinter „Israelkritik“ zu verbergen.

Es gilt also, unterschiedliche
Formen des Antisemitismus tatsächlich zu differenzieren und nicht alles in
einen strukturellen und universellen Antisemitismus ohne Unterschiede
einzupassen. Schließlich müssen die Kontexte für die Entstehung des jeweiligen
Antisemitismus verstanden werden, um auch die unterschiedlichen Ursachen und
Handlungsdispositionen zu erfassen. Nur so kann er in seiner jeweiligen Form
auch wirksam bekämpft werden.

Aber auch Studien, die
unterschiedliche „Antisemitismen“ zu untersuchen vorgeben, sind letztlich von
derselben Methode gekennzeichnet. So unterscheidet die für Deutschland sehr
prominente Bielefelder „Mitte“-Studie (160) von 2016 zwischen „klassischem“,
„sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Im Unterschied zu
klassischem Antisemitismus stellt der sekundäre Antisemitismus eine „Wiederkehr
des Verdrängten“ in unterschwelliger, verkleideter Form dar. Er ist eine
Abwehrleistung gegen die Wucht der Erinnerung und eine Verschiebung der
Schuldgefühle auf andere. Exemplarisch geht es um „Schlussstrich“-Forderungen,
um Verharmlosungen der Shoa, um Erklärungen, die die Juden und Jüdinnen
implizit mitschuldig an den Verbrechen der Nazis machen etc.. Offensichtlich
findet man solchen sekundären Antisemitismus zuhauf bei der AfD. Bemerkungen
über das „Denkmal der Schande“ oder die Nazi-Zeit als „Fliegenschiss“ der
ansonsten so großartigen Geschichte der Deutschen (die eben auch eine
Jahrhunderte lange Geschichte des pogromistischen Antisemitismus ist, die in
der Shoa einen durchaus folgerichtigen Abschluss fand) brauchen nicht weiter
kommentiert zu werden. Dieser offenkundige strukturell verschobene, sekundäre
Antisemitismus wird aber mit weitaus weniger öffentlichem Protest begleitet als
der sogenannte „israelbezogene Antisemitismus“.

Problematisch auch an der Bielefelder Studie ist die Verwischung der Unterschiede zwischen Israel-Kritik, wie sie aus migrantischen Milieus kommt, und dem sekundären Antisemitismus. Ja, in der Studie wird der Eindruck erweckt, dass israelbezogener Antisemitismus das viel größere Problem sei. Mit den Methoden der ADL wird auch hier wieder mit Suggestivfragen gearbeitet – und man kommt zu dem Ergebnis, dass der klassische Antisemitismus nur bei 6 % liege, der sekundäre bei 26 %, der israelbezogene jedoch sogar bei 40 %. Dabei werden so „entlarvende“ Fragen gestellt wie: „Stimmen sie dem Satz zu: Ich werde wütend, wenn ich sehe, wie Israel die Palästinenser behandelt…“ (161).

Die AutorInnen der Studie gehen in ihren Erklärungen davon aus, dass eine „‘neutrale Kritik‘ an Israel zwar möglich sei, aber äußerst selten vorkomme. In der Regel werde Kritik an Israel antisemitisch unterfüttert bzw. scheine sie antisemitische Assoziationen zu evozieren“ (162). Offenkundig stehen also die Ergebnisse der Studie schon fest, bevor eine Untersuchung stattfindet. Mit Schnellschlüssen von Antworten auf Suggestivfragen, Postulaten über „typische antisemitische Argumentationen“ (dazu zählen auch strukturell durchaus sinnvolle Vergleiche der israelischen Besatzungspolitik mit der Apartheidpolitik in Südafrika), Fehlen an Differenziertheit zwischen migrantischer, linker und rechtsextremer Israel-Kritik wird pauschal ein massiver Anstieg von „israelbezogenem Antisemitismus“ scheinbar „objektiv gemessen“. Dabei wird übersehen, dass der latente, mit aggressivem Verdrängungspotential belastete sekundäre Antisemitismus die langfristig weitaus gefährlichste Form von aktuellem Antisemitismus in Deutschland ist. Er hat sich in der Mitte der Gesellschaft eingenistet und kann aggressiv jederzeit wieder in klassischen Formen eskalieren (siehe den Angriff auf ein jüdisches Restaurant während der Hetzjagd in Chemnitz im Herbst 2018).

Da rechtspopulistische Organisationen wie die AfD oder die FPÖ inzwischen gelernt haben, ihren latenten Antisemitismus mit einer extrem affirmativen Haltung gegenüber den rechten Regierungen in Israel zu verbinden (und es auch tatsächlich Verbindungen mit der radikal-nationalistischen „Israel Beitenu“-Partei (Unser Zuhause Israel) des israelischen Rechtspopulisten und aktuellen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman gibt), erscheinen sie heute als die geringere Gefahr als „das muslimische Milieu“. So weit kann die Verblendung führen, wenn die Frage des Antisemitismus in Deutschland hauptsächlich an der Stellung zur aktuellen israelischen Politik festgemacht wird. So werden denn bei der Zeitschrift „Bahamas“, bezeichnend für die sogenannte anti-deutsche Linke, die AfD zur „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie zur Verharmlosung des Holocaust, weil ja unterstellt werde, die AfD plane einen „Holocaust gegen die Muslime“ (163).

8.2 Antijudaismus unter
muslimischen MigrantInnen

Es wäre natürlich falsch zu
leugnen, dass es einen muslimischen Antijudaismus gibt. In der Studie von David
Ranan wurden 70 Tiefeninterviews geführt – also im Gegensatz zu pauschalen
Suggestivfragen wurde mit zufällig ausgewählten MigrantInnen auch tatsächlich
gesprochen und nach Hintergründen der Auffassungen nachgefragt. Im Unterschied
zum Nonsens der tendenziösen „empirischen Sozialforschung“ kann es bei dieser
Methode auch zu tatsächlichen Erkenntnissen kommen. Dagegen herrscht auch bei
großen Teilen der „anti-deutschen Linken“ ein naiver Glaube an „objektive“
empirische Erfassungsmethoden des Antisemitismus vor, wie etwa der
lächerlich-naive „3D-Test“ (164) – ein Zeichen, wie tief inzwischen die „Kritik
an der bürgerlichen Wissenschaft“ bei der „Linken“ gesunken ist.

 Zusammenfassend kommt Ranan zu folgenden Schlüssen:

Einerseits ist ein
„muslimischer Antisemitismus“, der sich direkt aus dem Koran speist (gemäß der
Theorie vom grundlegend antisemitischen oder faschistischen Charakter des
Islam) kaum feststellbar. Soweit die berüchtigten Zitate im Koran überhaupt
bekannt waren, spielten sie keine Rolle. Man kann davon ausgehen, dass dies nur
bei dem sehr kleinen Teil der MigrantInnen eine Rolle spielt, die tatsächlich
dem fundamentalistischen oder radikalisierten Islamismus zugehörig sind.

Andererseits sind Stereotype
über Juden und Jüdinnen (über ihre Geldmacht und ihren weltpolitischen
Einfluss) tatsächlich weit verbreitet. Dabei wurden diese Stereotype aber
zumeist als Begründungen für den Erfolg der israelischen Politik genannt.
D. h. die zentrale Ursache für die Hartnäckigkeit der Weitergabe dieser
Stereotype ist die Situation in Nahost. Auffällig ist auch, dass, je weiter die
Entfernung von Palästina, desto ungenauer auch das konkrete Wissen um Israel.
Hier wird dann deutlich, dass der Israel/Palästina-Konflikt zur allgemeinen
Chiffre für rassistische und kolonialistische Unterdrückung wird, wie sie
MigrantInnen mit muslimischem Hintergrund erleben. Gerade MigrantInnen aus
Palästina machen einen viel klareren Unterschied zwischen Israel/Zionismus und
„den Juden und Jüdinnen“ im Allgemeinen.

Es sollte klar sein, dass man Antisemitismus
von deutschen Rechtsextremen und den Antijudaismus unterschiedlicher
Schattierungen von MigrantInnen nicht auf derselben Ebene behandeln kann. Es
wäre falsch, wenn man gegenüber diesen MigrantInnen eine gleichartige
Ausgrenzung und Konfrontation betreiben würde. Eine Missachtung der
eigentlichen Ursachen ihres Antijudaismus kann schnell in überheblichen
imperialen Rassismus umschlagen. Das heißt, der Antijudaismus muss natürlich
einerseits auch in dieser Form bekämpft, aber die Unterscheidung zwischen dem
„Jüdischen“ im Allgemeinen und der Politik Israels auf der anderen Seite klar
betont werden – ebenso die Bedeutung und Tragweite des Antisemitismus und
seiner eliminatorischen Konsequenzen in der Shoa (womit auch der Verzicht auf
solche Slogans wie „Kindermörder Israel“ erklärt werden muss – auch wenn dies
für Betroffene von israelischen Bombenangriffen eine andere Bedeutung hat, ist
klar, dass im Kontext deutscher Politik und Geschichte solche Slogans ganz
andere Wirkung haben). Auch wenn linke Organisationen aus der Region, mit denen
wir zusammenarbeiten, klare Unterscheidungen zwischen Zionismus und Judentum im
Allgemeinen machen, können wir nicht ausschließen, dass an gemeinsamen Aktionen
auch migrantische Menschen teilnehmen, die solche antijudaistischen
Kurzschlüsse lautstark kundtun. Während Organisationen wie „[‚solid]“ in der
Resolution „Gegen jeden Antisemitismus“ (165) diese Gefahr bereits als Grund
sehen, dass man sich an solchen Aktionen nicht beteiligen könne, sehen wir es
gerade als Gelegenheit an, an der Überwindung solcher Einstellungen zu
arbeiten. Der gemeinsame Kampf um gerechte, tatsächliche Anliegen, das Eingehen
auf sie und die geduldige Überzeugungsarbeit sind hier wirksamer, als auf
Ausgrenzung und Denunziation zu setzen. Unser Ausgangspunkt besteht in der
Solidarität mit den Unterdrückten, selbst wenn sie reaktionäre Vorurteile und
Einstellungen haben mögen – nur so können sie für eine internationalistische
Perspektive gewonnen werden.

8.3 Zur politischen Bedeutung
des Antisemitismus-Vorwurfs

Abschließend soll nochmals auf die sehr spezielle und sich verändernde Bedeutung des Antisemitismusvorwurfs für die aktuell Regierenden in Israel eingegangen werden. David Ranan, als ein in Israel aufgewachsener Mensch, sagt zu Recht: „Mit Antisemitismus wird Politik gemacht. Nach vielen Jahren, in denen mit Antisemitismus gegen Juden Politik gemacht wurde, wird jetzt mit Antisemitismus von jüdischer und israelischer Seite Politik gemacht. Die israelische Regierung bezeichnet externe Kritiker und Gegner gern als Antisemiten oder antisemitisch“ (166). Dies habe sich mit der extremen Rechtsentwicklung der israelischen Politik in den letzten Jahren verschärft. Es war schon früher üblich, dass die israelische Rechte Antizionismus als Folge eines den AraberInnen inhärenten Antisemitismus gesehen habe, während „die Linke“ den Antizionismus als eigenständig anerkannte. Inzwischen würde an einem Narrativ eines „muslimischen Antisemitismus“ gearbeitet, der „die Juden“ mit einer neuerlichen Shoa bedrohe, damit die israelische Gesellschaft in einer Art dauernder Mobilisierung gehalten werden könne. „Im Januar 2014 sagte Israels Justizministerin „Tzipi“ Livni, dass die Behauptung, Kritik an Israel wegen seiner Siedlungspolitik sei antisemitisch, ein Argument ist, in das sich diejenigen flüchten, die gar kein Abkommen mit den Palästinensern haben wollen“ (167). Ohne sich in irgendeiner Weise mit der Politik Livnis oder anderen VertreterInnen des „Friedensprozesses“ in ein Boot zu setzen – an dieser Stelle traf Livni absolut den Punkt: Der „Kampf gegen den Antisemitismus“ ist für die israelische Rechte (und ihre neo-konservativen Verbündeten in den USA) zur Chiffre für eine extrem aggressive Neuordnung im Nahen Osten geworden, die Abkommen oder Friedensregelungen mit den PalästinenserInnen für ebenso unmöglich erklärt, wie es mit den AntisemitInnen damals in München 1938 tatsächlich unmöglich war. Es ist klar, dass die Linke einen derart gewendeten Antisemitismusbegriff, der zur Legitimation eines neokolonialistischen Projekts wird, nicht akzeptieren kann, sondern aufs Schärfste bekämpfen muss. Der Kampf gegen jeden Antisemitismus kann nur ein antiimperialistischer sein – oder er wird dessen Wurzeln nicht wirklich überwinden können!

9 Antizionismus und Antisemitismus

Seit der Gründung des Staates
Israel 1948 kann die Bestimmung dessen, was Antisemitismus heute bedeutet,
nicht ohne die Frage des Verhaltens gegenüber Israel oder dem Zionismus (als
der Bewegung zur Gründung als Staat der Juden/Jüdinnen und heute der Erhaltung
Israels als Heimat und Rückzugsort für alle Juden und Jüdinnen) geleistet
werden. Bei den Auseinandersetzungen um die heutigen offiziellen Definitionen
des Antisemitismus bei der UNO, der EU, der deutschen Bundesregierung etc.
intervenieren israelische Institutionen oft sehr heftig, um die Frage des
„israelbezogenen Antisemitismus“ angemessen einfließen zu lassen. Dabei stellt
sich natürlich die Frage, was tatsächlich das Verhältnis von Antisemitismus und
möglichen Formen des Antizionismus sein kann. Am radikalsten hat es in diesen
Diskussionen ein Brigadegeneral der israelischen Streitkräfte (Yossi
Kuperwasser) so zusammengefasst:

„Antisemitismus und Antizionismus sind im Grunde die gleiche Idee, nur anders verkleidet. Deren gemeinsame Motivation ist Hass auf Juden und das gemeinsame Ziel ist, ihnen die Rechte, die andere Völker und andere Menschen genießen, zu entziehen.“ (168)

Daher erstmal hier kurz gefasst
unsere Einschätzung des Zionismus, bevor wir auf die Frage eingehen, inwiefern
ein Antizionismus, der sich klar vom Antisemitismus abgrenzt, berechtigt und
möglich ist.

9.1 Der Zionismus – eine
bürgerlich-nationalistische Ideologie

Es war unvermeidlich, dass der
ansteigende Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu Reaktionen
in der jüdischen Bevölkerung führen musste. Und entsprechend ihrer
Klassenspaltung fielen die Antworten unterschiedlich aus.

Dem jüdischen Großbürgertum
ging es anfangs vor allem darum, die armen, in prekären Verhältnissen lebenden
ostjüdischen EinwanderInnen möglichst „kostengünstig“ loszuwerden, und es
förderte aus dieser Motivlage heraus die Auswanderung nach Palästina.

Die jüdische
ArbeiterInnenbewegung in Osteuropa (insbesondere „Der Bund“) war in ihrer
großen Mehrheit für die Befreiung von Unterdrückung durch Erkämpfung einer
sozialistischen Gesellschaft und schon von daher entschieden antizionistisch.

Der Zionismus war zunächst im
Wesentlichen eine kleinbürgerlich-nationalistische Strömung. Auf dem ersten
„zionistischen Weltkongress“ 1897 in Basel trafen sich gerade einmal 204
Abgesandte, die weder über Verankerung in der ArbeiterInnenbewegung noch
bedeutende Unterstützung durch die Bourgeoisie verfügten. Im „Basler Programm“
wurde als Ziel formuliert: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer
öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden,
die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen“. Zum ideologischen und
organisatorischen Führer des entstehenden Zionismus wurde der Wiener Journalist
Theodor Herzl gewählt, dessen Werk „Der Judenstaat“ (169) zur „Bibel“ des
Zionismus wurde.

Die Angst vor der Auflösung
einer „jüdischen Identität“ einerseits und andererseits davor, dass die
jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa den Antisemitismus in West- und Mitteleuropa
neu entfachen bzw. verstärken würden, bildeten wesentliche Triebfedern bei der
Entstehung des Zionismus. Als Lösung strebte der Zionismus einen „eigenen“
Nationalstaat an. Aber abgesehen davon, dass mit dem Aufkommen des
Imperialismus der bürgerliche Nationalstaat in Europa seine progressive Rolle
weitgehend ausgespielt hatte, fehlten dafür auch alle Voraussetzungen
(z. B. gemeinsames Territorium, gemeinsame Hochsprache etc.).

Deshalb ist es nicht
verwunderlich, dass die zionistische Ideologie von Anfang an von tiefen
Widersprüchen durchzogen war:

Erster Widerspruch: Der damals entstandene jüdische Nationalismus (Zionismus), darauf hat schon Roman Rosdolsky hingewiesen, stellt dabei eine Art umgekehrten Antisemitismus dar, indem er die gesamte Welt zum Feind der Juden und Jüdinnen erklärt. Der Zionismus will die Juden und Jüdinnen vor Verfolgung retten, aber nicht einfach aus jüdischer Solidarität, sondern ausschließlich im Rahmen des Projekts eines jüdischen Nationalstaates. Dabei schreckte der Vater des Zionismus, Herzl, auch nicht vor einer ausgesprochen zynischen Gedankenführung zurück, denn er brauchte den Antisemitismus, wollte er sein politisches Projekt verwirklichen. Und so wünscht er auch folgerichtig: „Aber wir müssten noch tiefer hinuntersteigen, wir müssten noch tiefer fallen, noch mehr Beleidigungen ertragen müssen, wir müssten noch mehr geschlagen werden, verachtet geplündert und misshandelt als das noch heute mit uns geschieht, damit wir reif werden für die Idee…“ (170). Er konnte nicht ahnen, in welch katastrophaler Weise diese Gedanken Realität werden würden.

Die Auflösung und Beendigung
der Zerstreuung der Juden und Jüdinnen über die ganze Welt (Diaspora) ist bis
heute ein Kernelement der zionistischen Ideologie. Erst mit der vollständigen Beendigung
der Diaspora im Staat Israel sei das Staatsziel erreicht. Doch die Auflösung
der Diaspora hat die Existenz eines militanten und massenhaften Antisemitismus
geradezu als Voraussetzung – nur so wäre garantiert, dass die Juden und
Jüdinnen der Welt nach Israel kommen würden.

Zweiter Widerspruch: Über zwei Jahrtausende war der Bezug auf „Eretz Israel“, auf Jerusalem rein religiös und spirituell. Nun wird er vom Zionismus nationalistisch aufgeladen und somit zugleich säkularisiert. Da aber im Staat Israel die eingewanderte Bevölkerung äußerst heterogen ist, bleibt als einzige Gemeinsamkeit die Religionszugehörigkeit. „Religion sedimentierte sich, so besehen, von Anfang an als unsichtbarer, gleichwohl integraler Bestandteil der säkularen zionistischen Ideologie.“ (171) Nationalismus und Religion sind hier, entgegen allen säkularen Beteuerungen, untrennbar miteinander verwoben.

Der dritte Widerspruch besteht darin, dass die „Befreiung“ der einen die Unterdrückung der anderen bedeutet. Die „Befreiung“ der Juden und Jüdinnen wird von Beginn an, zumindest von Herzl, als kolonialistisches Projekt gesehen. Herzl: „Wenn seine Majestät der Sultan (des Osmanischen Reiches) uns Palästina gibt, werden wir… dann (für Europa) ein Bestandteil des Walls gegen Asien sein. Wir werden Pioniere gegen die Barbarei sein.“ (172) Die Schaffung Israels als einen kolonialistischen Siedlerstaat ist von vornherein intendiert und angelegt. Wollten die ZionistInnen ihren Traum verwirklichen, waren sie von Beginn an auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen.

Nach 1918 war es dann vor allem der britische Imperialismus, dem man sich andiente, nach 1956 dem der USA. In den Worten des ersten Ministerpräsidenten Israels, Ben Gurion: „Ich für meinen Teil habe nicht mehr daran gezweifelt, dass das Gravitationszentrum unserer politischen Arbeit sich von Großbritannien nach Amerika verlagerte, das sich als Großmacht in der Welt den ersten Platz gesichert hat.“ (173)

Die vierte Ungereimtheit
besteht in der Behauptung, dass die Juden und Jüdinnen schon immer in ihre
„ursprüngliche und ihnen daher zustehende Heimat“ zurückgewollt hätten. Einmal
abgesehen davon, dass diese Behauptungen einer historischen Überprüfung in
keiner Weise standhalten, so ist dies, auch wenn die Behauptungen wahr wären,
eine erbärmliche Begründung. Ansprüche, die sich auf eine (vorgebliche)
Realität beziehen, die zweitausend Jahre zurückliegt, Ansprüche, die dann noch
religiös aufgeladen werden, sind nicht nur anachronistisch, sondern würden,
verallgemeinert, die Welt in ein einziges blutiges Gemetzel versinken lassen!

Neben der absurden Behauptung,
die Nichtjuden/-jüdinnen bzw. AraberInnen seien (seit 2000 Jahren!!!) zu
Unrecht in Palästina, schwankt die Haltung des Zionismus in seiner Haltung zur
arabischen Bevölkerung zwischen Ignoranz und Rassismus. Die Argumentation
wechselt nach Bedarf:

a) Nichtthematisierung: John
Rose (174) weist darauf hin, dass Herzl in seinem Werk „Der Judenstaat“ die
AraberInnen nicht einmal erwähnt. b) Leugnung: Das Land sei weitgehend leer,
d. h. „ein Land ohne Volk, für ein Volk ohne Land“. c) Offener Rassismus:
Die AraberInnen seien unfähig, das Land richtig zu bearbeiten (so Ben Gurion
und Schimon Peres).

Angesichts dieser ideologischen Ausrichtung (und natürlich auch praktischen Umsetzung) kann man nur dem jüdischen Wissenschaftler Uri Davis beipflichten: „Anti-Zionist zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisation abzulehnen. Anti-jüdisch zu sein, bedeutet, rassistisch zu sein. Anti-Zionismus ist nicht Antisemitismus, ebenso wie es in Südafrika nicht bedeutete, gegen die Weißen zu sein, wenn man gegen die Apartheid war.“ (175) Dass in Deutschland das proisraelische Bürgertum eine demagogische Gleichsetzung von Antisemitismus und Antizionismus vornimmt, ist politisch nachvollziehbar. Wenn aber Linke diese Gleichsetzung nachäffen, so kann man wohl nur von ideologischer Verblendung ausgehen.

9.2 Entstehung des Staates
Israel

Als
am Ende des Ersten Weltkriegs klar wurde, dass Palästina künftig von Britannien
kontrolliert würde, machte der britische Außenminister Balfour der
zionistischen Bewegung das Angebot, dort eine „Heimstätte“ zu finden. Schon
lange vorher hatten die KolonialstrategInnen des Vereinigten Königreichs
erkannt, dass eine Kontrolle Palästinas ohne ein verstärktes jüdisches
Siedlungsprojekt dort schwer möglich sei. Einige KolonialbeamtInnen sahen sogar
vor, dass man die dort bisher lebende Bevölkerung in Reservate umsiedeln müsse,
ähnlich wie in Nordamerika.

Das
britische Mandatsgebiet Palästina wurde so nach einer ersten (größeren)
Einwanderungswelle Anfang der 1920er Jahre zu einer typischen britischen
Siedlerkolonie. Linke ZionistInnen kritisierten zwar sehr wohl die Behandlung
der arabischen Bevölkerung und die schleichend vor sich gehende Okkupation, die
damit begann. Mehrheitlich war der Zionismus jedoch auch in seiner
labouristischen Form von Anfang an nicht auf eine friedliche Koexistenz oder
gar multi-ethnische Gesellschaft in Palästina ausgerichtet. Die arabischen Aufstände
in den 1920er und 1930er Jahren waren eine logische Konsequenz der
Kolonialpolitik und folgten dem überall in der Welt zu beobachtenden Muster von
anti-kolonialistischen nationalen Aufständen. Heute werden daraus häufig
antisemitische Pogromversuche gemacht, da sich die Aufstände auch zu
Übergriffen auf jüdische SiedlerInnen ausweiteten. Damit soll auch
gerechtfertigt werden, dass sich der Zionismus schon von Anfang an stark
militarisiert hat mit der klaren Zielrichtung, jederzeit gegen „arabische UnruhestifterInnen“
vorgehen zu können. Wie andere weiße Siedlerbewegungen in Kolonialgebieten auch
entwickelte der Zionismus ein System der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und letztlich auch repressiven Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung in der Region.

Mit
der Entstehung des Staates Israel 1948 wurden drei wesentliche Grundpfeiler in
dessen politische Architektur eingebaut:

Erstens waren die führenden politischen Kräfte der Staatsgründung, insbesondere die „Mapai“ (Arbeiterpartei Israels), entschlossen, einen rein jüdischen Staat zu gründen, und lehnten einen gemischten jüdisch-arabischen Staat grundsätzlich ab. Angesichts der arabischen Mehrheitsbevölkerung in Palästina war die Perspektive dieser Kräfte von Anfang an „Aufteilung des Landes“ (176). Sowohl die Verhandlungen um den UN-Teilungsplan im November 1947 als auch die Friedensverhandlungen nach dem „Unabhängigkeitskrieg“ (tatsächlich kam es bis 1949 nur zu einigen Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen NachbarInnen und für lange Zeit zu keinen Friedensverträgen) wurden von der israelischen Führung mit dem Ziel einer Aufteilung des ursprünglichen Palästina, und somit eines möglichst großen rein jüdischen Staates in diesem Palästina, geführt. Von rechts erhob dagegen die „Cherut“ (Freiheitsbewegung; Vorläuferin des heutigen „Likud“; Zusammenschluss) den Vorwurf, „jüdisches Kernland“ zugunsten eines „falschen Friedens“ aufzugeben. Die „Mapam“ dagegen trat für die Besetzung von ganz Palästina ein, um dort ein Regime „fortschrittlicher PalästinenserInnen“ zu errichten, mit dem es einen jüdisch-arabischen Ausgleich geben könne. Ben Gurion erteilte diesen „Einstaaten-Ideen“ von rechts und links eine klare Absage: Ein jüdischer Staat in ganz Palästina sei unmöglich, da es dann dort mehr AraberInnen als Juden und Jüdinnen geben würde, wenn man gleichzeitig ein „demokratisches“ Israel errichten wolle. „Wollen Sie im Jahr 1949 einen demokratischen Staat Israel im ganzen Land, oder wollen Sie, dass wir alle Araber vertreiben; oder wollen Sie Demokratie in diesem Staat?“, fragte Ben Gurion die Opposition (177); er jedenfalls wolle einen demokratischen jüdischen Staat, auch wenn dieser nicht das ganze Land besitze.

Diese Fragestellung beherrscht natürlich die israelische Politik bis heute – und umso mehr, seit nach 1967 tatsächlich Westjordanland und Gaza von Israel besetzt sind. Auch trotz „Oslo-Abkommens“ gibt es in Palästina bis heute praktisch eine „Einstaatenlösung“, unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer Aufteilung des Landes. Gleichzeitig, und dies ist der zweite bestimmende Faktor der israelischen Politik, gibt es von Beginn an eine diskriminierende Stellung gegenüber den sich im israelischen Herrschaftsgebiet befindenden AraberInnen. Schon die Fiktion einer „gerechten Teilung“ des Landes beinhaltete von vornherein unausgesprochen die Vertreibung der arabischen Bevölkerung aus dem „jüdischen Anteil“ an Palästina. Während und in Folge des Unabhängigkeitskrieges mag diese Vertreibung Hunderttausender noch mehr oder weniger ungeplant vor sich gegangen sein. Doch schon während der Waffenstillstandsverhandlungen machte die israelische Politik klar, dass sie eine Rückkehr der Flüchtlinge als eine „existenzielle Gefahr“ ansehen würde. So erklärte der damalige israelische Außenminister Mosche Scharet: „Das spektakulärste Ereignis der jüngeren Geschichte Palästinas, gewissermaßen spektakulärer als die Gründung des jüdischen Staates, ist die massenhafte Evakuierung (sic!) seiner arabischen Bevölkerung… Die Chancen, die sich aus der gegenwärtigen Realität für eine dauerhafte Lösung des quälenden Problems des jüdischen Staates ergeben, sind (…) weitreichend (…). Die Wiederherstellung des Status quo ante ist undenkbar“ (178). Die AraberInnen, die es trotzdem geschafft hatten, im Staat Israel zu bleiben (179), sollten sich „integrieren“ bzw. unter strenger Kontrolle stehen. Die Fiktion des „demokratischen jüdischen Staates“ beruht darauf, dass die unter Kontrolle Israels lebenden AraberInnen wie „Fremde“ (Flüchtlinge im eigenen Land) behandelt werden, die dort nur „geduldet“ sind. Durch die Teilung in israelische AraberInnen, PalästinenserInnen in de facto besetzten Gebieten und palästinensische Diaspora wurden die PalästinenserInnen praktisch zur „Minderheit“, wenn man jeweils die anderen Teile je nach Bedarf weglässt. Die Kombination von israelisch beherrschtem Einstaatensystem und „Teile und Herrsche“ gegenüber den PalästineserInnen bedeutet zugleich, dass sich Israel notwendigerweise wie ein Apartheidstaat aufführen muss. Jegliche Bewegung Richtung eines tatsächlich demokratischen Gesamt-Palästina, das jüdische und arabische BewohnerInnen gleichberechtigt, wird von den Herrschenden in Israel grundsätzlich als Infragestellung des jüdischen Charakters Israels abgewehrt.

Die
lange wie eine Heilslösung dagegen gesetzte Zweistaatenlösung, also die
Umwandlung des Teilungs-Provisoriums in eine staatliche Form, scheitert an den
Widersprüchen des ursprünglichen Teilungsprinzips: Zum einen ignoriert es das
Rückkehrrecht der Flüchtlinge und sanktioniert das Prinzip der Bevölkerungssegregation.
Weiterhin beschränkt es die PalästinenserInnen auf einen kleinen und ökonomisch
ungünstigen Teil von Palästina, der auch noch zu einem beträchtlichen Teil von
der jüdischen Bevölkerung als „Siedlungsgebiet“ beansprucht wird. Schließlich
bleibt die Frage von Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten und deren
multiethnischer Charakter immer ungelöst. Die mit den Oslo-Verträgen versuchte
Zweistaatenlösung ist seit mehreren Jahren gescheitert und durch ein
intermediäres israelisches Besatzungsregime ersetzt worden. Mauer, Siedlungen,
Grenzregime, Befugnisse des israelischen Militärs und die Kooperation mit der
„Palästinensischen Autonomie“ (180) (die großteils von ausländischer
Finanzhilfe abhängig ist) machen aus dem Westjordanland ein koloniales
Anhängsel Israels, das seinerseits in 3 Zonen aufgespalten ist. Die
PalästinenserInnen in Zone C leben de facto unter dauerndem Ausnahmezustand,
belagert von israelischer Armee und militanten SiedlerInnen. Seit dem Abzug
Israels aus dem Gaza-Streifen vegetiert dieser weiterhin auf der Grundlage
einer israelisch-ägyptischen Blockade vor sich hin, ohne jegliche
Entwicklungsperspektive. Diese Form von kolonialem Regime im Westjordanland und
Gaza könnte zur Erfüllung der Perspektive der israelischen Rechten, eines
rein-jüdischen Gesamt-Palästina, führen. Dies würde allerdings mit einer
humanitären Katastrophe einhergehen, die Israel in der gesamten arabischen Welt
noch mehr zum Feindbild machen würde und zu vielen weiteren blutigen Konflikten
genügend Anlass geben wird. Daher kann eine vernünftige Perspektive nur in der
Überwindung der Teilungspolitik hin zu einer wirklich demokratischen
Einstaatenlösung für Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen liegen.

Der
dritte entscheidende Faktor, der mit der Gründung des Staates Israels
entschieden wurde, ist dessen kapitalistischer Charakter. Trotz der
„sozialistischen“ Programme der staatsgründenden Parteien Mapai und Mapam und
der starken sozialistischen Tendenzen der nach Palästina flüchtenden Juden und
Jüdinnen wurden die Auseinandersetzungen um die Wirtschaftsorganisation in den
Gründungsjahren eindeutig in Richtung Privateigentum entschieden. Daran
änderten auch die Experimente im Genossenschaftswesen (z. B. die Kibbuzim)
und der große Einfluss der Gewerkschaften (vor allem der Histadrut;
Zusammenschluss, Allgemeiner Verband der ArbeiterInnen im Lande Israel) nichts.
Aufteilung des „eroberten“ Landes, Bauarbeiten für die großen Zuwanderungen und
die militärische Aufrüstung wurden im Wesentlichen nach kapitalistischen
Prinzipien organisiert und für die ursprüngliche Akkumulation eines
israelischen Privatkapitals genutzt, das sich anfänglich stark im Windschatten
eines von der Histadrut organisierten Staatskapitalismus entwickelte. Natürlich
hängt diese Entscheidung auch mit der Weichenstellung in Richtung Konfrontation
mit der arabischen Umgebung zusammen, die man aufseiten Israels nur durch
Unterstützung durch die verbündeten ImperialistInnen meinte bestehen zu können.
Nach der Episode der Zusammenarbeit mit den traditionell in der Region aktiven
britisch-französischen KolonialistInnen konnte man nach deren Debakel in der
Suez-Krise die USA als neuen Verbündeten in der „postkolonialen“ arabischen
Welt gewinnen. Diese „Westintegration“ bedeutete in Kombination mit den extrem
hohen Ausgaben für das Militär, dass israelischer Staat und Ökonomie von Anfang
an stark abhängig vom Finanzzufluss aus den imperialistischen Zentren waren –
und bis heute sind. Die durchaus mögliche Perspektive einer Integration in eine
sich vom Kolonialismus befreiende arabische Welt wurde also von Anfang an
ersetzt durch die Abhängigkeit vom Imperialismus und die Bereitschaft, diesem
der verlässlichste Bündnispartner in der Region zu sein. Die
staatskapitalistische Periode ist seit der neoliberalen Wende der 1990er Jahre
längst vorbei. Heute sind israelische Privatkonzerne weltweit bedeutsam, vor
allem in IT- und Rüstungsindustrie. Damit hat sich auch die extreme soziale
Spaltung der israelischen Gesellschaft, zusätzlich zur arabischen Segregation,
zu einer Gefährdung der „Einheit des jüdischen Staates“ entwickelt. Die
nationalistische Karte ist für die Herrschenden deshalb umso wichtiger, um die
tatsächlich wachsende Klassenspaltung Israels zu bändigen.

Tatsächlich
bildet nur eine sozialistische Perspektive die Möglichkeit für eine
demokratische Einstaatenlösung. Wie anders als durch Kollektivwirtschaft sollte
eine gerechte Aufteilung des urbaren Bodens, der Wasserreserven, der
landwirtschaftlichen Maschinen etc. unter Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen
gleichberechtigt möglich sein? Wie anders sollte ein Brechen der Macht des
israelischen Kapitals möglich sein als durch den gemeinsamen Klassenkampf? Und
wie kann die Abhängigkeit Israels vom US-Imperialismus überwunden werden, wenn
nicht durch eine revolutionäre transnationale Bewegung zur Zerschlagung des
bestehenden nationalistischen Unterdrückungsapparates? Doch ist eine solche
Perspektive nur denkbar, wenn sich die politischen und sozialen Kräfte in
Israel, die aus den Klassenkämpfen entstehen, von der zionistischen Ideologie
und der Akzeptanz der permanenten Entrechtung des arabischen Teils der
Bevölkerung in ganz Palästina verabschieden. Der palästinensische Widerstand
ist seit Jahrzehnten durch nationalistische und islamistische Führungen in die
Sackgasse geführt worden. Auch für ihn zeigt deshalb nur die sozialistische
Perspektive einen Weg aus der permanenten Niederlage und die Möglichkeit, durch
eine gemeinsame jüdisch-arabische Bewegung aus der Falle der nationalistischen
Scheinlösungen entkommen zu können.

9.3 Antizionismus ist legitim!

Die
AraberInnen und PalästinenserInnen tragen keine Verantwortung für die Shoa,
Pogrome, industriellen Massenmord und die Vertreibung von Millionen
europäischer Juden und Jüdinnen durch die Nazis. Dass die große
Einwanderungswelle nach 1945 in Palästina die demographischen Verhältnisse
wesentlich verändert hat, hätte an sich noch nicht zu der Zuspitzung der
Situation 1948 führen müssen. Aber die konstanten Vertreibungen von
PalästinenserInnen, die Umsiedlungspläne, die mit dem Teilungsplan von 1947
einhergingen, und die Etablierung eines eigenen hochgerüsteten jüdischen
Staates mussten in der arabischen Welt als weiteres Projekt für ihre koloniale
Unterdrückung gesehen werden. Der Widerstand dagegen war berechtigt und kein
antisemitischer Akt in Verleugnung des großen Leidens der jüdischen
EinwanderInnen. Die Niederlage der arabischen Armeen, die Etablierung eines
zionistischen Staates auf der Grundlage einer Vertreibung von 750.000
PalästinenserInnen und seine enge militärisch-politische Anbindung an die USA
machten Israel von Anfang an zu einem eindeutig rassistischen und
imperialistischen Projekt. Es basiert einerseits auf der systematischen
Ausgrenzung der in seinem Staatsgebiet lebenden arabischen Bevölkerung (ob mit
israelischer Staatsangehörigkeit oder in den besetzten Gebieten), andererseits
auf einem gewaltigen Militarismus.

Angesichts
der Bedeutung des Nahen Ostens für Weltwirtschaft und Weltpolitik ist es klar,
dass der Vorposten Israel für die imperialistische Kontrolle der Region von
unschätzbarem Wert war und ist. Noch jeder US-Präsident hat vorgerechnet, wie
viel mehr Israel für US-Interessen wert sei als die jährlichen Haushaltsmittel
speziell für US-Militärhilfe (4,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr und noch viel
mehr, laut Donald Trump). Wie jedoch schon ausgeführt, hat sich Israel zwar
weit über eine ökonomisch subventionierte „Siedlerkolonie“ hinausentwickelt.
Weiterhin bleibt aber die zionistische Unterdrückungspolitik gegenüber der arabischen
Bevölkerung auf israelischem Territorium und in den besetzten Gebieten
bestimmend für den Charakter des Staates.

Antizionismus,
der sich gegen die Rolle Israels in der Region, die systematische Ausgrenzung
der arabischen Bevölkerung und die Besatzungspolitik richtet, ist legitim und
notwendig. Wie dargelegt, sind diese drei Elemente keine „Zufälligkeiten“ oder
„Nebenerscheinungen“, sondern gehören seit der Gründung des Staates Israel zu
seinen bestimmenden Merkmalen. Sie sind in der Politik der ethnischen Teilung
Palästinas und dem Anspruch, einen „rein jüdischen Staat“ in dem für sich
reklamierten Teil Palästinas zu bilden, inhärent gegeben. Israel in seiner
jetzigen Verfassung und Form ist daher notwendigerweise ein Apartheidstaat und
Vorposten des Neokolonialismus. Ein konsequenter Antizionismus kann aber nicht
bei der Kritik am Staat Israel stehenbleiben, sondern muss eine
fortschrittliche Lösung für die Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen in
der Überwindung des bestehenden Staates Israel aufzeigen. Die
„Einstaatenlösung“ bedeutet nicht die Ersetzung des dominierenden „jüdischen
Staates“ durch einen „arabischen Staat“. Eine fortschrittliche Lösung kann nur
ein binationaler Staat, mit gleichberechtigten jüdischen und palästinensischen
Bevölkerungen sein, der entsprechende Minderheitenrechte in allen Gebieten
garantiert.

Die
Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h., die Berechtigung von
Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von
SozialistInnen zu verteidigen. Jeder „Antizionismus“, der dies leugnet und
Juden und Jüdinnen aus Palästina vertreiben will, ist daher in unseren Augen
reaktionär. Aufgrund des Niedergangs des arabischen Nationalismus und
Stalinismus sind heute Teile des palästinensischen Widerstands unter der
Führung antisemitischer Organisationen wie der „Hamas“. Die Hamas-Ideologie ist
offenkundig nicht auf einen binationalen Staat in Palästina ausgerichtet, ganz
abgesehen von den reaktionären sozialen und ökonomischen Zielsetzungen für ein islamisches
Palästina. SozialistInnen können diese Organisation politisch natürlich nur
ablehnen und bekämpfen. denn deren „Antizionismus“ ist tatsächlich verkappter
Antisemitismus.

Dies
bedeutet jedoch nicht, dass die Tausenden AktivistInnen in Gaza, die sich gegen
die israelische Blockade und Zermürbungsstrategie zur Wehr setzen, im Unrecht
wären, nur weil Hamas in Gaza politisch dominiert. Diese Dominanz ist Ausdruck
der Perspektivlosigkeit als Folge des permanenten Verrats der korrupten Fatah
(Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas) und der fehlenden sonstigen
relevanten politischen Alternativen. Die Strategie der Hamas, durch
Zusammenarbeit mit bestimmten reaktionären Golfstaaten und durch militärische
Kraftmeierei, ohne entsprechende Mittel, die Verhandlungsposition gegenüber
Israel verbessern zu wollen, unterscheidet sich letztlich kaum von der ebenso
erfolglosen Fatah. Letztlich kann der palästinensische Widerstand nur gegen
diese Führungen erfolgreich sein.

Trotzdem
müssen wir anerkennen, dass die Mehrheit der mutigen und verzweifelten
AktivistInnen gegen die israelische Besatzungspolitik weiterhin Hamas und Fatah
als ihre Führungen anerkennt und ihren Aufrufen folgt. Sofern es sich dabei um
berechtigte Akte der Selbstverteidigung, des Protestes gegen den
unterdrückerischen Militärapparat und des Widerstandes gegen das
Besatzungsregime handelt, werden wir diese Aktionen unterstützen, auch wenn wir
die Führung durch die Hamas und deren politische Ziele gleichzeitig
kritisieren. SozialistInnen können nicht passiv beiseitestehen, wenn die
israelische Armee massive Schläge gegen Gaza setzt, und zu den
palästinensischen KämpferInnen sagen, dass wir neutral blieben, solange sie
sich nicht von der Führung der Hamas entfernt hätten. Uns ist bewusst, dass der
Antisemitismus der Hamas dabei ein besonderes Problem ist, das auch offen
benannt werden muss. Aber es muss klar sein, dass der militärische Apparat der
Hamas ein lächerlicher Zwerg gegenüber der riesenhaften israelischen Armee ist.
Eine Umdeutung dieser Auseinandersetzung in „jüdischen Widerstand“ gegen eine
„Hamas-SS“ (wie das bei anti-deutschen Linken durchscheint) ist daher völlig
deplatziert. Natürlich würde eine tatsächlich für die jüdische Existenz in
Palästina bedrohliche Hamas eine ganz andere Positionierung für SozialistInnen
ergeben. Doch geht es derzeit nicht um eine ausgemalte Situation, sondern um
die gegenwärtige (und wohl noch längere Zeit zu erwartende) Verteilung der
Kräfte und das aktuelle Unterdrückungsverhältnis.

Kein
ernsthafter Mensch kann natürlich garantieren, dass die heute Unterdrückten
(nicht nur in Palästina), sollten sie ihre UnterdrückterInnen besiegen, in
Zukunft nie repressiv und unterdrückerisch handeln können. Doch wenn dies ein
Argument gegen einen Befreiungskampf sein soll, wird damit jeder demokratische
Kampf gegen nationale oder rassistische Unterdrückung in Frage gestellt, ja in
gewisser Weise selbst der für die sozialistische Revolution. Auch diese kann
unter Umständen degenerieren und – siehe Stalinismus – zu einer bürokratischen
Diktatur werden. Doch worin besteht die Lösung des Problems? Offenkundig darin,
eine revolutionäre, internationalistische Führung des Kampfes aufzubauen, die
sich als konsequenteste Vertreterin der Unterdrückten in der Praxis erweist und
so andere Klassenkräfte politisch zurückdrängen kann. Eine solche Politik setzt
aber die Solidarität mit dem Befreiungskampf voraus, auch wenn er von
reaktionären Kräften dominiert wird. Alles andere bedeutet, die Unterdrückten
im Stich und den UnterdrückerInnen freie Hand zu lassen.

Hamas
und Co. sind zudem nicht nur meilenweit davon entfernt, ihre reaktionären Ziele
in die Tat umsetzen zu können. Sie haben sich auch als politisch unfähige
Führung erwiesen. Unsere Unterstützung gilt nicht den proklamierten Zielen der
nationalistischen oder islamistischen Führungen des Widerstands, wohl aber dem
Befreiungskampf, der legitimen Selbstverteidigung und dem Streben nach
Selbstbestimmung der PalästinenserInnen, unter welcher Führung sie derzeit auch
stehen mögen.

9.4 Israel – ein Schutz gegen
Antisemitismus?

Auch
die Auffassung, dass Israel endlich das Instrument sei, mit dem Juden und
Jüdinnen eine langfristige Garantie für Selbstverteidigung vor antijüdischer
Verfolgung haben würden, ist sehr fragwürdig. Ein Staat von 6 Millionen Juden
und Jüdinnen, der auf der Unterdrückung von (die palästinensische Diaspora
mitgerechnet) 9 Millionen PalästinenserInnen beruht, mit denen sich etwa 350
Millionen AraberInnen solidarisch fühlen, bedarf eines beträchtlichen
militärischen Aufwands, um sich unter Bedingungen kompromissloser
Nicht-Friedenspolitik in der Region behaupten zu können. Sollte, aus welchen
weltpolitischen Gründen auch immer, das Interesse der Großmächte an Israel
verlorengehen, kann dies für die dort lebenden Juden und Jüdinnen rasch zu
einer sehr bedrohlichen Situation führen. Jedenfalls führt die kompromisslose
zionistische Apartheidpolitik der letzten Jahrzehnte zu einer schiefen Ebene
Richtung Rechtspopulismus und immer extremer werdendem anti-arabischen Rassismus.
Inzwischen hören sich die Pläne der Regierungsparteien immer mehr nach
denjenigen der Reservatspläne der vormaligen britischen KolonialbeamtInnen an.
Die unbegrenzte Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und das Agieren der
israelischen Sicherheitskräfte mitsamt der Beerdigung jeglichen
Friedensprozesses lässt unweigerlich eine nächste Vertreibungswelle befürchten.
Dies deutete sich auch bei der jüngsten Knessetwahl 2019 an, bei der Netanjahu
unter anderem mit dem Versprechen gewann, Teile der Westbank zu annektieren.
Außerdem hat sich die extreme Rechte weiter etabliert und wurde sogar zur
„Königsmacherin“. Die „Union der rechten Parteien“ (Listenverbindung dreier
religiöser Rechtsparteien), nunmehr eine wichtige Koalitionspartnerin, enthält
auch die „Vereinigte Nationalpartei“ (Tkuma; Wiedergeburt) des Bezalel
Smotrich, der Frieden in Palästina nur für möglich hält, wenn alle
Nicht-Juden/-Jüdinnen es „verlassen“ haben (181).

Der
arabische Anti-Zionismus ist also an sich eine gerechtfertigte Reaktion auf
nationale Unterdrückung und das imperialistische Ausbeutungsregime im Nahen
Osten. Er hat an sich nichts zu tun mit einer Herrenvolkideologie, die mit der
Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung ihre eigenen imperialen Abenteuer
und Pogrome zu rechtfertigen versucht. Auch nach Deutschland geflüchtete
PalästinenserInnen und AraberInnen haben natürlich das Recht, diese
Protesthaltung zu zeigen, und nicht die Verpflichtung, die Schuld des
eliminatorischen deutschen Antisemitismus als eine Art „Integrationsleistung“
mit auf sich zu nehmen. Daher ist auch die Verbrennung einer Nationalfahne (und
eine solche ist auch die Fahne des Staates Israel vornehmlich, so sehr der
Davidstern auch religiös interpretierbar ist) in einer großen Demonstration an
sich kein Zeichen des Antisemitismus, sofern dies nicht mit der Herabwürdigung
sonstiger Symbole des Judentums und pauschalisierender antijüdischer Hetze
verbunden ist. Auch das Verbrennen türkischer Fahnen auf kurdischen
Demonstrationen ist ja keine anti-muslimische oder generell gegen alle
TürkInnen gerichtete Symbolik, sondern veranschaulicht nur die Entschlossenheit
zum Widerstand gegen die Politik des türkischen Staates.

Ebenso
ist auch die beliebte Zuschreibung von „sekundärem Antisemitismus“
(Schuldentlastung über: „Die Juden und Jüdinnen sind ja auch RassistInnen und
FaschistInnen“) für diejenigen Deutschen, die sich mit palästinensischem
Protest solidarisieren, verallgemeinernd und falsch. Natürlich ist es für die
deutsche Solidaritätsbewegung notwendig, klarzumachen, dass sich die Kritik
gegen die Politik des israelischen Staates richtet, und jegliche
generalisierende Behauptung in Bezug auf „die Juden und Jüdinnen“ und ihre
Verantwortung für diese Politik zurückzuweisen. Schließlich kommt es ja auch auf
die israelische Linke, die sozialen Bewegungen und letztlich die israelische
ArbeiterInnenklasse an, den Irrweg des Zionismus zu überwinden und gemeinsam
mit den PalästinenserInnen eine Gesellschaft des gleichberechtigten
Miteinanders von AraberInnen und Juden und Jüdinnen in Palästina, das
Rückkehrrecht für alle Vertriebenen und einen gemeinsamen multi-ethnischen
Staat zu erkämpfen.

Gleichzeitig
ist nicht zu leugnen, dass der „Antizionismus“ als Cover für den Antisemitismus
dienen kann. Wir haben dies z. B. an der Politik stalinistischer
Organisationen schon dargestellt. Auch rechte Gruppierungen nutzen Israel gern
als Instrument für ihren Geschichtsrevisionismus. Schließlich ist auch bei
arabischen NationalistInnen und bei IslamistInnen eine taktische Verkleidung
ihres Antisemitismus durch die Benutzung des Antizionismus anzutreffen. Ein
erfolgreicher internationalistischer Kampf, der den Antizionismus beinhaltet,
muss sich dringend von allen solchen Formen des verkleideten Antisemitismus
distanzieren, ihn entlarven und politisch bekämpfen.

9.5 Internationalismus und
Anti-Zionismus

Vollkommen
falsch ist es jedoch, arabischen und palästinensischen Menschen im Allgemeinen
den Antisemitismus der IslamistInnen als Allgemeingut zu unterstellen. Die
Muslimbrüder waren lange in den arabischen Ländern eine verschwindende
Minderheit. Erst mit der Erfolglosigkeit der anderen „westlichen“ Konzepte kam
die Stunde der IslamistInnen. Der Aufstieg der Hamas begann erst in den 1990er
Jahren, zunächst sogar von der israelischen Regierung als Gegengewicht zur PLO
gefördert.

Der
teilweise Erfolg solcher Gruppen bedeutet nicht automatisch, dass ihr Programm
und ihre Ideologie tatsächlich tiefe Verbreitung haben. Auch die Strategie der
Hamas und ihrer korrupten Führung hat zu weitgehender Desillusionierung ihr
gegenüber geführt. Zu behaupten, weil die Hamas (noch) eine Führungsposition in
Gaza einnimmt, seien alle EinwohnerInnen Gazas eliminatorische AntisemitInnen
und deswegen ihre Zerbombung durch die IDF gerechtfertigt, ist nicht nur
zynisch, sondern auch direkt rassistisch und pro-imperialistisch.

Der
Arabische Frühling hat deutlich gezeigt, wie notwendig eine alternative,
sozialistische Führung jenseits des Islamismus und der vom Westen abhängigen
korrupten Herrschaftsapparate in der arabischen Welt ist. Mit der Niederlage
der Revolutionen sind viele damals aktiv Gewordene und oftmals zur Flucht
Gezwungene jetzt auf der Suche nach neuer Orientierung. Für viele gehört der
Protest gegen die neuen/alten Diktaturen, die sich radikalisierenden
IslamistInnen genauso zur Grundorientierung wie der Protest gegen die für die
Region immer unheilvoller werdende Politik des rassistischen israelischen
Staates. Der Kampf gegen antisemitische und faschistische Strömungen im
Islamismus muss von den MigrantInnen selbst geführt und von uns unterstützt
werden. Die Instrumentalisierung des pauschalen Antisemitismusvorwurfes gegen
alle muslimischen MigrantInnen und sein Verwenden als Repressionsmittel ist
dabei nicht nur nicht hilfreich. Er ist im Kern selbst rassistisch, dient zur
Diffamierung und Stigmatisierung von MigrantInnen und MuslimInnen, die gegen
die Unterdrückung ihre Stimme erheben, und somit zur Rechtfertigung der Politik
des zionistischen Staates und der imperialistischen Mächte. Und natürlich wird
er vor allem gegen politisch aktive linke MigrantInnen verwendet werden –
gerade um jede fortschrittliche Perspektive mundtot zu machen. Der Kampf gegen
den Antisemitismus beinhaltet daher die Einbeziehung eines gerechtfertigten und
antiimperialistischen Antizionismus, der jede Form des Antijudaismus ablehnt.
Wie schon in Lenins und Trotzkis Perspektive werden sich das Problem des
Antisemitismus und der „Nah-Ost Konflikt“ nur im Rahmen einer
antiimperialistischen, proletarischen, internationalistischen Revolution lösen
lassen. Jede nationalistische bzw. national-religiöse Antwort wie Zionismus,
Islamismus oder arabischer Nationalismus stellt nur einen sicheren Wege in die
nächste Katastrophe dar.

Endnoten

(1) Aus Jewgeni Jewtuschenkos
Gedicht „Nad Babim Jarom pamjatnikov njet“ („In Babi Jar steht kein Denkmal“),
das 1961 in der Sowjetunion an das fehlende Gedenken zum Massaker an mehr als
33.000 Juden und Jüdinnen durch die deutsche Wehrmacht 1941 erinnerte.

(2) Für den
industriellen Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen werden generell
unterschiedliche Begriffe verwendet. „Holocaust“ ist eigentlich ein
griechisches Wort, das sich auf Brandopfer bezieht und seit mehreren
Jahrhunderten in der englischsprachigen Literatur für verschiedene Völkermorde
verwendet wurde. Nach 1945 verschob sich die Verwendung dieses Begriffs vor
allem in den USA zu einer Bezeichnung des NS-Vernichtungswerkes. Wegen seiner
Hintergründe in religiösen Ritualen, seiner allgemeinen Verwendung für
verschiedene Völkermorde als auch wegen der Kommerzialisierung in der
US-Holocaust-Gedenkkultur ist der Begriff allerdings nicht unumstritten. Daher
haben wir uns hier entschieden, den allgemein im Hebräischen üblichen Begriff
„Shoa“ („das große Unglück“), der auch im entsprechenden jüdischen Gedenktag
Namen gebend ist, zu verwenden.

(3) IHRA:
Working Definition of Antisemitism. Beschlossen auf dem Plenum in Budapest
2016: https://www.holocaustremembrance.com/node/196.

(4)
„Diaspora“ kommt aus dem Griechischen (das Verb „diaspeiro“ bedeutet
„zerstreuen“, „entsenden“) und wird im griechischen Neuen Testament zur
Bezeichnung der Zerstreuung der Juden und Jüdinnen in alle Welt verwendet bzw.
zur Bezeichnung der Länder, in die Juden und Jüdinnen zerstreut wurden.
Interessant ist, dass „Diaspora“ im Neuen Testament (das ursprünglich auf
Griechisch geschrieben wurde) für die „Entsendung“ der ChristInnen in alle Welt
steht (aus: Wilhelm Gemoll, „Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch“,
Wien/Leipzig 1908).

(5) Die römischen Quellen zum
Aufstand finden sich in: Cassius Dio: „Römische Geschichte“; Eusebius:
„Kirchengeschichte“. Archäologische Belege für die bei Cassius Dio
beschriebenen Zerstörungen finden sich u. a. durch die Inschriften an zu
dieser Zeit neu gebauten Gebäuden, die als Grund des Neubaus den „tumultus
iudaicus“ nennen.

(6) Ein
gemeinsames kanaanitisches Wort ist „El“, das gemeinhin mit „Gott“ übersetzt
wird und in vielen Formen (z. B. „El …“ = „Gott von….“, „Elochim“ =
„Göttlichkeit“) vorkommt. So bedeutet „Isra-El“ eigentlich „Kämpfer für Gott“
(der Beiname für Jakob, laut Bibel der Stammvater der zwölf jüdischen Stämme,
die damit „Kinder Israels“ genannt werden). Israelis sind also wörtlich übersetzt
DschihadistInnen, denn im Koran ist allgemein vom „dschihad Fi sabili Llah“
(„Kampf um Gottes willen“) die Rede.

(7) Shlomo Sand, „Die Erfindung
des Landes Israel“, Berlin 2016 (im Hebräischen Original 2012 erschienen).
Siehe vor allem das Kapitel II, „Mytherritorium“, ebd., S. 91 ff.

(8) Die
Konfrontation mit dem Baalkult wird z. B. sehr ausführlich in der
Geschichte des Propheten Elias erzählt. Besonders schockierend für das
patriarchale Judentum war, dass es sich um eine Zwei-Gottheit handelte: eine männliche
und weibliche, verbunden in einer Geschwisterehe. Im Judentum wurde die
Schwester eliminiert, und es wurde darüber getobt, dass trotzdem selbst im
„Tempel“ immer noch die Statue der weiblichen Gottheit in Nacktheit aufgestellt
war. Die Verunglimpfung der Baalreligion als zügellos, götzenhaft und
blutrünstig wurde später vom religiösen Antijudaismus gegen das Judentum selbst
gerichtet: siehe im Kapitel zum mittelalterlichen Antijudaismus.

(9) So geht
Shlomo Sand (a. a. O., S. 103 f.) davon aus, dass der jüdische
Monotheismus in Babylon stark durch die Auseinandersetzung mit dem persischen
Zoroastrismus/Zarathustrismus geprägt wurde. Das persische Reich begründete
seinen universalistischen Anspruch durch die Allmacht des einen Gottes, Ahura
Mazda, der allerdings im ewigen Kampf gegen sein duales Gegenteil (Gut-Böse),
Ahriman, begriffen ist. Die PerserInnen wiederum nutzten die Spaltung der
kanaanitischen Gesellschaft in die mit ihnen verbundenen monotheistischen Juden
und Jüdinnen und die „heidnische“ Normalbevölkerung („Teile und Herrsche“).
Allerdings lehnte der jüdische Monotheismus den Dualismus konsequent ab (und
unterscheidet sich dadurch auch wesentlich vom Christentum, der dem Satan
wieder eine göttliche Qualität gab).

(10) Die
Transformation der ökonomischen Rolle der PhönizierInnen in Richtung Judentum
wurde schon im 19. Jahrhundert von dem Historiker und Rabbiner Levi Herzfeld
ausführlich dargestellt, in: „Handelsgeschichte der Juden des Alterthums“,
Braunschweig, 1879.

(11) So
wurde die Erstürmung von Jerusalem im Jahr 70 u. Z. durch 3 Elite-Legionen
durchgeführt, unter ihnen die berüchtigte Legio Decima Fretensis. Nachdem es
sich um eine der größten Städte der damaligen Welt handelte, führte das
rücksichtslose Vorgehen der Legionäre zu einem Massenmord an Zehntausenden
Menschen. Auch der Brand des zentralen Heiligtums, des jüdischen Tempels, und
seine Zerstörung (bis auf den bekannten Mauerrest, der heute die Klagemauer
darstellt) war für die Legionäre ein (nicht unbedingt beabsichtigter) Kollateralschaden.
Auch die Kreuzritter gingen später bei ihrer Erstürmung von Jerusalem nach dem
Motto „Der Herr erkennt die Seinen“ vor – der Kampf um die „Heilige Stadt“
wurde zum Fanal des Vernichtungskrieges.

(12) Neben
dem Tanach, der „jüdischen Bibel“ (die als zentrale Lehre die Tora, die fünf
Bücher Mose, enthält, die in die hellenistische „Pentateuch“-Übersetzung
eingingen), ihrer Auslegung im Talmud (der eine babylonische und eine
jerusalemische Version kennt), Midrasch und Tosofat (die rabbinischen Lehren)
ist die Befolgung der 613 Mitzwot (der religiösen Gebote, zu denen die
bekannten 10 mosaischen Gebote gehören) zentral für den jüdischen Glauben. Von
Moses Maimonides stammt die Auflistung aller 613 Mitzwot. Mit ihrem 13.
Geburtstag gelten mit dem Ritus Bar/Bat Mitzwa alle Mitzwot für den Jungen/das
Mädchen.

(13) Siehe dazu Abraham Léon, „Judenfrage und Kapitalismus“, München 1971 (auch unter: „Die jüdische Frage – Eine marxistische Darstellung“, 1946). Auch wenn im Einzelnen richtige Kritikpunkte an Léon geäußert wurden und er seine These von den Juden und Jüdinnen als „Volksklasse“ geografisch und zeitlich überdehnt, so teilen wir doch die zentralen Aussagen dieses bahnbrechenden Werkes.

(14) Zur
Bedeutung der jüdischen FernhändlerInnen im Frühmittelalter siehe z. B.:
Gene W. Heck, „Charlemagne, Muhammad and the Arabic Roots of Capitalism“, De
Gruyter, Berlin, New York 2006. Arabische AutorInnen hatten einen eigenen Namen
für die jüdischen FernhändlerInnen: RadhanitInnen. Eine Primärquelle ist die
Schrift von Ibn Chordadbeh, „Buch der Wege und Länder“ (um 847 u. Z.), in
dem er ausführlich die Handelsrouten und –güter der Radhaniten beschreibt
(Ibn-Khordadbeh, „Le Livre des Routes et des Provinces“, Französische
Übersetzung: C. Barbier de Meynard, Journal Asiatique, Januar/Februar 1865). In
Westeuropa endete ihre Route in Spanien bzw. Südfrankreich. Es gab aber wohl
auch eine Ostroute über das Chasarenreich. Umstritten unter HistorikerInnen ist
vor allem die Bedeutung des Sklavenhandels in diesen frühmittelalterlichen
Handelsbeziehungen zwischen „Ost“ und „West“ bzw. der Umfang, in dem die
RadhanitInnen tatsächlich Juden und Jüdinnen waren. Erwiesen ist auch, dass die
Herrscher der ChasarInnen im 8. Jahrhundert zum Judentum übergetreten sind.

(15) Die
hebräische Bezeichnung „SeFaRD“ war eine im Tanach gebrauchte Bezeichnung für
eine mythische Gegend, die später als geographische Bezeichnung auf die
iberische Halbinsel übertragen wurde. Die Geschichte und Bedeutung der
Sephardim für das Judentum im Mittelalter ist einer der Gründe, warum Léons
Volksklassen-Theorie ihre Grenzen hat, da es hiermit eine zentrale Region gab,
in der die jüdische Gesellschaft sozial sehr differenziert war.

(16)
„Aschkenas“ ist ein im Tanach vorkommender Personenname. Aus ungeklärten
Gründen wurde er im Mittelalter von in das deutsche Reich eingewanderten Juden
und Jüdinnen als Stammvater der Germanen angesehen. Später wurden mit
„aschkenasisch“ alle im Mittelalter in Mitteleuropa lebenden Juden und Jüdinnen
(mit Deutschland als Zentrum) bezeichnet. Durch die spätere Migration nach
Osteuropa hat sich die geografische Ausdehnung der Aschkenasim stark
verbreitert. Inwiefern und in welchem Umfang sich auch nach Osteuropa
geflüchtete ChasareInnen nach der Niederlage gegen die Rus dazufügten, ist
umstritten.

(17) siehe
Léon, a. a. O. S. 81 f.

(18) ebd.,
S. 84 f.

(19) In
Frankreich führte Philipp II. (1198) den „produit des juifs“ (Judenertrag) ein
und stellte sie unter seinen „Schutz“ – und vor allem seine Kontrolle; 1394
unter Karl VI. wurden die Juden und Jüdinnen endgültig aus Frankreich
vertrieben. In England wurden die Juden und Jüdinnen bereits seit der
normannischen Eroberung mit einer königlichen Steuer belegt; zur Begleichung
der Schulden diverser Kriege wurden 1290 durch Eduard I. die Juden und Jüdinnen
des Landes verwiesen (sprich enteignet) und ab dann nicht mehr geduldet. In
Deutschland führte Kaiser Friedrich II. 1236 die „Kammerknechtschaft“ für alle
Juden und Jüdinnen ein. Sie waren zwar damit unmittelbar dem kaiserlichen
Schutz unterstellt, gleichzeitig als quasi Leibeigene auch zu willkürlicher
Steuerleistung verpflichtet. Dies wurde von den HabsburgerInnen bis ins
18.Jahrhundert fortgesetzt.

(20) Zur
besonderen Situation der Juden und Jüdinnen in Polen-Litauen und im Zarenreich
bis zum 19. Jahrhundert siehe: Léon, a. a. O., S. 120 ff.

(21) Siehe
Bericht in „Der Standard“ über eine Studie, die im „Journal of Human Genetics“
veröffentlicht wurde: https://derstandard.at/1227287822229/Genetische-Ueberraschung-fuer-spanische-Maenner.

(22) Siehe
dazu: Max Sebastián Hering Torres, „Rassismus in der Vormoderne, Die ,Reinheit
des Blutes’ im Spanien der Frühen Neuzeit“, Frankfurt am Main 2006.

(23) Siehe
dazu: Rena Molho, „Der Holocaust der griechischen Juden“, Bonn 2016. Hier wird
auch auf die nicht gerade rühmliche Geschichte des griechischen Umgangs mit
diesen Ereignissen und Antisemitismus im Allgemeinen eingegangen.

(24) Vom
hebräischen Wort „MiZRaCH“ für „Osten“.

(25) Zur
Bedeutung des „Reformjudentums“ als Projekt der Integration in die entstehenden
bürgerlich-liberalen Nationalstaaten im starken Gegensatz zum später
aufkommenden Zionismus siehe: S. Sand, a. a. O., S. 229 f.

(26) Moses
Hess, Ausgewählte Schriften, „Rom und Jerusalem“, hrsg. von Horst Lademacher,
Wiesbaden 1981, S. 259. Natürlich ist die Ähnlichkeit zu der schon
geschilderten Position von Moses Maimonides überdeutlich.

(27) Karl
Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin/O. 1974. Es muss bemerkt werden, dass der
erste Teil dieser Schrift eine sehr richtige Kritik am bürgerlichen
Emanzipationsbegriff und seiner Voraussetzung, der Spaltung des Menschen in
den/die „BürgerIn“ und den „Privatmenschen“, entwickelt („gleiches Recht“ gilt
nur für Ersteren). Im zweiten Teil der Schrift wird allerdings eine Definition
vom Begriff des Judentums als „Wucherertum“ geliefert, die zeigt, dass Marx zu
diesem Zeitpunkt von einer dialektisch-materialistischen Analyse noch entfernt
war. Die Emanzipation der Juden und Jüdinnen als „Vernichtung des Judentums“
kann also nicht als Position des „entwickelten Marxismus“ angesehen werden.

(28)
Zitiert nach: August Thalheimer, „Spinozas Einwirkung auf die deutsche
Literatur“: http://www.mxks.de/files/klasse/Thalheimer.KlassenverhSpinoza.part3.html

(29)
Bericht von Deutschlandradio-Kultur: „Ungläubig in Jerusalem“, 12.8.2016: https://www.deutschlandfunkkultur.de/saekulare-juden-unglaeubig-in-jerusalem.1079.de.html?dram:article_id=362953.

(30) Siehe
die Berichte des israelischen „Central Bureau of Statistics“. Die Zahlen für
z. B. 2015: 16.700 AuswanderInnen gegenüber 8.500 EinwanderInnen.

(31) Siehe
zu den Motiven von schon Ausgewanderten: https://www.deutschlandfunk.de/israelische-einwanderer-wunschland-deutschland.886.de.html?dram:article_id=385476.
In der Zeitung Haaretz wurde eine Umfrage veröffentlicht, nach der sogar
40 % der Israelis über Auswanderung nachdenken: https://www.heise.de/tp/features/Auswanderung-aus-Israel-politische-und-soziale-Klaustrophobie-3369692.html.

(32) Shlomo
Sand, How Israel went from Atheist Zionism to a Jewish State, Haaretz,
21.1.2017.

(33)
“haAwoda” ist die „Partei der Arbeit”, die aus der sich sozialistisch nennenden
Mapai-Partei hervorgegangen ist. Mapai war die führende politische Kraft in der
Gründungsperiode Israels (z. B. unter ihrem Führer Ben Gurion). Sie hat
bei den letzten Wahlen 2015 18 % der Stimmen bekommen, während sie Anfang
der 1990er Jahre noch weit über 30 % lag. Sie ist heute im Wahlbündnis
„Zionistische Union“ zusammen mit der national-liberalen Ha Tnu’a (Die
Bewegung) von „Tzipi“ Livni.

(34) Shlomo
Sand, „Israel isn’t fascist, but it still needs the world to save it“. Haaretz,
13.8.2016.

(35) Karl
Marx, „Konfidentielle Mitteilung, 5. Die Resolution des Generalrats über die
irische Amnestie“, in: MEW 16, Berlin/O. 1973, S. 417.

(36) Siehe die Stellungnahme
der „Jewish Voice for Labour“ gegen die Kampagne, die israelbezogenen Beispiele
der IHRA-Definition in der Labour-Party anzuerkennen: https://www.jewishvoiceforlabour.org.uk/blog/mischievous-and-malicious-attack-on-labour/.

(37) Holger
Schatz/Andrea Woeldike, „Freiheit und Wahn deutscher Arbeit“, Hamburg 2001, S.
16. Grob vereinfacht und verkürzt könnte man sagen, dass das Alte Testament für
beide, Juden/Jüdinnen und ChristInnen, religiöse Gültigkeit hat, während das
Neue Testament nur von den ChristInnen „anerkannt“ wird.

(38)
zitiert nach Gerhard Scheit, „Verborgener Staat, lebendiges Geld“, Freiburg
(Brsg.) 1999, S. 65. Siehe dazu auch Mord- und Gewaltphantasien Martin Luthers
in seiner Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“, Hrsg.: Karl-Heinz
Büchner/Bernd P. Kammermeier/Reinhold Schlotz/Robert Zwilling, Aschaffenburg
2016.

(39)
Scheit, a. a. O., S. 18.

(40) Ebd.,
S. 28 f.

(41) Saul
Friedländer, „Das Dritte Reich und die Juden“, München 2000, S. 98.

(42) Ebd.,
S. 98.

(43) Ebd.,
S. 101.

(44)
Scheit, a. a. O., S. 558 f.

(45) Philip
Zeidler, „Die Ritualmordlegende um Simon von Trient“, Erfurt 2013.

(46) siehe
Bericht über eine aktuelle „Judenstein“-Wallfahrt: http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/antisemitismus-1/kult-um-anderl-von-rinn-totgesagte-leben-laenger/Sabine%20Wallinger-%20Totgesagte_leben_laenger.pdf.

(47) Mario
Erdheim, „Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit“. Frankfurt am Main
1984, S. 222.

(48) Ebd,
S. 258

(49) Ebd.,
S. 389 f.

(50) Leo
Trotzki, „Schriften über Deutschland“, Hrsg: Helmut Dahhmer, EVA, Frankfurt am
Main 1969, S. 234.

(51) Ebd.,
S. 231.

(52) Dieser
Artikel findet sich wie viele andere grundlegende Artikel aus dem Umkreis der
Frankfurter Schule, soweit sie sich vor allem auf die Psychoanalyse beziehen,
im zweibändigen Sammelband „Analytische Sozialpsychologie“, herausgegeben von
Helmut Dahmer, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 (hier zitiert nach dem
Reprint von 1992). Hier: Theodor W. Adorno, „Die Freudsche Theorie und die
Struktur faschistischer Propaganda“, Band 1, S. 318. Ersterscheinung: 1951.

(53) Siehe:
Ernst Simmel, „Antisemitismus und Massenpsychopathologie“ (1946), in:
„Analytische Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 282; Max
Horkheimer, „Autorität und Familie in der Gegenwart“ (1949), in: „Analytische
Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 343.

(54)
Sigmund Freud, „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), in: „Analytische
Sozialpsychologie“, Band 1, a. a. O., S. 38. Zitierte Stelle: S. 49.

(55)
Adorno, a. a. O., S. 328.

(56)
Simmel, a. a. O., S. 296.

(57)
Adorno, a. a. O., S. 328.

(58) Georg
Lukács, „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, in:
„Geschichte und Klassenbewusstsein“, Amsterdam 1967, S. 94–228; Erstausgabe:
Berlin 1923. Ein zentrales Werk der marxistischen Philosophie des 20.
Jahrhunderts!

(59) Moishe Postone, „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ (1979). Hier zitiert nach der Ausgabe von: Initiative Sozialistisches Forum, „Kritik & Krise“, Nr. 4/5, Freiburg 1991, Übersetzung Schumacher/Diner.

(60) Ebd.,
S. 1.

(61) Ebd.,
S. 3.

(62) Ebd.,
S. 4.

(63) Ebd.,
S. 6.

(64) Ebd.,
S. 7.

(65) Ebd.,
S. 7.

(66)
[‚solid], Gegen jeden Antisemitismus, Bundeskongress 2015, https://www.linksjugend-solid.de/2015/09/11/gegen-jeden-antisemitismus/.

(67) Moshe
Zuckermann, „Der allgegenwärtige Antisemit“, Frankfurt am Main 2018, S. 83 f.

(68) H. G.
Wells, 1901, zitiert nach: Richard Dawkins, „Geschichten vom Ursprung des
Lebens“, Berlin 2008, S. 567

(69) Joseph Arthur de Gobineau,
„Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“, 4 Bände, Paris 1853–1855.

(70)
Houston Stewart Chamberlain, „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“,
München 1899.

(71) Alfred
Rosenberg, „Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts“, München 1930.

(72)
Dawkins, a. a. O., S. 568. Bemerkung: Hier und im Folgenden verwenden
wir rein naturwissenschaftliche Darstellungen von Richard Dawkins, der
allerdings nicht nur Biologe, sondern auch ein bekannter Religionskritiker ist.
Wir folgen anderen Methoden der Religionskritik – aber das ist hier kein Thema.

(73) Siehe
einen Bericht dazu in der New Your Times: http://www.humanitas-international.org/perezites/news/jewish-dna-nytimes.htm.

(74) Siehe
einen Bericht dazu in der Wiener „Presse“: https://diepresse.com/home/science/1333528/Dejavu_Woher-stammen-die-Aschkenasim?_vl_backlink=/home/science/index.do.

(75)
Dawkins, a. a. O., S. 90.

(76) Genaueres zur Geschichte und Verteilung von Haplogruppen, siehe z. B.: „Die Ursprünge des Menschen“, Spektrum (der Wissenschaften) Kompakt, Mai 2013 bzw. April 2014: https://www.spektrum.de/shop/spektrum-kompakt/.

(77) Nach
Shlomo Sands oben zitierten Artikel in der Haaretz, 21.1.2017. Mit der
fortschreitenden Kolonisierung von Palästina „vergaß“ Ben Gurion diese Position
allerdings gründlich und ging von einer Unmöglichkeit des Zusammenlebens von
AraberInnen und Juden/Jüdinnen in einem Staat aus.

(78) Stuart
Hall, „Das verhängnisvolle Dreieck – Rasse, Nation, Ethnie“, Berlin 2018.
Basierend auf einer Vorlesungsreihe zu diesem Thema 1994 in der Harvard
University.

(79) Eric
Hobsbawm war einer der bedeutendsten jüdischen Intellektuellen im von ihm als
das „kurze zwanzigste Jahrhundert“ bezeichneten Zeitabschnitt (1917–1991). In
Alexandria als Sohn einer britisch-österreichischen Familie geborener Jude
wuchs er in Wien auf, wurde in Belin der frühen 1930er Jahre kommunistisch
politisiert und machte in London akademische Karriere als Historiker. In seiner
Gesamtschau folgte dem Zivilisationsbruch zwischen Erstem Weltkrieg und der
Shoa eine von kaum jemandem erwartete, als „goldenes Zeitalter“ verklärte
Atempause von „Wirtschaftswunder“, „Postkolonialismus“ und „friedlicher
Koexistenz“, die aber zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder in eine
Krisenperiode überging.

(80) Zur
Kritik von Mouffe und Laclau siehe: Martin Suchanek, „Sackgasse
Linksreformismus“, in: Revolutionärer Marxismus 50, Berlin 2018, S. 172–235.

(81) Siehe
dazu: Alex Callinicos, Stuart Hall in perspective, Nachruf vom April 2014,
International Socialism, Issue 142, S. 139 f., online: http://isj.org.uk/stuart-hall-in-perspective/.

(82) Siehe
z. B. in „Modell Oktoberrevolution“, RM 49, Berlin März 2017, wo wir
Gramsci, Althusser und die zeitgenössische Transformationslinke auf der
Grundlage der Tradition des revolutionären Marxismus kritisch bearbeitet haben.

(83) Stuart
Hall (unter Mitwirkung von Brian Roberts und John Clarke), „Policing the
Crisis: Mugging, the State, and Law and Order“, London 1978.

(84) Die
Hautfarbe steht hier für eine Reihe „grober körperlicher Merkmale“ wie
Haarfarbe, Körperbau, Gesichtsform, etc. Wie Autoren wie Appiah, Du Bois, Fanon
feststellen, geht es weniger um die angeblich dahinterliegenden genetischen
Unterschiede als vielmehr darum, dass Klassifizierung ermöglicht wird, da diese
Unterschiede durch das Auge so gut sichtbar seien. Bestimmte soziale Rollen
werden so „in die Haut eingeschrieben“, werden den Betroffenen selbst zur
„zweiten Haut“. Fanon spricht vom Prozess der „Epidermisierung“. Siehe: Hall,
Das verhängnisvolle Dreieck (siehe oben), S. 82 f.).

(85) Stuart
Hall, Das verhängnisvolle Dreieck, a. a. O., S. 79 ff.

(86) Ebd.,
S. 94.

(87) Der
Artikel „Wer ist Jude“ wurde auf Deutsch veröffentlicht in: Isaac Deutscher,
Die ungelöste Judenfrage – Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus,
Berlin/W. 1977. Letztere Aufsatzsammlung wurde im englischen Original 1968
veröffentlicht.

(88) Ebd.,
S. 68.

(89) Dieses
Narrativ wurde spätestens 2003 durch Benjamin Netanjahu zum Standardrepertoire
israelischer Politik, siehe: https://www.haaretz.com/1.4802179.

(90)
Deutscher, a. a. O., S. 33.

(91) Hall,
Das verhängnisvolle Dreieck a. a. O., S. 174 ff.

(92) Ebd.,
S. 174

(93)
Wahlspruch des antizionistischen jüdischen Bundes, siehe mehr dazu im Kapitel
über die ArbeiterInnenbewegung.

(94) Die
genannten Gründe für den Unterschied von Antisemitismus in seinen Grundlagen
und der besonderen Schärfe seines Vernichtungspotentials können dafür
ausschlaggebend sein, dass man Antisemitismus und Rassismus begrifflich trennt.
Da allerdings auch der Antisemitismus selbst sehr verschiedene Formen annehmen
kann, von denen die meisten strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Rassismen
haben, verwenden wir, wenn auch im Bewusstsein seiner Grenzen, den Begriff des
„Rassismus sui generis“.

(95) siehe:
Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer, „Deutsch-Jüdische
Geschichte in der Neuzeit“, Band 2, „Emanzipation und Akkulturation 1780–1871“,
München 1996, S. 43 ff.

(96) In
diesem Satz gipfelten die Tiraden von Treitschkes in dessen großmannssüchtigem
Weltpolitik-Überblick „Unsere Aussichten“, Preußische Jahrbücher, Band 44,
Berlin 1879, S. 559–576. Er bemerkt darin eine Flut an antisemitischen
Aktivitäten „im Volk“, die er dann als „gesunden Volksinstinkt“ erkennt, der in
richtige Bahnen gelenkt werden müsse. Seine Ausführungen gipfeln in der
Warnung, dass auf die „Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter
deutsch-jüdischer Mischkultur“ folgen könnte. Dagegen müsse von „unseren
israelitischen Mitbürgern“ verlangt werden, „sie sollen Deutsche werden und
sich schlicht und recht als Deutsche fühlen“ (S. 573).

(97) Siehe
vor allem Theodor Mommsens mehrfach aufgelegtes Büchlein „Auch ein Wort über
unser Judenthum“, Weidmann, Berlin Dezember 1880 (https://digital.ub.uni-potsdam.de/content/titleinfo/171289).
Darin weist er den Mythos der „Jahrtausende alten“ germanischen Abstammung
zurück, betont die Vermischung verschiedener Kulturen, die sich in Mitteleuropa
schon immer abgespielt hat, und fragt, ob man sich als Berliner seinen
jüdischen Nachbarn tatsächlich fremder fühle als einem Sachsen oder Pommern.
Schließlich bemerkt er, dass es alles andere als ein Unglück sei, dass die
jüdischen Beiträge zur neuren deutschen Kultur die alten landsmannschaftlichen
Verknöcherungen aufbrechen würden.

(98) Aus den „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, Berlin 1894, https://periodika.digitale-sammlungen.de/abwehr/Band_bsb00000898.html.

(99) Anders als vielfach
wiedergegeben, stammt der Ausspruch nicht von August Bebel, sondern vom
liberalen österreichischen Abgeordneten Ferdinand Kronawetter, der mit der
österreichischen Sozialdemokratie eng verbunden war. Er wurde von vielen
SozialdemokraInnten weltweit verwendet. Leider hat sich Bebel sogar davon
distanziert, wird aber absurderweise als ihr Urheber bezeichnet: http://falschzitate.blogspot.com/2017/12/der-antisemitismus-ist-der-sozialismus.html

(100)
August Bebel, Antisemitismus und Sozialdemokratie, Protokoll über die
Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Köln
a. Rh. 1893“, Dietz, Berlin/Bonn 1978 (Reprint) S. 223 f. http://www.archive.org/stream/protokollderverh1893soziuoft#page/222/mode/2up

(101) Karl
Kautsky, zitiert nach: Jack Jacobs, „Sozialisten und die ‚Jüdische Frage‘ nach
Marx“, Mainz 1994. S. 22.

(102) Karl
Kautsky, zitiert nach Jacobs, a. a. O., S. 48.

(103) Karl
Kautsky, „Judentum und Rasse“, Stuttgart 1914; Neue Zeit-Ergänzungsheft.

(104)
Jacobs, a. a. O., S. 121.

(105)
Lenin, Die Stellung des ‚„Bund“‘ in der Partei, Lenin Werke Band 7, Berlin/O.
1976, S. 82 ff.

(106) Der
Mitbegründer und langjährige Präsident der AFL (der „American Federation of
Labor“) war der jüdische Zigarrenarbeiter Samuel Gompers. Die
Textilarbeitergewerkschaften in der AFL waren lange eine Domäne jüdischer
EinwanderInnen. Dies sind nur Beispiele der bedeutenden Beiträge jüdischer
EinwanderInnen für den Aufbau der US-amerikanischen ArbeiterInnenbewegung.

(107)
Tatsächlich war die 1905 entstandene Organisation „Bund des russischen Volkes“
die weitaus mitgliederstärkste politische Organisation im Zarenreich und hatte
neben extrem reaktionären klerikal-konservativen und chauvinistischen
Positionen auch einen aktionsbereiten antisemitischen Kern. Die Verlage des
„Bundes“ druckten die „Protokolle der Weisen von Zion“ und waren so wesentlich
für ihre Verbreitung. Im Rahmen der „Schwarzen Hundert“ beteiligten sich
paramilitärische UnterstützerInnen des „Bundes“ auch an der Vorbereitung von
Pogromen. Es ist bezeichnend für die Situation im heutigen Russland, dass es zu
einer positiven Umwertung dieser Organisation kommt und sich neue
„national-patriotische“ Parteien auf deren Tradition berufen. Selbst in der
Sowjetunion eckte 1961 Jewgenij Jewtuschenko bei der Staatsführung an, als er
im Gedicht „Babi Jar“ an die Geschichte des russischen „Bundes“ erinnerte und
darin betonte, dass mit dessen Untergang der Antisemitismus in Russland nicht
verschwunden ist.

(108) Lenin
Werke, Band 20, Berlin/O. 1961, S. 166.

(109) Lenin
Werke, Band 20, a. a. O., S. 1–37, S. 395–461.

(110) Ebd.,
S. 446.

(111) Ebd., S. 19.

(112) Ebd.,
S. 413.

(113) Siehe
insbesondere: Otto Bauer, „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“,
Wien 1907. Siehe insbesondere das Kapitel „Nationale Autonomie der Juden“, in
der der Jude Otto Bauer vom baldigen Verschwinden der „jüdischen Frage“ durch
Assimilation ausgeht.

(114) Lenin
Werke, Band 20, a. a. O., S. 19.

(115) Ebd.,
S. 7 ff.

(116) Ebd.,
S. 10.

(117) Ein
Hauptmotiv in der „Analyse“ von Hitlers „Mein Kampf“ zur Definition seines
„nationalen Sozialismus“.

(118)
Abraham Léon, „Judenfrage…“, a. a. O., S. 172 f..

(119)
Sigmund Freud, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion – Schriften zur
Religion“, Frankfurt am Main 1975, S. 116 f.

(120) Max
Horkheimer/Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung“, Frankfurt am Main
1969, S. 71.

(121)
Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“. In: Gesammelte Werke, Köln
2012, S. 631.

(122)
Nietzsches großer Heros, der Gesamtkunstwerkschöpfer Richard Wagner, hat nicht
nur eine fürchterliche antisemitische Schrift über „Das Judentum in der Musik“
verfasst, das zur Blaupause für kleinbürgerlichen Antijudaismus in der Kunst
wurde. Er hat insbesondere im „Der Ring des Nibelungen“ ganz im Nietzsche’schen
Sinn das Unbehagen an der Moderne in starke mythologische Bilder gefasst des
vergeblich sich gegen die „naturwidrige“ Gesetzlichkeit erhebenden Helden.

(123) In:
Interview with Jewish correspondents in Mexico (18.1.1937), erschienen
u. a. in den jiddischen Zeitungen „Der Tog“ und „Forwaerts“ (24.1.1937) in
den USA. Hier zitiert aus: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, Pathfinder
Press, New York 1970, S. 28. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(124) In:
Thermidor and Anti-Semitism, Artikel erschienen in „New International“, 1940.
Hier zitiert aus: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O.,
S. 40. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(125) Ebd.,
S. 28.

(126) Leo
Trotzki, „Porträt des Nationalsozialismus“, zuerst erschienen in „Die neue
Weltbühne“, Juli 1933 [Die „Weltbühne“, die vor allem mit den Namen Tucholsky
und von Ossietzky verbunden ist, war eine der bekanntesten intellektuellen
Zeitschriften des „Linksbürgertums“ der Weimarer Republik. Speziell Tucholsky
schätzte Artikel von Trotzki besonders und ließ sich durch Anfeindungen von
sozialdemokratischer und stalinistischer Seite nicht beeindrucken. Nach der
Machtergreifung wurde die „Weltbühne“ verboten und erschien aus dem Exil –
zunächst aus Wien – als „Neue Weltbühne“ in kleiner Auflage weiter. Dort wurde
Trotzkis „Porträt“, das er im Juni 1933 in seinem Exil in Prinkipo geschrieben
hatte, veröffentlicht. Tucholsky staunte, wie jemand aus soviel Entfernung eine
viel klarere Sicht auf die Ereignisse in Deutschland haben könne als die vor
Ort Lebenden, hier zitiert aus: „Schriften über Deutschland“,
a. a. O., S. 575.

(127) Ebd.,
S. 575.

(128) Ebd.,
S. 575 f.

(129) Ebd.,
S. 578

(130) Ebd.,
S. 577.

(131) Ebd.,
S. 579.

(132) Ebd.,
S. 579

(133)
„Appeal to American Jews menaced by fascism and Anti-Semitism, Dezember 1938,
zitiert nach: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“, a. a. O., S.
41. Übersetzung aus dem Englischen durch den Autor.

(134) In:
„Manifest der 4. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur
proletarischen Weltrevolution“ (1940). Zitiert nach: Leo Trotzki, „Schriften
zum imperialistischen Krieg“, Frankfurt am Main 1978, S. 139.

(135) In:
Isaac Deutscher, „Überreste einer Rasse“, veröffentlicht im „Economist“,
12.1.1946. Zitat von Generalleutnant Morgan aus „The Times“, 3.1.1946. Zitiert
nach: Isaac Deutscher, Die ungelöste Judenfrage, a. a. O., S. 53.

(136) Ebd.,
S. 57.

(137) In:
„On the ,Jewish Problem’“, Interview mit der Zeitschrift „Class Struggle“,
Februar 1934. Zitiert nach: Leon Trotsky, „On the Jewish Question“,
a. a. O., S. 25.

(138) Ebd.,
S. 25.

(139) Ebd.,
S. 25 f.

(140) In:
Isaac Deutscher, „Der israelisch-arabische Krieg vom Juni 1967“, New Left
Review. Zitiert aus: Isaac Deutscher, „Die ungelöste Judenfrage“,
a. a. O., S. 91 f.

(141) Ebd.,
S. 92.

(142) Ossip
K. Flechtheim, „Die KPD in der Weimarer Republik“, EVA, Frankfurt am Main 1973,
S. 173.

(143) Mario Keßler, „Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik“, UTOPIE kreativ, H. 173, März 2005, S. 226; < https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/173/173_Kessler.pdf.

(144)
Trotsky, „Thermidor and Anti-Semitism“, The New International, 1937; zitiert
nach: ders., „On the Jewish Question“, a. a. O., S. 31 ff.
Übersetzung von Zitaten aus dem Englischen durch den Autor.

(145) Ebd.,
S. 37.

(146) Ebd.,
S. 32.

(147) Ebd.,
S. 37.

(148) Isaac
Deutscher, „Stalin – eine politische Biographie“, Reinbek bei Hamburg 1992
(rororo-Reprint; Die Originalausgabe erschien 1949 auf englisch bei Oxford
University Press)

(149) Ebd.,
S. 761.

(150) Siehe
ausführlich: Wiebke Bachmann, „Die UdSSR und der Nahe Osten: Zionismus,
ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis 1956“, München
2011.

(151) Zu
den genannten Verfolgungen in dieser Zeit siehe: Deutscher, „Stalin…“,
a. a. O., S. 763 f.

(152)
Siehe: Werner Schmidt, „Peter Weiss – Biografie“, Berlin 2016. Die Anfeindungen
gegen Weiss vom „Realsozialismus“ bis in die „Sponti-Bewegung“ wird ausführlich
dargestellt im Kapitel „Persona non grata“. Das Zitat mit dem „dicken Blut“
stammt aus dem Organ der „orthodoxen“ Kommunistischen Partei Schwedens dieser
Zeit, „Norrskensflamman“ (Weiss war im zweiten Weltkrieg ins schwedische Exil
geflüchtet und Mitglied des „eurokommunistischen“ Flügels der schwedischen
KommunistInnen). Siehe dazu: S. 276f.

(153) Siehe
z. B.: Hamed Abdel-Samad, „Der islamische Faschismus“, München 2014.

(154) Siehe
dazu die 7-teilige Dokumentation „Jesus und der Islam“, arte, 2015 (Dezember).

(155) Siehe
z. B.: Abdel-Samad, a. a. O., S. 34 ff. (Kapitel „Die
Muslimbrüder und die Nazis“).

(156)
Siehe: David Ranan, „Muslimischer Antisemitismus“, Bonn 2018, S. 171. Liest man
jedoch die Charta, wird klar, dass zwar der Bezug auf die „Protokolle“
gestrichen wurde, die Weltverschwörungstheorien gegenüber den „FeindInnen“ (das
dort verwendete Wort für „Juden/Jüdinnen“) unvermindert enthalten sind.

(157)
A. a. O.

(158) Ebd.,
S. 62 f.

(159) Ebd.,
S. 43.

(160)
Gespaltene Mitte – feindselige Zustände, rechtsextreme Einstellungen in
Deutschland, IKG Bielefeld (in Zusammenarbeit mit der Friedrich Ebert
Stiftung), 2016.

(161)
Ranan, a. a. O., S. 71.

(162) Zitat
von den Bielefelder Autoren, Ranan, a. a. O., S. 77.

(163) http://redaktion-bahamas.org/artikel/2016/73-die-volkspartei-des-gesunden-menschenverstandes

(164)
Ranan, a. a. O., S .41.

(165) Die Linksjugend [`solid], „Gegen jeden Antisemitismus“, Beschluss des Bundeskongresses 2015: https://www.linksjugend-solid.de/2015/09/11/gegen-jeden-antisemitismus/

(166)
Ranan, a. a. O., S. 21.

(167) Ebd.,
S. 25.

(168) David
Ranan, a. a. O., S. 39, Zitat von Y. Kuperwasser aus Flashpoint 27.

(169)
Theodor Herzl, „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“,
Leipzig und Wien, 1896.

(170)
Zitiert nach Eli Lobel, „Die Juden und Palästina“, in: Sabri Geries/Eli Lobel,
„Die Araber in Israel“, München 1970, S. 66.

(171) Moshe
Zuckermann, „Israels Schicksal. Wie der Zionismus seinen Untergang betreibt“,
Wien 2014, S. 49.

(172)
zitiert nach Ehud Adiv, „Politik und Identität“, in: Ilan Pappe/Jamil Hilal (Hrsg.),
„Zu beiden Seiten der Mauer“, Hamburg 2013, S. 32.

(173)
Lobel, a. a. O., S. 36.

(174) John
Rose, „Mythen des Zionismus – Stolpersteine auf dem Weg zu Frieden“, Zürich
2006, S. 147.

(175) Uri
Davis, „Die Kolonialherren im geographischen Palästina beim Namen genannt“, in;
Pappe/Hilal, a. a. O., S. 397.

(176) Man
muss bei der Frage von Teilung (und auch Zweistaatenlösungen) immer bedenken,
dass es um eine im Vergleich sehr kleine Fläche geht. Das heutige Israel ist
etwa so groß wie das Bundesland Hessen, die Hälfte davon nimmt aber die Wüste
Negev ein. Die Bevölkerungsdichte und die Konkurrenz um die fruchtbaren Böden
sind daher sehr groß.

(177)
Zitiert nach: Tom Segev, „Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen
Staates“, München 2010, S. 52.

(178) Ebd.,
S. 63.

(179)
Tatsächlich war dieses „Verbleiben“ zum Teil Resultat der
Waffenstillstandsverhandlungen und des Drucks der britischen „Schutzmacht“, die
das „Flüchtlingsproblem“, das sich ihnen für ihre arabischen „Verbündeten“
aufgetan hatte, durch „Rücknahmekontigente“ für Israel zu mildern suchte.

(180) Im
Zuge der Oslo-Verträge wurde 1994 die „Palästinensische Autonomiebehörde“
eingerichtet, die de facto Regierungsfunktionen in den „palästinensischen
Autonomiegebieten“ ausübt. Sie hat offiziell in der sogenannten Zone A
öffentliche und sicherheitspolitische Kontrolle, in Zone B nur
Verwaltungsfunktion und ist in Zone C der israelischen Verwaltung
untergeordnet. Wenn auch die israelische Armee offiziell nur die Zone C
kontrolliert, ist sie die einzige wirkliche militärische Macht in der ganzen
Region. Zusätzlich ist die palästinensische „Autonomie“ noch durch die Teilung
zwischen Gaza (unter Kontrolle der Hamas) und Westjordanland (unter Kontrolle
der Fatah) gespalten, so dass die PA im Wesentlichen nur im Westjordanland ihre
beschränkten Funktionen erfüllen kann. Da die Zone C nicht nur 62 % des
Westjordanlandes, sondern auch landwirtschaftlich wertvolle Gebiete umfasst,
leben dort fast 200.000 PlästinenserInnen in Nachbarschaft zu jüdischen Siedlungen
unter fast ständiger militärischer Besatzungskontrolle.

(181) Siehe z. B.:
Haaretz, Radical Settler, Proud ‚Homophobe‘ and Wunderkind: Meet the new leader
of Israel’s Far Right; 15.Januar 2019. https://www.haaretz.com/israel-news/elections/.premium-radical-settler-proud-homophobe-and-wunderkind-new-leader-of-israel-s-far-right-1.6846001




Ein Aktionsprogramm für Palästina

Liga für die Fünfte Internationale, Herbst 2018, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Ein Jahrhundert nach der Balfour-Erklärung, in der Großbritannien zum ersten Mal eine nationale Heimstätte für die Jüdinnen und Juden in Palästina versprach und gleichzeitig zusagte, dass „nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina beeinträchtigen könnte“, werden die Rechte eben dieser Gemeinschaften des palästinensischen Volkes massiv verweigert. Heute sind es zwölf Millionen, von denen weniger als die Hälfte noch in ihrer historischen Heimat, sei es im Staat Israel oder in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gazastreifens, lebt. Die restlichen sechs bis sieben Millionen sind Flüchtlinge, die noch immer in notdürftigen Lagern leben, in die sie und ihre Familien 1948 und 1967 vertrieben wurden.

Trotz alledem gibt es die PalästinenserInnen als Nation, als Volk, weiterhin und sie widersetzen sich so entschlossen wie eh und je ihrer Vernichtung. Sie kämpfen gegen eine der am besten ausgerüsteten Armeen der Welt, die mit Atomwaffen bewaffnete israelische Armee, unpassend als „Verteidigungsstreitkräfte“ (IDF) bezeichnet. Dazu kommt ein gewaltiger Apparat der Überwachungs- und Geheimdienste, Mossad (Institut für Aufklärung und besondere Aufgaben; Auslandsgeheimdienst) und Schin Bet/Schabak (Allgemeiner Sicherheitsdienst; Inlandsgeheimdienst), der repressive Regime auf der ganzen Welt mit Neid erfüllt. Die israelische Cyber-Kriegsführungskapazität wird als eine der fünf oder sechs besten der Welt angesehen. Um das Ganze abzurunden, verfügt dieser Gegner über die uneingeschränkte logistische und finanzielle Unterstützung der einzigen Supermacht der Welt, den USA.

Der zionistische SiedlerInnen-Kolonialismus hatte zwei Voraussetzungen: die Migration jüdischer Flüchtlinge vor dem in Europa grassierenden Antisemitismus nach Palästina sowie ein politisches und wirtschaftliches Regime, das die Vertreibung der bereits dort lebenden Bevölkerung ermöglichte. Das wurde durch ein Bündnis mit dem britischen Imperialismus möglich, der im Ersten Weltkrieg über das Osmanische Reich siegte und eine zwanzigjährige Herrschaft über Palästina errichtete. So wurde es einer beträchtlichen (aber immer noch nicht mehrheitsfähigen) Siedlerpopulation möglich, sich anzusiedeln und zu bewaffnen. Diese Bewegung, insbesondere ihr sogenannter ArbeiterInnenflügel, verfolgte ein Programm der Enteignung armer palästinensischer Bäuerinnen und Bauern sowie eines Ausschlusses aller nichtjüdischen ArbeiterInnen aus den Fabriken, Läden und Büros.

Ohne den europäischen Massenmord am jüdischen Volk,  Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung im Holocaust (Shoa) und  enorme historische Tragödie der Jüdinnen und Juden in Europa, hätte das zionistische Projekt jedoch nie die Unterstützung einer Mehrheit des jüdischen Volkes erlangen können. Sechs Millionen starben, davon fast fünf Millionen aus den jiddischsprachigen Gemeinschaften Polens und der Sowjetunion und eine halbe Million aus Ungarn. Doch der Zionismus war nicht das Hauptinstrument des Widerstandes gegen diesen Vernichtungsfeldzug, und er bot den meisten seiner Opfer auch keine Zuflucht, bevor es zu spät war. Die UnterstützerInnenmächte Israels, Großbritannien und die USA, haben ihre Grenzen für die Masse der jüdischen Flüchtlinge weder vor noch nach dem Krieg geöffnet. Sie versuchten auch nicht, die Shoa durch Bombardierung der Infrastruktur des Massenmordes zu verhindern, selbst nachdem sie wussten, dass sie im Gange war. Die PalästinenserInnen hingegen waren, trotz der reaktionären Sympathien einiger ihrer FührerInnen, nicht für den Holocaust verantwortlich. Trotzdem wurden sie gezwungen, deren Kosten zu bezahlen. Das zionistische Projekt verhinderte nicht das Abschlachten der europäischen Juden, und die Gründung Israels war dadurch nicht gerechtfertigt.

So führte eine historische Tragödie zur nächsten: der Besetzung von 78 Prozent des britischen Mandatsgebiets Palästina und der umfassenden ethnischen Säuberung mittels Vertreibung von mindestens 750.000 PalästinenserInnen aus ihren Häusern und von ihrem Land, der Nakba (arabisch: Katastrophe) von 1948. Palästinensischen BürgerInnen Israels ist es bis heute gesetzlich verboten, derer zu gedenken. Aber die Katastrophe endete 1949 nicht. 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, als die IDF das gesamte Westjordanland und den Gazastreifen einnahm und weitere 300.000 vertrieb. Seitdem hat Israel unerbittlich weiter „Fakten geschaffen“ und die fruchtbarsten Landstücke im Westjordanland nach dessen Eroberung an sich gerissen. Trotz der Osloer Abkommen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) bleiben 61 Prozent des Westjordanlandes unter der direkten Kontrolle der IDF. Die Besiedlung geht bis heute weiter, unterstützt durch den Bau der Apartheids-Mauer, festungsartige Siedlungen, militärisches Sperrgebiet und Militärstraßen sowie unzählige Kontrollpunkte. Israelische Statistiken aus dem Jahr 2018 zeigen, dass heute 435.708 jüdische SiedlerInnen im besetzten Westjordanland leben. Wird Ost-Jerusalem dazugerechnet, steigt diese Zahl auf 700.000. Eine dauerhafte und unumkehrbare Situation zu schaffen, in der die Gründung eines souveränen und wirtschaftlich überlebensfähigen palästinensischen Staates unmöglich ist, bleibt das Ziel aller israelischen Regierungen, egal, ob sie es offen aussprechen oder stillschweigend durchführen.

Israel fordert immer wieder die Anerkennung seines Existenzrechts von den PalästinenserInnen ein und bezeichnet alle, die das verweigern, als AntisemitInnen. Aber ein Staat, dessen Existenz darauf beruht, einem anderen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern, kann dieses nicht für sich selbst in Anspruch nehmen. Die palästinensische Führung hat das Existenzrecht trotzdem immer wieder (1988, 1993 und seitdem) anerkannt, aber keine israelische Regierung hat je das Recht Palästinas, als souveräner Staat zu existieren, anerkannt.

Das Versprechen des britischen Labour Parteichefs Jeremy Corbyn, Palästina als Nation anzuerkennen, sollte er an die Regierung kommen, hat eine beispiellose Verleumdungs- und Hetzkampagne gegen ihn und den linken Flügel der Partei ausgelöst. Er hat die Belagerung des Gazastreifens und das Gemetzel an unbewaffneten DemonstrantInnen 2018 verurteilt und gedroht, Rüstungsgeschäfte und militärische Zusammenarbeit zu unterbinden, wenn dieser Zustand anhalte. Die BDS-Kampagne („Boycott, Divestment and Sanctions“; Boykott, Investitionsabzug und Sanktionen), in der antizionistische Jüdinnen und Juden in Israel wie auch im Ausland eine führende Rolle spielen, löste bei den rechten Regierungsparteien Israels eine wahnhafte Kampagne gegen die FreundInnen der PalästinenserInnen aus.

Die Unterstützung wiederum zeigt, dass es eine Perspektive für Palästina gibt, seine Vertriebenen zurückkehren zu lassen und in einem gemeinsamen Staat leben zu können, der beide jetzt in Palästina lebenden Nationen respektiert. Das bedeutet keineswegs eine „Vertreibung der Jüdinnen und Juden ins Meer“, einen „zweiten Holocaust“ oder all die anderen Horrorgeschichten, mit denen den PalästinenserInnen ihre Rechte vorenthalten werden sollen.

Palästinensischer Widerstand

Bis 1967 setzte die palästinensische Führung, in der Hoffnung, eines Tages Israel besiegen zu können, auf Befreiung durch die arabischen Staaten, insbesondere auf diejenigen, die wie Ägypten von nationalistischen Regimen regiert wurden. Aber nach dem Sechstagekrieg und der Versöhnung Ägyptens mit den USA wurde klar, dass PalästinenserInnen selbst die Hauptinstanz ihrer eigenen Befreiung sein mussten. Die Fatah unter Jassir Arafat, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) unter George Habasch, die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und andere Gruppierungen wandten sich dem „bewaffneten Kampf“ zu, also einer Strategie der Guerillakriegsführung. Aber auch diese ist gescheitert.

Die Strategie  hat jedoch den Fokus des Widerstands auf die Bevölkerung der besetzten Gebiete verlagert. Im Dezember 1987 begann die erste Intifada in Gaza. Junge PalästinenserInnen, nur mit Steinen und Benzinbomben bewaffnet, standen gegen die ganze Macht der IDF. Der damalige israelische Verteidigungsminister Jitzchak Rabin ist dafür berüchtigt, seinen Streitkräften befohlen zu haben, gefangenen DemonstrantInnenen „die Knochen zu brechen“. Die folgenden fünf Jahre heldenhaften  und massenhaften zivilen Ungehorsams, von Streiks, Demonstrationen, Steuerverweigerung und Boykotten israelischer Produkte, führten zu einer zunehmenden weltweiten Feindseligkeit gegenüber Israel und wurden für seine amerikanischen GeldgeberInnen so unangenehm, dass die Verhandlungen zwischen Israel und der PLO 1993 zu den Osloer Abkommen führten. Diese sollten in Vereinbarungen über Fragen des „dauerhaften Status“ wie den Jerusalems, Wasserrechte, Grenzabgrenzung, Siedlungen und Flüchtlinge münden.

Der Rest der 1990er Jahre wurde in fruchtlosen Verhandlungen über diese Themen verbracht. Schlimmer noch, die Bedingungen für die BewohnerInnen des Westjordanlandes, des Gazastreifens und der arabischen BürgerInnen Israels selbst haben sich verschlechtert, da das Kontrollpunktregime das Wirtschafts- und Familienleben erschöpfend und demütigend gestaltete. Aber das beste Angebot auf dem Gipfel von Camp David im Juli 2000 war ein palästinensischer Kleinstaat, der in vier nicht zusammenhängende Gebiete unterteilt war, die von israelischen Territorien und IDF-Truppen umgeben waren. Diese an die Bantustans der südafrikanischen Apartheid erinnernden Kantone hätten keine Kontrolle über ihre eigenen Grenzen, Lufträume oder Wasserressourcen. Die Gründung eines solchen „Staates“ hätte zudem illegale Siedlungen auf seinem Territorium und weitere Gebietsforderungen innerhalb der Grenzen von 1967 legitimiert.

Die sogenannte „Zwei-Staaten-Lösung“, die von PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) und PLA (Palästinensische Befreiungsarmee; militärischer Arm der PLO) wiederholt akzeptiert, von nachfolgenden israelischen und US-Regierungen in Worten befürwortet und von der Hamas unterstützt wurde, hat sich als Fata Morgana erwiesen, die sich in israelischen Übergriffen immer weiter in Luft auflöst. Diese angebliche Lösung hat zum Hauptziel, die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Mit dem Scheitern des Camp-David-Abkommens, dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Bau der Trennbarriere, besser bekannt als Apartheids-Mauer, wurde klar, dass Israel nie eine tragfähige Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren würde. Israel wird niemals einen souveränen und gleichberechtigten palästinensischen Staat akzeptieren oder die Rückkehr derjenigen zulassen, die vertrieben wurden.

Die Befreiung des palästinensischen Volkes und die Freiheit der Völker des Nahen Ostens von westlicher Herrschaft und Ausbeutung erfordern den revolutionären Sturz Israels als rassistischen Staat und seine Ersetzung durch einen einzigen bi-nationalen Staat, sowohl für sein palästinensisches als auch für sein israelisch-jüdisches Volk. Das bedeutet weder die Vertreibung der israelischen Bevölkerung noch ihre Zerstörung als Nation.

Strategie und Führung

Der panarabische Nationalismus, sei es auf der Grundlage der palästinensischen Bourgeoisie in der Diaspora oder der herrschenden Klassen in den umliegenden Staaten, hat weder Palästina befreit noch das Los seiner Bevölkerung wesentlich verbessert. Kleinbürgerliche Guerilla-Kräfte, ob beeinflusst durch nasseristische oder baathistische Regime in den 1960er Jahren oder durch radikale StalinistInnen in den 1970er und 1980er Jahren, sind daran ebenfalls gescheitert. Die Fatah, zuerst unter Jassir Arafat und dann unter Mahmud Abbas, wandte sich der reaktionären Utopie eines von ImperialistInnen vermittelten Friedensprozesses mit Israel zu. Dabei wurde sie zu einer Kollaborateurin des zionistischen Staates und der imperialistischen Mächte trotz der wiederholten Vertrauensbrüche und Erniedrigungen seitens Tel Avivs/Jerusalems und Washingtons.

Nach 25 Jahren Oslo-Abkommen kontrolliert die Palästinensische Autonomiebehörde (PA/PNA) nur 39 Prozent des Westjordanlandes, während der Rest unter IDF-Besatzung steht. Viele PalästinenserInnen wandten sich wegen ihrer Unterwerfung unter die ZionistInnen sowie der offensichtlichen Korruption und Gier ihrer AnführerInnen gegen die Fatah. Bei den Wahlen zum Legislativrat 2006 erhielt die Hamas 44,45 Prozent der Stimmen, während für Fatah nur 41,43 Prozent stimmten. Gemeinsam mit Israel und den USA sabotierte die Fatah die Hamas-Regierung und behielt die Macht im Westjordanland, verlor aber Gaza.

Die Hamas mit ihrer reaktionären islamistischen Ideologie widersetzte sich weiterhin Israel und zog so dessen erbarmungslosen Hass und den des Westens auf sich. Gaza wurde in einen Angst und Schrecken verbreitenden Belagerungszustand versetzt, um fast 2 Millionen Menschen kollektiv für den Widerstand der Hamas zu bestrafen. Aber die Hamas-Strategie der Raketen gegen Israel und die Selbstmordattentate auf israelische SoldatInnen und ZivilistInnen erwies sich als völlig wirkungslos, den Willen eines so mächtigen Gegners zu brechen. Gleichzeitig gab sie Israel den Vorwand, den BewohnerInnen von Gaza hundertmal mehr Zerstörung und Terror anzutun, als die Hamas jemals anrichten könnte. Es ist klar, dass weder Fatah- noch Hamas-Regime Palästina befreien können.

Kurz gesagt, weder der Verlass auf arabische Monarchien oder nationalistische DiktatorInnen noch sonstwie mutige Guerillas oder islamistische politische MärtyrerInnen können das palästinensische Volk befreien. Nur der massenhafte Kampf der ArbeiterInnen, Bäuerinnen, Bauern und Jugendlichen, zum Beispiel in der Intifada oder den Demonstrationen im Westjordanland und Gazastreifen, kann eine Grundlage zu einem wirkungsvollen Aufbegehren sein. Auch der Generalstreik und Betriebsbesetzungen werden den Kampf verstärken und Solidaritätsaktionen von fortschrittlichen Israelis, in der umliegenden Region und der ganzen Welt, motivieren.

Die für eine solche Strategie erforderliche Führung muss eine revolutionäre Partei verkörpern, die palästinensische VorhutkämpferInnen weltweit, in den besetzen Gebieten, in Israel und die Vertriebenen umfasst sowie mutige antizionistische israelische Juden und Jüdinnen. Allein aufgrund des Charakters des Kampfes muss dieser sowohl international ausgerichtet als auch internationalistisch geführt werden, um die größtmöglichen Kräfte gegen die Unterdrückung zu mobilisieren. Diese Organisation muss ein Programm als Strategie für den Sieg formulieren, das an den anhaltenden Kämpfen an allen Fronten ansetzt.

Ende der Belagerung von Gaza

In Gaza werden 1,9 Millionen Menschen in einem Freiluftgefängnis, das einem Ghetto gleichkommt, eingesperrt. Sie werden von Land- und Seeseite belagert und regelmäßig in ihren Häuser, Schulen, Krankenhäusern und Betrieben bombardiert. Die Materialien zum Wiederaufbau sind begrenzt. Gaza ist in seiner Wasser-, Strom-, Nahrungsmittel- und medizinischen Versorgung auf die Israelis angewiesen, die diese regelmäßig als Kollektivstrafe für Widerstandshandlungen, die sie frech als Terrorismus verunglimpfen, unterbrechen. Tatsächlich ist es die IDF, die die Bevölkerung dieser Enklave terrorisiert. Dazu kommt die hoffnungslose wirtschaftliche Lage: Die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos, und laut den Vereinten Nationen steht die Wirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch.

Seit dem einseitigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 und dem Sieg der Hamas bei den Wahlen 2006 hat Israel wiederholt Großangriffe auf Gaza gestartet: die Operationen  Hot Winter 2008, Cast Lead 2008–09, Pillar of Defence 2012 und Protective Edge im Juli 2014. Diese Angriffe haben in vielen Ländern Massenproteste ausgelöst. Als die internationale Solidaritätsbewegung im Mai 2010 die Gaza-Solidaritätsflotte organisierte, um die Blockade des Gazastreifens durch die israelische Marine mit lebenswichtigen Gütern an Bord zu durchbrechen, enterten Spezialeinheiten die Boote und zwangen sie umzukehren. Auf einem der Schiffe, der Mavi Marmara, töteten sie dabei neun AktivistInnen. Viele mehr wurden verletzt.

Seit März 2018, als ein Bündnis vieler Organisationen unter Beteiligung breiter Massen von Jugendlichen den „Großen Marsch der Rückkehr“ zur Mauer um den Gazastreifen organisierte, starben über 160 Menschen im Kugelhagel der IDF. Die meisten von ihnen waren unbewaffnet. Diejenigen die als bewaffnet galten, führten Steinschleudern und Brandballons mit sich. Wenig später erklärte Donald Trump zum 70. Geburtstag Israels Jerusalem zum Sitz der US-Botschaft. Er erkannte Jerusalem damit als die Hauptstadt Israels und nicht Palästinas an. Als wäre das nicht genug, fror er gleichzeitig auch 300 Millionen Dollar an US-Beiträgen an das UNRWA (UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) ein.

Nachdem Trump und Netanjahu den ägyptischen Diktator und den saudischen Kronprinzen für ein de-facto-Bündnis gewonnen haben, steht als nächster Schritt eine neue israelische Offensive gegen den Libanon, Gaza oder Iran unter dem Deckmantel eines verlogenen „Friedensplans“ an, der wohl sicher abgewiesen werden würde.

In den kommenden Jahren muss die internationale Solidaritätsbewegung mit Palästina ihr Handeln um die Forderungen herum verstärken:

  • Beendigung der israelischen Land-, See- und Luftblockade gegen Gaza und Öffnung seines Hafens für Hilfe, Handel und wirtschaftliche Versorgung.
  • Vollkommene Bewegungsfreiheit in das Westjordanland und nach Ägypten.
  • Für die internationale Anerkennung der EinwohnerInnen Gazas als BürgerInnen eines souveränen Staates Palästina.
  • Massive Hilfe beim Wiederaufbau und der Ausstattung von Schulen, Kliniken und Häusern sowie Arbeitsplätzen, die von den „Großmächten“ bezahlt werden, die die Region geplündert haben.

Weltweite Solidarität mit Palästina

Die BDS-Bewegung will Institutionen aller Art davon
überzeugen, die Finanzierung und Unterstützung für alle israelischen und
internationalen Agenturen oder Unternehmen, die an der Verletzung
palästinensischer Rechte beteiligt sind, einzustellen. Sicherlich wird BDS
allein nicht die israelischen Verbrechen wie den Armeeterror gegen Gaza oder
den Siedlungsbau und die Fragmentierung der palästinensischen Gebiete im
Westjordanland beenden können. Ein Umschwenken der öffentlichen Meinung in den
imperialistischen Demokratien allein wird an der Unterstützung ihrer
HerrscherInnen für Israel nichts ändern. Nur radikale und grundlegende
politische Veränderungen in diesen Ländern, verbunden mit dem Sturz der
Marionettenregime der Länder im Nahen Osten, Länder die sie ausbeuten und
dominieren, können das schaffen.

Dennoch ist BDS ein Schritt in diese Richtung, und
deshalb setzen der israelische Staat, seine Botschaften in der ganzen Welt und
die zionistische Bewegung Himmel und Hölle in Bewegung, um die Kampagne und ein
Anwachsen der öffentlichen Sympathie für die palästinensische Sache zu stoppen.
Die Boykottkampagne gegen Südafrika allein führte nicht zum Untergang der
Apartheid, sondern die massenhaften Aktionen der Jugend in den Townships
(Vorstädten) und antirassistischen ArbeiterInnenbewegung in den 1970er und
1980er Jahren. Ebenso kann die BDS-Kampagne die Verbrechen Israels benennen und
den Kampf der palästinensischen Massen und ihrer UnterstützerInnen in der
israelischen Gesellschaft fördern und unterstützen. Ebenso wichtig ist aber
eine Solidarisierung mit den demokratischen und ArbeiterInnenbewegungen in den
umliegenden Ländern, wie sie im Arabischen Frühling 2011 auf den Plan traten.

Die von israelischen Botschaften organisierte Antwort auf
den Erfolg von BDS beruht darauf, Parteien, akademische Institutionen und
Regierungen zu zwingen, die Definition des Antisemitismus durch die „Internationale
Allianz zur Erinnerung an den Holocaust“ (IHRA) zu akzeptieren. Dazu gehören
auch Beispielsätze wie „dem jüdischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung zu
verweigern, z. B. indem behauptet wird, dass die Existenz eines Staates
Israel ein rassistisches Bestreben sei“ und „von ihm ein Verhalten zu
verlangen, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt
wird“, die im Kern antisemitisch seien. Wie bereits dargelegt, ignoriert die
erste Formulierung, dass die gängige Interpretation der jüdisch-israelischen
Unabhängigkeitserklärung von 1948 als Recht, die arabische Bevölkerung zu
vertreiben, sehr wohl ein rassistisches Unterfangen ist. Auf die massenhafte
Vertreibung der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung und die apartheidartige
Unterdrückung der verbliebenenen PalästinenserInnen gibt es nun mal kein
demokratisches Anrecht. Zionistische Behauptungen, dass antiisraelische und
antizionistische Ansichten selbstredend antisemitisch seien, entwerten die
Bekämpfung des wirklichen, ursprünglichen Antisemitismus und lenken davon ab.
Der befindet sich noch immer im Arsenal rassistischer PopulistInnen und offener
FaschistInnen und kommt immer wieder zum Vorschein, wenn die Gesellschaft in
die Krise schlittert. Aber die Aktionen Israels schützen nicht die Interessen
der jüdischen Gemeinschaften weltweit – sie isolieren und schädigen sie.
Menschen, die die PalästinenserInnen verteidigen und Islamfeindlichkeit
bekämpfen, werden auch die ernsthaftesten KämpferInnen gegen die AntisemitInnen
sein.

Es ist eine zentrale Aufgabe, die Arbeiterbewegung in
Europa und Nordamerika dafür zu gewinnen, ihre Unterstützung für die
palästinensische Befreiung zu erklären und diese als untrennbaren Teil ihres
eigenen Kampfes für den Sozialismus zu verstehen. Als Schritte in diese
Richtung müssen wir die Parteien und Gewerkschaften der internationalen ArbeiterInnenbewegung
für die folgenden Forderungen gewinnen:

  • Boykott der Firmen, wissenschaftlichen und akademischen Institutionen, die Material für die israelische Aggression und Unterdrückung produzieren.
  • TransportarbeiterInnen auf Straßen, Schienen, Docks und Flughäfen sollten sich weigern, Exporte und Importe abzuwickeln, angefangen bei Waffen und Hochtechnologieprodukten, die zur Unterdrückung benutzt werden, sowie für Waren aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten usw.
  • Zurückweisung aller Versuche, Kritik und Boykott Israels als Antisemitismus zu stigmatisieren und zu verbieten.

Gleiche Rechte für die palästinensischen BürgerInnen
Israels

Das jüngste Grundgesetz Israels definiert Israel als „den
Nationalstaat des jüdischen Volkes“, das allein das Recht auf Selbstbestimmung
hat und dessen Sprache, Hebräisch, die alleinige Staatssprache ist. Damit
bekennt sich Israel schuldig im Sinne der Anklage, eine Form der Apartheid, ein
rassistisches Unternehmen zu verkörpern. Es ist nicht antisemitisch, das
auszusprechen. Israel und der Zionismus sind nicht gleichbedeutend mit der
jüdischen Identität oder den Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt, von denen
sich immer mehr, trotz Einschüchterung, gegen Israels Behandlung der
PalästinenserInnen aussprechen. Bis heute wird Millionen von PalästinenserInnen
der Zugang zu ihrer Heimat verwehrt. Ihr Land und Eigentum bleiben konfisziert,
nur weil sie keine Jüdinnen und Juden sind. Seit seiner Gründung hat Israel
eigene BürgerInnen auf dieser Grundlage systematisch diskriminiert und
NichtbürgerInnen wie die PalästinenserInnen im Westjordanland und im
Gazastreifen einem Militärregime unterworfen, das sich durch Freiheit der
Kolonisation, aber anhaltende Zerstörung palästinensischer Häuser und strikte
Trennung auszeichnet.

1973 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten
Nationen die Internationale Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des
Verbrechens der Apartheid. Die darin enthaltene Definition von Apartheid
umfasst auch das Verweigern des „Recht(s) auf Verlassen des Landes und auf
Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der
Bewegung und des Aufenthalts“. Die Definition umfasst auch „die Enteignung von
Grundbesitz, der einer ethnischen Gruppe gehört“. Tatsächlich dürfen
„Nichtjuden und -jüdinnen“ auf den 93 Prozent des von ihren Vorfahren
enteigneten und vom israelischen Staat kontrollierten Landes keinen Boden
kaufen oder mieten. Die BürgerInnenrechtsorganisation Adalah (deutsch:
Gerechtigkeit) rechnet vor, dass mehr als 50 Gesetze
palästinensisch-israelische BürgerInnen bei Landbesitz, Wohnrechten, dem Recht
auf ein Familienleben, Bildung und anderen Themen diskriminieren. Obwohl
palästinensische BürgerInnen Israels bei Parlamentswahlen wählen und
Knessetabgeordnete werden können, lehnte dieses Parlament 2016 ausdrücklich
einen Gesetzentwurf ab, der die Gleichstellung zu einem Grundgesetz gemacht,
also in den Verfassungsrang gehoben hätte.

Palästinensische Dorfgemeinden und städtische Gebiete
werden regelmäßig zu „unerlaubt errichteten“ erklärt und abgerissen.
Israelische nichtjüdische BürgerInnen mit EhepartnerInnen aus dem
Westjordanland oder dem Gazastreifen können diese nicht nach Israel bringen.
Das Höchste Gericht gestand zwar zu, dass dies eine Verletzung der
Menschenrechte sei, fügte aber hinzu: „Menschenrechte sind kein Rezept zum
nationalen Selbstmord“, und wies Klagen dagegen zurück. Weiters sind
Wohngebiete rassisch getrennt und das Schulsystem privilegiert offen jüdische
Israelis. Auch der Wohnungsbau ist im Grunde genommen segregiert. 70 Prozent
der israelischen Gemeinden verfügen über Zulassungskommissionen, die potenzielle
EinwohnerInnen auswählen und PalästinenserInnen systematisch ausschließen.

Der Staat kontrolliert 93 Prozent des Landes in Israel,
und eine Regierungsbehörde, die „Israelische Landverwaltung“ (ILA), verwaltet
und verteilt dieses Land. Die ILA verfügt über kein Mandat, Land nach fairen
Kriterien zu verteilen, und die Mitglieder des Jüdischen Nationalfonds (JNF;
gegründet 1901 von Theodor Herzl!) machen fast die Hälfte des
ILA-Aufsichtsrates aus. Der JNF übernimmt hier eigentlich staatliche Aufgaben.
Im Jahr 2005 behauptete der Vorsitzende, Yehiel Leket, dass seine Organisation
„nicht verpflichtet ist, zum Wohle aller ihrer BürgerInnen, (sondern) nur zum
Wohle der jüdischen Bevölkerung zu handeln. Der JNF besitzt auch direkt 13
Prozent aller öffentlichen Flächen, von denen viele zu den fruchtbarsten und
produktivsten des Landes gehören. Eine besonders brutale staatliche Kampagne
wurde gegen mindestens 250.000 BeduinInnen in der Negevwüste und in Galiläa
durchgeführt. Die traditionell nomadischen HirtInnen gelten als BlockiererInnen
zionistischer Siedlungsprojekte und als Hindernis im Weg der Ausweitung
israelischer Kontrolle über diese Gebiete. Ihren Gemeinschaften wird regelmäßig
die Anerkennung verweigert und somit ein Rechtsvorwand geschaffen, ihre
Unterkünfte abzureißen. Ihre medizinischen und Bildungseinrichtungen sind in
einem fürchterlichen Zustand im Vergleich zu denen, die jüdischen Israelis zur
Verfügung stehen.

Gegen diese groben Verstöße gegen demokratische Rechte
und den grassierenden Rassismus fordern wir:

  • Uneingeschränkte Bewegungsfreiheit zwischen allen Teilen des historischen Palästina für alle arabischen PalästinenserInnen und alle jüdischen Israelis.
  • Eine gemeinsame StaatsbürgerInnenschaft für alle arabischen PalästinenserInnen und alle jüdischen Israelis mit der Möglichkeit für palästinensische Flüchtlinge außerhalb des Landes, diese zu erlangen.
  • Die Abschaffung des israelischen Rückkehrgesetzes und aller anderen Gesetze, die einen privilegierten Zugang zu Einwanderung, Aufenthalt oder Staatsbürgerschaft auf Grundlage der jüdischen Abstammung oder Religion gewähren.
  • Die Abschaffung aller israelischen Gesetze, die das Recht der arabischen BürgerInnen Israels einschränken, ihre Staatsangehörigkeit auf EhepartnerInnen oder Nachkommen zu übertragen.
  • Die Abschaffung aller israelischen Gesetze, die arabische BürgerInnen Israels im Bereich des Eigentums oder anderer BürgerInnenrechte diskriminieren, und die vollständige zivile Gleichstellung von Jüdinnen/Juden und AraberInnen im gesamten historischen Palästina.
  • Das Verbot und die Aufhebung von „privaten“ und anderen „nichtstaatlichen“ Rechtsvorschriften, Verträgen oder Übereinkommen, die das Aufenthaltsrecht von Nichtjuden und -jüdinnen einschränken.
  •  Verstaatlichung des Jüdischen Nationalfonds sowie seine Öffnung für PalästinenserInnen, Abschaffung aller Privilegien für Jüdinnen und Juden sowie Zugang zur Nutzung von Staatsland für alle.
  • Anerkennung des Rechts der BeduinInnen auf das Land, auf dem sie leben und ihre Tiere versorgen.

Die Befreiung des Westjordanlandes von der israelischen
Besatzung

Die besetzten Gebiete, vom israelischen Staat „Judäa und
Samaria“ genannt und allgemein als Westjordanland bezeichnet, sind ein Archipel
palästinensisch verwalteter Inseln. Die rund 20 Kilometer breite Zone wird mit
Ausnahme des Gebietes um Jericho (arabisch: Ariha) vom Militär besetzt.
Andererseits ist ein Landstreifen entlang der „Grünen Linie“, der jetzt durch
die Sicherheitsbarriere begrenzt und teilweise durchtrennt wird, im Widerspruch
zu den UN-Resolutionen stark besiedelt. Gab es 1993, als die Osloer Abkommen
unterzeichnet wurden, 260.000 israelische SiedlerInnen im Westjordanland und in
Ostjerusalem, so sind es heute mehr als 600.000 in etwa 140 Kolonien. Vor allem
hier hat Israel eine Apartheidsituation geschaffen, in der Israelis das beste
Land besetzen und Vorrang beim Zugang zu Ressourcen haben, während PalästinenserInnen
von Mauern, Militärstraßen und Kontrollpunkten eingeschlossen sind und ihre
Dörfer und Städte oft von Hügelsiedlungen bewaffneter und aggressiver
SiedlerInnen dominiert werden.

Die „Sicherheitsbarriere“, jetzt international als
„Apartheids-Mauer“ bekannt, verstößt gegen das Völkerrecht, obwohl natürlich
keine internationale Behörde und keine Staatsmacht Israel dafür belangen kann
und will. Ebenso sind die Ausrufung Jerusalems als „ungeteilte“ und ewige
Hauptstadt Israels 2018 und deren Anerkennung durch die Vereinigten Staaten
weitere Maßnahmen, um zu verhindern, dass die Stadt jemals zur Hauptstadt
Palästinas wird. Israel behindert aufdringlich politische Aktivitäten der
PalästinenserInnen, die in bürgerlichen Demokratien Grundrechte sind. Kontrollpunkte
und Trennmauern behindern die Bewegungsfreiheit, was das Funktionieren des
palästinensischen Legislativrates erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.
Seine Mitglieder und ParteivertreterInnen sind oft lange im israelischen
„Sicherheitsarrest“ oder gar in Haft weggesperrt. Einige Abgeordnete (vor allem
von der Hamas) wurden sogar durch die israelischen Sicherheitskräfte ermordet.

  • Reißt die Apartheidmauer nieder! Für die Freizügigkeit aller PalästinenserInnen im gesamten Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel.
  • Widerstand gegen das Recht Israels, PalästinenserInnen aus dem historischen Palästina auszuweisen, und gegen die Erpressung durch eine „Anerkennung des Existenzrechts Israels“, mit der dies gerechtfertigt wird.
  • Wir fordern die Abschaffung der segregierten Siedlungen im Westjordanland und ihre Umwandlung in multiethnische Gemeinschaften unter der Kontrolle demokratisch gewählter Versammlungen.
  • Keine internationale Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels. Anerkennung als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates.

Ende Juni 2018 befanden sich 5.667 palästinensische
Sicherheitshäftlinge und politische Gefangene, darunter mehrere hundert Kinder,
in Verwahrung durch den Israelischen Gefängnisdienst (IPS).

  • Wir fordern ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.

Ein wichtiger Schritt im Befreiungskampf besteht darin,
die korrupte und kollaborative Fatah-Führung zu ersetzen. Wir kämpfen für:

  • freie und faire Wahlen zu einer palästinensischen verfassunggebenden Versammlung.

Für Frauenbefreiung

Frauen sind seit den 1920er Jahren, als sie mit Männern
gemeinsam gegen die britische Besatzung protestierten, im palästinensischen
Kampf aktiv. Sie mussten in der Nakba Grausames erleiden einschließlich
brutaler Vergewaltigungen, die darauf abzielten, die Bevölkerung zu demütigen,
zu demoralisieren und die ethnischen Säuberungen zu beschleunigen. Dennoch
haben Frauen in den Flüchtlingslagern und im Exil ihre Strukturen erhalten und
ihre Identifikation mit der Heimat an nachfolgende Generationen weitergegeben.
In der Zeit des Guerillakampfes wurde Leila Chaled zu einem internationalen
Symbol des gesamten Kampfes.

Auch heute noch werden Frauen an israelischen
Kontrollpunkten absichtlich gedemütigt und schikaniert. Auch israelische Bomben
kümmern sich nicht um das Geschlecht ihrer Opfer. Obwohl die traditionelle
palästinensische Gesellschaft sozial konservativ ist und Frauen und Mädchen vor
dem, was als „unehrenhafte“ Aktivität gilt, „schützt“, fanden viele Frauen
durch politische Bildung und Mobilisierung zur Freiheit. Während der beiden
Intifadas wurden Frauen zu Organisatorinnen der Gemeinschaften und bildeten
Straßenkomitees und andere Organisationen.

Obwohl die Rolle der Frauen als entscheidend anerkannt
wurde, sind sie immer noch selten an politischer Entscheidungsfindung
beteiligt. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA/PNA) beschränkt die
Beschäftigung von Frauen auf Berufe wie Sekretärinnen oder Lehrerinnen an
öffentlichen Schulen. In der Führung der wichtigsten palästinensischen
politischen Parteien sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert.

Der Sieg der Hamas in Gaza war ein Rückschritt für die
Rechte der Frauen, da sie darauf drängte, das palästinensische Recht durch die
Scharia (wörtlich: gebahnter Weg; religiöses Gesetz) zu ersetzen. Frauen sind
verpflichtet, islamische Kleidung zu tragen und kulturelle Einschränkungen
hinzunehmen. Oft können sie ohne die Erlaubnis eines männlichen Verwandten
nicht einmal das Haus verlassen. Dennoch setzen sich palästinensische
Frauenaktivistinnen für Gesetze zum Schutz von Frauen vor Ehrenmorden und
männlicher häuslicher Gewalt ein. Vor kurzem zeigte der Große Rückkehrmarsch,
an dem bis zu 40 % Frauen teilnahmen, wie bei dem Intifadas davor, dass
der Kampf gegen die israelische Herrschaft mit dem für die Befreiung der Frauen
zusammenhängt und ihn stärkt.

  • Beendigung der Schikanen von israelischen SoldatInnen gegen Frauen und deren Durchsuchungen an Kontrollpunkten.
  • Gleiche Rechte und Zugang zu Bildung für Frauen, gleiche Eigentumsrechte, gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
  • Positive Diskriminierung bei der Auswahl von weiblichen Mitgliedern zu allen politischen und staatlichen Gremien und Diensten.
  • Keine Straffreiheit für diejenigen, die Frauen ermorden, vergewaltigen und schlagen, seien es Verwandte oder Fremde.
  • Für Zentren zur Frauenförderung und medizinische Versorgung, für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und über die Geburt eines Kindes zu entscheiden.
  • Aufhebung aller patriarchalen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Kleidung und der PartnerInnenwahl von Frauen.
  • Für eine unabhängige und demokratische palästinensische Frauenbewegung.

Für eine sozialistische Ein-Staaten-Lösung

In Wirklichkeit ist die „Zwei-Staaten-Lösung“ tot. Die
Anerkennung in Worten existiert als Feigenblatt für israelische Übergriffe. Für
die USA und die westeuropäischen Staaten rechtfertigt sie die anhaltende
Unterstützung für Israel, und für reformistische Parteien wie die britische
Labour-Partei ermöglicht sie es  zu
ignorieren, dass die Existenz des Staates Israel als jüdischer Staat die
Auslöschung der palästinensischen Nationalität bedeutet.

Den gegenwärtigen zionistischen Staat zu stürzen bedeutet
nicht, die israelische Nation zu vernichten. Keine ernstzunehmende
palästinensische Organisation verlangt dies. Alle islamistischen Bewegungen,
Könige und DiktatorInnen in der arabischen Welt, die in der Vergangenheit
impotente antisemitische Drohungen ausgesprochen haben oder heute aussprechen,
die „Jüdinnen und Juden ins Meer zu treiben“, sollten aufs Schärfste verurteilt
werden. Sie sind keine FreundInnen, sondern FeindInnen sowohl der
PalästinenserInnen als auch des israelischen Volkes.

Nur die ArbeiterInnenklassen dieser nationalen,
sprachlichen und religiös-kulturellen Gemeinschaften, ihre Jugend, ihre Frauen
können den Sturz des Zionismus erreichen. Gegenwärtig sind die meisten
israelisch-jüdischen ArbeiterInnen durch den Gewerkschaftsbund Histadrut an den
Unterdrückerstaat gebunden. Die Histadrut (wörtlich: Zusammenschluss) war nie
eine echte Klassengewerkschaft, sondern eine der Hauptagenturen für die
Enteignung und ethnische Trennung der ArbeiterInnen. Fortschrittliche
israelische ArbeiterInnen, die die Sicherheit einer freien und
gleichberechtigten Gesellschaft anstreben, sollten sich vom Histadrut lösen und
mit ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern gemeinsame Gewerkschaften
bilden.

PalästinenserInnen als unterdrücktes Volk haben kein
Interesse daran, die Unterdrückung umzukehren, wie es die ZionistInnen taten.
Wir lehnen Antisemitismus entschieden ab und begrüßen all jene Jüdinnen und
Juden in Israel und weltweit, die die palästinensischen Rechte und das Ziel
unterstützen, ein Land ohne nationale, rassische, religiöse oder sprachliche
Privilegien für eine einzelne Gemeinschaft aufzubauen.

Zwar würde die Rückkehr von Millionen palästinensischer
Flüchtlinge zu ernsthaften sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen, wenn
es den KapitalistInnen und dem Markt überlassen bliebe, sie zu organisieren. Es
gibt jedoch einen Weg, wie das historische Land Palästina beiden Nationen Platz
bieten kann. Der einzige Weg, den Konflikt um den Zugang zu Land, Arbeit,
Bildung und Wohnen zu lösen, ist das vergesellschaftete Eigentum an
Produktionsmitteln, Grundstücken, Fabriken, Büros und ebenso die
gleichberechtigten Bereitstellung von Gesundheit, Bildung und Wohnen,
koordiniert durch einen demokratischen Plan.

Deshalb kämpfen wir für eine sozialistische Lösung, die
auf dem gemeinsamen Besitz des Landes und aller wichtigen Produktionsmittel
basiert. Das bedeutet nicht die Enteignung derjenigen, die das Land tatsächlich
bewirtschaften, sondern im Gegenteil ihnen zu ermöglichen, es zu entwickeln und
zu verbessern, damit sie ein gutes Leben für sich selbst und Lebensmittel und andere
landwirtschaftliche Erzeugnisse für die Dörfer, Städte und Gemeinden schaffen,
was zu einem demokratisch vereinbarten Plan beiträgt.

  • In den Fabriken und anderen Betrieben kämpfen wir für ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung.
  • Das Land den kleinen Bäuerinnen und Bauern! Wir fordern die Verstaatlichung des Landes, damit diejenigen, die es ursprünglich bestellt haben und es wieder bewirtschaften wollen, zurückkehren können, und die Israelis, die das Land seit vielen Jahren bewirtschaften und dies fortsetzen wollen, dies zusammen mit ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern in demokratischen Genossenschaften tun können, die Lebensmittel für die Gesamtbevölkerung liefern.
  • Vollständige Verstaatlichung aller Banken und Finanzinstitute unter  ArbeiterInnenkontrolle.
  • Verstaatlichung der gesamten Großindustrie unter der ArbeiterInnenkontrolle und Einrichtung von branchenübergreifenden Ausschüssen, um einen Plan für Produktion und Vertrieb zu erstellen.
  • Für ein umfangreiches Programm von öffentlichen Arbeiten zum Bau von Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Einrichtung von integrierten Arbeitsgruppen, die je nach Bedarf Wohnraum zuweisen.
  • Für einen regionalen Plan der Energieerzeugung, weg von den fossilen Brennstoffen hin zur Stromerzeugung mittels erneuerbarer Energien.
  • Unterstützung der Kämpfe anderer ethnischer Minderheiten innerhalb des zionistischen Staates, z. B. chinesischer und osteuropäischer WanderarbeiterInnen.
  • Unterstützung für alle sozialen und wirtschaftlichen Kämpfe der israelisch-jüdischen ArbeiterInnen und Jugendlichen, solange diese nicht darauf abzielen, Privilegien gegen ihre Klassenbrüder und -schwestern aufrechtzuerhalten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Befreiung der
PalästinenserInnen in Israel und in den besetzten Gebieten sowie in den
Flüchtlingslagern nur durch eine Strategie der permanenten Revolution erfolgen
kann. Das bedeutet die Umwandlung des demokratischen Kampfes gegen die
nationale Unterdrückung in einen für Gemeineigentum, Planung und Kontrolle
unter einer ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung. Es bedeutet auch
die internationale Ausweitung der Revolution. Palästina ist ein kleines Land,
und sein Weg zum Sozialismus wird nur auf der Grundlage der Ausbreitung einer
miteinander verbundenen demokratischen und sozialistischen Revolution in der
gesamten Region erfolgreich sein.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens

Vor fast zweihundert Jahren begannen die kapitalistischen
Länder Europas, Teile des Nahen Ostens im untergehenden Osmanischen Reich zu
erobern. Seit einem Jahrhundert wird der enorme Ölreichtum des Nahen Ostens von
diesen Mächten geplündert, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch die
Vereinigten Staaten. Sein natürlicher Reichtum floss nach Westen und Osten, um
die industrielle und kommerzielle Entwicklung Europas, Amerikas und Japans nach
dem Krieg voranzutreiben, während die Massen der arabischen Länder und des Iran
unter korrupten und diktatorischen Regimen in Armut lebten.

Israel ist ein Keil, der in die zersplitterte arabische
Welt getrieben wurde. Milliarden von US-Dollar haben einen militärisch
mächtigen Brückenkopf aufgebaut, dessen Armee im Bedarfsfall als Gendarm
agieren kann. Israel ist eine Hightech-Militärmacht mit Atomwaffen und mit 6,5
Milliarden Dollar Jahresumsatz einer der weltweit größten Waffenexporteure. Es
steht unter keiner ernsthaften Bedrohung durch die viel schwächeren arabischen
Staaten oder den Iran. Doch Israel und die USA haben alle angegriffen oder mit
einem Angriff bedroht, die sich ihren Wünschen widersetzen, egal wie unwirksam
oder symbolisch.

  • Das Vertreiben dieser imperialistischen Mächte und ihrer verschiedenen regionalen HandlangerInnen stellt daher eine wesentliche Voraussetzung für die Freiheit für Palästina und ein Ende des rassistischen Siedlerstaates dar.
  • Wir kämpfen für die entschädigungslose Verstaatlichung aller Dachgesellschaften (Holdings) der imperialistischen multinationalen Konzerne, der Ölgesellschaften und ihrer Vermögenswerte in der gesamten Region.
  • Wir fordern von den imperialistischen Staaten und den Ölkonzernen eine massive Entschädigung für ihre Überausbeutung der Region im letzten Jahrhundert.
  • Alle US-Basen, alle „westlichen“ Truppen müssen verschwinden. Schließung aller ihrer Stützpunkte und Militärhäfen. Die anhaltenden mörderischen Aktionen Russlands in Syrien zeigen, dass das Gleiche für dessen Standorte in diesem Land gilt.

Welche Art von Partei kann dies erreichen?

Der israelische Staat kann nur dann besiegt und die
Möglichkeit eines sozialistischen Staates nur dann eröffnet werden, wenn er im
revolutionären Kampf, gegen die zionistische herrschende Klasse, unter der
Führung von PalästinenserInnen und den fortschrittlichen Kräften innerhalb der
israelischen Gesellschaft zerstört wird. Wir können uns nicht der Illusion
hingeben, dass dies weniger als einen Massenaufstand und eine Bewegung
erfordert, die diese endgültige Konfrontation planen und vorbereiten muss. Nur
eine revolutionäre Partei kann die Avantgarde der ArbeiterInnen und Jugendlichen
auf diese Aufgabe vorbereiten. Daher muss sich die Partei bei Bedarf illegal
organisieren und auch eine disziplinierte Kaderpartei repräsentieren, die den
demokratischen Zentralismus anwendet, um ihre Wirksamkeit und
Überlebensfähigkeit unter repressiven Bedingungen zu gewährleisten.

Die revolutionäre Partei wird offen sein für alle
AvantgardenkämpferInnen, die ihr Programm unterstützen. Sie muss ArbeiterInnen,
Frauen, Jugendliche und Intellektuelle erreichen und einbeziehen. Sie wird
versuchen, fortschrittliche israelisch-jüdische ArbeiterInnen und Jugendliche
in ihre Reihen zu holen.

Sie wird sich zum Ziel setzen, nicht nur für den Sturz
der israelischen Regierung, sondern auch der korrupten PA zu kämpfen und sie
durch eine konstituierende Versammlung zu ersetzen, die mit der Ausarbeitung
der Verfassung eines binationalen, säkularen, demokratischen und
sozialistischen Staates beauftragt ist. Auf dem Höhepunkt dieses revolutionären
Kampfes treten wir dafür ein, eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung
an die Macht zu bringen. Ihr Ziel wird darin liegen, die Macht in die Hände von
Delegiertenräten zu legen, die arbeitenden Menschen zu bewaffnen und so den
repressiven bürgerlichen Staat zu zerschlagen.

Die folgenden Losungen fassen die Strategie zusammen, für
die in Palästina und von der internationalen ArbeiterInnenklasse zu kämpfen
ist:

  • Nieder mit allen imperialistischen Mächten, AusbeuterInnen und UnterdrückerInnen der Völker des Nahen Ostens!
  • Zerschlagt den zionistischen Staat, ein Instrument des Imperialismus!
  • Für den Sieg der nationalen Befreiung des palästinensischen Volkes!
  • Für permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten!
  • Für ein sozialistisches Palästina innerhalb Vereinigter Sozialistischer Staaten des Nahen Ostens!
  • Für die Fünfte Internationale, eine zentrale Waffe der ArbeiterInnen und aller unterdrückten Völker, die für ihre Befreiung kämpfen!



Thesen zur kurdischen Frage

Liga für die Fünfte Internationale, Juli 2018, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Einleitung 

Die kurdische
nationale Frage und der Widerstandskampf sind in den letzten Jahren und
insbesondere seit 2014 in den Vordergrund gerückt. Die arabische Revolution und
die Ergebnisse der US-Besetzung des Irak haben zu einer Desintegration Syriens
und des Irak geführt, wodurch Irakisch-Kurdistan und auch Rojava de facto
Formen der Unabhängigkeit von „ihren“ Zentralstaaten und quasi-staatliche
Strukturen etabliert haben.

Auch wenn die
kurdischen Führungen, so unterschiedliche wie die PDK (Demokratische Partei
Kurdistans) im Irak, die PYD (Partei der Demokratischen Union) in Rojava
(Demokratische Föderation Nordsyrien) oder die PKK (ArbeiterInnenpartei
Kurdistans) in Nordkurdistan, behaupten, die bestehenden Staatsgrenzen nicht in
Frage stellen zu wollen, wird von Tag zu Tag klarer, dass die nationale
Unterdrückung des kurdischen Volkes im Rahmen dieser bürgerlichen Staaten nicht
überwunden werden kann. Ob das kurdische Volk in den verschiedenen Staaten für
die Selbstbestimmung kämpft, indem es eine größere Autonomie innerhalb ihrer
erreicht oder einen gemeinsamen kurdischen Staat bildet – es ist klar, dass die
bestehenden Regime und herrschenden Klassen nicht bereit sind, dieser Nation die
nationalen und demokratischen Rechte einzuräumen. Als revolutionäre
MarxistInnen unterstützen wir dieses Recht rückhaltlos.

Eine dauerhafte
Lösung der kurdischen Frage kann nur im Rahmen des Kampfes gegen die nationale
Unterdrückung und gegen die politisch-soziale Ordnung, die vom Imperialismus,
der türkischen, arabischen und persischen Elite seit dem Ersten Weltkrieg
aufgebaut und verteidigt wird, gefunden werden. Die irakischen und syrischen
Staaten waren ein Produkt der Grenzen, die der Imperialismus nach dem
Zusammenbruch des Osmanischen Reiches damals erzwang. Die sozialen Gegensätze
innerhalb dieser Gesellschaften verschärften sich mit dem Zusammenbruch der
Nachkriegsordnung 1990, den Kriegen gegen den Irak und der Durchsetzung des
Neoliberalismus bis hin zur gegenwärtigen Situation, in der die Lebensfähigkeit
dieser Staaten in Frage steht und es sehr schwer zu erkennen ist, wie ihre
Stabilität, auch mit extrem reaktionären Maßnahmen, wiederhergestellt werden
kann.

Die
Bedeutsamkeit der kurdischen Frage muss im Kontext der allgemeinen historischen
Krise der politischen und sozialen Ordnung im Nahen Osten verstanden werden.

Nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion und der Nachkriegsordnung wollten die USA als
verbliebene, scheinbar allmächtige Weltmacht eine „neue Weltordnung“
durchsetzen, die ihre Hegemonie dauerhaft machen sollte. Die Kontrolle über den
Nahen Osten wurde als Schlüssel angesehen, um das Entstehen neuer globaler
KonkurrentInnen zu verhindern. Die Kriege gegen den Irak und dessen endgültige
Besatzung müssen im Rahmen dieser geopolitischen Strategie verstanden werden.

Aber die USA und
ihre Verbündeten erwiesen sich als unfähig, dem Irak, trotz schneller
militärischer Siege, ein neues, dauerhaftes Regime aufzuzwingen. Durch die
Zerschlagung der sunnitischen ba‘ athistischen Herrschaft zerstörten sie auch
den größten Teil des irakischen Staatsapparats und destabilisierten das Land.
Letztlich waren die US-Besatzungstruppen selbst zu einem demütigenden Rückzug
aus dem Irak gezwungen und hinterließen ein reaktionäres, sektiererisches,
jetzt schiitisch dominiertes Regime in Bagdad, eine völlig entfremdete
sunnitische Bevölkerung, aber auch eine kurdische Region, die ein hohes Maß an
Unabhängigkeit angenommen und sich mehrere Jahre lang aus den sektiererischen
Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen und schiitischen Kräften
herausgehalten hatte.

Die Unfähigkeit
der USA, eine dauerhafte Ordnung durchzusetzen, spiegelt letztlich wider, dass
ihr Vormarsch in den 1990er und frühen 2000er Jahren – also während des
Höhepunkts der „Globalisierung“ – auf einem weitgehend spekulativen
Wirtschaftsaufschwung und nicht auf einer erfolgreichen Umstrukturierung der
Weltwirtschaft beruhte, die die aus den 1970er und 1980er Jahren hinterlassene
strukturelle Überakkumulation von Kapital hätte überwinden können.

Der Ausbruch der
großen Krise 2007/08 eröffnete eine neue Periode, die den Arabischen Frühling
hervorbrachte. Der Irak war bereits weitgehend zerfallen, doch nun sah sich das
syrische Regime, das sich seit den 1990er Jahren als Verbündeter des
Imperialismus präsentiert hatte, der Welle der arabischen Revolutionen
gegenüber, die sich in einen Bürgerkrieg verwandelte und zur Schaffung
halb-unabhängiger kurdischer Regionen in Syrien (Rojava) führte.

Sowohl im Irak
als auch in Syrien hatten die ba‘athistischen Regime extrem repressive,
autoritäre Regime mit tief in die Gesellschaft eindringenden
Sicherheitsapparaten errichtet. Ihr arabisch-nationalistischer Charakter ging
auch Hand in Hand mit der Verweigerung grundlegender Formen kurdischer
demokratischer Rechte (ganz zu schweigen vom Recht auf Selbstbestimmung) und
war manchmal extrem repressiv, gewährte aber auch gelegentlich begrenzte
kulturelle Rechte. Aber diese Regime enthielten auch ein Element von Einbeziehung
der Massen durch korporatistische Maßnahmen, Subventionen und Mäzenatentum.
Doch die reaktionären Kriege, die Saddam Hussein (im Namen der USA) führte, und
dann die US-Besatzung im Irak unterminierten dies. In Syrien bewegte sich das
ba‘athistische Regime unter seiner neuen Führung durch Baschar al-Assad mehr in
Richtung westlicher Imperialismus und nahm in den 2000er Jahren neoliberale
Wirtschaftsmaßnahmen an, die auch seine soziale Basis verengten.

Die Schwächung
der US-Hegemonie in den 2000er Jahren veranlasste andere imperialistische
Mächte, ihren Einfluss im Nahen Osten (wieder) zu etablieren, ebenso wie sie
aufstrebende Regionalmächte ermutigte zu versuchen, das „Vakuum“ zu füllen, das
von zusammenbrechenden Staaten wie Irak und Syrien ausging. So wollten
verschiedene Länder wie die Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Israel oder sogar
Katar von der Situation profitieren. In weiten Teilen des Irak und Syriens
hatte sich der semi-faschistische konterrevolutionäre „Islamische Staat“ (ISIS)
auf weiter Fläche etabliert – selbst ein konterrevolutionäres Ergebnis der
US-Besetzung, der Politik des Assad-Regimes, der politischen Krise der Führung
der syrischen Revolution und des direkten Einflusses der Türkei, Katars und
anderer Regime. Der Vormarsch von ISIS zeigte nicht nur eine extreme Form der
Konterrevolution, sondern auch den künstlichen Charakter der Grenzen und
Staaten nach dem Ersten Weltkrieg. Auch wenn sich sein „Staat“ als kurzlebig
erwies, ist die politische und wirtschaftliche Situation, die ihn in erster
Linie überhaupt erst hervorgebracht hat, durch seine militärische Niederlage
und den Verlust seines Territoriums nicht gelöst worden.

Daher ist es
durchaus wahrscheinlich, dass sich die anhaltende Krise des irakischen und
syrischen Staates und der verstärkte Kampf um eine Neuaufteilung der
Einflusssphären zwischen den regionalen Mächten (Saudi-Arabien, Iran, Israel,
Türkei) sowie den ImperialistInnen (derzeit vor allem den USA und Russland) in
den kommenden Jahren auf Jordanien und den Libanon und darüber hinaus ausweiten
werden. Während das türkische und das iranische Regime relativ stabil scheinen,
sind sie selbst von inneren Widersprüchen geplagt, die durchaus explodieren
könnten – vor allem, wenn wir in der kommenden Zeit mit einer weiteren globalen
wirtschaftlichen Rezession konfrontiert werden. Dies wurde durch die
Wirtschaftskrise, Protestdemonstrationen und Spaltlinien innerhalb des
iranischen Regimes zum Jahreswechsel 2017/18 bestätigt. Trotz Erdogans Wahlsieg
2018 droht auch die ökonomische Krise die Grundlagen seiner Herrschaft in der
Türkei zu untergraben.

In dieser
Situation können wir auch erwarten, dass der westliche Imperialismus trotz
Obamas und nun Trumps Versicherung, Truppen abziehen zu wollen, offener
eingreift, um nicht nur seinen eigenen Einfluss zu stärken, sondern auch den
Russlands zurückzudrängen. Mit der Niederlage der syrischen Revolution hat
Russland bewiesen, dass es eine globale imperialistische Macht ist, die ihren
Einfluss im Nahen Osten verstärkt. Und die USA und die europäischen
ImperialistInnen werden ihre einschlägigen Strategien in der Region neu
justieren müssen, um den wachsenden Einfluss Russlands nicht nur in Syrien,
sondern auch im Iran und in der Türkei einzudämmen. Die Trump-Strategie zur
Unterstützung Israels, Saudi-Arabiens und ihrer engeren Verbündeten bei
gleichzeitiger Erhöhung des Drucks auf den Iran bedeutet jedoch, dass die
Unterschiede zwischen den USA und mehreren EU-Mächten selbst stärker
herausgestellt werden, ebenso wie China, das als Weltmacht aufsteigt, zunehmend
gezwungen sein wird, seine politische Aufmerksamkeit auf die Region zu lenken.

In den
vergangenen Jahren, nach einer Zeit der Drohungen, in Syrien einzugreifen, taten
die USA dies eher zögerlich, da sie keine klare Strategie hatten, wie der Nahe
Osten neu geordnet werden sollte. In Syrien haben sie de facto das Überleben
des Assad-Regimes als „kleineres Übel“ gegenüber dem Islamischen Staat im Jahr
2014 akzeptiert. Die FSA (Freie Syrische Armee) ist eine Kraft, die weitgehend
versagt hat, obwohl ihre Führung und der Syrische Nationalrat (SNC) mehr als
bereit waren, sich mit den USA und der Türkei zu verbünden. Die FSA selbst
erwies sich als Dachorganisation und nicht als politische Kraft, so wie sich
die Koordinierungsausschüsse der syrischen Revolution bestenfalls als politisch
impotent herausstellten. Im Irak würde eine stärkere westliche Intervention
schließlich eine zweite Besatzung mit Hunderttausenden von SoldatInnen
erfordern, mit eher ungewissem Ausgang.

Einige Teile der
US-Regierung spielten vor diesem Hintergrund mit dem
Gedanken der Bewaffnung der KurdInnen als ihren „natürlichen
Verbündeten“. In Syrien sind die USA sogar dazu übergegangen, die kurdisch
geführten „Demokratischen Kräfte Syriens“ (DKS) mit Waffen zu versorgen,
darunter die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten, Teile der FSA und Quwwat
as-Sanadid (sunnitisch-arabische Schammar-Stammesmiliz; „Kräfte der Mutigen“).
Dies hat zu weiteren Spannungen mit der Türkei geführt, die den USA die
Unterstützung von „TerroristInnen“ vorwirft, aber auch innere Widersprüche der
US-Politik offenbart, da die PKK nach wie vor als „terroristische Organisation“
von USA und EU verfolgt wird, während die PYD mehr oder weniger offen
unterstützt wird. Die Bewaffnung und Ausbildung der irakischen KurdInnen, der
Peschmerga, (Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan; „Die dem Tod ins Auge
Sehenden“) durch die USA, aber auch durch den deutschen Imperialismus,
erschweren die Beziehungen zum Regime in Bagdad und drängen es mehr auf Teheran
zu. So achteten die ImperialistInnen sogar in den kurdischen Regionen im Irak
darauf, die Provinz nicht zu einem „echten“ Staat oder einem Anziehungspunkt
für separatistische Bewegungen oder nationale Aufstände oder die Schaffung
eines größeren kurdischen Staates in der Region zu machen.

Derzeit sind
sich alle ImperialistInnen und auch alle regionalen Mächte (zumindest
offiziell) einig, dass die Grenzen der verschiedenen Staaten nicht angetastet
werden dürfen. Es darf kein neuer Staat entstehen, aber offensichtlich könnten
von den verschiedenen Mächten neue Einflusszonen aufgebaut werden wie ein von
der türkischen Armee kontrollierter Korridor in Nordsyrien. Der Islamische
Staat stellte dies stillschweigende Territorialabkommen von der erzreaktionären Seite her in Frage. Aber es ist
wirklich ein echtes Problem. Die Halb-Unabhängigkeit der kurdischen Gebiete im
Irak und in Rojava stellt auch die bestehende staatliche Ordnung allein durch
ihre Existenz in Frage. Eine Wiedereingliederung in den irakischen oder
syrischen Staat ohne eine vollständig siegreiche Revolution würde zwangsläufig
dazu führen, dass das kurdische Volk eine Reihe demokratischer und nationaler
Rechte aufgeben müsste, die es in den letzten Jahren erreicht hat. Es würde zu
einer Wiederherstellung seiner nationalen Unterdrückung führen, sobald sich ein
bürgerliches syrisches oder irakisches Regime stark genug fühlte, dies zu tun.

In Rojava
schlossen die PYD und die kurdischen Streitkräfte ein weitreichendes
Militärbündnis mit den USA. Es hat die geteilten und militärisch schlecht
organisierten Teile der FSA und die „gemäßigte“ Opposition als bevorzugten
US-amerikanischen Verbündeten in Syrien effektiv ersetzt. Mit Hilfe der USA
erwiesen sich die kurdischen Streitkräfte als wirksam bei der Rückeroberung von
Gebieten, die zuvor von ISIS besetzt waren. Für die USA ist der Zweck der
Allianz ganz klar. Sie beabsichtigen, die kurdischen Streitkräfte zu nutzen, um
ein Mitspracherecht bei der Neuordnung Syriens einzufordern. Aber der Zweck und
das Bündnis beschränken sich auch darauf. Die USA wollen natürlich keine
weitere Verschlechterung der Beziehungen zur Türkei riskieren. Deshalb hat
Washington wirtschaftliche und technologische Hilfe für Rojava abgelehnt und,
was noch wichtiger ist, die Forderungen nach kurdischer Autonomie in einem
künftigen Syrien nicht unterstützt.

Die Türkei
hingegen hat ihr Ziel, Assad zu beseitigen, aufgegeben. Sie wirft vielmehr ihr
Gewicht (und die Teile der syrischen Opposition, die sie kontrolliert) in eine
„Friedensinitiative“ in Absprache mit Syrien, Iran, Russland und der Türkei.
Diese Regime haben erfolgreich jede kurdische Vertretung bei der sogenannten
„Astana-Konferenz“ blockiert, die die sogenannten „Friedensgespräche“ der UNO
abgelöst hat. Gleichzeitig hat Russland die türkische Eroberung von Afrin durch
die Öffnung des Luftraums zugelassen. Die USA haben ihrerseits ihren kurdischen
Verbündeten ohne Zögern fallen gelassen. Dies hat den türkischen Einfluss bei
der Neuordnung Syriens gestärkt und den kurdischen Formen von Selbstverwaltung
oder Autonomie, ganz zu schweigen von einem unabhängigen Staat, einen weiteren
Riegel vorgeschoben. Es ist jedoch klar, dass es, je mehr sich das syrische
Regime unter russischem Schutz und mit iranischer Unterstützung wieder
konsolidiert, die kurdischen Regionen sein werden, deren demokratische
Errungenschaften und Formen der Autonomie massiv angegriffen werden.

Im Irak
markierte das Jahr 2017 einen Wendepunkt für die kurdische Region. Seit dem
Sturz Saddam Husseins hatte sie unter der Führung der
bürgerlich-nationalistischen und proimperialistischen PDK (einschließlich der
Eingliederung der anderen, wichtigsten kurdischen Partei, der PUK) eine gewisse
Selbstverwaltung aufgebaut. Die Niederlage von ISIS im Irak, der wachsende
Einfluss des Iran und die Angst der USA, in Badgad noch mehr Einfluss zu
verlieren, wenn man sie mit Unterstützung für kurdische Selbstverwaltung
identifiziert, führten jedoch dazu, dass die Spannungen mit der irakischen
Regierung zunahmen. Darüber hinaus befürchteten auch die Türkei und der Iran,
obwohl sie der Barzani-Führung in Irakisch-Kurdistan seit einigen Jahren nicht
feindlich gesinnt waren, dass der benachbarte kurdische Quasi-Staat Bewegungen
für Autonomie und Selbstbestimmung (wenn nicht gar Unabhängigkeit) im eigenen
Land fördern würde. Als die kurdische Regierung in Nord-Irak ein Referendum
über die Unabhängigkeit abhielt, erhielt sie eine überwältigende Zustimmung (92
Prozent). Aber es bewies, dass die kurdischen FührerInnen nicht nur nicht in
der Lage waren, es umzusetzen, sie mussten sich auch aus umstrittenen Gebieten
in Kirkuk vor irakischen Truppen und schiitischen Milizen zurückziehen. Der
darauf folgende politische und wirtschaftliche Druck der irakischen Regierung,
der Türkei und der USA (die wollen, dass die KurdInnen auf Ölkonzessionen an
russische Konzerne verzichten, um diese multinationalen US-Unternehmen zu
gewähren) hat erneut gezeigt, dass die kurdische Selbstbestimmung gegen das
Interesse aller Mächte verstößt.

Nach dem
Wahlerfolg der HDP (Halklarin Demokratik Partisi = Demokratische Partei der
Völker) im Jahr 2015 beendete der türkische Staat den „Friedensprozess“ mit der
PKK und der kurdischen Bewegung. Bereits vor Erdogans Gegenputsch zur
Errichtung einer bonapartistischen Präsidialdiktatur wurde der Krieg gegen die
kurdische Bevölkerung wieder aufgenommen, indem Städte bombardiert und von der
Bevölkerung abgeschottet wurden. Seit Sommer 2016 haben sich der Krieg und die
Kriminalisierung der Bewegung (und anderer demokratischer Kräfte) enorm beschleunigt.

Tausende von
HDP-FührerInnen und -Mitgliedern wurden kriminalisiert, ins Gefängnis gesteckt,
verurteilt, von ihren Arbeitsplätzen entlassen. Während die kurdische Miliz in
Rojava eine positive Medienberichterstattung erhielt, verheimlichten die europäischen
Länder die stillschweigende türkische Unterstützung für antikurdische Kräfte in
Syrien (einschließlich des Islamischen Staates). Sie engagieren sich weiterhin
stark für die Unterstützung der Türkei im Kampf gegen die PKK, verbieten
kurdische Organisationen in der EU, verfolgen kurdische politische
AktivistInnen als „TerroristInnen“ und liefern sie an den türkischen Staat
aus. Sie weigern sich, den kurdischen Opfern von Erdogans Krieg oder den
meisten türkischen demokratischen Oppositionellen Aufnahme zu gewähren.

Im Iran war die
kurdische Bewegung relativ still – als Folge der schweren Niederlage nach der
„Islamischen Revolution“ und der Schaffung einer islamistischen, klerikalen
Diktatur, die die meisten kurdischen Parteien ausgelöscht und die Bewegung fast
atomisiert hat. Berichte über die Protestbewegung, die am 17. Dezember begann,
legen jedoch nahe, dass die kurdische Bevölkerung Teil der Aktionen gegen das
Regime ist.

In den
ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbeidschan ist die kurdische
Minderheit in die reaktionäre nationalstaatliche Auseinandersetzung zwischen
beiden Staaten verwickelt worden und wird wahrscheinlich darunter zu leiden
haben.

Die kurdische
nationale Frage und der Befreiungskampf ist eine Schlüsselfrage der Revolution
im Nahen Osten. Die nationale Selbstbestimmung des kurdischen Volkes – bis hin
zum Recht auf Abspaltung von den jeweiligen Staaten – stellt deren Existenz und
die der gegenwärtigen imperialistischen Ordnung in Frage.

Das bedeutet,
dass der kurdische Befreiungskampf eng mit dem Schicksal des revolutionären
Kampfes im gesamten Nahen Osten, der arabischen, türkischen, persischen
ArbeiterInnen und BäuerInnen, verbunden ist. Doch im letzten Jahrhundert haben
es die Führungen der kurdischen Nationalbewegung immer wieder versäumt, den
Befreiungskampf mit Nachdruck fortzusetzen und an das Schicksal der Revolution
in der gesamten Region zu binden. Heute streben die proimperialistischen,
bürgerlich-nationalistischen Führungen, die sowohl eng mit den GroßgrundbesitzerInnen
verbunden sind als auch mit der sich entwickelnden kapitalistischen Klasse im
Nordirak (PDK und PUK), nach kurdischen Rechten, indem sie ein Bündnis mit den
herrschenden Klassen ihres Staates sowie den regionalen und imperialistischen
Mächten suchen. Die PKK/PYD will es schaffen, kurdische demokratische Rechte in
den bestehenden bürgerlichen Staaten (Türkei, Syrien) zu etablieren und die
imperialistische Ordnung des Nahen Ostens grundsätzlich nicht in Frage zu
stellen. Während man offensichtlich zwischen einer völlig proimperialistischen
bürgerlichen Führung wie im Nordirak und einer
kleinbürgerlich-nationalistischen wie der PKK/PYD unterscheiden muss, wird die
Strategie beider eher zu einer Niederlage als zu einer Befreiung der kurdischen
Massen führen.

Die kurdische
Nation und der Befreiungskampf vor dem Ersten Weltkrieg

Um die aktuellen
inneren Probleme der kurdischen Bewegung und Schlüsselfragen der Strategie und
Taktik zu verstehen, ist es jedoch notwendig, einen
Blick auf die Geschichte des kurdischen Volkes und seinen Kampf zu
werfen.

Die kurdischen
Kämpfe im 19. und 20. Jahrhundert haben bisher immer wieder zu Niederlagen
geführt. Allzu oft wurden Führer kurdischer Aufstände im 19. Jahrhundert im
Osmanischen oder Persischen Reich – zumeist Fürsten – von anderen kurdischen
Aristokraten verraten. Im 20. Jahrhundert, seitdem wir tatsächlich von der
Entstehung einer modernen nationalen Bewegung sprechen können, wurden die oft
kleinbürgerlichen (manchmal offenen bürgerlichen) Führer von Befreiungskämpfen,
Aufständen usw. von anderen kurdischen Führern (und natürlich von
imperialistischen oder regionalen Mächten, mit denen sie sich verbündet hatten)
hintergangen.

Für uns
MarxistInnen ist es jedoch wichtig, die Gründe dafür zu verstehen. Sie müssen in
der Stammesstruktur, der sozialen Basis der kurdischen Gesellschaft selbst,
gefunden werden. Aufgrund der Bergregionen, in denen das kurdische Volk lebte,
war Viehzucht die vorherrschende Form der wirtschaftlichen Tätigkeit. Die
meisten Stämme waren NomadInnen. Da der Reichtum des Stammes stark von der
Größe seiner Herden und des Landes, das er zum Weiden für sein Vieh nutzen
konnte, abhängig war, kam es häufig zu Zusammenstößen zwischen den kurdischen
Stämmen, die oft zu Kriegen führten.

Mit der Errichtung
des Osmanischen und des Safawiden-Reiches im 16. Jahrhundert entstand eine
Klassengesellschaft. Vom 15. bis zum 19. Jahrhundert begannen sich die Menschen
niederzulassen, aber ein wesentlicher Teil, wenn nicht die Mehrheit blieb
nomadisch. Das Land war jedoch noch kein Privatbesitz, sondern gehörte dem
Stamm. Die Stammesführer verwandelten sich in eine Adelsschicht, die dazu
neigte, größere politische Formationen zu bilden. Es gab jedoch keine kleinen
Feudalwesen, sondern oft Miniaturversionen des Osmanischen oder Persischen
Reiches, die selbst Formen des asiatischen Despotismus verkörperten, obwohl die
osmanischen Herrscher auch Ansätze von feudalem Landbesitz schufen und
förderten. Während die kurdischen Adeligen eine gewisse politische
Zentralisierung anstrebten und einige ihrer Städte für gewisse Zeit zu
kulturellen Zentren wurden, wurde die Entwicklung eines kurdischen despotischen
Staates durch äußere Faktoren (andere Reiche, Invasionen von türkischer oder
mongolischer Seite, aber auch durch die inneren
sozialen Grenzen) blockiert. Erst im 19. Jahrhundert wurde das gemeinsame Land
in Privateigentum der herrschenden Klasse verwandelt (eigentlich unter dem
wachsenden Zustrom von europäischem Kapital in das Osmanische Reich, was
wiederum die Zentralisierungstendenzen innerhalb dessen verstärkte).

Dies erklärt,
warum trotz der langen Geschichte des kurdischen Volkes eine nationale Bewegung
im modernen Sinne erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstand,
obwohl einige moderne nationalistische Elemente bereits früher zu beobachten
waren. Die kurdischen Aufstände im 19. Jahrhundert wurden durch die Stagnation
des Osmanischen Reiches und damit seine Angriffe auf die Autonomie der
verschiedenen Fürstentümer in diesem Reich verursacht. Außer beim Aufstand in
Botan 1853–55 spielte die Masse der kurdischen BäuerInnen eine sehr geringe
Rolle. Oft wurden die Aufstände von einer Koalition aus osmanischen und anderen
kurdischen Truppen niedergeschlagen.

Gegen Ende des
19. Jahrhunderts änderte das Osmanische Reich jedoch seine Haltung gegenüber
dem kurdischen Adel. Die Stagnation und wachsende Verschuldung des Imperiums
führten zu einer Erhöhung der Steuer- und Abgabenlast für die ländlichen
Massen. Gleichzeitig wollte der Sultan den kurdischen Adel einbeziehen und
gewährte ihm immer mehr Privilegien und Ämter – während er von ihm erwartete,
dass er alle bäuerlichen Unruhen zerschlug, was er auch tat. Viele der
kurdischen Stammesführer wurden nun Offiziere, Paschas (höchste Zivilbeamte und
Militärs). Für die Kinder des kurdischen Adels wurden spezielle Schulen
eingerichtet. Ironischerweise und sicherlich gegen die Absicht des Staates
kamen diese jungen StudentInnen und späteren BeamtInnen, ÄrztInnen,
JuristInnen, SchriftstellerInnen dadurch mit bürgerlichen Ideen in Berührung,
einschließlich des bürgerlichen Nationalismus. 1898 wurde die erste kurdische
Zeitschrift (Kurdistan) gegründet. In einer Reihe von kurdischen
Zentren/Städten wurden politische Klubs/Gesellschaften und auch einige
paramilitärische Formationen gegründet. Es entwickelte sich eine kurdische
nationale Bewegung, die zunächst von der „Jungtürken“-Bewegung sowie von der
entstehenden arabischen und armenischen Nationalbewegung beeinflusst und
geprägt war. Während und nach dem Aufstand der Jungtürken 1908 organisierte
diese kurdische Bewegung auch einige kurzlebige Aufstände. Wie im 19.
Jahrhundert spielte die BäuerInnenschaft bei diesen Aktionen eine
untergeordnete Rolle.

Die
Zersplitterung des kurdischen Volkes zwischen verschiedenen Reichen und dann zwischen
fünf verschiedenen Staaten führte auch dazu, dass die kurdischen Dialekte nie
in einheitliche/r Sprache und Schrift geregelt und überführt wurden.

Von Anfang an,
durch die gesamte Geschichte der kurdischen nationalen Bewegung hindurch,
können wir eine Spannung zwischen den Versuchen, eine allkurdische Bewegung
über die bestehenden Grenzen hinaus zu schaffen, und der Entwicklung kurdischer
nationalistischer Bewegungen beobachten, die sich auf die verschiedenen
Staaten, in denen sie operierten, konzentrierten, wenn nicht gar auf diese
beschränkten. Dies ging sogar so weit, mit anderen Unterdrückerstaaten
verschiedener kurdischer Bewegungen zusammenzuarbeiten. Das wahrscheinlich
schlimmste Beispiel hierfür war der Einsatz kurdischer Truppen durch türkisches
Militär beim Völkermord an den ArmenierInnen.

Der
Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, kurdische Bewegung und Klassenstruktur
der kurdischen Gesellschaft

Der Erste
Weltkrieg und die Schaffung der imperialistischen Ordnung in der Folgezeit
markierten eine historische Niederlage für das kurdische Volk. Während des
Krieges und im Vertrag von Sèvres (1920) hatten die französischen und
britischen ImperialistInnen und die VertreterInnen des Osmanischen Reiches dem
kurdischen Volk einen kurdischen Staat versprochen. Auch wenn dies nur etwa ein
Drittel des kurdischen Territoriums umfasst hätte, so bedeutete dagegen der
Vertrag von Lausanne (1923), der die heutigen Grenzen der Türkei anerkennt,
dass die KurdInnen keinen Staat erhielten, sondern zwischen fünf Staaten
(Türkei, Iran, den britischen und französischen Kolonialgebieten – heute Irak
und Syrien – und der Sowjetunion, heute Armenien) aufgeteilt waren.

In der Folgezeit
kam es zu einer Zunahme der Unterdrückung der KurdInnen und ihrer Kultur in den
verschiedenen Staaten wie z. B. dem Verbot der Sprache in der Türkei. Dies
führte zu einer Reihe von kurdischen Aufständen, darunter auch zu verschiedenen
Versuchen, eine allkurdische Bewegung zu organisieren. Von da an bis zum Ende
des Zweiten Weltkriegs verlagerten sich die Zentren des kurdischen Widerstands
von der Türkei 1925–38 in den Irak 1943–45 und in den Iran 1942–46, wo die
Republik Mahabad (offiziell Komara Kurdistan; Republik Kurdistan) im Januar
1946 gegründet wurde, um nach dem Abzug der sowjetischen Truppen durch Stalin
vom Schah vernichtet zu werden. In dieser Zeit wurde der Grundstein für die
spätere Demokratische Partei Kurdistans, die PDK, unter Barzani, gelegt.
Gleichzeitig begannen sich die sozialen Strukturen der verschiedenen Staaten,
in denen sich die KurdInnen befanden, auseinanderzuentwickeln, wenn auch nicht
in kürzester Zeit, da der wirtschaftliche Fortschritt schleppend verlief.

Ein
signifikanter Unterschied betraf die Haltung der „Gaststaaten“ gegenüber der
landbesitzenden Klasse der KurdInnen. In der Türkei hat der Staat sie
systematisch in die offiziellen Parteien aufgenommen und sie gegen kurdische
BäuerInnen und landlose ArbeiterInnen unterstützt. Infolgedessen förderte die
führende Klasse innerhalb der kurdischen Bevölkerung nicht die nationalistische
Bewegung, sondern stellte sich auf die Seite des Unterdrückerstaates. Im
Gegensatz dazu unterstützten im Iran und Irak die großen Gutsbesitzer wie der
Barzani-Clan, der oft fälschlicherweise als Feudalherr bezeichnet wurde, die
PDK. Diese Unterschiede sollten die kurdischen Bewegungen in den verschiedenen
Staaten nachhaltig beeinflussen.

Doch während der
Nachkriegszeit begannen sich die sozialen wie wirtschaftlichen Strukturen –
auch die auf dem Lande – klarer zu verändern. Die Türkei erlebte nach dem
Zweiten Weltkrieg eine anhaltende Konzentration von Land in den Händen von
GroßgrundbesitzerInnen und in der Folge eine wachsende Zahl von landlosen
BäuerInnen, die teilweise gezwungen waren, ihre Arbeitskraft als
LandarbeiterInnen zu verkaufen. Die Industrialisierung der Landwirtschaft und
die Einführung von Maschinen in den 1950er und 1960er Jahren haben die im
Vergleich zu den westtürkischen Regionen (ganz zu schweigen von den globalen
Entwicklungen) relativ geringe Produktivität und die Rückständigkeit nicht
verändert, aber dennoch zwangen sie Millionen dazu, vom Land in die Großstädte
wie Istanbul oder nach Westeuropa zu wandern. In der Türkei entstand ein
kurdisches Proletariat von mehreren Millionen – aber nicht in Kurdistan. Während
es in den türkischen Teilen Kurdistans eine sehr wichtige, bedeutende Klasse
kapitalistischer GrundbesitzerInnen gab, bildete sich eine sehr schwache
industrielle oder kommerzielle Bourgeoisie, oft mit nur kleinen Unternehmen.

Im Iran war die
Entwicklung anders. Hier hatten die bescheidenen Landreformen nicht nur die
kurdischen LandbesitzerInnen in die Opposition gedrängt. Sie führten in den
1950er und 1960er Jahren auch zu einem Rückgang der landlosen BäuerInnen und
einem Wachstum des Landanteils kleinerer und mittlerer BäuerInnen, wobei die
kurdischen Regionen wie in der Türkei wirtschaftlich eher rückständig blieben
und nur kleinere Industrien haben, obwohl die kurdischen Regionen im Iran einen
höheren Anteil an städtischer Bevölkerung haben (etwa 50 Prozent).

Im Irak wurden
auch die kurdischen Regionen einer (bescheidenen) Landreform unterzogen, die zu
einem erhöhten Anteil kleinerer BäuerInnen an Land geführt hat. Wie bescheiden
die Reform war, zeigt die Tatsache, dass sich noch auf der Höhe dieses Prozesses
etwa die Hälfte des Landes im Besitz von GroßgrundbesitzerInnen wie Barzani
befand. Zudem ist dieser Prozess seit den 1970er Jahren durch die zunehmende
Verschuldung der KleinbäuerInnen eher umgekehrt worden. Im Gegensatz zu allen
anderen Teilen Kurdistans ist der irakische Teil reich an Ölfeldern (im
Vergleich dazu sind die syrischen und iranischen Felder in/an den kurdischen
Gebieten weniger bedeutend). Dies hat im letzten Jahrzehnt zu einem
fieberhaften Wachstum im kurdischen Irak, zu enormen Investitionen und auch zur
Schaffung einer kurdischen ArbeiterInnen- und Mittelschicht in der Region
geführt. Angesichts der relativ kleinen Bevölkerung könnten die von ihr
beherrschten Ölreserven und

-felder eine
Einnahmequelle für die wirtschaftliche Entwicklung sein. Es ist aber nicht nur
eine wirtschaftliche Frage, ob ein kurdischer „Ölstaat“ entstehen wird, sondern
offensichtlich steht dieses Projekt auch vor großen politischen Hindernissen.
Die Volksabstimmung im irakischen Kurdistan (obwohl sie eine massive
Unterstützung für die kurdische Selbstverwaltung demonstrierte) führte auch zu
einer politischen Niederlage der kurdischen Regionalregierung, zum Verlust der
Kontrolle über umstrittene Gebiete an die irakische Regierung und machte auch
deutlich, dass keine imperialistische Macht bereit ist, die Selbstbestimmung
der KurdInnen zu unterstützen, selbst wenn diese von einer Regierung geführt
und gelenkt wird, die sich den imperialistischen
Mächten unterordnen will.

In Syrien sind
die kurdischen Regionen überwiegend agrarisch, aber mit einer relativ hohen
Produktivität, als einer der landwirtschaftlich lebensfähigsten Teile Syriens,
der für die großen Märkte in den Städten des Landes produziert. In den drei
Bezirken von Rojava, lebt die kurdische Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land.
Viele der Städte sind arabisch oder christlich (oder haben einen hohen
Prozentsatz davon). Die arabisch-nationalistische Politik des Ba‘athismus
bedeutete auch, dass viele der KurdInnen ihre Staatsbürgerschaft als Teil einer
bewussten Politik der „Arabisierung“ (unter Hafiz al-Assad) in den kurdischen
Regionen verloren haben. Auch eine
Übertragung des Landes vom kurdischen auf die arabische Bevölkerung fand statt.
Da Menschen ohne Staatsbürgerschaft das Land nicht besitzen konnten, haben sie
bisher nicht von einer Landreform, die arabische Grundherren betreffen würde. profitiert.
Schließlich darf man nicht vergessen, dass es eine kurdische
ArbeiterInnenklasse gab, vor allem in den großen Städten wie Aleppo.

Das Fehlen einer
gesamtkurdischen Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse bedeutete auch, dass die
kurdische nationale Befreiungsbewegung nicht nur historisch verspätet kam,
sondern dass sie oft entlang der verschiedenen Nationalstaaten zersplittert
war. Es gibt materielle Wurzeln, warum sich die unterdrückte kurdische
Nationalität in dieser Richtung entwickelte, obwohl versucht wurde, sie zu
überwinden (z. B. durch die Gründung der PDK im Irak, Iran, Syrien und für
kurze Zeit auch in der Türkei).

Es gibt
tatsächliche materielle Gründe für die Schwierigkeiten, eine einheitliche
nationale Befreiungsbewegung aufzubauen: Erstens ist zu nennen die überwiegende
Landbevölkerung, die BäuerInnenschaft als größte Klasse. Wo die kurdischen
Bewegungen zu Massenbewegungen, Parteien, Guerillakräften wurden, fanden sie
ihre Massenbasis in der BäuerInnenschaft und Kleinbourgeoisie, manchmal unter
der politischen Führung der GroßgrundbesitzerInnen.

Zweitens führten
die unterschiedliche Entwicklung der wichtigsten Staaten, in denen sich die
kurdische Bevölkerung befindet, und die voneinander abweichende Entfaltung ihrer
Klassenstruktur dazu, dass der Rhythmus des kurdischen politischen Lebens und
des Klassenkampfes in der Nachkriegszeit auseinandergingen.

Drittens, und
damit verbunden, schienen die Grenzen der Nationalstaaten, in die die KurdInnen
aufgeteilt waren, unüberwindbar. Die meisten Bewegungen hatten Anfang der
1990er Jahre den Kampf um Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aufgegeben; die
PKK sollte bald folgen. Es ist jedoch eine gewisse Ironie in der Geschichte,
dass sich dieser Zustand grundlegend geändert hat. Die gescheiterte Neuordnung
des Nahen Ostens durch die USA, die Besetzung und Verwüstung des Irak und die
arabische Revolution in Syrien haben nicht nur extrem repressive Regime in
Frage gestellt, sondern auch die Existenz der von ihnen regierten Staaten.

Schließlich ist
der Umgang der verschiedenen kurdischen Kräfte mit der nationalen Frage stark
von bürgerlichem Nationalismus und Stalinismus geprägt. Dies bedeutete, dass
die Klassengegensätze auf dem Land und in den Städten oft heruntergespielt,
wenn nicht gar ignoriert wurden. Die massive Unterdrückung stellte auch ein
echtes Hindernis für die Integration der kurdischen Massen in demokratische
oder progressive Bewegungen in verschiedenen Ländern dar. Dennoch darf man
nicht übersehen, dass es ein starkes Element der Integration der kurdischen
ArbeiterInnenklasse (z. B. in der Türkei, aber auch im Iran und von
MigrantInnen in Europa) in die ArbeiterInnenklasse ihrer jeweiligen Länder gibt.
Diese wurden allgemein als außerhalb des „echten“ Kampfes betrachtet – was auch
bedeutete, dass jene AktivistInnen oder KämpferInnen, die versuchten, über die
Grenzen ihrer nationalistischen oder stalinistischen Organisationen
hinauszugehen, tatsächlich auch auf die politischen Grenzen – den Nationalismus
– von Organisationen wie der PKK stießen. Letztere organisierte zumindest das
kurdische Volk in Massenorganisationen, hauptsächlich zur Unterstützung des
kurdischen nationalen Kampfes, während die offenen bürgerlichen Organisationen
dies nicht einmal versuchten. Solch ein Spannungsverhältnis zwischen der
Integration in die politischen Kämpfe in den verschiedenen Ländern und dem
Nationalismus kann man an der HDP sehen.

Die Politik der
PDK/PUK und der PKK

Es wäre jedoch
falsch, den Mangel an internationaler kurdischer Widerstandsbewegung, die
Schwäche ihrer Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse nur als eine
mechanische Spiegelung der sozialen Struktur des kurdischen Volkes zu sehen.
Die Dominanz des bürgerlichen Nationalismus und des Großgrundbesitzes auf der
einen Seite (PDK) und der stalinistischen Etappenstrategie (PKK) bedeutete,
dass die beiden dominierenden Kräfte innerhalb der kurdischen Bewegung seit
einem halben Jahrhundert oder länger eine politische Perspektive hatten, die
sich tatsächlich auf den nationalen Kampf in den Ländern konzentrierte, in
denen sie ihre Basis hatten.

Die PDK hatte
ihren Ursprung im Irak und auch, wenn sie eine ganze Zeit lang die führende
Kraft der kurdischen Bewegung im Iran und in Syrien war, konzentrierte sie sich
nicht nur auf den Kampf im Irak, sondern war auch bereit, ihre
Schwesterparteien in diesen Ländern für Bündnisse mit dem iranischen Regime,
insbesondere gegen die irakischen Herrscher, zu opfern. Dies hat in den
verschiedenen Ländern zu Spaltungen der kurdischen Parteien geführt, die sich
auf die Seite reaktionärer Herrscher stellten (Schah und Chomeini [Khomeini]),
im Falle der PDK und der PUK (Patriotische Union Kurdistans) im Irak; Saddam
Hussein im Falle der iranischen KurdInnen).

Ein zweites
Spaltungsthema in der Geschichte der PDK war die Agrarfrage – wenn auch
manchmal nur als Vorwand. Die PUK um Talabani (und die parallelen Abspaltungen
in Syrien) forderten alle eine radikalere Agrarpolitik und Landreform gegen die
„feudalen“ Elemente der Familie Barzani. Während das meiste davon demagogisch
war – und sowohl die PDK als auch die PUK, selbst wenn sie sich mit der
Sowjetunion verbündet hatten, von Großgrundbesitzern geführt wurden, spiegelt
es auch die zentrale Bedeutung der Agrarfrage für die kurdische Revolution
wider, eines Themas, das alle kurdischen Parteien nicht mit Nachdruck
angegangen sind.

Die Begründung,
die die PDK und die PUK dafür lieferten, war stark beeinflusst von der
stalinistischen Etappentheorie. Die kurdische Selbstbestimmung, sei es in Form
von Unabhängigkeit, Autonomie oder Selbstbestimmung, müsse zuerst geschaffen
werden. Vorher würden „Experimente“ wie die Agrarreform (ganz zu schweigen von
der Revolution auf dem Lande) nur „das Volk spalten“ – entlang Klassenlinien,
könnte man hinzufügen.

Die PKK hatte
nie materiellen Rückhalt bei den GroßgrundbesitzerInnen, die auf Seiten des
türkischen Staates mit Waffen gekämpft haben und weiterhin kämpfen, der sie
auch ermutigt hat, paramilitärische Einheiten (die sogenannten Dorfschützer)
gegen die Guerilla und ungehorsame Bäuerinnen und LandarbeiterInnen aufzubauen.
Als die PKK gegründet wurde, erklärte sie auf maoistische Weise die nationale
Unterdrückung (und die koloniale Ausbeutung) Kurdistans zum bestimmenden
Hauptwiderspruch. Die nationale Frage müsse zuerst gelöst werden, bevor alle
anderen demokratischen und sozialistischen Aufgaben angegangen und gelöst
werden könnten (PKK-Programm 1984). Dies bedeutete, dass alle Fragen der
demokratischen Revolution (v. a. die Landfrage) der „nationalen
Revolution“ untergeordnet wurden.

Wie die PDK war
die PKK jahrelang bereit, über die nationale Unterdrückung des kurdischen
Volkes in anderen Staaten zu schweigen, wenn dies ihrem Kampf in der Türkei
diente. Jahrelang ließ das syrische Regime es zu, ihre KämpferInnen im Land
auszubilden, und die PKK hat über die schwere Unterdrückung des kurdischen
Volkes in Syrien geschwiegen. Erst als sich das syrische Regime Ende der 1990er
Jahre mit dem türkischen Regime verbündete, Assad mit der PKK brach und die
PYD, die Schwesterpartei der PKK in Syrien, schwer unterdrückte, änderte sich
das.

Die
dominierenden Kräfte der kurdischen Bewegung, die PDK- und PKK-Traditionen,
haben das kurdische Volk immer wieder enttäuscht, sind aber heute immer noch
die Schlüsselkräfte. Sie regieren quasi einen Staat im Nordirak und die
kurdischen Kantone in Syrien (Rojava). Dies hat nicht nur ihre Politik in den
Vordergrund gerückt, sondern auch zu einer Situation geführt, in der sie als wichtigste
kurdische Kräfte international miteinander konkurrieren. Die Öffnung der
Grenzen, die Kriegssituation im Irak und in Syrien, die Nähe zur Türkei
bedeuten, dass die kurdische Frage nun wieder viel häufiger gestellt wird. Auch
wenn die zukünftige Form der kurdischen Selbstbestimmung und Befreiung offen bleibt,
ist es fast unvorstellbar, dass diese unter einem wieder stabilisierten
syrischen oder irakischen Staat ohne eine revolutionäre Erhebung der
proletarischen und bäuerlichen Massen nennenswerte Form annehmen kann. Diese
wiederum könnte nur erfolgreich sein, wenn sie den KurdInnen ihr Recht auf
Selbstbestimmung einschließlich Sezession einräumen würde, falls sie dies
wünschen. Dies allein würde einen massiven Einfluss auf die kurdische
Bevölkerung in der Türkei und im Irak ausüben.

Eine
revolutionäre Strategie für die kurdische Befreiung würde es erfordern, den
nationalen als Teil des revolutionären Kampfes im Nahen Osten und gegen die
imperialistische Staatenordnung zu sehen. Sowohl die PDK als auch die PKK
nehmen trotz ihrer Unterschiede die bestehende staatliche Ordnung und auch die
bestehenden Klassenverhältnisse als Rahmen für ihre eigene Politik, die sie
zumindest ohne die Zustimmung des Imperialismus nicht in Frage stellen wollen.
Die PDK hofft, dass sie in den kurdischen Gebieten ein sehr hohes Maß an
Selbstverwaltung erlangt, einschließlich einer Erweiterung dieser Gebiete. Wenn
der Imperialismus den Irak nicht wieder zusammenfügen kann, könnte dies sogar
zu einem unabhängigen Staat führen, der mit Zustimmung der USA und anderer
Mächte errichtet wird.

Selbst die PKK
befürchtet eine solche Entwicklung. Sie hat den Kampf für einen unabhängigen
kurdischen Staat aufgegeben und durch den Kampf für „demokratischen
Konföderalismus“ ersetzt. Gemeint sind demokratische Reformen innerhalb der
bestehenden bürgerlichen Staaten. Dieses schwache und utopische Reformprogramm
steht im Widerspruch zur Geschichte, wo die Fragen der kurdischen
Selbstbestimmung einschließlich der Bildung eines kurdischen Staates
tatsächlich gestellt werden und echte Schritte in diese Richtung im Irak und in
Syrien (hier von der PKK/PYD selbst) unternommen wurden.

Die
PDK-Tradition

Von Anfang an
waren die PDK im Irak, aber auch Schwesterparteien in den 1940er und 1950er
Jahren im Iran, Syrien oder der Türkei mit inneren sozialen Widersprüchen
durchsetzt. Die städtische kurdische Intelligenz und die Mittelklassen waren
gespalten über die Frage, auf welche soziale Kraft sie sich orientieren
sollten, ob auf die Landbevölkerung oder die politischen Oppositionsparteien in
den jeweiligen Ländern. In allen Regionen Kurdistans (abgesehen von denen in
der Sowjetunion) lebte die große Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land, meist
unter der Herrschaft der Landbesitzerklasse. Sie war oft in Konflikte mit den etablierten
Staaten geraten, die die Kontrolle der StammesführerInnen und ihrer bewaffneten
Gruppen brechen wollten. Dies geschah jedoch oft in Form von lokalen
Streitigkeiten, aber es führte nicht zu einer einheitlichen kurdischen Bewegung.
Im Gegenteil, oft genug fungierten StammesführerInnen und Grundbesitzergruppen
als Verbündete der Unterdrückerstaaten. Darüber hinaus waren sie gegen jegliche
Landreform, ganz zu schweigen von einer Agrarrevolution, und gegen
demokratische Reformen.

Es gab jedoch
ein wichtiges Element, das Teile der Grundherren und auch religiöse FührerInnen
in Opposition zu den Zentralstaaten trieb – das waren die Armeen von Staaten,
die die gesamte kurdische Bevölkerung und sogar die Eliten mit Unterdrückung
behandelten, selbst wenn sie Verbündete gewesen waren.

Die PDK wurde im
Jahre 1946 in Mahabad, der kurzlebigen kurdischen Republik im heutigen Iran,
gegründet. Seit ihrer Gründung war sie eine nationalistische Partei, die ihrem
Programm eine Färbung gab, die von progressiv, demokratisch, sozialistisch,
„marxistisch-leninistisch“, reformistisch bis zu konservativ, religiös geprägt
war.

Im Laufe ihrer
Geschichte wurde sie von der Familie Barzani, einem der großen Grundherren des
irakischen Kurdistans, beherrscht – ebenso wie die Abspaltung, die PUK, die von
Talabani geführt wurde.

Die PDK stand
von Anfang an in einem Spannungsfeld. Während ihre FührerInnen angesichts der
Instabilität der Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst auf ein
„Großkurdistan“ hofften, konzentrierten sich ihr Kampf und ihre Ambitionen viel
stärker auf den Irak, insbesondere nach dem Fall der Mahabad-Republik. Im Irak
schwankte sie zwischen Forderungen nach größerer kurdischer Autonomie, Perioden
von Verhandlungen mit dem irakischen Regime und bewaffneten Kämpfen gegen es.

Die 1950er und
frühen 1960er Jahre waren eine Zeit des bewaffneten Kampfes, der Schaffung
einer kurdischen Guerilla, der Peschmerga, die auch Teile des Territoriums
kontrollierte. Im Jahr 1964 wurde ein Waffenstillstand mit der irakischen
Regierung vereinbart, die den KurdInnen begrenzte Zugeständnisse anbot. Dies
führte zu einer Spaltung der PDK (und schließlich zur Bildung der PUK). Das
Politbüro der Partei um Talabani und Ahmed spaltete sich und behauptete, dass
die Zugeständnisse unzureichend gewesen seien und zunächst kein
Waffenstillstand hätte geschlossen werden dürfen. Barzani reagierte darauf,
indem er jegliche Verhandlungen ablehnte, Talabani und seine AnhängerInnen aus
Kurdistan vertrieb und eine neue Führung schuf.

In den 1960er
Jahren war die PDK auf die Sowjetunion ausgerichtet und Barzani, ebenso wie
später Talabani, behauptete sogar, eine marxistisch-leninistische Ideologie zu
haben. Mit der Aufnahme der Verhandlungen mit dem irakischen Regime Anfang der
1970er Jahre änderte sich die Situation jedoch. Der Irak wurde mehr und mehr
ein Verbündeter der Sowjetunion. Während Barzani anfangs hoffte, dass dies mehr
Raum für ein Abkommen mit Badgad über die kurdische Autonomie eröffnen würde, spielte das Regime eindeutig mit der kurdischen
Bewegung. Je länger die Verhandlungen dauerten, desto weniger schienen sie zu
erreichen. Das irakische Regime spielte auf Zeit und kombinierte die
Verhandlungen mit einem erneuten Drang zur „Arabisierung“, während es seine
eigenen Truppen in Vorbereitung auf eine Offensive gegen die kurdische Bewegung
konsolidierte. Die Sowjetunion, einst Unterstützerin der PDK, hatte sich
schnell auf die Seite des geostrategisch viel wichtigeren irakischen Regimes
gestellt. Als der Kampf mit den KurdInnen jedoch wieder aufgenommen wurde,
machten Barzani und die PDK eine spektakuläre Wende – hin zu einem Bündnis mit
dem Schah und den USA. Allerdings ließen beide die PDK und ihre Guerillakräfte
fallen, nachdem das Regime in Badgad einer Normalisierung mit den USA
zugestimmt hatte.

Solche Abenteuer
und doppeltes Spiel prägen die gesamte Geschichte von Barzani und Talabani und
ihrer jeweiligen politischen Kanäle, der PDK und der PUK.

Ebenso verrieten
die PDK und die PUK nicht nur die kurdischen ArbeiterInnen, die in ihren
Strategien kaum eine Rolle spielten, sondern auch die kurdische
BäuerInnenschaft. Selbst in ihren jeweiligen „marxistisch-leninistischen“
Phasen haben sie die stalinistische Etappenstrategie einfach dazu benutzt, die
Unterordnung der BäuerInnenkämpfe oder jene der Frauen unter die
„Hauptauseinandersetzung“‚ den nationalen Kampf, zu rechtfertigen.

In der Folgezeit
führte das wechselseitige doppelte Spiel kurdischer Führer gegeneinander
wiederholt zu militärischen Kämpfen und Konflikten zwischen der PUK und der
PDK. Der Niedergang der Sowjetunion und die Wende des Irak, der sich zu einem
US-amerikanischen Bündnispartner gegen den Iran entwickelte, bedeuteten auch,
dass das ba‘athistische Regime freie Hand bei der Unterdrückung der kurdischen
Gebiete hatte, was 1988 in dem barbarischen Massaker von Halabdscha gipfelte,
wo 5000 ZivilistInnen durch Giftgaseinsatz getötet wurden.

Nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wende der USA gegen das irakische Regime
boten sich irakische KurdInnenführungen, in späteren Perioden auch die PKK, als
Verbündete gegen Saddam Hussein an. Trotz eines Jahrhunderts des ständigen
Verrats am kurdischen Kampf durch imperialistische oder regionale Mächte haben
die Führungen der PDK und der PUK nichts aus der Vergangenheit gelernt. Wenn es
in ihrer Politik in der Tat etwas Konsequentes und Dauerhaftes gibt, dann ist
es die ständige Suche nach einem anderen imperialistischen oder reaktionären
Verbündeten in der Region.

In den Augen der
kurdischen Führung schienen die Niederlagen der irakischen Armee, die
Einrichtung einer Flugverbotszone durch die USA nach dem ersten Krieg gegen den
Irak und dann die Besetzung des Landes durch die USA ihre „Strategie“ zunächst einmal
bestätigt zu haben. Die kurdischen FührerInnen wurden in die irakische
Regierungsmaschinerie integriert. Talabani wurde sogar Präsident des Irak. Die
kurdische Region nahm in dieser Zeit ein gewisses Maß an Selbstverwaltung an
und wurde so zu einem Halbstaat.

Aber diese
Selbstverwaltung war das Ergebnis der Krise des irakischen Staates und des
Nahen Ostens. Sie war nur möglich, weil die historischen UnterdrückerInnen mit
anderen, unmittelbareren und brennenderen Problemen beschäftigt waren. Außerdem
erlaubten die Ölreserven des Landes eine regelmäßige Ölrente, obwohl sie immer
zwischen der kurdischen Regionalregierung und der zentralirakischen Regierung
umstritten war. Dies galt insbesondere für die Ölreserven in der Region Kirkuk,
aber auch für die Exportkontrolle. Die kurdische Regionalregierung kontrollierte
de facto den Export über die Türkei, machte auch russischen InvestorInnen
Zugeständnisse und zog ausländische Investitionen an. So entwickelte sich im
irakischen Kurdistan sogar ein temporärer Spekulationsboom, der zu einem
massiven Wachstum von Städten wie Erbil führte sowie auch einem Boom im
Bausektor. Die Ölrente bedeutete auch, dass Teile der kurdischen Bevölkerung in
den staatlichen Sektor und ein System des Klientelismus integriert werden
konnten. Dies bedeutete ebenfalls, dass ein großer Teil der ArbeiterInnenklasse
im kurdischen Gebiet tatsächlich arabische oder andere nicht-kurdische
ArbeiterInnen sind. So ist z. B. nur eine kleine Minderheit der ArbeiterInnen
in der Ölindustrie kurdisch, und diese arbeitet in der Regel in der Verwaltung
und nicht auf den Feldern.

Der Wohlstand
der kurdischen Region konnte jedoch nur unter günstigen wirtschaftlichen und
politischen Bedingungen anhalten. 2017 markierte einen Wendepunkt. Die
gescheiterte Hinwendung zu einem unabhängigen Staat oder zumindest zu einem
größeren Maß an Autonomie und Kontrolle über das Ölfeld in der Region Kirkuk
führte zu einer Katastrophe. Natürlich wollten die Menschen in den meisten
Bereichen Unabhängigkeit und sind verständlicherweise beunruhigt über die
Aussicht, unter einem reaktionären irakischen Regime zu leben, das sich mehr
und mehr in Richtung Iran bewegt und in dem der Einfluss der erzreaktionären
schiitischen fundamentalistischen Kräfte zunimmt.

Nach dem
Referendum jedoch schlug die irakische Regierung, unterstützt von den
Westmächten und der Türkei, zurück. Die Mittel für die kurdische Region wurden
gekürzt. Die türkische und irakische Regierung arbeiteten bei den
Grenzkontrollen der kurdischen Region zusammen. Mit der Übernahme von Krikuk
hat die irakische Regierung auch die Kontrolle über etwa die Hälfte der zuvor
von den kurdischen Regionalbehörden kontrollierten Ölfelder übernommen. Darüber
hinaus fordern die USA die Kündigung von Verträgen mit russischen
Ölgesellschaften (im Wert von rund 4 Milliarden Dollar) und deren „Übergabe“ an
US-Unternehmen.

All dies zeigt,
dass das PDK-Projekt, mehr und mehr Autonomie im Rahmen der bestehenden
(Un-)Ordnung zu erreichen, auf Sand gebaut wurde. Selbst ein bürgerlicher
Marionettenstaat des westlichen Imperialismus könnte nur erreicht werden, wenn
er zu einem wichtigen geostrategischen Gut einer der imperialistischen Mächte
würde. Aber auch das ist momentan ausgeschlossen.

Doch die Politik
der kurdischen Führung im Irak hat die kurdischen ArbeiterInnen und BäuerInnen
zu politischen Werkzeugen in den Händen einer parasitären kurdischen Elite
gemacht, deren eigene Herrschaft auf der Ausbeutung kurdischer und anderer
ArbeiterInnen und BäuerInnen beruht, auf der Ablehnung jeder wirksamen
Landreform, auf sozialer Unterdrückung, der Verweigerung demokratischer Rechte
für politische Oppositionsparteien. Die bürgerlich-nationalistische Politik der
PDK und der PUK verhindert auch die Einheit mit kurdischen ArbeiterInnen und
BäuerInnen in anderen Staaten – vor allem in der Türkei. Die kurdische
Regionalregierung hat wiederholt türkische Übergriffe gegen PKK-Stellungen
geduldet, wenn nicht sogar unterstützt. Sie hat auch die Versorgung von Rojava
blockiert. Natürlich haben die kurdischen Behörden vielen AraberInnen und
anderen Menschen, die vor dem Islamischen Staat geflohen sind – und sicherlich
mehr als jede der viel reicheren europäischen „Demokratien“ – Zuflucht gewährt.
Aber sie entfremden durch ihre nationalistische Politik und die Arbeitsteilung
in den kurdischen Gebieten auch arabische und andere nicht-kurdische
ArbeiterInnen. Ihre nationalistische Politik könnte auch zu Spannungen zwischen
dem kurdischen Volk und den Flüchtlingen in den kurdischen Gebieten führen.
Natürlich liegt die Hauptverantwortung für solche Spannungen beim arabisch-nationalistischen
Regime, der mörderischen Bedrohung durch religiöses Sektierertum und bei den
ImperialistInnen, die seit Jahrzehnten jede Selbstbestimmung abgelehnt haben.
Aber die Politik der PDK und der PUK und damit der kurdischen Regionalregierung
ist kein Mittel, um den arabischen Nationalismus und den kurdischen
Chauvinismus zu untergraben, sondern nährt selbst die Spaltung des irakischen
Volkes nach nationalen und religiösen Gesichtspunkten.

Deshalb ist eine
politische Alternative, eine ArbeiterInnenpartei, dringend notwendig. In der
kurdischen Gemeinschaft präsentiert sich die PKK-Tradition als progressive,
revolutionäre Antwort auf PDK und PUK. Wie wir jedoch sehen werden, wenn wir
ihre Politik und Entwicklung untersuchen, bietet diese kleinbürgerliche
Formation keine solche Alternative.

Die iranische
kurdische Bewegung

Die iranische
kurdische Bewegung folgt in vielerlei Hinsicht dem Muster der PDK im Irak. Von
Anfang an stand die PDK unter starkem sowjetischen und stalinistischen
Einfluss. Auf ihrem Gründungskongress hat sie sogar die Forderung nach einem
kurdischen Staat zurückgezogen. Auch basierte die Partei auf einem Kompromiss
zwischen den konservativen Clanführern und Grundbesitzern einerseits und den
städtischen Mittelschichten und Intellektuellen andererseits.

Zunächst wollte
die Sowjetunion kurdische Unabhängigkeitsbewegungen verhindern. Aber das
Aufkommen des Kalten Krieges führte zu einer „offensiveren“ Politik im Iran,
die die Schaffung von autonomen Gebieten der KurdInnen und Aseris (AserbaidschanerInnen)
förderte. Dies ermutigte zur Gründung der Republik Kurdistan mit ihrer
Hauptstadt Mahabad am 26. Juni 1946, die 11 Monate Bestand hatte.

Die PDK
versuchte, eine Reihe demokratischer Reformen (Frauenrechte, Rechte der
BäuerInnen, Steuern, Bildung) einzuführen und begann, eigene regierende und
bewaffnete Institutionen mit sowjetischer Unterstützung zu schaffen. Eine
Landreform scheiterte jedoch an der erfolgreichen Opposition der kurdischen
StammesführerInnen und LandbesitzerInnen.

Die Unterstützung
der Sowjetunion gegen die iranische Armee war für die kurdischen und aserischen
Republiken militärisch entscheidend. Aber Stalin unterstützte den kurdischen
Kampf nur insofern, als er ein Mittel war, um Druck auf das iranische Regime
und somit den britischen und amerikanischen Imperialismus auszuüben. Aber als
sich die sowjetisch-iranischen Beziehungen verbesserten, nachdem der Schah
wichtige Ölkonzessionen gemacht hatte, überließ die Sowjetunion ihre kurdischen
Verbündeten der Willkür der iranischen Armee.

Die PDK zerfiel
mit dem Fall von Mahabad. Viele ihrer KämpferInnen und
Abspaltungen wurden Teil der Tudeh-Partei
(Partei der Massen/des Volkes Irans), der iranischen stalinistischen Partei.
Sie unterstützte zwar formell den Kampf gegen die nationale kurdische
Unterdrückung, dies blieb aber weitgehend auf dem Papier. Nach dem
Staatsstreich von 1953 wurde die Tudeh-Partei verboten, und die meisten ihrer
FührerInnen mussten ins Exil gehen. All dies führte zu einer Vertiefung der
Demoralisierung und Passivität in den folgenden Jahren.

Ende der 1950er
Jahre nach Barzanis Rückkehr in den Irak und Anfang der 60er Jahre wurde auch die PDK-Iran als
PDK-I neu organisiert. Anfang der 60er Jahre brachen die Beziehungen zwischen
der irakischen und der iranischen PDK ab, weil das iranische Regime begann, die
irakische PDK in ihrem Kampf gegen die irakische Regierung zu unterstützen. Die
PDK wiederum stoppte die Unterstützung für die PDK-I – eines der vielen
tragischen Beispiele für offenen Verrat an ihrem Volk durch kurdische
FührerInnen.

All dies und die
Agrarreformen des Schahs vertieften die innere Verwirrung, den Fraktionalismus
in der PDK-I, führten zu Spaltungen und politischem Hin- und Herschwanken
zwischen Stalinismus und kurdischem Nationalismus, zwischen Opposition und
Unterstützung für Barzani. Andererseits entstand auch eine linke Abspaltung,
das „revolutionäre Komitee“ der PDK-I, das sich nach links neigte und vom
Maoismus inspiriert war. Seine militärischen Guerilla-Operationen wurden von
der iranischen Armee mit Unterstützung der Barzani-Milizen unterdrückt, die
einige seiner FührerInnen hinrichteten.

Die kurdische
Bevölkerung im Iran spielte eine aktive Rolle bei der iranischen Revolution und
dem Sturz des Schahs. Nach den Feiern des Zusammenbruchs des Regimes dehnten
sich die lokalen Räte und Milizen, die im Kampf entstanden waren, aus. Formen
der Selbstbestimmung entfalteten sich. Wie im gesamten Iran hätten die Schoras
(räteähnliche Organisationen) und Milizen die Grundlage für eine revolutionäre
ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung bilden und die Revolution dauerhaft
machen können.

Aber auch die
Konterrevolution unter Chomeini wandte sich gegen die KurdInnen. Am 19. August
1979 wurde ein Verbotsurteil islamischer Autoritäten (Fatwa) gegen alle kurdischen
Oppositionen und Parteien erlassen. Allein im August wurden mehr als 60
kurdische KämpferInnen hingerichtet – der Beginn eines langwierigen Krieges des
Regimes gegen die KurdInnen, der mehrere Jahre andauerte.

Aber die
kurdische Bewegung sah sich nicht nur der islamistischen Konterrevolution
gegenüber, sondern auch einem inneren Krieg zwischen der bürgerlichen PDK-I und
ihrer Forderung, zuerst die Revolution zu kontrollieren und dann einen
Kompromiss mit den Mullahs zu suchen, und der linken Komala/Komalah
(revolutionäre Organisation der Werktätigen in Kurdistan-Iran; dt:
Gesellschaft/Gemeinschaft). Sie entwickelte eine „marxistisch-leninistische“
Ideologie und versuchte ein Gemisch aus Formen der Volksmacht in der Revolution
und der Etappentheorie zu konstruieren. Nach dem Scheitern der Verhandlungen
mit Chomeini in den 1980er Jahren schloss sie sich den militärischen
Auseinandersetzungen mit dem Regime, aber auch Aktionen gegen die bewaffneten
Einheiten der PDK-I an.

Während die
Komala eindeutig eine linke Abspaltung und Entwicklung repräsentierte, führte
sie trotz ihres HeldInnentums nicht zu einem vollständigen und konsequenten
Bruch mit Maoismus, Guerillaismus und Etappenstrategie. Sie war jedoch
wahrscheinlich die am meisten links gerichtete Kraft der kurdischen Bewegung,
die eine Zeitlang während der iranischen Revolution eine
MassenanhängerInnenschaft gewinnen konnte.

Die
Konterrevolution unter dem islamistischen Regime und seine Konsolidierung nach
dem Krieg gegen den Irak hat nicht, wie z. B. die FührerInnen der PDK-I
gehofft hatten, eine Periode der „Versöhnung“ mit dem iranischen Regime
eröffnet. In der Tat hat die Massenunterdrückung zu einer historischen
Niederlage der kurdischen Bewegung und der ArbeiterInnenklasse geführt, von der
sich das kurdische Volk im Iran noch erholen muss. Sie erklärt, warum der
kurdische Kampf in den letzten Jahrzehnten anderswo akzentuierter und
sichtbarer geworden ist.

Die PKK und ihre
Transformation

Die PKK entstand
in den 1970er Jahren. Sie verkörperte eine Reaktion der Kader der türkischen
Linken um Öcalan gegen die Verharmlosung der kurdischen nationalen
Unterdrückung durch große Teile der türkischen Linken. Im schlimmsten Fall hat
dies zu einer unkritischen Verehrung des
Kemalismus und der Unterstützung für türkischen Sozialchauvinismus geführt. Die
Kurdenfrage wurde zum „untergeordneten Widerspruch“ im demokratischen Kampf in
der Türkei und gegen den westlichen Imperialismus und die NATO erklärt.
Forderungen nach kurdischer Unabhängigkeit wurden entschieden zurückgewiesen.

Offensichtlich
waren Öcalan und die spätere PKK nicht die einzigen, die dies kritisierten. In
der Tat fand eine Diskussion über das Wesen der kurdischen Unterdrückung und
die Rückständigkeit der östlichen Regionen statt. Doch die vorherrschende
Etappenideologie innerhalb der türkischen stalinistischen Linken zwang sogar
diejenigen, die bereit waren zu akzeptieren, dass es Unterdrückung des
kurdischen Volkes gab, zu glauben, es handele sich um einen untergeordneten
Faktor. Sie war nicht in der Lage, das Thema im Rahmen eines Programms
dialektisch anzugehen, das den ungleichen und kombinierten Charakter der
Entwicklung erkennt und auf der Theorie der permanenten Revolution basiert.

Öcalan und seine
Gefolgschaft, selbst engagierte AnhängerInnen des Stalinismus, lehnten auch die
Theorie der permanenten Revolution ab. Für sie war jedoch die kurdische
nationale Unterdrückung der Hauptwiderspruch. Die Revolution in Kurdistan
musste eine national-demokratische sein, und alle anderen Fragen wurden ihr
untergeordnet. Ziel war die Befreiung des kurdischen Volkes, seine
Selbstbestimmung und die Schaffung eines kurdischen bürgerlich-demokratischen
Staates als nächster Etappe der „antikolonialen“ und „antifeudalen Revolution“.

Trotz ihres
Namens war die PKK nie eine ArbeiterInnenpartei, weder vom Programm her noch in
ihrer sozialen Zusammensetzung. Abgesehen von einigen Initiativen in der
Anfangsphase zielte sie nicht darauf ab, sich auf die kurdische
ArbeiterInnenklasse zu stützen. In den kurdischen Regionen war dies eine
kleine, aber nicht unbedeutende Klasse. Unter der wachsenden Zahl kurdischer
ArbeiterInnen in den türkischen Großstädten und in Westeuropa organisierte die
PKK diese nur als UnterstützerInnen und als SpenderInnen für den
„Hauptkampf/es“ – den um nationale Befreiung in Kurdistan.

Ihre wichtigste
soziale Basis bildeten Intelligenz und ländliche Bevölkerung. Ihr wichtigstes
Kampfinstrument war der Guerillakrieg, der Aufbau einer Guerillabewegung, die
Kurdistan vom Land aus befreien sollte. Anders als die meisten türkischen
Linken, die durch den Militärputsch 1980 zerschlagen wurden, konnte die PKK in
den 1980er und frühen 1990er Jahren nicht nur überleben, sondern ihre Wurzeln
in der kurdischen Bevölkerung sogar vertiefen. Sie wurde zur dominierenden
Kraft der kurdischen Bevölkerung in Kurdistan, zu einer
kleinbürgerlich-nationalistischen Partei mit Massenanhang, die auch außerhalb
der kurdischen Gebiete, u. a. in Westeuropa, Massenorganisationen zur
Unterstützung ihres Kampfes schon früher organisierte.

Sie richtete
sich eindeutig an verschiedene Schichten der kurdischen Gesellschaft,
insbesondere an Jugendliche aus dem ländlichen und städtischen Kleinbürgertum.
Darüber hinaus war die Frage der Frauenbefreiung immer ein wichtiges Thema, und
die Guerilla zog viele Kämpferinnen an, die in speziellen Fraueneinheiten
organisiert waren. Die PKK konnte die Militärdiktatur überleben, weil sie eine
Zuflucht in Syrien finden und ihre Kräfte ausbilden konnte, aber auch wegen
ihrer Wurzeln innerhalb der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und außerhalb
davon.

Die 1990er Jahre
brachten wichtige Veränderungen mit sich. Erstens zwang der Zusammenbruch der
Sowjetunion und der stalinistischen Kaste auch die PKK, dies ihren
AnhängerInnen zu erklären. Sie fand dies leichter als die meisten türkischen
StalinistInnen, MaoistInnen oder HoxhaistInnen, da die PKK wegen der Unterstützung
für die türkischen chauvinistischen Linken und des Verrats an kurdischen
Kämpfen immer einige Vorbehalte gegenüber Moskau hegte. Der Zusammenbruch der
herrschenden Bürokratien wurde durch eine „Entfremdung vom Volk“ und
„Verweigerung der Demokratie“ erklärt. Offensichtlich hat sie einige der
repressiven Merkmale des Stalinismus anerkannt, aber sie hat keine
grundlegende, sondern eine oberflächliche Kritik entwickelt, die den
Klassencharakter der „Demokratie“ herunterspielte und gesellschaftliche Planung
per se als bürokratische Planung verstand.

Zweitens machte
die politische Situation Anfang der 1990er Jahre auch der PKK klar, dass der
Guerillakampf die türkische Armee in Kurdistan nur binden konnte. Sie wäre
nicht in der Lage, die türkische Armee zu besiegen. Zudem wurden die
Beziehungen zum syrischen Regime (auf Druck der Türkei) schwieriger. Die
US-Kriege gegen Saddam Hussein sahen die PKK auf beiden Seiten eine
defätistische Position einnehmen, aber es entstand auch ein rechter Flügel, der
sich mit den USA verbünden wollte.

Drittens führt
dies alles dazu, dass sich die PKK verstärkt „diplomatischen“ und
„Friedensinitiativen“ zuwandte. Die Frage der Unabhängigkeit wurde mehr und
mehr durch Forderungen nach Autonomie, Gleichberechtigung, Selbstverwaltung und
sozialen Reformen in den kurdischen Regionen ersetzt und schließlich zugunsten
„demokratischer Initiativen“ aufgegeben. Während der Guerillakampf
aufrechterhalten wurde, geriet er zum Druckmittel für einen „Waffenstillstand“
und „Verhandlungen“. Schon bevor Öcalan gefangen genommen wurde, hatte er
mehrere Initiativen gegenüber den türkischen Regierungen versucht (Anfang der
1990er Jahre) und begann auch in Europa zu „touren“, um Unterstützung von
bürgerlichen Regierungen zu erhalten. Die türkische Regierung war jedoch nicht
auf eine Einigung aus, sondern auf seine Kapitulation. Sie zwang Syrien nicht
nur, die PKK-Basen zu schließen, sondern auch Öcalan auszuweisen, damit er
schließlich gefangen genommen, zum Tode verurteilt (2002 in lebenslängliche
Haft umgewandelt) und seitdem auf der Insel Imrali inhaftiert werden konnte.

Öcalans
Gefangennahme markierte eindeutig einen Wendepunkt für die PKK. Zuerst hat sie
Verwirrung gestiftet. Ihre erste Reaktion auf die Gefangennahme waren erhöhte
Militanz und Abenteurertum. Aber bald zog die Partei nach rechts. Ihr linker
Flügel wurde unter anderem mit gewalttätigen Mitteln gesäubert, und nach einigen
Monaten wurde Öcalan wieder als Parteiführer eingesetzt.

Dies war nur
möglich, da die PPK eine kleinbürgerliche stalinistische Partei war. Sie hatte
bereits einen eigenen Personenkult um Öcalan etabliert. Obwohl er sich in den
Händen des türkischen Staates befindet, leitet er weiter die Partei, führt das
Volk, die Bewegung an, die er korrigiert hat, idem er eine ganz neue Ideologie
und Strategie erfunden hat, die die Partei, das Volk, die Bewegung umsetzen.
Bei allem Hype um Demokratie, den die PKK jetzt betreibt, ist nur Öcalan als
Führer „anerkannt“.

Es wäre jedoch
falsch zu behaupten, dass der ideologische Wandel, den die PKK in den späten
1990er Jahren und seither unter Öcalans Führung vollzogen hat, nur ein
kosmetischer Trick war. Tatsächlich hat sie wichtige Elemente ihrer
marxistisch-leninistischen, d. h. stalinistischen, Ideologie aufgegeben
und sie durch eine zusammengeklaubte Mischung aus Libertärianismus,
Anarchismus, Postmodernismus ersetzt, während sie gleichzeitig nationalistische
und stalinistische Züge beibehält.

Sie ersetzte das
Etappenprogramm der nationalen Befreiung und Machtergreifung durch die
Ideologie des „demokratischen Konföderalismus“. Sie hat ein stalinistisches
Programm gegen ein Programm des kleinbürgerlichen Sozialismus ausgetauscht, das
Elemente des Anarchismus, „Marxismus“, Reformismus, Nationalismus, Feminismus
zu einem populistischen Programm verbindet.

Für Öcalan,
dessen Anschauung dem Lehrbuch des Anarchismus entlehnt ist, ist der Marxismus
gescheitert, da er wollte, dass die Revolution die Staatsmacht ergreift und die
ehemals unterdrückten Klassen als herrschende Klasse etabliert. Deshalb dürfe
man nicht darauf abzielen, die Staatsmacht zu erobern, sondern müsse den
bürgerlichen Staat von innen heraus überflüssig machen. Dazu bedürfe es Formen
der Selbstregierung, demokratische Rechte und vor allem Formen der
Selbstverwaltung und „Räte“ als alternative, zukünftige
Vergesellschaftungsformen. Würden diese sich allmählich entwickeln und mit
einem Programm zur (Um-)Bildung der Menschen in einer kooperativen, nicht
repressiven Weise kombiniert, würde die bestehende kapitalistische Wirtschaft
durch eine kooperative ersetzt und der Staat für die Menschen immer weniger
wichtig werden.

Öcalan hat so
nicht nur den Stalinismus revidiert, sondern auch die marxistische
Staatstheorie und das marxistische Verständnis von Kapitalismus und
Warenproduktion. Er hat das Programm der Frauen und der nationalen Befreiung
revidiert. Es ist nicht verwunderlich, dass es in seiner Politik für einige
Zeit auch Spannungen in Bezug auf die Rolle der PKK selbst gab. Warum braucht
man schließlich eine politische Partei, die das Volk führen soll, wenn man
nicht die Absicht hat, die Macht zu übernehmen? Öcalans Antwort ist einfach:
Sie muss seine Ideologie verbreiten und sicherstellen, dass die Menschen ihr
folgen.

Kurzum, trotz
der „klassenlosen“ demokratischen Utopie, die die PKK in den letzten Jahren
gefördert hat, kann ihr kleinbürgerliches Programm nicht allein von der
Demokratie umgesetzt werden. Natürlich machen die Unterdrückung der KurdInnen,
die Kriege gegen sie, „reine Demokratie“ ohnehin utopisch. Aber dieses
politische und wirtschaftliche Programm erfordert auch eine politische Kraft,
eine Partei, die zwar innerhalb der Kampfstrukturen der ArbeiterInnen und
BäuerInnen um deren Ausrichtung und demokratisches Funktionieren kämpft, aber
mit diesen nicht identisch ist. Vielmehr muss sie neben oder mit anderen
Strömungen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückung um die politische
Führung ringen.

In einer
ArbeiterInnenrevolution entstehen Räte/Sowjets als Organe des Kampfes und der
direkten Demokratie. Sie können ihr Potenzial nur dann entfalten, wenn die
ArbeiterInnenklasse die ausgebeuteten und unterdrückten Massen an die Macht
bringt, um ein Programm der Enteignung der KapitalistInnenklasse umzusetzen.
Auf einer solchen wirtschaftlichen und sozialen Basis kann eine
Arbeiterinnenregierung die gesamte Wirtschaft demokratisch planen. Die
revolutionäre Partei kann durch Agitation und Propaganda die Führung für ein
Programm gewinnen, das den objektiven Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht
und der bewusste Ausdruck der Aufgaben ist, die die Revolution der
ArbeiterInnenklasse stellt. Das sind die Grundlagen, auf denen die
revolutionäre Partei rechenschaftspflichtig, wählbar und abrufbar ist.

Dies ist auch
der Grund, warum sowjetartige Organe nur in vorrevolutionären oder
revolutionären Situationen entstehen und nur dann dauerhaft werden können, wenn
sie die Macht ergreifen. Würden sie dies nicht und das wirtschaftliche
Fundament der Gesellschaft nicht verändern, könnte die Führung der
revolutionären Partei nicht zur führenden Kraft werden und würde einer
konterrevolutionären Kraft Platz machen, die die Räte schließlich entwaffnen
oder in bürgerliche Institutionen integrieren würde. Wenn es der Revolution
gelingt, einen ArbeiterInnenstaat zu schaffen, wird die ArbeiterInnendemokratie
die Demokratie der ArbeiterInnen als herrschende Klasse sein, und sie wird
reichlich sprießen, je mehr sich die Revolution ausbreitet und die Wirtschaft
zum globalen Sozialismus entfaltet.

Der
demokratische Konföderalismus hingegen sieht eine „Transformation“ in eine
andere Gesellschaft vor, die versucht, eine „kooperative“ Produktion im
Kapitalismus zu entwickeln. Sie versucht, sich in Richtung „Sozialismus“ zu
bewegen, indem sie eine bestimmte Art von Privateigentum (Kooperativen) und
eine politische Form (Rat) mittels des bestehenden Staates schrittweise
erweitert.

Jede allgemeine
Warenproduktion wird jedoch die von ihm angestrebten Wirtschaftsstrukturen
untergraben. Die Kooperativen oder selbstverwalteten Fabriken werden dem Markt
untergeordnet, nicht umgekehrt. Den bestehenden Staaten, selbst notwendiger
Ausdruck der wirtschaftlichen Basis einer kapitalistischen Produktionsweise,
werden die „Räte“ untergeordnet und nicht umgekehrt.

Es sind in der
Tat die massive Unterdrückung des türkischen Staates und der Krieg gegen das
kurdische Volk, die alle Formen der populären Selbstverwaltung zerstören und
dazu neigen, diese wirklichen Widersprüche der Politik der PKK und ihrer
Schwesterorganisationen in Syrien (PYD) oder im Iran zu verschleiern.

Man konnte
jedoch sehen, wie sich diese Widersprüche in der Politik der HDP in der Türkei
auswirkten. In der Vergangenheit hatte die PKK prokurdische Parteien gefördert,
damit sich kurdische Linke und NationalistInnen an den türkischen Wahlen
beteiligen konnten. Trotz diverser Verhandlungen, Waffenstillstände etc. waren
sie immer wieder Gegenstand von Repressionen, Inhaftierungen von Abgeordneten
und MandatsträgerInnen und schließlich des Verbots der prokurdischen Parteien.
Dies zeigt, dass der türkische Staat selbst minimalen Formen der
parlamentarischen Demokratie stets extreme Grenzen gesetzt hat.

Im Jahr 2014
wurde die HDP gegründet. Es war ein Versuch, den „Friedensprozess“ mit der
türkischen Regierung weiter voranzutreiben und über den kurdischen
WählerInnenstamm hinauszugehen. Natürlich hat die HDP auch eine Partei
verkörpert, die die Kräfte der „Gezi-Proteste“ ab 2013 zusammenführt, darunter
die kurdischen Kräfte und die türkische Linke.

Sie präsentiert
sich als Partei aller Unterdrückten – aber nicht als ArbeiterInnenpartei. Von
Anfang an wurde sie in verschiedene Richtungen geschoben. Ein Teil der
kurdischen WählerInnenschaft wollte eine klassenübergreifende Partei der
kurdischen Nation haben. Andere wollten sie in eine
ArbeiterInnen-/Sozialistische Partei verwandeln, wenn auch nach dem Vorbild der
Europäischen Linkspartei. Ein weiterer Flügel würde es vorziehen, dass sie eine
linkspopulistische Partei wie Podemos wird. Schließlich favorisierte ein
kleinerer Teil (überwiegend aus der türkischen Linken) eine sozialistische
(linksreformistische oder zentristische) Partei.

Durch den
Wahlerfolg der HDP im Jahr 2015 wurde sie jedoch von der AKP und Erdogan schwer
angegriffen, da sie ein parlamentarisches und soziales Hindernis für sein Ziel
der Stärkung der Präsidialmacht darstellte. Im Jahr 2016 hat die türkische
Regierung einen blutigen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung wieder aufgenommen,
Städte bombardiert, in ihren „Anti-Terror-Kampagnen“ unschuldige ZivilistInnen
getötet und Tausende von kurdischen AktivistInnen oder von der lokalen bis zur
nationalen Ebene gewählten VertreterInnen inhaftiert. Sie zielt darauf ab,
nicht nur die PKK effektiv zu zerschlagen, sondern auch die HDP zu zerstören.
Nach dem Gegenputsch von Erdogan im Sommer 2016 hat sich mit der Verstärkung eines bonapartistischen Regimes in der Türkei
dies enorm beschleunigt. Das Regime betreibt eine Politik der permanenten inneren
Spannungen, die sich nicht nur gegen echte oder vermeintliche „PutschistInnen“,
sondern zunehmend gegen alle demokratischen und linken Kräfte, und vor allem
gegen die HDP, die PKK und die kurdische Bevölkerung, richtet.

Diese
erzreaktionäre Politik hat andererseits die inneren Widersprüche innerhalb von
HDP und PKK, die mit einem gemeinsamen Feind konfrontiert sind, eingedämmt.
Hätte sich die HDP dagegen eher als parlamentarische Kraft etabliert, wären die
unterschiedlichen Klassenorientierungen mehr zutage getreten. Das hätte die
Ideologie des „demokratischen Föderalismus“ in Frage gestellt. Sie hat aber
zugleich die Grenzen einer legalen, parlamentarischen Partei aufgezeigt, durch
die die kurdische Bewegung in Richtung Guerillakampf zurückgedrängt und auch
einige Sektionen (z. B. die Teyrêbazên Azadîya Kurdistan, TAK; dt.:
Freiheitsfalken Kurdistans) dazu gebracht werden, eine „entschlossenere“
Version des Guerillaismus als Lösung für die aktuelle Situation zu sehen. Die
PKK/HDP-Politik selbst oszilliert, behält ihr Guerillatum bei, strebt aber
letztendlich eine Wiederaufnahme der Verhandlungen an, während sie behauptet,
sie würde weiterhin eine „demokratische konföderalistische“ Struktur in
Nordkurdistan aufbauen. Kurzum, sie schwankt zwischen Guerillaismus, utopischem
Sozialismus und Parlamentarismus, während der Ausweg in einer anderen Richtung
liegt: der Schaffung einer multinationalen ArbeiterInnenpartei, die unter den
gegenwärtigen Bedingungen legale und illegale Arbeit kombinieren könnte.

Das andere
Schlüsselprojekt, das die Politik des „demokratischen Konföderalismus“ auf den
Prüfstand gestellt hat, war West-Kurdistan, Rojava, in Syrien. Hier konnte die
PYD, die Schwesterpartei der PKK, von der syrischen Revolution zehren. Sie
konnte die Kontrolle über drei Bezirke (Kantone), genannt Rojava, etablieren.

Hier schuf sie
ihre quasi-staatlichen Strukturen und baute eigene Verteidigungseinheiten
(Yekîneyên Parastina Gel, YPG; dt.: Volksverteidigungseinheiten/ Yekîneyên
Parastina Jin, YPJ; dt.: Frauenverteidigungseinheiten) und „Räte“ auf. Sie tat
dies mit einer Politik des „dritten Weges“ und versuchte, sich aus der
syrischen Revolution herauszuhalten. Assad hoffte und schaffte es in gewissem
Maß, die KurdInnen als eine Kraft zu neutralisieren, indem er ihnen Territorien
überließ und auch die syrische Staatsbürgerschaft für all jene gewährte, die
sie in den 1960er Jahren verloren hatten. Außerdem waren die meisten führenden
Kräfte der syrischen Revolution gegenüber der kurdischen nationalen Frage ignorant
und lehnten die kurdische Selbstbestimmung ab.

Die kurdische
Bevölkerung und vor allem die Jugend waren in den frühen Phasen der syrischen
Revolution recht auffällige TeilnehmerInnen, während die meisten kurdischen
Parteien (nicht nur aus der PKK-Tradition, sondern auch aus der PDK) eher spät
oder zögerlich den Aufstand gegen Assad unterstützten. Andererseits fehlte den
militanten Teilen der Jugend und der demokratischen Kräfte – wie der gesamten
syrischen Revolution – die politische Richtung.

Die Unterstützung
der PKK gab der PYD zudem die Möglichkeit, kurdische Gebiete einzunehmen,
wodurch sie zu einer dominierenden Kraft im syrischen Bürgerkrieg wurde. Dies
wurde durch die Unterstützung der JesidInnen, die mit einem Pogrom von ISIS
konfrontiert waren, von der PKK und im heldenhaften Kampf um die Verteidigung
von Kobanê erheblich verstärkt. Dies gab der PYD und ihren
Selbstverteidigungskräften unter der kurdischen Bevölkerung in Rojava eindeutig
enorme Anerkennung. Sie bewies ihre Entschlossenheit und Fähigkeit, einem
brutalen, barbarischen Feind auch unter extrem widrigen Umständen und trotz der
Unterstützung von ISIS durch die Finanziers aus den Golfstaaten und trotz des
Embargos gegen Rojava durch die Türkei zu trotzen.

Andererseits hat
die Intervention aller imperialistischen und regionalen Mächte und der
Rechtsruck der Führung der syrischen Revolution Rojava auch als eine Oase der
Demokratie und des Fortschritts in einem verfallenden Land erscheinen lassen.
Verstärkt wurde dieser Eindruck durch eine Reihe bürgerlich-demokratischer
Reformen, die insbesondere im Bereich der Gleichberechtigung von Frauen und
nationalen Minderheiten durchgeführt wurden. Die Sympathien für das kurdische
Volk und seinen heldenhaften Kampf sind eindeutig gerechtfertigt.

Aber man darf
nicht vor den politischen Mängeln und Fehlern der PYD-Führung in Rojava die
Augen verschließen. Sie hat nie versucht oder behauptet, die kapitalistischen
Eigentumsverhältnisse überwinden zu wollen. Sie strebte eine gemischte
Wirtschaft an. Zudem setzten die Bedingungen einer Kriegswirtschaft dem
Reformprojekt und auch den Formen der Selbstverwaltung strenge Grenzen. Vor
allem aber hat sie keine Schritte unternommen, um die Wirtschaft demokratisch
zu zentralisieren oder alle GroßgrundbesitzerInnen zu enteignen, sondern nur
die Ländereien des Regimes und der arabischen LandeigentümerInnen, die geflohen
sind. Kurzum, sie hat sich nicht mit der Agrarfrage befasst.

Des Weiteren
verhielt sich die PYD sektiererisch gegenüber den demokratischen Kräften der syrischen
Revolution. Dies hinderte sie jedoch nicht
daran, eine Koalition mit reaktionären arabischen Stammesführern und
UnternehmerInnen in Cizîrê einzugehen. Wir kritisieren außerdem, dass sie die
politische Freiheit anderer kurdischer Parteien unterdrückt – auch wenn einige
von ihnen eindeutig nicht progressiv sind: Die meisten von ihnen befinden sich
im Lager Barzanis und der PDK.

Die „Kommune
Rojava“ ist kein Kommunestaat, wie einige ihrer AnhängerInnen behaupten. Sie
ist auch kein Schritt zur Abschaffung des Staates. Der Bürgerkrieg in Syrien
und die Revolution zwangen die PYD, Teile ihrer Doktrin aufzugeben und
staatliche Funktionen zu übernehmen – und nicht den „demokratischen
Konföderalismus“. Wir kritisieren die PYD nicht dafür, dass sie ihre Utopie
nicht umgesetzt hat, denn das wäre unmöglich gewesen. Hätte sie an der
Umsetzung ihrer Politik festgehalten, wie es einige anarchistische
KritikerInnen forderten, wäre Rojava an ISIS gefallen.

Aber wir
kritisieren, dass sie diese Tatsache nicht anerkennt, sondern versucht, sie zu
verschleiern, und dass sie den demokratischen Konföderalismus nicht zugunsten
der Schaffung eines ArbeiterInnen- und BäuerInnenstaates auf der Grundlage von
Staatseigentum und ArbeiterInnenkontrolle über die Wirtschaft aufgegeben hat.
Stattdessen hat sie tatsächlich Strukturen eines bürgerlichen Staates
geschaffen – ähnlich wie linke plebiszitäre, populistische Regime.

Der Versuch der
PYD, einen „dritten Weg“ in der syrischen Revolution zu suchen, ist auch ein
Spiegelbild ihres Nationalismus und ihrer stalinistischen Vergangenheit. Für
die PYD ist „Internationalismus“ eine Summe verschiedener nationaler Kämpfe
bzw. solcher auf unterschiedlichen nationalen Feldern. Dies bezieht sich nicht
nur auf die syrische und arabische Revolution, sondern auch auf den kurdischen
Kampf. Sie lehnt eine „Intervention“ der PDK in Rojava ab, aber sie verzichtet
auch auf eine „Intervention“ in das irakische Kurdistan. Dies bedeutet, dass
die PYD keine Verbündeten unter den demokratischen, säkularen und werktätigen
Kräften der syrischen Revolution suchte, sondern eine enge Allianz mit dem
US-Imperialismus eingegangen ist.

Obgleich die USA
ihre Verbündeten nicht vollständig kontrollieren, ist auch klar, dass sie sie
früher oder später verraten werden, so wie andere imperialistische oder
regionale Mächte andere kurdische Parteien verraten haben. Gleichzeitig
entfremden solche politischen Bündnisse die arabischen Massen. Während die
Politik des „dritten Weges“ ein Weg gewesen sein mag, die kurdische Bevölkerung
aus dem Krieg in Syrien herauszuhalten, wird ein Sieg Assads und eine durch
Russland, den Iran und die Türkei vermittelte Regelung früher oder später auch
bedeuten, dass das syrische Regime das kurdische Volk und die von ihm
geschaffenen Formen der Selbstbestimmung angreifen wird. Und es wird dies auf
der Grundlage einer besiegten Revolution getan werden, wo die einzigen Kräfte,
die den KurdInnen eine dauerhafte und zuverlässige Unterstützung für ihren
Kampf geben konnten – die ArbeiterInnen und BäuerInnen – an den Rand gedrängt
wurden. Die Eroberung von Afrin durch die türkische Armee und ihre
konterrevolutionären Verbündeten könnte der Beginn dieses Prozesses sein. Es
ist klar, dass weder die Türkei noch Assad die kurdische Autonomie viel länger
tolerieren werden. Die USA sind eindeutig nicht bereit, einen Konflikt mit dem
NATO-Partner Türkei zu weit zu treiben und zu riskieren, die
amerikanisch-türkischen Beziehungen zugunsten der Unterstützung von Rojava
weiter zu belasten.

All dies zeigt
die schwere Führungskrise – nicht nur in den von der PDK besetzten Gebieten,
sondern auch dort, wo die PYD, PKK oder HDP die dominierenden kurdischen Kräfte
sind. Es verdeutlicht, dass eine revolutionäre, internationalistische
ArbeiterInnenpartei auf der Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms
gebraucht wird – eine Partei, die auf permanenter Revolution und nicht auf
Etappenideologie und demokratischem Konföderalismus basiert.

Permanente
Revolution in Kurdistan

Trotz des
Scheiterns der politischen Führungen der kurdischen Bewegung ist die
Unterstützung des kurdischen Befreiungskampfes von zentraler Bedeutung für die
internationale ArbeiterInnenklasse. Wir fordern die Öffnung der Grenzen der
imperialistischen Länder und volles Asylrecht für alle kurdischen Flüchtlinge
und Werktätigen! Wir fordern die Aufhebung der staatlichen Überwachung der
kurdischen Bewegung, politischer Parteien oder auch kultureller Organisationen
durch die europäischen Staaten und die EU und die Abschaffung der sogenannten
„Terrorlisten“! Aufhebung des Verbots der PKK und aller kurdischen
Organisationen! Volle Bürgerrechte und volle politische Rechte für kurdische
Flüchtlinge und MigrantInnen!

Die politische
Solidarität mit dem kurdischen Kampf und die Unterstützung gegen die
Unterdrückung durch „ihre“ Staaten oder den Imperialismus muss jedoch Hand in
Hand gehen mit der Vorstellung eines zu den bestehenden kurdischen Parteien
alternativen politischen Programms.

Die Geschichte
ihrer Kämpfe und die aktuelle Situation in den Ländern, in denen die Masse der
kurdischen Bevölkerung lebt, zeigen, dass der internationale Charakter der
kurdischen Revolution – und tatsächlich aller Revolutionen im Nahen Osten und
Nordafrika – kein „Anhang“ des Kampfes in den bestehenden Staaten ist.
Tatsächlich haben der Arabische Frühling und die darauf folgende
Konterrevolution bewiesen, dass die Revolution nur gelingen kann, wenn sie
internationalisiert wird und zur Schaffung einer sozialistischen Föderation von
ArbeiterInnen- und BäuerInnenrepubliken im Nahen Osten führt.

Deshalb müssen
RevolutionärInnen für eine Partei kämpfen, die den internationalen Charakter
der Revolution als Ausgangspunkt nimmt. Für uns ist die Losung einer
sozialistischen Föderation kein Projekt einer fernen Zukunft, sondern eng mit
dem revolutionären Aktionsprogramm in jedem Land verbunden, zumal die
wirtschaftliche Rückständigkeit Schritte zur sozialistischen Wirtschaft und
einen demokratischen Plan auf Grundlage einer Zusammenarbeit über die
bestehenden Staatsgrenzen, den Hindernissen für die weitere Entwicklung, hinaus
erfordert.

Der auferlegte
und künstliche Charakter der bestehenden Staaten, in denen das kurdische Volk
leben muss, bedeutet, dass eine demokratische Lösung der kurdischen und anderer
nationaler Fragen nicht dadurch erreicht werden kann, dass die gegenwärtigen
Staatsgrenzen als unantastbar betrachtet werden. Wenn das kurdische Volk seinen
Wunsch nach einem oder mehreren Staaten zum Ausdruck bringt, dann werden
RevolutionärInnen ihr Recht darauf unterstützen und verteidigen.

Die Geschichte
des kurdischen Befreiungskampfes weist darauf hin, dass Selbstbestimmung nicht
durch „Reformen“ oder Versuche zur gleichberechtigten Integration des
kurdischen Volkes in die bestehenden Staaten, in denen es zu leben gezwungen
ist, erreicht werden kann. Das islamistische
despotische Regime im Iran hat eine ganze Generation kurdischer KämpferInnen
und AktivistInnen ausgelöscht. Das türkische Regime verwehrt sogar die
Integration der kurdischen Bewegung in Form einer legalen parlamentarischen Partei.
Die demokratischen Errungenschaften von Rojava sind unvereinbar mit der
Wiedererlangung der Kontrolle über das Land durch Assad. Die kurdische
Selbstbestimmung im Nordirak wird sich immer auf das beschränken, was für die
HerrscherInnen in Bagdad akzeptabel ist. Die bloße Existenz von Rojava und der
kurdischen Region im Nordirak selbst hat zur Schaffung politischer Strukturen
geführt, die gezwungen sind, staatsähnliche Funktionen zu übernehmen – und es
ist unvorstellbar, dass selbst die begrenzten Formen der Selbstverwaltung unter
Assad , einem anderen syrischen nationalistischen Regime oder unter
sunnitischen bzw. schiitischen reaktionären HerrscherInnen im Irak beibehalten
werden können. Die künstliche Beschränkung des Kampfes auf die bestehenden Staatsgrenzen
durch die kurdischen Führungen in allen Regionen spielt den UnterdrückerInnen
in die Hände, spaltet die kurdischen ArbeiterInnen und BäuerInnen und die
städtische Mittelschicht und macht Formen der Autonomie von imperialistischen
oder regionalen reaktionären Verbündeten abhängig. Dies spiegelt die sozialen
Interessen der kurdischen LandbesitzerInnen und bürgerlichen Klassen im Falle
der gesamten PDK-Tradition bzw. den engen Horizont und Utopismus des
kleinbürgerlichen Nationalismus der PKK-Tradition wider.

All dies weist
auf die Notwendigkeit hin, das kurdische Volk, die ArbeiterInnen und
BäuerInnen, über die bestehenden Staatsgrenzen hinweg, in denen sie leben, zu
vereinen. Die Verteidigung der irakischen und syrischen kurdischen Gebiete
erfordert eigentlich die Vereinigung ihrer Kräfte gegen die verschiedenen
UnterdrückerInnen und könnte ein Funke sein, sich mit den kurdischen Massen im
Irak, im Iran, in den türkischen und westeuropäischen Städten zu versammeln und
zu vereinen. Deshalb fordern wir ein vereintes sozialistisches Kurdistan, den
Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenrepublik, verbunden mit dem Kampf
für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens.

Ein solches
vereinigtes Kurdistan kann weder durch Reformen erreicht werden, noch wird es
von den ImperialistInnen oder der „internationalen Gemeinschaft“ gewährt
werden. Aber die Perspektive eines vereinigten sozialistischen Kurdistans ist
eng mit der gegenwärtigen Krise der gesamten Region verbunden, die die
staatliche Ordnung und die Regime, wie sie durch die koloniale und
imperialistische Herrschaft geschaffen wurden, weiterhin untergraben wird. Die
Unterstützung für ein vereinigtes Kurdistan und damit die kurdische
Selbstbestimmung widerspricht nicht dem Kampf gegen die türkische, iranische,
irakische oder syrische herrschende Klasse und ihre reaktionären Regime und
Staatskräfte sowie die imperialistischen Mächte, die für die Neuaufteilung der
Region kämpfen. Die Unterstützung für kurdische Selbstbestimmung und einen
kurdischen Staat wird in der Tat eine solide, demokratische Grundlage für die
Einheit der kurdischen, arabischen, türkischen und iranischen Massen sowohl in
den kurdischen Gebieten als auch in den gesamten Ländern bilden. Sie wird die
Politik aller ausländischen und regionalen Mächte in Frage stellen.

Der Kampf für
ein vereinigtes sozialistisches Kurdistan darf daher weder vom Programm der
permanenten Revolution in der gesamten Region getrennt werden, noch darf er den
unmittelbaren demokratischen und sozialen Forderungen innerhalb der bestehenden
Staaten und dem gemeinsamen Kampf für einen revolutionären Sturz der jeweiligen
Regime entgegengesetzt werden.

Innerhalb der
verschiedenen Staaten fordern wir multinationale ArbeiterInnenparteien, die
ArbeiterInnen aller Nationalitäten vereinen. Aber selbst solche Parteien werden
ihre Ziele niemals erreichen, wenn ihr Aufbau nicht mit dem einer neuen
revolutionären ArbeiterInneninternationale, einer Fünften Internationale,
verknüpft wird, die diese Kämpfe zusammenführen kann.

Obwohl wir nicht
von einem einheitlichen Programm der kurdischen Befreiung unabhängig von den
nationalen Territorien, in denen sie arbeiten, sprechen können, gibt es
eindeutig einige zentrale Forderungen für sie alle:

  • Nein zur nationalen Unterdrückung. Beseitigung aller Unterdrückung. Gleiche Rechte für alle Sprachen, auch in der Schule, in öffentlichen Ämtern, bei der Arbeit. Für das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Abtrennung, wenn die Nation es wünscht.
  • Gemeinsamer Kampf gegen Diktaturen – Kampf für eine konstituierende Versammlung. Die Zusammenkunft einer solchen Versammlung soll von den Ausschüssen der ArbeiterInnen, der ländlichen und städtischen Massen kontrolliert werden! Alle bonapartistischen Sondergesetze, alle Einschränkungen der demokratischen Rechte wie Pressefreiheit, alle Überwachungs- und Sicherheitsgesetze müssen aufgehoben werden.
  • Nein zum religiösen Sektierertum! Für die Trennung von Staat und Religion, keine Privilegien für irgendeine religiöse Gruppe, keine Einschränkungen für andere religiöse Gruppierungen oder AtheistInnen.
  • Gleiche Rechte für alle Unterdrückten, für Frauen, Jugendliche und sexuell Unterdrückte. Für Programme zur vollständigen Integration von Frauen und Jugendlichen in die Arbeitswelt und zur Sozialisierung der Hausarbeit.
  • Für eine Agrarrevolution – Enteignung der
    Großgrundbesitzer. Große Bauernhöfe und Agrarindustrien sollen enteignet werden
    und unter ArbeiterInnenkontrolle stehen. Das Land soll unter kleinen und
    landlosen BäuerInnen verteilt werden; Genossenschaften als Schritt zu
    sozialisierten Produktionsformen sind zu fördern.
  • Die Rechte der ArbeiterInnenklasse und
    der Gewerkschaften müssen in allen Betrieben und Branchen verankert werden.
    Abschaffung aller gewerkschaftsfeindlichen Gesetze. Für geeinte, demokratische,
    klassenkämpferische Gewerkschaften in allen Betrieben und Wirtschaftszweigen.
    Für eine 40-Stunden-Woche und einen von den Gewerkschaften festgelegten und
    kontrollierten Mindestlohn. Für ein Programm von gesellschaftlich nützlichen
    öffentlichen Arbeiten unter ArbeiterInnenkontrolle. Freier Zugang zu
    Gesundheitsfürsorge, Bildung und Mindestrente für alle!
  • Nein zu neoliberalen Reformen und
    Privatisierungen. Wiederverstaatlichung aller privatisierten Unternehmen.
    Enteignung von Großunternehmen, Banken, Finanzinstituten und multinationalen
    Unternehmen ohne Entschädigung und unter Kontrolle der ArbeiterInnen.
  • ArbeiterInnenrechte
    (ArbeiterInnenkontrolle, Mindestlohn, Gewerkschaftsrechte auch für
    AgrararbeiterInnen, Plan zur Entwicklung von Stadt und Land).
  • Hinaus mit allen imperialistischen
    Mächten, USA, EU, Russland,..) und
    Besatzungstruppen aus dem Nahen Osten! Gemeinsamer Kampf mit der gesamten
    ArbeiterInnenklasse und demokratischen, revolutionären Kräften in allen
    Ländern. Für kurdische Selbstbestimmung! Setzt Euch ein für den nationalen
    Befreiungskampf des palästinensischen Volkes! Unterstützung für die
    ArbeiterInnen- und demokratischen Bewegungen zum Aufschwung einer neuen
    revolutionären Welle in der gesamten Region! Für eine Föderation der Sozialistischen
    Staaten des Nahen Ostens!
  • Um ein solches Programm umzusetzen,
    müssen die ArbeiterInnenklasse und die Massen die Macht in ihre eigenen Hände
    nehmen und ArbeiterInnen und BäuerInnenregierungen schaffen, die sich auf
    ArbeiterInnen-, SoldatInnen- und Volksräte und auf eine bewaffnete Miliz
    stützen.

Ein solches Programm erfordert revolutionäre ArbeiterInnenparteien und eine von allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften unabhängige Internationale. Deshalb ist es notwendig, kurdische ArbeiterInnen als Klasse zu organisieren, nicht nur als Teil „des Volkes“, wie PKK und PYD dies tun. Es ist notwendig, mit allen Formen von Etappenideologie und Populismus zu brechen. Die kurdische Revolution wird Teil der permanenten Revolution im Nahen Osten sein – oder gar nichts.




Gewerkschaften in Pakistan

Revolutionary Socialist Movement, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Vorwort

Die Aufgabe dieser Resolution ist es, eine
die Organisationen der Arbeiterinnenbewegung in Pakistan zu analysieren und
eine Strategie für AktivistInnen zu entwerfen.

Trotz aller Schwächen der
Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung gab es in den vergangenen Jahren
auch eine Reihe eindrucksvoller Arbeitskämpfe. Die Entstehung des Labour Qaumi
Movement (LQM), die Kämpfe der Pflegerinnen und jungen ÄrztInnen im
Gesundheitssektor und die Streiks der ArbeiterInnen bei der Pakistan
International Airlines (PIA) sind alle eindrucksvolle Beispiele der
Bereitschaft dieser ArbeiterInnen, Widerstand zu leisten und für ihre Rechte
selbst unter widrigsten Umständen zu kämpfen. Die anhaltenden Auseinandersetzungen
im Wasser- und Energiesektor (Wasser- und Elektrizitätsentwicklungsamt; WAPDA)
haben ebenfalls eine strategische Bedeutung für die zukünftigen
Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen im Land. Auch wenn die begrenzten
Streiks und Massenversammlungen die Privatisierungen nicht gestoppt haben, so
haben sie sie dennoch verzögert.

Diese mutigen Kämpfe wie auch eine
Reihe von Initiativen, lokalen Protesten und Versuchen bisher unorganisierte
ArbeiterInnen zu organisieren – wie beispielsweise unsere eigenen Bemühungen,
eine Gewerkschaft im Bereich der Heimarbeitsindustrie aufzubauen – zeigen
deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse sich für ihre eigenen Interessen in
Bewegung setzen, dass sie organisiert werden kann und es militante
GewerkschafterInnen und ArbeiteraktivistInnen gibt, die sich dieser Aufgabe
verpflichtet haben.

Die vorliegende Resolution ist ein
Versuch, den LeserInnen die Bedingungen näherzubringen, unter welchen gekämpft
wird. Sie soll ebenfalls dazu dienen, die sehr reiche, aber oft verfälschte
oder vergessene revolutionäre und kommunistische Tradition auf diesem
Arbeitsfeld zu vermitteln.

Pakistanischer Kapitalismus und die ArbeiterInnenklasse

Nach der neoliberalen Periode
spekulativen Wachstums der Wende zum 21. Jahrhunderts traf die globale Krise
des Kapitalismus Pakistan besonders hart. Das Land steht nicht nur im Zentrum
einer ökonomischen, sozialen und ökologischen Krise, eines imperialistischen
Krieges sowie nationaler und sozialer Unterdrückung, sondern auch zunehmender
globaler Rivalitäten zwischen imperialistischen Mächten und Blöcken. Die andauernde
Krise untergräbt immer mehr die soziale Basis des Staates. In der Konsequenz
verschlechtern sind sich Lebensbedingungen für die werktätigen Massen, für
Millionen kleiner Bauern/Bäuerinnen und LandarbeiterInnen sowie für die
städtische und ländliche ArbeiterInnenklasse.

Die ökonomische Krise führt dazu, dass
eine wachsende Zahl kleiner und landloser Bauern/Bäuerinnen vom Land in die
Städte flieht. In Folge steigt dort der Anteil der Arbeitslosen und
Unterbeschäftigten. Wenn sie überhaupt in den Arbeitsmarkt aufgenommen werden,
dann in den „informellen“ Sektor. Das Gleiche trifft für die wachsende
Bevölkerung im Allgemeinen zu, im Speziellen für die Jugend des Landes. Für den
Großteil von ihr bietet der Kapitalismus keine Zukunft mit stabiler
Beschäftigung, mit regulierten Arbeitsbedingungen und anerkannten
Arbeitsrechten. Ähnliches gilt für die Millionen von Flüchtlingen, die vor dem
imperialistischen „Krieg gegen den Terror“ und vor etlichen Feldzügen gegen
nationale Minderheiten fliehen mussten.

All das trägt zur weiteren Verschärfung
der Arbeitsbedingungen in Pakistan bei. Tatsächlich arbeitet die Mehrheit aller
Arbeitskräfte, die nicht auf dem Land arbeiten, im „informellen“ Sektor der
Wirtschaft. Im Jahr 2014 waren 43,7 % der aller Beschäftigten in der
Landwirtschaft tätig, 14,1 % in der Industrie und 38,2 % bei privaten
Dienstleistungsfirmen und im öffentlichen Dienst. Die Mehrheit davon wird durch
keinerlei Arbeitsregulierungen geschützt. Das trifft besonders auf die
SaisonarbeiterInnen zu, die 75 % aller Lohnabhängigen im landwirtschaftlichen
Bereich ausmachen. Für sie überwiegen „informelle“ Absprachen. Abhängig von
Provinz oder Region sowie den sehr unterschiedlichen Eigentumsformen auf dem
Land schließt dies oft Ausbeutungsformen von Bauern/Bäuerinnen und
LandarbeiterInnen ein, die stark an vorkapitalistische Gesellschaften erinnern,
aber tatsächlich eine Erfindung moderner Zeiten sind. Unfreie Arbeit
(z. B. Knechtschaft, Sklaverei), oft in der Form von Schuldknechtschaft,
obwohl formal verboten, ist in einigen Gegenden weitverbreitet, z. B. in
Ziegelbrennereien. Schätzungsweise unterliegen rund 2 Millionen ArbeiterInnen
diesem Zwangssystem.

Informeller Sektor

Heute sind rund 40 Millionen, die
Mehrheit der rund 65 Millionen Lohnabhängigen, in Industrie und im
Dienstleistungsbereich beschäftigt. Etwa 20 % davon sind Frauen. Die
erdrückende Mehrheit, rund drei Viertel, ist im „informellen“ Sektor
beschäftigt. Viele arbeiten als TagelöhnerInnen im so genannten „Kontraktsystem“
(System der Vertragsarbeit), welches sich in den vergangenen zwanzig Jahren
weiter ausgebreitet und „dereguliert“ hat. Dies ist nicht zuletzt aufgrund des
Drucks des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank, der asiatischen
Entwicklungsbank und anderer internationaler Finanzinstitutionen, aber auch des
pakistanischen Kapitals selbst erfolgt.

Für die ArbeiterInnen dort gibt es
keine Regulierungen, die ihre Arbeitsbedingungen bestimmen. Es gibt keinen
bezahlten Urlaub, keine Arbeitssicherheit, keine Krankenversicherung und keine,
oder fast keine, Begrenzung der täglichen Arbeitszeit – dementsprechend auch
keine bezahlten Überstunden. Gleichzeitig betrachten die herrschende Klasse und
die imperialistischen Institutionen diesen Teil der Wirtschaft als den
„dynamischsten“. Tatsächlich haben IWF und Weltbank wiederholt den Ausbau
dieses Sektors und die Abschaffung selbst der laxesten Arbeitsgesetze
eingefordert und bewilligt bekommen.

Per Definition ist es schwer, genaue
Zahlen über diesen Sektor zu erheben. 2007 wurde geschätzt, dass aus der
Gesamtzahl von 49,09 Millionen Erwerbstätigen zu dieser Zeit nur 17,66
Millionen als angestellt galten, während 16,77 Millionen selbstständig und 14,2
Millionen unbezahlte „FamilienhelferInnen“ im informellen Sektor waren. Während
die ArbeiterInnenklasse seitdem massiv gewachsen ist und sich ihre
Zusammensetzung geändert haben mag, verschaffen diese Zahlen einen Einblick in
die verschiedenen Formen von „Arbeit”, die der „informelle” Sektor umfasst. Es
sollte ebenfalls zur Kenntnis genommen werden, dass viele ArbeiterInnen im
„informellen“ Sektor nach Stücklohn bezahlt werden und viele der ArbeiterInnen
zu Hause oder in kleinen, gefährlichen Klitschen arbeiten. Das heißt auch, dass
die ArbeiterInnenklasse zu einem großen Teil zersplittert und fragmentiert ist,
gefangen in beinahe „atomisierten Strukturen“ durch das Verlagssystem und die
effektive Aushebelung jeglicher Arbeitsrechte.

Dieses System ist eng verbunden mit der
Arbeitsteilung innerhalb der ArbeiterInnenklasse und verschiedenen Formen der
sozialen Unterdrückung. Zwar ist in den vergangenen Jahrzehnten der Anteil
weiblicher Arbeitskräfte gestiegen, dies erfolgte aber überwiegend im
„informellen“ Sektor. In der Heimarbeitsindustrie stellen Frauen die Mehrheit.
Ihre Überausbeutung wird oft durch Patriarchat und Frauenunterdrückung
verstärkt. Sie erhalten niedrigere Löhne und sind von sexueller Belästigung und
Einschüchterung sowie Nichtbezahlung hergestellter Produkte betroffen. Auch
sind sie meist vollkommen von anderen ArbeiterInnen abgeschottet. Sie stellen einen
der am stärksten ausgebeuteten Teile der pakistanischen Beschäftigten, der
systematisch unter den eigenen Reproduktionskosten bezahlt wird. Dies verstärkt
ihre ökonomische Abhängigkeit von Familie und Ehemann und dadurch ihre
Unterdrückung. Andere zentrale Gruppen des „informellen“ Sektors sind Kinder,
Jugendliche, unfreie ArbeiterInnen und MigrantInnen, die entweder aus
Kriegsgebieten oder verarmten ländlichen Gebieten geflohen sind. Während
Sexismus sowie die Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten nicht
auf diesen Sektor beschränkt sind, spielen sie eine Rolle dabei die
ArbeiterInnenklasse zu spalten und ihre Unterdrückung zu verstärken.

In Pakistan gilt in den meisten
Provinzen offiziell ein Mindestlohn von 13.000 Rupien (ca. 135 Euro) monatlich.
Dieser Betrag ist vollkommen unzureichend, um auch nur einen geringen
Lebensstandard sicher zu stellen. Erstens gilt dieser Mindestlohn in wichtigen
Bereichen nicht, unter anderem in großen Teilen der Landwirtschaft und im
„informellen“ Sektor, in dem Stücklohn dominiert und es Ausnahmeregelungen vom
Recht für Überstundenbezahlung gibt. Zweitens wird der Mindestlohn nicht
konsequent durchgesetzt. Selbst wenn er bezahlt wird, kann er nicht den Lebensunterhaltung
für eine Familie durchschnittlicher Größe decken, d. h. für 6–8 Personen,
von denen zwei ein Einkommen haben.

Dem Bericht des „Labour Survey“ von
2012–2013 zufolge betrug das Durchschnittseinkommen in diesem Zeitraum 10.240
Rupien, also weniger als der damalige Mindestlohn von 12.000 Rupien. Doch
selbst diese Zahl verdeckt den Umstand, dass 24,59 % weniger als 5.000
Rupien und 43,83 % zwischen 5.000 und 10.000 Rupien verdienten. Der
Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern ist enorm. Während Männer damals
im Schnitt 11.074 Rupien verdienten, gab es für Frauen nur durchschnittlich
5.789 Rupien. LandarbeiterInnen verdienten im Schnitt rund 6.221 Rupien im
Monat.

Das bedeutet, dass praktisch die
Mehrheit der ArbeiterInnenklasse gezwungen ist, unter den Reproduktionskosten
ihrer eigenen Arbeitskraft zu leben. Die meisten ArbeiterInnenfamilien in
Pakistan sind daher gezwungen, ihre Kinder arbeiten zu lassen, um ihr Einkommen
abzusichern. Es ist nicht überraschend, dass große Teile der Klasse aus
ungelernten ArbeiterInnen bestehen, die leicht durch andere Arbeitskräfte
ersetzt werden können. Mehr als die Hälfte der gesamten ArbeiterInnenklasse in
Stadt und Land sind AnalphabetInnen. Dieser Umstand wird durch die
Überausbeutung nicht nur bedingt, sondern regelmäßig reproduziert. Einkommen
unterhalb der Familienreproduktionskosten erzwingen, dass Kinder und
Jugendlichen zur Arbeit als noch schlechter bezahlte „Hilfskräfte“ geschickt
werden. Damit ist für die Mehrheit jeder neuen Generation eine Zukunft als
ungelernte ArbeiterInnen vorgegeben, weil sie die Schule nicht beenden oder
keine Berufsausbildung erhalten.

Die Konkurrenz zwischen diesen
ArbeiterInnen wird wiederum durch den andauernden Druck der Arbeitslosigkeit
erhöht. Zwar sprechen die offiziellen Zahlen von nur 5–6 %, doch auch
diese Zahl ist irreführend. Denn als „beschäftigt“ gilt laut Definition in
einigen Studien bereits, wer mehr als eine Stunde pro Woche arbeitet. Während
also Unterbeschäftigung weitverbreitet ist, sind Überstunden ein ebenso
verbreitetes Phänomen – oft unbezahlt. Mehr als ein Drittel aller Arbeitskräfte
arbeitet mehr als 49 Stunden pro Woche. In den städtischen Zentren ist es gar
die Hälfte.

Der Begriff „informeller“ Sektor
umfasst eine Vielzahl wirtschaftlicher Aktivitäten, sowohl in er Industrie als
auch  im Dienstleistungsbereich
(und damit produktive und unproduktive Arbeit im marxistischen Sinn). Dazu
zählen ebenfalls halbproletarische Schichten in Stadt und Land. Auch das
Verlagssystem, selbst ein Teil dieses Sektors, kann unterschiedliche Formen
annehmen. ArbeiterInnen können über eine dritte Partei (eine Mittelsperson oder
eine Agentur) unter Vertrag gestellt werden, um in einem Betrieb oder einer
Werkstatt zu arbeiten. Sie können scheinselbstständig oder mit
Kurzzeitverträgen direkt beschäftigt sein.

Die Existenz dieses riesigen Sektors
bedeutet als solche enorme Probleme für die gewerkschaftliche Organisierung,
geschweige denn Aktion. Der/Die scheinselbstständige ArbeiterIn ist kaum in der
Position, „Streikaktivitäten“ an den Tag zu legen, aber auch die ArbeiterInnen
in der Heimarbeitsindustrie sehen sich bedeutenden Problemen ausgesetzt,
insbesondere, wenn sie wirklich zu Hause arbeiten. Auf sich allein gestellt
verfügen sie praktisch über keine Verhandlungsmacht. Dort wo es Arbeitskämpfe
in Kleinstbetrieben gegeben hat, waren sie oft mit der Notwendigkeit verbunden,
eine ganze Gemeinde oder ein ganzes ArbeiterInnenviertel zu organisieren.

Das System der Vertragsarbeit (Kontraktarbeit)

Der „informelle Sektor“ und das System
der Vertragsarbeit sind nicht nur auf kleine Betriebe und Heimarbeit
beschränkt. Ein bedeutender Teil der LohnarbeiterInnenschaft ist durchaus in
der Industrie beschäftigt und arbeitet dort unter widrigen Bedingungen. In
weiten Teilen des privaten Sektors gibt es praktisch keine gewerkschaftliche
Organisierung. Dementsprechend ist die Ausbeutungsrate dort sehr hoch. Oft
produzieren private Unternehmen, wie im Fall der Textilindustrie, auch für den
Weltmarkt. Hier liegt ein „Verlagssystem“ auf einem höheren Niveau vor.
Kleinere KapitalistInnen beschäftigen eine große Zahl ArbeiterInnen, wobei
staatliche Arbeitsregulierungen ignoriert und  umgangen werden. Die produzierten Güter wiederum werden von
einer kleinen Zahl von Monopolen der großen imperialistischen Nationen
abgenommen. Das trifft insbesondere auf die Textilindustrie, aber auch auf den
Agrarsektor und die Nahrungsmittelindustrie zu.

Die Privatisierung ganzer Industrie-Unternehmen
hat eine Ausweitung des Verlagssystems auf die industrielle Wirtschaft zur
Folge gehabt. Beispielsweise wurde die Chemiefabrik Ittehad unter der Regierung
der Pakistani Peoples Party (Pakistanische Volkspartei; PPP) privatisiert. Von
den damals 2600 Beschäftigten erhielten nur 30 einen dauerhaften
Arbeitsvertrag. Die restlichen ArbeiterInnen wurden entlassen und entweder mit
zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen – dementsprechend ohne wirkliche
Arbeitsrechte – wieder eingestellt oder durch KontraktarbeiterInnen ersetzt.
Zwar gelang es der dortigen Gewerkschaft, die Zahl der permanent beschäftigten
ArbeiterInnen innerhalb von sechs Jahren auf 284 anzuheben, allerdings sind
derartige Erfolge aktuell eine Ausnahme. Dennoch beweist es, dass selbst im
Privatsektor Gewerkschaften existieren, die Teilerfolge erringen können.

Das pakistanische Kontraktsystem,
insbesondere in der Heimarbeitsindustrie, enthält viele Merkmale des
Verlagssystems und der Heimarbeit/Hausarbeit in der frühkapitalistischen
Entwicklung Europas, wie Marx sie im Kapital beschreibt. Allerdings handelt es
sich hierbei nicht um eine Hinterlassenschaft früherer, weniger entwickelter
Produktionsverhältnisse, die allmählich verschwinden würden, wie manche
glauben. Im Gegenteil, die heutige Form des Verlagssystems und andere „ältere“
Formen der Ausbeutung wurden auf Betreiben imperialistischen Monopolkapitals
eingeführt und dehnen sich aus. Sie werden von (Sub-)Unternehmen angewandt, die
wiederum an größere Kapitale im Bereich Textilien und Einzelhandel gebunden
sind, die das gesamte System finanzieren und leiten.

Dieses System beinhaltet durchaus traditionelle
Formen der sozialen Unterdrückung, von der Frauenunterdrückung, über
vorkapitalistische Formen der Ausbeutung wie unfreie Arbeit, Schuldknechtschaft
etc., bis hin zur Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten, die zum
Teil Jahrhunderte zurückreichen. Dennoch sollten RevolutionärInnen und
ArbeiteraktivistInnen verstehen, dass diese Elemente durch den
Monopolkapitalismus aufgegriffen und erzwungen werden. Sie reproduzieren somit
die imperialistische Aufteilung des Weltmarktes und sie liefern an globale
Produktionsketten. Dies ist besonders wichtig, da Liberale sowie
sozialdemokratische und stalinistische ReformistInnen diese rückständigen
Formen als Überbleibsel vorkapitalistischer Ausbeutung und des Patriarchats
verstehen, die durch die Einführung sozialer Reformen und Arbeitsregulierungen
wie im Westen überwunden werden könnten.

In Wahrheit kann die Zunahme dieser
Verhältnisse nur im Zusammenhang mit der imperialistischen, d. h. der
gegenwärtigen globalen Weltordnung verstanden werden, auch wenn informeller
Sektor und Verlagssystem traditionelle Ausbeutungs- und Unterdrückungsmethoden
verwenden. Die Erfordernisse des Imperialismus bilden den Kern für die
Ausdehnung des „informellen“ Sektors, die Einsetzung des Verlagssystems und die
Erzwingung und Verschärfung von Frauenunterdrückung und Kinderarbeit.  Daher muss der Kampf für
ArbeiterInnenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter, Nationalitäten
und Religionen aller ArbeiterInnen mit dem Kampf gegen imperialistische
Ausbeutung Pakistans verbunden werden.

Natürlich ist die ArbeiterInnenklasse
Pakistans nicht auf den informellen Sektor beschränkt. In Privatindustrie und
-gewerbe, in kleinen Betrieben sind ArbeiterInnen im Allgemeinen unorganisiert,
aber selbst in größeren Betrieben ist ihr Organisationsgrad sehr niedrig. Die
Gründe dafür sind jedoch andere als in Kleinindustrie und Handwerk. Sie sind
das Ergebnis von Niederlagen, die auf die historische, dramatische Zerschlagung
der linken, recht militanten Gewerkschaftsbewegung unter Zias Diktatur ab den
1970ern und auf die Durchsetzung neoliberaler Reformen nach dem Kalten Krieg
zurückgehen.

Generell sind ArbeiterInnen im
öffentlichen Sektor besser organisiert als in der Privatwirtschaft. Und trotz
neoliberaler Reformen und Privatisierungen gibt es nach wie vor wichtige
Unternehmen wie die Fluggesellschaft PIA (Pakistan International Airlines),
Energieunternehmen, die Bahn und Teile des Gesundheitssektors, die sich nach
wie vor in staatlichem Besitz befinden. Einige dieser Belegschaften sind
relativ militant, verfügen über eine starke Stellung in der Wirtschaft und
genießen Unterstützung aus der Bevölkerung wie beispielsweise die ArbeiterInnen
im Gesundheitsbereich.

Gewerkschaften
und Arbeitsgesetze

Während es schwer ist, genaue Zahlen zu
erheben, befindet sich die deutliche Mehrheit der gewerkschaftlich
organisierten ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst. Insgesamt ist die
Gewerkschaftsdichte jedoch sehr niedrig und das nicht nur aufgrund des beinahe
vollkommen unorganisierten informellen Sektors. Eine Erhebung von 2007 ergab,
dass 1,3 Millionen ArbeiterInnen Mitglied einer Gewerkschaft sind. Während
gesagt werden muss, dass diese Studie nur „anerkannte Gewerkschaften“
berücksichtigte und bedeutende Organisationen wie die LQM ausgeschlossen waren,
sind dennoch nur rund 2 Prozent der pakistanischen Arbeitskräfte
gewerkschaftlich organisiert. Weiterhin ist nur ein Teil davon durch kollektive
Gehaltsvereinbarungen abgesichert. 2007 waren es nur 800.000 von den 1,3
Millionen. Diese Zahlen variieren deutlich, je nachdem, auf welche Quellen man
sich bezieht. Doch es unterliegt keinem Zweifel, dass abgesehen von wenigen
Branchen und Unternehmen die Gewerkschaften im Land klein, fragmentiert und
viele von ihnen nicht einmal offiziell anerkannt sind. Viele werden nicht als
Verhandlungs„partnerinnen“ akzeptiert und die meisten sind tatsächlich zu
schwach, sich als solche durchzusetzen.

Während im informellen Sektor kaum
Gewerkschaften zu finden sind, sind anerkannte Gewerkschaften in der
Privatwirtschaft tendenziell oft von den Unternehmen, in denen sie operieren,
selbst gegründet. Sie sind „gelbe Gewerkschaften“ an den Fäden der
UnternehmerInnen, mit dem Zweck, andere Gewerkschaften im Betrieb zu bekämpfen
oder deren Gründung ganz zu verhindern. Falls diese nicht verhindert werden
kann, versuchen die Unternehmen durch die „gelben Gewerkschaften“ die
Betriebswahlen der ArbeiterInnen zu gewinnen. In den schlimmsten Fällen waren
derartige Gewerkschaften oder ihre FührerInnen selbst bei der Einstellung von
prekär Beschäftigten beteiligt. Sie agieren dementsprechend als Teil des
Verlagssystems.

Die Gewerkschaftsbewegung ist nicht nur
durch ihre geringe Mitgliederzahl und die Einbindung derartiger
Unternehmergewerkschaften geschwächt, sie ist auch sehr zersplittert. Es gibt
insgesamt rund 8.000, meist sehr kleine Gewerkschaften und 28 Verbände. Aufgrund der geringen Größe und
fehlenden Verhandlungsmacht sind nur rund 2.500 Einzelgewerkschaften
tatsächlich in der Lage, Löhne und Arbeitsverhältnisse mittels anerkannter
Tarifverträge auszuhandeln.

Verglichen
mit den 1970er und  auch den 1980er
Jahren kann man einen deutlichen Rückgang des Organisationsgrads feststellen.
Zwar ist die Zahl der insgesamt gewerkschaftlich Organisierten in einigen
Sektoren gestiegen, dies muss jedoch in Relation zu einer bedeutend größeren
GesamtarbeiterInnenklasse als in den 1960er und 1970er Jahren gesehen werden.
In wichtigen Zweigen hingegen ist der Organisationsgrad aufgrund von
Privatisierung und Verkleinerung der Belegschaften in solchen Firmen
zurückgegangen. Die Arbeitskräftezahlen privatisierter Industrieunternehmen
sind von 90.000 (1991) auf 29.000 (2002), im gleichen Zeitraum bei Bank- und
Finanzinstituten von 100.000 auf 71.000, in der Elektrizitätswirtschaft von
165.000 auf 130.000 und in der Telekommunikation von 66.000 (2007) auf 15.000
(2016) mit weiteren 7.000 in den kommenden Monaten hier bedrohten
Arbeitsplätzen zurückgegangen.

Ein
weiteres Problem neben der Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung sind die
Arbeitsgesetze und die Reglementierungen der Gewerkschaften, die in den
vergangenen Jahrzehnten eingeführt worden sind und die die ArbeiterInnenrechte
immer stärker einschränken. In einer Reihe von Bereichen, insbesondere der
Landwirtschaft, ist gewerkschaftliche Organisierung praktisch verboten. Dies
trifft ebenfalls auf weite Bereiche des öffentlichen Dienstes, des Gesundheits-
und Bildungswesens, auf Freihandelszonen und natürlich die Wirtschaftsbetriebe
der Armee zu. Das bedeutet keinesfalls, dass es hier keine Auseinandersetzungen
gibt. Aber sie finden unter Bedingungen statt, in denen selbst geringste
Arbeitsrechte nicht gewährleistet sind.

Diese
reaktionären Gesetze verleihen den Regierungen, der nationalen wie den
regionalen, die Macht, die Dauer von Streikaktionen zu beschränken und die
Anerkennung zu verweigern. Streiks können für illegal erklärt werden, wenn sie vorgeblich
die öffentliche Ordnung gefährden oder öffentliche Dienstleistungen für die
Bevölkerung einschränken. Zusätzlich können sie zum Ziel der
„Anti-Terror-Gesetze“ und damit verbundener Bestimmungen werden, die es der
Regierung erlauben, widerständige öffentliche Beschäftigte zu entlassen oder in
andere Landesteile zu versetzen.

GewerkschafterInnen
und ArbeiterInnen besonders im öffentlichen Sektor sehen sich darüber hinaus
außerordentlicher Repression über den Jobverlust hinaus ausgesetzt, die von
Einschüchterung zu physischen Übergriffen selbst mit Todesdrohungen reichen,
falls sie ökonomische Kämpfe führen. Die Repression ist jedoch besonders hoch,
wenn sie sich in politischer Solidarität mit den national Unterdrückten oder den
Opfern staatlicher Kriegstreiberei engagieren. Die Streikaktionen bei der PIA im
Jahr 2016 haben gezeigt, dass selbst elementare Gewerkschaftsaktivitäten und
Aktionen wie Streiks gegen die Privatisierung ihrer Fluggesellschaft dazu
führen können, dass ArbeiterInnen durch Paramilitärs oder staatliche Kräfte
getötet werden. Unternehmen im privaten Sektor hingegen greifen auf den Einsatz
von GangsterInnen zurück, um ArbeiterInnen einzuschüchtern und sie davon
abzuhalten sich zu organisieren. Im Fall der LQM taten sich Staat und Bosse
ganz direkt zusammen, um zentrale FührerInnen für Jahrzehnte ins Gefängnis zu
bringen mit dem klaren Ziel, ganze ArbeiterInnenorganisationen dadurch zu
zerstören. 

Dieses
System direkter und gewaltsamer Unterdrückung wird durch eine Reihe anderer
Mechanismen ergänzt. Einerseits sind die Einbindung von
GewerkschaftsfunktionärInnen und -führerInnen durch Einschüchterung, aber auch
Bestechung und simple Korruption zu nennen. Auch die systematische Einbindung
in Institutionen der Klassenzusammenarbeit wie das dreiteilige Absprachesystem
oder gemeinsame Kampagnen für „islamische Werte“, damit sich ArbeiterInnen und
Bosse mit „Respekt“ begegnen, kommen zu Anwendung. Letztere sind jedoch bisher
nicht sehr entwickelt. Während die pakistanischen Gewerkschaften schwach und
zersplittert sind und die ArbeiterInnenaristokratie klein ist, gibt es dennoch
eine erhebliche Zahl von GewerkschaftsführerInnen, die ihre eigenen Interessen
vor jene ihrer Basis stellen. So gibt es auch in Pakistan eine, wenn auch
kleine bürokratische und  zur
Zusammenarbeit bereite Schicht, die bedeutenden Einfluss ausübt  und trotz ihres geringen Umfangs die
meisten Gewerkschaften kontrolliert. Privilegien entspringen jedoch meist nicht
institutionell festgelegten höheren Löhnen, sondern „kleineren“ Nebeneinkünften
wie einem Auto oder Büro und natürlich noch wirksamer mehr oder weniger offener
Bestechung und Korruption. Der Kampf darum, diese parasitäre Kaste ihrer
Vereinnahmung der Gewerkschaften zu berauben, ist ein zentraler Bestandteil in
der Wiederbelebung der bestehenden Gewerkschaften sowie der Schaffung neuer, um
bisher unorganisierte Schichten zu erreichen.

Gewerkschaften
und Politik

Die Niederlagen der Gewerkschaften in
den 1979ern und 1980ern haben zu einer massiven Schwächung der Gewerkschaften
im Privatsektor geführt, die die Hochburg der (radikalen) Linken gewesen sind,
oft von MaoistInnen oder moskautreuen StalinistInnen. Der Bedeutungsverlust
dieser Gewerkschaften und die damit verbundene Desorientierung haben nicht nur die
gesamte Gewerkschaftsbewegung geschwächt, sondern auch den Einfluss der Linken
innerhalb der Gewerkschaften.

Die Gewerkschaften im öffentlichen
Sektor sind traditionell stärker an den Staat gebunden und politisch „neutral“
oder „unpolitisch“. Sie waren auch nicht in demselben Maß von Einflussverlust
betroffen. Sie geraten aber zunehmend unter Druck, wie man anhand der Beispiele
von PIA, Bahn und WAPDA sehen kann. Trotz Ausnahmen wie bei PIA und der
Eisenbahn ist die Linke jedoch historisch schwach in diesem Bereich
aufgestellt. Dies ist nicht nur die Folge der Repression durch den Staat,
sondern auch, weil insbesondere maoistische Organisationen alle Gewerkschaften
in diesem Bereich als „reaktionär“ und „gelb“ charakterisierten. Sie forderten
diese Gewerkschaften zu Spaltungen auf und traten für den Aufbau „roter
Gewerkschaften“ ein. Diese verspätete Version der Politik der „Dritten Periode“
hat, wie üblich, tatsächlich dem Staat und der Gewerkschaftsbürokratie in die
Hände gespielt, die nach wie vor „ihre“ Gewerkschaften kontrollieren – frei von
organisierter linker Opposition. Heute sind viele dieser vermeintlich „gelben“
Gewerkschaften von Staatsangriffen betroffen und daher dazu gezwungen,
zumindest begrenzte Kämpfe zu führen.

Gerade in diesen Bereichen konnte eine
gewisse Organisationsstärke beibehalten werden. Der öffentliche Dienst stellt
den größten Teil des „formellen Sektors“ der Wirtschaft. Hier gibt es
kollektive Verhandlungen, einen gewissen Arbeitsschutz und eine höhere
Arbeitsplatzsicherheit. Er ist aber auch der Ort, an dem die
ArbeiterInnenbürokratie ihre Stütze findet. Hier gibt es auch in einem
begrenzten Rahmen so etwas wie Sozialpartnerschaft. Eine Reihe von gemeinsamen
Dreiergremien (Tripartite) aus Staat, KapitalistInnen
und Belegschaft wie die Dreiparteienarbeitskonferenz, Komitees zur Festsetzung
des Mindestlohns auf Provinzebene, das Nationalkomitee für Kinderrechte und das
Nationale Führungsgremium für unfreie Arbeit sowie parlamentarische oder
ministerielle Gremien wie der „Sozialfonds“ beinhalten alle
GewerkschaftsrepräsentantInnen.

Während die meisten
Gewerkschaften formal „unpolitisch“ sind, pflegen sie oder zumindest ihre
Führungen oft enge Beziehungen zu – allgemein gesprochen – bürgerlichen
politischen Parteien. Das kann durch enge persönliche Verbindungen der
FührerInnen, durch Mitgliedschaft in einer der Vorfeldorganisationen für
ArbeiterInnen einer der Parteien oder am wahrscheinlichsten durch die
Unterstützung der jeweils regierenden Partei oder jener, die am
wahrscheinlichsten die nächste Wahl in einem bestimmten Bezirke gewinnen wird,
erfolgen.

Ob eine Gewerkschaft eine
Partei unterstützt, und wenn ja – welche, ist durch die Führung oder den/die
Vorsitzende/n bestimmt. Die Mitgliedschaft wird nicht befragt, wird in der
Regel meist auch nicht informiert. Möglicherweise wissen die Mitglieder nicht
einmal, welche politische Orientierung ihre Führung befürwortet. Das ist nur
ein Aspekt fehlender Gewerkschaftsdemokratie und Basiskontrolle. Man kann
sagen, dass die meisten GewerkschaftsführerInnen die Mitglieder als ihre
AnhängerInnen statt als jene sehen, die das Sagen in der Gewerkschaft haben
sollten. Daher existiert Demokratie, wenn überhaupt, nur auf einer formalen
Ebene. Die meisten Mitglieder sind dementsprechend passiv und werden passiv
gehalten. Aktive Teilhabe gibt es nur in Auseinandersetzungen selbst.

Zersplitterung, Schwäche
und Niederlagen haben zu einer Situation geführt, in der die AnführerInnen der
größeren Gewerkschaften in Bereichen, in denen sie Apparate bilden und diese institutionell
an den Staat oder in seltenen Ausnahmen an Firmen binden können, aber auch die AnführerInnen
kleinerer Gewerkschaften diese als „ihr“ Eigentum begreifen. Auch wenn sie sich
über reale Probleme von Spaltung und geringem Organisationsgrad beschweren,
wollen sie dennoch „ihre Gewerkschaften“ nicht aufgeben. Genauer gesagt wollen
sie ihre Posten nicht aufgeben und sehen daher Fusionen von Gewerkschaften als
potentielle, wenn nicht sogar entscheidende Gefahren.

Die Tradition der Linken
ist unglücklicherweise nicht allzu verschieden von denen „gewöhnlicher“
GewerkschaftsfunktionärInnen. In von linken Organisationen geführten
Gewerkschaften bringen ihre FührerInnen eine politische Orientierung ihrer
Gewerkschaft auf eine linke Organisation zum Ausdruck, ohne ihre Basis zu
befragen oder informieren. In diesem Sinne erklärte das Komitee für eine
ArbeiterInneninternationale (KAI/CWI, deutsche Sektion: SAV) einst, eine
Konföderation von rund einer halben Million Mitgliedern sei „die Gewerkschaft
ihrer Sektion“, weil sie ihre Führung beanspruchte. Auch hier waren die
Mitglieder über diese „Angliederung“ weder befragt noch informiert worden. Für
die Arbeit und die Aktionen der Gewerkschaft machte die Angliederung praktisch
keinen Unterschied.

Dies spiegelt einen
weitverbreiteten Fehler vieler Gruppen der pakistanischen Linken wider. Sie
folgen oft tragischerweise, öfter jedoch als Farce den Traditionen des „roten
GewerkschafterInnentums“ der ultralinken „Dritten Periode“ unter Stalin.
Unglücklicherweise missverstehen auch Organisationen trotzkistischen Ursprungs
diese Politik als „kommunistische Tradition“. Tatsächlich stellt sie eine
Abweichung von den revolutionären Positionen der ersten vier Kongresse der
Kommunistischen Internationale dar.

Weite Teile der
pakistanischen Linken lehnen einerseits den Kampf für vereinte, demokratische
und klassenkämpferische Branchengewerkschaften, die alle ArbeiterInnen einer
Industrie oder Branche umfassen und wiederum in einer nationalen Konföderation
aller Gewerkschaften zusammengeschlossen sind, ab. Andererseits ist ihr
Eintreten für „rotes“ oder „politisches GewerkschafterInnentum“ politisch hohl.
Was sie in diesem Kontext als „politisch“ bezeichnen, ist nicht mehr als die
formale (und manchmal von den Mitgliedern verheimlichte) Angliederung an eine
politische Partei. Was jedoch vollkommen fehlt, ist eine Auseinandersetzung, um
die Gewerkschaften für ein politisches Programm zu gewinnen, das die
Begrenzungen „reinen GewerkschafterInnentums“ aufhebt. Dafür braucht es jedoch
eine Politisierung der Aktivität und Arbeit der Gewerkschaften, die Hebung des
politischen Bewusstseins ihrer Mitglieder und Förderung der Eigenaktivität der
Klasse.

Wenn man sowohl das
Verhältnis zwischen Basis und Führung als auch die gewerkschaftlichen Aktionen
der „linken“ mit denen der „rechten“ Gewerkschaften vergleicht, sind
Unterschiede oft schwer auszumachen. Das ist die denkbar  schlimmste Verurteilung für die „linke“
GewerkschaftsführerInnen in Pakistan. Sie agieren rein routinemäßig,
beschränken „ihre“ Gewerkschaften auf rein ökonomische Kämpfe und Themen und
vermeiden politische Klassenkämpfe. Solidarität mit anderen ArbeiterInnen
drückt sich nur selten in mehr als Worten oder symbolischen Aktionen aus – wenn
überhaupt. Eine derartige Herangehensweise führt nicht zu „linken“ oder
„sozialistischen“ Gewerkschaften, mit welcher politischen Organisation die
Gewerkschaft auch immer verbunden sein mag. Sie reproduziert nur das Modell des
letztlich bürgerlichen GewerkschafterInnentums und die Trennung zwischen
ökonomischem und politischem Kampf.

Die monopolisierte Kontrolle der FührerInnen, die die Basis auf „AnhängerInnen“
reduziert, ist ein weiterer Ausdruck dessen. Eine derartige Herangehensweise
reproduziert Passivität und politische Rückständigkeit unter den ArbeiterInnen.
Wenn die herrschende Klasse soziale, politische oder ideologische Angriffe
durchführt, sind sie zwangsläufig isoliert und individualisiert. Das spiegelt
sich im Besonderen im Umgang mit sozialer Unterdrückung wider. Innerhalb der
Gewerkschaftsbewegung gibt es weitverbreitete Ignoranz oder gar offen
reaktionäre Positionen zur gesellschaftlichen Unterdrückung von Frauen,
Jugendlichen, nationalen und religiösen Minderheiten. Auch in der Kriegsfrage,
den Positionen zu Imperialismus und demokratischen Rechten gibt es erhebliche
Schwächen.

Eine zentrale Schwäche der Linken zeigt sich nicht nur in der
Unfähigkeit, die Unorganisierten zu organisieren sowie die Gewerkschaften auf
einer demokratischen und klassenkämpferischen Basis zu vereinigen, sondern vor
allem darin, sich für den Aufbau einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse
einzusetzen. RevolutionärInnen sollten sich das zum Ziel in den Gewerkschaften,
am Arbeitsplatz, in den Städten und auf dem Land nehmen. Gerade die
Gewerkschaften sollten eine zentrale Rolle in der Formierung einer solchen
Partei spielen. Das Versagen der AWP dabei ist ein entscheidender Grund für ihr
Stagnieren, ja ihr Schrumpfen seit ihrer Gründung. Daher bleibt sie bis heute
kaum mehr als die Fusion dreier linker Organisationen, die die Führungsposten
untereinander aufgeteilt haben. Sie ist deshalb nicht in der Lage, als
ernsthafter Sammelpunkt für ArbeiterInnen, GewerkschafterInnen und ganze
Gewerkschaften zu wirken, die nach einer von den bürgerlichen Parteien
Pakistanische Muslimliga-Nawaz (PML-N), Pakistanische Bewegung für
Gerechtigkeit (PTI) oder Pakistanische Volkspartei (PPP) unabhängigen
ArbeiterInnenpartei Ausschau halten.

Die Gewerkschaftsbewegung wiederbeleben

Das Fehlen einer ArbeiterInnenpartei ist selbst ein wichtiger
Grund für die Schwäche der Gewerkschaften des Landes. In Anbetracht der enormen
politischen und sozialen Hindernisse, die der Arbeiterinnenklasse bei dieser
Aufgabe bevorstehen, sowie dem repressiven Charakter des Staates muss uns klar
sein, dass die gewerkschaftliche Organisierung vieler bisher Unorganisierter
selbst eine politische Aufgabe ist. Es ist ein Fehlschluss anzunehmen, dass
eine neue ArbeiterInnenpartei als Ergebnis des erfolgreichen Aufbaus neuer oder
der Wiederbelebung alter Gewerkschaften entstehen wird. Tatsächlich stellt die
aktuelle Lage die Aufgabe andersherum. Der Aufbau von kämpfenden
Massengewerkschaften und die Organisation bisher unorganisierter Schichten erfordert
die Anleitung einer politischen Partei.

Die besonders schweren Bedingungen, denen sich die ArbeiterInnenklasse
ausgesetzt sieht, sind selbst ein Ausdruck der krisenhaften und halbkolonialen
Natur des pakistanischen Kapitalismus. GewerkschafterInnen und
ArbeiteraktivistInnen, die Gewerkschaften an ihrem Arbeitsplatz oder in ihrer
Branche aufbauen wollen, müssen dies in der Entwicklung ihrer Strategien
anerkennen. Jede Beschränkung auf „reines“ GewerkschafterInnentum würde im
besten Falle nur die Fehler der bestehenden Gewerkschaften und ihrer Vorstände
wiederholen. Entweder würde es zu ultralinken Tendenzen und der Formierung
„roter Gewerkschaften“, die andere Sektoren unberührt lassen, oder zu einem
ökonomistischen Schema führen. Letzteres würde bedeuten, die Gewerkschaften
„unpolitisch“ zu halten, die Notwendigkeit einer ArbeiterInnenpartei abzulehnen,
die unabhängig von den Parteien der Bosse die Entwicklung der gesamten
Gewerkschaftsbewegung als Schlüsselinstitution vorantreibt.

Revolutionäre Gewerkschafts- und Betriebsarbeit muss als Aspekt
des Klassenkampfes der gesamten ArbeiterInnenklasse begriffen werden. Das Ziel
dieser Arbeit ist daher auch, die Begrenzung reinen GewerkschafterInnentums zu
überwinden. Das darf natürlich keinesfalls bedeuten, unmittelbare Forderungen
der Arbeitenden zu vernachlässigen und dem Kampf für Reformen sowie begrenzte Verbesserungen
den Rücken zu kehren. Es bedeutet jedoch, diese Kämpfe bewusst in eine weitere
Perspektive, eine sozialistische Strategie für die Befreiung der gesamten
ArbeiterInnenklasse, den Kampf für die sozialistische Revolution in Pakistan
einzubetten.

Um die Schwäche und Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung zu
überwinden, braucht es zuerst ihre gemeinsamen Aktionen. Ein zentraler Aspekt
ist dabei die Rücknahme aller Gesetze gegen die Aktivitäten der
ArbeiterInnenklasse oder der Gewerkschaften durch den Staat! Es braucht eine
vereinte, politische Kampagne aller Gewerkschaften und
ArbeiterInnenorganisationen (linke Parteien, Initiativen etc.), um dies zu
verwirklichen.

Jeder Bereichskampf, sogar jeder Versuch, ArbeiterInnen
gewerkschaftlich zu organisieren, trifft schnell auf die Grenzen dieser
reaktionären Gesetze, auf Klagen, Schikanen, Einschüchterung, kleinere
Übergriffe sowie den Einsatz von Polizei und Sicherheitskräften, die
ArbeiterInnen zusammenschlagen oder töten. Jede Initiative ist mit diesen
Problemen konfrontiert, aber sie können nicht auf Betriebs- oder gar
Branchenebene gelöst werden. Nur eine politische Massenauseinandersetzung, die
in den Betrieben und Gewerkschaften ihre Wurzeln hat, könnte sich dem durch
Großdemonstrationen, Streikposten, Sitzblockaden und dem Mittel des politischen
Streiks entgegenstellen.

Gleichzeitig wirft diese wie andere Forderungen der ArbeiterInnen
das Problem der Organisierung der Masse der Unorganisierten auf. Trotz oder
zeitweise wegen der feindlichen Bedingungen haben die GewerkschaftsführerInnen
den informellen Sektor“, das Kontraktsystem und LandarbeiterInnen im
Allgemeinen vernachlässigt. Auch sind Sexismus und patriarchale Ignoranz
weitverbreitet. Frauenunterdrückung wird nicht nur am Arbeitsplatz, sondern
auch in den Gewerkschaften reproduziert. Das Gleiche gilt für die Jugend, die
zunehmende Bedeutung in einem Land gewinnt, wo sie einen wachsenden Teil der
(arbeitenden) Bevölkerung darstellt.

Das Ringen um Erhöhung der gewerkschaftlichen Mitgliederzahlen
muss deshalb mit einer Kampagne Hand in Hand gehen, die Gewerkschaften für alle
ArbeiterInnenschichten zu öffnen und neue in zuvor unorganisierten Sektoren zu
gründen. Alle sozial Unterdrückten – Frauen, Jugendliche, nationale
Minderheiten – müssen über ein Recht auf gesonderte Treffen (Caucuses)
innerhalb dieser Organisationen verfügen. Dieses Recht gilt, wo sie Probleme
von Sexismus, Übergriffen, Diskriminierung, nationaler oder Jugendunterdrückung
sowie religiösen Sektierertums ansprechen können. So können die Gewerkschaften
und andere ArbeiterInnenschichten vorwärtsgetrieben werden, um ihren Kampf zu
unterstützen, die volle Beteiligung aller dadurch zu gewährleisten und diese
Formen diskriminierenden Verhaltens in der Bewegung selbst zu bekämpfen.

Wir schlagen die engste Kooperation zwischen den Gewerkschaften
für diese Aufgabe vor. Diese sollte jedoch nicht nur zwischen den Führungen
bestehen, sondern auch die Basis über gemeinsame Treffen, an denen auch
unorganisierte ArbeiterInnen, die sich engagieren wollen, einbeziehen.
Kampagnen, die sich auf die Bildung gemeinsamer Aktionskomitees stützen,
könnten nicht nur den Boden für die Schaffung neuer, sondern auch die
demokratische und kämpferische Vereinigung bestehender Gewerkschaften
voranbringen.

Die Kampagne zur Organisierung der Unorganisierten muss Hand in
Hand mit einer zwecks Vereinigung bestehender Gewerkschaften auf demokratischer
Klassenkampfgrundlage gehen. Die Führung muss durch ihre Mitglieder gewählt
werden. Sie muss nach unten rechenschaftspflichtig und von unten abwählbar
sein. Die Führung sollte den Entscheidungen jener folgen, die sie
repräsentiert.

So kann nicht nur auf beste Weise einem bürokratischen
Führungsstil und bürokratischer Politik begegnet werden, sondern auch die
Beteiligung einer breiteren Basis bewerkstelligt und damit das
Selbstbewusstsein und politische Niveau der gesamten Mitgliedschaft gehoben
werden. Dies ist in einem Land wie Pakistan von doppelter Wichtigkeit. Streiks,
Besetzungen, jegliche Aktion der ArbeiterInnenklasse sind schnell der
Repression durch Staat und reaktionäre Kräfte ausgesetzt. Um dem
entgegenzutreten, braucht es ein Höchstmaß an Einheit unter den beteiligten
ArbeiterInnen. Organisierte Streikposten und Selbstverteidigungsgruppen sind
vonnöten. Diese bedürfen jedoch einer aktiven, sich selbst organisierenden
ArbeiterInnenschaft in Betrieb und Branche sowie effektiver
Solidaritätsaktionen seitens anderer Sektoren, um erfolgreich zu sein.

Für uns sind demokratische Gewerkschaften kein Widerspruch zu
starken und entschlossenen Führungen im Kampf. Sie gewährleisten, dass die
Führung für entschlossene ArbeiterInnenforderungen und nicht für halbherzige
Kompromisse eintritt. Demokratische Gewerkschaften geben entschlossenen
FunktionärInnen und KlassenkämpferInnen auch die Rückendeckung einer
zielstrebigen und solidarischen ArbeiterInnenbasis.

Aktuell schlagen wir nicht „nur“ einen gemeinsamen Kampf für
Gewerkschaftsrechte und Rücknahme aller Anti-Gewerkschaftsgesetze vor. Wir
legen hiermit auch ein Aktionsprogramm vor, um das wir unseren Kampf
entwickeln, Gewerkschaften vereinigen und neue in bisher unorganisierten
Sektoren schaffen wollen.

Schlüsselforderungen für die nächste Periode

Kampf dem Kontraktsystem!

  • Für ein Verbot des Verlags- und Leiharbeitssystems sowie unfreier Arbeit und anderer Formen „informeller“ Beschäftigung. Alle Formen vorkapitalistischer Ausbeutung müssen abgeschafft werden.
  • Alle ArbeiterInnen sollten anhand von Gewerkschaften abgeschlossenen Verträgen eingestellt werden, die von den Gewerkschaften und lokalen ArbeiterInnenkomitees überwacht werden. Anstatt der Bezahlung nach Stückraten und anderen derartigen Zahlungsformen sollte das Arbeitsverhältnis nach der Länge des Arbeitstages oder der Arbeitswoche bezahlt werden. Alle Löhne und Arbeitsbedingungen sollten unter Vereinbarungen mit der jeweiligen Gewerkschaft und den ArbeiterInnen eines Betriebs fallen. Diese Verträge müssen Mindestregeln festsetzen, so dass ArbeiterInnen unterhalb der in ihnen festgelegten Bedingungen nicht zur Anstellung genötigt werden können.

Für ein existenzsicherndes Gehalt für
alle ArbeiterInnen

  • Wir kämpfen für einen Mindestlohn, der in allen Provinzen, in Stadt und Land, für Frauen und Männer, jung und alt gilt sowie von den Gewerkschaften festgesetzt wird. Die Gewerkschaften müssen jede Form der ungleichen Bezahlung, die auf Geschlecht, Nationalität, Alter oder religiöser Zugehörigkeit beruht, bekämpfen.
  • Wir treten für eine gleitende Skala der Löhne ein, die an steigende Lebenshaltungskosten der ArbeiterInnenklasse gebunden ist, um den Auswirkungen der Inflation entgegenzuwirken. Der prozentuale Anstieg der Löhne sollte von Komitees aus Frauen der ArbeiterInnenklasse und den Gewerkschaften bestehen. ArbeiterInnenkomitees am Arbeitsplatz und in der Gemeinde müssen die tatsächliche Erhöhung von Löhnen und die Durchsetzung des Mindestlohns kontrollieren.

Gleiche Löhne und Bedingungen für
Frauen, Kampf ihrer Diskriminierung und Belästigung

  • Frauen müssen den gleichen Lohn wie Männer für gleiche Arbeit erhalten. Das Gleiche gilt für Jugendliche. Kinderarbeit unter einem Mindestalter von 15 Jahren muss verboten werden. Frauen sollten nicht nur gleich bezahlt werden, sondern  jeder Form ihrer Diskriminierung muss entgegengetreten werden. Frauen müssen den gleichen Zugang zu grundlegender Schulbildung und Berufsausbildung erhalten, damit sie nicht zu überwiegend ungelernter und schlecht bezahlter Arbeit gezwungen sind. Am Arbeitsplatz und in den Gemeinden soll es ganztägige, kostenlose und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und Kindergärten geben. Damit wäre ein erster Schritt getan, um die Doppelbelastung von Haus- und Erwerbsarbeit für Frauen zu reduzieren und die Hausarbeit selbst zu sozialisieren.

Sozialversicherung, Rente und
Krankengeld

  • Alle ArbeiterInnen müssen freien Zugang zu Bildung und Ausbildung, zum Gesundheitswesen, zu Krankengeld und einer Rente haben, die es ihnen erlaubt, einen durchschnittlichen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Alle sollen einen Anspruch auf Mindesturlaub haben, der von der Arbeiterinnenbewegung festgelegt wird.
  • Es bedarf massiver Besteuerung der KapitalistInnen, GrundbesitzerInnen und Superreichen, um die Verbesserung der öffentlicher Dienste, einschließlich eines breit angelegten Programms zur Ausbildung und Einstellung neuer LehrerInnen und Beschäftigter im Gesundheitswesen zu finanzieren.

Arbeitssicherheit

  • Jedes Jahr werden tausende von ArbeiterInnen verletzt, dutzende, wenn nicht hunderte sterben aufgrund fehlender Sicherheitsbestimmungen und -standards am Arbeitsplatz. Daher braucht es ArbeiterInneninspektionen, die die Sicherheitsstandards am Arbeitsplatz kontrollieren.  Jene Arbeit„geber“Innen, die den Standards nicht entsprechen, müssen ohne Entschädigung enteignet und die verstaatlichten Betriebe unter ArbeiterInnenkontrolle geführt werden.  Dasselbe gilt für jene Unternehmen, die die Umwelt verschmutzen, Flüsse in ArbeiterInnenvierteln vergiften und nicht einmal den bestehenden Umweltbestimmungen folgen. Auch sie sollen vor Gericht gebracht, enteignet und zur Entrichtung von Entschädigungen gezwungen werden.

Nein zu Privatisierungen, nein zum Internationalen Währungsfonds, für die Streichung aller Schulden

  • Privatisierungen haben nicht nur zur massenhaften Vernichtung von Arbeitsplätzen, der Ausweitung des Verlags- und Leiharbeitssystems und dem Rückgang gewerkschaftlicher Organisierung geführt. Sie haben auch eine Verschlechterung öffentlicher Dienste und höhere Preise für die Mehrheit der Bevölkerung bewirkt. Der Staat und die imperialistischen Institutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank etc.) fordern immer drakonischere Maßnahmen. Die ArbeiterInnenklasse muss dagegen in jedem Sektor vorgehen und für die Wiederverstaatlichung von privatisierten Industrien und Dienstleistungen ohne Entschädigung eintreten. Die Verbesserung bestehender Dienste muss auch hier durch die Besteuerung einheimischer wie ausländischer KapitalistInnen bezahlt werden.
  • Die weitreichenden Privatisierungen und Beschneidungen von Arbeitsrechten in Pakistan sind nicht nur ein Resultat der Krise und der Interessen der heimischen herrschenden Klasse, sondern auch des ausländischen Kapitals und der imperialistischer Institutionen. Daher kämpfen wir für die Streichung aller Auslandsschulden und die Rücknahme aller unter imperialistischen Konditionen diktierten Verträge, die dem Zweck dienen, Privatisierungen oder reaktionäre Arbeitsgesetze durchzusetzen.

Ein Programm öffentlicher nützlicher
Arbeiten, ein Wirtschaftsplan im Interesse der Massen

  • Die ökonomische, soziale und ökologische Krise des Landes, die Widersprüche zwischen Stadt und Land etc. kann nicht der Markt überwinden. Die Vorstellung, sie könnten auf solche Weise gelöst werden, ist utopisch.
  • Die Gewerkschaften sollten ein Programm öffentlicher Arbeiten fordern, um die Infrastruktur, die Stromversorgung, den Zugang zu Wohnungen, sozialen Diensten, dem Gesundheits- und Bildungswesen zu verbessern. Das würde nicht nur Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen, es wäre auch zu Gunsten der gesamten ArbeiterInnenklasse, der Bauern und Bäuerinnen sowie des KleinbürgerInnentums und der Mittelschichten in Stadt und Land. Ein solches Programm kann allerdings nur unter Maßgabe der Verstaatlichung der Banken, Großindustrie und -unternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle durchgeführt werden.
  • Unter ArbeiterInnenkontrolle, für die wir auf Schritt und Tritt auf allen Ebenen eintreten, verstehen wir jedoch nicht ein (reformiertes) System der sozialpartnerschaftlichen Mitbestimmung, wie es in einigen Sektoren bereits drittelparitätisch (Staat, UnternehmerInnen, ArbeiterInnenbürokratie) existiert. ArbeiterInnenkontrolle bedeutet, dass die ArbeiterInnen – organisiert in Gewerkschaften und Komitees, gewählt von der Basis – die Entscheidungen der BesitzerInnen und des Managements kontrollieren. ArbeiterInnen können hier zu allen Entscheidungen ein Veto einlegen, die Geschäftspläne einsehen, Sicherheitsstandards, Verträge und die Geschäftsbücher überprüfen.
  • Auch wenn ArbeiterInnenkontrolle in einzelnen Betrieben oder Branchen beginnen mag, beinhaltet sie doch immer eine Herausforderung an die Bosse und das Management, ihnen ihr „Recht“ über ihren Geschäftsbetrieb streitig zu machen. Daher kann sie nur zeitweilig sein. Sie wird entweder unter den Angriffen der Herrschenden eingehen, sich in Formen der Klassenzusammenarbeit institutionalisieren – oder aber sich verallgemeinern und mit dem Kampf zum Sturz des kapitalistischen Systems verbinden müssen, zur Zerschlagung des repressiven Staatsapparates und seiner Ersetzung durch ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenräte und für einen demokratischen Wirtschaftsplan, der die Bedürfnisse der arbeitenden Klassen an erste Stelle rückt und die Produktion gemäß dieser anstatt nach Profitinteressen organisiert.

Für eine ArbeiterInnenpartei

  • Dies ist nur ein Beispiel für die Notwendigkeit, den Kampf um bessere unmittelbare Lebensbedingungen, ArbeiterInnenrechte etc. innerhalb des kapitalistischen Systems mit dem für dessen Sturz zu verbinden. Dies zeigt: Gewerkschaften, für die wir streiten, sollten klassenkämpferische, demokratische und für alle ArbeiterInnen, unabhängig von jedweder politischen oder religiösen Überzeugung offene Organisationen sein (abgesehen von Offenheit für FaschistInnen). In ihnen ringen wir um eine revolutionäre Führung.
  • Solche Gewerkschaften werden jedoch nur dann entstehen, wenn sich aktive, militante GewerkschafterInnen und alle ArbeiterInnen zusammenschließen, die nicht außerhalb der Politik stehen oder diese in den Händen bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Parteien, seien sie „populistischer“, neoliberaler, islamistischer oder anderweitig arbeiterInnenfeindlicher Natur, belassen und ihre eigene Partei gründen wollen. Es muss eine Partei sein, die für den Aufbau von Massengewerkschaften eintritt, die mehr als nur rein ökonomische Kämpfe führen. Es bedarf einer Partei, die die Gewerkschaftsbewegung in den Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung (Frauen, Minderheiten etc.) einbringt, sich für demokratische Rechte einsetzt, gegen Krieg, Militärherrschaft und imperialistische Weltbeherrschung eintritt. Nur eine solche Partei kann die Auseinandersetzung mit dem jetzigen System mit dem Kampf für den internationalen Sozialismus verknüpfen.