Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen, und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, …“ (1)

Die bürgerlichen Revolutionen bedurften dieser Selbsttäuschung, dieser „Betäubung“ über den Inhalt der Revolution, ihren eigentlichen Zweck, gerade weil sich die Revolution des Bürgertums als Befreiungsakt aller Menschen, aller BürgerInnen proklamierte. Nur so konnte sie die Volksmassen gegen die alte Ordnung mobilisieren, nur so konnten die entschiedenen Teile des Bürgertums die Hindernisse für eine neue Gesellschaft zerstören. Sie verfolgten damit ihren eigenen bornierten Zweck: die Etablierung einer neuen herrschenden Minderheit über die Gesellschaft.

Daher wendet sich jede bürgerliche Revolution nicht nur an einem bestimmten Punkt gegen ihre radikalsten VerfechterInnen. Ein Mangel an Bewusstheit, die ideologische Verschleierung des grundlegenden Charakters der bürgerlichen Revolution, also ihres Klassencharakters, ist für sie ein Wesensmerkmal, dessen Nutzen für die Bourgeoisie und ihre ParteigängerInnen ebenso leicht verständlich ist wie die Problematik, die sich daraus für die Massen ergibt, die die Revolution vorangetrieben haben, die selbst die großen Parolen der bürgerlichen Umwälzung – egalité, liberté, fraternité (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) – ernster genommen haben als das zur Herrschaft kommende Bürgertum.

Hinzu kommt, dass  die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse schon im untergehenden Feudalismus – insbesondere im Absolutismus – mehr und mehr die feudale Produktionsweise zersetzten, an den Rand drängten, noch unter der alten Ordnung ein ökonomisches Übergewicht erlangten. Die bürgerliche Revolution setzt nur die Hindernisse für die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise frei, die politische und soziale Machtergreifung durch die Bourgeoisie vollzieht gewissermaßen den ökonomischen Prozess nach, etabliert die dieser Entwicklung angemessenen politischen Formen. Daher kann auch die monarchische Konterrevolution diese Prozesse nicht mehr umkehren, der Bonapartismus eines Louis Napoleon, sein Kaiserreich, ist eine bürgerliche, keine feudale Herrschaftsform.

Anders die proletarische Revolution. Die ArbeiterInnenklasse kann keine eigene Produktionsweise im Rahmen des Kapitalismus herausbilden. Sie treibt nur den Widerspruch zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion und deren privater Aneignung mehr und mehr auf die Spitze. Um eine neue Produktionsweise zu errichten, muss die ArbeiterInnenklasse zuerst die Staatsmacht erobern, um so die Gesellschaft auf neuer Grundlage überhaupt reorganisieren zu können.

Daher spielt die Bewusstheit in der proletarischen Revolution nicht nur eine größere, sondern vor allem eine qualitativ andere Rolle als in der bürgerlichen Revolution.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (2)

Um diese Aufgabe zu bewältigen, um den „Inhalt über die Phrase“ zu stellen, braucht die ArbeiterInnenklasse auch eine Organisation, eine politische Partei, die diesen Inhalt theoretisch und praktisch verkörpert, weiterentwickelt, an  die neue Situation anpasst.

Ohne eine solche Partei, ohne eine Organisation, die in der Lage war, aus den vergangenen Klassenkämpfen, aus dem Arsenal eines wissenschaftlichen Verständnisses des Kapitalismus sowie der aktuellen weltgeschichtlichen Epoche zu lernen und die politischen Konsequenzen zu ziehen, wäre auch die Russische Revolution 1917 auf halbem Wege stecken geblieben. Sie hätte nicht zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse geführt und wäre auch nicht zum Fanal für eine ganze Periode bis 1923 geworden, die die proletarische Weltrevolution als geschichtliche Aufgabe gestellt hat. Sie wäre nicht zum Fanal für eine ganze Epoche geworden, die uns vor die Alternative „Sozialismus oder „Barbarei“ gestellt hat, von einer Epoche, die sich auch heute  krisenhaft im Kampf um die Neuaufteilung der Welt wieder geltend macht.

Wenn wir von der Aktualität der Russischen Revolution sprechen, so nicht im trivialen Sinne einer einfachen Wiederholung, die ohnedies niemandem vorschwebt, sondern vielmehr im Sinne des politischen und programmatischen Erbes des Bolschewismus.

Wenn Marx davon spricht, dass „die Tradition aller toten Geschlechter (…) wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“ laste, so trifft das nicht nur die bürgerlichen Revolutionen, sondern auch die bürgerliche Epoche selbst. Auch auf dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse lastet dieser Alp und selbst auf jenen, die sich der Überwindung dieser Gesellschaft verschrieben haben.

Die Bolschewiki (und ihr opportunistisches und letztlich konterrevolutionäres Gegenstück, die Menschewiki) entwickelten sich selbst aus einer zur „Tradition“ gewordenen Interpretation des Marxismus, aus einer „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale, die am Beginn des 19. Jahrhunderts und selbst am Beginn der Russischen Revolution 1917 ihr politisches Verständnis und Handeln prägte.

In diesem Artikel werden wir uns daher mit der Entwicklung des Bolschewismus selbst, seinem Verständnis der Triebkräfte der Russischen Revolution sowie dem Bruch mit der Zweiten Internationale beschäftigen, die auch die Notwendigkeit einer „Erneuerung des Marxismus“ selbst am Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlichen.

Wir wollen sodann die Entwicklung des Bolschewismus in der Oktoberrevolution, seine programmatische Umbewaffnung und Erneuerung, seine inneren Konflikte um die strategische und taktische Ausrichtung betrachten. Dabei geht es uns nicht um eine weitere „Geschichte der Russischen Revolution“, sondern darum, die Entwicklung des Programms nachzuvollziehen, dessen bleibende Errungenschaften zu beachten.

Drei Konzeptionen der Russischen Revolution

Die Revolution von 1905 markiert einen zentralen Referenzpunkt in der Geschichte nicht nur der russischen sozialistischen Bewegung. Die Frage der Machtergreifung des Proletariats trat erstmals seit Jahrzehnten als praktische Aufgabe zutage. Schon vor der Revolution hatten sich Bolschewismus und Menschewismus als organisierte Strömungen getrennt, aber die politischen Differenzen standen noch am Beginn ihrer Entwicklung.

Lenin charakterisierte in dieser Periode gelegentlich den Menschewismus als „Opportunismus in organisatorischen Fragen“. Diese Formulierung verdeutlicht, dass sich alle Fraktionen noch immer als Bestandteil einer sozialdemokratischen Bewegung betrachteten. Eine Wiedervereinigung wurde keineswegs kategorisch ausgeschlossen, sondern vielmehr immer wieder angestrebt. Beiden Strömungen waren damals die politisch-taktischen und programmatischen Implikationen ihrer organisatorischen Differenzen noch nicht in all ihren Konsequenzen bewusst, ja, diese hatten sich selbst noch nicht voll entfaltet. Der Kampf der Iskra-Gruppe und das offene Hervortreten des Bolschewismus 1903 nahmen zwar, wenn auch nicht bewusst, den Bruch mit der Parteiform der Zweiten Internationale vorweg. Das betrifft nicht nur die politischen Implikationen des Charakters der Partei, die Lenin vorschwebten, sondern auch ein grundlegend anderes Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von Programm, Strategie, Taktik, organisatorischen Konsequenzen.

Heute erscheint Lenins These, dass „Klassenbewusstsein von außen“ in die Klasse getragen werden müsse, nicht nur den ReformistInnen, sondern auch den ZentristInnen aller Couleur als Affront, als Form des Substitutionalismus. Interessanterweise machen sich die Kritiken an Lenin 1903 kaum an dieser Formulierung fest, gerade weil es sich dabei um eine These handelte, die Teil der marxistischen Orthodoxie war.

Auch wenn die Formulierung von Kautsky stammte, so gab ihr Lenin einen anderen Sinn, weil er sie in den Kontext einer anderen, zuerst „nur“ für Russland angelegten Parteikonzeption stellte – nämlich in den Kontext einer disziplinierten Kampfpartei, einer Partei von Kadern, für die die revolutionäre Aktivität den Mittelpunkt ihres Lebens bildete.

Die Kautsky’sche Vorstellung vom „Hineintragen“ hingegen war in eine schon etablierte Arbeitsteilung innerhalb der deutschen und internationalen Sozialdemokratie eingepasst. Die Partei hatte schon lange eine Struktur entwickelt, in der die Theoretiker theoretisierten, die Gewerkschafter ihre routinemäßigen Kämpfe um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft führten, die PolitikerInnen, PropagandistInnen wie AgitatorInnen vor allem Wahlkämpfe organisierten. Der Fortschritt der Partei drückte sich durch Wachstum der Organisation und Stimmenanteile bei Wahlen plus Schulung aus.

Diese Partei wurde vom Kaiserreich stigmatisiert und beharrte auf ihrer marxistischen „Orthodoxie“, andererseits verrichtete sie aber jahrein, jahraus innerhalb eines halb-bonapartistischen Systems ihre gradualistische Oppositions- und Sammlungsarbeit. Jahrzehnte der evolutionären Entwicklung nach Aufhebung der Sozialistengesetze hatten die deutsche Sozialdemokratie geprägt. Ihre innere Struktur entsprach einer Partei, für die ihr Endziel, die sozialistische Revolution, und auch die Unabhängigkeit von allen Parteien des Bürgertums einerseits identitätsstiftend waren, andererseits aber zunehmend eine formale Hülle der Tagespraxis, für die die soziale Revolution keine unmittelbare Bedeutung hatte.

Programmatisch war diese Kombination von Organisationsarbeit, gewerkschaftlichen und politischen „Positionskämpfen“ kodifiziert in der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm.

Im Erfurter Programm, dem „Modell“ marxistischer Programme in der Zweiten Internationale, war diese exemplarisch ausgeführt. Mit dieser Vorstellung entwickelte sich auch die von einer langen Periode hin zur sozialistischen Revolution.

Diese gradualistische Methode reflektierte selbst die Entwicklung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern dieser Zeit, das Wachstum der Industrie und die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie sowie den Übergang zu einer imperialistischen Weltordnung, die aber erst mit dem Ersten Weltkrieg alle politischen Implikationen dieser Entwicklung offenlegen sollte. Um die Jahrhundertwende kündigten sich im Ministerialismus der französischen Partei und im Revisionismusstreit die Unhaltbarkeit dieser Kombination von „marxistischer Orthodoxie“ und aufklärerischer, parlamentarischer und gewerkschaftlicher, im Kern reformistischer, „Tagespolitik“ an.

Dass diese Form der legalen Parteiarbeit und Arbeitsteilung  für Russland nicht möglich war, begünstigte sicher die Entwicklung des Bolschewismus, ließ ihn aber andererseits auch als Sonderentwicklung vor dem Hintergrund der politischen Rückständigkeit Russlands erscheinen, so dass der politische Kampf in der russischen Sozialdemokratie in seiner internationalen, beispielhaften Bedeutung unterschätzt wurde.

Haltung zum liberalen Bürgertum

Für die Entwicklung der politischen Parteien fast noch wichtiger war die zur „Orthodoxie“ verkehrte Vorstellung, dass die sozialistische Revolution einen Reifegrad der Produktivkräfte im nationalen Rahmen voraussetze, die sie deshalb nur in den westlichen Ländern auf die „Tagesordnung“ setze: Länder wie Russland wären überhaupt noch nicht „reif“ für eine sozialistische Umwälzung. Zuerst stünde eine bürgerliche Revolution an, die Beseitigung des Zarismus und Feudalismus. Diese Umwälzung müsse nicht nur die Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus beseitigen, sondern folgerichtig zur politischen Herrschaft der Bourgeoisie führen. Die Aufgabe des Proletariats habe darin zu bestehen, sich einerseits aktiv an der Revolution gegen die Selbstherrschaft zu beteiligen, andererseits die Interessen des Proletariats zu wahren, indem sich die Partei von der Regierung fernhält und die Position der „entschiedenen Opposition“ einnimmt.

Der Menschewismus reklamierte, anders als die Ökonomisten und erst recht als die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie, für sich, auf dem Boden des „orthodoxen Marxismus“ der Zweiten Internationale zu argumentieren, und warf seinerseits anderen Strömungen vor, in den Blanquismus und Voluntarismus zu verfallen und die „Gesetzmäßigkeiten der Geschichte“ zu missachten.

Mit dem russisch-japanischen Krieg 1904 und der ersten russischen Revolution 1905 traten jedoch die Differenzen zwischen Menschewismus und Bolschewismus deutlicher hervor, auch wenn beide vom bürgerlichen Charakter der Revolution ausgingen.

Beide Fraktionen der russischen Sozialdemokratie waren 1904 gegen den Krieg gegen Japan, wie auch ein großer Teil des Bürgertums dieses Abenteuer ablehnte. In der Haltung zum Krieg traten allerdings schon erste wichtige Differenzen zum Vorschein. Der Menschewismus wollte eine pazifistische Opposition zum Krieg, der Bolschewismus trat für die Niederlage des Zarismus ein, weil das die Unzufriedenheit im Land fördern und die Revolution vorantreiben würde. Sinowjew stellt das in seiner Geschichte der KPDSU (B) folgendermaßen dar:

„Die Menschewiki betonten hauptsächlich seinen dynastischen Charakter und erklärten ihn ausschließlich aus dem Bestreben des Hauses Romanow, den Thron dadurch zu festigen, daß sie die Aufmerksamkeit des Volkes von den inneren Ereignissen auf die äußeren abzulenken versuchten. Bis zu einem gewissen Grad war das natürlich richtig. (…) Aber durch das dynastische Moment wurde die Sache nicht erschöpft. Neben dem dynastischen Moment haben in diesem Krieg zweifellos auch rein imperialistische, annexionistische Bestrebungen, der Wunsch, neue Märkte zu erobern usw., eine bedeutende Rolle gespielt. Viele Parteikomitees, die in Rußland tätig waren, betonten gerade diesen Charakter des russisch-japanischen Krieges, aber die Menschewiki bekämpften diesen Gesichtspunkt (…) Und wenn man sich jetzt in die Evolution des Menschewismus hineinversetzt, so muß man sagen, daß schon in dieser Analyse der Ursachen des russisch-japanischen Krieges ein Anzeichen für ihr künftiges politisches Denken enthalten war.“ (3)

Die Unterschiede zwischen Bolschewismus und Menschewismus wurden 1904 vor allem hinsichtlich der Haltung zur liberalen Bourgeoisie deutlich.

Ende 1904 wuchs nicht nur die politische Empörung und Gärung im Land, die Liberalen forderten eine Einschränkung der Herrschaft des Zaren. Auf Banketten und lokalen „Semstwo“-Versammlungen (Volksversammlungen) wurden relativ radikale Reden geschwungen, Petitionen verabschiedet und Forderungen erhoben bis hin zu der nach einer Verfassunggebenden Versammlung. Auf den Vorschlag menschewistischer FührerInnen hin rief die Partei dazu auf, auch außerhalb der liberalen Bankette für breite demokratische Freiheiten und eine Verfassunggebende Versammlung zu demonstrieren. Dagegen hatten die Bolschewiki keine Einwände, wohl aber gegen die Position der Menschewiki, den Liberalen politische Zugeständnisse zu machen, um sie dabei „nicht zu verschrecken“. So heißt es in einem Brief menschewistischer Führer an die Parteiorganisationen vom November 1904:

„Im Rahmen des Kampfes gegen die Selbstherrschaft aber sollte besonders in der jetzigen Phase unsere Haltung gegenüber der liberalen Bourgeoisie darin bestehen, sie generell zu ermutigen und sie zur Unterstützung des von der sozialdemokratischen Bewegung geführten Proletariats zu bewegen.“ (4)

Um zu verhindern, dass große ArbeiterInnendemonstrationen die liberalen und halb-liberalen BürgerInnen einschüchtern, müssten Vorsichtsmaßnahmen durch die Parteiführung getroffen werden: „Um ein solches Fiasko zu vermeiden, muß die Vollzugskommission die liberalen Abgeordneten rechtzeitig über die bevorstehende Kundgebung und ihre wahren Ziele verständigen. Außerdem muss sie versuchen, eine Art Abkommen mit den Vertretern des linken Flügels der bürgerlichen Opposition zu treffen und sich, wenn nicht ihre aktive Unterstützung, so doch wenigstens ihre Sympathie für die politische Aktion zu sichern.“ (5)

Diese servile Haltung gegenüber dem liberalen Bürgertum unterzieht Lenin einer scharfen Kritik. Er kritisiert an den Menschewiki, dass sie der politischen Feigheit der bürgerlichen Kräfte in die Hände spielten, die letztlich nur auf einen Kompromiss mit dem Zaren und der Bürokratie hinarbeiten, um so eine revolutionäre Zuspitzung zu verhindern. Die Bolschewiki lehnten eine Zusammenarbeit und Bündnisse mit liberalen, bürgerlich-demokratischen Kräften gegen den Zarismus keineswegs ab. Aber sie lehnten es ab, das demokratische Programm selbst für ein solches Bündnis abzuschwächen, den Bedürfnissen einer bürgerlichen „Opposition“ anzupassen, die keinen konsequenten Kampf gegen den Zarismus führen wollte. Kurz gesagt, die Menschewiki ließen die ArbeiterInnen über den Charakter des russischen Bürgertums im Unklaren, das historisch schon nicht mehr fähig und willens für einen konsequenten Kampf für die bürgerliche Revolution war. Dies, so Lenin, sei umso fataler, als sich die politische Lage zu einer Konfrontation mit dem Zarismus, zu einer allgemeinen politischen Krise zuspitzte. Der Fokus durfte daher keinesfalls auf ein Bündnis mit Liberalen gelegt werden, die nicht verschreckt werden sollten, sondern auf die Entfachung einer Massenbewegung gegen den Zarismus.

„Die mit gütiger Erlaubnis der Polizei eröffnete Semstwokampagne, die sanften Reden Swjatopolk-Mirskis und der offiziösen Regierungsblätter, die starken Töne der liberalen Presse, die Belebung der sogenannten gebildeten Gesellschaft – all dies stellt die Arbeiterpartei vor die ernstesten Aufgaben. Diese Aufgaben werden jedoch in dem Brief der ‚Iskra‘-Redaktion völlig verkehrt formuliert. Gerade im gegenwärtigen Augenblick muß im zentralen Brennpunkt der politischen Tätigkeit des Proletariats die Organisation einer nachdrücklichen Einwirkung auf die Regierung und nicht auf die liberale Opposition stehen. Gerade jetzt sind Abkommen zwischen den Arbeitern und den Semstwoleuten über eine friedliche Kundgebung – Abkommen, die sich unvermeidlich in bloße possenhafte Effekthascherei verwandeln würden – weniger denn je angebracht, ist der Zusammenschluß der fortgeschrittenen Elemente des revolutionären Proletariats zur Vorbereitung des Entscheidungskampfes um die Freiheit mehr denn je vonnöten. Gerade jetzt, wo unsere konstitutionelle Bewegung die unausrottbaren Sünden jedes bürgerlichen und insbesondere des russischen Liberalismus – das Überwuchern der Phrase, den Mißbrauch des Wortes, das mit der Tat nicht übereinstimmt, das rein philiströse Vertrauen zur Regierung und zu jedem Helden der Fuchspolitik – kraß zu offenbaren beginnt, gerade jetzt sind die Redensarten über die Unerwünschtheit einer Einschüchterung der Herren Semstwoleute, über den Hebel für die Reaktion usw. usf. besonders taktlos. Gerade jetzt ist es am allerwichtigsten, im revolutionären Proletariat die unerschütterliche Überzeugung zu festigen, dass auch die gegenwärtige ‚Befreiungsbewegung in der Gesellschaft‘ sich ebenso wie die früheren unvermeidlich und unweigerlich als Seifenblase erweisen wird, wenn nicht die Macht der Arbeitermassen eingreift, die fähig und bereit sind zum Aufstand.“ (6)

1905

Die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus sollten sich in der Revolution 1905 phasenweise noch deutlicher darstellen. Die erste Russische Revolution zeichnete sich schon 1904 ab, aber wie viele Erhebungen der Massen entzündete sie sich an einem „zufälligen“, alltäglichen Ereignis, dem berühmten Funken, der alles in Brand setzte.

Dieser Funke ging nicht von den SozialdemokratInnen aus, sondern von einer dubiosen Organisation, die auf Initiative des Polizeichefs Subatow zurückging, der die Etablierung prozaristischer Gewerkschaften vorantrieb und der Versammlung der russischen Fabrik- und MühlenarbeiterInnen St. Petersburgs, geführt von dem orthodoxen Priester Vater Georgi Gapon. In der ersten Woche des Jahres 1905 erschütterte ein Streik St. Petersburg. Im Dezember war vier ArbeiterInnen (alle Mitglieder der Organisation Gapons) des Putilow-Waffen- und Schiffsbaubetriebes, einer der wichtigsten Fabriken St. Petersburgs, gekündigt worden. In Gapons Abwesenheit erhoben sich 600 ArbeiterInnen eines Treffens und stimmten für Streik. Er breitete sich schnell aus. Am 4. Januar kam Unterstützung durch andere ArbeiterInnen. Am nächsten Tag folgten die Stieglitz-Fabrik und die Newski-Werft. Am 7. Januar hatten 382 Fabriken und Büros ihre Arbeit niedergelegt – 100.000 ArbeiterInnen, zwei Drittel des St. Petersburger Proletariats, standen im Streik.

Die Revolution brach schließlich mit dem „blutigen Sonntag“ am 9. Januar aus. Eine riesige Demonstration zog durch die Straßen von St. Petersburg. Als die Spitze des Marsches den Palasteingang erreichte, feuerten die Soldaten in die Menge, Hunderte (nach manchen Schätzungen gar 1000) Menschen starben. Als nahezu zeitgleich zwei von Gapons Leibwächtern starben, prägte der Priester den berühmten Ausspruch: „Es gibt keinen Gott mehr! Es gibt keinen Zaren!“.

In der Folge entwickelte sich eine gewaltige Welle des Klassenkampfes, die Revolution weitete sich aus, ergriff die Massen in Stadt und Land. Das Jahr 1905 verzeichnete erfolgreiche Generalstreiks, Bauernaufstände und Landbesetzungen, Studentenrebellionen, nationale Befreiungskämpfe, Meutereien in Armee und Marine, die Entstehung hunderter neuer Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften, die Etablierung von demokratischen Arbeiterkomitees und das Zusammentreten von Arbeiterräten („Sowjets“). Die SDAPR wurde von einer Propagandagruppe zu einer wirklichen Partei des Proletariats.

Der Zar war gezwungen, Zugeständnisse zu machen, und versprach die Einführung von Grundrechten und die Einberufung einer Duma (eines Parlaments). In Wirklichkeit waren das nur Mittel, um Zeit zu gewinnen und die Niederschlagung der Revolution vorzubereiten, die im Dezember mit dem Moskauer Aufstand ihren Höhepunkt erreichte, in dem die Bolschewiki die Führung innehatten. Dieser wurde von der Armee blutig zerschlagen, was zur Konsolidierung der Konterrevolution im Jahr 1906 führte. Zu den Ursachen der Niederlage gehörte sicherlich, dass die internationale Lage weniger zugespitzt war, aber auch, dass die Unzufriedenheit der Bauern geringer und die Zersetzung der Armee weniger fortgeschritten waren als 1917. So konnte die Regierung das Heer wieder einsatzfähig machen und gegen die Revolution nutzen und das Dorf leichter niederhalten, um so schließlich die ArbeiterInnen in den Städten zu besiegen.

Die dramatischen Ereignisse von 1905 waren vor allem aber das historische Vorspiel zur siegreichen sozialistischen Revolution von 1917.

Konzeption der Menschewiki

1905 wurden auch die strategischen, grundlegenden Konzeptionen einer russischen Revolution deutlich. Die Menschewiki gingen dabei vom vorherrschenden Verständnis der Zweiten Internationale aus.

„In den kapitalistisch entwickelten Ländern des Westens hat die Sozialdemokratie mit einer vollausgebildeten, mit einer reifen bürgerlichen Gesellschaft zu tun, in der das Proletariat und die Bourgeoisie einander unmittelbar Auge in Auge einander gegenüberstehen als unversöhnliche feindliche Kräfte; hier ist die Bourgeoisie konservativ und kämpft für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung; das Proletariat ist revolutionär und bestrebt, die Ordnung zu stürzen. In diesen Ländern werden die revolutionären und proletarischen Elemente von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer sozialistischen Revolution vorwärts gedrängt. (…)

Die geschichtliche Situation der Partei Rußlands dagegen wird gekennzeichnet durch gerade entgegengesetzte Tendenzen; diese Situation stellte unserer Partei als hauptsächliche unmittelbare Aufgabe, das Proletariat zu organisieren, nicht um die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, sondern umgekehrt: um mit der Wurzel jene politisch-soziale Ordnung zu zerstören, die der vollen Herrschaft der Bourgeoisie im Wege steht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands sind noch nicht weitergelangt als bis zur Reife für eine bürgerliche Revolution, …“ (7)

Daher wäre ein unmittelbarer Kampf um die politische Macht für das Proletariat, den Menschewiki zufolge, aufgrund der Unreife des Klassengegensatzes  zwischen Kapital und Arbeit ausgeschlossen:

„Bei uns ist ein derartiger Kampf vorläufig ausgeschlossen durch den gesamten Konplex der historischen Bedingungen, die den Inhalt und die unmittelbaren Aufgaben unserer revolutionären Bewegung bestimmten, die nach einem Ausdruck von Marx die Bourgeoisie und das Proletariat durch das ‚gemeinsame Interessen‘ aneinanderschmieden, durch das gemeinsame Bedürfnis, sich vom gemeinsamen Feind zu befreien.“ (8)

Für die Revolution 1905 ergab sich daher zwingend die Schlussfolgerung, dass die politische Macht in der Revolution an die Bourgeoisie übergehen müsse und die ArbeiterInnenklasse nur als „extreme revolutionäre Opposition“ agieren dürfe.

„Unter solchen Bedingungen muß die Sozialdemokratie danach streben, während des ganzen Verlaufs der Revolution für die Aufrechterhaltung einer Situation zu sorgen, die einem Fortschreiten der Revolution am zweckdienlichsten ist. Es muß eine Situation geschaffen werden, in der ihr die Hände im Kampf gegen die inkonsequente und eigennützige Politik der bürgerlichen Parteien nicht gebunden sind und in der sie gleichzeitig vor einem Überlaufen in das Lager der bürgerlichen Demokratie bewahrt bleibt.

Deshalb sollte es nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein, die Macht in einer Provisorischen Regierung zu erobern oder sie mit anderen zu teilen, sondern sie muß eine Partei der extremen revolutionären Opposition bleiben.“ (9)

Zwei Taktiken

Lenin polemisierte scharf gegen diese abwartende Haltung. In „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“ greift er die mechanische Übertragung der Kritik am Bernsteinianismus und am Eintritt in eine parlamentarische Regierung auf die Regierungsfrage in einer Revolution an.

„Wir haben hier einen der bekannten Grundsätze der internationalen revolutionären Sozialdemokratie vor uns. Einen durchaus richtigen Grundsatz. Er wurde zum Gemeinplatz aller Gegner des Revisionismus oder Opportunismus in den parlamentarischen Ländern. Er erhielt das Bürgerrecht als rechtmäßige und notwendige Zurückweisung des ‚parlamentarischen Kretinismus‘, des Millerandismus, des Bernsteinianertums und des italienischen Reformismus im Geiste Turatis. Unsere braven Neuiskristen haben diesen guten Grundsatz auswendig gelernt und wenden ihn eifrig dort an, wo er … völlig unangebracht ist. Kategorien des parlamentarischen Kampfes werden in Resolutionen aufgenommen, die für Verhältnisse geschrieben sind, unter denen es gar kein Parlament gibt. Der Begriff der ‚Opposition‘, der Widerspiegelung und Ausdruck einer politischen Situation ist, in der vom Aufstand niemand ernstlich spricht, wird ganz sinnlos auf eine Situation übertragen, da der Aufstand begonnen hat und alle Anhänger der Revolution über die Leitung des Aufstandes nachdenken und sprechen.“ (10)

Wie die menschewistischen Autoren gehen auch Lenin und die Bolschewiki 1905 davon aus, dass in Russland eine demokratische, bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stehe. Aber Lenin grenzt sich scharf von der im Grunde a-historischen Charakterisierung der russischen Bourgeoisie bei Martow, Axelrod und anderen ab. Diese folgen im Grunde dem einfachen Schema, dass eine bürgerliche Revolution von der Bourgeoisie geführt werden und diese zur politischen Macht bringen müsse.

Ob die Bourgeoisie dazu noch in der Lage ist, ob sie ihre revolutionäre Rolle nicht schon ausgespielt hat, ob es nicht „tiefere“ Ursachen für deren Feigheit gibt, als dass sie von größeren ArbeiterInnendemonstrationen „verschreckt“ werden könnte – diese Fragen stellt sich der Menschewismus erst gar nicht.

Dabei hatten schon Marx und Engels nach der Niederlage der Revolution von 1848 herausgearbeitet, dass das Bürgertum mehr Angst vor den plebejischen Klassen und einer sich herausbildenden ArbeiterInnenklasse hatte als vor der Niederlage gegen die monarchische Konterrevolution. Sie hatte ihre weltgeschichtlich fortschrittliche Rolle ausgespielt, zumal und gerade weil die kapitalistische Produktionsweise schon so fest etabliert war, dass auch Änderungen der Regierungsform dieser nichts anhaben konnten. Der Staatsstreich und das Regime eines Louis Bonaparte perfektionierten den bürgerlichen Staatsapparat, auch wenn  sich Bonaparte zum Kaiser krönen ließ. In Deutschland vollzogen sich die Reichseinigung und die Expansion der Großindustrie unter der Kanzlerschaft Bismarcks – eine Form des Bonapartismus, der eine enge Zusammenarbeit von Großkapital und Großagrariern zugrunde lag.

All dies zeigt, dass – erst recht mit der imperialistischen Epoche – das Bürgertum aufgehört hatte, eine revolutionäre Klasse zu sein.

An diese historischen Erfahrungen knüpft Lenin an. Er tut dies nicht bloß in Form einer generellen Verallgemeinerung der internationalen Entwicklung des Bürgertums und seines Verhältnisses zur Aristokratie, er untersucht insbesondere, wie und warum die russische Entwicklung diese Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck bringt.

Die Agrarfrage ist eine, wenn nicht die  Schlüsselfrage der demokratischen Revolution. Wer den Zaren stürzen will, muss die feudalen und halb-feudalen Verhältnisse am Land beseitigen und die Macht der Großgrundbesitzer brechen. Von diesem Ziel hat sich das Bürgertum längst verabschiedet. Jene Teile des russischen Kapitals, die Eigentum ausländischen Finanzkapitals sind und die maßgeblich zum fieberhaften Ausbau großindustrieller Zentren beigetragen hatten, waren ohnedies immer eng mit der zaristischen Herrschaft und der Staatbürokratie verbunden, die ihnen die Rahmenbedingungen für ihren Erfolg lieferten.

Was die russische Bourgeoisie betraf, so fürchtete diese eine revolutionäre, demokratische Umgestaltung am Land. Sie wollte auf keinen Fall eine politische Konfrontation mit dem adeligen Großgrundbesitz, sondern den Kampf vermeiden und seine Konsequenzen abschwächen, selbst wenn  sich die Bourgeoisie wie in der aufsteigenden Phase der Revolution von 1905 verbal-revolutionär gab.

Gerade deshalb, so Lenin, dürfe die ArbeiterInnenklasse, dürfe die Sozialdemokratie der „Angst“, den Feigheiten der Bourgeoisie keine Zugeständnisse machen, denn deren „Abschwenken“, ihr „Verschrecktwerden“ von der bürgerlichen Revolution sei vielmehr unvermeidlich.

„Die Bourgeoisie wird in ihrer Masse unweigerlich zur Konterrevolution, zur Selbstherrschaft übergehen und sich gegen die Revolution, gegen das Volk kehren, sobald ihre engen eigennützigen Interessen befriedigt sein werden. (…) Es bleibt das ‚Volk‘, das heißt das Proletariat und die Bauernschaft: Allein das Proletariat ist fähig, konsequent bis zu Ende zu gehen, denn es geht weit über die demokratische Umwälzung hinaus. Deshalb eben kämpft das Proletariat in den vordersten Reihen für die Republik und weist mit Verachtung die törichten und seiner unwürdigen Ratschläge zurück, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Bourgeoisie möglicherweise abschwenkt. Die Bauernschaft umfaßt eine Masse halbproletarischer Elemente neben kleinbürgerlichen Elementen. Dieser Umstand macht auch die Bauernschaft unbeständig, so daß das Proletariat genötigt ist, sich zu einer streng klassenmäßigen Partei zusammenzuschließen. Aber die Unbeständigkeit der Bauernschaft ist von der Unbeständigkeit der Bourgeoisie grundverschieden, denn die Bauernschaft ist gegenwärtig nicht so sehr an dem unbedingten Schutz des Privateigentums als vielmehr an der Enteignung des Gutsbesitzerlandes, einer der Hauptformen des Privateigentums, interessiert. Ohne dadurch sozialistisch zu werden, ohne aufzuhören, kleinbürgerlich zu sein, ist die Bauernschaft fähig, zum völligen und radikalsten Anhänger der demokratischen Revolution zu werden, (…) Die Bauernschaft wird unter der erwähnten Bedingung unweigerlich zur Stütze der Revolution und der Republik werden, denn einzig die zum vollen Sieg gelangte Revolution wird der Bauernschaft auf dem Gebiet der Agrarreformen alles zu bieten vermögen: alles das, was die Bauernschaft will, was sie erträumt, was tatsächlich für sie notwendig ist, (nicht um den Kapitalismus zu vernichten, wie sich das die ‚Sozialrevolutionäre‘ einbilden, sondern) um aus dem Schlamm der halben Leibeigenschaft, aus dem Dunkel der Geducktheit und der Knechtschaft emporzusteigen und um ihre Lebensbedingungen so weit zu verbessern, wie das im Rahmen der Warenwirtschaft überhaupt zu erreichen ist.“ (11)

Da die Bourgeoisie die demokratische Revolution nicht zum Sieg führen kann und die ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft ein gemeinsames Interesse haben, die Revolution konsequent zu Ende zu führen, folgt daraus, dass sie ein Bündnis eingehen müssen. Dieses soll durch den Aufstand zu einer Provisorischen, revolutionären Regierung, zur „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ führen.

Die Haltung der Menschewiki, sich in der demokratischen Revolution auf die Rolle der „extremen Opposition“ zu beschränken, führt unweigerlich dazu, die Lösung der Machtfrage der Bourgeoisie zu überlassen. Nachdem diese jedoch die Revolution nicht zu Ende führen will oder kann, früher oder später „abschwenkt“, bedeutet dies auch, die Revolution selbst zu verraten, sie der zaristischen, gutsbesitzerlichen Konterrevolution oder, was letztlich ebenfalls darauf hinausläuft, einem Kompromiss zwischen Zarismus und Bourgeoisie auszuliefern.

Die Polemik Lenins gegen die mechanische Vorstellung einer russischen Revolution durch die Menschewiki offenbart viele grundlegende Stärken des Bolschewismus. Er weist überzeugend nach, dass die Politik der „extremen Opposition“ darauf hinausläuft, dass die ArbeiterInnenklasse eigentlich eine Nachtrabpolitik betreiben muss. Wer in der Revolution keine Machtperspektive hat, kann den Sieg nur anderen überlassen. Statt zu überlegen, wie die ArbeiterInnenklasse, geführt von der Sozialdemokratie, zur hegemonialen Kraft werden kann, schlägt sich der Menschewismus mit der Frage herum, ob die ArbeiterInnenklasse überhaupt ohne Bourgeoisie siegen dürfe.

Im Versuch Lenins, eine eigenständige, aktive Politik in der „demokratischen Revolution“ zu verfolgen, knüpft er an die Kritik am Ökonomismus an, weist nach, dass die Menschewiki gewissermaßen dessen Stellung eingenommen hätten. Anders als später der Stalinismus ist Lenins Konzeption von der Zielsetzung geprägt, eine eigenständige, revolutionäre ArbeiterInnenpolitik zu formulieren.

Aber seine strategische Konzeption bleibt an einem wesentlichen Punkt im Schematismus der Zweiten Internationale befangen. Da die Revolution eine demokratische sei und Russland ein Bauernland, könne die Revolution nicht unmittelbar zu einer sozialistischen übergehen.

„Nur das Proletariat ist fähig, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen. Schließlich steht außer Zweifel, daß auch bei uns in Russland der Erfolg des Bauernkampfes, d. h. der Übergang des gesamten Grund und Bodens an die Bauernschaft, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeuten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein wird, keineswegs aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die ‚Sozialisierung‘, von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, reden. Der Erfolg des Bauernaufstandes, der Sieg der demokratischen Revolution wird erst den Weg ebnen zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik.“ (12)

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Konzeption selbst von einem tiefen inneren Widerspruch geprägt ist. Die Revolution von 1905 wurde jedoch geschlagen, bevor die Unzulänglichkeiten dieser Formel wie auch der Konzeption des Menschewismus mit allen Konsequenzen praktisch sichtbar wurden.

Es ist aber kein Wunder, dass 1917, nach der Februarrevolution, viele bolschewistische Kader weiter von dieser Konzeption geprägt waren und diese umzusetzen versuchten.

Permanente Revolution

1905 wurde aber auch eine dritte Konzeption der russischen Revolution entwickelt, die Theorie der Permanenten Revolution. Diese wurde von Leo Trotzki, damals in enger Zusammenarbeit mit Parvus, entwickelt. (13)

Trotzkis „Permanente Revolution“ knüpfte an frühe Überlegungen von Marx, wie sie auch im Kommunistischen Manifest zu finden sind. Dies enthält  schon erste Vorstellungen eines Übergangsprogramms, das die schematische Vorstellung in Frage stellt, dass zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Umwälzung eine lange, eigenständige Entwicklungsperiode liegen müsse, wie sie aus Lenins Schriften 1905 durchaus zum Vorschein kommt und wie sie später in der „Etappentheorie“ des Stalinismus, im Grunde eine Neuauflage der menschewistischen Vorstellungen der bürgerlichen Revolution, formuliert wurde.

Marx entwickelt zudem schon in den Briefen an Sassulitsch (14) Grundlagen der Theorie der ungleichzeitigen und kombinierten Entwickelung. Diese Schriften waren jedoch 1905 nicht öffentlich zugänglich und Trotzki nicht bekannt.

Trotzki stieß zur Entwicklung der Theorie der Permanenten Revolution, indem er die „Eigenheiten“ der Entwicklung in Russland im Zusammenhang mit einer russischen Revolution zu Ende zu denken versuchte und diese von vornherein in den internationalen Kontext stellte.

Wie auch Lenin ging er davon aus, dass die Bourgeoisie zur Führung der demokratischen Revolution schon nicht mehr bereit gewesen sei, dass sie ihr revolutionäres Potential erschöpft habe, bevor der Zarismus abgetreten war. Trotzki sieht die verspätete, ungleiche Entwicklung des Kapitalismus in Russland als eine der zentralen Ursachen für eine besonders unrevolutionäre Bourgeoisie:

„Der russische Absolutismus entwickelte sich unter dem unmittelbaren Druck der westlichen Staaten. Er eignete sich deren Verwaltungs- und Herrschaftsmethoden sehr viel früher an, als es der kapitalistischen Bourgeoisie gelang, sich auf dem Boden einer nationalen Wirtschaft zu entwickeln. Der Absolutismus verfügte bereits über ein riesiges stehendes Heer und einen zentralisierten bürokratischen und fiskalischen Apparat und machte untilgbare Schulden bei europäischen Bankiers zu einer Zeit, als die russischen Städte noch eine ökonomisch völlig untergeordnete Rolle spielten.

Das Kapital drang mit der direkten Unterstützung des Absolutismus von Westen her ein und verwandelte in kurzer Zeit eine Reihe alter archaischer Städte in Zentren von Industrie und Handel, ja es schuf solche Handels- und Industriestädte an Stellen, die vorher gänzlich unbewohnt waren. Dies Kapital trat oft ganz plötzlich in der Gestalt großer unpersönlicher Aktiengesellschaften auf. In dem Jahrzehnt des industriellen Aufschwungs zwischen 1893 und 1902 nahm das Grundkapital der Aktiengesellschaften um 2 Mrd. Rubel zu, wohingegen es sich von 1854 bis 1892 um nur 900 Millionen Rubel erhöht hatte. Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert, und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom ,Volk‘ isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.“ (15)

Lenin und der Bolschewismus bleiben jedoch, anders als Trotzki, einer schematischen Vorstellung der demokratischen Revolution verhaftet, indem sie jede Möglichkeit kategorisch bestritten, dass die ArbeiterInnenklasse die Eigentumsverhältnisse umwandeln könne. Das würde nur zu einem voluntaristischen „Überdehnen“ der Revolution führen. Es ist daher kein Wunder, dass  das Programm der „demokratischen Diktatur“ zwar auch wichtige Forderungen der Lohnabhängigen enthielt wie den Acht-Stunden-Tag, jedoch nicht über ein radikales bürgerlich-demokratisches Programm hinausging.

1906 stellte Trotzki seine Konzeption in „Ergebnisse und Perspektiven“ systematisch dar. Er wendet sich dabei offen gegen den vorherrschenden Schematismus bezüglich des Charakters der russischen Revolution:

„Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Kapitalismus. In diesem Sinne ist die Entwicklung des Kapitalismus gleichbedeutend mit der Entwicklung des Proletariats zur Diktatur hin. Aber Tag und Stunde, an denen die Macht in die Hände der Arbeiterklasse übergeht, hängen nicht unmittelbar vom Stand der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft … Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land. 1871 nahm es bewußt die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in seine Hände, allerdings nur für die Zeit von zwei Monaten –  aber nicht für eine einzige Stunde ergriff es die Macht in den großen kapitalistischen Zentren Englands oder der Vereinigten Staaten. Die Vorstellung, daß die proletarische Diktatur irgendwie automatisch von den technischen Kräften und Mitteln eines Landes abhinge, ist das Vorurteil eines bis ins Extrem vereinfachten ‚ökonomischen‘ Materialismus. Mit Marxismus hat eine solche Auffassung nichts gemein. Unserer Ansicht nach wird die Russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muß sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“ (16)

Diese Möglichkeit, so Trotzki, wird durch die Entwicklung des Kapitalismus in Russland selbst begünstigt. Einerseits kommt die Bourgeoisie spät und bleibt, auch wegen ihre Abhängigkeit von Investitionen aus anderen Ländern, politisch und gesellschaftlich schwach. Das Proletariat ist hingegen hochkonzentriert und, trotz seiner im Vergleich zur Landbevölkerung geringen Größe, eine sehr kompakte soziale Klasse. Die politischen Implikationen sind folgende:

„Deshalb kommt diesem hier eine riesige politische Bedeutung zu; deshalb auch ist in Rußland der Kampf um seine Befreiung von dem erdrückenden Polypen des Absolutismus zu einem Zweikampf zwischen diesem und der Industriearbeiterklasse geworden, zu einem Zweikampf, in dem die Bauernschaft eine bedeutende Unterstützung gewähren, in dem sie aber keine führende Rolle spielen kann.“ (17)

Und weiter:

„In der Revolution des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ihren unmittelbaren objektiven Aufgaben nach ebenfalls eine bürgerliche ist, zeichnet sich als nächste Perspektive die Unvermeidbarkeit oder doch wenigstens die Wahrscheinlichkeit der politischen Herrschaft des Proletariats ab. Daß diese Herrschaft nicht auch lediglich eine vorübergehende ‚Episode‘ sein wird, wie es manche realistische Philister hoffen, dafür wird das Proletariat sicher selber sorgen. Aber selbst jetzt schon kann man sich die Frage stellen: Muß die Diktatur des Proletariats zwangsläufig an den Schranken der bürgerlichen Revolution zerbrechen, oder aber kann sie unter den gegebenen weltgeschichtlichen Bedingungen die Perspektive eines Sieges entdecken, nachdem sie diesen beschränkten Rahmen gesprengt hat? Und hier ergeben sich für uns taktische Fragen: Sollen wir bewußt auf eine Arbeiterregierung in dem Maße zusteuern, in dem uns die revolutionäre Entwicklung dieser Etappe näher bringt, oder aber müssen wir in diesem Moment die politische Macht als ein Unglück betrachten, das die Revolution den Arbeitern aufbürden will und dem man besser aus dem Wege geht?“ (18)

Für Trotzki hat die Revolution 1905 auf diese Frage eine Antwort geliefert:

Die ArbeiterInnenklasse kann, ja muss unter deren spezifischen Bedingungen, zur führenden Kraft der Revolution werden. Um diese demokratische Revolution konsequent zu Ende zu führen, darf sie sich jedoch nicht auf deren demokratische Aufgaben beschränken, sondern muss auch die eigenen Klasseninteressen des Proletariats verfolgen, selbst zur führenden Kraft im Bündnis mit der Bauernschaft werden. Anstelle der „demokratischen Diktatur“ Lenins tritt jedoch die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats ist.

Auch wenn das Proletariat numerisch die kleinere Klasse als die Bauernschaft darstellt, so ändert das nichts daran, dass letztere als kleinbürgerliche Klasse gezeigt hat, dass sie zwar zur revolutionären Aktion, nicht jedoch zu einer selbstständigen Politik in der Lage ist, die ein Land neu organisieren kann.

Daher unterscheidet sich Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“ auch programmatisch vom Menschewismus und Bolschewismus des Jahres 1905.

„Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist – es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muß man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne – nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat -, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken. Selbst eine nur vorübergehende politische Herrschaft des Proletariats wird den Widerstand des Kapitals, das immer der Unterstützung durch die Staatsgewalt bedarf, schwächen und dem ökonomischen Kampf des Proletariats grandiose Dimensionen verleihen. Die Arbeiter können gar nicht anders, als von der revolutionären Macht die Unterstützung der Streikenden zu verlangen, und die Regierung, die sich auf die Arbeiter stützt, kann diese Hilfe nicht versagen. Das aber heißt, den Einfluß der Reservearmee der Arbeit lähmen, und ist gleichbedeutend mit der Herrschaft der Arbeiter nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich und bedeutet die Verwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in eine Fiktion. Diese unvermeidlichen sozial-ökonomischen Folgen der Diktatur des Proletariats werden sehr schnell eintreten, noch lange bevor die Demokratisierung der politischen Ordnung beendet ist. Die Schranke zwischen dem ‚minimalen‘ und dem ‚maximalen‘ Programm verschwindet, sobald das Proletariat die Macht erlangt.“ (19)

Das Überleben und die Entwicklung eines solchen Regimes ist zugleich mit einer entschlossenen Lösung der Agrarfrage verbunden und dieser Aspekt ist in den Rahmen der internationalen Revolution einzubetten:

„Sollte sich das russische Proletariat an der Macht befinden, wenn auch nur infolge eines zeitweiligen Aufschwungs unserer bürgerlichen Revolution, so wird es der organisierten Feindschaft seitens der Weltreaktion und der Bereitschaft zu organisierter Unterstützung seitens des Weltproletariats gegenüberstehen. Ihren eigenen Kräften überlassen, wird die Arbeiterklasse Rußlands unvermeidlich in dem Augenblick von der Konterrevolution zerschlagen werden, in dem sich die Bauernschaft von ihr abwendet. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als das Schicksal ihrer politischen Herrschaft und folglich das Schicksal der gesamten russischen Revolution mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in Europa zu verknüpfen.“ (20)

Zweifellos hat die Theorie der Permanenten Revolution mehr als jede andere Konzeption die Ursachen, Grundlagen und die strategische Ausrichtung der Oktoberrevolution von 1917 vorausgesehen und bestimmt. Trotzki selbst weist im Vorwort zu dieser Schrift 1919 darauf hin, dass sich seine Position in denen des Bolschewismus von 1917 nach der Annahme der Aprilthesen wiederfinde, dass die Geschichte die Theorie der Permanenten Revolution bestätigt habe.

Er verweist auch zu Recht darauf , dass Bolschewismus und Menschewismus 1905 von einem engen schematischen Verständnis der „bürgerlichen Revolution“ ausgingen, was natürlich auch programmatische Auswirkungen gehabt habe: Beide gingen über ein demokratisches Programm nicht hinaus.

Rolle der Räte

Diese Konzeption einer russischen Revolution erklärt aber auch, warum für Menschewismus und Bolschewismus die Rolle der Arbeiterräte 1905 politisch unterentwickelt blieb. Teile der Bolschewiki standen am Beginn der Revolution – im Gegensatz zu Lenin und Bogdanow – den Sowjets überhaupt  skeptisch, sogar ablehnend gegenüber.

Aber auch in Lenins Auffassung von der Rolle der Arbeiterräte spiegelten sich noch Ende 1905 die Schwächen der „demokratischen Diktatur“ wider. Einerseits bestimmt er in „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“ die Aufgabe des Exekutivkomitees der Sowjets, sich zu einer „Provisorischen revolutionären Regierung“ zu proklamieren. Aber er hält ihn zugleich auch für eine zu enge Organisation, die um VertreterInnen der Soldaten, Bauern, der revolutionären Intelligenz und aller revolutionären Demokraten ergänzt werden müsse.

„Wir fürchten eine solche Breite und Buntscheckigkeit der Zusammensetzung nicht, sondern wünschen sie, denn ohne Vereinigung des Proletariats und der Bauernschaft, ohne Kampfgemeinschaft der Sozialdemokraten und der revolutionären Demokraten ist ein voller Erfolg der großen russischen Revolution unmöglich. Das wird ein zeitweiliges Bündnis zur Lösung der klar umrissenen nächsten praktischen Aufgaben sein; die noch wichtigeren, grundlegenden Interessen des sozialistischen Proletariats, seine Endziele, aber werden von der selbstständigen und prinzipienfesten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands unbeirrt wahrgenommen werden.“ (21)

Lenin hebt zwar die große Bedeutung der Räte hervor. Er betrachtet sie aber nicht als  Formen für eine zukünftige gesellschaftliche Ordnung oder Kernformen der proletarischen Selbstorganisation. Diesen Gedanken lehnt er vielmehr in „Sozialismus und Anarchismus“ (22) explizit ab. Den Aufstand, der zur Diktatur der Arbeiter und Bauern führen sollte, stellte er sich vor allem als Aufstand vor, der von der Partei initiiert und geführt wird. Die Räte spielten für ihn nur eine Rolle als zusätzliche Aktionsorgane für die demokratische Umwälzung, nicht als Formen der Organisation einer zukünftigen gesellschaftlichen Ordnung.

Das ist kein Wunder. Auf dem Boden einer demokratischen Revolution, die den Kapitalismus nicht abschaffen soll/kann, gibt es auch keine längerfristige Existenzberechtigung für ArbeiterInnenräte, allenfalls einen gesellschaftlich untergeordneten Platz.

Wie Marx in der Analyse der Pariser Commune zu Recht schreibt, ist die Commune eine Form der ArbeiterInnenregierung, eines proletarischen Halbstaates, auf dessen Basis die Befreiung der ArbeiterInnenklasse nur vor sich gehen kann. Trotzki greift 1905/6 dies auf, indem er darauf hinweist, dass die Räte die zukünftige Form sind, auf die sich eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung stützen muss. Daher verbindet er die Aufstandsfrage auch viel enger als die Bolschewiki mit der Frage des Generalstreiks – und umgekehrt diese Frage viel enger mit der Machtfrage als beispielsweise Rosa Luxemburg.

Wie Trotzki selbst anerkennt, erwies sich seine geniale Konzeption an einem entscheidenden Punkt als falsch. Er unterschätzte damals die Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus, wie überhaupt die Differenzen innerhalb der sozialistischen Bewegung. Er ging vielmehr davon aus, dass der Druck der revolutionären Ereignisse die Sozialdemokratie dazu zwingen würde, den Weg für den Kampf um eine ArbeiterInnenregierung zu beschreiten.

Die Theorie der Permanenten Revolution – so richtig und bahnbrechend sie war – war noch nicht frei von einem Objektivismus. Folglich verkannte er den grundlegenden Unterschied zwischen Bolschewismus und Menschewismus.

Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass diesem Verkennen auch  eine gewisse Konvergenz der Politik von Menschewiki und Bolschewiki im Laufe des Jahres 1905 zugrunde lag. Trotzki wurde Redakteur der menschewistischen Zeitung „Nachalo“ und prägte mehr und mehr deren Blattlinie, sehr zum Leidwesen von Martow und anderen prominenten Menschewiken (23). Das spiegelte eine Radikalisierung der ArbeiterInnenavantgarde wider, die  in der gesamten Sozialdemokratie stattfand. So ging z. B. die Gründung des Petersburger Sowjets im Oktober 1905 sogar auf menschewistische Initiative zurück.

Und schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass gegen Ende des Jahres der Druck auf eine Vereinigung der Sozialdemokratie immer größer wurde und die Bolschewiki offensiv für diese eintraten (24).

1917 korrigiert Trotzki selbst diesen schweren zentristischen Fehler und bewertete auch die Politik von Menschewiki und Bolschewiki in der ersten russischen Revolution neu:

„Die Menschewiki waren so fanatisch darauf aus, eine führende bürgerliche Demokratie zu finden, damit der ‚gesetzmäßige‘ bürgerliche Charakter der russischen Revolution sichergestellt sei, daß sie es während der Revolution, als keine führende bürgerliche Demokratie in Erscheinung trat, selbst mehr oder minder erfolgreich übernahmen, deren Pflichten zu erfüllen. (…)

Umgekehrt war der Bolschewismus nicht im geringsten angesteckt vom Glauben an die Macht und die Kraft einer revolutionären bürgerlichen Demokratie in Rußland. Er erkannte von Anfang an die entscheidende Bedeutung der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution, aber sein Programm beschränkte er in der ersten Zeit auf die Interessen der Millionen bäuerlicher Massen, ohne – und gegen die – die Revolution vom Proletariat nicht zu Ende geführt werden konnte. Daher die (einstweilige) Anerkennung des bürgerlich-demokratischen Charakters der Revolution.“ (25)

Wie die Auseinandersetzungen 1917 zeigten, war es für die Bolschewistische Partei, wenn auch erst nach inneren Kämpfen, möglich, sich von diesem Schema zu befreien. Dieser Übergang zum Kurs auf die sozialistische Revolution wäre unmöglich gewesen, wenn die inneren Widersprüche der Konzeption nicht über sie hinaus gedrängt hätten und die Partei nicht in der Lage gewesen wäre, ihre Politik anhand von Analyse und Erfahrung zu korrigieren.

Schließlich versuchten die Bolschewiki schon 1905 die Revolution auf der Basis einer unzulänglichen Theorie  voranzutreiben, die ArbeiterInnenklasse zur führenden Kraft der Massen zu machen und dabei eine eigenständige Klassenpolitik zu vertreten. Darin lag ihr grundlegend revolutionärer Impuls.

Das darf aber nicht über die tiefe Verwurzelung der Konzeption der „demokratischen Revolution“ in der Theorie der Zweiten Internationale und die inneren Widersprüche der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ hinwegtäuschen, die sich nicht einfach „organisch“ überwinden ließen, sondern einen inneren Bruch in der Entwicklung der Bolschewismus erforderten. Dieser war jedoch nicht nur ein Resultat der russischen Entwicklung. Der Ausbruch der Ersten Weltkrieges und der Verrat der Sozialdemokratie stellten vielmehr grundsätzlich die Frage nach der Neubestimmung revolutionärer ArbeiterInnenpolitik, der sich der Bolschewismus konsequenter und folgerichtiger als jede andere Kraft stellte.

Wandel des Bolschewismus im Krieg

Seit 1903, seit der ersten Spaltung der russischen Sozialdemokratie, stand der Bolschewismus am linken Flügel der Sozialistischen Internationale. Das wurde auch im Auftreten auf Kongressen deutlich, insbesondere am Stuttgarter Kongress 1907, der im Gefolge der russischen Revolution auch einen Höhepunkt des Agierens des linken Flügels in der Zweiten Internationale darstellte.

Lenin und die Bolschewiki betrachteten außerdem die opportunistischen Tendenzen in den europäischen sozialistischen Parteien oder gar den Labour-Parteien in Britannien und Australien keineswegs unkritisch. Wie die Mehrheit der russischen Sozialdemokratie – also auch die Mehrheit der Menschewiki und erst recht Rosa Luxemburgs Sozialdemokratie Polens und Litauens – standen sie am linken Flügel der Sozialistischen Internationale.

Lenin und die Bolschewiki sahen sich dabei jedoch eher als die Vertreter des „orthodoxen“, von Kautsky maßgeblich ideologisch geprägten Teils der Zweiten Internationale in Russland denn als eigene Strömung. Für Lenin (und auch für Trotzki) war Kautsky eine bedeutende politische Autorität, eine Art „Lehrmeister“ in theoretischen und ideologischen Fragen. Er galt als theoretischer und programmatischer Inspirator einer ganzen Generation von MarxistInnen. Das Erfurter Programm, dessen Grundsatzabschnitt er verfasst hatte, galt als Modell sozialistischer Programme. Kautsky genoss innerhalb der Internationale eine enorme Autorität, die nach 1905 kurzfristig noch zunahm,  er selbst rückte nach links.

Seine Broschüre „Der Weg zur Macht“ stellte einen Referenzpunkt für alle Linken in der Zweiten Internationale dar, nicht zuletzt, weil sie den Beginn einer revolutionären Periode begründete, die die Machtfrage aufwerfen würde. Die Rechten in der Sozialdemokratie betrachteten die Broschüre als Kampfansage, weil sie mit gutem Grund als eine Absage an die Vorstellung einer weiteren friedlichen, graduellen Entwicklung des Kapitalismus betrachtet wurde, die den Boden für eine Fortführung der im Kern längst reformistischen Gewerkschafts- und Wahlpolitik abgab.

All das erklärt, warum die Schwächen des Kautskyianismus auch den Linken in der Sozialdemokratie, einschließlich Lenins und Trotzkis, vor dem Ersten Weltkrieg wenig bewusst wurden. Rosa Luxemburg erkannte zweifellos schon Jahre vor Lenin viele der Übel in der deutschen Sozialdemokratie und durchschaute auch Kautskys Tendenzen zum Versöhnlertum, zur Rechtfertigung der alles andere als revolutionären Alltagspraxis der Partei und der Gewerkschaften mithilfe marxistischer Phrasen.

Vor dem Ersten Weltkrieg trat der Gegensatz der revolutionären Linken und des „marxistischen Zentrums“ um Kautsky in der deutschen Sozialdemokratie offen zu Tage. Einen Höhepunkt bildete die Generalstreikdebatte zwischen Luxemburg und Kautsky 1910 in der Kontroverse um die Generalstreikstaktik, um Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie (26). In dieser Kontroverse ergriff Lenin jedoch nicht die Seite Luxemburgs, sondern Kautskys (27).

Lenins grundlegend falsche Einschätzung wurde zweifellos dadurch mitverursacht, dass er die Debatte vor allem durch die Brille des Fraktionskampfes in Russland betrachtet und orthodox klingende Formulierungen Kautskys für bare Münze nahm.

Zum anderen darf aber nicht übersehen werden, dass die Kautsky`sche Lesart des Marxismus und überhaupt das Sein der Zweiten Internationale  Lenins Verständnis des Marxismus selbst geprägt hatten. Das Insistieren darauf, dass eine Russische Revolution demokratischen Charakter haben müsse, verdeutlicht, dass auch die Theorie des Bolschewismus von dieser „Orthodoxie“ durchdrungen war. Andererseits verweist das Bestehen darauf, dass die Sozialdemokratie eine Antwort auf die Machtfrage einer russischen Revolution, unabhängig von der Bourgeoisie, geben müsse, auf die Tendenz, über die Formel der „demokratischen Diktatur“ hinauszugehen.

Ähnliche Widersprüchlichkeiten einer unvollständigen Ablösung von dem mechanischen Materialismus und der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale finden sich bei Trotzki und Luxemburg. Luxemburg bekämpft zwar viel früher als Lenin nicht nur die Rechten, sondern auch das „marxistische Zentrum“ – aber sie versäumt es umgekehrt im Gegensatz zu den Bolschewiki, dem Kampf eine politisch-programmatische und organisatorische Form zu geben und eine eigene Fraktion aufzubauen.

Trotzki entwarf mit der „Theorie der Permanenten Revolution“ eine geniale Einschätzung und Vorwegnahme der Dynamik der Revolutionen der 20. Jahrhunderts – andererseits spielte er vor dem Ersten Weltkrieg eine beschämende Rolle bei der Bildung prinzipienloser Blöcke gegen den Bolschewismus.

Der Bolschewismus nimmt gegenüber allen anderen Flügeln der Linken in der Zweiten Internationale insofern eine Sonderstellung ein, als er sich seit 1903 de facto als eigene fraktionelle Strömung auf Basis politisch-programmatischer Grundsätze formierte (28).

Dieser Formierung liegen – bei all ihren organisatorischen Wendungen, taktischen Änderungen – zwei Elemente zugrunde, die ihrerseits eine unerlässliche Voraussetzung dafür boten, dass die Bolschewiki eine proletarische Revolution zum Sieg führen konnten:

  • erstens das Bestehen auf einer programmatisch bestimmten Klarheit der politischen Konzeption;
  • zweitens das Konzept einer darauf aufbauenden Kampfpartei, einer Partei von politisch bewussten, aktiven Mitgliedern.

Imperialismus

Schon vor 1914 bereitete sich der Bruch des Bolschewismus mit der verknöcherten Konzeption der Zweiten Internationale vor. Der Verrat der Zweiten Internationale und deren Überlaufen in das Lager der imperialistischen Bourgeoisien erforderten jedoch eine bewusste politische „Umrüstung“ des politischen Arsenals aller revolutionären MarxistInnen. Standen vor 1914 oft die Fragen des Charakters einer künftigen russischen Revolution, der revolutionären Taktik im Kampf gegen die Selbstherrschaft im Zentrum der bolschewistischen Diskussion und der Schriften Lenins, wurde nun erforderlich, alle Fragen vom Standpunkt der internationalen Revolution zu betrachten. Der Bolschewismus musste sich deshalb als internationale Strömung konstituieren.

Schon vor 1914 hatten verschiedene sozialistische TheoretikerInnen einen Wandel des Kapitalismus konstatiert. Der erste marxistische Theoretiker, der versuchte, diese neuen, Epoche machenden Veränderungen auf den Begriff zu bringen, war Rudolf Hilferding im „Finanzkapital“ (29). Auch Rosa Luxemburg versuchte schon vor dem Ersten Weltkrieg in „Die Akkumulation des Kapitals“ (30) die veränderte Lage auf den Punkt zu bringen und entwickelte eine eigene Krisen- und Imperialismustheorie.

Der Erste Weltkrieg und das Versagen der ArbeiterInnenbewegung zwangen in jedem Fall auch den Bolschewismus, der Frage nachzugehen, welche Faktoren zum Ausbruch des Krieges geführt hatten, welchen Charakter dieser hatte und welche Implikationen dies für die Zukunft des Kommunismus und eine Neubestimmung des revolutionären Marxismus hat. Schon in den ersten Arbeiten zum Krieg, wird der Erste Weltkrieg als imperialistischer Krieg bestimmt, als Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.

„Der Europa und die ganze Welt erfassende Krieg trägt den klar ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Krieges. Der Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Inneren der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges.“ (31)

In den weiteren Schriften und insbesondere in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ versucht Lenin knapp, seine Sicht des Imperialismus als eine neue Epoche, eine Entwicklungsphase des Kapitalismus als Weltsystem herzuleiten. Aus der Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals entsteht an einer bestimmten Entwicklungsstufe eine neue Form des Kapitalismus, das Finanzkapital. Dieses wird bei Lenin nicht im landläufigen Sinne als „Finanz“ bestimmt, sondern als Verschmelzung von Industrie- und Banken- oder zinstragendem Kapital unter der Dominanz des letzteren. Imperialismus bedeutet aber auch eine bestimmte globale „Ordnung“, eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus nicht nur auf ökonomischer Ebene, sondern als Gesellschaftsform.

Die Welt ist unter Großmächte, die ihrerseits vom jeweiligen nationalen Finanzkapital ökonomisch dominiert werden, aufgeteilt. Eine Veränderung der Kräfteverhältnisse, eine Neuaufteilung kann daher nur erfolgen durch die ökonomische Konkurrenz und politische, letztlich auch durch militärische Konfrontation.

Im September 1914 traten die Bolschewiki mit einer umfassenden Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Aufgrund dieser Einschätzung und im Zusammenhang mit den Kongressen der Zweiten Internationale vor dem Krieg entwickeln Lenin und die Bolschewiki die Position, dass der imperialistische Krieg zu einem Bürgerkrieg gegen die kapitalistische Herrschaft zu entwickeln sei und dass der Kampf gegen den Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setze:

„Die Bourgeoisie aller Nationen betrügt die Massen, indem sie den imperialistischen Raubzug mit der alten Ideologie des ,nationalen Krieges‘ verbrämt. Das Proletariat entlarvt diesen Betrug und verkündet die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (32)

Lenin verbindet diese politische Stoßrichtung mit einer Analyse des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche: „Der Krieg ist kein Zufall, keine,Sünde‘, wie die christlichen Pfaffen glauben (die nicht schlechter als die Opportunisten Patriotismus, Humanität und Frieden predigen), er ist vielmehr eine unvermeidliche Etappe des Kapitalismus, eine ebenso gesetzmäßige Form des kapitalistischen Lebens wie der Frieden. Der Krieg unserer Tage ist ein Volkskrieg. Aus dieser Wahrheit folgt indes nicht, dass man mit dem ,Volks’strom des Chauvinismus schwimmen soll, sondern daß die Klassengegensätze, von denen die Völker zerfleischt werden, auch zur Kriegszeit, auch im Krieg und dem Krieg angepaßt, fortbestehen und in Erscheinung treten werden. Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum von unbewaffnetem Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, ein Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne erbitterten Bürgerkrieg oder eine Reihe solcher Kriege. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit.“ (33)

Hier formuliert Lenin knapp die politische Ausrichtung der Bolschewiki als Aufgabe aller RevolutionärInnen. Sie besteht in der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg gegen die eigenen herrschende Klasse, in dessen Umwandlung zu einer internationalen sozialistischen Revolution.

Das ist der Sinn und Gehalt des „revolutionären Defaitismus“. Es geht nicht „nur“ darum, den Krieg zu beenden, sondern Lenin sieht die einzige realistische Chance, die Interessen der ArbeiterInnenklasse zu wahren, darin die globale Machtfrage, die der Krieg selbst als Kampf um die Neuaufteilung der Welt aufwirft, zu beantworten.

Pazifistische Programme, Programme, die den Kampf gegen Imperialismus und Krieg nicht mit dem für den Sozialismus verbinden, sind letztlich Programme, die zur Nachtrabpolitik hinter einen Flügel der imperialistischen Bourgeoisie und damit auch zum Versöhnlertum mit den Sozialchauvinisten führen.

Der revolutionäre Defaitismus als internationale Politik des Proletariats im Weltkrieg bedeutet auch, dass die „Vaterlandsverteidigung“ eine reaktionäre Parole geworden ist, selbst in Ländern, die für sich betrachtet Opfer der Politik der Großmächte wurden (Serbien, Belgien). Ihre „nationalen Rechte“ sind in dem Gesamtkontext des Krieges von untergeordnetem Rang, und sie zu vertreten, würde ein Absinken in den Sozialchauvinismus bedeuten, weil die „Verteidigung“ Belgiens selbst nur  eine Rechtfertigung der imperialistischen Ziele der Entente war.

Minimal- und Maximalprogramm

Lenins Verbindung der Kriegsfrage mit dem Kampf um die sozialistische Revolution darf aber nicht als ein Fallenlassen der Forderungen des Minimalprogramms missverstanden werden. Vielmehr zeichnet sich bei ihm und der bolschewistischen Politik im Krieg eine Überwindung der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm ab:

„Für die Bourgeoisie ist die Proklamation der gleichen Rechte aller Nationen zu einem Betrug geworden. Für uns wird sie eine Wahrheit sein, durch die wir den Anschluss und die Beschleunigung der Gewinnung aller Nationen für die Revolution bewerkstelligen werden. Ohne effektiv demokratisch organisierte Verhältnisse zwischen den Nationen, ohne die Freiheit zur Abtrennung ist der Bürgerkrieg der ArbeiterInnen und der arbeitenden Klassen aller Nationen gegen die Bourgeoisie unmöglich.“ (34)

Lenin verteidigt gegen Luxemburg und ultra-linke Teile der Bolschewiki, dass z. B. der Kampf um das nationale Selbstbestimmungsrecht weiter Bestandteil des revolutionären Programms bleibt, ja in gewisser Weise sogar wichtiger wird als zuvor.

„Das Proletariat der unterdrückenden Nationen kann sich mit den allgemeinen, schablonenhaften, von jedem Pazifisten wiederholten Phrasen gegen Annexionen und für die Gleichberechtigung der Nationen überhaupt nicht begnügen. Das Proletariat kann nicht an der für die imperialistische Bourgeoisie besonders ‚unangenehmen‘ Frage der Grenzen des Staates, die auf nationaler Unterjochung beruhen, stillschweigend vorbeigehen. Es kann sich des Kampfes gegen die gewaltsame Zurückhaltung der unterjochten Nationen in den Grenzen des vorhandenen Staates nicht enthalten, und eben dies heißt für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen kämpfen. Das Proletariat muss die Freiheit der politischen Abtrennung der von ‚seiner‘ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern“ (35)

Der irische Aufstand 1916, Rebellionen und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonialvölker sind für Lenin Bestandteil des Klassenkampfes. Die ArbeiterInnenklasse hat ein Interesse, sie zu fördern, zu unterstützen, um so die imperialistischen Bourgeoisien zu schwächen. Die Unterstützung von Kämpfen unterdrückter Nationen ist ein integraler Bestandteil des „revolutionären Defaitismus“, ein Moment der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie.

Das trifft, wie Lenin immer wieder betont, auch auf andere demokratische Fragen zu, nicht nur jene der kolonialen Unterdrückung. In der gesamten imperialistischen Epoche gibt es eine grundlegende Tendenz zur Einschränkung demokratischer Rechte und zunehmender Überwachung und Kontrolle.

Eine besonders wichtige Stellung nimmt dabei die Landfrage ein. Lenins große Stärke bestand zweifellos schon 1905 darin, die Bedeutung der Bauernrevolution gegen die Gutsbesitzer für die Russische Revolution erkannt zu haben. Sie wird auch eine entscheidende Rolle für die Revolution 1917 und später für die Wendung der Kommunistischen Internationale in der Kolonialfrage spielen – allerdings eingebettet in ein Programm der sozialen Umwälzung.

Lenins programmatische Wende geht aber auch einher mit einer veränderten Charakterisierung des Opportunismus. Der Sozialchauvinismus ist nicht nur eine falsche, konterrevolutionäre Politik, er hat eine soziale Grundlage in der Veränderung des Gesamtsystems des Kapitalismus. In der imperialistischen Epoche schafft dieses Weltsystem, die Etablierung einer internationalen Arbeitsteilung, auch die Möglichkeit, dass Teile der ArbeiterInnenklasse der Kernländer des Kapitalismus relativ privilegiert, d.h. „bestochen“ werden können. Diese Schichten der Klasse bildeten sich zuerst in Britannien im 19. Jahrhundert heraus, werden jedoch im 20. Jahrhundert zu einem Phänomen in allen imperialistischen Staaten.

Damit bietet Lenin eine Erklärung für die Verankerung und Verwurzelung reformistischer Parteien in der ArbeiterInnenklasse, von Parteien, die selbst eng mit dem Herrschaftsapparat der Bourgeoisie verbunden sind, deren Apparat und Führungen als politische Agenten der Bourgeoisie in der ArbeiterInnenklasse wirken.

Diese Parteien, also jene der Zweiten Internationale, sind mit der Burgfriedenspolitik, der Politik der Vaterlandsverteidigung, der sich nicht nur die deutsche Sozialdemokratie verpflichtet hat, sondern in Russland auch die große Mehrheit der Menschewiki und die Sozialrevolutionäre,  kleinbürgerliche „sozialistische“ Parteien geworden.

Zugleich bestimmt Lenin den Imperialismus als eine Epoche des weltgeschichtlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. So fasst er im 10. Kapitel seiner Arbeit „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ dessen historische Stellung folgendermaßen zusammen:

„Wir haben gesehen, daß der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus ist. Schon dadurch ist der historische Platz des Imperialismus bestimmt, denn das Monopol, das auf dem Boden der freien Konkurrenz und eben aus der freien Konkurrenz erwächst, bedeutet den Übergang von der kapitalistischen zu einer höheren Gesellschaftsformation.“ (36)

Aktualität der Revolution

Der Kapitalismus selbst ist reaktionär geworden – und damit ist auch die Basis für eine ganze Epoche des Übergangs gelegt worden. „Der Imperialismus stellt die erst im 20. Jahrhundert erreichte höchste Entwicklungsstufe des Kapitalismus dar. Dem Kapitalismus ist es zu eng geworden in den alten Nationalstaaten, ohne deren Bildung er den Feudalismus nicht stürzen konnte. Der Kapitalismus hat die Konzentration bis zu einem solchen Grade entwickelt, daß ganze Industriezweige von Syndikaten, Trusts, Verbänden kapitalistischer Milliardäre in Besitz genommen sind und daß nahezu der ganze Erdball unter diese ,Kapitalgewaltigen‘ aufgeteilt ist, sei es in der Form von Kolonien, sei es durch die Umstrickung fremder Länder mit den tausendfachen Fäden finanzieller Ausbeutung. Der Freihandel und die freie Konkurrenz sind ersetzt durch das Streben nach Monopolen, nach Eroberung von Gebieten für Kapitalanlagen, als Rohstoffquellen usw. Aus einem Befreier der Nationen, der er in der Zeit des Ringens mit dem Feudalismus war, ist der Kapitalismus in der imperialistischen Epoche zum größten Unterdrücker der Nationen geworden. Früher fortschrittlich, ist der Kapitalismus jetzt reaktionär geworden, er hat die Produktivkräfte so weit entwickelt, daß der Menschheit entweder der Übergang zum Sozialismus oder aber ein jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ,Groß’mächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung bevorsteht.“ (37)

Damit und in diesem Sinn  – (eine über die ganze Geschichtsperiode hinweg vorherrschende Tendenz zur Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus) – ist die imperialistische Epoche eine von Kriegen und Revolutionen. Für Lenin und sein Denken tritt die „Aktualität der Revolution“ ins Zentrum:

„Die Aktualität der Revolution: dies ist der Grundgedanke Lenins und zugleich der Punkt, der ihn entscheidend mit Marx verbindet. Denn der historische Materialismus, als begrifflicher Ausdruck des proletarischen Befreiungskampfes, konnte auch theoretisch nur in einem geschichtlichen Augenblick erfaßt und formuliert werden, als seine praktische Aktualität bereits auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt war. In einem Augenblick, wo im Elend des Proletariats nach Marx‘ Worten nicht mehr bloß das Elend selbst, sondern jene revolutionäre Seite, ‚welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird‘, sichtbar geworden ist. Freilich war auch damals der unerschrockene Blick des Genies notwendig, um die Aktualität der proletarischen Revolution erblicken zu können. Denn für die Durchschnittsmenschen wird die proletarische Revolution erst sichtbar, wenn die Arbeitermassen bereits kämpfend auf den Barrikaden stehen.“ (38)

Aus allem ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit, mit der vom Opportunismus und Nationalismus zerstörten Zweiten Internationale zu brechen und eine neue, die Dritte Internationale, aufzubauen. „Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisien alle Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (39)

Die Politik der Bolschewiki geht nach 1914 daher nicht nur vom internationalen Charakter der Revolution aus. Sie verbindet diesen bewusst mit der Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale, die ihrerseits in mehrfacher Hinsicht von der Zweiten Internationale vor dem Weltkrieg unterschieden sein soll. Sie muss nämlich nicht nur einen Bruch mit den offenen Sozialchauvinisten vollziehen, sondern auch mit den zentristischen VersöhnlerInnen à la Kautsky, die eine Einheit mit der Sozialdemokratie weiter verfolgten und damit die Illusion einer möglichen „Gesundung“ der Zweiten Internationale schürten.

Lenin stellt sich dabei eine neue, kommunistische Internationale nicht als einfache Verlängerung des Bolschewismus, sondern als politische Vereinigung aller InternationalistInnen vor, die mit dem Sozialchauvinismus und dem Versöhnlertum brechen wollen. In der ersten Phase des Krieges, in der die revolutionären KriegsgegnerInnen auf eine verschwindende Minderheit der Klasse ins Stadium von Propagandagesellschaften zurückgeworfen sind, betont Lenin die Notwendigkeit, die zukünftige Revolution vorzubereiten – und das heißt vor allem auch Klärung der Positionen der bewussten kommunistischen Kräfte und der Avantgarde.

Das zeigt sich nicht nur in den verschiedenen Resolutionen der Bolschewistischen Partei, ihrem Wirken bei Anti-Kriegskonferenzen und Tagungen, sondern vor allem darin, dass Lenin es für notwendig hielt, illegale Propaganda zu verbreiten, die die ArbeiterInnenklasse nicht nur allgemein über den Charakter des Kriegs aufklärt, sondern auch konkret bestimmt, welche Aktionen, welche Taktiken, welche Haltung zu einzelnen Fragen notwendig sind.

In Zimmerwald vertrat die bolschewistische Delegation die Losung der Umwandlung des Krieges in einen Bürgerkrieg und wollte dies auch zur Basis der Sammlung der Kräfte für eine neue Internationale machen. Für die Zentristen wie den USPD-Delegierten Ledebour und die meisten TeilnehmerInnen war das unannehmbar. Über einen Aufstand würde man erst reden, wenn er stattfindet. Dem widerspricht Lenin entschieden:

„Die notwendigen Kampfmittel müssen den Massen bekannt gemacht werden, damit sie erklärt und diskutiert werden können.. Wenn wir an der Schwelle zu einer revolutionären Epoche sind, in der die Massen in revolutionäre Kämpfe übergehen, dann müssen wir auch klar sein in Bezug auf die notwendigen Kampfmittel. Vom Standpunkt der Revisionisten ist dies natürlich überflüssig, weil sie nicht glauben, dass wir in einer revolutionären Epoche leben. Wir, die wir das glauben, müssen anders handeln. Man kann keine Revolution machen, ohne die revolutionäre Taktik zu erklären. Es war genau eine der schlechtesten Eigenschaften der II. Internationale, dass sie beständig solche Erklärungen vermieden hat… In Deutschland müsst ihr jetzt mehr machen als legale Arbeit, wenn ihr wirkliche Aktion wollt. Ihr müsst legale und illegale Arbeit kombinieren. Die alten Methoden sind nicht mehr adäquat für die neue Situation“ (40)

Hier zeigt sich konkret, worin Lenin den Unterschied zur „alten Internationale“ sieht. Die revolutionäre Partei muss ein Zentrum strategischer Diskussion und ihrer taktischen und organisatorischen Konkretisierung sein. Sie muss diese Debatten mit der Klasse führen, deren Aufmerksamkeit (und das heißt zuerst der klassenbewussten ArbeiterInnen) auf diese Fragen lenken, selbst wenn sie ihnen noch fern erscheinen mögen.

Die „Aktualität der Revolution“, deren Vorbereitung kann sich nicht mit allgemeinen oder abstrakten Revolutionsprognosen begnügen oder der „Erkenntnis“, dass der Imperialismus reaktionär sei. Diese Bestimmungen müssen vielmehr mit der konkreten Entwicklung vermittelt werden. Daher lehnt er auch jeden doktrinären Schematismus ab, der sich beispielsweise bei Luxemburg und den „imperialistischen Ökonomisten“ in der nationalen Frage zeigt.

Das revolutionäre Programm muss von einem allgemeinen zu einem Aktionsprogramm konkretisiert werden, das – wie später die Aprilthesen in der Russischen Revolution – die Hauptaufgaben der Revolution zusammenfasst und diese in die Machtfrage münden lässt.

Der zweite wichtige Aspekt in Lenins Kampf um eine neue Internationale findet sich schon im Krieg und erst recht bei Gründung der Dritten Internationale darin, dass er sich nämlich durchaus eine revolutionäre Internationale (und Parteien) vorstellte, die verschiedene Strömungen des Kommunismus, des revolutionären Internationalismus inkludieren sollte. Das zeigt sich recht deutlich darin, dass er trotz der sehr heftigen Polemiken gegen Pjatakow und die „imperialistischen Ökonomisten“ keine Spaltung von dieser Minderheit des Bolschewismus wollte. Luxemburg und den Spartakusbund wollte er – trotz ihrer Kritik – für die Dritte Internationale gewinnen, ebenso wie er die Gewinnung Trotzkis und der Zwischengruppe befürwortete, trotz der massiven Differenzen in der Vorkriegsperiode.

Die Vorstellung, dass Lenin ein „chemisch“ reiner Bolschewismus vorschwebte, der keine inneren Differenzen geduldet hätte, ist für jede Phase der Entwicklung der Partei vor der Machtergreifung schlichtweg falsch – und selbst danach bedurfte es einiger Jahre, bis die bürokratische Konterrevolution die Partei zu jener Karikatur des „Leninismus“ machen konnte, wie sie in den stalinistischen Geschichtsmythen gefeiert wird.

Dem widerspricht überhaupt nicht, dass Lenin hart um politische Klarheit gekämpft hat und vor Spaltungen nicht zurückschreckte. Darin liegt jedoch nichts spezifisch „Leninistisches“, sondern ein allgemeines Merkmal jedes ernsthaften Revolutionärs. In Grundfragen der Revolution – seien es Fragen ihres Charakters, des Programms, der Taktik – können revolutionäre MarxistInnen nicht auf „Pluralismus“ und Unklarheit setzen. Jede solche Halbheit – mag sie auch eine imaginäre Parteieinheit retten – muss sich in einer Krisensituation bitter rächen.

Der Streit, die Auseinandersetzung um die richtige Linie, um revolutionäre Klarheit ist das  unerlässliche Terrain, auf dem sich überhaupt nur eine revolutionäre Politik entwickeln kann. Nur in diesem Rahmen kann sie verallgemeinert und zur Konzeption, zur Programmatik einer Organisation und ihrer Mitglieder werden, nur in diesem Rahmen können Entwicklungen aufgenommen werden. Erst recht kann nur auf einer solchen Basis eine Kampfpartei jene Elastizität entwickeln, die es ermöglicht, ihr Handeln rasch an wechselnde politische Situationen (z. B. Phasen der Reaktion auf jene der revolutionären Offensive, Illegalität auf jene der Legalität usw. usf.) anzupassen.

Der Bolschewismus hat sich seit 1903 eine solche Flexibilität und gleichzeitig eine Prinzipienfestigkeit und vergleichsweise große Disziplin und Einheitlichkeit erarbeitet, auf deren Basis er nicht nur die Parteikader im engeren Sinne, sondern über mehr als ein Jahrzehnt mal offener, mal in der Illegalität eine Verbindung zur Avantgarde der Klasse herzustellen vermochte.

Sicherlich finden sich auch bei anderen Strömungen der internationalistischen Linken Aspekte dieser Entwicklung. So hatten Luxemburg und Liebknecht eine politische Bedeutung für die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse in Deutschland, die sicher weit über die Größe des Spartakusbundes und auch der KPD hinausging – aber sie kamen, verglichen mit den Bolschewiki, zu spät bei der Formierung eines Kaders, einer Faktion, einer Vorstufe zu einer eigenständigen Partei. Das „Sektierertum“ der Bolschewiki, dessen sie von ihren GegnerInnen in der russischen und internationalen Sozialdemokratie vor dem Krieg beschuldigt worden waren, sollte sich in der Russischen Revolution als unersätzliches politisches Kapital erweisen.

Diese wäre jedoch selbst nicht zur Geltung gekommen, wäre nicht schon während des Kriegs eine theoretische, programmatische und taktische Neuausrichtung des Bolschewismus erfolgt.

Die Imperialismustheorie, der  „Revolutionäre Defaitismus“ und die Ausrichtung, den Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die herrschenden Klassen zu verwandeln, verweisen auf diese grundlegende Umrüstung des Kommunismus. Sie stellte nicht nur die Orthodoxie der Zweiten Internationale, sondern implizit auch die ursprüngliche bolschewistische Konzeption einer russischen Revolution in Frage. Hinzu kommt, dass die Erneuerung des Bolschewismus, die Lenin im Exil vornahm, keineswegs in ihrer Gänze in die Reihen der Partei drang und in ihren Implikationen verstanden wurde.

Die Revolution selbst offenbarte diese inneren Widersprüche – und sie erzwang zugleich eine Vertiefung der Neubestimmung der bolschewistischen Politik und Programmatik, deren „Umrüstung“, um die Partei auf die Machtergreifung im Oktober vorzubereiten und zu dieser zu befähigen.

Die Februarrevolution

Der Ausbruch der Februarrevolution überraschte alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung. Russland wurde als „schwächstes Glied“ in der Kette der kriegführenden, imperialistischen Nationen erschüttert. Wie keine andere europäische Großmacht war es vom Krieg gebeutelt worden. Das Zarenreich erwies sich gerade gegenüber dem deutschen Imperialismus als militärisch schwach. Was seine Armeen zeitweilig gegen die österreichisch-ungarischen errungen, verloren sie, sobald die deutschen Truppen in die Kampfhandlungen eintraten.

Die Niederlagen gingen mit einem enormen Blutzoll einher. Fünf Millionen EinwohnerInnen verloren während des Krieges ihr Leben, weitere Millionen wurden verwundet, zermürbt. An der Front und in der Armee breiteten sich Desillusionierung, Kriegsmüdigkeit, Hunger aus. Allein 1916 desertierten rund 1,5 Millionen Soldaten.

Die desolaten Verhältnisse an der Front gingen mit einem Niedergang im Inneren einher. Die kleinbäuerlichen Betriebe konnten nicht mehr oder kaum noch bewirtschaftet werden. Während die Söhne an der Front starben oder verwundet wurden, hungerten die Familien und verloren ihre Existenzgrundlage.

Das wiederum führte, kombiniert mit Ausrichtung auf die, wenn auch schlechte, Versorgung der Armee und Spekulanten, zu einer drastischen Steigerung der Lebensmittelpreise und zur Inflation. 1916 betrug sie 400 Prozent. Das Land konnte nicht produzieren und die ArbeiterInnen in den Städten nicht kaufen. Die Zahl an Streiks und Demonstrationen stieg wie die Unzufriedenheit, während sich die Lage der Bevölkerung weiter verschlechterte, weil selbst die Erfolge  von einzelnen Kämpfen durch die Inflation, Versorgungsengpässe, Niedergang der Infrastruktur und allgemeine Zerrüttung rasch zunichte gemacht wurden.

Der imperialistische Krieg trieb zugleich die politischen Widersprüche auf die Spitze. Der Zarismus hatte den Krieg geführt und wurde nun zum Fokus des Volkszorns, zum Symbol der Unfähigkeit, Dekadenz und Volksfeindlichkeit.

Zugleich offenbarte sich mehr und mehr, dass der russische Imperialismus den Krieg nur mit Krediten der Führungsmächte der Entente, mithilfe französischen und britischen Geldes weiterführen konnte.

Obwohl ein Agrarland, war die Industrie Russlands hochkonzentriert. In den städtischen Zentren, v. a. in St. Petersburg, gab es Großbetriebe mit tausenden, wenn nicht zehntausenden ArbeiterInnen vor. Diese bildeten eine mächtige soziale Kraft, die in der Februarrevolution wie schon 1905 ihre eigene Stärke zur Geltung brachte.

Schon gegen Ende 1916 kam es besonders in der Maschinenbau- und metallurgischen Industrie zu Versammlungen, politisch motivierten Streiks und schließlich zur Organisation in ersten räteähnlichen Strukturen. Am 18. Februar legten die ArbeiterInnen des wichtigsten Rüstungswerks in Petrograd die Arbeit nieder. Die Direktion verhängte eine Aussperrung über 30.000 Belegschaftsmitglieder. Die Antwort waren Solidaritätsstreiks in weiteren Betrieben und Demonstrationen. Die sozialistischen Organisationen zauderten unter den Bedingungen des Kriegsrechts jedoch, zu einem Massenstreik aufzurufen, weil sie ein Eingreifen von in der Nähe stationierten Soldateneinheiten befürchteten.

Dennoch traten am 23. Februar auch andere Bereiche wie die Textilfabriken im Wyborg-Bezirk spontan in den Ausstand. Während des Krieges war der Anteil weiblicher Arbeitskräfte v. a. im Textilsektor stetig gestiegen und betrug allein in Petrograd 129.000. Mit der Zeit wuchs auch ihr Selbstbewusstsein. Die hervorstechendste Eigenschaft war die Unerschrockenheit, mit der die Arbeiterinnen die Quartiere der Soldaten aufsuchten und sie zur Schießbefehlsverweigerung aufforderten und so die Verbindung von ArbeiterInnen und Soldaten überhaupt erst möglich machten (41). Die Frauen führten auch eine Demonstration mit der Losung „Gebt uns Brot!“ an, der sich viele BewohnerInnen der Arbeiterviertel anschlossen.

In den folgenden Tagen schwoll die Streikbewegung an. Zwar war die Regierung bestrebt, Ordnung zu schaffen, doch die Repressionskräfte schritten zunehmend weniger ein und verbrüderten sich sogar mit den Protestierenden. Schon am 27. Februar hatten sich die meisten Soldaten auf die Seite der Aufständischen geschlagen. Dies griff tags darauf auf andere Zentren wie Moskau über. Die ArbeiterInnen entwaffneten mit Hilfe von übergelaufenen Soldateneinheiten die zarentreue Polizei, stürmten die Waffenarsenale und formierten sich ihrerseits in ArbeiterInnenmilizen, die auch zaristische Würdenträger verhafteten. Die RevolutionärInnen besetzten zentrale Schaltstellen wie Bahnhöfe und Telegrafenämter. In den Betrieben fanden Wahlen zu ArbeiterInnenräten statt, was der Auftakt zu einer Bewegung von ArbeiterInnen- und Soldatenräten, die den Petrograder Sowjet als Vertretung anerkannten, war.

Die Revolution siegte im Februar rasch, der Zar wurde zur Abdankung gezwungen. Der Sieg wurde im Wesentlichen in St. Petersburg errungen, das Land zog mit. Insgesamt wurden 1443 Tote ermittelt, was von der Bourgeoisie als „unblutig“ bezeichnet wurde. Das ist sicher übertrieben, aber es trifft zu, dass – verglichen mit dem Völkergemetzel des Krieges – die Februarrevolution relativ friedlich verlief.

Die politischen Parteien waren von der Umwälzung überrascht worden. Das trifft nicht nur auf die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch auf die Bolschewiki zu.

„Wie aber war es mit den Bolschewiki? Das ist uns zum Teil schon bekannt. Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer: die ehemaligen Arbeiter Schljapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. Schljapnikow, der längere Zeit im Ausland gelebt und mit Lenin in naher Verbindung gestanden hatte, war der politisch reifere und aktivere der drei, die das Büro des Zentralkomitees bildeten. Doch bestätigen die Erinnerungen Schljapnikows selbst am besten, daß das Trio den Ereignissen nicht gewachsen war. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand. Der uns bereits bekannte Kajurow, einer der Leiter des Wyborger Bezirkes, behauptet kategorisch: ‚Direktiven aus den Parteizeitungen waren absolut nicht zu verspüren … Das Petrograder Komitee war verhaftet, und der Vertreter des Zentralkomitees, Genosse Schljapnikow, war ohnmächtig, Weisungen für den nächsten Tag zu geben.‘

Die Schwäche der unterirdischen Organisationen war die unmittelbare Folge des politischen Vernichtungsfeldzuges, der der Regierung dank der zu Beginn des Krieges herrschenden patriotischen Stimmung ganz besondere Erfolge gebracht hatte. Jede Organisation, darunter auch die revolutionäre, besitzt die Tendenz, hinter ihrer sozialen Basis zurückzubleiben. Die unterirdischen Organisationen der Bolschewiki hatten sich zu Beginn des Jahres 1917 von Niedergeschlagenheit und Zersplitterung noch immer nicht erholt, während in den Massen die Pestluft des Patriotismus jäh der revolutionären Empörung Platz machte.“ (42)

Elementarereignis?

In der „Geschichte der russischen Revolution“ verweist Trotzki aber nicht nur auf die Schwäche der RevolutionärInnen und erst recht der anderen „linken“ Parteien. Er entkräftet auch die These, dass die Februarrevolution „rein“ spontan gewesen sei und überhaupt keine Führung hervorgebracht habe. Vielmehr stelle sich die Frage, wer die Menschen gewesen seien, die bei einem immerhin fünf Tage dauernden Kampf die Initiative ergriffen?

„Die Mystik des Elementaren erklärt nichts. Um die Situation richtig einzuschätzen und den Moment des Ausholens gegen den Feind zu bestimmen, war es notwendig, daß die Masse, ihre führende Schicht, ihre eigenen Ansprüche an die historischen Ereignisse stellte und eigene Kriterien besaß, sie einzuschätzen. Mit anderen Worten, es war nicht Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905, der an dem Semjonowski-Garderegiment zerschellte; es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt, aufmerksam verfolgt hatten, was in ihrer Umgebung vorging, die fähig waren, aus ihren Beobachtungen revolutionäre Schlüsse zu ziehen und sie den anderen zu vermitteln. Schließlich war notwendig, daß sich bei den Truppenteilen der Garnison fortgeschrittene Soldaten fanden, die in ihrer Vergangenheit von revolutionärer Propaganda erfaßt oder mindestens berührt worden waren.“ (43)

Hier zeigt sich das vorwärtstreibende Streben der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, die ihrerseits durch die vorbereitende Arbeit von RevolutionärInnen politisch geprägt war, auch wenn sie über eine ganze Periode isoliert, demoralisiert oder zeitweilig gar dem Taumel des Patriotismus erlegen war.

Zugleich zeigte sich aber auch die Unreife der Revolution. Die ArbeiterInnen bildeten mit dem Petrograder Sowjet ein eigenes Machtorgan, den Sowjet, und einen Monat später wurde auch ein landesweites Exekutivkomitee einer gesamtrussischen Sowjetkonferenz gewählt (44). Aber in den Räten hatten die Sozialpatrioten die Mehrheit. Diese war schon in Petersburg sehr groß, landesweit waren die Kräfteverhältnisse noch günstiger für die Menschewiki und vor allem die Sozialrevolutionäre.

Auch wenn die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Revolution nicht voraussahen und angeführt hatten, so entsprach ihre Politik der vorherrschenden Stimmung der ArbeiterInnenklasse und der Bauernschaft. Die Sozialrevolutionäre waren die mit Abstand  stärkste politische Organisation unter der Bevölkerung, weil sie das Land dominierten. Aber sie waren unfähig, eine eigenständige Politik zu entwickeln. Ihre Vertreter hängten sich entweder direkt der Bourgeoisie  an oder vermittelt über die Menschewiki.

„Die erdrückende Mehrheit des Volkes, und durch die Soldaten auch die physische Gewalt, hatten die Sozialrevolutionäre. Rechts von ihnen stand die bürgerliche und links die sozialistische Minderheit. Dennoch übernahmen die Volkstümler die Macht nicht. Sondern sie waren genauso wie die russischen Sozialdemokraten von der Überzeugung erfüllt, daß die Russische Revolution, die den Zaren stürzte, eine bürgerliche sein müsse. Sie waren deshalb bereit, dem liberalen Bürgertum die Macht zu überlassen. Sie selbst wollten in der Rolle einer loyalen Opposition die Regierung kontrollieren und im Sinne der Demokratie vorwärtsdrängen.“ (45)

Die Russische Revolution hatte zwar eine Situation der Doppelmacht geschaffen – letztlich eine zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Aber diese konnte nur verzerrt zum Ausdruck kommen aufgrund der Unreife der revolutionären Klasse und der damit verbundenen Dominanz von Menschewiki und Sozialrevolutionären in der Bewegung.

Diese sorgten dafür, dass sich der Petersburger Sowjet „freiwillig“ einer Provisorischen Regierung unter dem Fürsten Lwow unterordnete. Ein diesbezügliches Abkommen schloss das Exekutivkomitee des Petersburger Sowjets am 1. März, das auch in einen Aufruf zur Unterstützung der Provisorischen Regierung mündete. Die „Sowjetparteien“ selbst entsandten keine Parteivertreter in die Regierung, nur der Sozialrevolutionär Kerenski nahm als „Privatperson“ daran teil.

Die Menschewiki verteidigten die Unterstützung der Provisorischen Regierung, da diese nicht nur „provisorisch“, sondern „revolutionär“ sei. Am 7. März veröffentlichte das menschewistische Zentralorgan „Rabotschaja Gaseta“ eine Stellungnahme zur Haltung gegenüber der „Provisorischen Regierung“, die in einem Appell an ebendiese gipfelte:

„Mitglieder der Provisorischen Regierung! Das Proletariat und die Armee erwarten von Euch unverzüglich Befehle zur Festigung der Revolution und zur Demokratisierung Rußlands. Von Euch hängt unsere Unterstützung ab. Je rascher und entschlossener Ihr handeln werdet, umso rascher und gründlicher wird eine Konstituierende Versammlung vorbereitet werden können, deren Beschlüsse das weitere Schicksal Rußlands bestimmen werden. Auf zur Tat, auf zur Zerstörung des alten und zur Unterstützung des neuen Russlands! Wir fordern von Euch die unverzügliche Verwirklichung Eures Programms.“ (46)

Das Programm der Provisorischen Regierung war in Wirklichkeit das Programm der imperialistischen Bourgeoisie, die sich aufgrund der Doppelmacht und ihrer fehlenden Kontrolle über die Soldaten gezwungen sah, phrasenhafte Zugeständnisse wie das Versprechen bürgerlicher Freiheiten und einer Konstituierenden Versammlung zu machen, um im Gegenzug den Krieg fortzusetzen zu können und auf die Zersetzung der Revolution zu hoffen.

Die Politik der „extremen Opposition“ von 1905 war über den Weg der Vaterlandsverteidigung bei der Politik der Unterstützung einer bürgerlichen, imperialistischen Regierung angelangt.

Bolschewiki im Februar

Wie aber reagierte die Bolschewistische Partei? Vor der Rückkehr aus dem Exil versuchte Lenin die Partei aus der Schweiz zu dirigieren, wie sich in den „Briefen aus der Ferne“ (47) zeigt.

Aber er scheiterte mit diesem Vorhaben, wie das von seiner Linie  abweichende, ja der Konzeption Lenins gar entgegengesetzte Agieren verschiedener Strömungen in der Partei zeigt. Zugleich werden in den Texten aus dieser Zeit, wie den „Briefen aus der Ferne“, schon die grundlegenden Züge der Strategie Lenins deutlich. Die Aufgabe die ArbeiterInnenklasse und Volksmassen bestünde darin, von der ersten Etappe der Revolution, der bürgerlich-demokratischen, zur sozialistischen überzugehen. Es heißt dort:

„Über die taktischen Aufgaben unseres Verhaltens gegenüber dieser Regierung in der nächsten Zeit werden wir in einem anderen Artikel sprechen. Dort werden wir zeigen, worin die Eigenart des gegenwärtigen Zeitpunkts, des Übergangs von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution, besteht, warum die Losung, die ,Aufgabe des Tages‘, in diesem Zeitpunkt sein muß: Arbeiter! Ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldentum, an Volksheldentum vollbracht. Ihr müßt Wunder an Organisation des Proletariats und des gesamten Volkes vollbringen, um euren Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten.“ (48)

In seinem zweiten Brief lehnt er die Unterstützung der Provisorischen Regierung kategorisch ab und erhebt zugleich die Forderungen nach der Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse und der Bildung einer proletarischen Miliz. Er bezieht sich positiv auf die geplante Einrichtung eines „Ausschusses zur Überwachung der Provisorischen Regierung durch die Proletarier und Soldaten“ als Weg zur Hebung des Bewusstseins und der Organisierung der Klasse.

In den Briefen 3-5 werden diese programmatischen Aufgaben präzisiert. Nicht Unterstützung, sondern Vorbereitung des Sturzes der Provisorischen Regierung sei die Aufgabe. Dazu muss das Proletariat gemeinsam mit der Bauernschaft die Macht übernehmen, die Zerschlagung des Staatsapparates zu Ende bringen und seine Macht auf einen proletarischen Halbstaat, auf den Rätestaat stützen. Die Staatsmacht muss dazu in die Hände der Sowjets übergehen. In den „Briefen aus der Ferne“, vor allem im 5. Brief, werden zentrale Aspekte der Aprilthesen von Lenin vorweggenommen.

Lenin konzipiert die Russische Revolution als Teil der sozialistischen Weltrevolution. Auch wenn sie noch keinen Sozialismus schaffen wird, so soll sie doch den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft in Angriff nehmen. Er nähert sich damit Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution an. Abgesehen von terminologischen Unterschieden konvergieren die Vorstellungen der beiden – was auch die Grundlage für den Eintritt Trotzkis in die Bolschewistische Partei legt. Schon vor dem formalen Vollzug dieser Vereinigung im August 1917 arbeitet Trotzki eng mit Lenin zusammen.

Die Bolschewiki in Russland hingegen waren in verschiedene Strömungen hinsichtlich ihrer Haltung zur Provisorischen Regierung gespalten, die allesamt die Doppelherrschaft mit der Konzeption der „demokratischen Diktatur“ in Einklang zu bringen versuchten.

Das Distriktskomitee von Wyborg vertrat ein Programm von Forderungen, das ein tiefes Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung ausdrückte,  und zugleich glaubte es, dass die Revolution strikt demokratisch wäre. Am 1. März rief es die Sowjets auf, eine Revolutionäre Provisorische Regierung gemäß der Linie der bolschewistischen Losungen von 1905 zu bilden. Das Ziel dieser Regierung sollte sein, den Weg für das Zusammentreten einer demokratischen Konstituante vorzubereiten.

Es ist kein Zufall, dass das Wyborger Komitee eine linke Position einnahm. Es war eng mit der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, den FührerInnen und AktivistInnen der Februartage verbunden, die durch ihre Aktionen schon über die Grenzen der bürgerlich-demokratischen Revolution hinausdrängten. Wie real dieser Druck und das Misstrauen gegenüber der Provisorischen Regierung, aber auch gegenüber dem menschewistisch-sozialrevolutionären Exekutivkomitee des Sowjet waren, zeigen Stellungnahmen von ArbeiterInnenversammlungen in Fabriken vom März 1917. So erklärt eine „Resolution der Arbeiter der Fabrik ‚Dinamo’“ nach dem 5. März, dass sie sich dem Rat der Arbeiter- und Soldaten-Deputierten nicht unterwerfe, weil er die Revolution nicht vorantreibe und keine konsequente Politik zur Beendigung des Krieges und Verbrüderung mit den deutschen Soldaten betreibe (49). Versammlungen proletarischer Frauen erhoben grundlegende Forderungen wie volle Gleichstellung, den 8-Stunden-Tag, Frauen- und Mutterschutz und riefen zur Organisierung der Frauen auf (50). Andere berichten davon, dass betriebliche Räte und ArbeiterInnenkontrolle errichtet worden seien, die bis zur „Entfernung“ der Fabrikleitung und zur Übernahme durch die Fabrikkomitees ging. Solche Forderungen und Aktionen gingen über eine rein demokratische Umwälzung hinaus, und das Wyborger Komitee versuchte, die Machtfrage mit der Doktrin von 1905 zu lösen.

Das Petrograder Komitee wurde hauptsächlich von früheren politisch Verbannten, die durch die Februarrevolution befreit worden waren, gebildet. Sie nahmen einen konservativeren Standpunkt ein. Am 3. März entschlossen sie sich, „der Macht der Provisorischen Regierung nicht entgegenzutreten, sofern deren Aktivitäten den Interessen des Proletariats und der breiten demokratischen Volksmassen entsprächen.“ (51)

Diese Position implizierte keine unmittelbare Herausforderung gegenüber der vorherrschenden menschewistischen Linie im Exekutivrat des Sowjets. Sie ließ vielmehr offen, ob die Provisorische Regierung nicht doch den tatsächlichen Interessen der Massen diene, und ähnelte der Position einer „kritischen Unterstützung“ der bürgerlichen Regierung durch die Menschewiki.

Das russische Büro des exilierten Zentralkomitees (Schljapnikow, Molotow und Zalutsky) schwankte. Zuerst forderten sie, dass eine revolutionäre Provisorische Regierung von oben herab von den im Exekutivrat des Sowjets vertretenen Parteien gebildet werden sollte, also eine Koalition aus Sozialrevolutionären, Menschewiki und Bolschewiki. Ihre programmatische Agenda beschränkte sich darauf, die drei Schwerpunkte des sozialdemokratischen Minimalprogramms, den Achtstundentag, die demokratische Republik, die Konfiskation der Landgüter und ihre Übergabe an die Bauernschaft, sowie die Vorbereitung einer konstituierenden Versammlung durchzusetzen.

Auch hier finden wir die Perspektive einer rein demokratischen Etappe, über die die Revolution nicht hinausgehen könne. Diese Perspektive führte sie anfänglich dazu, Flugblätter des „linkeren“ Wyborg-Distrikts, die zur Bildung einer auf den Sowjets basierenden Regierung von unten her aufriefen, in Acht und Bann zu legen.

Die Perspektive eines Paktes mit den anderen Sowjet-Parteien stieß jedoch auf das Problem, dass die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Regierung nicht mit den Bolschewiki teilen wollten. Diese Erkenntnis trieb das russische Büro bald nach links. Vom 22. März an bezeichnete es die Sowjets als Embryos einer neuen Staatsmacht. Andererseits betonte es weiter, dass die Revolution nicht auf den Fall der Kapitalherrschaft abziele, sondern auf den der Selbstherrschaft des Zaren und des Feudalismus. Hinter diesen Schwankungen vollzog diese Strömung generell eine Linksentwicklung und entwickelte sich schon vor Lenins Rückkehr in seine Richtung, auch wenn sie nicht in der Lage war, die Fesseln der traditionellen Konzeption zu lösen. (52)

Den rechtesten Standpunkt innerhalb des Bolschewismus nahm die Redaktion der Prawda ein. Herausgegeben wurde sie damals von Stalin, Muranow und Kamenew. Die „Prawda“ erklärte so am 7. März: „Was uns betrifft, so ist, was jetzt zählt, nicht der Sturz des Kapitalismus, sondern der Sturz der Autokratie und des Feudalismus.“ (53)

Diese Position verfolgte Stalin konsequent weiter, indem er argumentierte, dass, „die Provisorische Regierung in der Tat die Rolle des Verteidigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes angenommen hat. Gegenwärtig ist es nicht in unserem Interesse, Ereignisse herbei zu zwingen, die den Ausschluss von bürgerlichen Schichten, die unvermeidlich eines Tages sich von uns trennen werden, beschleunigen.“ (54)

Am 15. März benutzte Kamenew die „Prawda“, um eine bedingte Unterstützung für Russlands Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen, da nun die Autokratie gestürzt worden war. So verwundert es wenig, dass Mitte März die Arbeiterbasis im Wyborger Distrikt für Anträge stimmte, die „Prawda“-Führung aus der Partei auszuschließen.

Die Prawda-Redaktion repräsentierte zwar nicht die Mehrheit der Bolschewiki, aber nutzte bzw. missbrauchte ihre redaktionellen Rechte, um ihre Linie zur vorherrschenden zu machen. Dabei kam ihr zugute, dass sie, im Gegensatz zu den drei anderen Strömungen, eine in sich folgerichtige, schlüssige Linie verfocht. Das Wyborger Komitee, das Petersburger Komitee und das exilierte Zentralkomitee waren in den inneren Widersprüchen der Politik von 1905 gefangen. Einerseits drängten sie in Richtung einer unabhängigen ArbeiterInnenpolitik, andererseits waren sie an die Vorstellung gebunden, dass die Revolution nur eine demokratische sein könne.

Vor Lenins Ankunft drängte daher die Prawda-Richtung die Partei nach rechts. Ende März äußerte sich Stalin auf einer Parteikonferenz wie folgt zur Frage der Provisorischen Regierung und ihres Verhältnisses zu den Räten:

„Die Macht ist auf zwei Organe aufgeteilt, von denen aber keines die volle Macht innehat. Reibungen und Kampf zwischen ihnen bestehen und müssen bestehen. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative revolutionärer Umgestaltungen ergriffen. Der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, ein die Provisorische Regierung kontrollierendes Organ. Die Provisorische Regierung dagegen hat faktisch die Rolle des Befestigers der Errungenschaften des revolutionären Volkes übernommen. Der Sowjet mobilisiert und kontrolliert die Kräfte. Die Provisorische Regierung dagegen erfüllt widerstrebend und irrend die Rolle des Befestigers jener Errungenschaften des Volkes, die dieses sich bereits faktisch genommen hat. Dieser Zustand hat positive, aber auch negative Seiten: es ist für uns jetzt nicht von Vorteil, die Ereignisse zu forcieren, indem wir den Prozeß der Abstoßung bürgerlicher Schichten beschleunigen, die sich in der Folge unvermeidlich von uns trennen müssen.“ (55)

Bourgeoisie und ArbeiterInnenklasse, Provisorische Regierung und Räte teilten sich die Arbeit, der Klassenkampf wurde zu einer Frage des „Drucks“ auf eine Regierung, deren Ablösung nicht weiter forciert werden sollte.

Aufgrund kritischer Stimmen schwächten Stalin und Kamenew zwar ihre Formulierungen etwas ab, um sie am nächsten Tag jedoch in der Substanz  beizubehalten:

„So weit die Provisorische Regierung die Schritte der Revolution festigt, so weit müssen wir sie unterstützen; aber so weit sie konterrevolutionär ist, ist die Unterstützung der Provisorischen Regierung unzulässig. Viele GenossInnen, die aus den Provinzen ankamen, haben die Frage aufgeworfen, ob wir unmittelbar die Frage der Machtergreifung stellen sollten. Aber die Zeit ist nicht reif, die Frage jetzt zu stellen.“ (56)

Auf derselben Konferenz wurde die Frage einer Vereinigung mit den Menschewiki aufgeworfen und die Tagung wurde mehrmals für gemeinsame Sitzungen mit den Sozialpatrioten unterbrochen. Auch wenn es widersprechende Stimmen gab, so zeigte sich, dass in vielen Städten schon Verhandlungen über die Vereinigung geführt wurden. Delegierte, die auf der Notwendigkeit einer programmatischen Klärung und Übereinstimmung als Voraussetzung für eine Fusion beharrten, wurden von jenen überstimmt, die die alten Differenzen als nicht mehr so wichtig betrachteten, zumal Menschewiki und Bolschewiki, formell betrachtet, noch immer dasselbe Parteiprogramm hatten. Die Konferenz optierte mehrheitlich für Vereinigungsdiskussionen. (57)

Jene Delegierten, die auf der programmatischen Abgrenzung beharrten, folgten zweifellos einem richtigen Impuls. Aber sie selbst hatten mit dem Dilemma zu ringen, dass sie einerseits programmatische Klarheit forderten, andererseits aber keine klare Alternative zum „traditionellen“ Bolschewismus zu formulieren imstande waren.

Dieses Dilemma konnte im Rahmen der Konzeption von 1905 nicht gelöst werden – deren innere Widersprüche konnten nur durch einen politischen Bruch mit ihren Beschränkungen überwunden werden.

Eine solche programmatische Umrüstung und Neuausrichtung erfolgte im April 1917 mit Lenins Rückkehr. In These 9 der berühmt gewordenen Aprilthesen weist er selbst auf die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Programms hin.

„Änderung des Parteiprogramms, in der Hauptsache in folgenden Punkten:

1. Imperialismus und imperialistischer Krieg;

2. Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ‚Kommunestaates‘;

3. Berichtigung des veralteten Minimalprogramms;“ (58)

Die Aprilthesen

Die Aprilthesen verfasste Lenin am 4./5. April bei seiner Rückkehr nach Russland, nachdem er auf ersten Versammlungen seine grundlegende Linie dargelegt hatte. Nicht nur Menschewiki und Sozialrevolutionäre, sondern auch die Mehrzahl der Bolschewiki waren schockiert. Das Petersburger Komitee lehnte nach einer ersten Diskussion die Aprilthesen mit 2 gegen 13 Stimmen ab, auch Komitees aus Moskau und Kiew wiesen sie zurück. Die Prawda veröffentlichte die Thesen am 7. April nur mit einer redaktionellen Distanzierung,, in der Kamenew schreibt:

„Was das allgemeine Schema des Gen. Lenin anbelangt, …so halten wir es für unannehmbar, insofern es davon ausgeht, daß die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, insofern es auf die sofortige Umwandlung der Revolution in eine sozialistische berechnet ist…“ (59)

Kamenew, der konsequenteste und theoretisch versierteste Wortführer des rechten Flügels der Partei, drängte im Namen der Prawda-Redaktion selbst auf eine Überwindung der Widersprüchlichkeiten der „demokratischen Diktatur“. Er ging somit nach rechts, was ihn letztlich ins Lager des Menschewismus geführt hätte.

Lenin bekämpfte diese Richtung im April 1917 scharf  und konnte auch die Mehrheitsverhältnisse in der Partei zu seinen Gunsten ändern. Sie wurde politisch „umgerüstet“. Worin bestand nun diese Neuausrichtung?

Die Aprilthesen („Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“) (60) gehen von der internationalen Lage aus. Der Krieg ist auch auf Seiten des von der Provisorischen Regierung geführten Russlands noch immer ein imperialistischer Krieg. Der revolutionäre Defätismus, den der rechte Flügel der Partei ad acta legen wollte, behält auch unter der neuen Regierung seine Gültigkeit, weil es eine Regierung der Kapitalisten ist, die einen imperialistischen Raubkrieg führt.

„Einem revolutionären Krieg, der die revolutionäre Vaterlandsverteidigung wirklich rechtfertigen würde, kann das klassenbewußte Proletariat seine Zustimmung nur unter folgenden Bedingungen geben: a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.“ (61)

Damit erfolgte nicht nur eine klare politische Ablehnung der Regierung. Zugleich wurde auch deutlich, dass jede Vereinigung mit den Sozialpatrioten nur Verrat am internationalen Proletariat sein könne, weil dies den Wechsel ins Lager der Vaterlandsverteidiger bedeuten würde.

Statt die Provisorische Regierung „kritisch zu unterstützen“, gehe es darum, ihren Sturz vorzubereiten, von der ersten zur zweiten Etappe der Revolution überzugehen. Dass sie sich noch halten könne, liege vor allem an der „mangelnden Organisiertheit des Proletariats“ und „Vertrauensseligkeit der Massen“. Es gehe daher nicht um die unmittelbare Machtergreifung, sondern auf deren Vorbereitung durch Aufklärung der Massen, Unterstützung von deren Initiativen, Enthüllung des wahren Charakters des Krieges, der Regierung und des Versöhnlertums. Solange die Bolschewiki nicht die Führung der ArbeiterInnen und ländlichen Massen errungen hätten, müssten sie ihre Politik darauf ausrichten,  diese von der Notwendigkeit der Machtergreifung zu überzeugen.

Lenin macht deutlich, dass eine solche Regierung nicht unmittelbar den Sozialismus einführen würde oder könnte, sondern dass sie durch die „Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates“ unterliege und durch „sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat“ den Übergang zu einer solchen Gesellschaftsordnung einleiten würde.

Diese Forderungen, die die Voraussetzung für den Sozialismus in Verbindung mit der internationalen Revolution schaffen können, müssten mit dem Kampf für die wirkliche Beendigung des Kriegs durch die Revolution, die ohne Sturz des Kapitalismus unmöglich sei, der Verbrüderung mit den deutschen Soldaten und der Agrarrevolution als Kernfrage der „demokratischen Revolution“ verbunden werden.

Übergangsmethode

Lenin entwirft hier ein Programm von Übergangsforderungen. Die wichtigsten, grundlegenden Fragen der ArbeiterInnenklasse wie aller Unterdrückten dürfen dem Kampf für die soziale Revolution, dem Kampf gegen das Kapital nicht entgegengestellt werden, sondern müssen vielmehr zu einem Aktionsprogramm gebündelt werden, das die brennendsten Fragen der Massen – „Land, Brot, Frieden“ – mit der Lösung der Machtfrage verbinde.

Dieser Bruch mit der Programmmethode der Zweiten Internationale entspricht Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution und verweist auf die Entwicklung der Übergangsmethode auf den ersten vier Kongressen der Komintern und durch die frühe Vierte Internationale. Lenins eigenes Denken hatte sich schon vor 1917 in diese Richtung entwickelt, wie z. B. eine Polemik gegen Radek (Parabellum) aus dem Jahr 1915 verdeutlicht:

„Bei Gen. P. kommt es so heraus, daß er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht, indem es mit jedem Schritt seiner Bewegung die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus, einer der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, entgegenzustellen. Wir müssen umgekehrt den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolutionären Programm und mit der revolutionären Taktik in bezug auf alle demokratischen Forderungen verbinden: die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte für Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und zudem nicht vollständig, nur verstümmelt zu verwirklichen. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie stützen, indem wir die Unvollständigkeit derselben unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als eine notwendige Basis für die Abschaffung des Massenelends sowie für die volle und allseitige Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen. Einige dieser Maßnahmen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie begonnen werden, andere im Gange dieser Niederwerfung, wieder andere nach derselben. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um alle Fragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. Eben im Namen dieses Endzieles müssen wir einer jeden unserer demokratischen Forderungen eine konsequent revolutionäre Formulierung geben. Es ist denkbar, daß die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, bevor sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, daß das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär entschiedensten Demokratismus.“ (62)

Diese Methode findet sich in den Aprilthesen eindeutig wieder. Sie stand in einem grundlegenden Gegensatz zur Position der rechten Bolschewiki wie Kamenew, gegen die Lenin heftig polemisierte. In „Briefe über die Taktik“ geht er auf dessen Position ein und weist ihm ein Festhalten an überlebten Formeln nach.

Überlebte Formeln

Kamenews Insistieren darauf, dass die „demokratische Revolution“ noch nicht abgeschlossen sei, verdeutliche, dass er die Frage nach dem Charakter der Revolution schon „falsch gestellt“ hätte, weil er unterstellt, dass es überhaupt eine klar abgetrennte und abgeschlossene „demokratische Etappe“ geben könne. Eine lupenreine Trennung der beiden Etappen wird vorausgesetzt, statt die Wirklichkeit danach zu untersuchen, ob diese Vorstellung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt.

„Die Wirklichkeit zeigt uns sowohl den Übergang zur Macht an die Bourgeoisie (‚abgeschlossene‘ bürgerlich-demokratische Resolution von gewöhnlichem Typus) als auch die Existenz – neben der eigentlichen Regierung – einer Nebenregierung, die die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ verkörpert. Diese letztere ‚Auch-Regierung‘ hat selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat sich selber an die bürgerliche Regierung gekettet.

Erfaßt die altbolschewistische Formel des Gen. Kamenew ‚die bürgerliche Revolution ist nicht abgeschlossen‘ diese Wirklichkeit?

Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie mit neuem Leben zu erwecken.“ (63)

Noch deutlicher wird Lenin mit einem weiteren Argument. Er stellt in Frage, ob es „eine besondere, von der bürgerlichen Regierung losgelöste ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ geben kann.“

Wenn überhaupt, dann sei sie nur auf Basis der „sofortige[n], entschiedene[n], unwiderrufliche[n] Loslösung der proletarischen, kommunistischen Elemente der Bewegung von den kleinbürgerlichen Elementen“ (64) möglich.

Diese Trennung wird zur unbedingten Notwendigkeit, weil das Kleinbürgertum nicht „zufällig“ für den Sozialchauvinismus anfällig ist, sondern aufgrund seiner Klassenlage. Daher muss die ArbeiterInnenklasse eine führende Rolle einnehmen – was  auch eine Trennung von und eben nicht Verschmelzung mit den kleinbürgerlichen Parteien erfordert.

Gerade in der Frage der „Vaterlandsverteidigung“ hätten sich die Interessen von Proletariat und Kleinbürgertum getrennt, daher sei der „alte Sinn“ der „demokratische(n) Diktatur“, die eine zeitweilige Interessengleichheit unterstellt, obsolet geworden. Jetzt gehe es um die Zukunft, den Kampf gegen das Privateigentum, den Kampf der LohnarbeiterInnen gegen das Kapital.

Auch in den Aprilthesen findet sich die „demokratische Diktatur“ nicht mehr, weil sie bestenfalls eine zwiespältige Formel geworden ist. Stattdessen heißt es: „5. Keine parlamentarische Republik -von den Sowjets der Arbeiterdeputierten zu dieser zurückzukehren wäre ein Schritt rückwärts -, sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben.

Abschaffung der Polizei, der Armee, der Beamtenschaft.“ (65)

Die Februarrevolution hatte zwar begonnen, den zaristischen Staatsapparat zu zerbrechen, doch dieses Werk musste durch eine zweite Revolution zu Ende gebracht werden. Ähnlich wie Trotzki in „Ergebnisse und Perspektiven“ knüpft er dabei an Marx‘ Schriften zur Revolution von 1848 und die Schriften zur Commune an.

Die „Briefe aus der Ferne“, die Kommentare und Erklärungen zu den Aprilthesen betonen immer wieder die Notwendigkeit, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerschlagen und durch einen Rätestaat zu ersetzen. Noch vor seiner Rückkehr aus dem Exil verfasste Lenin einen großen Teil der Schrift, die später unter dem Titel „Staat und Revolution“ (66) veröffentlicht werden wird.

Hier zeigt sich eine weitere Seite der Abwendung Lenins von den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. In seinem Denken spielen die Räte in der Revolution 1917 eine qualitativ andere Rolle als 1905. Das ist kein Zufall, denn in einer Revolution, die eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung an die Macht bringt, die ihrem sozialen Gehalt nach eine Form der Diktatur des Proletariats darstellt, müssen die Räte eine zentrale Rolle spielen – nicht nur für den Sturz des bestehenden Systems, sondern auch für die Etablierung eines proletarischen Halbstaates.

Die enorme Bedeutung von „Staat und Revolution“ besteht für Lenin sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht. 1917 steht die Entwicklung vor der Verwirklichung der sozialistischen Revolution. Daher sei die Aufklärung der Massen darüber eine unmittelbare Aufgabe. Theoretisch geht es um den Bruch mit den Entstellungen der marxistischen Auffassung vom Staat durch die Theoretiker der Zweiten Internationale. „Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre vom Staat.“ (67)

Diese Wiederherstellung des Marxismus ist mit den Aprilthesen und der gesamten Strategie der Bolschewiki eng verbunden. Methodisch stehen sie hinsichtlich der Analyse der Russischen Revolution, ihrer Triebkräfte, ihrer Zielsetzung auf demselben Boden wie Trotzkis „Theorie der Permanenten Revolution“.

Es ist kein Zufall, dass sich Trotzki und seine kleine Organisation, die Meschrajonzy, den Bolschewiki anschlossen und Trotzki gemeinsam mit Lenin einer der Strategen und zentralen Führer der Russischen Revolution wurde. Erst im Zuge des Fraktionskampfes mit der Troika und später mit dem Stalinismus wurde diese Übereinstimmung der Ideen, Konzepte und Politik in Frage gestellt werden. Die Behauptung, dass es grundlegende Differenzen zwischen Trotzki und den Aprilthesen gegeben habe, dass Lenin eine andere Strategie verfolgt habe, ist, historisch betrachtet, eine Fälschung und Entstellung. Sie entstammt nicht wissenschaftlichen Forschungen, sondern den Bedürfnissen der Troika im Kampf um die Nachfolge Lenins und dem Bemühen um Ausschaltung Trotzkis, der Suche der Bürokratie nach einer Legitimation ihrer Herrschaft und der Rechtfertigung der eigentlich menschewistischen Etappentheorie des Stalinismus. Es ist kein Wunder, dass diese (Mach-)Werke über Scholastik nicht hinauskommen und gerade den Bruch Lenins mit den Schwächen der „altbolschewistischen Tradition“ relativieren.

Eine Lektüre der wichtigsten Schriften Lenins und Trotzkis im Jahr 1917 offenbart die Gemeinsamkeit der strategischen Ausrichtung, der Einschätzung des Charakters der Revolution, der Hauptaufgaben der ArbeiterInnenklasse und der revolutionären Partei. Mehr noch als jedes Textstudium beweist das der Verlauf der Revolution selbst.

Alle Macht den Räten und Taktik gegenüber der Koalitionsregierung

Mit den Aprilthesen hatte Lenin programmatisch den „gordischen Knoten“ des „alten“ Bolschewismus zerschlagen. Im April 1917 gelang es ihm, einen größeren Teil der Führung von seiner Position zu überzeugen. Die Fusionsabsichten mit den Menschewiki waren vom Tisch. Die Petrograder Stadtkonferenz stimmte den von ihm verfassten Thesen zu. Der gesamtrussische Parteitag der Bolschewiki Ende April nahm in etlichen Punkten Lenins Position an. Aber der Widerstand der Parteirechten war beträchtlich und die Strömung um Kamenew stellte während der gesamten Russischen Revolution eine bedeutende Gruppierung dar, die immer wieder mit Positionen rechts von der Mehrheit aufwartete. Auch die Beschlüsse der Konferenz spiegelten teilweise ihre Stellung wider. So standen 5 von 9 gewählten Mitgliedern des Zentralkomitees dem rechten Flügel nahe.

Dennoch ist es bemerkenswert, wie rasch Lenin aus der Position der Minderheit die „Umbewaffnung“ der Partei durchsetzen konnte. Der entscheidende Grund war sicherlich, dass seine politische Konzeption in der realen Entwicklung und in den Stimmungen der Avantgarde der Klasse einen Nährboden fand, dass sie ihrem Streben nach einer Lösung der von der Revolution gestellten Fragen einen in sich schlüssigen, folgerichtigen Ausdruck verlieh. Die praktischen Erfahrungen und die Logik ihres eigenen Handelns, nicht zuletzt die Errichtung der Räte, die Einführung von Formen der ArbeiterInnenkontrolle, die Doppelmacht und ihre inneren Widersprüche warfen Fragen auf, die die Aprilthesen verknüpfen und als Gesamtheit beantworten konnten. Sie waren eine Anleitung zum Handeln. Zum anderen zeigten sie auch jenen Bolschewiki, die sich schon politisch-konzeptionell nach links entwickelt hatten, jedoch noch nicht die Konzeption der „demokratischen Etappe“ zu überwinden vermochten, einen Ausweg, indem sie ihnen vor Augen führten, dass das alte Schema des Bolschewismus selbst gesprengt werden musste.

Der Gedanke konnte nur zur materiellen Wirklichkeit werden, Fuß fassen, weil auch die Wirklichkeit in diese Richtung drängte.

Dazu tat schließlich auch die reale Entwicklung das Ihre. Die Provisorische Regierung erwies sich als unfähig und unwillig, auch nur eines der Probleme des Landes zu lösen. Der imperialistische Krieg wurde fortgesetzt und neue Offensiven wurden vorbereitet. Die wirtschaftliche Desorganisation des Landes nahm weiter zu. Die soziale Frage in der Stadt und die Agrarfrage blieben ungelöst und wurden wie die demokratische Umwälzung auf die lange Bank geschoben. Die Kapitalistenklasse und die bürgerliche Regierung waren politisch bei den Massen diskreditiert.

Es gab im Grund schon Ende April/Anfang Mai 1917 nur drei Möglichkeiten, die Lage zu klären: Erstens: Die Bourgeoisie beendet mit diktatorischen Mitteln die Doppelmacht. Dazu war sie jedoch (noch) zu schwach und unentschlossen. Zweitens: Die Räte übernehmen allein die Macht. Dazu waren jedoch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht gewillt, obwohl sie von Seiten der Bourgeoisie daran nicht gehindert werden konnten. Die dritte Möglichkeit bestand in einer Fortsetzung der Kollaboration von Bourgeoisie, Generalität und kleinbürgerlichen „Sozialisten“ in einer anderen Form. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die als Parteien offiziell außerhalb der Regierung standen, entschlossen sich zum Eintritt – natürlich, „um die Revolution zu retten“.

„Trotz aller politischen Gefahren, die mit dem Eintritt der Sozialisten in die bürgerliche Regierung verbunden sind, hätte unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Weigerung der revolutionären Sozialdemokratie, auf Grundlage eine festen demokratischen Plattform in bezug auf die Außen- und Innenpolitik aktiv an der Provisorischen Regierung teilzunehmen, die Revolution zu Scheitern verurteilt und wäre den Interessen der Arbeiterklasse und der gesamten revolutionären Demokratie zuwidergelaufen. Der Eintritt der Sozialisten in die Regierung auf Grundlage einer Plattform, die sich auf eine aktive Politik mit dem Ziel eines frühestmöglichen allgemeinen Friedensschlusses auf demokratischer Basis richtet, soll ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Krieges gemäß der internationalen Demokratie sein.“ (68)

Die Koalitionsregierung zwischen bürgerlichen Parteien und den Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie war geboren. Der Krieg wurde fortgesetzt, die Bauern und ArbeiterInnen weiter vertröstet. Die beginnenden und zunehmenden Landnahmen, also Enteignungen des Großgrundbesitzes, sollten unterbunden und nicht legalisiert werden, die Tendenzen zur ArbeiterInnenkontrolle sollten gestoppt und die Armee wieder kampffähig werden. So sollte die Konterrevolution zum „Wohl der Revolution“ wirken.

Die Bolschewiki kritisieren die Koalition von Beginn an scharf und ohne Rücksichtnahme auf ihre „sozialistischen Minister“. Sie tun dies allerdings aus der Position einer wachsenden Minderheit der ArbeiterInnenklasse und in den Räten. Lenin selbst hatte in den Aprilthesen darauf hingewiesen, dass die Aufgabe der Partei nicht darin bestehen könne, unmittelbar selbst die Macht zu ergreifen. Vielmehr müssten als nächster Schritt die ArbeiterInnenklasse und die Bauernschaft über die Notwendigkeit der Machtergreifung aufgeklärt, darauf vorbereitet werden.

Die von der Regierung geplante erneute Offensive an der Front bildete dabei im Mai und Juni 1917 ein, wenn nicht das Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Mit dem Regierungseintritt hatten Menschewiki und Sozialrevolutionäre auf den ersten Blick ihre Macht gefestigt, andererseits aber auch ihre Stellung gegenüber den Massen weiter gefährdet, weil sie den Machtinstitutionen beider Seiten, der Doppelmacht, angehörten. Das lähmte einerseits die Sowjets und führte zur Verschlechterung der allgemeinen Lage – es führte den Massen aber auch vor Augen, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Revolution nicht weiterbrachten.

Genau hier setzten die Bolschewiki an. Sie entlarvten alle bürgerlichen, arbeiterfeindlichen, bauernfeindlichen und imperialistischen Maßnahmen der Regierungssozialisten.

Sie beließen es aber nicht dabei, sondern versuchten, die inneren Widersprüche der Politik von Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Spitze zu treiben. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ diente dazu, die sozialen und demokratischen Forderungen der Massen mit der Frage der Macht zu verknüpfen. Sie war aber auch direkt an die Mehrheit in den Räten, an Menschewiki und Sozialrevolutionäre, gerichtet, die Doppelmacht zugunsten der Sowjets zu beenden. Eine solche Mehrheit der „kleinbürgerlichen Demokratie“ hätte die Räte keineswegs schon zu einer sozialistischen Politik gebracht, aber sie hätte bedeutet, dass sich diese Parteien auf  radikalisierte (und sich weiter radikalisierende) Massen aus ArbeiterInnen, Soldaten, Bauern und Bäuerinnen hätten stützen müssen.

Die Bolschewiki hatten dabei keineswegs nur eine theoretische Kritik vor Augen. Sie wollten den Rätekongress im Juni 1917 selbst massiv unter Druck setzen.

„Während des ersten Allrussischen Kongresses der Sowjets schlug der erste erschreckende Donner ein, der die künftigen Geschehnisse ahnen ließ. Für den 10. Juni hatte die Partei eine bewaffnete Demonstration in Petrograd beschlossen. Diese sollte unmittelbar auf den Allrussischen Kongress einwirken: ‚Ergreift die Macht‘, wollten die Petrograder Arbeiter den aus dem ganzen Land versammelten Sozialisten-Revolutionären und Menschewiki zurufen: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, verwerft die Koalition und ergreift die Macht´. Uns war klar, dass ein Bruch der Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki mit der liberalen Bourgeoisie sie gezwungen hätte, eine Stütze in den entschlossensten vorderen Reihen des Proletariats zu suchen; sie hätten sich somit auf Kosten der letzteren eine führende Stellung gesichert. Aber gerade davor schraken die klein-bürgerlichen Führer zurück.“ (69)

Die Losungen „Alle Macht den Räten!“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“, „Raus mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ wurden nicht nur von den Bolschewiki popularisiert, sondern erwuchsen auch aus den Reihen der ArbeiterInnenklasse, vor allem der ArbeiterInnenvorhut in Petersburg und anderen städtischen Zentren. Hinzu kam, dass sich auch größere Teile der Matrosen und der Garnison deutlich nach links entwickelten.

Wie Trotzki im Übergangsprogramm darlegt, war die Losung letztlich eine frühe Form der Anwendung der Losung der ArbeiterInnenregierung:

„Von April bis September 1917 forderten die Bolschewiki, die Sozial-Revolutionäre und die Menschewiki sollten mit der liberalen Bourgeoisie brechen und die Macht in ihre eigenen Hände nehmen. Unter dieser Bedingung versprachen die Bolschewiki den Menschewiki und den Sozial-Revolutionären, als den kleinbürgerlichen Vertretern der Arbeiter und Bauern ihre revolutionäre Unterstützung gegen die Bourgeoisie; sie lehnten es jedoch kategorisch ab, sowohl in die Regierung der Menschewiki und Sozial-Revolutionäre einzutreten, als auch die politische Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wenn die Menschewiki und die Sozial-Revolutionäre wirklich mit den (liberalen) Kadetten und dem ausländischen Imperialismus gebrochen hätten, dann hätte die von ihnen geschaffene ‚Arbeiter- und Bauernregierung‘ nur die Errichtung der Diktatur des Proletariats beschleunigen und erleichtern können. Aber gerade aus diesem Grund stemmten sich ja die Spitzen der kleinbürgerlichen Demokratie mit aller Gewalt gegen die Errichtung ihrer eigenen Regierung. Die Erfahrung Rußlands hat gezeigt, und die Erfahrung Spaniens und Frankreichs bestätigt es von neuem, daß selbst unter günstigsten Bedingungen die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie (Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten) unfähig sind, eine Arbeiter- und Bauernregierung, d. h. eine von der Bourgeoisie unabhängige Regierung, zu schaffen.

Trotzdem hatte die an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gerichtete Forderung der Bolschewiki: ‚Brecht mit der Bourgeoisie, nehmt die Macht in eure eigenen Hände! ‚ einen unschätzbaren erzieherischen Wert für die Massen. Die hartnäckige Weigerung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, die in den Julitagen auf so tragische Weise offenbar wurde, verurteilte sie endgültig in der Meinung des Volkes und bereitete den Sieg der Bolschewiki vor.“ (70)

Die Forderung an die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die Macht zu ergreifen, war eine Form der Einheitsfronttaktik, die die Bolschewiki systematisch immer wieder in der Russischen Revolution – nicht nur im Kampf gegen Kornilow – anwandten. Die Losung „Weg mit den 10 Kapitalisten-Ministern“ bezog diese formal auf die Provisorische Regierung. Die Parole „Alle Macht den Räten“ war, solange diese eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Dominanz hatten, auch eine Parole der Einheitsfront.

Die Bolschewiki vermieden dabei im Großen und Ganzen zwei grundlegende Fehler: Opportunismus und Linksradikalismus, auch wenn sie davon keineswegs frei waren, aber sie vermochten, diese im Zaum zu halten. Zweifellos hatte der rechte Flügel mit Kamenew und anderen beredte Vertreter einer opportunistischen Entstellung der Einheitsfrontpolitik. Dieser Flügel strebte eine Regierung aller Sowjetparteien, also eine Koalition der Bolschewiki mit den Sozialchauvinisten an (und trat dafür kurzzeitig auch noch nach dem Oktoberaufstand ein). Die linksradikale Neigung, aufgrund der Dynamik der Avantgarde vorschnell auf die Machtergreifung zuzustreben, sollte sich in den kommenden Wochen jedoch auch bemerkbar machen.

Die Julitage

Die Koalition aus Bürgerlichen, Sozialrevolutionären und Menschewiki war bald von denselben Problemen gebeutelt wie ihre Vorgängerin. Auch sie konnte keine grundlegende Frage lösen, setzte aber den Krieg fort, um endlich das Schicksal an der Front wenden. Die Bolschewiki planten für den Sowjetkongress eine bewaffnete Demonstration, welche eine Einstellung der Planung für eine Offensive gegen Österreich-Ungarn und die Bildung einer Räte-Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki (nicht der Bolschewiki) forderte. Diese wurde verboten und die Partei sah sich gezwungen, die Demonstration abzublasen. Um dem Unmut der ArbeiterInnen und Soldaten in Petersburg entgegenzukommen, setzte die Sowjetführung selbst für den 18. Juni eine „Einheitsdemonstration“ an. Diese wurde entgegen der Absicht ihrer Initiatoren zu einem Zeichen der Kräfteverschiebung in der Hauptstadt.

„Am vorgesehenen Tag mussten die gemäßigt-sozialistischen Sowjetführer mit ansehen, wie die Arbeiter und Soldaten aus nahezu sämtlichen Petrograder Fabriken und Militärregimentern, mehr als 400.000 an der Zahl, in langen Reihen an ihnen vorbeimarschierten und dabei purpurrote Transparente in die Luft hielten: ‚Nieder mit den zehn Minister -Kapitalisten!“, „Nieder mit der Politik der Offensive!“ und „Alle Macht den Sowjets!“ Im Meer der bolschewistischen Banner und Plakate, darin stimmen alle Zeitzeugen überein, waren die offiziellen Parolen des Kongresses nur vereinzelt zu sehen.“ (71)

Dies entsprach auch einem rasanten Wachstum der Bolschewistischen Partei. So hatte sie in Petersburg, dem Zentrum der Revolution, im Februar gerade 2000 Mitglieder, Ende April 16.000 und Ende Juni 32.000. Ihre Mehrzahl war proletarisch, darüber hinaus gewann sie größeren Einfluss unter den Matrosen und begann, sich bei den Soldaten zu verankern.

Diese unerfahrenen, radikalisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse, einschließlich vieler neu gewonnener Parteimitglieder, drängten aufgrund ihrer Erfolge darauf, die Massenmobilisierung zur Machteroberung, zum Aufstand zuzuspitzen. Die Sache wurde durch eine weitere Regierungskrise verschärft.

Am 3. und 4. Juli demonstrierten bewaffnete Matrosen, ArbeiterInnen und Soldaten. Hinter ihnen stand ein großer Teil der Avantgarde der Revolution in Petrograd und auch der Baltischen Flotte. Die vorwärts drängenden Massen wollten die Räte zur Macht zwingen, endlich ihre brennenden Fragen lösen. Zweifellos mag es auch Provokateure, Abenteurer usw. gegeben haben, die eine frühzeitige Machtprobe – und deren Niederlage – wollten. Allein, das könnte diese Entwicklung nicht erklären.

Die Triebkräfte, die zur Revolution geführt hatten, führten auch dazu, dass ihre entschiedensten Trägerin, eine radikalisierte, aber politisch wenig erfahrene Avantgarde, nicht länger warten wollte. Vertröstet war sie in den letzten Monaten von der Regierung und den Sowjetführungen schon genug geworden.

Die Führung der Bolschewistischen Partei um Lenin wollte eine solche Machtprobe nicht, sondern hatte ihre Parteikader im Juni vor einer vorzeitigen Zuspitzung gewarnt, weil die Kräfteverhältnisse im Land weitaus ungünstiger waren als in Petrograd. Die Bauernschaft war noch von den Sozialrevolutionären dominiert, die Armee auch. Hinzu kam, dass eine bolschewistisch geführte Machtergreifung im Land als Putsch gegen die Räte wahrgenommen worden wäre.

Der Vorwurf an die Bolschewiki, dass sie einen Umsturz geplant hätten, ist, wie die Hetze gegen die Partei und ihre Führung, eine Konstruktion, die faktisch nicht standhält.

Der Druck der Avantgarde machte sich jedoch auch unter den Bolschewiki, z. B. unter den Führern der Wyborger Parteisektion und der Militärsektion bemerkbar, die zum entschiedenen Handeln drängten bzw. durch ihre eigene Basis gedrängt wurden. Das führte auch dazu, dass diese durchaus eigenmächtig agierten und die Partei mit zum verfrühten Aufstand „schieben“ wollten.

Schließlich entschieden die Bolschewiki nach der Manifestation vom 3. Juli, dass sie die Demonstrationen am 4. Juli in geordnete Bahnen lenken und so einen organisierten Rückzug durchführen wollten. Dies war jedoch nur bedingt möglich, weil die Aktionen schon über eine reine Demonstration hinausgegangen waren und es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. Gegen Ende des 4. Juli gewannen die loyal zur Regierung und Sowjetführung stehenden Armeeeinheiten die Oberhand.

Die Linie der Bolschewiki, einer Machtprobe, so gut es noch ging, auszuweichen, war zweifellos korrekt. Die Partei hätte, selbst wenn der Sieg in Petersburg errungen worden wäre, die Stadt nicht halten können. Die „Vorbereitungsarbeit“, die Gewinnung der Armee und des Dorfes, war noch nicht abgeschlossen.

Bei aller Militanz gab es aber auch eine innere Widersprüchlichkeit in der Massenbewegung selbst, auf die die radikale Avantgarde keine Antwort hatte, die ihr z. T. in den Julitagen erst vor Augen geführt wurde. Die Demonstrationen und die bewaffneten Kontingente waren eine Fortsetzung der Aktionen der Zeit vor Juni und liefen unter denselben Zielsetzungen (raus mit den Kapitalisten-Ministern, brecht mit der Bourgeoisie, alle Macht den Sowjets). Sie richteten sich an jene Sowjetführer und „Sozialisten“- Minister, die selbst nicht die Macht ergreifen wollten. Auf dieses Problem – selbst ein Resultat der Doppelmacht unter kleinbürgerlich-demokratischer Sowjetführung – hatten die DemonstrantInnen und auch die Avantgarde keine Antwort. Dass sich diese FührerInnen nicht zur Machtergreifung führen ließen, paralysierte und zersplitterte eine Bewegung, die zwar massenhaft und bewaffnet war, aber auch mit einem undurchführbaren Ziel in die Konfrontation ging. Neben der Lage im Land war es auch diese innere Unklarheit, die zeigt, dass ein Kampf um die Macht verfrüht gewesen wäre.

„Zusammenstöße, Opfer, Erfolglosigkeit des Kampfes und die Ungreifbarkeit seines praktischen Zieles, all das erschöpfte die Bewegung. Das Zentralkomitee der Bolschewiki beschloss, die Arbeiter und Soldaten zum Abbruch der Demonstration aufzurufen. Jetzt fand dieser, sofort dem Exekutivkomitee zur Kenntnis gebrachte Aufruf, fast keinen Widerstand bei den unteren Schichten. Die Massen fluteten in die Vorortviertel zurück und dachten nicht mehr daran, den Kampf am nächsten Tage wieder aufzunehmen. Sie fühlten nun, daß es sich mit der Frage der Sowjetmacht viel komplizierter verhielt, als sie gedacht.“ (72)

In diesem Sinn hatten die Julitage auch einen „erzieherischen“ Wert. Aber sie hätten zu einem weit schwereren Rückschlag werden können, wenn sich die Lage der Regierung nach dem Zusammenbruch der Offensive nicht selbst bald wieder verschlechtert hätte. Für den Juli und großen Teil des August musste die Bolschewistische Partei ihre Strukturen, ihre Presse wieder neu aufbauen, ihr Innenleben war sehr geschwächt.

Unmittelbar nach der Niederlage der Juli-Aktionen entfachten Reaktion und Regierung Verleumdungs- und Hetzkampagnen gegen die Bolschewiki. Ihnen wurde die Verantwortung für die Julitage und die Planung eines Aufstandes in die Schuhe geschoben. Vor allem aber wurde ab dem 5. Juli eine konzentrierte Hetze gegen Lenin und weitere Parteiführer eröffnet. Die rechte Presse veröffentliche fabrizierte Dokumente und andere angebliche „Beweise“, dass jene gekaufte Agenten des deutschen Kaiserreichs wären. Lenin, Sinowjew und andere Parteiführer mussten in den Untergrund, hunderte Kader wurden festgesetzt, die Gefängnisse füllten sich mit RevolutionärInnen.

Die konterrevolutionäre Agitation, die Niederlage schüchterten die ArbeiterInnen und Soldaten ein. Die Bolschewiki verloren an Anhang und Rückhalt, wie umgekehrt die Zuversicht der Reaktion stieg.

Der Schlag gegen die Bolschewiki ermutigte die offene Konterrevolution. Der Schlag gegen die konsequenten RevolutionärInnen sollte und musste, vom Standpunkt der herrschenden Klasse betrachtet, auch gegen die Räte geführt werden. Verhaftungen von radikalen ArbeiterInnen und Entwaffnungen der Milizen, Einschränkung der Soldatenrechte und Abschaffung des Kommissarswesens, Wiedereinführung der Todesstrafe, Niederschlagung der Bauernrevolten und, als Krönung all dessen, die nächste militärische Offensive bildeten das Programm der Koalitionsregierung, das von der Sowjetmehrheit freudig oder protestierend akzeptiert wurde.

Für die Konterrevolution ging es darum, das Kräfteverhältnis nicht nur zu verschieben, sondern die Doppelmacht selbst zu beseitigen. Für die Kapitalistenklasse, die Kadettenpartei, den Generalstab war klar geworden, dass eine „demokratische“ Entwicklung untragbar geworden war. Ordnung musste geschaffen werden, und dies erforderte eine harte Hand, die Konzentration der Macht.

Die innere Logik der Koalitionsregierung – einer Form dessen, was später als „Volksfront“ bezeichnet wurde – drängte nicht nur zur Verschiebung der Macht nach rechts, sie drängte zur Einführung eines bonapartistischen, diktatorischen Regimes. Im Juli und August nahm das politisch die Form zunehmender Repression an. Die Ernennung Kornilows zum Oberkommandierenden der Armee, permanente Regierungskrisen und ein Wettlauf darum, wer der Bonaparte Russlands werden sollte, kamen hinzu.

Die Armee und die Bourgeoisie hatten dazu Kornilow ausersehen – Kerenski und seine engeren Berater waren in diese Machenschaften verstrickt, umgekehrt wollte der Regierungschef aber selbst die Position des „Retters des Vaterlandes“ einnehmen.

Die Alternative „Diktatur des Proletariats oder Diktatur des Kapitals“ spitzte sich im Sommer 1917 zu, wobei der erste Schlag von der Konterrevolution kam. Der Putsch Kornilows zeigt deutlich, dass unter den konkreten Bedingungen Russlands eine demokratische Stabilisierung von oben vollkommen ausgeschlossen war. Hätte die Niederlage Kornilows nicht zum Oktober geführt, hätten die Bolschewiki nicht den Weg des Aufstandes beschritten und durchgeführt, so hätte die Entwicklung nur zur offenen staatsterroristischen Diktatur führen können.

Der Sommer 1917 war ein günstiger Moment für die Konterrevolution, insofern die Bolschewiki geschwächt, die ArbeiterInnenklasse und die Soldaten im Zentrum der Revolution desorientiert, die herrschenden Kreise moralisch gestärkt waren.

Die Misserfolge der Regierung, vor allem die desaströse „Offensive“, unterminierten jedoch wieder rasch deren eigene Position. Die ArbeiterInnen und Soldaten leisteten, wenn auch anfänglich hinhaltenden, Widerstand gegen reaktionäre Maßnahmen wie die Entwaffnung. Das Handeln der Regierung und die Katastrophe an der Front erschütterten die letzten Reste der „Vertrauensseligkeit“ der Massen. Die Lügen über den Bolschewismus griffen immer weniger, nicht nur, weil die Bolschewiki versuchten, so gut sie konnten, gegenzuhalten, sondern weil die Lügen von jenen kamen, die täglich und immer offensichtlicher die Massen belogen und betrogen.

Hinzu kam als weiteres wesentliches Moment die Agrarrevolution, die Welle „wilder“ Enteignungen. Die Regierungskoalition, vor allem die Spitze der Sozialrevolutionäre, widersetzte sich diesen, obwohl sie die „Bauernpartei“ war. Sie unterminierte selbst ihre Basis und spaltete sich. Nur die Bolschewiki unterstützten ohne Wenn und Aber die Revolution um Land, was ihre eigene Verankerung ausweitete, vor allem aber die linken Sozialrevolutionäre auf die Seite der proletarischen Revolution zog.

Diese Prozesse verdeutlichen, dass sich die Machtfrage nach dem Juli zuspitzte und innerhalb weniger Monate zugunsten von Kapital oder ArbeiterInnenklasse gelöst werden musste.

Zugleich zeigen die Monate vom Juli bis Oktober auch, dass die Entscheidungsfragen der Revolution der „Politik der Mitte“, der Politik der Zusammenarbeit von reformistischen und kleinbürgerlichen Kräften mit dem Kapital selbst, den Boden entzogen. Die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki hatten über Monate die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, kontrollierten die Räte und über die Soldatenräte auch die bewaffneten Kräfte. Ihre scheinbare Machtfülle entpuppte sich jedoch als Ohnmacht, weil sie die Macht nicht ergreifen, sondern einer anderen Klasse überlassen wollten.

All das sind die Gründe, warum sich die Bolschewistische Partei von den Schlägen der Julitage relativ rasch wieder erholen konnte.

Ende Juli hielt die Partei einen „Vereinigungsparteitag“ ab, an dem  Trotzki und die Meschrajonzy den Bolschewiki beitraten. Formal war es eine Vereinigung der beiden Organisationen, die  nur mit Trotzkis Gruppierung vollzogen werden konnte, jedoch  eigentlich auch an andere internationalistische Kräfte, als deklarierte GegnerInnen der Vaterlandsverteidigung, gerichtet war, insbesondere auch an Martows „Menschewiki-Internationalisten“.

Im August begann ein Wiederaufstieg der Bolschewiki auch zahlenmäßig.  Bis zum Oktober sollte die Partei auf rund 400.000 Mitglieder anwachsen. Ihr Einfluss in den Räten stieg, bei den Wahlen zu den Stadtparlamenten (z. B. in Petersburg) wuchsen ihre Stimmenzahl und Anteile erheblich. Menschewiki und Sozialrevolutionäre beklagten Übertritte. Die Bolschewiki gewannen schon vor der Niederlage des Kornilow-Putsches und trotz der Illegalität und Gefangennahme zentraler Führer der Partei an Einfluss und politischer Stärke.

Räte und Doppelmacht

In der Bolschewistischen Partei erhob sich die Frage, welche Bedeutung die Niederlage für den weiteren Verlauf der Revolution habe. Lenin kommt hier zu entschiedenen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Doppelmacht und damit auch der Räte, indem er die Situation vor den Julitagen mit der von ihnen geschaffenen neuen Lage vergleicht.

„Damals, in dieser vergangenen Periode der Revolution, bestand im Staate die sogenannte ‚Doppelherrschaft‘, die materiell wie formal den unbestimmten Übergangszustand der Staatsmacht zum Ausdruck brachte. (…)

Damals befand sich die Staatsmacht in einem labilen Zustand. Auf Grund eines freiwilligen gegenseitigen Übereinkommens teilten sich die Provisorische Regierung und die Sowjets die Staatsmacht.“ (73)

Nun sei die Doppelmacht beendet. „Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.“ (74)

Die Räte seien praktisch zu ihren Erfüllungsgehilfen geworden. Eine „friedliche Entwicklung“ der Revolution sei nicht mehr möglich. Die Losung „Alle Macht den Sowjets“ würde zum Hohn werden, stattdessen müsse der nächste Anlauf der Revolution neue Organe schaffen: „Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie.“ (75)

Bevor wir zur Frage der Sowjets übergehen, müssen wir noch kurz die Frage streifen, in welchem Sinne Lenin davon spricht, dass vor dem Juli (und dann wieder für eine kurze Phase nach dem Kornilow-Putsch) eine „friedliche Entwicklung der Revolution möglich wäre.“ Die erste Voraussetzung war, dass die Februarrevolution schon einen weiten Weg gegangen war, den bürgerlichen Staatsapparat zu zerbrechen (wenn auch nicht vollständig), die Armee zu paralysieren, Soldatenräte zu schaffen, zu beginnen, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und Organe zu bilden, die ihrer Form nach solche der Diktatur des Proletariats waren:

„Die Sowjets waren, ihrer Klassenzusammensetzung nach, Organe der Bewegung der Arbeiter und Bauern, waren die fertige Form ihrer Diktatur. Hätten sie die ganze Fülle der Macht innegehabt, so wäre der Hauptmangel der kleinbürgerlichen Schichten, ihr Hauptfehler, die Vertrauensseligkeit gegenüber den Kapitalisten, in der Praxis überwunden worden, wäre der Kritik der  aus ihren eigenen Maßnahmen gewonnenen Erfahrungen unterzogen worden. Der Wechsel der an der Macht stehenden Klassen und Parteien hätte innerhalb der Sowjets, auf dem Boden ihrer Alleinherrschaft und Allgewalt, friedlich vor sich gehen können; die Verbindung aller Parteien der Sowjets mit den Massen hätte fest und unerschütterlich bleiben können. Man darf keinen Augenblick außer acht lassen, daß nur diese enge, frei in die Breite und Tiefe wachsende Verbindung der Parteien der Sowjets mit den Massen dazu hätte verhelfen können, die Illusionen des kleinbürgerlichen Paktierens mit der Bourgeoisie friedlich zu überwinden. Der Übergang der Macht an die Sowjets hätte an und für sich das Verhältnis der Klassen nicht verändert und hätte es auch nicht ändern können, er hätte an dem kleinbürgerlichen Charakter der Bauernschaft nichts geändert. Doch mit dem Übergang wäre rechtzeitig ein bedeutender Schritt getan worden zur Loslösung der Bauern von der Bourgeoisie, zu ihrer Annäherung an die Arbeiter und dann auch zum Zusammenschluß mit ihnen.“ (76)

Lenin hat also keinesfalls eine versöhnlerische Perspektive im Auge, wenn er von einer „friedlichen Entwicklung“ spricht. Die Losung „Alle Macht den Räten“, „Brecht mit der Bourgeoisie!“ hat den Charakter einer Übergangsforderung. Lenin forderte von den Menschewiki und Sozialrevolutionären, selbst die Macht zu übernehmen und eine ArbeiterInnen- und Bauernregierung zu bilden. Diese wäre noch immer eine bürgerliche Regierung, weil sie auf dem Boden kapitalistischer Eigentumsverhältnisse stehen würde. Insofern wäre ihr Bruch mit der Bourgeoisie notwendig immer halbherzig, an einem entscheidenden Punkt nicht vollzogen. Durch systematische Aufklärung und Anwendung der Einheitsfrontpolitik könnten jedoch die Massen lernen, dass sie ihre eigene Vertrauensseligkeit überwinden und auch mit den Halbheiten der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre brechen müssten – und sie hätten in den Räten und mit der Bewaffnung der ArbeiterInnen und Bauern schon einen Tatbestand geschaffen, der die eigentliche Machtergreifung auch ermöglichen könne.

Allein durch den Bruch mit den Kapitalisten-Ministern, die Erklärung der Räte als alleinige Macht wäre letztlich auch die Doppelmacht noch nicht überwunden, solange die Räte eine menschewistisch – sozialrevolutionäre Mehrheit hätten und eine dementsprechende Politik verfolgten. Sie würde jedoch nicht mehr die Form zweier entgegengesetzter Institutionen annehmen, sondern als Kampf der Programme verschiedener Klassen und Parteien im Rahmen der Sowjetdemokratie, der Räteform ausgefochten werden. Ein solcher Kampf könnte natürlich auch kein Dauerzustand sein, sondern müsste gerade in einer revolutionären Krise rasch zugunsten der einen oder anderen Klasse gelöst werden – sprich entweder, indem die Doppelmacht wirklich zugunsten des Proletariats und der Bauernschaft überwunden wird, oder indem es zu deren Degeneration und Inkorporation in das bürgerliche System kommt, die Macht also wieder der Bourgeoisie „voll“ überantwortet wird.

Auch wenn sich Lenin in der Einschätzung im Juli geirrt hatte, so zeigen seine Analysen, dass ihm, ähnlich wie Marx, ein Fetisch der Sowjetform fernlag. Dass auch Räte von der Konterrevolution befriedet und inkorporiert werden können, zeigt nicht zuletzt das Schicksal der Betriebsräte in Deutschland.

Vereinigungskonferenz

Die Thesen Lenins bildeten einen zentralen Diskussionsgegenstand der „Vereinigungskonferenz“ Ende Juli. Er selbst konnte ebenso wenig wie Trotzki und etliche andere ParteiführerInnen teilnehmen. Das Bild, das sich auf der Parteikonferenz präsentiert, zeigt in jedem Fall einen Reifungsprozess der Bolschewiki. (77)

Bubnow, Sokolnikow, Stalin, Swerdlow und andere vertreten Lenins Position, wenn auch mit Akzentuierungen. Die Stärke ihrer Position besteht sicher darin, dass sie den Kurs auf die Machtergreifung  betonen. Ihnen wird entgegengehalten, dass sie das Kind mit dem Bad ausschütten würden. Etliche RednerInnen verweisen darauf, dass die Räte selbst noch nicht vollständig ins Lager der Konterrevolution übergegangen seien, dass sich eine Kräfteverschiebung abzuzeichnen beginne. Die Absetzung von den Räten als zentralem Arbeitsfeld würde die Gefahr mit sich bringen, sich von den Soldaten und Bauern zu isolieren (weniger von ArbeiterInnen, weil es dort z. B. in Form der Fabrikkomitees potentiell andere Formen für eine alternative Macht geben könnte). Einige Redner wie Jurenew, ein Mitarbeiter Trotzkis, stellen auch die Frage in den Raum, warum die Losung „Alle Macht den Räten“ an das friedliche Stadium der Revolution gebunden sein müsse.

Der Kongress überarbeitete die von Stalin im Auftrag Lenins eingebrachten Thesen gründlich. Die Losung „Alle Macht den Räten!“ wird bis Ende August, also bis zum Kampf gegen den Kornilow-Putsch praktisch fallengelassen und in der Resolution durch die Parole „Vollständige Abschaffung der Diktatur der konterrevolutionären Bourgeoisie“ ersetzt. Gleichzeitig solle die Partei die führende Rolle im Kampf gegen die Konterrevolution einnehmen und dazu weiter in den Räten als zentralem Arbeitsfeld tätig sein und auch die Einheitsfronttaktik gegenüber anderen Sowjetparteien anwenden.

Es war sicher korrekt, die Agitation für „Alle Macht den Sowjets!“ in der bislang gebräuchlichen Weise zurückzuziehen, sobald die Parteien der Mehrheit darin ihre totale Komplizenschaft mit den Konterrevolutionären bloßgelegt hatten.

Der drohende Kornilow-Putsch zeigte aber auch, dass Lenin mit der Einschätzung falsch lag, dass die Räte nicht erneuert oder wiederbelebt werden könnten. Im Gegenteil, der Kampf erfüllte sie mit neuer Energie – und veränderte sie auch:

„Die Sowjet-Organisationen zeigten überall, an der Front wie im Hinterland, ihre Lebensfähigkeit und ihre Macht gerade im Kampf gegen den Kornilow’schen Aufstand. Bis zu einer Schlacht ist es fast nirgends gekommen. Die revolutionäre Masse fegte den Putsch des Generals auseinander. Wie die Vermittler im Juli in der Petrograder Garnison keine Soldaten auftreiben konnten, so fand auch jetzt Kornilow auf der ganzen Front keine Soldaten gegen die Revolution.“ (78)

Der Kampf gegen den Kornilow-Putsch ist das berühmt gewordene Beispiel für eine erfolgreiche Anwendung der Einheitsfronttaktik. In „An das Zentralkomitee der SDAPR“ (79) skizziert Lenin sehr anschaulich, wie die Bolschewiki gegen Kornilow kämpfen sollten.

Dabei richtet er sich gegen eine rechte Abweichung von der Einheitsfronttaktik, wie sie von Teilen der Bolschewiki wie Wolodarski vertreten wurde. Diese schlugen einen Block mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zur Unterstützung der Provisorischen Regierung vor. Die von Kamenew stark beeinflusste Sowjetfraktion steuerte in diese opportunistische Richtung. Zweifellos zeigt sich daran das Bestreben des rechten Parteiflügels, eine Einheitsfront gegen die Konterrevolution als Schritt zur Bildung einer Koalition mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu betrachten.

Der linke Flügel der Partei andererseits wies durchaus ultralinke Tendenzen auf, selbst bis hin zur Ablehnung jeder Form der praktischen Zusammenarbeit mit den Sowjetorganen, die von deren Mehrheit zu Verteidigungszwecken eingerichtet worden waren. Diese Haltung stieß aber angesichts der realen Entwicklung rasch an ihre Grenzen und war relativ leicht zu überwinden. Die rechte Abweichung stellte die größere politische Gefahr dar.

Lenin kritisiert sie scharf, weil es eine Aufweichung in der Frage der Landesverteidigung, einen Übergang zum Sozialpatriotismus mit sich bringen würde und damit eine Absage an den Internationalismus. Er führt die notwendige Taktik dabei folgendermaßen aus:

„Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das! Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ‚Verständigungspolitik‘ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen.

Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche.“ (80)

Und weiter:

„Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, aber jetzt ist das die Hauptsache geworden; darin besteht die Änderung.“ (81)

Lenin verdeutlicht hier, wie die Einheitsfrontpolitik in eine Strategie zur Machtergreifung eingebettet ist. Der Opportunismus des rechten Flügels der Bolschewiki in der Frage hängt umgekehrt eng mit deren Opportunismus in der Regierungsfrage zusammen.

Lenin führt im selben Brief auch noch aus, wie er sich den aktuellen Kampf gegen Kerenski vorstellt.

„Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt verstärkte Agitation für gewisse ‚Teilforderungen‘ an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein, usw. usf.“ (82)

Im Gegensatz zu vielen „radikalen Linken“, denen bis heute die Einheitsfronttaktik ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist, betrachtet Lenin die Forderungen an Kerenski, an die menschewistisch-sozialrevolutionäre Regierung und Sowjetführung als Mittel zum Kampf gegen diese. Setzen sie die Forderungen um, wird das die Dynamik der Bewegung steigern. Widersetzen sie sich, verschleppen sie diese usw., entlarvt das die Schwäche, den Unwillen und den konterrevolutionären Charakter Kerenskis. Lenin hält eine solche Taktik für notwendig, für eine „Hauptsache“, um so den schon vor sich gehenden Ablösungsprozess der Massen von den kleinbürgerlichen Kräften zu beschleunigen. Die Revolution wie jede revolutionäre Politik braucht – gerade weil sie auch ein Wettlauf gegen die Zeit ist – eine aktive, vorwärtstreibende Politik und kein passives Warten, bis sich die falsche Führung ohnedies diskreditiert hat.

Die Forderungen an die Führung müssen schließlich mit solchen an die Basis, an die Massen kombiniert werden.

„Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, daß sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die ‚Retsch‘ und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die ‚linken‘ Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden.“ (83)

Auf dem Weg zur Macht

Diese Politik, wie sie in der Taktik der Partei und ihrer Propaganda zum Ausdruck kommt, hat den Weg zur Machtergreifung beschleunigt, ja in gewisser Weise überhaupt erst möglich gemacht.

Die Niederlage Kornilows schafft in Lenins Augen noch einmal eine Situation, in der eine „friedliche Machtübernahme“ möglich werden könnte. In „Über Kompromisse“ (84) bietet er den Menschewiki und Sozialrevolutionären an, auf einen gewaltsamen Sturz zu verzichten, wenn sie die Forderung „Alle Macht den Sowjets!“ verwirklichen, indem sie „eine den Sowjets verantwortliche Regierung aus Sozialrevolutionären und Menschewiki“ (85) bilden. Diese Bedingung präzisiert Lenin noch dahingehend, dass die Regierung nicht nur einzig und allein den Sowjets verantwortlich sein, sondern auch die ganze örtliche Macht auf die Sowjets übergehen müsse.

Im Gegenzug würden die Bolschewiki auf die Eroberung der Macht mit „revolutionären Mitteln“ verzichten, wenn ihnen volle Propaganda und Agitationsfreiheit zugesichert würde. Sie würden für ihre Politik und für die Machtübernahme innerhalb der Sowjetdemokratie kämpfen. Die Möglichkeit für die Verwirklichung eines solchen Kompromisses schätzt Lenin schon beim Verfassen des Schreibens sehr gering ein und hält sie schon wenige Tage später für unmöglich, sie zeigt aber seine taktische Flexibilität, die Form des Kampfes um die Macht sich rasch verändernden Bedingungen anzupassen.

Die Schrift selbst stieß den linksradikalen Flügel der Partei durchaus vor den Kopf. Die radikalen UnterstützerInnen Lenins fürchteten eine Rechtsentwicklung. Umgekehrt versuchte der rechte Flügel „Über Kompromisse“ für seine Zwecke zu missbrauchen. Ihm schwebte nämlich eine strategische, langfristige Allianz aller Sowjetparteien vor. Für Kamenew war letztlich Russland noch nicht reif für eine sozialistische Umwälzung. Dieser menschewistische Standpunkt wiederum bildete eine organische Basis für den Opportunismus. Lenin, Trotzki und andere Parteiführer hingegen sahen selbst in „Über Kompromisse“ eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Räteregierung nur als ein Übergangsstadium zur Diktatur des Proletariats, zu einer Sowjetregierung unter bolschewistischer Führung, an.

Die Bedingungen für den „Kompromiss“ wurden durch die Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki selbst zunichte gemacht. Deren Spitzen dachten nicht daran, eine Kursänderung vorzunehmen. Nach dem Kornilow-Putsch sollte die Regierung umgebildet werden, Kerenski weiter an ihrer Spitze bleiben, das Bürgertum sollte weiter vertreten sein, wenn auch ohne Kadetten, die durch ihre Kollaboration mit dem Putschversuch zu diskreditiert schienen. Die „kleinbürgerliche Demokratie“ versuchte,  die Koalition mit der Bourgeoisie um jeden Preis fortzusetzen – notfalls auch nur mit dem „Schatten der Bourgeoisie“.

Zugleich vollzogen sich entscheidende Veränderungen, die die Machtübernahme unter Führung der Bolschewiki und die Notwendigkeit des Aufstandes auf die Tagesordnung setzten.

Dazu gehörte erstens eine immer größere Linksentwicklung in den Räten. Anfang September ging die Mehrheit in Petersburg an die Bolschewiki über, im Laufe des Monats vollzog sich diese Entwicklung in vielen anderen Städten. Nicht nur die ArbeiterInnenklasse drängte auf Entscheidung und radikalisierte sich. Auch die Stimmung in der Garnison in Petersburg wie an der Front ging mehr und mehr nach links.

Die Partei der Sozialrevolutionäre spaltete sich, der linke Flügel näherte sich den Bolschewiki an. Das spiegelte auch die Stimmung in der Armee, vor allem aber in der Bauernschaft und die sich ausweitende Agrarrevolution wider.

Die Bolschewiki hatten die Russische Revolution immer als Bündnis zweier Klassen, von ArbeiterInnen und Bauern konzipiert. Anders als 1905 jedoch betonten sie – ähnlich wie Trotzki in der Theorie der Permanenten Revolution – die Notwendigkeit, sich der unterschiedlichen Klasseninteressen von ArbeiterInnenschaft und Bauern bewusst zu sein, weil in der proletarischen Revolution diese – selbst im Falle eines Bündnisses – von Beginn an auch zur Geltung kommen müssten. Das geht auch damit einher, dass es eine stärkere Betonung auf die Organisierung des Landproletariats, der halb-proletarischen Schichten, wie der Klassendifferenzierung in der Bauernschaft gab. (86) Für das Landproletariat und die halb-proletarischen Schichten sollen eigene Organisationsformen, Verbände geschaffen werden, um auf dem Land eine hegemoniale Stellung und ein enges Bündnis mit der Masse der Kleinbauern zu erwirken.

Die Unterstützung der Landrevolution im Sommer 1917 war ein entscheidendes Mittel, die Bauernschaft für die Revolution zu gewinnen – zumal sich die Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen die Enteignung des Gutsbesitzes von unten stellten.

Einen weiteren wichtigen Aspekt bildet auch die nationale Frage, die in etlichen Teilen Russlands eng mit der Landfrage verbunden war. Die Bolschewiki waren die einzige Partei, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen – einschließlich ihres Rechtes auf Lostrennung – verteidigte.

Schließlich hat sich die Lage auch dadurch geändert, dass die Zerrüttung durch den Krieg, die instabilen Verhältnisse usw. die Gefahr einer allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Katastrophe (Blutzoll an der Front, Hunger, Stillstand der Betriebe, weiterer Zerfall des gesellschaftlichen Austausches) hervorbrachten.

Ende September 1917 bringt Lenin dieses Problem deutlich auf den Punkt in „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“ (87), das ein Aktionsprogramm zur Abwendung des Niedergangs präsentiert. Lenin setzt sich darin mit allen Grundfragen der Revolution auseinander und propagiert eine Reihe von Übergangsforderungen, die allesamt die Machtübernahme, die Beendigung der Doppelmacht erfordern. Nur so könne die Katastrophe abgewendet werden

„Denn einzig und allein, wenn das Proletariat, an seiner Spitze die Partei der Bolschewiki, die Macht erobert, könnte dem skandalösen Treiben der Kerenski und Co. ein Ende gesetzt werden und die Arbeit der demokratischen Organisationen für Ernährung, Versorgung usw., die von Kerenski und seiner Regierungsmehrheit vereitelt wird, wieder in Gang gebracht werden.

Die Bolschewiki – das angeführte Beispiel zeigt es mit aller Deutlichkeit – handeln als Vertreter der Interessen des gesamten Volkes, handeln im Interesse der Sicherung von Ernährung und Versorgung und der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Arbeiter und Bauern entgegen der schwankenden, unentschlossenen, wahrhaft verräterischen Politik der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, …“ (88)

Aufstand

In einer Situation des Zerfalls des Landes, der Bauernrevolution, nationaler Unruhen, des weiteren Verlustes des Einflusses von Sozialrevolutionären und Menschewiki, der Diskreditierung der Bourgeoisie vsuchte die Konterrevolution verzweifelt nach einer neuen Basis für ihre Macht. Dies wurde zusätzlich dringlicher, als die Mehrheit in den Räten immer häufiger nach links, zu den Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären überging.

Beratungen wie die „Demokratische Staatskonferenz“, die aus VertreterInnen aller Klassen, von Räten, Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Wirtschaftsvertretern, Militärs, bürgerlichen Wissenschaftern usw. bestand und Ende September tagte, sollten den Rahmen für eine „Verständigung“ und eine neue Koalition bilden. Die Anhänger einer Koalitionsregierung, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, hofften, so eine neue Grundlage für eine Regierung der Klassenzusammenarbeit zu finden, während die Kapitalistenklasse und die Stäbe des russischen Imperialismus auf einen Diktator als letzte Rettung hofften und sogar erwogen, Petrograd dem deutschen Imperialismus zu überlassen, um die Revolution zu vernichten. Diese Mischung aus Reaktion und Verzweiflung äußerte sich in einer instabilen Regierung und drängte zu einem weiteren Versuch, eine bonapartistische Herrschaftsform zu etablieren.

Die Entwicklung stellte auch die Bolschewiki vor die Frage, wie auf die geänderte Lage zu reagieren sei. Von Beginn bis Mitte September hatte Lenin die Möglichkeit einer „friedlichen Entwicklung“ der Revolution, eines Kompromisses mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki als Schritt zu einer Machtergreifung ins Auge gefasst, bald jedoch verworfen. Der rechte Parteiflügel orientierte sich hingegen auf eine solche Entwicklung, auf eine Allianz der „Sowjetparteien“.

Dessen Stärke verdeutlicht die Abstimmung über die Frage des Austritts aus der Staatskonferenz und des Boykotts des „Vorparlaments“, das der sog. Staatskonferenz folgen sollte.

Kamenew und seine Anhänger waren für einen Verbleib, um die Koalitionspolitik zu denunzieren und ein Bündnis mit den schwankenden Elementen aus den Reihen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre zu bilden und so den Grundstein für einen „sozialistischen Block“ am Sowjetkongress zu schaffen.

Der linke Flügel um Trotzki trat für einen demonstrativen Auszug aus der Staatskonferenz ein und für den Boykott des Vorparlaments, um damit den Bruch mit den Versöhnlergruppen zu unterstreichen und mit der Agitation für die Machtübernahme der Sowjets durch alle revolutionären Gruppierungen zu verbinden.

Beide Strömungen waren für die Einberufung eines Sowjetkongresses – allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Zielen. Das Zentralkomitee stimmte zwar mit 9:8 Stimmen für den Boykott des Vorparlaments, entschied aber auch, die endgültige Beschlussfassung einer gemeinsamen Sitzung der Führung und der Delegierten zur Demokratischen Konferenz zu überlassen. Dort unterlagen die Linken mit 50:77 Stimmen. Der Verlauf des „Vorparlaments“ hatte zwar eine korrigierende Wirkung und führte zu einem öffentlichkeitswirksamen Auszug, dem das gesamte Zentralkomitee außer Kamenew zustimmte (89), aber trotzdem zeigten sich hier tiefe, strategische Differenzen.

Auf der anderen Seite hatte Lenin schon zuvor entschieden auf eine Neuorientierung der Partei, auf den Kurs in Richtung Aufstand gedrängt. Er betonte dabei zu Recht, dass die Frage des Aufstandes praktisch gestellt sei. „Nachdem die Bolschewiki in den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.“ (90)

Er betont die Dringlichkeit der Aufgabe, weil eine Preisgabe Petrograds drohe, der Sowjetkongress selbst verschoben oder sabotiert werden könne. Die Bolschewiki, so Lenin, hätten die Pflicht, die Macht durch einen Aufstand in Petrograd und Moskau zu errichten und dürften dabei auch nicht auf den Sowjetkongress oder eine formelle Mehrheit warten.

Lenins entschiedener Kurs auf einen raschen Aufstand verschreckte nicht nur die Partei-Rechte, auch viele Aufstandsbefürworter waren im Gegensatz zu ihm der Meinung, dass er die politische Vorbereitung des Aufstandes unterschätze, und traten dafür ein, diesen unter Ausnutzung der Sowjetorgane durchzuführen.

Lenin umgekehrt befürchtete, angesichts der Stärke und Hinhaltepolitik des rechten Flügels, dass der Aufstand verschleppt würde. Er trat daher sehr entschieden für die Anhänger des Boykotts des Vorparlaments ein. So notiert er am 23. September:

„Trotzki ist für den Boykott eingetreten. Bravo, Genosse Trotzki!

Der Boykottismus hat in der Fraktion der Bolschewiki, die zur Demokratischen Beratung gekommen sind, eine Niederlage erlitten. (…)

Auf keinen Fall können und dürfen wir uns mit der Beteiligung abfinden. Die Fraktion einer Beratung ist nicht das höchste Parteiorgan, und auch die Beschlüsse der höchsten Organe unterliegen einer Revision auf Grund der praktischen Erfahrung.

Man muss um jeden Preis eine Beschlussfassung in der Frage des Boykotts sowohl durch das Plenum des Exekutivkomitees als auch durch einen außerordentlichen Parteitag herbeiführen. Man muß sofort die Frage des Boykotts zur Plattform für die Wahlen zum Parteitag und für sämtliche Wahlen innerhalb der Partei machen.“ (91)

Aus diesen Zeilen wird deutlich, dass er den Fehler in der Boykottfrage im Kontext der grundsätzlichen Ausrichtung betrachtete, als Zeichen für die Ablehnung des Kurses der Machtergreifung durch den rechten Flügel und die „,parlamentarischen‘ Spitzen der Partei“.

Sein Drängen auf den Aufstand trägt ohne Zweifel maßgeblich dazu bei, dass die Partei den Kurs auf den Oktober einschlägt. Lenin wendet sich dabei auch an „untere“ Parteifunktionäre, kämpferische Regionalkomitees, um das „lasche“ Zentralkomitee unter Druck zu setzen. An bestimmten Punkten droht er sogar mit einem Austritt aus der Parteiführung, um nicht an deren innere Loyalität gebunden zu sein, und sich direkt an die Parteibasis wenden zu können.

Bei der historischen Sitzung des Zentralkomitees am 10. Oktober tragen die Aufstandsbefürworter einen politischen Sieg davon. Die Revolution Lenins wird mit 10 zu 2 (Kamenew, Sinowjew) Stimmen angenommen.

„Das Zentralkomitee stellt fest, dass sowohl die internationale Lage der russischen Revolution (der Aufstand in der deutschen Flotte als höchster Ausdruck des Heranreifens der sozialistischen Weltrevolution in ganz Europa, ferner die Gefahr eines Friedens der Imperialisten mit dem Ziel, die Revolution in Rußland zu erdrosseln) als auch die militärische Lage (der nicht zu bezweifelnde Entschluß der russischen Bourgeoisie sowie Kerenskis und Co., Petrograd den Deutschen auszuliefern) und die Eroberung der Mehrheit in den Sowjets durch die proletarischen Partei – daß all dies im Zusammenhang mit dem Bauernaufstand und mit der Tatsache, daß sich das Vertrauen des Volkes unserer Partei zugewandt hat (die Wahlen in Moskau), und endlich die offenkundige Vorbereitung eines zweiten Kornilowputsches (Abtransport von Truppen aus Petrograd, Zusammenziehung von Kosaken bei Petrograd, Umzingelung von Minsk durch Kosaken usw.) – daß all dies den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzt.“ (92)

In ihrer schriftlichen Begründung (93) zeigen Kamenew und Sinowjew, wie tief ihre Differenzen sind, wie weit sie sich von den Aprilthesen und dem Kurs auf die Errichtung der ArbeiterInnenmacht entfernt haben. Nachdem sie darlegen, dass sie einen Aufstand für abenteuerlich halten, weil er zum Ruin der Partei und der Revolution führen würde, erklären sie, dass ihre zentrale Zielsetzung die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sei, die von der Bourgeoisie immer weniger blockiert werden könne. Die Parteien der kleinbürgerlichen Demokratie würden von links unter Druck kommen und gezwungen sein, eine Allianz mit dem Proletariat gegen die Kadetten einzugehen. Das bilde nicht nur die Basis für eine Allianz mit diesen Parteien, sondern auch für die Kombination der Konstituierenden Versammlung mit den Sowjets.

„Die verfassunggebende Versammlung kann natürlich nicht aus sich heraus das wirkliche Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändern. Aber sie wird verhindern, dass dieses Verhältnis weiter verschleiert wird. Es gibt kein Loswerden der Sowjets, die im Leben Wurzeln geschlagen haben. Die Räte üben schon jetzt vielerorts praktisch die Macht aus.

Die Konstituierende Versammlung kann sich in ihrer revolutionären Arbeit auch nur auf Sowjets stützen. Konstituierende Versammlung plus Sowjets – das ist die Kombination von staatlichen Institutionen, auf die wir uns zubewegen. Auf dieser Grundlage erhält unsere Partei eine riesige Chance auf einen wirklichen Sieg.“ (94)

Diese Stellungnahme der Partei-Rechten offenbart, dass sie noch immer der „demokratischen Revolution“ von 1905 verhaftet waren. Die Doppelmacht solle nicht zugunsten des Proletariats und der Masse der unteren Schichten der Bauernschaft gelöst, sondern in neuer Form weitergelebt werden, als „Mischung“ zwischen bürgerlichen und proletarischen Organen. Dieses Echo der historisch überholten Position des „alten“ Bolschewismus ist zugleich ein Vorbote des Rechtszentrismus der USPD, des hoffnungslosen Versuchs, Formen des bürgerlichen und proletarischen Staates zu ergänzen. Lenin denunziert die „Verfassungsillusionen“ Kamenews und Sinowjews entschieden. Ihre Perspektiven hätten nicht der Revolution, sondern der Konterrevolution zugearbeitet.

Der rechte Flügel der Partei hatte nicht vor, sich dem Beschluss für den Aufstand zu fügen und er war sicher auch einflussreicher, als das Stimmverhältnis am 10. Oktober nahelegt. Teile hofften, dass der Entscheidung keine praktischen und organisatorischen Maßnahmen folgen würden. Je konkreter jedoch die Aufstandsvorbereitungen und die praktischen Schritte wurden, desto illoyaler wurde die rechte Minderheit, die auch vor dem „offenen Streikbruch“, also der öffentlichen Distanzierung vom Kurs der Bolschewiki in der parteifeindlichen Presse nicht zurückschreckte. Lenin forderte daher den Ausschluss von Sinowjew und Kamenew – einen Schritt, den die Parteiführung jedoch ablehnte, weil sie eine Spaltung und damit noch größeren Schaden befürchtete.

Differenzen unter den AufstandbefürworterInnen

Unter den AufstandsbefürworterInnen gab es zwar keine Differenzen über das Ziel, wohl jedoch über den Weg zur Machteroberung. Lenin vertrat von Beginn an, dass die Bolschewiki selbst den Aufstand initiieren und dann die Macht auf die Räte übertragen müssten. Er lehnte es strikt ab, auf einen Rätekongress zu warten.

„Der Sowjetkongreß ist auf den 20. Oktober verschoben worden. Das entspricht angesichts des Tempos, in dem Rußland lebt, benahe einem Aufschub auf den Sankt-Nimmerleinstag.“ (95)

In einem Brief an Smilga, einen der linkesten Bolschewiki dieser Tage, betont er die Notwendigkeit des sofortigen Handelns.

„Meines Erachtens muß man zur richtigen Orientierung der Geister sofort folgende Losung in Umlauf setzen: Die Macht muß sofort in die Hände des Petrograder Sowjets übergehen, der sie dem Sowjetkongreß übergeben wird. Denn wozu soll man noch drei Wochen des Krieges und der ‚kornilowschen Vorbereitungen‘ Kerenskis hinnehmen“. (96)

Noch nachdrücklicher:

„Man muß ‚aussprechen was ist‘, die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Strömung oder Meinung muß niedergekämpft werden. (…)

Den Sowjetkongreß ‚abwarten‘ ist Idiotie, denn der Kongreß wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!“ (97)

„Zögern wäre ein Verbrechen. Den Sowjetkongreß abwarten wäre kindische Formalitätsspielerei, schändliche Formalitätsspielerei, wäre Verrat an der Revolution.“ (98)

im Zentralkomitee noch eine dritte Gruppierung in der Aufstandsfrage. Während die Rechten durch die Logik ihrer Argumentation gezwungen waren, von der Losung „Alle Macht den Räten“ abzurücken und Lenin in Anlehnung an die Julitage die Überrumpelung durch den Feind befürchtete (99), setzte die dritte Strömung um Trotzki, darauf, die bestehenden Sowjetinstitutionen für den Aufstand zu nutzen, diesen als „defensive“ Aktion durchzuführen.

„Eine andere Haltung, die taktisch vorsichtige Bolschewiki einnahmen – vor allem diejenigen, die in den Sowjets oder in anderen typischen Einrichtungen an der Basis aktiv und daher besonders gut mit der vorherrschenden Stimmung der Massen vertraut waren – sah folgendermaßen aus: (1) Die Sowjets (wegen ihres Ansehens bei Arbeitern und Soldaten) und nicht die Organe der Partei sollten beim Sturz der Provisorischen Regierung zum Einsatz kommen. (2) Um die breitest mögliche Unterstützung zu erhalten, sollte jeder Angriff auf die Regierung als Verteidigungsaktion im Auftrag der Sowjets dargestellt werden. (3) Aus diesem Grund sollte eine solche Aktion solange aufgeschoben werden, bis sich ein passender Vorwand für den Aufbruch zum Kampf bot. (4) Um potenziellen Widerstand zu unterlaufen und die Erfolgschancen zu erhöhen, sollte jede Gelegenheit ergriffen werden, die Macht der Provisorischen Regierung auf friedlichem Wege zu untergraben. (5) Der formelle Sturz der Regierung sollte durch die Entscheidungen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses legitimiert werden.“ (100)

Eine für die Revolution wichtige und auch beispielhafte Form der Ausnutzung der Sowjetorgane war das „militärische Revolutionskomitee“, eine ursprünglich von den Menschewiki vorgeschlagene Institution, die von den Bolschewiki unter Einbeziehung der linken Sozialrevolutionäre zur Aufstandsvorbereitung verwendet wurde:

„Indem es die Kommission zur Ausarbeitung der Verordnung für das ‚Komitee der Verteidigung‘ ins Leben rief, hatte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets für das Militärische Organ folgende Aufgaben vor Augen: in Verbindung zu treten mit der Nordfront und dem Stab des Petrograder Bezirkes, mit dem Zentrobalt und dem Distriktsowjet von Finnland zur Klärung der militärischen Situation und der notwendigen Maßnahmen; Vornahme einer Überprüfung des Personenbestandes der Garnison von Petrograd und Umgebung, wie auch der Kriegsausrüstung und Verpflegung; Ergreifung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Disziplin in den Soldaten- und Arbeitermassen. Die Formulierungen waren allumfassend und gleichzeitig zweideutig: sie bewegten sich fast sämtlich an der Grenze zwischen Verteidigung der Hauptstadt und bewaffnetem Aufstande. Aber diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen. Das Element der Verteidigungsmaske war nicht gewaltsam von außen hineingetragen worden, sondern ergab sich bis zu einem gewissen Grade aus den Bedingungen des Vorabends des Aufstandes.“ (101)

Während  die Anschläge der Regierung auf die Petersburger Garnison und deren drohende Verlegung in Lenins  Augen  die Notwendigkeit eines Losschlagens ergaben, sahen die Anhänger Trotzkis gerade darin eine Möglichkeit, die Sowjetorgane zu nutzen.

„Trotzki war in jener Sitzung nicht anwesend: er verfocht in den gleichen Stunden im Sowjet die Verordnung über das Militärische Revolutionskomitee. Aber jenen Standpunkt, der sich in den letzten Tagen im Smolny endgültig herausgebildet hatte, verteidigte Krylenko, der soeben Schulter an Schulter mit Trotzki und Antonow-Owssejenko den Sowjetkongreß des Norddistrikts geleitet hatte. Krylenko zweifelt nicht daran, daß ‚das Wasser genügend siedend ist‘; die Resolution über den Aufstand zurückzunehmen, ‚wäre der größte Fehler‘. Er geht jedoch mit Lenin auseinander ,in der Frage, wer beginnt und wie beginnen‘. Einen bestimmten Tag für den Aufstand festzusetzen sei zur Zeit noch unzweckmäßig. ‚Doch die Frage des Abtransports der Truppen bildet gerade jenes Moment, wo der Kampf einsetzen wird … Die Tatsache, daß wir angegriffen sind, ist damit gegeben, und dies kann ausgenutzt werden … Sich darum sorgen, wer beginnen soll, ist überflüssig, denn der Beginn ist bereits da.‘ Krylenko legte dar und verteidigte die Politik, die das Fundament des Militärischen Revolutionskomitees und der Garnisonberatung bildete. Der Aufstand entwickelte sich in der Folge just auf diesem Wege.“ (102)

Lenins Konzeption hatte zweifellos einen Vorzug – die Schnelligkeit. Aber sie hatte auch einen offenkundigen politischen Nachteil. Eine Aufstandsbewegung, die nicht aus den Sowjetorganen erwächst, verfügt über eine weitaus geringere gesellschaftliche Basis.

Lenins langes und letztlich vergebliches Insistieren auf einen von der Partei ausgelösten oder ausgerufenen Aufstand hatte neben berechtigten Befürchtungen und geringer Nähe zur Basis eine weitere Ursache. Im Gegensatz zu Trotzki erkannte er nicht die Möglichkeiten, die sich aus den Institutionen der Doppelmacht für den Aufstand ergaben, die ihn erleichterten und schwer angreifbar machten. Lenin beschreibt die Räte in seinen Artikeln vor dem Aufstand oft als „machtlos“, „schwächlich“, als Organe der Selbstorganisation, auf die erst durch den Aufstand die Macht übertragen werden könne. Für ihn müssen die Räte vor die Tatsache der erfolgreichen Machtübernahme gestellt werden, der erfolgreiche Aufstand könne zwar Räteorgane zu Hilfe nehmen, der Aufstand sei aber ein militärisch-politischer Ansturm von außen.

Zweifellos ist die von Lenin immer wieder dargelegte Schwäche oder Ohnmacht der Räte, gerade unter nicht-revolutionärer Führung, ein reales Moment. Aber er blendet zugleich aus, dass die Sowjets im Bewusstsein der Massen auch schon legitime Machtorgane sind, solange es eine Doppelmachtsituation gibt. Daran knüpft die erfolgreiche Aufstandstaktik im Oktober an.

„Den Februaraufstand nennt man elementar. An anderer Stelle haben wir in diese Bezeichnung alle notwendigen Einschränkungen hineingebracht. Doch ist jedenfalls richtig, daß im Februar niemand die Wege der Umwälzung vorausgewiesen hat; niemand hat in Fabriken und Kasernen über die Frage der Revolution abgestimmt; niemand von oben zum Aufstande aufgerufen. Die in Jahren angesammelte Empörung explodierte, zum größten Teil unerwartet für die Masse selbst.

Ganz anders verhielt sich die Sache im Oktober. Während der 8 Monate hatten die Massen ein gespanntes politisches Leben geführt. Sie schufen nicht nur die Ereignisse, sondern lernten auch deren Zusammenhänge begreifen; nach jeder Tat erwogen sie kritisch deren Ergebnisse. Der Sowjetparlamentarismus wurde die Alltagsmechanik des politischen Lebens des Volkes. Wenn durch Abstimmungen Fragen über Streiks, Straßenmanifestationen, Versetzung eines Regiments an die Front entschieden wurden, konnten da die Massen auf den selbständigen Beschluß in der Frage des Aufstandes etwa verzichten?“ (103)

Das Militärische Revolutionskomitee zum Organ des Aufstandes zu machen, die Sozialrevolutionäre einzubeziehen war ein genialer Akt, dessen Stärke aus einem richtigen Verständnis der Möglichkeiten der Sowjets erwächst.

Dass der Aufstand dabei relativ unblutig vonstatten ging, dass er relativ „ruhig“ erschien, ist im Übrigen auch ein Resultat der Tatsache, dass die Revolution den Staatsapparat schon weitgehend zerbrochen hatte. Die Soldaten waren über die Sowjets ins Lager des Oktober übergetreten, der Aufstand war – wie jeder Aufstand – erfolgreich, weil er eine breite gesellschaftliche Basis hatte. Ansonsten hätte sich die Sowjetmacht nicht halten und erst recht nicht die Eigentumsverhältnisse im Land umwälzen können.

Die Bedeutung der Räte, Milizen, der Roten Garden für die Revolution ist eng mit dem Oktober verbunden. In der Tat liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres Erfolges wie auch für die revolutionären Politik unserer Zeit gerade darin, das Verhältnis von Klasse, Partei und Räten richtig zu verstehen.

„Wäre es da nicht einfacher gewesen, zum Aufstande unmittelbar im Namen der Partei aufzurufen? Ernsthafte Vorzüge eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Doch vielleicht unverkennbarer sind auch die Nachteile. Unter den Millionen, auf die die Partei sich berechtigterweise stützen zu können glaubte, hat man drei Schichten zu unterscheiden: die eine, die bereits bedingungslos mit den Bolschewiki ging; die andere, zahlreichste, die die Bolschewiki unterstützte, insofern diese durch die Sowjets handelten; die dritte, die mit den Sowjets ging, obwohl die Bolschewiki in ihnen vorherrschten.

Diese Schichten unterschieden sich nicht nur nach ihrem politischen Niveau, sondern im großen Maße auch nach der sozialen Zusammensetzung Mit den Bolschewiki als Partei gingen vor allem die Industriearbeiter, in den ersten Reihen Petrograds Erbproletarier. Mit den Bolschewiki, sofern sie legale Deckung seitens des Sowjets besaßen, ging die Mehrheit der Soldaten. Mit den Sowjets, unabhängig davon oder obwohl darin die Bolschewiki stark vorherrschten, gingen die konservativsten Zwischenschichten der Arbeiter, frühere Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich fürchteten, von den übrigen Massen abgedrängt zu werden; die konservativeren Truppenteile der Armee einschließlich der Kosaken; die Bauern, die sich von der Führung der sozialrevolutionären Partei befreit hatten und sich an deren linken Flügel klammerten.

Es wäre ein offener Fehler, die Stärke der Bolschewistischen Partei mit der Macht der von ihr geleiteten Sowjets zu identifizieren: die letztere war um vieles beträchtlicher, jedoch ohne die erste hätte sie sich in Ohnmacht verwandelt. Es ist dahinter nichts Geheimnisvolles. Die Wechselbeziehung zwischen Partei und Sowjets erwuchs aus dem in revolutionärer Epoche unvermeidlichen Mißverhältnis zwischen dem kolossalen politischen Einfluß des Bolschewismus und dessen engem organisatorischen Rahmen. Ein richtig angewandter Hebel verleiht der menschlichen Hand die Fähigkeit, eine ihre lebendige Kraft um ein Vielfaches übersteigende Last zu heben. Doch ohne die lebendige Hand ist der Hebel nur eine tote Stange.“ (104)

Mit dem Sieg des Aufstandes geht die Macht an die von den Bolschewiki geführten Räte über, die Doppelmacht wird beendet. Der Rat der Volkskommissare wird gebildet, erste Dekrete der Sowjetmacht werden erlassen.

Die Oktoberrevolution hat nicht nur eine Bresche in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geschlagen, ihre Entstehung, ihr Verlauf, ihr späterer Niedergang, vor allem aber die Strategie und Taktik der Bolschewistischen Partei sind bis heute ein Bezugspunkt für alle, die für die Befreiung der ArbeiterInnenklasse, für die sozialistische Weltrevolution kämpfen.

Klasse, Partei, Räte

Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. In ihnen konzentrieren sich politische, wirtschaftliche und ideologische Klassenkämpfe und Widersprüche einer Gesellschaft, die über ganze Perioden die Verlaufsformen ihrer inneren Auseinandersetzung, Entwicklung und Nicht-Entwicklung prägen.

Diese geschichtlichen Perioden stellen die Verhältnisse in Frage, die der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, den Angehörigen der herrschenden wie beherrschten Klassen als „Gewissheiten“ erscheinen. Die inneren Widersprüche, die sich in den „Tiefen“ der Gesellschaft über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entwickelt haben, die jedoch an deren Oberfläche als „reguliert“ erschienen, treten dann offen hervor. Revolutionen sprengen diesen inneren Zusammenhang, treten eruptiv als gesellschaftliche „Explosionen“, als Sprünge in Erscheinung. Obwohl, ja weil sie aus den gesellschaftlichen Gegensätzen erwachsen, die für lange Zeit auch die Basis jener politischen, staatlichen, sozialen Formen bildeten, in deren Rahmen das politische, wirtschaftliche und soziale Leben reproduziert wurde, „überraschen“ Krisen und erst recht deren revolutionäre Zuspitzung alle Klassen und ihre Parteien.

Revolutionen scheinen die Verhältnisse „auf den Kopf“ zu stellen. Sie erscheinen nicht nur den direkten Parteigängern der alten Ordnung als „Wahnsinn“, sondern auch den AnhängerInnen einer „vernünftigen“, schrittweisen, graduellen „Reform“ der Gesellschaft. Dieser Schein wird zusätzlich dadurch genährt, dass sie  die in Bewegung geratenen Massen wie auch die entschlossensten GegnerInnen der bestehenden Ordnung „überraschen“.

Dabei treten die unterdrückten Klassen als Subjekte, als Akteure hervor. Diejenigen, die gestern noch bloßes Ausbeutungsmaterial oder Kanonenfutter waren, die allenfalls über gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf ihre Interessen vertreten mussten oder konnten, werfen sich in den Kampf um eine Neuordnung der Gesellschaft, werfen die Machtfrage auf. Sie scheinen in eine andere Welt katapultiert zu werden. Sie machen wirklich Geschichte, wenn auch nicht aus freien, selbst gewählten Stücken, sondern unter vorgefundenen Bedingungen. Die zur revolutionären Aktion Gestoßenen agieren zwar ohne klares Bewusstsein der Verhältnisse, die sie treiben, kombinieren daher unvermeidlich Vergangenes mit Zukünftigem, Fortschrittliches mit Reaktionärem. Wie die Gesellschaft selbst ist ihr Bewusstsein im Fluss, weil ihr Handeln über das Bestehende hinausdrängt, ja schon hinausgegangen ist.

Das trifft letztlich auch auf diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse zu, die politisch-ideologisch und theoretisch die Revolution vorweggenommen, gewissermaßen durchdacht haben, die sich schon als Avantgarde formierten oder dabei waren/sind, diesen Schritt zu unternehmen.

Auch sie können von der Revolution „überrascht“ werden. Selbst Lenin fürchtete gelegentlich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dass seine Generation eine tiefe, längerfristige konterrevolutionäre Entwicklung durchleben müsse, dass die russische und internationale Revolution in weite Ferne gerückt wäre und ihm „nur“ die Vorbereitung der Zukunft verbliebe.

Dabei hat er mehr als andere die Triebkräfte analysiert und verstanden, die zum Ausbruch der Russischen Revolution geführt haben. Die ganze strategische Ausrichtung der bolschewistischen Politik, die Politik des „revolutionären Defaitismus“ zielte auf die Umwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie. Im Gegensatz zu praktisch allen anderen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung – einschließlich der meisten linken oder pazifistischen KriegsgegnerInnen – charakterisierte der Bolschewismus die imperialistische Epoche als eine von Krieg und Revolutionen.

Die episodischen Unsicherheiten Lenins bezüglich des Tempos der Entwicklung und erst recht die Tatsache, dass die Bolschewiki wie alle anderen Parteien von der Februarrevolution überrascht wurden, scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass Revolutionen letztlich nicht „vorhersehbar“ sind.

In Wirklichkeit sprechen solche Fakten nicht gegen das marxistische Verständnis von Revolution und Konterrevolution. Vielmehr vermag der Marxismus selbst die Notwendigkeit des Auftretens solcher „Zufälle“ zu erklären, zu verstehen.

Blinde Gesetzmäßigkeiten

Die Grundstruktur des Kapitalismus selbst führt nämlich dazu, dass Revolutionen auf der Oberfläche der Gesellschaft als etwas „Zufälliges“, „Irrationales“ erscheinen müssen. In der kapitalistischen Gesellschaft können sich ihre inneren Gesetzmäßigkeiten und ihre Dynamik nur „blind“, hinter dem Rücken unabhängiger Privatpersonen vollziehen. In einer Gesellschaftsformation, die auf allgemeiner Warenproduktion basiert, machen sich diese den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend, die immer nur im Nachhinein zeigen, welches Handeln erfolgreich, welches Produkt nützlich, welche Unternehmung profitabel war. Alle politischen, staatlichen Strukturen, Unterdrückungsverhältnisse, vorhergehende Produktionsweisen usw. sind letztlich von der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt, mögen sie auch noch so „autonom“ erschienen.

Auch wenn sich die bürgerliche Gesellschaft im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung oft als sehr anpassungsfähig und „elastisch“ erwiesen hat, so kann sich staatliches und politisches Handeln nie vom prägenden anarchischen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise frei machen. Akute gesellschaftliche Krisen sind daher nicht nur „bloß“ ökonomische Krisen. Das liegt erstens daran, dass auch den ökonomischen Widersprüchen immer ein Klassenwiderspruch zugrunde liegt, dass sich in einer allgemeinen ökonomischen Krise daher notwendigerweise die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen den Klassen erhebt. Zweitens liegt der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwar ein Ausbeutungsverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital im Bereich der gesellschaftlichen Produktion zugrunde, aber dieses stellt eben nur die Basis für die Gesamtheit des politischen, ideologischen Überbaus der Gesellschaft dar, kann durchaus andere Produktionsweisen noch beinhalten. Drittens ist die kapitalistische Gesellschaftsformation immer schon ein internationales System, die Krisenhaftigkeit des Gesamtsystems ist daher immer auch eines zwischen nationalen Kapitalien und Staaten, die bei einer Zuspitzung der Krisentendenzen notwendig um die Neuaufteilung der Welt kämpfen müssen.

Schließlich hat die Tatsache der Trennung von Ökonomie und Politik, wie sie auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft notwendig erscheint, zur Folge, dass sich „grundlegende“ Krisen, zentrale Konflikte vermittelt oder an scheinbaren „Nebenfragen“ entzünden. So entzünden sich viele Revolutionen an Fragen der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Würde, was dazu verführen mag, ihnen ihren „grundlegenden“ Charakter abzusprechen. In Wirklichkeit zeigt der Verlauf vieler dieser Umstürze, dass dahinter immer auch „handfeste“ ökonomische Fragen stehen. Zweitens stellen letztlich auch die Fragen der Gleichheit, demokratischer Rechte, von Krieg und Frieden, der sozialen Unterdrückung auch Fragen des Klassenkampfes dar, die in bestimmten Situationen sogar zu den Kernfragen der Revolution werden können.

So entflammte die verzweifelte Selbstverbrennung eines deklassierten jungen Menschen die arabischen Revolutionen.

Auch die russischen Revolutionen 1905 oder 1917 brachen gewissermaßen „zufällig“ aus. Oberflächliche Gemüter ziehen daraus gern den Schluss, dass diese geschichtlichen Erdbeben durch klügeres Handeln, frühzeitigere Reformen vermieden hätten werden können. Wäre 1905 nicht in die Demonstrationen geschossen worden, hätte der Zar die Petitionen der ArbeiterInnen zur Kenntnis genommen, wäre der Zar 1917 oder noch früher abgetreten, hätte es demokratische Reformen gegeben, wäre die Zivilgesellschaft entwickelter gewesen – die russischen Revolutionen wären uns erspart geblieben.

Solche hoffnungsvollen Erwägungen beschränken sich natürlich nicht auf ein Land. Ein ganz ähnliches Räsonieren liegt der Vorstellung zugrunde, dass  der Faschismus in Deutschland hätte verhindert werden können, wenn alle auf die Weimarer Verfassung geschworen hätten… All das läuft letztlich darauf hinaus, dass große geschichtliche Umwälzungen – Revolutionen wie Konterrevolutionen – durch „vorausblickendes“, rationales politisches Verhalten von Regierung und Bevölkerungsmehrheit hätten vermieden werden können.

Sicherlich lag etwas „Zufälliges“ darin, dass bestimmte Ereignisse zum offenen Ausbruch von Revolutionen führten. Das bedeutet aber nur, dass politisches Handeln den Ausbruch und die Verlaufsform bestimmter Krisen verändern kann, nicht jedoch die grundlegenden Widersprüche, die zu ihrem offenen politischen Ausbruch drängen. Das würde nämlich erfordern, dass  in einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der großen Mehrheit beruht, in einer globalen Krisensituation, die den Spielraum für Kompromisse eng begrenzt, alle Klassen im Interesse einer „höheren“, über der Gesellschaft stehenden vernünftigen Ordnung auf die Verfolgung ihrer jeweiligen eigenen Interessen verzichten müssten. Sie müssten den Klassenkampf einstellen, wenn er  seine akuteste Form annimmt.

In revolutionären Krisen bedeutet es, die Revolution selbst auf einen Kompromiss zwischen den Klassen beschränken zu wollen, im Falle Russlands auf die Etablierung der bürgerlichen Demokratie, auf eine langfristige demokratische Etappe. Das Programm der kleinbürgerlichen Demokratie ist ein Programm, das nur in Verzicht auf die Machtergreifung enden und auf  Verrat und Unterordnung der unterdrückten Klassen, von Proletariat und Bauernschaft unter jenes der imperialistischen Bourgeoisie und des Großgrundbesitzes hinauslaufen kann.

Es ist kein Zufall, dass die herrschende Klasse, mag sie auch in aufstrebenden Phasen einer Revolution gezwungen sein, auf die Kräfte der klein-bürgerlichen Demokratie (oder des sozialdemokratischen oder stalinistischen Reformismus) zu setzen, früher oder später entschiedene Maßnahmen gegen die revolutionären Kräfte fordern muss und durchzusetzen versucht. So wie die Revolution kann auch sie nicht auf halbem Wege stehenbleiben, kann sich auch die herrschende Klasse nicht mit halben Lösungen zufrieden geben. Sie will nicht nur, sie braucht eine ganze Konterrevolution.

Weil die Revolution alle Elemente der Gesellschaft, ihre ökonomische Basis wie ihren politischen Überbau in den Grundfesten erschüttert und in ihrer Zuspitzung Formen der Doppelmacht hervorbringt, die nur zugunsten einer der beiden Hauptklassen gelöst werden kann, führt sie unvermeidlich dazu, dass sich auch jene Institutionen, die dem gemeinen, „demokratischen“ Verstand als Mittel des Ausgleichs, der „friedlichen“ Beilegung des Konflikts erscheinen, rasch abnutzen, verbrauchen, als ungeeignet erweisen. Das trifft auf alle Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts zu, auch, und gerade auf jene, die als demokratische Revolutionen beginnen.

Auf den Kopf gestellt

Die bürgerliche – und dazu gehört auch die sozialdemokratische – Geschichtsschreibung stellt diese Zusammenhänge in der Regel auf den Kopf. Selbst wenn sie tiefe ökonomische Ursachen, soziale Verwerfungen für revolutionäre Ausbrüche anerkennt, so erblickt sie im Radikalismus der konsequent revolutionären Kräfte wie der entschlossenen Reaktion keinen gesetzmäßigen Ausdruck des Klassenkampfes, sondern den Hort der „Unvernunft“, eine irrationale Überspitzung, die durch institutionelle Arrangements, Demokratie, Zivilgesellschaft usw. eigentlich zu verhindern wäre. Allen gesellschaftlichen Zuspitzungen, der Revolution wie der Konterrevolution, wird ein grundlegend irrationaler Charakter zugesprochen. Revolutionen erscheinen nicht als Motoren, sondern als Betriebsunfälle der Geschichte, hervorgerufen letztlich durch subjektive „Fehlentwicklungen“.

Die unterdrückten Klassen geraten in ihren Augen in vor-revolutionären oder revolutionären Situationen in eine Phase des politischen „Fieberwahns“, der „Unvernunft“ und „überzogener Erwartungen“. Sie erscheinen nicht als Klassensubjekte, die damit beginnen, die Last des Vergangenen abzustreifen, sondern als von den Radikalen „verführte“, „irregeleitete“, „radikalisierte und manipulierte“ Masse. Wo die Massen der Unterdrückten zu Subjekten werden und beginnen, den Alp des herrschenden Bewusstseins abzustreifen, spricht ihnen die bürgerliche Geschichtsschreibung ihre Bewusstheit ab. Der Unterdrückte gilt ihr nur als systemkonformer „Mitbürger“ als „vernünftig“. Wenn die ArbeiterInnen oder die bäuerlichen Massen, nationale und rassistisch Unterdrückte, Frauen, Jugendliche usw. ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen, selbst den Rahmen bürgerlicher Herrschaft, ob nun in offen diktatorischer oder fürsorglicher, bürgerlich-demokratischer Herrschaft, sprengen, wenn sie in der revolutionären Aktion ihren Hass auf die bestehende Gesellschaft zum Ausdruck bringen, dann schlägt ihnen unvermeidlich der Klassenhass nicht nur der Herrschenden entgegen und zwar  nicht nur durch die äußerste Reaktion zu, sondern auch durch die Sozialdemokratie.

Die Oktoberrevolution erscheint in den primitiveren Varianten der bürgerlichen Kritik als „Putsch“ des Bolschewismus, in den etwas umsichtigeren als Resultat einer geschickten „Machtpolitik“, kluger Taktiererei der RevolutionärInnen. Das Programm und dessen taktische und organisatorische Konkretisierung erscheinen nicht als Antwort auf die brennenden gesellschaftlichen Probleme, die die Revolution erst hervorbrachten und auf die die Partei eine zusammenfassende Antwort gibt, sondern als geschicktes Mittel der Manipulation. Diese Auffassung geht bis weit in die „radikale“ Linke unserer Tage hinein, was neben den Entstellungen bürgerlicher und sozialdemokratischer Geschichtsschreibung auch der stalinistischen Legendenbildung um die Partei Lenins zu verdanken ist.

In beiden werden Lenins Partei und ihr Programm zu einer sich immer gleich bleibenden Einheit. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse, zu deren Avantgarde, zu den anderen unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft erscheint als ein undialektisches, in dem die „Partei“ immer schon recht hatte und einfach nur einheitlich und geschlossen das Richtige macht. Im Stalinismus tritt letztlich die Partei an Stelle der ArbeiterInnenklasse als Subjekt der Revolution.

Bewusstsein, Spontanität und Programm

Ein marxistisches Verständnis der Rolle der Partei muss von einem korrekten Verständnis des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse ausgehen. Aus sich heraus kann die ArbeiterInnenklasse nicht „spontan“ revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln. In nicht-revolutionären Perioden wird sie als ausgebeutete Klasse „spontan“ nur gewerkschaftliches und darauf aufbauendes reformistisches Bewusstsein entwickeln. Revolutionäres Klassenbewusstsein muss von außen in die Klasse getragen werden, auf Basis einer wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus und der Verallgemeinerung der bisherigen Erfahrungen im Klassenkampf. Die unmittelbaren Erfahrungen des rein ökonomischen Kampfes oder des Kampfes um politische Reformen führen nicht nur nicht zu revolutionärem Bewusstsein, sie stehen dessen Entwicklung bis zu einem gewissen Grad sogar entgegen, da sie, gerade wenn sie erfolgreich sind, eine graduelle Verbesserung der Klassenlage als möglich erscheinen lassen.

In revolutionären Perioden und Krisen wird dieser rein ökonomische und auch politisch-reformerische Horizont in Frage gestellt. Je nach Vorgeschichte der Klasse und internationaler Konstellation kann in diesen Phasen auch rasch über den Reformismus oder Ökonomismus hinausgehendes Bewusstsein entstehen. Die Klasse insgesamt, und vor allem ihre Avantgarde wird vor Fragen – nicht zuletzt die Machtfrage – gestellt,  die praktisch nach einer sozialistischen Antwort verlangen. Die in Bewegung geratenen Massen setzen Taten, die über den bestehenden Rahmen hinausgehen, selbst wenn sie das nicht „vorhatten“. Das heißt auch, dass sich in bestimmten Phasen auch ideologisch zentristische Stimmungen oder gar ultralinke, ultrarevolutionäre Einstellungen in der Klasse oder deren Avantgarde ausbreiten. In solchen gesellschaftlichen Ausnahmezuständen kann sich durchaus mehr als tradeunionistisches Bewusstsein entwickeln. Damit sich diese Tendenzen zu einer bewussten, politisch klaren revolutionären Kraft entwickeln können, braucht es jedoch die Fusion von wissenschaftlichem Sozialismus und ArbeiterInnenvorhut – die Schaffung einer revolutionären Avantgardepartei.

Die spontanen revolutionären Tendenzen der Klasse, die Tatsache, dass die Tat zum revolutionären Programm drängt, macht das Programm nicht obsolet, wie Spontaneisten denken, sondern begründet erst dessen Unverzichtbarkeit, dessen Notwendigkeit und die Möglichkeit, dass das Programm wirklich zum Wegweiser für die Aktion, für die Lösung der Machtfrage, der entscheidenden Frage aller Revolutionen, wird.

Die revolutionäre Partei ist Ausdruck dieser geschichtlichen und internationalen Erfahrung. Ihre Politik muss auf einer wissenschaftlichen, nicht ideologischen Grundlage basieren.

Das Programm der Partei  muss aber zugleich auch eine Vermittlung darstellen zu den aktuellen Grundfragen des Klassenkampfes,  eine Verbindung herstellen zwischen den unmittelbaren nächsten Konflikten, dem Bewusstsein der Klasse im Hier und Heute, den strategischen Aufgaben der aktuellen Periode, der Frage der politischen Macht und des Übergangs zum Sozialismus. Ein solches Programm muss die aktuellen Tageskämpfe mit dem strategischen Ziel verknüpfen. Daher nimmt es die Form eines Aktionsprogramms, einer Anleitung zum Handel an.

Für den Bolschewismus und insbesondere für Lenin war letztlich das politische Programm der entscheidende Bezugspunkt, nicht die organisatorische, statuarische Form der Partei. So wichtig der „demokratische Zentralismus“ für die Parteikonzeption auch ist, er bleibt gerade aufgrund seines großen Formwandels im Laufe der Entwicklung unverständlich, wenn er nicht im Kontext sich verändernder Situationen, einer sich wandelnden Partei und deren programmatischen Erfordernissen betrachtet wird.

Die revolutionäre Partei – die Verschmelzung von Wissenschaft und Avantgarde der ArbeiterInnenklasse – kann selbst nur zur Führerin der Klasse und unterdrückten nicht-proletarischen Massen werden, wenn sie es vermag, deren Bedürfnisse zu verallgemeinern und mit der Einsicht in den allgemeinen Werdegang der proletarischen Revolution zu verbinden. Nur so kann die Partei ihre Rolle erfüllen und zur Führerin der ArbeiterInnenklasse werden.

Das Verhältnis von Klasse und Partei, von FührerInnen  und Geführten, von Bewussteren und weniger Bewussten darf dabei jedoch nicht als LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis betrachtet werden, so das Wissen, jedenfalls der Vorstellung des Lehrenden nach, auf einer Seite monopolisiert ist.

Die ArbeiterInnenklasse selbst kann zwar im Kapitalismus nicht spontan revolutionäres Klassenbewusstsein entwickeln, in ihren Lebensverhältnissen und Klassenkämpfen wird sie jedoch immer wieder auch auf die inneren Widersprüche der Gesellschaft gestoßen, hin in eine sozialistische Richtung. Sie drängt zur Revolution, zum Sozialismus. Der Kommunismus ist der bewusste Ausdruck der proletarischen Bewegung, also auch, wenn seine wissenschaftliche Ausformung von außen in die Klasse getragen werden muss: Er ist nichts Äußerliches, da er die Stellung der ArbeiterInnenklasse und ihren Befreiungskampf einfach nur bewusst macht, zum Ausdruck bringt.

Dabei übernimmt die ArbeiterInnenklasse selbst keinen passiven Part. So hat Marx aufgrund der Erfahrungen der Revolutionen von 1848 und vor allem des Bonapartismus in Frankreich herausgearbeitet, dass die ArbeiterInnenklasse den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss. Die Form, wie dies geschehen kann, hat nicht Marx im Studierzimmer entworfen, sondern haben die Kommunarden 1871 in Paris aufgezeigt. Das zeigt besonders deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse ein tätiges, spontan zu ihrer eigenen Befreiung drängendes revolutionäres Subjekt ist.

Zugleich zeigt aber Marx` Analyse der Kommune auch die Grenzen dieses Drängens. Die Charakterisierung der Kommune als die „geschichtliche Form zur Befreiung der Klasse“ und als ArbeiterInnenregierung erfolgte keineswegs „automatisch“ aus den Kämpfen der Kommunarden – und erst recht nicht, welche Maßnahmen notwendig waren, um die von der Kommune geschaffenen Möglichkeiten auch zu realisieren. Im Gegenteil. Die Einschätzung und die Lehren aus den Klassenkämpfen in Frankreich offenbarten eine tiefe Spaltung der ArbeiterInnenbewegung in einen revolutionären, marxistischen Flügel, den kleinbürgerlichen Anarchismus (Bakunisten) und die Vorläufer des Reformismus (britische Gewerkschafter).

Die theoretische Verallgemeinerung und die programmatischen Schlussfolgerungen aus der Kommune konnten nur auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus gezogen werden – nicht bloß aus der unmittelbaren Erfahrung des Kampfes. Sie mussten selbst den BarrikadenkämpferInnen „von außen“ vermittelt werden. Schließlich zeigt dieses Beispiel aber auch, dass eine Neubestimmung des Programms der revolutionären ArbeiterInnenbewegung selbst erfolgte. Im Kommunistischen Manifest hieß es noch, dass die nächste Aufgabe der ArbeiterInnenklasse die „Eroberung der Demokratie“ sei und sie so zur Herrschaft gelangen würde.

Mit der Kommune war diese Formel ungenügend geworden. Das Festhalten  an der alten Formel in großen Teilen der Zweiten Internationale und das „Vergessen“ der Lehren der Kommune hatten natürlich materielle Ursachen in einer relativ stabilen, „friedlichen“ Entwicklung des Kapitalismus nach der Niederlage des Jahres 1871. Zugleich aber begünstigte diese  Verflachung des Marxismus den Übergang der Zweiten Internationale in das Lager der Konterrevolution.

Wie wir auch am Beispiel des Bolschewismus gesehen haben, bedarf ein revolutionäres Programm, bedürfen revolutionäre Erkenntnisse nicht nur ihrer Anwendung und Überprüfung in der Praxis. Die revolutionäre Partei selbst tritt mit einem Fundus an Programmatik und Erkenntnis in neue geschichtliche Kämpfe, die – selbst auf ihrem höchsten Entwicklungsstand – immer nur die Verallgemeinerung vergangener Erfahrung sein können.

Klassenkampf und Entwicklung des Programms

Jede revolutionäre Krise erfordert aber nicht die mechanische Anwendung des Programms, sondern seine Anwendung muss immer auch mit der aktuellen Situation verbunden, in die Sprache der Taktik übersetzt sein. Dieselben Losungen, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Revolution im Mittelpunkt stehen, können auf einer anderen nicht mehr angemessen bzw. falsch sein. Das trifft nicht nur auf die inneren Veränderungen in einer revolutionären Situation und auf Fragen der Taktik zu, sondern bezieht sich auch auf die strategische Grundausrichtung der revolutionären Partei.

Ohne Bolschewistische Partei hätte es sicherlich nie die Oktoberrevolution, die Errichtung der Diktatur des Proletariats gegeben. Umgekehrt aber wäre diese Partei nie dazu in der Lage gewesen, Kurs auf den Oktober zu nehmen, hätte sie nicht selbst im Frühjahr 1917 ihre strategische Ausrichtung geändert, was letztlich in die Aprilthesen Lenins mündete. Diese „Umbewaffnung“ der Partei, wie es Trotzki ausdrückte, war von entscheidender Bedeutung dafür, dass sie überhaupt Kurs auf den Oktober nehmen konnte.

Um diese Umbewaffnung zu verstehen – und damit auch Kontinuität wie Bruch innerhalb des Bolschewismus – ist es unerlässlich, auch dessen „Vorgeschichte“ zu betrachten. Die russische Sozialdemokratie konnte in der Revolution 1905 ihre politischen Konzeptionen erstmals erproben. Auch wenn die Revolution 1905  niedergeschlagen wurde, so war sie für die weitere Entwicklung des Bolschewismus von unschätzbarem Wert. Alle Strömungen der ArbeiterInnenbewegung stellten ihre Programme, ihre Politik vor.

Einen zweiten Wendepunkt für die programmatische Formierung des Bolschewismus markieren der Ausbruch des imperialistischen Krieges und der Verrat der Sozialdemokratie. Hier entwickelten sich die Bolschewiki – auf den Status einer relativ kleinen Propagandaorganisation zurückgeworfen – zu einer internationalen Strömung, die nicht nur politisch-organisatorisch mit den Parteien der Zweiten Internationale, den Vaterlandsverteidigern, bricht, sondern auch eine politisch-programmatische Erneuerung des Marxismus beginnt.

Diese wird im Jahr 1917 mit der Machtergreifung und dann mit Gründung der Kommunistischen Internationale weiter vertieft. Sowohl die entwickelte Programmatik des Bolschewismus und der ersten vier Kongresse der KomIntern als auch die Formierung dieser Dritten Internationale zur Kampfpartei der Weltrevolution stellen einen bis heute unerreichten Höhepunkt der Geschichte der revolutionären ArbeiterInnenbewegung dar, den auch die Vierte Internationale, bis zu ihrer Degeneration Ende der 40er Jahre, aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Propagandaorganisation, nicht zu erreichen vermochte.

Jede neue, revolutionäre Internationale muss daher das Erbe des Bolschewismus bis zu seiner Degeneration und Pervertierung zu einem zentralen Anknüpfungspunkt ihrer eigenen Politik machen.

 

Endnoten

(1) Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MEW 8, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1973, S. 115

(2 ) Ebenda, S. 117

(3) Grigori Sinowjew: Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) (1923), Erlangen [Politladen], S. 97

(4) In: Junius Verlag [Hrsg.]: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, Hamburg, 1981, S. 26

(5) Ebenda, S. 28

(6) Lenin, W. I.: „Die Sewstwokampagne und der Plan der „Iskra“, in: LW 7, Berlin/Ost [Dietz], 7. Auflage, 1976, S. 522)

(7) Axelrod, Pawel Borissowitsch: „Rede auf dem Vereinigungsparteitag 1906, April/Mai 1906“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 32

(8) ders.: ebenda, S. 35

(9) Martow, Julius: „Die Geschichte der russischen Sozialdemokratie“, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 30

(10) Lenin, W. I.: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“, in: LW 9, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1957, S. 65

(11) Ebenda, S. 87 f.

(12) Ebenda, S. 126 f.

(13) Siehe: Trotzki, Leo: „Drei Konzeptionen der russischen Revolution“ [1939], in: ders., „Stalin – Eine Biographie“, Band II, Anhang, Reinbek [Rowohlt], Juni 1971

(14) Marx, Karl: „Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch“, in: MEW 19, Berlin/Ost [Dietz], 1. Auflage, 1974, S. 384- 406

(15) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven – Die Permanente Revolution“, Frankfurt a. M. [EVA], 1971, Seite 51 f.

(16) Ebenda, S. 64 f.

(17) Ebenda, S. 68

(18) Ebenda, S. 70

(19) Ebenda, S. 106

(20) Ebenda, S. 120

(21) Lenin, W. I.: „Unsere Aufgaben und der Sowjet der Arbeiterdeputierten“, in: LW 10, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 8)

(23) ders.: „Sozialismus und Anarchismus“, in: LW 10, a. a. O., S. 57 ff.

(23) Siehe: Le Blanc, Paul: „Lenin and the Revolutionary Party“, Amherst/New York [Humanity Books], 1993, S. 107

(24) Siehe z. B. Lenin, W. I.: „Über die Reorganisation der Partei“, in: LW 10, a. a. O., S. 13 ff.

(25) Trotzki, Leo: „Ergebnisse und Perspektiven“, Vorwort [1919], in: ders.: „Ergebnisse und Perspektiven…“, a. a. O., S. 122

(26) Siehe: Laszer, Max: „Kautsky versus Luxemburg – Die Massenstreikdebatte in der deutschen Sozialdemokratie 1910“, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin, 2010, S. 193 ff.

(27) Frölich, Paul: „Rosa Luxemburg – Gedanke und Tat“, Berlin [Dietz], 1990, S. 164 ff.

(28) Vgl.: Workers Power: „Party and Programme“: http://www.workerspower.co.uk/1977/10/party-programme-pt-1/; http://www.workerspower.co.uk/1978/10/party-and-programme-lenin-and-luxemburg-against-opportunism-and-centrism-part-3/; Le Blanc, „Lenin and the Revolutionary Party“, a. a. O.

(29) Hilferding, Rudolf: „Das Finanzkapital“ [1910], Dietz-Verlag, Berlin/Ost 1953

(30) Luxemburg, Rosa: „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, in: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1985, S. 5 ff.

(31) Lenin, W. I.: „Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg“, in: LW 21, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1970, S. 1

(32) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, in: LW 21, a. a. O., S. 26

(33) Ebenda, S. 27

(34) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 369; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(35) Lenin, W. I.: „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 22, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 149.

(36) Lenin, W. I.: „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, in: LW 22, a. a. O., S. 304

(37) Lenin, W. I.: „Sozialismus und Krieg“, in: LW 21, a. a. O., S. 301 f.

(38) Lukács, Georg: „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“, Neuwied und Berlin, 3. Auflage, 1969, S. 9.

(39) Lenin, W. I.: „Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale“, a. a. O., S. 28

(40) Riddell, John [Hrsg.]: „Lenin’s Struggle for a Revolutionary International, Documents: 1907-1916“,  New York, 1984, S. 304; eigene Übersetzung aus dem Englischen

(41) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 1; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007: http://www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm

(42) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, Berlin/West [S. Fischer], 1960, S. 132

(43) Ebenda, S. 137

(44) Siehe ebenda, S. 187

(45) Rosenberg, Arthur: „Geschichte des Bolschewismus“, Frankfurt a. M. [EVA], 1966, S. 123

(46) „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 49

(47) Lenin, W. I.: „Briefe aus der Ferne“, in: LW 23, Berlin/Ost [Dietz], 6. Auflage, 1972, S. 309-357

(48) Ebenda, S. 321

(49) Lorenz, Richard [Hrsg.]: „Die russische Revolution 1917 – Der Aufstand der Arbeiter, Bauern und Soldaten“, München [Nymphenburger Verlagsbuchhandlung], 1981, S. 51

(50) Ebenda, S. 52

(51) Zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 256, eigene Übersetzung

(52) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“,Essen [Mehring Verlag], 2012, S. 536

(53) Workers Power/Britannien: „ Russland auf dem Weg zum Roten Oktober“, Kapitel 2; in:  Revolutionärer Marxismus 38, Berlin, 2007, S. 15

(54) Ebenda, S. 15

(55) Zitiert nach: Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, a. a. O., S. 243

(56) Protokoll der Konferenz, zitiert nach Le Blanc, a. a. O., S. 258 f.

(57) Ebenda, S. 259 f.

(58) Lenin, W. I.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, in: LW 24, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 6)

(59) Zitiert nach: Lenin, W. I.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 32 f.

(60) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 1-8

(61) Ebenda, S. 3 f.

(62) ders.: „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, in: LW 21, a. a. O., S. 415 f.

(63) ders.: „Briefe über die Taktik“, in: LW 24, a. a. O., S. 33

(64) Ebenda

(65) ders.: „Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution“, a. a. O., S. 5)

(66) ders: „Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution“, in: LW 25, Berlin/Ost [Dietz], 3. Auflage, 1972, S. 393 – 507

(67) Ebenda, S. 397

(68) Iswestja, 63, 11.5.1917, in: „Revolution in einem unterentwickelten Land? Texte der Menschewiki zur russischen Revolution und zum Sowjetstaat 1903-1937“, a. a. O., S. 51

(69) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, Frankfurt a. M. [ISP], 1983, S. 22

(70) ders.: „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm)“, Essen [Verlag Ergebnisse und Perspektiven], o. J., S. 26; (Fehler stillschweigend korrigiert; d. Red.)

(71) Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Einleitung zur englischen Ausgabe, Essen [Mehring Verlag], 2012, S. LVII

(72) Trotzki, „Geschichte der russischen Revolution“,

 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b2-kap02.htm

(73) Lenin, W. I.: „Zu den Losungen“, in: LW 25, a. a. O., S. 181

(74) ders.: „Die politische Lage“, ebenda, S. 174

(75) ders.: „Zu den Losungen“, a. a. O., S. 188

(76) Ebenda, S. 182 f.

(77) Für eine ausführliche Darstellung der Diskussion siehe Rabinowitch, a. a. O., Kapitel 5, S. 121 ff.

(78) Trotzki, Leo: „Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag“, a. a. O., S. 37

(79) Lenin, W. I.: „An das Zentralkomitee der SDAPR“, in: LW 25, a. a. O., S. 292 ff.

(80) Ebenda, S. 294 f.

(81) Ebenda, S. 295

(82) Ebenda

(83) Ebenda

(84) ders.: „Über Kompromisse“, in: LW 25, a. a. O., S. 313 ff.

(85) Ebenda, S. 314

(86) ders.: „Resolution zur Agrarfrage“, April 1917, in: LW 24, a. a. O., S. 283

(87) ders.: „Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll“, in: LW 25, a. a. O., S. 327-377

(88) Ebenda, S. 363

(89) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution: minutes of the Central Committee of the Russian Social-Democratic Labour Party (Bolsheviks) August 1917-February 1918“, London [Pluto Press], 1974, S. 78

(90) Lenin, „Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen“, in: LW 26, Berlin/Ost [Dietz], 2. Auflage, 1970, S. 1

(91) ders. „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, ebenda, S. 40 f.

(92) ders. „Sitzung des Zentralkomitees der SDAPR(B), 10. (23.) Oktober 1917“, in: LW 26, a. a. O., S. 178

(93) Bone, Ann: „The Bolsheviks and the October Revolution“, S. 89 -95

(94) Ebenda, S. 90

(95) Lenin, W. I.: „Aus dem Tagebuch eines Publizisten“, in: LW 26, a. a. O., S. 41

(96) ders.: „Brief an Vorsitzenden des Gebietskomitees der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands I.T. Smilga“, ebenda, S. 54

(97) ders.: „Die Krise ist herangereift“, in: LW 26, a. a. O.,  S. 65 f.

(98) ders.: „Brief an das ZK, das Moskauer Komitee, das Petrograder Komitee und an die bolschewistischen Mitglieder der Sowjets von Petrograd und Moskau“, in: LW 26, a. a. O., S. 125

(99) Siehe dazu Trotzki, Über Lenin, EVA, Frankfurt/Main 1964, S. 71 ff.

(100) Rabinowitch, Alexander: Rabinowitch, Alexander: „Die Sowjetmacht – Die Revolution der Bolschewiki 1917“, a. a. O., S. 329 f.

(101) Trotzki, Leo: „Geschichte der russischen Revolution“, a. a. O., S. 571 f.

(102) Ebenda, S. 618 f.

(103) Ebenda, S. 708

(104) Ebenda, S. 709




Die Revolution der Bolschewiki 1917

Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 1

Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Der Untertitel des ersten Bandes  „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ findet eine einfache Erklärung: Es geht Rabinowitch  nicht um eine umfassende Darstellung des Revolutionsjahres 1917 von der Februarrevolution bis zur Oktoberrevolution. Er fokussiert sein Werk  ganz auf die Rolle der Bolschewiki und auf den Zeitraum vom sogenannten „Juli-Aufstand“ bis zur Oktoberrevolution (Zum zeitlich anschließenden 2. Band „Das erste Jahr“ siehe die weitere Besprechung), wobei  sich Rabinowitch so weit wie möglich auf die Ereignisse in Petrograd (Petersburg) beschränkt. Man mag diese Beschränkung bedauern, aber sie ermöglicht Rabinowitch (R.) eine sehr detaillierte und atmosphärisch dichte Darstellung, die durch zahlreiche Quellen gestützt wird. Nicht zuletzt zeigen seine Bücher, dass wissenschaftliche Darstellungen durchaus spannend erzählt werden können.

R. schreibt: „Mein Hauptziel bestand darin, die Entwicklung der Revolution ‚von unten‘ so vollständig und genau wie möglich zu rekonstruieren und dabei die Ansichten, das Handeln und die Lage der bolschewistischen Parteiorganisationen…auf allen Ebenen zu beleuchten. Dabei habe ich mich bemüht, den entscheidenden Zusammenhang zwischen diesen beiden zentralen Aspekten der Revolution und dem Erfolg der Bolschewiki herauszuarbeiten.“ (S. xxxviii)

R. hatte ursprünglich vor, ein anderes Werk zu schreiben, nämlich eine Biografie des Menschewistenführers Zereteli, aber er stellte  bald fest, „dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen.“ (S. xx) Erst Anfang der neunziger Jahre  öffneten sich für R. die sowjetischen/russischen Archive, die ihm durchaus neue, bisher unbekannte Einzelheiten enthüllten, jedoch nach seinen eigenen Worten seine grundlegenden Ergebnisse „nicht wesentlich verändern würden.“ (S. xxix)

Der Erkenntnisgewinn, den das Werk „Die Revolution der Bolschewiki 1917“  bringt,  besteht nicht zuletzt darin, dass die Russische Revolution nur verstanden werden kann, „wenn man eine breite Schicht von Führern auf mittlerer Ebene und von Institutionen mittlerer Bedeutung und vor allem auch die Bestrebungen und politischen Stimmungen der einfachen Leute in die Analyse einbezieht…“ (S. xxi). Durch die Berücksichtigung  dieser „mittleren Ebene“ der Bolschewiki ergeben sich neue Sichtweisen auf die bolschewistische Partei, – das Bild wird bunter, vielfältiger.

Noch ein paar Worte zum Autor selbst. Er ist ein (emeritierter) amerikanischer Professor, der in einer russischen Emigrantenfamilie aufgewachsen ist. Sein Vater ging 1921 nach Westeuropa und von dort aus am Ende des 2. Weltkrieges in die USA. Im Hause Rabinowitch verkehrten  prominente Exilrussen, u. a. der Literat Nabokow und auch, man beachte, Kerenski. Es wurde dort natürlich viel über Russland diskutiert und bei allen Differenzen, über eines war man sich einig: „Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden.“ (S. xix)

Es ist doch angenehm, einmal feststellen zu können, dass es auch seriöse bürgerliche Wissenschaftler gibt,  die in der Lage sind, ihre eigenen ideologischen Vorurteile offen zu revidieren, was  diese Buchbesprechung zeigen soll.

Putsch oder Revolution

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt R.: „Vor dem Erscheinen dieses Buches war der gescheiterte Aufstand  vom Juli 1917 (die ‚Julitage‘) von sowjetischen Historikern als spontane Massendemonstration gegen die unpopuläre Politik der Provisorischen Regierung gewertet worden, die im Zaum zu halten die Bolschewiki sich ehrlich bemühten. Für westliche Historiker stellte sie einen ersten Versuch Lenins dar, die Macht zu erobern (‚Generalprobe für den Roten Oktober‘).“ (S. xx f.) Das Buch erschien in den USA bereits 1976. Dass die Auffassung vom Juli-Aufstand als „gescheitertem Putsch“ hierzulande bis in die jüngste Vergangenheit weit verbreitet war, spricht Bände über die deutsche Wissenschaftslandschaft sowie über die vorherrschende Medien- und Verlagspolitik. Was nicht ins eigene ideologische Weltbild passt, wird ignoriert. So ist es auch kein Wunder, dass erst einem kleinen linken Verlag, dem Mehring Verlag, das Verdienst zukommt, dass dieses bedeutsame Buch 2012 (d. h. 36 Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung) auf Deutsch erschien.

Ebenso wenig wie der Juli-Aufstand war die Oktoberrevolution ein Militärputsch einiger russischer Fanatiker ohne Massenanhang. Für die Putschthese werden häufig drei Aspekte angeführt. Erstens, dass sich der Sturz der bürgerlichen provisorischen Regierung  relativ unspektakulär vollzogen habe. Der „Sturm aufs Winterpalais“, wo sich die provisorische Regierung mit bewaffneten Anhängern verschanzt hatte, erscheint in der Tat wenig bedeutsam. Auch R. schreibt: „Im Gegensatz zu den meisten Berichten in der Sowjetunion wurde das Winterpalais nicht gestürmt. Antonow (der bolschewistische Führer der Aktion, M. E.) selbst erzählte später, dass ‚der Angriff auf den Palast…vollkommen desorganisiert war’…dass nicht mehr viele Kadetten übrig waren…Als wir eintraten, leisteten die Kadetten keinen Widerstand.“ (S. 439).

Zweitens wird angeführt, es hätten nur kleinere militärische Geplänkel stattgefunden, die Massen  hätten abseits gestanden.

Und drittens, das eigentliche Aufstandszentrum bzw. Putschzentrum, das Militärische Revolutionskomitee (des Petrograder Sowjets) sei als Organ als eine „reine Frontorganisation zu sehen, die vom bolschewistischen Zentralkomitee oder der Militärorganisation kontrolliert wurde.“ (S. 349)

Der erste Einwand ist an Dummheit kaum zu überbieten. Mit der gleichen Logik müsste man der Französischen Revolution den revolutionären Charakter absprechen, denn auch der „Sturm auf die Bastille“ hat so nie stattgefunden. In der Bastille saßen am 14. Juli 1789 ganze sieben Gefangene, und nach einer kurzen Auseinandersetzung übergab die kleine Besatzung die Festung schließlich an die „Aufständischen“. Die Bedeutung  besteht in beiden Fällen, dem „Sturm auf die Bastille“ und dem „Sturm auf das Winterpalais“, jedoch nicht darin, dass heroische Kämpfe der Massen stattgefunden hätten, sondern in der revolutionären Symbolik der Machtübernahme. Der „Sturm auf das Winterpalais“ bildete den vorläufigen Schlusspunkt nach monatelangen Massenkämpfen, und schließlich bedeutete er die Festnahme der provisorischen Regierung, die verhaftet werden musste, um einer Sowjetregierung Platz zu machen.

Zum zweiten Einwand, am Umsturz seien keine Massen beteiligt gewesen, es habe keine Massenkämpfe gegeben: Dazu ist zu sagen, dass in Petrograd die provisorische Regierung inzwischen gesellschaftlich so isoliert war, die unterdrückten Massen derart geschlossen hinter den Räten/Sowjets standen, dass die Machtübernahme auch ohne heroische Straßenkämpfe o. ä. weitgehend schmerzlos möglich war. R. zitiert hier einen Führer der  Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS),  der erklärte, dass „es denen von uns, die in den unteren Klassen Petrograds arbeiteten, klar war, dass Kerenski in der Petrograder Garnison kein Dutzend Leute finden würde, die ihn als Vertreter der Koalitionsregierung verteidigen würden.“ (S. 377)

Und zum dritten Einwand, das Militärische Revolutionskomitee (RMK) sei eine reine Frontorganisation der Bolschewiki gewesen, bemerkt R: „Doch eine solche Einschätzung ist ungenau. Bolschewiki spielten innerhalb des Komitees die führende Rolle. Sie waren aber nicht seine einzigen aktiven Teilnehmer, und sogar die bolschewistischen Teilnehmer stimmten in ihrer Auffassung der Aufgaben des Komitees nicht alle überein.“ (S. 349)

Insgesamt bleibt festzuhalten: Hätte es sich bei der Oktoberrevolution wirklich nur um einen Putsch gehandelt,  bei dem sich eine kleine Minderheit an die Macht geputscht hätte, dann wären die folgenden tiefgehenden gesellschaftlichen Umwälzungen nicht zustande gekommen und auch der folgende Bürgerkrieg wäre verloren gegangen.

Kadavergehorsam oder selbstbewusstes Handeln

Ein sich hartnäckig haltender Mythos über die bolschewistische Partei lautet in etwa: Die bolschewistische Partei sei hierarchisch aufgebaut, stark zentralisiert gewesen, über ein institutionalisiertes Befehlssystem sei die Partei von einer Parteiführung straff geführt worden und die unteren Kader hätten die befohlene Linie lediglich nach außen zu vertreten. An der Spitze der Partei habe  ein autoritärer, nicht antastbarer Lenin gestanden.

Mit der Realität hat dieser Mythos kaum etwas gemeinsam. Im Gegensatz zur deutschen Sozialdemokratie, in der August Bebel als eine Art Ersatzkaiser fungierte, musste Lenin häufig um seine Positionen kämpfen. Es gab, so stellt R. fest, „innerhalb der Petrograder bolschewistischen Organisation auf allen Ebenen durchgängig freie und lebhafte Diskussionen über Grundfragen von Theorie und Taktik. Führer, die nicht mit der Mehrheit übereinstimmten, durften offen für ihre Ansichten eintreten, und nicht selten ging Lenin aus diesen Auseinandersetzungen als Verlierer hervor.“ (S. 456 f.) Die bolschewistischen Kader verstanden sich in aller Regel nicht als bloße Befehlsempfänger.

Am Punkt „Parteidemokratie und Parteistrukturen“ zeigt sich bei R. allerdings zweierlei:  einerseits, wie unbefangen und vorurteilsfrei seine Untersuchungen zur Revolution 1917 in Petrograd sind, aber andererseits auch Rabinowitchs begrenzte Kenntnis der bolschewistischen Parteigeschichte. Er hebt zwar an der bolschewistischen Partei 1917 hervor, sie sei charakterisiert durch „relativ demokratische, tolerante und dezentralisierte innere Struktur und Arbeitsweise… wie auch ihre grundsätzliche Offenheit und ihren Massencharakter“ (S. 456) , dann aber schreibt er, dass dies „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht.“ (S. 456)

Aber die gesamte Geschichte der bolschewistischen Partei, selbst in den finstersten Phasen der Reaktion und Illegalität, war geprägt von offenen und kontroversen Diskussionen. Selbstverständlich muss eine kleine Kaderorganisation in der Illegalität anders strukturiert sein als eine Massenorganisation im revolutionären Aufschwung. Demokratische Strukturen ließen sich unter den Bedingungen der Illegalität natürlich nur z. T. aufrechterhalten, aber von einem neuen Parteimodell zu reden, das „dem gängigen leninistischen Modell direkt widerspricht“ ist zumindest eine arge Verkürzung.

Aber zurück zum Mythos. Man könnte umgekehrt sagen, hätte der Mythos über die bolschewistischen Parteistrukturen der Realität entsprochen, hätte die bolschewistische Partei niemals die Petrograder Arbeiterklasse  in den Oktoberumsturz führen können. Schon ein paar Zahlen verdeutlichen dies. Die bolschewistische Partei Petrograds hatte in der Stadt bei Ausbruch der Februarrevolution 1917 2 000 Mitglieder, Anfang April 16 000, Ende Juli 32 000 und Ende Oktober 50 000 Mitglieder (weit überwiegend FabrikarbeiterInnen). D. h., gerade einmal 4 % der Parteimitglieder Petrograds im Oktober waren erfahrene, in der Illegalität geschulte und geprägte Kader. Die Zahlen zeigen, dass die Partei eng verbunden mit, ja ein Bestandteil der Petrograder Arbeiteravantgarde war. Die Vorstellung, dass eine solche Partei durch bloße Befehlsstrukturen geführt werden könnte, ist naiv.

Rabinowitch weist „in detektivischer Kleinarbeit“ (so der französische Historiker Marc Ferro) nach, dass die bolschewistische Partei 1917 in strategischen Fragen uneins war und durch relativ selbständige Parteizellen innere Spannungen und Spaltungen aufwies. (S. xxiii)

Zentrale Forderungen im revolutionären Prozess wurden also von bzw. in der Arbeiteravantgarde eigenständig formuliert (häufig in Fabrikkomitees und in den Arbeiterräten) und fanden so, vermittelt über die bolschewistische Arbeiterbasis, ihren Weg in die Partei. Die Programmatik und Taktik der bolschewistischen Partei sind nur zu verstehen, wenn man sie in Wechselwirkung mit der Arbeiteravantgarde Petrograds sieht.

Revolutionäres Programm und Klassenkampf

Zugleich muss jedoch unbedingt betont werden, dass es ohne die bolschewistische Partei und ohne ihre programmatisch-strategische Umrüstung in Lenins Aprilthesen (Ausrichtung auf die sozialistische Revolution) keine siegreiche Oktoberrevolution  gegeben hätte. R sagt zu Recht, dass er „einen Sieg der Bolschewiki ohne Lenin für undenkbar“ (S. xIiii) hält.

Und mehr noch. Es war, auch darauf weist R. hin, „fast ausschließlich auf Lenins Eingreifen zurückzuführen, dass die Vereinigungsgespräche zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki alsbald scheiterten.“ (S. xIviii) und zwar bekämpfte er diese Linie u. a. deshalb, weil diese „vereinigte Partei“ die russischen Kriegsanstrengungen hätte unterstützen müssen, d. h., die Politik des revolutionären Defätismus, die  Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg und eine internationale sozialistische Revolution hätte aufgegeben werden müssen.

Aber es war nicht nur Lenins Härte gegen die politisch überholte und kompromisslerische Linie der bolschewistischen Parteiführung, die die innerparteiliche Durchsetzung der Aprilthesen ermöglichte. Die Partei war zwar im Petrograder Sowjet noch eine kleine Minderheit, aber sie hatte inzwischen in Petrograd 16 000 Mitglieder. Diese Mitglieder waren, wie gesagt, ein Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds und trugen die „Stimmungen der Massen“, zumindest der fortgeschrittensten Teile, in die Partei. Lenins Aprilthesen sind gewissermaßen auch Ausdruck dieses Verhältnisses zwischen Arbeiteravantgarde und Partei, und zwar inhaltlich („Forderungen“) als auch strategisch (Ausrichtung auf eine sozialistische Revolution durch eine revolutionäre Regierung der Arbeiterräte). Dies war auch der Grund, warum Lenin erfolgreich mit der Mobilisierung der Parteibasis gegen große Teile der Parteiführung drohen konnte, um die Partei umzurüsten. D. h., es zeigte sich, dass zumindest zeitweise ein Teil der Arbeiteravantgarde weiter war als die Partei, genauer: die Parteiführung (wie schon in der Revolution 1905).

Es wird hier nicht nur die Wichtigkeit eines revolutionären Programms (Aprilthesen) und einer revolutionären Führung deutlich,  es zeigt auch, dass die Entstehung eines solchen Programms kein bloßer theoretischer Akt ist, dessen Ergebnisse dann der Klasse zu vermitteln sind, sondern dass die Entwicklung eines solchen Programms nur in Wechselwirkung mit den Klassenkämpfen und mit der Verankerung der RevolutionärInnen in diesen Kämpfen verstanden werden kann.

Wir müssen uns heute vor Augen halten, dass wir weit davon entfernt sind, ein revolutionäres Programm zu haben. Wir sind heute weitgehend darauf zurückgeworfen, revolutionäre Prinzipien (inhaltlich und taktisch) zu propagieren/verteidigen und uns mit unseren begrenzten Kräften an Kämpfen zu beteiligen und dies dann programmatisch zu verarbeiten.

Arbeiteravantgarde und Partei

Alle angesprochenen Probleme zeigen sich besonders in den „Juli-Tagen“. Deshalb lautet nicht zufällig die Überschrift des 1. Kapitels (nach Vorwort bzw. Einleitung zur deutschen und englischen Ausgabe) „Der Juli-Aufstand“. Wie unter einem Brennglas fokussiert,  kann man hier besonders den Aspekt des Verhältnisses  Arbeiteravantgarde Partei betrachten. Ende Juli hatte die bolschewistische Partei noch nicht die Mehrheit der Petrograder  ArbeiterInnenklasse hinter sich, aber die Partei war schon eine bedeutende Kraft in Petrograd. Sie hatte in der Stadt 32 000 Mitglieder, hinzu kamen 2000 Soldaten der bolschewistischen Militärorganisation, die wiederum einen „parteilosen“ Club von 4000 Soldaten führte.

Abgesehen von den z. T. chaotischen und schnell wechselnden Umständen war das Zentralkomitee der Bolschewiki nur bedingt in der Lage, diese Partei zu lenken und zu führen. R. schreibt dazu im Vorwort der deutschen Ausgabe, dass „die Julitage zwar ein authentischer Ausdruck des Volkszorns über die mageren Ergebnisse der Februarrevolution waren, dass aber zugleich radikale Teile des bolschewistischen Petersburger Komitees (das meint die Petersburger Partei, M. E.) und der Militärischen Organisation der Partei auf den Druck ihrer militanten Anhängerschaft in den Fabriken und Garnisonen Petrograds hin den Aufstand aktiv vorantrieben – entgegen dem ausdrücklichen Willen Lenins und des Zentralkomitees der Partei. Das Zentralkomitee, so stellte sich heraus, hatte bewaffneten Aktionen gegen die Regierung eine eindeutige Absage erteilt.“ (S. xxii) Die einfachen Parteimitglieder, zur überwältigenden Mehrheit der Partei erst nach der Februarrevolution beigetreten, waren keine marxistisch geschulten Kader, sie wollten revolutionäre Aktionen, so dass der Druck auf die Partei erheblich war, und diesem Druck konnte auch die zentrale Parteiführung nur mit Mühe widerstehen.

Ein Schlaglicht: Als Lenin am 4. Juli gedrängt wurde, auf einem Balkon zu einer bewaffneten Demonstration zu reden, lehnte Lenin zunächst „in der Hoffnung ab, dass seine Weigerung seine Ablehnung der Demonstration ausdrücken würde. Aber auf Drängen der Kronstädter Bolschewiki-Führer hin stimmte er schließlich zu. Als er auf den Balkon im zweiten Stock hinaustrat, um sich an die Matrosen zu wenden, knurrte er einige Funktionäre der Militärorganisation an: ‚Man sollte euch dafür verdreschen‘ .“ (S. 13 f.)

Z. T. mussten Führungskader der Petrograder Partei ihren militanten Mitgliedern auch entgegenkommen, um ihre Hinwendung zu den Anarchisten zu verhindern.

Weil die Arbeiterbasis Teil der Arbeiteravantgarde Petrograds war und eben alles andere als ein bloßer Befehlsempfänger des ZK, gab es nicht nur Auseinandersetzungen in der Parteiführung (z. B. mit dem rechten Flügel um  Kamenjew, aber auch z. B. zwischen Lenin und den praktischen Aufstandsführern vom Oktober), sondern die bolschewistische Basis in Petrograd wurde in den Juli-Tagen förmlich zerrissen zwischen der Parteilinie des ZK und der vorpreschenden Arbeiteravantgarde Petrograds. Nur das hohe Ansehen einzelner Parteiführer (insbes. Lenins) und die Tatsache, dass es links der Bolschewiki keine bedeutende organisatorische Kraft gab, verhinderten den (halben) Aufstand und vermutlich auch eine Spaltung der Partei.

Wie sich bald herausstellte, war die taktische Linie des ZK richtig. Sie verhinderte einen  vorzeitigen Aufstand und damit eine vom übrigen Land isolierte „Petrograder Kommune“. Nichtsdestotrotz waren die Ergebnisse dieses mühsam verhinderten Aufstandes ein Rückschlag. R. schreibt: „Die ungeduldigen Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen, die sich bisher um die Bolschewiki geschart hatten, gingen aus den Juli-Ereignissen geschwächt und zumindest vorübergehend demoralisiert hervor“ (S. 23) Auch die Partei wurde in die Defensive gedrängt, unterlag Repressionen, verlor vorübergehend an Einfluss und hatte „zumindest bei einigen bolschewistischen Organisatoren in den Fabriken den Glauben in ihre eigene höhere Parteiführung untergraben“. (S. 92) Allerdings gab es keine Massenaustritte.

Insgesamt zeigen die Juli-Ereignisse, dass der Einfluss der Arbeiteravantgarde auf die revolutionäre Partei ambivalent ist und durchaus nicht immer und automatisch positiv zu werten ist. Und diese Ereignisse zeigen auch exemplarisch, dass die  Partei gezwungen sein kann, aus übergeordneten taktischen Erwägungen, sich sogar der Arbeiteravantgarde entgegenzustellen. Dazu ist es auch bei kleinen Organisationen nötig,  Kader herauszubilden, die zur Standhaftigkeit, zur Fähigkeit, auch gegen den Strom (in der organisierten Linken und/oder der ArbeiterInnenbewegung) zu schwimmen,  in der Lage sind.

ArbeiterInnenklasse, Taktik und Partei

Die Oktoberrevolution zeigt aber auch, dass auf dem Gebiet der Taktik, genauer gesagt der Taktik der revolutionären Machtergreifung, die revolutionäre Partei durch nichts zu ersetzen ist. Die zentrale Bedeutung der Taktik zeigte sich in jeder Phase zwischen der Februar- und Oktoberrevolution. Die verschiedenen Wendungen und Auseinandersetzungen in der bolschewistischen Partei werden von Rabinowitch akribisch nachgezeichnet.

In revolutionären Situationen (nicht nur dann, aber da entscheidend) sind revolutionäres Bewusstsein der ArbeiterInnenmassen und Programm notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für den Sieg des revolutionären Aufstandes. Dieser setzt  voraus, den richtigen Zeitpunkt, den der tiefsten Schwäche der Bourgeoisie, zu erkennen (hier geht es u. U. um Tage, ja selbst Stunden). Der Schlag muss weiter am richtigen Ort gegen das entscheidende Machtzentrum des Klassenfeindes geführt werden. Nicht zuletzt ist eine richtige Einschätzung der Gesamtlage des Landes mit all ihren Ungleichzeitigkeiten vonnöten, um Spaltungen im Lager der Herrschenden zu erkennen und auszunutzen und zu verhindern, dass sich Spaltungen im eigenen Lager zur Katastrophe auswachsen. Beispielsweise gibt es fast immer Gegensätze zwischen den großstädtischen Zentren der Revolution und dem übrigen Land  (siehe die Julitage in Petrograd).

All  dies können z. B. Räte prinzipiell nicht leisten, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil revolutionäres  Bewusstsein allein noch kein Handlungskonzept umfasst (was für einen Aufstand lebensnotwendig ist), sondern weil sie ja auf der einen Seite gerade die Heterogenität der Unterdrückten widerspiegeln, was wiederum auf der anderen Seite aber ihre Stärke ist.

Revolutionäre Politik bedeutet in einem solchen Moment, aufgrund politischer Erfahrungen und organisatorischer Strukturen die Mehrheit in den Räten in den Aufstand zu führen. All dies ist ohne revolutionäre Partei unmöglich.

Um die Partei darauf vorzubereiten, hatte Lenin im April 1917 gekämpft und  der bolschewistischen Partei ab April 1917 eine neue Ausrichtung gegeben. In der 4. These der Aprilthesen steht unmissverständlich, dass „die Arbeiterdeputiertenräte die einzig mögliche Form  der Revolutionsregierung sind“,  und die generelle taktische Ausrichtung wird gleich mitgeliefert: „Solange wir in der Minderheit sind, ist unsere Arbeit die Kritik und Aufdeckung der Fehler, wobei wir gleichzeitig den unerlässlichen  Übergang der gesamten Staatsgewalt auf die Arbeiterdeputiertenräte propagieren, damit die Massen ihre Fehler durch Erfahrung überwinden.“

Alles scheint klar zu sein. Trotzdem musste die Partei z. T. abrupte taktische  Wendungen vornehmen. Von Rabinowitch wird aufgezeigt, wie die bolschewistische Partei vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse und schwerer innerparteilicher Konflikte diese Wendungen vollzog. Häufig war Lenin die treibende Kraft, aber er setzte sich nicht immer durch. Die taktischen Wendungen waren dabei z. T. so scharf, dass  z. B. sogar die Losung „Alle Macht den Räten“ vorübergehend fallengelassen wurde.

Auffällig ist bei diesen taktischen Wendungen vor allem zweierlei: 1. Der Druck der  Massen war z. T. so stark, dass Parteibeschlüsse nicht durchzuhalten waren. Es „sahen viele Massenorganisationen in Petrograd, ungeachtet der Parteibeschlüsse, in einer revolutionären Sowjetregierung die Lösung ihrer dringendsten  Probleme. Zur Zeit der Kornilow-Affäre (der Versuch eines reaktionären Putsches, M. E.) Ende August wurde das Ziel einer ausschließlich sozialistischen Regierung von fast allen Petrograder Arbeiter und Soldaten geteilt; so waren auch die Bolschewiki gezwungen, formell ihren alten Schlachtruf ‚Alle Macht den Sowjets!‘ wiederzubeleben.“ (S. 130 f.)

2. Lenin, der sich lange Zeit versteckt halten musste, kam durch seine Isolierung in Teilen zu Fehleinschätzungen der „Massenstimmung“. Er forderte z. B. (ab Mitte September) einen „sofortigen bewaffneten Aufstand vorzubereiten“ (S. 263) Die Organe des Aufstands sollten die Fabrikkomitees sein. Rabinowitch schreibt dazu: „Zum Teil wegen ihres ständigen Kontakts mit Arbeitern  und Soldaten verfügten Führer wie Trotzki, Bubnow, Sokolnikow und Swerdlow über eine, wie es scheint, realistische Einschätzung darüber, wo die Grenzen des Einflusses der Partei und ihrer Autorität bei den Massen lagen…Folglich begannen sie jetzt, die Eroberung der Macht und die Bildung einer neuen Regierung mit der baldigen Einberufung eines nationalen Sowjetkongresses in Zusammenhang zu bringen – und zwar, um sich die Legitimität der Sowjets in den Augen der Massen zunutze zu machen.“ (S. 275 f.) Dieser Konflikt zwischen Lenin und den eigentlichen Organisatoren des Oktoberumsturzes blieb bis kurz vor dem Umsturz bestehen.

Taktisches Manövrieren hat immer zwei Hauptgefahren: a) dem Druck von Massenbewegungen bzw. Massenstimmungen nachzugeben. Um sich nicht zu isolieren, werden Zugeständnisse gemacht, die  der revolutionären Orientierung mittel- und langfristig schaden. b) Ein „gegen den Strom Schwimmen“ birgt immer die Gefahr, prinzipienfest, aber taktisch unflexibel zu sein und dadurch die Isolierung  von den Massen noch zu verstärken. Diese Gratwanderung ist nicht zu vermeiden.

Sicherlich kann Rabinowitchs Werk die Lektüre von Trotzkis dreibändiger „Geschichte der Russischen Revolution“ nicht ersetzen. Trotzkis Werk ist nicht nur umfangreicher, sondern ganz anders politisch gewichtet. Aber, die Schwerpunktsetzung Rabinowitchs  auf die „mittlere Ebene“ der Bolschewiki bereichert die Kenntnisse und das Bild von der Oktoberrevolution ungemein.

 

Bibliografische Angaben

Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd.1, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag, Essen,  2012, ISBN  978-3-88634-097-2




Das erste Jahr

Buchbesprechung: Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 2

Michael Eff, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Im 2. Band von Rabinowitchs Werk (Das erste Jahr) werden die Dramatik und Tragik des Niedergangs der Sowjetdemokratie – vor allem in Petersburg (Petrograd) – thematisiert. Rabinowitch konnte dazu Anfang der neunziger Jahre in staatlichen Archiven, in Archiven der Kommunistischen Partei sowie in Archiven des KGB (!) forschen. 2007 erschien das Werk auf Englisch und 2010 auf Deutsch. Der Band gliedert sich in vier Teile: Teil 1 behandelt den Zeitabschnitt von der Oktoberrevolution bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918, Teil 2 hauptsächlich die Auseinandersetzung um den Brester Friedensvertrag bis zum März 1918. Im dritten Teil geht es um die innenpolitischen und militärischen Krisen in Petrograd bis zum Frühsommer 1918 und im Teil 4 geht es um die bolschewistische Partei in Petrograd bis zur Ausrufung des „Roten Terrors“ im Herbst 1918.

In einem „Prolog“ fasst Rabinowitch noch einmal wichtige Ereignisse und Ergebnisse bis zur Oktoberrevolution aus seinem 1. Band zusammen.

Die zentrale Fragestellung von Rabinowitch lautet: Wie war der Niedergang der Partei (und Sowjetdemokratie) in Petrograd möglich? Einer bolschewistischen Partei, die ausgesprochen demokratisch organisiert und tief in den Massen verankert war.

Rabinowitch lässt dabei immer wieder seine Sympathie für den „gemäßigten Flügel“ der Bolschewiki und seine Abneigung gegen den „ultralinken Kurs“ Lenins und Trotzkis (wie schon im 1. Band) durchblicken.

Worauf Rabinowitch überhaupt nicht eingeht, sind programmatische Leerstellen. Z. B. wurde das Verhältnis zwischen Partei und Sowjet nie theoretisch-programmatisch verarbeitet. Lenin kommt sicherlich das unschätzbare Verdienst zu, mit seiner Schrift „Staat und Revolution“ die Bedeutung und Prinzipien der Arbeiterdemokratie wieder entdeckt zu haben (durch Rückgriff auf Marx‘ Arbeit zur Pariser Commune), aber selbst in Lenins Schrift fehlen fast völlig Ausführungen zum Verhältnis Partei-Sowjets.

Sicherlich spielten beim Niedergang von Partei- und Sowjetdemokratie in Petrograd auch subjektive Fehler bzw. Fehlverhalten eine Rolle. Ebenfalls bedeutsam waren die schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen, von denen insbesondere die um den Vertrag von Brest-Litowsk so gravierend waren, dass sie die Gefahr einer Parteispaltung hervorriefen. Das alles wird von Rabinowitch beeindruckend detailliert dargelegt. Entscheidend bei allem aber waren nicht die subjektiven Faktoren, sondern die kaum zu begreifenden objektiven Schwierigkeiten. Da sind vor allem zu nennen: 1. Der ökonomische Zusammenbruch; 2. die Aktionen der Konterrevolution; 3. der ungeheure Aderlass an erfahrenen Kadern. Und so lautet auch Rabinowitchs Fazit schließlich: „Es waren die tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen die Bolschewiki in ihrem oft aussichtslosen Kampf ums Überleben konfrontiert waren, die maßgeblich die früheste Entwicklung der Partei und der Sowjetorganene, ihr Verhältnis zueinander und das sowjetische politische System insgesamt prägten.“ (S. 527)

Am Beispiel Petrograds werden von Rabinowitch diese „tatsächlichen Gegebenheiten“ mit ihren politisch-gesellschaftlichen Folgen anschaulich und erschütternd dargelegt.

Der ökonomische Zusammenbruch kam einer Katastrophe gleich. Es mangelte an allem, selbst das Lebensnotwendigste fehlte. Der Brennstoffmangel im Winter 17/18 zermürbte die Massen und führte auch zu umfangreichen Betriebsschließungen. Die Lebensmittelversorgung brach ab dem späten Frühjahr 1918 weitgehend zusammen. Von März bis Juni 1918 sank in Petrograd die zugestandene Tagesration eines Arbeiters von 1082 auf 714 Kalorien. Die Bevölkerungszahl Petrograds sank von 2,3 Millionen Einwohnern Anfang 1917 auf 1,5 Millionen Anfang 1918. Allein zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 1918 flohen 150 000 Menschen vor dem Hunger, Mitte 1918 setzte eine Massenflucht aus Petrograd ein. Die größte Choleraepidemie in der Geschichte der Stadt, die vor allem die ArbeiterInnen traf, brach im Sommer 1918 aus. Weitere Betriebsschließungen waren die Folge. Die Rote Armee und bewaffnete Arbeitereinheiten mussten gewaltsam Getreide bei den Bauern eintreiben, was die Beziehungen zu diesen nicht einfacher machte. Die Zustände in den Kasernen spotteten jeder Beschreibung. Dies und vieles andere mehr legten den Grundstein für die beginnende Unzufriedenheit und Demoralisierung bei Teilen der ArbeiterInnenklasse und Soldaten Petrograds.

Auch die Aktionen der Konterrevolution zeigten durchaus Wirkung. In Petrograd (aber natürlich nicht nur dort) stieß die neue proletarische Macht auf den sofortigen und umfassenden Boykott seitens des alten Verwaltungsapparates. Schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution wird die Hauptstadt Petrograd von außen durch konterrevolutionäre Einheiten bedroht und von innen durch Aufstandsversuche. Am 29. Oktober wird ein konterrevolutionärer Aufstandsversuch niedergeschlagen (200 Tote). Anfang 1918 gibt es eine Verschwörung von mehreren Tausend bewaffneten Offizieren (von den Briten unterstützt). Die andauernde Bedrohung Petrograds durch einen erneuten Vormarsch deutscher Truppen oder weißer Truppen aus Finnland halten die Stadt gewissermaßen ständig in Alarmbereitschaft. Hinzu kamen Mordanschläge auf bolschewistische Führer (z. B. Urizki), schließlich die Ausdehnung des Bürgerkrieges bis zum Pazifik. Rabinowitch schreibt: „Die Tendenz zum Roten Terror in Petrograd und anderen russischen Städten im Spätsommer 1918 entsprang der enormen Verunsicherung, die diese unheilkündenden Entwicklungen hervorriefen.“ (S. 420)

All dies konnte eine Zeitlang überdeckt werden dadurch, dass der Sowjetkongress das Programm der Bolschewiki übernahm, d. h., zunächst „hatten die ersten revolutionären Dekrete der Bolschewiki und ihre offenkundige Härte gegenüber der inneren und äußeren Konterrevolution den revolutionären Geist der unteren Klassen Pedrograds neu belebt“ (S. 56), aber schließlich führte die dauernde Überforderung der Petrograder ArbeiterInnenklasse und Petrograder Parteiorganisation zu einem Ausbluten der Arbeiterdemokratie.

Ständig verließen revolutionäre ArbeiterInnen Petrograd. Meist aus Hunger, aber auch, weil sie überall im Land gebraucht wurden: an der Front, bei der gewaltsamen Beschlagnahme von Getreide usw. Vor allem die Petrograder Parteiorganisation musste Kader für die Verwaltung und Armee stellen. Rabinowitch führt in diesem Zusammenhang hier einige Zahlen über die Mitgliederentwicklung Petrograds an, um die Belastungen der Petrograder Parteiorganisation zu verdeutlichen: Oktober 1917 – 50 000 Mitglieder; Februar 1918 – 36 000; Juni 1918 – 13 000; September 1918 – 6000. Aber es ist nicht allein die zahlenmäßige Entwicklung, sondern auch die Zusammensetzung, die besorgniserregend war. 40 % der Mitglieder im Herbst 1918 waren der Partei erst nach der Oktoberrevolution beigetreten. und waren im besten (!) Fall unerfahren. Rabinowitch weist auch darauf hin, „dass viele der Neumitglieder ausgesprochene Kriminelle waren oder einfach egoistische Individuen, die keine Verantwortung gegenüber der Partei empfanden.“ (S. 531) Unter diesen Voraussetzungen kam die Parteiarbeit unter den verbliebenen, teilweise demoralisierten, Teilen der ArbeiterInnenklasse Petrograds faktisch fast zum Erliegen. Hinzu kam der Verlust des einzigen Bündnispartners, der Partei der Linken Sozialrevolutionäre (LS). Die Auseinandersetzungen um den Vertrag von Brest-Litowsk und andere Differenzen führten zur Zerstörung des Bündnisses mit den LS auf nationaler Ebene, aber schließlich auch in Petrograd. Das ist deshalb besonders tragisch, weil, wie Rabinowitch zeigt, die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den LS in Petersburg zunächst durchaus freundschaftlich war. Die Bolschewiki strebten die eigene parteipolitische Isolierung nicht an, im Gegenteil. Nichts verdeutlicht dies vielleicht besser als eine kleine Episode am Rande des Sowjetkongresses. Als auf dem Kongress im Oktober nicht nur die rechten Sozialrevolutionäre und rechten Menschewiki den Saal verließen, sondern auch die Menschewiki-Internationalisten mit ihrem Parteiführer Martow, schildert Rabinowitch: „Ein junger bolschewistischer Arbeiter in einem schwarzen, umgürteten Hemd wandte sich ihm zu und rief mit unverhüllter Trauer in der Stimme: ‚Wir rechneten untereinander schon damit, dass einige uns im Stich lassen würden, aber doch nicht Martow‘.“ (S. 15)

Nicht nur für die bolschewistische Führung, auch für die Petrograder Partei „lag die Antwort auf den anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Verfall und auf die Bedrohung durch äußere und innere Feinde in Diktatur, Zentralisierung, Heranziehung bürgerlicher Spezialisten sowie ehemaliger Offiziere und in der Verlängerung der ‚Atempause‘ des Brester Vertrags um nahezu jeden Preis“. (S. 357 f.) Die große Hoffnung lag für Partei und ArbeiterInnenklasse im Ausbruch der Revolution im übrigen Europa, dafür hieß es „durchhalten“.

Taktische Fehler, Bürokratisierung, teilweise unsensibler Umgang mit den Stimmungen der Massen, Manipulationen am sowjetischen Wahlrecht, die Eigendynamik und unnötigen Härten des „Roten Terrors“ gegen die Konterrevolution werden von Rabinowitch für Petrograd lebendig beschrieben. All dies findet nicht unbedingt seine Rechtfertigung, aber doch seine Erklärung vor dem Hintergrund der „tatsächlichen Gegebenheiten“.

Auch wenn Rabinowitchs Sympathien eher dem „gemäßigten Flügel“ der Bolschewiki gehören, ist er von einseitigen und vereinfachenden Schuldzuweisungen doch weit entfernt, und er betont: „Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen traten die Bolschewiki 1917 nicht für die Diktatur einer einzelnen Partei ein.“ (S. 5)

Bibliografische Angaben

Alexander Rabinowitch, Die Sowjetmacht, Bd. 2, Das erste Jahr, Mehring Verlag, Essen 2010, ISBN 978-3-88634-090-3




Frauenbefreiung und russische Revolution

Jaqueline Katharina Singh, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Das Ziel dieses Artikels ist es, einen Überblick über die bolschewistische Frauenarbeit im Jahre 1917 zu geben und Lehren daraus zu ziehen. In den meisten Berichten über die Revolution 1917 wird die herausragende Rolle der Frauen während der Februarrevolution hervorgeboben. Darüber hinaus wird oftmals wenig geschrieben. Doch welche Rolle spielten Frauen innerhalb der bolschewistischen Organisation? Welche Maßnahmen wurden unternommen, um die werktätigen Frauen zu organisieren?

Im folgenden Beitrag wollen wir einige Fragen behandeln. Wir beanspruchen, keine auch nur annähernd erschöpfenden Darstellung zu liefern, sondern präsentieren vielmehr eine erste Skizze, der weitere Forschungsarbeiten und programmatische Aussagen folgen sollen.

Leider erschwert die Knappheit der Quellen für den deutschsprachigen Raum ein umfassendes Bild. So sind weder die Werke von Inessa Armand und Nadeschda Krupskaja erhältlich, noch wurde von Kollontai viel übersetzt. Auch Originialtexte aus der Rabotniza („Die Arbeiterin“, Frauenzeitung der Bolschewiki) liegen leider nicht vor. Als Hauptquelle für diesen Artikel dient uns eine Arbeit, die nicht unerwähnt bleiben soll, das Buch „Kommunismus und Frauenbefreiung“, das 2006 von der Arbeitsgruppe Marxismus herausgegeben wurde (1).

Lage der Frauen vor dem Ersten Weltkrieg

Wie die Lage Russlands insgesamt, so ist auch die der Frauen im 18. und 19. Jahrhundert von der Rückständigkeit und verspäteten kapitalistischen Entwicklung geprägt. Das Leibeigenschaftsrecht – Kern feudaler Ausbeutung – erlebt seine „Blüte“ im 18. Jahrhundert und prägt die Lage der Massen der Bevölkerung bis weit in 19. Jahrhundert, wo es erst 1861 abgeschafft wird.

Die verspätete und auf wenige Zentren konzentrierte kapitalistische Entwicklung bedeutet, dass bis zur russischen Revolution die „Reste“ feudaler Abhängigkeitsverhältnisse am Land die Lage der Masse der Frauen bestimmen. 92 Prozent der Frauen waren Analphabetinnen. Ihr Alltag wurde von quasi-feudaler, patriarchaler Abhängigkeit bestimmt und ideologisch durch die orthodoxe Kirche befestigt. Die adeligen Frauen lebten in einem Zustand des Luxus, politischer Entmündigung und gelegentlicher Rebellion.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus bildet sich auch eine Schicht bürgerlicher und kleinbürgerlicher Frauen, vor allem aber auch ein Proletariat, das ab Beginn des 20. Jahrhunderts fieberhaft wächst und in Großbetrieben konzentriert ist.

Die russische Sozialdemokratie betrachtet die Frage der Frauenunterdrückung in ihren Anfangsjahren allenfalls als Nebenthema, was sich auch darin ausdrückt, dass im Zuge der Russischen Revolution 1905 viele Fehler und vor allem „Unterlassungen“ begangen wurden. Einer von ihnen war das große Verfehlen, wie Lenin auch 1907 schrieb, dass man zwar für das Wahlrecht kämpfte, die Frauen allerdings außer Acht ließ. Während dieser Zeit verpassten die revolutionären Kräfte einen Einfluss auf einen Großteil der Bevölkerung – die Frauen.

Bürgerliche Hilfsvereine für Frauen wie der „Russische Verein für Wohltätigkeit“ konnten so die Nöte ihre aufgreifen und für ihre Zwecke politisch instrumentalisieren. Sie warfen die Frage des Frauenwahlrechtes auf und zogen so auch Sozialdemokratinnen an. Eine entschiedene Gegnerin einer solchen  Annäherung war Alexandra Kollontai, die zu diesem Zeitpunkt den Menschewiki angehörte. Aufgrund ihrer aktiven Kritik und der Argumentation Lenins rückte die Notwendigkeit der Agitation unter Frauen jedoch auch vermehrt in den Fokus der Menschewiki und Bolschewiki. Eine tiefergehende Auseinandersetzung zu theoretischen Fragen sowie eine Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus innerhalb der Organisation blieb jedoch aus.

Der Gesamtrussische Kongress der Frauen 1908 war ein wichtiger Schritt in der Geschichte der revolutionären Frauenarbeit. Im Vorfeld des Kongresses veröffentlichte Krupskaja ihr Werk „Frau und Arbeiterin“ und Kollontai „Die soziale Grundlage der Frauenfrage“. Auf dem Kongress selbst intervenierten sie und machten die inhaltliche Abgrenzung zur bürgerlichen Frauenbewegung deutlich.

Eine Schwäche darf jedoch bei diesen wichtigen Fortschritten nicht übersehen werden. Der Sozialdemokratie in Russland fehlte es wie auch in anderen Ländern an Taktiken gegenüber dem bürgerlichen Feminismus, sodass man viele Chancen verspielte. So weigerten sich beispielsweise in England und Deutschland die RevolutionärInnen, mit den bürgerlichen Kräften gemeinsam für demokratische Forderungen zu mobilisieren, aus Angst davor, jenen Zugeständnisse zu machen, während man durchaus bereit war, für andere demokratische Forderungen mit Bürgerlichen Aktionseinheiten zu bilden. Die Schwäche wird gerade in der Frage des Frauenwahlrechtes offensichtlich. Zwar trat die II. Internationale formal dafür ein, aber forciert wurde die Frage nicht, auch – wo wie in den Niederlanden, Österreich und England – diese im Zuge von Wahlrechtskampagnen aufgegriffen werden konnte, ja musste. Der fehlende demokratische Zentralismus erlaubte es den Sektionen, diese wichtigen Entscheidungen zurückzustellen.

In Russland gehörten die Arbeiten von Krupskaja und Kollontai von 1908 aufgrund des Rückgangs der progressiven Massenbewegung und der Zunahme der Repression seitens des Zaren zu den letzten öffentlich zugänglichen Arbeiten bis 1913, da die Verfolgung und die damit eintretende Illegalität und Emigration die politische Arbeit massiv einschränkten.

1913 konnte die Arbeit wieder beginnen. In diesem Jahr fand der erste internationale Frauenkampftag in Russland statt. Die Idee geht auf die Initiative von Clara Zetkin zurück, die sie auf der II. Internationalen Frauenkonferenz einbrachte. Das Datum des 8. März wurde gewählt, um an die streikenden Arbeiterinnen aus New York zu erinnern. Diese wurden am 9. März 1908 in einer Textilfabrik eingeschlossen, damit sie sich nicht an den damaligen Protesten beteiligen konnten. Aus ungeklärten Gründen brach ein Brand aus, bei dem  mehrere Arbeiterinnen starben. Im Rahmen dessen erschien eine Sonderausgabe der Prawda. Ein Grund dafür war die  Tatsache, dass die Reihe „Arbeit und Leben der arbeitenden Frau“, die Anfang 1913 als Kolumne in der Prawda eingeführt worden war, auf enormen Widerhall unter den Leserinnen gestoßen war. (2) Alexandra Kollontai schrieb den Hauptartikel für die Sonderausgabe der Prawda und skizzierte die Ziele der Frauenpolitik der Sozialdemokratie. So schrieb sie:

„Die Sozialdemokratie im Ausland fand nicht sofort eine korrekte Antwort. Die ArbeiterInnenorganisationen standen den Frauen offen, aber nur wenige traten bei. Warum? Weil die ArbeiterInnenklasse zu Beginn nicht realisierte, dass die Arbeiterin der rechtlich und sozial am stärksten ausgegrenzte Teil der Klasse ist, dass sie über Jahrhunderte eingeschüchtert, erniedrigt, verfolgt wurde und dass eine besondere Herangehensweise notwendig ist, um ihren Verstand und ihr Herz zu bewegen, Worte, die sie als Frau ansprechen. Die Arbeiter erkannten nicht sofort an, dass die Frau in dieser Welt der Entrechtung und Ausbeutung nicht nur als Verkäuferin ihres Arbeitsvermögens, sondern auch als Frau, als Mutter … unterdrückt ist. Sobald die sozialistische ArbeiterInnenpartei das jedoch verstanden hatte, nahm sie sich entschlossen der Verteidigung der Frauen als LohnarbeiterInnen und als Frauen, als Mütter an.

Die SozialistInnen aller Länder begannen einen besonderen Arbeitsschutz für Arbeiterinnen zu fordern, Versicherungen für den Schutz der Mütter und Kinder, politische Rechte für die Frauen und die Verteidigung der Rechte der Frauen.

Je klarer die ArbeiterInnenpartei diese zweite Aufgabe gegenüber den Arbeiterinnen wahrnahm, desto bereitwilliger traten Frauen der Partei bei, desto mehr erkannten sie an, dass die Partei ihr Vorkämpfer war, dass die ArbeiterInnenklasse auch für diese unmittelbaren und besonderen Bedürfnisse der Frauen kämpft. Organisiert und bewusst haben die proletarischen Frauen selbst viel getan, um diese Aufgabe voranzubringen. Die Hauptlast, Arbeiterinnen an die sozialistische Bewegung heranzuziehen, liegt heute bei den Frauen. Die Parteien aller Länder haben ihre eigenen besonderen Frauenkomitees, Sekretariate und Büros. Diese Frauenkomitees führen die Arbeit unter der zum großen Teil noch immer nicht politisch bewussten weiblichen Bevölkerung durch, heben das Bewusstein der Arbeiterinnen und organisieren sie. Sie untersuchen jene Fragen und Forderungen, die Frauen besonders stark betreffen: Schutz und Unterstützung für schwangere und stillende Mütter; gesetzliche Regulierungen zum Schutz arbeitender Frauen; Kampagnen gegen Prostitution und Kindersterblichkeit; die Forderung nach politischen Rechten für Frauen; Verbesserung des Wohnraums; Kampagnen gegen die Erhöhung der Lebenshaltungskosten etc.“ (3)

Diese Zeilen beschreiben ein löbliches Ziel und die Herausgabe einer eigenen Frauenzeitung stellt einen großen Schritt vorwärts dar. Aber insgesamt hatte die Frauenfrage innerhalb der Sozialdemokratie nicht annährend so viel Raum eingenommen, wie es nötig gewesen wäre. Zu dieser Zeit waren allenfalls 10 Prozent Bolschewiki Frauen. Auffällig war, dass im Gegensatz zu den männlichen Mitgliedern Frauen im Schnitt einen höheren Bildungsabschluss hatten, oftmals vorher in Wohltätigkeitsvereinen aktiv waren. All das deutet darauf hin, dass unter den proletarischen Mitgliedern der Partei der Frauenanteil geringer als im Durchschnitt war.

Engels‘ Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ sowie Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ waren zwar schon seit Jahren veröffentlicht, aber tiefergehende Debatten über die Familie und die Frauenunterdrückung waren ausgeblieben. Kollontais Artikel hatte allerdings Wirkung. Nach 1913 stieg die inhaltliche Auseinandersetzung mit Frauenthemen. So veröffentlichte Lenin 1914 eine Position zur Ehescheidung. Während es auf theoretischem und publizistischem Gebiet voranging, verhielt man sich zur Frage der separaten Frauenarbeit allerdings weiterhin sehr starr. In der Vergangenheit hatte Kollontai die Idee eines eigenen Frauenbüros eingebracht. Ermutigt von den deutschen Genossinnen Zetkin und Luxemburg wiederholte sie diese mehrmals, stieß aber immer auf eine Barriere.

Allerdings legte die Sonderausgabe der Prawda den Grundstein für die Entstehung einer regelmäßigen Frauenzeitung der Bolschewiki, die Rabotniza und sorgte innerhalb der Partei für eine breitere Akzeptanz der Frauenarbeit. Die Rabotniza erschien ein Jahr später, zum Frauenkampftag 1914, das erste Mal in einer Auflage von 12.000 Stück. Zum Redaktionskollektiv gehörten Anna Jelisarowa-Uljanowa, P. Kudelli, Konkordia Samoilowa und L. Menschinskaja, aus dem Exil waren Ljudmila Stal, Inessa Armand, Sina Sinowjewa und Nadeschda Krupskaja in ihm vertreten. Insgesamt erschienen die Zeitung 1914 siebenmal, musste aber mit Beginn des Weltkrieges eingestellt werden. Ab Mai 1917 erschien sie bis Januar 1918 wieder, oftmals im Wochentakt. Während ihres Erscheinens durchlebte sie eine inhaltliche Entwicklung. (4)

1914 waren die Hauptthemen Überblicke über die aktuellen Streiks und andere Arbeitskämpfe. Zudem gab es Reportagen über die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Fabriken und Berichte über die Situation von Frauen in anderen Ländern. Im Zuge der Revolution 1917 wurde die Rabotniza fordernder und veröffentlichte Berichte über sexuellen Missbrauch an Arbeitsplätzen, die Unterrepäsentation in den Gewerkschaften und Anklagen gegen das Fehlverhalten ihrer männlichen Genossen. (5) Zudem wurden die Frage der Notwendigkeit des 8-Stundentages, die Wahlen zu den Distrikt-Dumas und die Kinderarbeit aufgegriffen.

Februarrevolution

Die Mobilisierung von Soldaten und die Produktion für die imperialistischen  Kriegsanstrengungen führten zu einer gewaltigen Verschlechterung in den Städten und Dörfern Russlands. Zwischen 1914 und 1917 stieg die Zahl der in den Fabriken beschäftigten Frauen aufgrund des Einrückens der Männer an die Front weiterhin an: im gesamten Land kletterte der Beschäftigtenanteil arbeitender Frauen von 26,6 % auf 43,2 %. In Petrograd selbst verdoppelte sich die Zahl der in Fabriken beschäftigten Lohnarbeiterinnen während des Krieges von 68.000 auf 129.000. Zwischen 1913 und 1917 stieg die Zahl der Metallarbeiterinnen in Petrograd von 3,2 auf 20,3 %. In der Lebensmittelherrstellung verdoppelte sie sich und in der Holz- und Papierindustrie versiebenfachte sie sich. (6) Insgesamt wurden in Petrograd 40 % der ArbeiterInnenschaft ausgetauscht.

Zu Anfang des Krieges wurden Streiks bestraft und die ArbeiterInnenbewegung Russlands war starker Repression seitens des Zaren ausgesetzt. Doch Lebensmittelunruhen, getragen von Frauen und Jugendlichen, traten ab 1915 verstärkt auf und ebneten den Weg zu Streiks. (7) Schließlich verschlechterten sich die Lebensbedingungen immens. In seinem Werk „Geschichte der Russischen Revolution“ schreibt Trotzki, dass sich im Jahr 1915 156.000 ArbeiterInnen an politischen Streiks beteiligten, 1916 310.000 und allein in der ersten beiden Monaten 1917 575.000, wovon ein Großteil auf Petrograd konzentriert war. Der Anstieg der politischen Streiks hing damit zusammen, dass gegen Ende 1916 die Preise sprunghaft anstiegen, während zeitgleich der Warenmangel erorm zunahm. Dies sorgte dafür, dass die Agitation der Bolschewiki auf fruchtbaren Boden fiel und die Passivität der ersten Kriegsjahre aufzubrechen begann.

So kam es dazu, dass am internationalen Frauenkampftag 1917, dem 23. Februar/8. März, 90.000 Menschen in St. Petersburg auf die Straße gingen, um gegen den anhaltenden imperialistischen Krieg und seine üblen Folgen für die Bevölkerung zu demonstrieren. In Scharen forderten sie „Brot, Land, Frieden“ und „Gebt uns unsere Männer zurück“. Dies passierte, obwohl alle sozialistischen Organisationen argumentierten, dass die Klasse aufgrund der unzureichenden Vorbereitung oder mangels Kontakt mit den Soldaten nicht zum Massenstreik bereit sei. Kajurow, ein örtlicher bolschewistischer Führer, traf Vertreterinnen der Arbeiterinnen am Vorabend des Frauentages und forderte sie auf, „ausschließlich gemäß der Anweisung des Parteikomitees zu handeln.“

Trotz dieser Aufforderung trafen sich Frauen aus dem Wyborger Bezirk und hielten am Morgen einige illegale Treffen in den dortigen Textilfabriken im zum Thema „Krieg, hohe Preise und die Situation der Arbeiterin“ ab. Doch dabei wurde es nicht belassen. Die Arbeiterinnen beschlossen zu streiken, gingen zu Tausenden auf die Straße, marschierten zu nahe gelegenen Fabriken und riefen Männer und Frauen auf, mit ihnen mitzukommen. Diese „fliegende“ Streikpostenkette war äußerst effektiv – ab 10 Uhr waren 27.000 ArbeiterInnen im Streik. Ab Mittag waren es schon 21 Fabriken mit 50.000 Streikenden! (8) Diese Welle breitete sich aus und innerhalb weniger Tage wuchs die Masse an Protestierenden auf rund 240.000 an, die Februarrevolution war ausgebrochen.

Bolschewistische Propaganda und Aktivität

Ein zentraler Text der Rabotniza war „Unsere Aufgaben“. Dieser wurde von Kollontai verfasst und im Mai 1917, also mit der Wiederaufnahme der Zeitung, als Leitartikel veröffentlicht. Ebenso wie der Text „Was zu nehmen?“ stellt er die Agitation gegen Krieg, seinen Einfluss auf die Situation der Frauen und die daraus entstehende Notwendigkeit einer Revolution als Hauptinhalte der bolschewistischen Frauenarbeit dar.

„Und das bedeutet: Erstens, dass wir nicht nur für uns verstehen, dass dieser Krieg nicht unserer Krieg ist, dass er für die finanziellen Interessen der reichen Bosse, Bankiers und Industriellen geführt wurde, sondern dies auch ständig unseren arbeitenden GenossInnen, Männern wie Frauen, erklären. Zweitens bedeutet es, die Kraft der arbeitenden Männer und Frauen hinter der Partei zu vereinigen, die nicht nur für die Interessen des russischen Proletariats kämpft, sondern auch dafür, dass kein proletarisches Blut für den Ruhm der KapitalistInnen vergossen wird. Genossinnen Arbeiterinnen! Wir können uns nicht länger mit Krieg und steigenden Preisen abfinden! Wir müssen kämpfen. Reiht Euch in die Reihen der Sozialdemokratischen ArbeiterInnenpartei ein! Aber es ist nicht genug, nur der Partei beizutreten.  Wenn wir wirklich rasch Frieden wollen, müssen die arbeitenden Männer und Frauen dafür kämpfen, dass die Staatsmacht von Großkapitalisten – derer, die wirklich verantwortlich sind für alle unser Leid, für all das Blut, das auf den Schlachtfeldern vergossen wird – in die Hände unserer VertreterInnen übergeht, den Sowjet der ArbeiterInnen- und Soldatendeputierten. Im Kampf gegen Krieg und Preiserhöhungen, im Kampf um die Macht der Besitzlosen, der arbeitenden Menschen in Russland, im Kampf für eine neue Ordnung und neue Gesetze, hängt viel von uns, den Arbeiterinnen, ab. Die Tage sind vorbei, als der Erfolg der ArbeiterInnensache nur von den Organisationen der Männer abhing. Jetzt, als Folge des Krieges fand eine scharfe Wendung hinsichtlich der Stellung der proletarischen Frauen statt. Arbeitende Frauen sind jetzt überall zu finden. Der Krieg hat Frauen dazu gezwungen, Arbeit anzunehmen, an die sie vorher nie gedacht hatten. Während 1912 auf 100 Arbeiter in den Fabriken nur 45 Arbeiterinnen kamen, sind es heute nicht selten 100 Frauen bei 75 Männern. Der Erfolg der proletarischen Sache, der Erfolg im ArbeiterInnenkampf um ein besseres Leben – für die Verkürzung des Arbeitstages, höhere Löhne, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, Renten, etc. -, der Erfolg in ihrem Kampf, um die Zukunft der Kinder, für den Zugang zu besseren Schulen hängt heute nicht mehr nur am Bewusstsein und der Organisiertheit der Männer, sondern auch am Eintritt der arbeitenden Frauen in die Reihen der organisierten ArbeiterInnenklasse. Je mehr von uns sich den organisierten KämpferInnen für die Sache und Bedürfnisse der ArbeiterInnenklasse anschließen, desto schneller werden wir den kapitalistischen Ausbeutern Zugeständnisse abringen.“ (9)

Und kurz vor der Oktoberrevolution:

„Hunger, hohe Lebenshaltungskosten, der Angriff der gegnerischen Armee – all diese Katastrophen hängen über unseren Kämpfen wie düstere Wolken. Jede weitere Stunde dieses Zustandes vergrößert nur unser Leiden. Das Herz der Mutter blutet angesichts des Elends der proletarischen Kinder. Die Frauen weinen, wenn die Matrosen, ihre Ehemänner auf den Wellen des kalten Ozeans kämpfen sollen. Es gibt eine Rettung! Anstelle der Regierung, die durch ihre verbrecherische Politik die Hauptstadt des revolutionären Russland in Gefahr gebracht hat, ist es notwendig, die Macht jener zu errichten, die ein Interesse haben, dass der Krieg so rasch wie möglich beendet wird, die Land brauchen, die Kontrolle über die Produktion fordern; mit anderen Worten: die Arbeiter, Bauern, Arbeiterinnen und Bäuerinnen müssen selbst für die Verteidigung ihrer Rechte einstehen, müssen die HerrInnen des republikanischen Russlands werden.“ (10)

Aber nicht nur das: Die Redaktion der Zeitung diente auch zur Organisation zur praktischen Agitation unter Frauen und ersetzte in vielen Punkten das von der Partei abgelehnte Frauenbüro. So gab es wöchentliche Redaktionstreffen, bei denen Vertreterinnen der größten Fabriken anwesend waren, sich austauschten und Bericht erstatteten. Zudem verfasste die Redaktion mehrfach Flugblätter und organisierte Demonstrationen und Kundgebungen. Beispielsweise fand am 11. Juni eine Kundgebung mit 10.000 TeilnehmerInnen gegen den Krieg statt.

Darüber hinaus wurden auch Arbeitskämpfe organisiert. So wurde der erste größere Streik gegen die Provisorische Regierung im Mai von mehreren Tausend Wäscherei-Arbeiterinnen getragen, die für den Acht-Stundentag, einen existenzsicherenden Lohn und die Vergemeindung der Wäschereien streikten. Dieser Arbeitskampf dauerte sechs Wochen, wurde mit angeführt von Kollontai und war einer der ersten innerhalb einer größeren Streikwelle.

Die Lehren aus der Frauenarbeit der Bolschewiki

Nach der Machtergreifung der Bolschewiki sind eine Reihe von Errungenschaften für die arbeitenden Frauen eingeführt worden, die es zu dieser Zeit in keinem anderen Land auch nur ansatzweise gab. Während das Wahlrecht in den Sowjets schon seit 1917 Frauen zugestanden worden war, wurde es bereits im Oktober 1917 formalisiert. Gerade im Bereich des Schutzes von Schwangeren und Müttern sowie der Eheschließung sind wichtige, elementare Verbesserungen beschlossen worden. Im Rahmen des Volkskommissariats für Fürsorge wurde unter Kollontai beispielsweise versucht, die Geburtshilfe für alle zugänglich zu machen,  diese zu zentralisieren. Zudem wurde per Dekret die Zivilehe legalisiert und der kirchlichen Ehe entgegengesetzt. Fortan war die Ehescheidung möglich, auch wenn nur ein/e PartnerIn das wollte. Daneben wurde der Unterschied zwischen nicht-ehelichen und ehelichen Kindern beseitigt. Durch das vereinfachte Scheidungsrecht wurden Frauen außerdem als StaatsbürgerInnen mit gleichen Rechten anerkannt. (11) Darüber hinaus wurde ein essentieller Schritt getan, Frauen weiterhin in die Produktion mit einzubeziehen.

Dennoch ist die Frauenpolitik der Bolschewiki insgesamt auch kritisch zu betrachten. Ohne Frage hat die  Machtergreifung wichtige Errungenschaften und Verbesserungen für die Arbeiterinnen gebracht und durch die Streiks oder Aktivität innerhalb der Partei sind viele Frauen aus den Ketten des traditionellen Lebens gerissen worden. Dennoch muss klar aufgezeigt werden, dass die Frauenarbeit der Bolschewiki eine Entwicklung durchmachte, die nicht immer geplant und theoretisch gefestigt war. Bis 1913 nur marginal existent, entwickelte sie sich nach und nach dank der Redaktion der Rabotniza, die das fehlende Frauenbüro bzw. Kommission ausglich und auch praktische Aktivitäten entfaltete. Die Partei verwahrte sich, ähnlich wie die Menschewiki, zwischen 1905-1913 gegen eine gezielte Agitation unter Frauen aus Angst, dem bürgerlichen Feminismus Zugeständnisse zu machen. Diese Einstellung war auch später noch verbreitet, obwohl führende Genossinnen wie Kollontai oder Samoilowa immer wieder die inhaltliche Differenzierung in die Partei sowie in die Massen trugen. Dies zeugt zum einen von einem mangelnden Verständnis der Wichtigkeit der Frauenfrage, zum anderen aber auch von einem mangelnden Repertoire an Taktiken gegenüber dem (klein-)bürgerlichen Feminismus.

Die Änderung der Linie nach 1913 ist durchaus positiv zu bewerten, dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass unter vielen Männern in der Partei stillschweigend die Position vertreten wurde, dass sich die „Frauenfrage” nach der Revolution schon lösen würde. Diese oberflächliche Auffassung lässt sich nicht aus der Programmatik des Bolschewismus und seinem Revolutionsverständnis herleiten, die eigentlich immer wieder auf die Notwendigkeit der Verbindung der sozialistischen Umwälzung mit dem Kampf gegen andere Formen der sozialen und politischen Unterdrückung bestanden (siehe z. B. nationale Frage).

Der Niedergang in der Frauenpolitik muss daher – neben zweifellos vorhandenen theoretischen und programmatischen Schwächen – auch im Kontext der gesellschaftlichen Rückständigkeit, die mit der Revoulution natürlich nicht abgeschafft war, des Ausbleibens der internationalen Revolution, des Bürgerkriegs, der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung und des allgemeinen Mangels betrachtet werden.

Auf diesem Boden machten sich aber auch wirkliche Schwächen deutlich. Insbesondere nach der Wende zur Neuen Ökonomischen Politik 1921 wurden auch viele Errungschaften der Revolution angegriffen. So wurde die Einbeziehung der Frauen in den Produktionsprozess nach Ende des Bürgerkrieges nicht weiter verfolgt und forciert. So entfalteten die Demobilisierung der Armee, gesellschaftlicher Mangel, die fortbestehende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Tradition eine Wirkung, die zur Verdrängung aus dem Produktionsprozess führte. Diese hätte nur durch ein bewusstes und entschiedenes Gegensteuern verhindert werden können.

Eine weitere Errungenschaft, die eingeschränkt wurde, war das Recht auf Abtreibung. Anfangs kostenlos und ohne Beratung machbar, wurde es bereits 1924 wieder eingeschränkt. Später unterm Stalinismus ist das Frauenbild nicht weit vom bürgerlichen entfernt, und eine Befreiung der Frau war in weite Ferne gerückt. Vor allem aber wird aus einem beginnenden Kampf für die Befreiung der Frau mit dem Stalinismus eine Gesellschaftsordung etabliert, die mit einer systematischen Unterdrückung der Frauen und der Reproduktion dieses Verhältnisses verbunden ist.

Rückschritte und Degeneration sowie deren materielle Ursachen dürfen uns jedoch nicht dazu führen, die Augen vor einer kritischen Aufarbeitung auch des Bolschewismus zu verschließen. Richtige Schritte in Richtung Frauenbefreiung wurden theoretisch unzureichend oder gar nicht unterfüttert. In Fragen der Sexualmoral, des sexuellen Selbstbestimmungsrechtes, der Verhütung, der Rolle der Familie z. B. zeigten sich neben Ignoranz in der Diskussion der frühen Sowjetunion auch höchst problematische, ja rückschrittliche Vorstellungen. All das begünstigte schließlich auch eine „Depriorisierung” der „Frauenfrage”.

Die Frauenunterdrückung ist ein seit Jahrtausenden bestehendes Problem, welches nach der Machtergreifung des Proletariats nicht einfach so beseitigt ist. Natürlich kann nur die Übernahme der Produktionsmittel in die Hände des ArbeiterInnenstaats die Grundlage für eine Frauenbefreiung abgeben. Aber gerade wegen der tiefen Wurzeln dieser Unterdrückung sind Revolutionäre und Revolutionärinnen heute dazu verpflichtet, aktiv gegen diese anzugehen und auch nach der Revolution einen langen Atem zu haben, einen hartnäckigen Kampf um Kultur, Bewusstsein, Verhalten und Sitten zu führen.

 

Endnoten

(1) Scharinger, Manfred: „Kommunismus und Frauenbefreiung“, in: Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) [Hrg.]: Marxismus 28, Wien, 2006

(2) www.marxists.org/history/etol/newspape/w&r/WR_010_1976.pdf , S. 10

(3) www.marxists.org/archive/kollontai/1913/womens-day.htm

(4) Scharinger, Manfred: „Kommunismus und Frauenbefreiung“, a. a. O., S. 74

(5) Evans Clements, Barbara: „Bolshevik Women“, Cambridge [Cambridge University Press], 1997, S. 133

(6) www.marxists.org/history/etol/newspape/w&r/WR_010_1976.pdf

(7) www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap03.htm

(8) www.arbeitermacht.de/rm/rm38/oktoberfrauen.htm

(9) www.marxists.org/archive/kollontai/1917/tasks.htm

(10) What to Take?, Rabotniza, 18th October/1st November 1917, www.marxists.org/history/etol/newspape/w&r/WR_004_1973.pdf S.5

(11) Scharinger, Manfred: „Kommunismus und Frauenbefreiung“, a. a. O., S. 86-89




Stalinismus: legitimer Erbe des Bolschewismus?

Die Politik der Bolschewiki und die Diktatur ihrer Partei im Bürgerkrieg

Jürgen Roth, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

Bei der Untersuchung der Fragestellung, inwieweit die Politik der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) [KPR (B)] zur Entstehung des Stalinismus beigetragen hat, befassen wir uns im folgenden Artikel mit Ereignissen nach der Machtergreifung bis zum Frühjahr und dem Ende des Bürgerkrieges 1920. In einer geplanten Fortsetzung wollen wir uns weiter auseinandersetzen mit der Politik der Bolschewiki gegenüber dem Kronstädter Aufstand unmittelbar vor Einführung der „Neuen Ökonomischen Politik“, ihren Vorstellungen zum Aufbau der Wirtschaft und der Arbeitsorganisation in den Betrieben sowie ausloten, bis zu welchem Grad die Partei mit grundlegenden Konzeptionen der II. Internationale gebrochen hatte. Ferner soll der Unterschied zur herrschenden Politik unter Stalin herausgearbeitet werden.

Zuerst wollen wir uns dem Thema zuwenden, welches Verständnis von Geschichte für eine solche Analyse Vorbedingung ist. Dieses zeichnen wir am Beispiel der Trotzki’schen Schrift „Bolschewismus und Stalinismus“ nach.

Der methodische Ausgangspunkt

Am 28. August 1937 verfasste Leo Trotzki die Polemik „Bolschewismus und Stalinismus“. (1) Reaktionäre Perioden wie die damalige (Niederlagen in Deutschland und Österreich, Moskauer Prozesse…) führen RevolutionärInnen dazu, die Erfahrungen aus Niederlagen und Rückschlägen zu verarbeiten, bei gleichzeitigem Festhalten an der revolutionären Doktrin. Andererseits begeben sich auch viele Linke unter dem deprimierenden Eindruck der Ereignisse auf die Suche nach „Neuem“. Manche geben zugleich den Glauben an Marxismus und Revolution gänzlich auf. So auch der von Trotzki kritisierte ehemalige Kommunist Willy Schlamm (später als William S. Schlamm konservativ-bürgerlicher Journalist):

„Aber da die Oktoberrevolution im gegenwärtigen Stadium zum Triumph der Bürokratie geführt hat,(…)so sind viele formale und oberflächliche Geister zu der summarischen Schlussfolgerung geneigt: Man kann nicht den Stalinismus bekämpfen, ohne auf den Bolschewismus zu verzichten(…)Der zum Stalinismus entartete Bolschewismus ist selbst aus dem Marxismus entstanden – man kann folglich nicht den Stalinismus bekämpfen und dabei auf den Grundlagen des Marxismus bleiben. Die weniger Konsequenten, aber Zahlreicheren sagen hingegen: ‚Man muß vom Bolschewismus zum Marxismus zurückkehren.’“ (2)

Trotzki fragte darauf rhetorisch: Zu welchem Marxismus? Dem von Marx und Engels? Aber den haben die Bolschewiki gründlich studiert, ohne dass dies die Entartung des Sowjetstaates verhindert hätte.

Wir befassen uns im folgenden Beitrag mit den zahlreicheren „weniger Konsequenten“ aus dem Artikel von Schlamm und folgen zunächst Trotzkis Ausführungen bei der Frage:

Ist der Bolschewismus für den Stalinismus verantwortlich?

Einig sei sich die gesamte Reaktion mit Stalins Behauptung und der der Menschewiki, AnarchistInnen und mancher Ultralinken, derzufolge der Stalinismus gesetzmäßige Frucht des Bolschewismus sei. Trotzki weist darauf hin, dass mit dieser Annahme eine stillschweigende Gleichsetzung von Bolschewismus, Oktoberrevolution und Sowjetunion unter der Hand vorgenommen werde. Der Bolschewismus sei lediglich eine eng mit der ArbeiterInnenklasse verknüpfte politische Strömung und noch nicht einmal mit dieser identisch. Zudem:

„Der von den Bolschewiki errichtete Staat spiegelt nicht nur das Denken und Wollen der Bolschewiki wider, sondern auch das Kulturniveau des Landes, die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung, den Druck der barbarischen Vergangenheit und des nicht weniger barbarischen Weltimperialismus. Den Entartungsprozess des Sowjetstaats als eine Evolution des reinen Bolschewismus darstellen, heißt, die soziale Wirklichkeit ignorieren namens eines einzigen durch die reine Logik von ihr abgesonderten Elements(…)Der Bolschewismus betrachte sich als einen Faktor der Geschichte, ihren ‚bewussten‘ Faktor – einen sehr bedeutenden, aber nicht entscheidenden – ‚historischen Subjektivismus‘ haben wir uns nie schuldig gemacht. Den entscheidenden Faktor auf dem gegebenen Fundament der Produktivkräfte sahen wir im Klassenkampf, dabei nicht bloß im nationalen, sondern im internationalen Maßstab(…)Mit der Herrschaft über den Staat besitzt die Partei allerdings die Möglichkeit, mit einer ihr bis dahin nicht zugänglichen Kraft auf die Entwicklung der Gesellschaft einzuwirken, dafür aber unterliegt sie auch selbst einer verzehnfachten Einwirkung von Seiten aller übrigen Elemente dieser Gesellschaft. Durch die direkten Schläge der feindlichen Kräfte kann sie von der Macht hinweggefegt werden. Bei langwierigen Entwicklungstempi kann sie, sich an der Macht haltend, innerlich entarten(…)Im Grunde sagen diese Herren: Schlecht ist die revolutionäre Partei, die nicht in sich die Garantie gegen ihre eigene Entartung enthält(…)Einen Talisman hat er [der Bolschewismus; d. Red,] nicht. Doch dieses Kriterium ist eben falsch. Das wissenschaftliche Denken verlangt eine konkrete Analyse: Wie und warum zersetzte sich die Partei?(…)Natürlich ist der Stalinismus aus dem Bolschewismus ‚erwachsen‘, aber nicht logisch erwachsen, sondern dialektisch: nicht als revolutionäre Bejahung, sondern als thermidorianische Verneinung.“ (3)

Die Bolschewiki waren der entscheidende Faktor, dass inmitten einer besonderen Kräftegruppierung im nationalen wie internationalen Rahmen das Proletariat zuerst im rückständigen Russland an die Macht gelangen konnte. Genau diese Kräftegruppierung ließ aber im Voraus und beizeiten die Bolschewki erkennen, dass ein ArbeiterInnenstaat in Russland ohne einen baldigen Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern nicht standhalten, zuerst entarten und dann zerfallen werde. Lenin war dies bereits 1922 klar: Die Partei ist nicht der einzige und in großen geschichtlichen Maßstäben nicht der entscheidende Faktor. Geschichte werde von den Massen geprägt. Diese seien des langen Wartens auf die Weltrevolution, der Entbehrungen müde geworden, hätte den Mut verloren. Die Bürokratie habe die Oberhand bekommen, die proletarische Vorhut eingeschüchtert, die bolschewistische Partei usurpiert und den Marxismus verballhornt. Da alle anderen Parteien ausgeschaltet waren, mussten die entgegengesetzten Interessen verschiedener Bevölkerungsschichten sich in der herrschenden Staatspartei artikulieren. Diese erlitt im Laufe von anderthalb Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution eine sehr viel gründlichere Entartung als die Sozialdemokratie in einem halben Jahrhundert. Bolschewismus und Stalinismus waren in den 1930er Jahren sogar physisch unvereinbar: die gesamte alte Generation der BolschewistInnen, ein großer Teil der mittleren, die bereits am Bürgerkrieg teilgenommen hatte, und die fortgeschrittensten Elemente unter der Jugend wurden mittels der Schauprozesse ausgerottet.

Staatssozialismus?

Für die AnarchistInnen liegt die Wurzel des Stalinismus nicht nur im Bolschewismus und Marxismus, sondern im „Staatssozialismus“. Bakunin wollte den Staat mit einem Streich durch die patriarchalische „Föderation der freien Gemeinden“ ersetzen. Die moderne Version lautet „Föderation der freien Räte“ oder so ähnlich. Trotzki räumt ein, dass der Staat als Zwangsapparat eine Quelle politischer und moralischer Verkommenheit darstelle, also auch der ArbeiterInnenstaat. Folglich sei auch der Stalinismus Produkt eines Gesellschaftszustandes, der die Zwangsjacke Staat noch nicht abgestreift habe. Doch diese Erkenntnis beziehe sich nur auf den allgemeinen Zustand der Menschheit, v. a. auf das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat, trage aber zur Beurteilung von Marxismus und Bolschewismus nichts bei. Mit den AnarchistInnen wähnt er sich einig, dass die wahre menschliche Geschichte mit der Abschaffung des Staats beginnen werde. Doch wie dahinkommen? Wie die Beteiligung der Anarchisten an der spanischen Volksfrontregierung bewiesen habe, sei die anarchistische Doktrin dazu völlig außerstande.

„Die Marxisten sind sich mit den Anarchisten bezüglich des Endzieles, der Liquidierung des Staates, vollkommen einig. Der Marxismus bleibt ‚staatlich‘ nur, soweit die Liquidierung des Staates nicht vermittels der einfachen Ignorierung des Staates erreicht werden kann. Die Erfahrung des Stalinismus widerlegt nicht die Lehre des Marxismus, sondern bestätigt sie auf umgekehrte Weise. Die revolutionäre Doktrin, die das Proletariat lehrt, sich in einer Lage richtig zu orientieren und sie aktiv auszunutzen, enthält selbstverständlich keine automatische Siegesgarantie. Doch dafür ist der Sieg nur mit Hilfe dieser Doktrin möglich. Diesen Sieg darf man sich außerdem nicht als einmaligen Akt vorstellen(…)Aber wenn es nicht leicht ist, die Wirklichkeit des lebendigen historischen Prozesses zu verstehen, so ist es dagegen nicht schwer, den Wechsel seiner Wellen rationalistisch zu deuten, logisch den Stalinismus aus dem ‚Staatssozialismus‘, den Faschismus aus dem Marxismus, die Reaktion aus der Revolution, mit einem Wort, die Antithese aus der These herzuleiten. Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, ist das anarchistische Denken der Gefangene des liberalen Rationalismus. Das echte revolutionäre Denken ist unmöglich ohne Dialektik.“ (4)

Die politischen Sündenfälle des Bolschewismus als Quelle des Stalinismus?

Für Ultralinke wie Gorter, Pannekoek und Souvarine u. a. ist klar: Lenin ersetzte die Diktatur des Proletariats durch die der Partei, Stalin die der Partei durch die ihrer Bürokratie. Sie sind ausschließlich mit der Suche nach den dem Bolschewismus innewohnenden Fehlern beschäftigt, die realen Bedingungen des historischen Prozesses interessieren sie nicht. Stalins Anbiederung an bürgerliche Demokratie und britische Gewerkschaftsbürokratie leiten sie aus der bolschewistischen Praxis ab, sich an den alten Gewerkschaften und am bürgerlichen Parlament zu beteiligen. Trotzki fragt dagegen, wie denn die ArbeiterInnenklasse anders an die Macht gelangen solle als in Person ihrer Avantgarde:

„In diesem Sinne sind die proletarische Revolution und die Diktatur Sache der gesamten Klasse, aber nicht anders als unter der Führung der Avantgarde. Die Sowjets sind nur die organisierte Form der Verbindung zwischen Avantgarde und Klasse. Dieser Form einen revolutionären Inhalt geben kann nur die Partei.“ (5)

Nach Meinung Trotzkis entsprang das Verbot der anderen Sowjetparteien nicht der Theorie des Bolschewismus, sondern war eine als vorübergehend gedachte Maßnahme zum Schutze der Diktatur in einem rückständigen, erschöpften, von Feinden umzingelten Land. Diese Situation habe es auch verunmöglicht, den AnarchistInnen gewisse Gebietsteile zu überlassen, wo sie im Einverständnis mit der dortigen Bevölkerung ihre Experimente an Staatenlosigkeit in der Praxis hätten erproben dürfen. Die Unterdrückung von Kronstadt 1921 und der Machno-Bewegung in der Ukraine rechtfertigt er ebenfalls mit dem Argument der Verteidigung der Diktatur unter Bedingungen der Blockade, Belagerung und des Hungers. So habe die revolutionäre Regierung den aufständischen Matrosen der Ostseeflotte nicht eine die Hauptstadt abriegelnde Festung schenken können, nur weil sich dem Aufstand einige fragwürdige AnarchistInnen angeschlossen hätten.

„Unbestreitbar ist auch, dass die aus der Revolution erwachsene Bürokratie darin ein Zwangssystem in ihren Händen monopolisierte(…)Ganz ebenso verschließt das liberal-anarchistische Denken die Augen davor, dass die bolschewistische Revolution mit all ihren Unterdrückungsmaßnahmen eine Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse der Massen bedeutete, während Stalins thermidorianische Umwälzung der Sowjetgesellschaft im Interesse einer privilegierten Minderheit geschieht.“ (6)

Das vielleicht vernichtendste Urteil über die Stalinbürokratie fällt Trotzki auf dem Gebiet der Theorie. Die Stalin’sche Revision des Marxismus stehe der Bernstein’schen in nichts nach. Während dieser aber redlich versucht habe, die reformistische Praxis der Sozialdemokratie mit ihrem Programm unter einen Hut zu bringen, habe die Stalinbürokratie nicht nur nichts mit dem Marxismus gemein, sondern ihr sei überhaupt jede Doktrin, jedes System fremd. Ihre „Ideologie“ sei von Polizeisubjektivismus durchdrungen, die Usurpatorenkaste sei gemäß dem eigentlichen Wesen ihrer Interessen Feind der Theorie.

Trotzkis Methode der Geschichtsschreibung

Der Text ist von der dialektischen Methode des historischen Materialismus geprägt. Vor allem setzt er den subjektiven Faktor, das revolutionäre Klassenbewusstsein, Partei und deren Programm wie Handeln auf den ihr in der Geschichte gebührenden Platz. Dieses Moment sei in der Sozialdemokratie der II. Internationale völlig unterentwickelt gewesen. Revolution erschien ihr als objektives Moment eines automatischen Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems. Die Entwicklung nach der Oktoberrevolution konnte von daher nur so interpretiert werden, dass die Produktivkräfte Russlands für den Sprung zum Sozialismus nicht ausgereicht hätten, das Land eben für die ArbeiterInnenrevolution noch nicht reif sei.

Einerseits wird hier der Gradmesser der „Reife“ eines Systems national abgeleitet und nicht aus der Tatsache, dass der Weltmarkt auf Grundlage der großen Industrie, (nicht des Handelskapitals) weltumspannend hergestellt war. Dies war die historische Tat des höchsten Stadiums des Kapitalismus, des Imperialismus. Andererseits spielten in der Beurteilung der „Reife“ Organisationsgrad und Entwicklung des Klassenbewusstseins überhaupt keine Rolle. Mit Verweis auf Engels, der das Weitertreiben der Revolution von 1848 zur permanenten Revolution Jahre später für objektiv unmöglich erklärt hatte, suchte sie ihr Abwarten auf bessere Zeiten und entwickeltere Produktivkräfte zu rechtfertigen. Dabei hatte bereits Engels nicht allein auf den Fortschritt der Produktivkräfte nach 1848 unterm Kapitalismus verwiesen, sondern eben auch auf die wachsende Zahl und Organisation der LohnarbeiterInnenschaft. Zudem gibt es von ihm und Marx kein Wort der Kritik am Programm der Revolution in Permanenz des „Bundes der Kommunisten“, dem beide zur damaligen Zeit angehörten. Gleichfalls setzten sich beide enthusiastisch für die Pariser Kommune ein, obwohl ihnen bewusst war, dass in Frankreich zur damaligen Zeit das Proletariat nur in Paris die Mehrheit der Bevölkerung stellte. Das Scheitern der Kommune führten sie eben nicht hauptsächlich auf diesen objektiven Umstand zurück, sondern kritisierten deren Fehler, beschäftigten sich also mit der Entwicklung revolutionären Klassenbewusstseins, indem sie Kritik am damaligen Stand des Klassenbewusstseins übten.

Rosa Luxemburg schrieb in diesem Sinne bereits Anfang des letzten Jahrhunderts eine im Grunde vorweggenommene Antwort auf die Frage, ob die Oktoberrevolution „zu früh“ gekommen sei:

„Die sozialistische Umwälzung setzt einen langen und hartnäckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem Anscheine nach mehr als einmal zurückgeworfen wird, so dass es das erste Mal, vom Standpunkte des Endresultats des ganzen Kampfs gesprochen, notwendig ‚zu früh‘ ans Ruder gekommen sein wird(…)So stellen sich denn jene ‚verfrühten‘ Angriffe des Proletariats auf die politische Staatsgewalt selbst als wichtige geschichtliche Momente heraus, die auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mitherbeiführen und mitbestimmen. Von diesem Standpunkte erscheint die Vorstellung einer ‚verfrühten‘ Eroberung der Macht durch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der von einer mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt.“ (7)

Luxemburgs Kritik am mechanischen Geschichtsverständnis der klassischen Sozialdemokratie trifft ins Mark. Die II. Internationale hatte den marxistischen Satz „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“ einseitig objektivistisch interpretiert in dem Sinn, dass das gesellschaftliche Sein ein unbewusstes, objektives, mechanisches sei. Schon im gesellschaftlichen Sein ist aber konstitutiv die Rolle der Arbeit, die natürlich ein subjektives praktisches Moment enthält: den arbeitenden Menschen!

Was dieser Satz aussagen will, ist vielmehr Folgendes: Das Bewusstsein ist Resultat der Arbeit, der Griff der Hand nach dem Arbeitsinstrument stiftet den Begriff, Denken, Sprache, ja Gesellschaft überhaupt, ermöglichen erst dem lebendigen gesellschaftlichen Individuum, sich zur Natur als Objekt zu verhalten. Aber die Vergesellschaftung durch Arbeit läuft über weite Strecken der Geschichte bis zum Kommunismus unbewusst, die Verhältnisse gestalten sich hinter dem Rücken der ProduzentInnen. Die Gedanken können nicht höher stehen als der Stand der Gesellschaft. Kategorien wie Wert, abstrakte Arbeit oder das freie Individuum sind erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus denkbar (Realabstraktionen). Eine Gesellschaft kann nur mit einer neuen schwanger gehen, wenn sich deren Konturen im Leib der alten abzeichnen. Die Existenz des Proletariats ist so Voraussetzung für den wissenschaftlichen Sozialismus.

Um aber die Staatsmacht zu erobern, erst recht den Sozialismus zu erreichen, muss das Bewusstsein der Massen von dieser Idee durchdrungen sein. Zugleich muss diese die Form eines Programms, entsprechender Praxis und Organisation annehmen, um geschichtsträchtig wirken zu können. Alles muss eben auch durch den menschlichen Kopf gehen, Geschichte ist keine subjektlose Maschine: Die Menschen machen ihre Geschichte selber, wenn auch unter vorgefundenen Verhältnissen! Insbesondere für die LohnarbeiterInnenklasse sind ihr revolutionäres Klassenbewusstsein, ihre Überzeugung von ihrer historischen Mission und den damit zusammenhängenden Aufgaben und Notwendigkeiten die unablässige Vorbedingung für den Sturz des Kapitalismus schlechthin. In den Poren des Kapitalismus kann das Proletariat im Unterschied zu anderen Klassen in unterschiedlichen Produktionsweisen nämlich kein eigenes Produktionssystem etablieren, aber sehr wohl können in den Poren des Sozialismus und erst recht der Übergangsgesellschaft (Diktatur des Proletariats) Elemente der kapitalistischen Produktionsweise (eine Zeitlang) existieren.

Das revolutionäre Klassenbewusstsein ist also die ausschlaggebende „Produktivkraft“ ab der Machtergreifung. Dieses Verständnis des wissenschaftlichen Sozialismus von Geschichte, die Dialektik von Subjekt- und Objekthaftigkeit ihrer Entwicklung kommt in Trotzkis Artikel zur Geltung, indem er die subjektiven wie objektiven Momente in der Genese des Stalinismus analysiert. Es wird klar, wieso Abweichungen von der Norm der ArbeiterInnendemokratie erfolgen mussten, aber auch, dass genau untersucht werden muss, welche Fehler die Bolschewiki gemacht haben mögen, ohne sie zur Tugend zu erklären. Andernfalls gerät man leicht ins Fahrwasser des Stalinismus, der wie sein Zwilling, die Sozialdemokratie, Geschichtsresultate immer apologetisch rechtfertigen muss, nach dem Motto: Es konnte nur so kommen und darum ist es auch gut so.

Bürgerkrieg und Kriegs„kommunismus“

Um die Parteienverbote sowie Ereignisse in der Ukraine und in Kronstadt im Zusammenhang zu begreifen, sollen zuvor die allgemeinen politischen und ökonomischen Entwicklungen der Russischen Revolution nach 1917 dargestellt werden. (8)

„Dies ist auch die erste prinzipielle Differenz zur anarchistischen Strömung, deren Stellungnahmen stets im Großen und Ganzen den allgemeinen Zusammenhang der Lage negieren. Die verschiedenen Positionen der Anarchisten zu den Etappen der Russischen Revolution sind ein guter Beweis dafür. Im Juli 1917 wollten sie die Demonstrationen der Petrograder Arbeiter bis zum Sturz der Regierung weitertreiben. Sie bezeichneten die Julitage als ,fehlgeschlagenen Aufstand‘ und bezichtigten die Bolschewiki des Verrats. Die bolschewistischen Führer hätten nur ,inoffiziell‘ an ihnen teilgenommen(…)In Wirklichkeit besaßen die Bolschewiki die Führung der Demonstration, sie verlief unter ihren Losungen(…)Lenins Partei ,bremste‘ die Empörung der Arbeiter und leitete sie in eine machtvolle Demonstration über und bewusst nicht zum Aufstand, weil sie die Isoliertheit Petrograds von den ,schweren Reserven‘ der Bauern und der Masse der Soldaten sah. Der Konterrevolution wäre es sonst ein Leichtes gewesen, genügend Truppen gegen die Hauptstadt zu werfen. Die Bolschewiki vermieden so eine schwere, tiefe Niederlage der Petrograder Avantgarde, die Anarchisten hätten sie hineingehetzt, wären sie nicht bloß einige Wenige in den Sowjets gewesen(…)Der Sieg über Kornilow im August 1917 ging nach Meinung der Anarchisten auf ihr Konto. Warum jedoch die Massen der Arbeiter und Soldaten in dieser Zeit von den Menschewiki und Sozialrevolutionären zu den Bolschewiki überwechselten, können sie indes nicht erklären. Und schließlich die Oktoberrevolution selbst. Nach anarchistischer Auffassung hatte die ,bolschewistische Regierung (…) nur noch die vollendeten Tatsachen zu sanktionieren.‘ (Volin…) Es stimmt, die Sowjets, Fabrikkomitees und die Aufteilung des Landes waren keine direkte ,Schöpfung‘ der Bolschewiki gewesen. Sie waren größtenteils ohne Zutun der KPR entstanden. Zum Machtorgan, das die Bourgeoisie stürzte und nicht mit ihr kooperierte, wurden die Sowjets erst durch die revolutionäre Politik der Bolschewiki, nur sie sanktionierten die Aufteilung des Landes – und nur sie waren dazu auch in der Lage. ,Die Bolschewiki…führten einen rein politischen Akt durch, indem sie die Macht übernahmen, die im Zuge dieser Volksrevolution ohnehin stürzen musste. Durch ihren politischen Handstreich brachten die Bolschewiki die wirkliche Revolution zum Stillstand und führten sie auf eine falsche Bahn.‘ (Volin…)“ (9)

Diese Perle eines Widerspruchs in sich im letzten Volin-Zitat verdeutlicht ein zweites Merkmal in der anarchistischen Argumentationskette neben der Ignoranz der übergreifenden Lage: ihren Euphorismus gegenüber den Massen.

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution war der KPR(B) an der Regierung bewusst, dass in Russland eine Reihe wichtiger Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus fehlten: Die Industrie und Landwirtschaft waren traditionell rückständig und durch den Krieg sowie die Landaufteilung schwer beeinträchtigt bzw. in der Produktivität zurückgeworfen, Russland vom Weltmarkt isoliert usw. Die industrielle Krise und der Niedergang der Agrarproduktion sollten durch die Verschmelzung der Banken zu einer Nationalbank unter Kontrolle der Sowjets, durch die ArbeiterInnenkontrolle über die Industrie angegangen werden.

„Noch im Jahre 1917 hatten die Arbeiter in den meisten Betrieben selbsttätig die Leitung der Produktion übernommen, ohne sie jedoch im nationalen Maßstab zu koordinieren. Die Fabrikkomitees walteten und schalteten zumeist in ihrem Bereich isoliert und produzierten mit den ohnehin geringen Mitteln nur für den regionalen Bedarf. Die Produktionskräfte wurden keineswegs optimal eingesetzt, und das Elend der Städte führte oft genug dazu, dass die Arbeiter durch die ,Aneignung‘ von Produkten und Werkzeugen versuchten, ihre persönliche Not zu lindern.

Viele kapitalistische Eigentümer, die 1917/18 noch nicht ausgeschaltet waren, begannen gemeinsam mit dem technischen Personal, ihre ihnen noch verbliebenen Positionen auszunutzen und die Wirtschaft zu sabotieren.“ (10)

1918 spitzte sich der Konflikt mit dem deutschen Imperialismus zu. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk besetzten die Deutschen große Teile der Ukraine, darunter Kiew, marschierten in Richtung Donezbecken, erreichten den Don, die Nordküste des Schwarzen Meeres, Odessa, den Nordkaukasus und die südliche Wolgaregion. Petrograd wurde von ihren Luftschiffen bombardiert. Das Losschlagen der „Tschechischen Legion“ verschärfte die Lage und gab das Signal für einen Bürgerkrieg, der bis 1920 dauern sollte. Die schlecht ausgerüsteten Anfänge der Roten Armee führte zu stetigem Rückzug. Im Sommer 1918, einem der kritischsten Zeitpunkte im Bürgerkrieg, waren die meisten Nahrungsmittel produzierenden Gebiete verloren oder vom zentralrussischen Sowjetgebiet abgeschnitten. Die meisten Grenzgebiete standen unter der Besatzung der Weißen, der Deutschen oder Türken; die alliierte Invasion setzte ein.

„Die Heranschaffung von Nahrung wurde zu einer Überlebensfrage für die Arbeiter in den Städten und – für die Revolution! Reiche und mittlere Bauern hielten ihren Getreideüberschuß bewußt zurück, um vom Hunger der Städte zu profitieren. Sie stellten eine einflußreiche Minderheit dar, die zudem fürchtete, dass sich die Sowjetmacht nicht halten würde und sie nach dem Sieg der Weißen mit leeren Taschen dastünden. Mit den Werten aus der Aufteilung des Großgrundbesitzes bauten sich unzählige bäuerliche Elemente einen Schmuggelhandel für die Schwarzmärkte in den darbenden Städten auf(…)Daraufhin verboten die Bolschewiki den Privathandel und griffen zum Mittel der Requisition bei den reichen und mittleren Bauern.“ (11)

Die Bolschewiki begannen „Komitees der Dorfarmut“ für diesen Zeck zu organisieren, trieben die Klassenspaltung auf dem Dorf voran und verbündeten sich mit ihnen. Geographisch funktionierte das Bündnis zwischen Stadt- und Landproletariat sowie der halbproletarischen Dorfarmut in den getreidearmen Provinzen des Nordens und des Zentrums, im Moskauer Gebiet, den nördlichen Dwina- und oberen Wolgaregionen.

Anfang 1918 revidierte die bolschewistische Parteiführung das Konzept der ArbeiterInnenkontrolle und zentralisierte die Industrieproduktion. Lenin befürwortete ab März 1918 eine Stärkung der Betriebsleiter und eine straffe Arbeitsdisziplin, u. a. auch die Einführung und Verbreitung des Taylor’schen Akkordsystems. Der im Dezember 1918 gebildete Oberste Volkswirtschaftsrat sollte autonom handeln können, ohne zu sehr von den ArbeiterInnenkontrollorganen abhängig zu sein.

Diese als Kriegskommunismus bezeichnete Politik brachte die begüterte Bauern- und Bäuerinnenschaft, aber auch oft genug die kleinen LandwirtInnen und die noch in Verbindung mit dem Dorf stehenden proletarischen Schichten mit der Sowjetregierung in Konflikt. Aber auch in der Stadt stießen die Bolschewiki mit jenen, oft aristokratischen, ArbeiterInnenschichten zusammen, die sich nicht der zentralen Wirtschaftsführung und der strengen Arbeitsdisziplin beugen wollten. Die anhaltende Lebensmittelkrise trug zusätzlich den Unmut oft genug in die Kernschichten des Proletariats hinein. Zusätzlich war die bolschewistische Position in den Fabriken durch den Aderlass von Hunderttausenden aus der ArbeiterInnenvorhut geschwächt, die in Partei, Staatsapparat und Roter Armee „verschwanden“. Die Rekrutierungen für die aufzubauende Rote Armee litten unmittelbar unter diesen regierungsfeindlichen Stimmungen in ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenschaft.

„Menschewiki und rechte Sozialrevolutionäre lehnten schon kurz nach der Oktoberrevolution den Sowjetkongreß als einzige legale Macht ab. Am 3. November 1917 brachen sie die Verhandlungen mit den Bolschewiki ab, um gegen die Verhaftungen von Kadettenpolitikern zu protestieren. Man hatte außerdem einige der bürgerlichen Zeitungen verboten, die offen zum bewaffneten Aufstand aufgerufen hatten. Nachdem Kadetten und rechte Sozialrevolutionäre Ende November einen Putschversuch unternahmen, wurden zuerst die Kadetten illegalisiert, nicht aber der rechte Flügel der Sozialrevolutionäre. Den letzten Schritt ins Lager der Weißen setzten die Reformisten schließlich im September 1918, als sie in Samara unter dem ,Schutze‘ der Tschechen und des weißen Generals Koltschak eine ,demokratische‘ Gegenregierung bildeten.

Ihre soziale Basis waren die Kulaken, von denen sie die Hauptparole von der „’Freiheit des Getreidehandels‘ unter Ausschaltung der Sowjets übernahmen.“ (12)

Die mittlere LandwirtInnenschicht schwankte zwischen Kulaken und Sowjetmacht und orientierte sich zumeist an den Erfolgen der widerstreitenden Armeen. Dem entsprach die Politik der linken SozialrevolutionärInnen und die mit ihnen in der Frage des Kampfs gegen die Komitees der Dorfarmut und gegen die Requisitionen konformen AnarchistInnen.

„Welche Positionen und Alternativen haben nun die Anarchisten im Sommer 1918 und später anzubieten? Im Kriegskommunismus erblickten sie die bolschewistische Gewalt um der Gewalt willen(…)Hier kommt haargenau die Stellung des bäuerlichen Elements zum Ausdruck, das zwischen Revolution und Konterrevolution zerrieben wird(…)Genau wie die zaristische Regierung und das Regime Kerenskis für ihn die Unterdrückung selbst gewesen waren, weil damals die Last des Gutsherren auf ihm lastete und man ihn gegen den äußeren Feind an die Front schickte, so sah er nun in der Sowjetmacht ein bloßes Gegenstück zu jenen vormaligen Regierungsformen, weil sie ihm, nachdem er endlich das Land in seine Hand bekommen hatte, nicht gestatten wollte, seine Erträgnisse ‚nach freiem Belieben zu verkaufen‘.

Zur obigen Ignoranz der proletarischen Gesamtinteressen kommt nun noch die Realitätsferne angesichts der Krisensituation von 1918, die selbstverständlich ebenso eine soziale Zerrüttung bedeutete. Die Anarchisten prangern die Korruption und Gewalttätigkeit der Rotgardisten und ihrer Kommandanten an, die ohne Zweifel massenweise vorhanden war(…)Ein Teil von ihnen propagierte offen den ,freien Handel'(…)Die ,Massen‘ sollten in den ,freien Kommunen‘ und den ,parteilosen Sowjets‘ selbst entscheiden, welchen Weg sie gehen wollten(…)Die ,Linken‘ sprachen 1918 allerdings nur mehr für einen Teil des Dorfes, dessen Gesamtheit in einer ,Bauernkommune‘ zusammenzufassen wollen, ein Unding war. In der Südukraine sollte sich bald zeigen, dass solche Projekte nur im kleinbäuerlichen Milieu über eine gewisse Zeit lang möglich sind, sie aber auf sich alleine gestellt, abgesehen von den gigantischen Belastungen durch den Krieg , auf längere Sicht nicht bestehen können. Das ist aber auch ein Grundproblem solcher bäuerlicher Bewegungen, die eine Zeit lang imstande sind, selbständig zu agieren. Die Arbeiterklasse ist bestrebt, die Probleme der Wirtschaft im nationalen Maßstab zu lösen. Ihre Stellung in der industriellen Produktion lässt gar keine andere Erkenntnis zu. Der Bauer hingegen geht die Fragen im lokalen Rahmen an und verhält sich in der Hauptsache der Zentralisierung feindlich gegenüber. Ein Fortschritt ist gerade für den Kleinbauern nur auf zwei Arten möglich. Zum einen, wenn er sich auf die Seite der Arbeiterklasse stellt. Das ist die progressive Perspektive für das ländliche Kleinbürgertum. Indem das siegreiche Proletariat den Bauern wirtschaftlich unterstützt, vermag er die Rückständigkeit seiner zersplitterten Produktionsweise und die Vorteile einer planvollen, zentralisierten Landwirtschaft zu erkennen und sich zum sozialistischen Standpunkt aufschwingen. Aber das dauert Jahre, Jahrzehnte, benötigt Zeit und Gelegenheit, die im nachrevolutionären Rußland nicht gegeben war. Zum anderen hat der kleine Bauer das elementare Interesse aller Kleinbürger, in der Klassenhierarchie emporzukommen. In Rußland hatten sie die Aufteilung des Großgrundbesitzes weidlich dafür ausgenützt, und der Zusammenschluß in Kommunen war oft Ausdruck ihres Interesses, eine Stufe höher zu steigen und selber Kulak zu werden. Umgekehrt, wenn dies nicht gelingt, wächst das Abhängigkeitsverhältnis zum reichen Bauern wieder an, steigt die Schuldenlast usw., das kulakische Element beginnt wieder zu dominieren.

Auf die Klassenspaltung in der Bauernschaft wußten die ,Linken‘ [die linken Sozialrevolutionäre erhielten 50 % der Delegiertensitze in der Landkommission; d. Red.] nichts zu antworten. In der Frage der Organisierung der Industrie traten sie für die Aufrechterhaltung der Zersplitterung ein, in der Landkommission propagierten sie eben die ,Bauernkommunen‘ und sprachen sich gegen die Errichtung von Musterfarmen aus.“ (13)

Das Parteienverbot

Im Gegensatz zur Meinung vieler Libertärer, AnarchistInnen, Ultralinker und Liberalen entsprach das Einparteiensystem keineswegs der bolschewistischen Konzeption von Sowjetdemokratie. Das Vorgehen der bolschewistischen Führung gegen diese war zudem uneinheitlich – je nach Lage der Sowjetrepublik und Verhalten anderer Strömungen ihr gegenüber. Selbst im Bürgerkrieg wurde diesen eine legale, wenn auch unsichere Existenz und Teilnahme an den Rätewahlen zugestanden. (14)

1.) Vergessen wird von den GegnerInnen des Bolschewismus allzu oft die Repression, die die bolschewistische Partei vor dem Oktoberumsturz selbst erlitten hat, z. B. durch die Kerenski-Regierung nach den Julitagen.

2.) Die offen bürgerliche Partei der Kadetten (Abkürzung für Konstitutionelle Demokraten) wurde am 1. Dezember 1917 verboten, doch ihre Zeitungen erschienen weiter bis zum Sommer 1918. Diese Partei spiegelte für die Bolschewiki klar die Interessen der gestürzten Kapitalistenklasse wider. Das galt nicht für die anderen Räteparteien, deren Existenzberechtigung nicht angezweifelt wurde und gegen die man sich friedlich innerhalb der Sowjets durchsetzen wollte. Der Umgang änderte sich zum Teil im Zuge der Bürgerkriegsauseinandersetzungen, ohne als dauerhaft eingeschätzt zu werden.

3.) Aufgrund der unterschiedlichen Tendenzen, die sich auf diese Sammelbezeichnung stellen, war das bolschewistische Vorgehen sehr verschieden. Ein Großteil der AnarchistInnen unterstützte die Oktoberinsurrektion, einige traten sogar der KPR (B) bei. Vor dem Hintergrund von Hunger und Bürgerkrieg fand die oft subjektiv ehrliche Agitation der Libertären jedoch manches Echo unter rückständigen Schichten. Nach anfänglicher Zusammenarbeit gegen die Weißen, die liberale bis monarchistische in- und ausländische Konterrevolution, schwenkten die Bolschewiki auf eine repressive Linie um. Neben der gefährdeten Lage der jungen Republik trug auch das Vorgehen der AnarchistInnen selbst dazu bei: Sie beteiligten sich an terroristischen Aktivitäten und verboten in ihren zeitweiligen Hoheitsgebieten oft alle Parteien einschließlich der KPR (B). Selbst der Antikommunist Leonard Schapiro gestand ein, dass bis zum Frühjahr 1921 wenigstens einige anarchistische Gruppen vollständige Meinungsfreiheit genossen, obwohl einzelne Publikationen häufig nicht zugelassen waren. Zudem seien sie bis dahin niemals per Dekret für illegal erklärt worden. („The Origin of the Communist Autocracy“)

4.) Die Rechten SozialrevolutionärInnen (SR) stützten sich auf die reichere Bauernschaft. Sie versuchten den bewaffneten Umsturz, z. B. gemeinsam mit den MonarchistInnen bei der Revolte der Offiziersschüler am 29. Oktober in Petrograd. Als PionierInnen der Konterrevolution kämpften sie im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen und nahmen an allen Gegenregierungen in Russland teil. Ihre antibolschewistische Politik ließ sie das Ziel einer Allparteienvolksfront einschließlich zaristischer Offiziere verfolgen. Im September 1918 trafen sich 150 Delegierte, darunter zur Hälfte rechte SR, die Menschewiki (obwohl diese Delegierten nicht den offiziellen Segen ihrer Partei genossen), Plechanows Edinstwo-Gruppierung, die KadettInnen und diverse antikommunistische Gegenregierungen aus den Grenzregionen in Ufa zwecks Bildung einer „Allrussischen Provisorischen Regierung”. Diese kadettisch-sozialrevolutionäre Regierung hielt nur ein paar Wochen, bis ihr Verbündeter, Admiral Koltschak, sie auseinander trieb. Im Juni 1918 wurde ihr Ausschluss aus den Sowjets beschlossen.

5.) Im Unterschied zu den rechten arbeiteten die linken SR anfänglich mit der KP zusammen, ja traten am 12. Dezember 1917 sogar in eine Koalitionsregierung mit ihnen ein. Aus Protest gegen den Friedensschluss von Brest-Litowsk verließen sie diese jedoch nach 3 Monaten, ohne die Zusammenarbeit in vielen Bereichen einzustellen, nachdem der Vertrag vom 4. Allrussischen Sowjetkongress angenommen worden war. Der endgültige Bruch kam mit der Ablieferungspflicht und Requirierung von Lebensmitteln durch ArbeiterInnenabteilungen auf den Dörfern. Die linken SR stützten sich auf die Kleinbauern-/bäuerinnenschaft, die Bolschewiki auf die städtische ArbeiterInnenklasse, das Landproletariat und die Dorfarmut. Linke SR ermordeten auch im Juli 1918 den deutschen Botschafter und erklärten sich mit Hilfe der anfänglich unter ihrer Kontrolle stehenden Tscheka (Außerordentliche Kommission für die Unterdrückung der Konterrevolution) zur einzigen Regierungspartei. Trotz dieses von den Massen nicht befolgten Aufstandsversuchs – der Terror der linken SR führte zum Attentat auf Lenin und tötete Wolodarski und Uritzki – wurde diese Partei nicht illegalisiert, sondern nur ihre Presse verboten. Ihre Delegierten wurden zunächst aus den Räten ausgeschlossen wie zuvor rechte SR und Menschewiki. Doch konnten diejenigen, die sich von den Ermordungen und der von ihrer Parteiführung angezettelten terroristischen Revolte distanzierten, wieder ihr Mandat ausüben. Die KPR (B) gewann viele ihrer einfachen Mitglieder, die sich mit den vorangegangenen neuen Aktionen ihres Parteivorstands nicht einverstanden erklärt hatten.

6.) Im Bürgerkrieg bezogen die Menschewiki mehrheitlich eine „neutrale“ Position, der rechte Flügel um Lieber beteiligte sich jedoch am bewaffneten Kampf gegen die Regierung, ohne dass daran beteiligte Mitglieder vom menschewistischen Zentralkomitee konsequent ausgeschlossen wurden. Die Regierung betrachtete Neutralität im Bürgerkrieg, in dem sich zwei Klassen mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln bekämpfen, als eine Unmöglichkeit. Wenn es darauf ankam, stellte sich die Mehrheitsposition der Menschewiki allerdings auch als nicht ganz so „neutral“ heraus, z. B. im Umgang mit der tschechoslowakischen Legion an der Westfront. Im Juni 1918 wurden sie gemeinsam mit den rechten SR aus den Sowjets ausgeschlossen, doch Ende 1918 nach einer angedeuteten Anerkennung der Rätemacht wieder zugelassen und im Großen und Ganzen während des Bürgerkriegs toleriert. Mit der allgemeinen politischen Krise unmittelbar nach Ende des Bürgerkriegs und der Isolation der Bolschewiki setzte die Repression gegen die MenschewistInnen wieder ein, die eine Rolle bei der Organisation von Streiks für Partikularinteressen einzelner ArbeiterInnen gegen die Sowjetmacht spielten.

Das Dilemma des offiziellen „Neutralitäts“konzepts der MenschewistInnen lag darin, dass gemäß ihrem Etappenmodell nach dem Zarensturz das Bürgertum mit seiner Herrschaft geschichtlich an der Reihe sein sollte. Dieses führte aber auf Seiten der Weißgardisten gewissermaßen einen Bürgerkrieg – für das menschewistische Programm! Daher, von ihrem Etappenkonzept aus neigten die Menschewiki im Konfliktfall oft zur Seite der Weißen. Die offizielle Position, die Sowjetregierung nicht mittels Waffengebrauch zu stürzen zu versuchen, hatte also von vornherein eine Schlagseite, wie sich an der menschewistischen Regierung in Georgien unter Noe Schordania zeigen sollte.

Die georgische Republik kollaborierte zunächst mit der deutschen Reichswehr, die 1918 den Kaukasus besetzte. Nach deren Rückzug und dem ihrer türkischen Alliierten bildeten die Menschewiki im Februar 1919 eine neue Regierung. Diese „DemokratInnen“ und „SozialistInnen“ verboten die Kommunistische Partei und unterdrückten die nationalen Minderheiten, an denen die Kaukasusregion weder damals wie heute arm war/ist. Im Mai besetzte der weißgardistische General Denikin auch Georgien; die Menschewiki leisteten einem Angebot der russischen Sowjetregierung zur Zusammenarbeit gegen ihn nicht Folge. Als schließlich die Truppen des konterrevolutionären Generals Wrangel auf der Krim festsaßen, assistierten ihm die Menschewiki mit Transport von Truppen und Kriegsmaterial.

Fazit: Die Parteienverbote waren in aller Regel nicht gleichbedeutend mit einer Außerkraftsetzung von Meinungsfreiheit; in Schriften, Büchern und Broschüren konnten die BolschewistInnen offen kritisiert werden. Natürlich wäre es kindisch zu behaupten, jede einzelne Unterdrückungsmaßnahme durch die regierende KPR (B) sei gerechtfertigt gewesen und habe im Einklang gestanden mit ihrem Anliegen, zwischen den verschiedenen Strömungen des Populismus, Reformismus und Anarchismus und innerhalb derer zu differenzieren. Ein verzweifelter Überlebenskampf wie der russische Bürgerkrieg ist kein idealer Schauplatz für wohldurchdachte juristische Unvoreingenommenheit.

In einem stabilen ArbeiterInnenstaat befürworten LeninistInnen demokratische Freiheiten für alle Tendenzen, die nicht den gewaltsamen Umsturz der Diktatur des Proletariats anstreben, einschließlich der Möglichkeit für die KommunistInnen bei Sowjetwahlen bzw. -abstimmungen in der Minderheit zu bleiben. (Vgl. Sinowjews Rede auf dem 8. Allrussischen Sowjetkongress 1920) Doch die RSFSR von 1918-1922 war alles andere als eine stabile ArbeiterInnendiktatur und -demokratie. Eine Mehrheit für anarchistische, populistische und sozialdemokratische, geschweige offen bürgerliche, Kräfte hätte bedeutet, den Sieg der weißgardistischen Konterrevolution gemeinsam (!) im Grab oder Konzentrationslager zu feiern.

Treffend fasst dieses Dilemma folgende Stellungnahme von 1920 zusammen: In einem Klassenkampf, der das Stadium eines Bürgerkrieges angenommen habe, möge es Zeiten geben, wo die Vorhut der revolutionären Klasse, die die historischen Interessen der breiten Massen verfolgt, ihnen aber im Bewusstsein noch voraus ist, gezwungen sein könne, die Staatsmacht mittels der Diktatur der revolutionären Minderheit (!) auszuüben. Dieses Statement stammt von Julius Martow, einem des Probolschewismus‘ unverdächtigen Zeugen!

Die KPR (B) und die Machno-Bewegung

Im November 1917 kam in der Ukraine eine bürgerlich-parlamentarische Republik zum Zuge. In der Rada hatten Parteien die Mehrheit, die sich auf die nationalistische Intelligenz und die Bauern-/Bäuerinnenschaft stützten. Dass es dem Sowjetsystem nicht gelang, sich durchzusetzen, lag zum einen am sehr schwachen Proletariat, das auf wenige Zentren des Nordens konzentriert war, zum anderen am, im Vergleich mit Russland, höheren Bevölkerungsanteil der begüterten Agrarier. Die Rada unter Petljura kollaborierte zuerst mit der französischen Militärmission, die von ihr die Fortsetzung des Kriegs gegen Deutschland forderte, dann mit den Weißen um General Michail Wassiljewitsch Alexejew am Don. Schließlich trat sie im Januar 1918 in Separatverhandlungen mit den deutschen Militärs ein.

Die Bolschewiki hatten das nationale Selbstbestimmungsrecht der Ukraine anerkannt, die Rada stellte eine eigene Delegation bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Die Gefahr eines sich abzeichnenden Separatfriedens zwischen der Ukraine und dem deutsch-österreichischen Imperialismus sowie das brutale Vorgehen der Rada gegen das sich in der Nordukraine rasch ausbreitende Sowjetsystem bildete den Hintergrund für wiederholte Verletzungen des nationalen Selbstbestimmungsrechts in der Folge durch die Rote Armee. Ihre militärischen Erfolge an der Donfront und im Südwesten führten zur Eroberung Kiews im Februar 1918 und zur Ausrufung einer Räterepublik am Don. Das Benehmen der Roten Garden in Kiew, Plünderungen, Verhaftungen und Erschießungen ukrainisch redender Einheimischer durch zumeist aus dem fernen Osten stammende Rotarmisten, beeinflusste das Verhältnis der ukrainischen Dorfbevölkerung, aber auch von ArbeiterInnenschichten zur sowjetischen Zentralmacht lange und tiefgreifend sehr negativ.

Nach dem 18. Februar verschlechterte sich die Lage für die RSFSR. Lettland, Estland, die Ukraine und Finnland mussten aufgegeben werden. Dabei hatten die Bolschewiki durch Verzögerung der Friedensverhandlungen gehofft, günstigere Konditionen zu erlangen, als der deutsche Generalstab bis dahin zu gewähren bereit war. Das Gegenteil war der Fall. Die Debatte um die Unterredungen in Brest-Litowsk hatten die KPR(B) vor die bis dahin größte Zerreißprobe ihrer Geschichte gestellt, bis knapp vor eine Parteispaltung geführt und in 3 Lager geteilt: Lenin trat bereits im Dezember 1917 für einen sofortigen Friedensschluss ein, Trotzki für Hinauszögern der Unterhandlungen, die Linke um Bucharin war für die Fortführung eines „revolutionären Kriegs“. Auch der Koalitionspartner, die linken SR, optierte für die Fortsetzung der Kriegshandlungen. Im März musste die bolschewistische Delegation das deutsche Ultimatum akzeptieren. Auf dem Notstandssowjetkongress am 6. März 1918 sagte Radek, die bolschewistische Politik in Brest-Litowsk sei eine des „revolutionären Realismus“ gewesen und kein Misserfolg.

„Es sei viel günstiger gewesen, dass die Sowjets erst nach der deutschen Invasion Frieden geschlossen haben und so den fortgeschrittenen Arbeitern der ganzen Welt demonstrieren konnten, dass sie dazu gezwungen wurden.“ (15)

Auf der Zentralsowjetexekutive am 24. Februar revidierten die linken SR ihren vorherigen Standpunkt, überhaupt nicht mit den Deutschen zu verhandeln, und verlangten gleich der bolschewistischen Linken den Rückzug der Sowjets ins Landesinnere, um sich für die „Rote Gegenoffensive“ zu sammeln. Nach ihrer Stimmniederlage traten sie aus dem Rat der Volkskommissare der Regierung, aus, hielten sich aber nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags an diesen Sowjetbeschluss, ohne den Vorwurf des Verrats an der Revolution aufzugeben.

Die AnarchistInnen aber ließen nicht locker. Die Aufstände in der Ukraine wurden von der deutschen Militärmaschine brutal unterdrückt, die Roten Garden standen jenseits der ukrainischen Grenzen. Die Deutschen setzten zuerst wieder auf die Karte der Rada, dann auf die feudale Reaktion in Gestalt der Marionettenmilitärdiktatur des Hetman Skoropadskyj. Der Bolschewismus war durch Requisitionspolitik und das Verhalten der Eroberer von Kiew und der ersten Sowjetherrschaft Anfang Februar bei den dörflichen Massen ziemlich unten durch. Russische Partisanen anarchistischer und linkssozialrevolutionärer Färbung sickerten in die Ulraine ein, griffen die deutsche Armee an, was zuerst von den Bolschewiki zu unterbinden versucht wurde, um nicht gegen den Friedensvertrag zu verstoßen. Es entwickelte sich ein Kleinkrieg gegen die anarchistischen Provokationen, der erst nachließ, als sich die militärische Lage zuungunsten der deutschen Armee verschoben hatte. Im April kam der deutsche Botschafter nach Moskau, woraufhin die AnarchistInnen zum bewaffneten Widerstand und zu Anschlägen auf ausländische Delegierte aufriefen. Die Bolschewiki lösten die anarchistischen Klubs gewaltsam auf und verhafteten die anarchistischen FührerInnen für einige Zeit, von denen sich viele später den linken SR bzw. der Machno-Bewegung anschlossen. Im Sommer 1918 spitzte sich der Bürgerkrieg zu. Vor dem 5. Sowjetkongress verlangten die linken SR die Aufhebung des Vertrags von Brest-Litowsk und den „revolutionären Krieg“. Trotzki und Lenin wurden des Verrats bezichtigt, der revolutionäre Terror ausgerufen. Graf Mirbach wurde von zwei Mitgliedern der linken SR ermordet, ihr Putschversuch in Moskau scheiterte nach 2 Tagen. Die FührerInnen des Aufstandes wurden verhaftet, jedoch später begnadigt.

Erste militärische Erfolge für die Bolschewiki im Bürgerkrieg fielen mit einer Attentatsserie auf einige ihrer Führer zusammen. Im September griffen die Bolschewiki zum letzten Mittel, dem roten Terror: es wurden Geiseln genommen und die Tscheka beschränkte sich nicht mehr auf Verhaftungen. In den ersten 6 Monaten nach dem November 1917 waren nur 22 Todesurteile verhängt worden. Ihr Apparat wurde ausgebaut, manche Verhaftungen und Erschießungen erfolgten jetzt willkürlich und trafen viele Unschuldige. Der weiße Terror stand dem nicht nur in nichts nach, sondern ging dem roten voraus:

“Exzesse sind im russischen Bürgerkrieg auf beiden Seiten in einem unvorstellbaren Ausmaß vorgekommen. Doch ein grundlegender Gedanke dabei müßte wohl sein, die verschiedenen politischen Inhalte beider Seiten voneinander zu unterscheiden(…)Wäre die Russische Revolution der Beginn einer europäischen Revolution gewesen, die jede ausländische Intervention und damit die weiße Gegenrevolution verunmöglicht oder zumindest gehemmt hätte, so wäre sie ohne Zweifel ein relativ unblutiges Ereignis geblieben, das sie im Oktober 1917 noch gewesen war.“ (16)

Die ukrainische Widerstandsbewegung gegen die deutschen Invasoren war im November 1918 angestiegen: In der Südukraine setzten Machnos Partisanen ihnen und den Weißen heftig zu, die Kampfhandlungen der Roten Armee im Nordkaukasus entlasteten ihn dabei. Sie konnten aber nicht in der gesamten Ukraine Fuß fassen, so dass Petljuras Truppen im Dezember 1918 als Befreier in Kiew einmarschierten, das sie Ende Dezember wieder räumen mussten, als die Rote Armee Charkow eroberte. Die Sowjetmacht kann sich über weite Teile der Ukraine ausbreiten, die 2. Ukrainische Räterepublik wird ausgerufen. Die Sowjetherrschaft kann sich besser verankern als im Sommer, weil nach den Erfahrungen mit Skoropadskyj und der ,Selbstbestimmungs‘-Politik Petljuras jetzt auch die Landbevölkerung ihre schroffe Feindschaft ihr gegenüber abgelegt hat und die Industriezentren ihre feste Stütze bilden. Aber die notwendige Requisitionspolitik führte zu einem Stimmungsumschwung auf dem Dorfe und zur Demoralisierung roter Truppenteile. Die so deshalb nur oberflächlich bleibende Rätemacht wurde zusätzlich durch Differenzen in der Partei geschwächt. Die ukrainische KP konnte sich eine gewisse Selbstständigkeit bewahren. Hier dominierten die linken GegnerInnen des Friedensschlusses. Sie warnten zu Recht vor allzu harter Behandlung der ukrainischen Bauern-/Bäuerinnenschaft. Gegenüber den ungebundenen Partisanenabteilungen und Roten Garden übten sie aber ebenfalls Nachsicht. Dies lief Trotzkis Plänen zuwider:

„Trotzki beginnt die Rote Armee in einheitlich gebildeten Divisionen und Regimentern zu organisieren und einem Oberbefehl zu unterstellen. Er strebt die Eingliederung der losen Partisanenabteilungen an. Als sich viele von ihnen nicht fügen wollen, verlangt er ihre Auflösung. Dieser grundlegende Konflikt kommt auch in der Ukraine und hier am bekanntesten in der Problematik der Machnoiade immer wieder hoch(…)wobei die Anarchisten selbstverständlich auf der Seite Machnos stehen. Ebenfalls in dieser Frage vertreten sie das Konzept der Zersplitterung. Die strategischen Schwierigkeiten im russischen Bürgerkrieg interessieren sie nicht, der gesamten weißen Bedrohung haben sie wieder einmal keinen erfolgversprechenden Gesamtplan entgegenzusetzen.“ (17)

Im Frühjahr 1919 wurde die desolate, halb verhungerte Rote Armee von Denikin aufgerieben. Das Zentralkomitee der KPU machte zerfahrene Versuche, hinter den weißen Linien eine Partisanenbewegung zu organisieren, bevor es aufgrund seines Widerstands gegen die Umstrukturierung der Roten Armee aufgelöst wurde. Die Machno-Bewegung kann sich jetzt stärken. Im März hatte es zwischen ihr und den Bolschewiki ein Abkommen gegeben, wonach sie innerorganisatorisch selbstständig bleiben, aber rote politische Kommissare aufnehmen müsste. Der Angriff Denikins beendete diese Phase gegenseitiger Loyalität. Gleichzeitig orientierte sich die Machnoiade politisch um. Eine große Zahl der aus dem Norden geflohenen Linken und AnarchistInnen gelangte in die Ukraine und nahm politischen Einfluss auf sie. Der Kongress der anarchistischen Gruppierung „Nabat“ [deutsch: Der Alarm; d. Red.] im April 1919 in Elisabethgrad [heute: Kropywnyzkyj, bis 1924: Jelisawetgrad; d. Red.] formulierte seinen Hass auf die Sowjetmacht, die Machnoiade solle die Macht sein, die die Bolschewiki stürze.

Die Rote Armee kämpfte derweil um ihr Überleben, ihre ukrainischen Truppen hungerten und hatten kaum etwas zum Anziehen. Im Juni verbot ihr Armeekommando den 4. Anarchistenkongress. Die Konflikte mit Machno, der seit April eine Propagandakampagne gegen den Bolschewismus gestartet hatte, mehrten sich. Seine AnhängerInnen und die Rotarmisten beschuldigten sich gegenseitig, Denikin die Front geöffnet zu haben. Im Juli scheiterte ein Versuch der Roten Armee, ihn von seinen Basen abzuschneiden. Gemeinsam mit den Don-Kosaken verbreitete dieser daraufhin den weißen Terror und die Herrschaft der Großgrundbesitzer in der Ukraine. Zurückgebliebene versprengte Rotarmisten schlossen sich der Machno-Guerilla an. Die Rote Armee trat im Oktober zur Offensive gegen die Hauptstreitmacht der Weißen vor Moskau an und drang wieder bis in die Ukraine vor, die Machno-Partisanen rückten bis zur nördlichen Südukraine vor.

Die zeitweise Stärke der Machno-Bewegung, die sich v. a. auf arme und mittlere LandwirtInnen stützte, erklärt sich aus ihren negativen Erfahrungen mit den deutschen Marionetten, den Weißen, der Rada, aber auch den Roten. In der ersten Zeit wandten sie sich gegen die Kulaken. Im Kampf gegen Rot und Weiß erlebte die Machnoiade ihren Niedergang. Es wuchs in ihr eine selbstherrliche Militärkaste heran, mit ihrem militärischen Niedergang erlangten die Kulaken immer mehr an Bedeutung. Kurzfristig vermochte sie „freie Kommunen“ zu schaffen und forderten „parteilose Sowjets“ mit der wichtigsten Konsequenz: Sowjets ohne Bolschewiki! Letztere wurden spätestens ab April 1919 von den Machno-Leuten brutal verfolgt. Dahinter steckt das kleinbäuerliche Element, von den Städten unabhängig zu sein und über die Ernte selbst zu bestimmen.

Trotz zeitweiliger Kontrolle über große Gebiete und Abwesenheit fremder Mächte waren sie nie in der Lage, die gesamte Ukraine zu kontrollieren. Ihre Nichteinmischung in die „Angelegenheiten der Bevölkerung“ vor Ort, ihre Beschränkung auf Beratung und die Forderung nach „freien Räten“ erleichterten dem kulakischen Element um Machno herum, ungeheuer selbstbewusst und bewaffnet aufzutreten, nach und nach die „parteilosen Sowjets“ durch hierarchische Unterdrückungsstrukturen („reduzierte Räte“) zu ersetzen. Die lose Organisiertheit der Machno-Verbände führte unter den elenden Bedingungen im spezifisch bäuerlichen Milieu zu allen negativen Begleiterscheinungen des Bandenunwesens und Machtmissbrauchs.

Die militärischen Erfolge Machnos 1919 wurden zu einem beträchtlichen Teil durch die Entlastungsoffensiven der Roten Armee im Norden ermöglicht. Seine militärische Unzuverlässigkeit zeigte er insbesondere im Konflikt mit regulären Truppen wie Denikins gepanzertem Heer. Vor und während des Sowjetisch-Polnischen Krieges ignorierte er trotz eines weiteren Abkommens zwischen ihm und dem Sowjetmilitär gegen den weißen General Wrangel eine Aufforderung, vor dem drohenden polnischen Angriff in Richtung der polnischen Grenze zu marschieren, und zwar mit dem Argument der Selbstständigkeit. Der Vorwurf von einigen Bolschewiki (z. B. Jakowlew), Machno habe Hand in Hand mit Wrangel agiert, wurde von Trotzki zwar im Oktober 1920 entkräftet. Im Interesse des Gesamtsiegs im russischen Bürgerkrieg stellte sich jedoch wieder die Frage nach Revolution oder Konterrevolution: „Wer nicht für die Sowjetmacht ist, ist gegen sie!“ Das objektive Verhalten der Machnoiade bestätigte leider erneut die Richtigkeit dieser Aussage. Nach der Niederlage Wrangels wurden die Machno-Abteilungen von Budjonnys Reiterarmee aufgerieben.

Soweit so gut – oder auch, je nach Sichtweise – so schlecht. Die in den Einleitungsätzen erwähnten weiteren umstrittenen Punkte zur Fragestellung, ob der Stalinismus ein legitimer Erbe des Bolschewismus sei, müssen einem weiteren Artikel vorbehalten bleiben.

 

Endnoten

(1) „Kommunismus oder Stalinismus? Drei Aufsätze von Leo Trotzki zur Klärung der Begriffe“, Berlin/W., 1971 [Verlag Die Vierte Internationale], S. 9-28

(2) ebd., S. 12

(3) ebd., S. 14

(4) ebd., S. 19 f.

(5) ebd., S. 21

(6) ebd., S. 22 f.

(7) Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution [1905], in: dies.: Schriften zur Spontaneität, Einbek, 1970 [Rowohlt], S. 58 f.; zitiert nach: Behruzi, Daniel: Die Sowjetunion 1917-1924, Köln, Dezember 2001 [isp], S. 38 f.

(8) Wir stützen uns hierbei auf den Aufsatz: e. p.: „Russische Revolution: Kronstadt und Machno-Bewegung – Bolschewismus oder „dritte Revolution“, in: Ergebnisse und Perspektiven, Theoretisches Organ von Spartacusbund [BRD], Internationale Kommunistische Liga [Österreich], Nr. 8, Frankfurt a. M./Wien, Mai 1979, S. 29 ff.

(9) ebd., S, 30 f. (Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert)

(10) ebd., S. 32

(11) ebd.

(12) ebd., S. 33

(13) ebd., S. 34 f.

(14) Vgl. dazu im Folgenden: Behruzi, Daniel: Die Sowjetunion 1917-1924, a. a. O., S. 116-123; Klein, Wolfram: Die Russische Revolution 1917, Köln, 2000 [Hrg.: Voran zur Sozialistischen Demokratie e. V.], S. 67-70; Kronstadt and Counterrevolution, Part 2 of 2, Workers Vanguard, 28. April 1978 [Spartacist League/USA]

(15) e.p.: Russische Revolution, a. a. O., S. 37

(16) ebd., S. 39

(17) ebd., S 40




Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

„Wo geht’s denn hier zum Winterpalais?“, titelte eine Diskussionsrunde zu „Reform, Transformation, Revolution“ auf dem UZ-Pressefest von 2014 zwischen den Vordenkern Leo Mayer (DKP), Conrad Schuhler (isw) und Walter Baier (KPÖ). Der Titel trifft die Orientierungsprobleme der „etablierten“ Linken in Bezug auf die Oktoberrevolution ziemlich gut. Von isw bis zu den „Thinktanks“ der Linkspartei in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ganz zu schweigen vom „akademischen Marximus“, tut man sich mit dem Bezug auf die Oktoberrevolution schwer.

Sie wird im besten Fall noch als ein wichtiges historisches Ereignis genannt. Spätestens seit den 70er Jahren gibt es von der revisionistischen Linken eine Abkehr vom „Modell Oktoberrevolution“, die sich heute in Schlagwörtern wie „Transformation statt Revolution“ oder auch „revolutionäre Reformpolitik“ ausdrückt. Ob diese Konzepte den Marxismus bereichern oder mit ihm brechen, soll u. a. im Folgenden erörtert werden.

Wir wollen im folgenden Artikel die von Lenin besonders in „Staat und Revolution“ zusammengefasste bolschewistische Revolutionskonzeption als rätedemokratisch basierte Zerschlagung des bürgerlichen Staates herausarbeiten, indem wir sie mit ihren Relativierungen und Kritiken von Gramsci, Althusser, Poulantzas konfrontieren, auf die sich moderne AnhängerInnen der „Transformationstheorie“ (s. o.) oft berufen.

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundprinzipien der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie, die der strategischen Ausrichtung und den programmatischen Schlussfolgerungen Lenins zugrunde lagen.

In den folgenden Abschnitten setzten wir uns mit Autoren auseinander, die von den TransformationstheorikerInnen als theoretische Bezugspunkte genannt werden.

Dabei unterziehen wir zuerst die Konzeption Gramscis einer Kritik, untersuchen ihre Stärken und Schwächen. Wir werden dabei zeigen, dass die modernen RevisionistInnen diese Konzeption (ebenso wie die Rosa Luxemburgs) zwar entstellen, aber dabei auch wirkliche Anknüpfungspunkte in Gramscis Arbeiten finden.

Dem folgt eine Kritik der „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution durch Althusser und seiner „Enthegelianisierung“ des Marxismus. Schließlich unterziehen wir Poulantzas und seine anti-leninistische Staatstheorie einer Kritik. Während die theoretische Konzeption Gramscis in vielem widersprüchlich, gewissermaßen zentristisch bleibt, tritt der Revisionismus bei Althusser und Poulantzas offen zutage.

Nach dieser Darstellung und Kritik von Theoretikern, auf die sich „moderne“ Entstellungen der Oktoberrevolution stützen, beschäftigen wir uns mit Georg Lukács und auch Karl Korsch, zwei Theoretikern, die versuchen, die Lehren des Bolschewismus in den ersten Jahren nach der Revolution theoretisch zu verallgemeinern. Sie stellen daher einen Bezugspunkt für eine revolutionäre Betrachtung dar. In diesem Zusammenhang unterziehen wir auch Zizek und seine Interpretation der Russischen Revolution einer grundlegenden Kritik.

Den Abschluss des Artikels bildet die Diskussion über die Bedeutung der Räte in der sozialistischen Revolution und in der Übergangsperiode.

Damit wollen wir zeigen, dass das Verständnis der Räte untrennbar mit dem des Verhältnisses von revolutionärer Partei und Klasse wie auch der Umwälzung der Gesellschaft nach der Revolution verbunden ist. In diesem Sinne – nicht in der karikaturhaften Vorstellung einer „Wiederholung“ und mechanischen Übertragung – bleibt die Russische Revolution bis heute „modellhaft“.

Die Oktoberrevolution und „der Westen“

Einen guten Einstieg in die Problematik liefert die Lektüre des Artikels „Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus“ von Conrad Schuhler (Leiter des isw, des Instituts für sozial- ökologische Wirtschaftsforschung, München e.V., 15. August 2013). Hierbei ist nicht so sehr der Teil des Artikels gemeint, der die Frage behandelt, ob die sozialistische Revolution in einem rückständigen Land wie dem zaristischen Russland nicht überhaupt der marxistischen Revolutionstheorie widerspricht – diese Frage wird auch in diesem Band an anderer Stelle behandelt. Hier ist besonders der Teil des Artikels gemeint, den Schuhler betitelt mit: „Warum die Arbeiterklasse im Westen dem Beispiel der KPdSU nicht folgen konnte – die Antworten von Antonio Gramsci“. Schuhler bezeichnet die angebliche Antwort Gramscis auf die Frage, warum die Revolutionen im Gefolge der Oktoberrevolution im Westen „scheitern mussten“ (!?), als „existenziellen Vorrat der heutigen Transformationstheorie“:

„Gramscis Grundthese besteht darin, dass in Russland die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise hinreichen konnte, um die Gesellschaft in neue Bahnen zu lenken, dies jedoch niemals in den entwickelten kapitalistischen Ländern möglich wäre. In Russland war ,der Staat alles, die Zivilgesellschaft allerdings erst in ihren Anfängen und gallertenhaft‘. Ein ähnlicher Revolutionsversuch im Westen, wo ,zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis bestand und sich das System als robust erwies, konnte nur zu Niederlagen führen’“. (1)

Hinter dem repressiven Staatsapparat erhebe sich in entwickelten kapitalistischen Ländern eine viel mächtigere Verteidigungslinie: Die bürgerliche Zivilgesellschaft präge Denken und Verhalten der Menschen in einer Weise, die eine kulturelle Hegemonie der herrschenden Klasse begründe. Diese Hegemomie garantiere gerade in Krisenzeiten die Herrschaftskonformität der Unterdrückten, die das System jeweils in neuen Formen sich wieder regenerieren lasse. Das System erweise sich als fähig, immer wieder neue Formen zu finden, in denen der Protest der Ausgebeuteten scheinbar integriert und befriedet werde.

„Diese Sicht des Klassenkampfes, dass auf der Seite des Kapitals nicht nur ein staatlicher Zwangsapparat steht, sondern eine ideologisch dominante Kultur, die sich ständig über ihre Hegemonieapparate Schulen, Kirchen, Medien, Verbände des Denkens und Fühlens der Gesellschaftsmitglieder bemächtigt, führt zu einem Paradigmenwechsel in der marxistischen Revolutionsstrategie, zum Übergang „vom Bewegungs- zum Stellungskrieg“ (2). Daher schlussfolgert Schuhler, dass der alte Gegensatz von „Reform und Revolution“ überwunden werde müsse – eben in der „Systemtransformation“.

Warum also soll das Modell Oktoberrevolution auf „entwickelte kapitalistische Länder“ ab einer gewissen Stufe der Entwicklung der „Zivilgesellschaft“ nicht mehr anwendbar gewesen sein? Was ist überhaupt das Modell der bolschewistischen Revolution? Welche Grundlagen im Marxismus hat es, und was hätte besagte Transformationsstrategie dagegen noch mit marxistischer Systemüberwindung zu tun? Oder ist es nicht einfach ein Neuaufguss revisionistischer Theorie von Bernstein bis Kautsky?

Wir beginnen mit der Frage nach dem bolschewistischen Revolutionskonzept, wie es klassisch in „Staat und Revolution“ von Lenin dargestellt wurde.

Grundprinzipien der Lenin’schen Konzeption der Oktoberrevolution

Lenin schrieb „Staat und Revolution“ in der kurzen Atempause nach den Juli-Tagen 1917 in Vorbereitung auf den folgenden Oktobersturm. Es handelte sich um eine letzte Selbstvergewisserung in Bezug auf die bisherigen Lehren der Staats- und Revolutionstheorie, die Erfahrungen der Revolutionen von 1848/49 und 1871 und die Schlussfolgerungen daraus für den Charakter des kommenden Umsturzes. Herausgekommen ist eine klare Wegbeschreibung Richtung Winterpalais.

Lenin geht aus von Engels‘ (3) Ableitung des Staates als eines notwendigen Resultats der Entwicklung von Klassengesellschaften: als Struktur, die scheinbar zwischen den unversöhnlichen Klassenwidersprüchen vermittelt, tatsächlich aber der Aufrechterhaltung der Ausbeutungsbedingungen für die herrschende Klasse dient; zweitens als Struktur, die sich von Klassenherrschaft zu Klassenherrschaft immer mehr verfeinert und von der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, entfremdet. Lenin folgert: „Wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und ,sich ihr mehr und mehr entfremdende‘ Macht ist, so ist es klar, dass die Befreiung der unterdrückten Klasse unmöglich ist, nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse geschaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese ‚Entfremdung‘ verkörpert“ (4).

Das erste Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist also, dass sich die proletarische Revolution von allen vorangegangenen Revolutionen, die wieder nur andere Klassenherrschaften begründet haben, grundlegend dadurch unterscheiden muss, dass sie die bestehenden Unterdrückungsapparate in ihrer Essenz nicht übernehmen kann, sondern sie durch etwas ersetzen muss, das letztlich mit dem Verschwinden der Klassenherrschaft an sich auch jede Form von staatlicher Repression und administrativer Herrschaft zur Auflösung bringt.

Dabei ist auch bei Lenin klar, dass sich der Staat nur im Kern als „Organisation bewaffneter Menschen und ihrer sachlichen Anhängsel (Gefängnisse, Zwangsanstalten aller Art…)“ darstellt, darüber hinaus aber auch einen immer weiteren Kreis an Mechanismen zur Kontrolle und Steuerung der Unterdrückten umfasst – auch natürlich auf ideologischem Gebiet.

Die ArbeiterInnenklasse ist eben deswegen zu einer Revolution in der Lage, die den Weg zur klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft öffnet, da in ihr (bzw. der Universalität der Lohnarbeit) die vergesellschaftende Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise genauso verkörpert ist wie die auf die Spitze getriebene individuelle Ausbeutung von Mehrarbeit. Diese gleichzeitige Zuspitzung von Ausbeutung und Entfremdung einerseits sowie dem Fehlen von Privateigentum an den Produktionsmitteln andererseits in der Klassenlage des Proletariats befähigt dieses erst objektiv, durch die Vergesellschaftung der im Kapitalismus entwickelten Produktionsmittel die Grundlage aller Klassenspaltung (die Aneignung des Mehrprodukts durch eine herrschende Klasse) aufzuheben. Wie Engels im „Anti-Dühring“ festhält, bedeutet (was die Frage des Staates betrifft) damit schon der erste Akt der proletarischen Revolution einen qualitativen Sprung: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat“ (5).

Die Verstaatlichung, die zur tatsächlichen Vergesellschaftung durch ein sich selbst organisierendes Proletariat führen soll, verleiht zugleich dem Staat eine völlig andere Qualität: „Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft‘, er stirbt ab“ (6). Für Lenin ist klar, dass sich „Aufhebung“ und „Absterben“ hier unbedingt auf unterschiedliche Staatscharaktere beziehen müssen. Die proletarische Machtergreifung, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Durchsetzung proletarischer Selbstorganisation etc. kann sich nicht unter Beibehaltung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates vollziehen – die „Aufhebung“ kann somit nichts anderes als eine Zerschlagung seiner Repressionsorgane und seiner Formen der Regierung über Personen sein. Das, was an die Stelle dieses alten Staatsapparates tritt, kann nur eine besondere, neue Form von Staat sein – ein Staat, der sein eigenes „Absterben“ eingebaut hat und betreibt, der sich mehr und mehr überflüssig macht.

Das zweite Prinzip der marxistischen Revolutionstheorie ist daher, dass zwar die proletarische Revolution zur Durchsetzung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in einer ersten Etappe weiterhin eines Staatsapparates bedarf, dieser aber in einem Bruch mit den bestehenden Unterdrückungsapparaten der Klassengesellschaften entstehen muss, und zwar durch ihre Zerschlagung bei gleichzeitiger Schaffung eines proletarischen Halbstaates, der auf sein Absterben hin ausgerichtet ist.

Marx bemerkte in diesem Sinn besonders aus der Erfahrung der Pariser Kommune von 1871: „Namentlich …hat die Kommune den Beweis geliefert, dass die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann“ ,und weiter, dass bei einem nächsten Versuch „nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, …die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution“ sei (7). Diese Erkenntnis sprach er bereits 1852 im Gefolge der Revolution von 1848 aus („Der 18. Brumaire des Louis Napoleon Bonaparte“), sie wurde aber durch die Pariser Kommune bestätigt und ergänzt „durch die endlich entdeckte Form“ des Staates, mittels derer das Proletariat seine Diktatur ausüben und zum Sozialismus vorwärtsschreiten könne.

Kern des neuen proletarischen Halbstaates ist damit wie bei jedem Staat, nach der Zerschlagung der stehenden Heere und der anderen bürgerlichen Repressionsorgane, die Frage der eigenen Bewaffnung. D. h., sowohl vor der Revolution als auch danach ist das bewaffnete Proletariat die Grundbedingung für die gesellschaftlich Umgestaltung, zur Verteidigung der neuen Eigentumsverhältnisse und Abwehr der Versuche der Restauration. Umgekehrt bemerkte Engels in einem Vorwort zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, dass in jeder modernen Revolution die Hauptsorge der Bourgeoisie die Entwaffnung der ArbeiterInnenklasse sei. Lenin bemerkt dazu: „Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen ist ebenso kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache – unter anderem auch in der Frage des Staates (ob die unterdrückte Klasse Waffen besitzt) – ist hier treffend erfasst“ (8). In diesem Zusammenhang erwähnt Lenin, dass die Menschewiki seit ihrem Regierungseintritt die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopls und die Entwaffnung der Petrograder ArbeiterInnen zu ihrer politischen Hauptaufgabe erklärt hatten – ein klarer Beweis, wie Sozialdemokraten zu Hauptfunktionären der Konterrevolution werden.

Das dritte Prinzip ist daher, dass es keine proletarische Revolution ohne Zerschlagung der bestehenden bewaffneten Organe des bürgerlichen Staates und ohne eigene, vom Proletariat kontrollierte bewaffnete Organe geben kann, dass daher der revolutionäre Staat im Kern das bewaffnete Proletariat ist, das seine Bewaffnung zur Unterdrückung der bisher unterdrückerischen Klassen benutzt. Dies ist es, was die Klassiker „die Diktatur des Proletariats“ nennen – eine letzte Form der Klassenherrschaft, die notwendig ist bis zum endgültigen Absterben des Staates.

Was ist nun aber mit den administrativen und ökonomischen Funktionen des Staates? Gemeinsam mit Marx und Engels sah Lenin hier die Erfahrung der Kommune von Paris 1871 als die entscheidende geschichtliche Erfahrung des Proletariats in der Staatsfrage. Die aus allgemeinem Wahlrecht in Stadtteilen, Arbeitsstätten und bewaffneten Organen hervorgehenden Kollektivorgane ermöglichten es den bisher Unterdrückten, über ihre unmittelbaren Probleme selbst zu entscheiden und sich selbst zu verwalten. Diejenigen, die mit Verwaltungs- und Vertretungsaufgaben betraut sind, sollen jederzeit abrufbar, den Beschlüssen der Räte verpflichtet sein und ein normales ArbeiterInnengehalt erhalten. Schließlich sollen alle bewaffneten Organe aufgelöst werden außer denen, die unmittelbar unter der Kontrolle dieser Räte stehen (was sowohl Militär- als auch was Polizeifunktionen betrifft). Die unmittelbare Verbindung zur vergesellschafteten Produktion selbst (auf der Grundlage der Verstaatlichung der Produktionsmittel) ermöglicht es den Räten, wie Marx es nannte, „arbeitende Körperschaften“ zu sein, also entsprechend den prioritären Bedürfnissen praktische Entscheidungen über Produktion und Verteilung zu treffen. Angesichts der Ausdehnung, Zentralisation und komplexen Verbindungen der ökonomischen Basis erfordert dies damit auch eine entsprechende Assoziation und Zentralisation des Rätesystems in einem Delegiertensystem, das eine gesamte Räterepublik umspannen muss.

Gleichgültig ob die Begriffe „Kommune“, „Räte“ oder „Sowjets“ verwendet werden, von Marx bis Lenin ist klar, dass es keine erfolgreiche proletarische Revolution geben kann, ohne dass sich ein demokratisch-zentralistisches Netz von Selbstverwaltungsorganen des Proletariats bildet, das zum Motor der Umgestaltung von staatlichen und ökonomischen Strukturen wird, die mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats an die Stelle von kapitalistischer Ökonomie und Staat treten. Nur das demokratisch sich selbst organisierende Proletariat kann letztlich die Nachwirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung, des Wertgesetzes, der Land-Stadt-Teilung, der sozialen Unterdrückung, der staatlichen Autoritäten und Repressionen etc. überwinden.

Das vierte Prinzip ist also, dass das rätedemokratisch organisierte Proletariat mit der Verstaatlichung der zentralen Produktionsmittel einen auf Rätebasis aufbauenden Halbstaat errichtet, der immer mehr die Aufgaben der Verwaltung und Leitung vereinfacht und – von Machtstrukturen befreit -somit das Absterben von Staat und staatlicher Repression einleitet.

Schließlich kommen wir zur Frage des Verhältnisses zur bürgerlichen Demokratie oder auch einer möglichen Koexistenz von Rätedemokratie mit der „bürgerlichen Zivilgesellschaft“ – einer Fragestellung, die viel mit der Eingangsfrage zu tun hat, wie wir später sehen werden. Einerseits ist es klar, dass bürgerliche Demokratie die bequemste Form der Herrschaft des Kapitals ist, da sie scheinbar auf Einbeziehung und Konsens der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu ihrer Unterdrückung beruht. Als vereinzelte Einzelne, scheinbar freie Konsumenten und Verkäufer ihrer Arbeitskraft, sind auch die ArbeiterInnen bei „freien Wahlen“ der ungeheuren Marktmacht des Kapitals ausgesetzt und spielen Mitbestimmung, indem sie Regierungen alle paar Jahre mitwählen. Letztlich sind sie nur Erfüllungsorgane ganz anderer Interessen im Hintergrund, nämlich der Kapitalmächte, die bleiben, während Ministerdarsteller kommen und gehen. Aber gerade in Zeiten der Revolution, in denen sich gegenüber den bürgerlichen Machtorganen bewaffnete Räte als Gegenmacht etablieren und eine Situation der „Doppelmacht“ entsteht, werden jedoch die Institutionen Parlamente, „freie Wahlen“ und Ministerien zu entscheidenen Waffen der Konterrevolution. Diese Institutionen dienen zur Legitimation der bürgerlichen Gegenmacht, aus der im entsprechenden Moment der Schlag gegen die proletarische Demokratie im Namen des Kampfes gegen die „rote Diktatur“ geführt wird.

Gerade in der deutschen Novemberrevolution von 1918/1919 wurde eine lange Debatte um die Frage eines „reinen Rätesystems“ oder einer Mischung von Rätesystem und parlamentarischem System geführt – mit bekanntem Ausgang.

In Zusammenhang mit der Frage der Zerschlagung des bestehenden bürgerlichen Staatsapparates ist hier besonders die Einlassung von Lenin in Bezug auf die Debatte zwischen Kautsky und der Linken 1912 in „Staat und Revolution“ interessant. Gegenüber Pannekoeks Forderung, dass die Revolution Eroberung der Staatsgewalt sowie Zerschlagung des bestehenden Apparates bedeute, betonte Kautsky, dass es utopisch sei, die bestehenden Verwaltungen, Ministerien etc. aufzulösen. Dies sei Sache „des Zukunftsstaates“. Es komme vielmehr darauf an, durch Massendruck „Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsgewalt“ zu erreichen und dadurch schrittweise zur „Eroberung der Staatsgewalt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebung des Parlaments zum Herrn der Regierung“ zu erreichen (9). Kautsky erweist sich hier – wie wir noch öfter bemerken werden – als Urahne von „Stellungskrieg“ und „Transformation“.

Das fünfte Prinzip besagt also, dass die proletarische Revolution nicht siegen kann, wenn nicht die Doppelmacht zwischen bewaffneten, in Räten organisiertem Proletariat und den bürgerlichen Institutionen, auch den sogenannten parlamentarisch-demokratischen, aufgelöst wird. Der entscheidende Akt der sozialistischen Revolution wird immer eine Form der bewaffneten Machtergreifung, der Auflösung der restlichen bürgerlichen Machtorgane und die Etablierung einer Form der Räterepublik sein.

Gramsci und die Räte in der Revolution

Unstreitig sind die Erwartungen der Bolschewiki und ihrer internationalen Verbündeten, dass die Oktoberrevolution nur der Auftakt der Weltrevolution sein werde, nicht in Erfüllung gegangen. Die Frage ist nun, ob das Scheitern der Anwendung der oben genannten Prinzipien „im Westen“ nun tatsächlich etwas mit grundlegend anderen Bedingungen dort, mit Mängeln in diesen Prinzipien oder mit anderen Gründen zu tun hat?

Gegen die Behauptung Schuhlers, Gramsci hätte im Hegemonie-Problem eine grundlegende Schwäche von Lenins Revolutionsprinzipien für Revolutionen in „entwickelten kapitalistischen Ländern“ entdeckt, lässt sich ein interessanter Zeuge anführen: Antonio Gramsci selbst! 1919 und 1920 inmitten der revolutionären ArbeiterInnenkämpfe im Italien des „biennio rosso“ (der „zwei roten Jahre“) hat Gramsci, als ein auf das Engste mit der Turiner Rätebewegung verbundener Kommunist ganz andere Ursachen für das Scheitern der Revolution in Italien benannt.

Wie in vielen anderen kriegführenden Ländern war die Russische Revolution 1917 auch in Italien Ermutigung für Streiks und Aktionen gegen den Krieg. Im August 1917 war Turin in der Hand bewaffneter streikender ArbeiterInnen. Die Erfahrung der brutalen militärischen Niederschlagung der August-Streiks durch die italienische Republik führte dazu, dass die ArbeiterInnen nach dem Waffenstillstand Ende 1918 neue Kampf- und Organisationsformen suchten, sodass in den italienischen Industriezentren Räte gebildet wurden. Die Entstehung von ArbeiterInnenräten während und nach dem Ersten Weltkrieg war ein vielschichtiges Phänomen: Einerseits hatte es simple ökonomische Funktionen in einer von Versorgungskrisen und Stockungen in der Produktion gekennzeichneten Situation. Dazu kamen Räte als Steigerungsform der Klassenauseinandersetzung auf der Grundlage von Streikversammlungen, übergreifenden Komitees und Verteidigungsmaßnahmen gegen staatliche bzw. unternehmerische Zwangsmaßnahmen. Darüber hinaus war die Bildung von Räten ein Ausdruck der Unzulänglichkeit oder Gespaltenheit der bestehenden ArbeiterInnenorganisationen: In den zugespitzten Auseinandersetzungen mit Staat und Kapital bemerkten die ArbeiterInnen „naturwüchsig“, dass sie über die sozialdemokratischen Apparate in Partei, Parlament und Gewerkschaften hinausgehen mussten, dass sie umfassendere Organe für die Vorbereitung, Diskussion und Durchführung ihrer Aktionen brauchten. Räte wurden so zu einem zentralen Instrument proletarischer Gegenöffentlichkeit wie auch zur ideologischen Klärung innerhalb der Klasse.

Antionio Gramsci beschreibt in einem rückblickenden Artikel vom August 1920, wie er mit einer kleinen Gruppe von vier anderen Intellektuellen im April 1919 den Entschluss fasste, mit der „L’Ordine Nuovo“ eine Zeitschrift herauszubringen, die Fragen der „proletarischen Kultur“ und der Entwicklung der Betriebsräte besprechen und kommentieren sollte. Der Kopf der Gruppe, Angelo Tasca (später einer der Führer der rechten Opposition in der PCI) sah die Räte als etwas, das sich letztlich der PSI- und der Gewerkschaftsführung unterordnen, und die Zeitschrift als ein Organ, das der Erziehung der Räte in Richtung Sozialdemokratie dienen sollte. In der Redaktionssitzung der siebten Nummer der Zeitschrift „putschte“ Gramsci zusammen mit Togliatti und Terracini (beide später die zentralen Führungsfiguren der Nachkriegs-PCI), um die „L’Ordine Nuovo“ zum Organ der Räte zu machen:

„… und es geschah, was wir vorausgesehen hatten: Togliatti, Terracini und ich wurden aufgefordert, in Unterrichtsgruppen und Fabrikversammlungen zu sprechen und zu diskutieren, wir wurden von den Betriebsräten eingeladen, im engen Kreis der Vertrauensleute zu diskutieren. Wir machten weiter; das Problem der Entwicklung des Betriebsrats wurde zum Zentralproblem, wurde zur Idee des „L’Ordine Nuovo“; es wurde zum Grundproblem der Arbeiterrevolution erhoben, es war das Problem der proletarischen ‚Freiheit‘. Der „L’Ordine Nuovo“ wurde für uns und alle, die uns folgten, zur ‚Zeitung der Fabrikräte‘; die Arbeiter liebten den „L’Ordine Nuovo“ … und warum liebten sie ihn? Weil sie in den Artikeln der Zeitung einen Teil ihrer selbst wiederfanden, weil sie spürten, dass die Artikel vom Geist ihrer eigenen Suche durchdrungen waren“ (10).

Dieses Zitat gibt gut wieder, wie sehr die Rätebewegung auch ein Formations- und Bildungsprozess war, in dem sich das revolutionäre Bewusstsein genauso wie der revolutionäre Aktionsplan erst gegen die alten Apparate und Vorstellungen herausbilden musste. Doch was war der Inhalt, mit dem der „L’Ordine Nuovo“ in diesen Bildungsprozess intervenierte?

„Wir sind überzeugt, dass nach den revolutionären Erfahrungen in Russland, Deutschland und Ungarn der sozialistische Staat sich nicht in den Institutionen des kapitalistischen Staates verkörpern kann, sondern… in einer grundlegend neuen Schöpfung. Die Institutionen des kapitalistischen Staates sind zum Zweck der freien Konkurrenz organisiert; es genügt nicht, das Personal auszutauschen, um ihm eine andere Richtung zu geben. Der sozialistische Staat ist noch nicht der Kommunismus… er ist vielmehr ein Übergangsstaat, der die Aufgabe hat, mit der Aufhebung des Privateigentums, der Klassen und der nationalen Wirtschaft, die freie Konkurrenz aufzuheben: diese Aufgabe kann die parlamentarische Demokratie nicht lösen. Die Formel ‚Eroberung des Staates‘ muss in dem Sinn verstanden werden: es muss ein Staatstypus geschaffen werden, der aus den Erfahrungen der Vergesellschaftung der proletarischen Klasse hervorgeht und den demokratisch-parlamentarischen Staat ersetzt“ (11). Dies geht also in die Richtung des oben dargestellten Konzepts der bolschewistischen Revolution – auch wenn es noch vage in Bezug auf die Frage der Machtergreifungsstrategie bleibt.

Um so ausführlicher geht Gramsci auf die Frage der Ausgestaltung der Räte ein: „Die Organisation der Fabrikräte beruht auf folgenden Prinzipien: in jeder Fabrik, in jeder Werkstatt wird eine Organisation auf Vertretungsbasis gebildet…, das die Macht des Proletariats verwirklicht, gegen die kapitalistische Ordnung oder die Kontrolle über die Produktion ausübt und die ganze Arbeitermasse für den revolutionären Kampf und für die Gründung des Arbeiterstaates erzieht. … Jeder Betrieb ist in Abteilungen gegliedert und jede Abteilung in Arbeitsgruppen: jede verrichtet einen bestimmten Teil der Arbeit; jede Gruppe wählt einen Arbeiter mit imperativem und begrenztem Mandat. Die Delegiertenversammlungen der ganzen Betriebe bilden einen Rat, der aus seiner Mitte ein Exekutivkomitee wählt. Die Versammlung der politischen Sekretäre der Exekutivkomitees bildet das Zentralkomitee der Räte“ (12).

Gramsci betont den verallgemeinerten, „öffentlichen Charakter“ der Räte gegenüber Arbeiterparteien oder Gewerkschaften, die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhen – ArbeiterInnenräte organisieren die gesamte Klasse in ihren umittelbaren Arbeitsstellen. Von der kapitalistischen Ökonomie zu einem entfremdeten Teilglied eines riesenhaften, unüberschaubaren Apparates gemacht, kehrt die auf Räten basierte Kontrolle über die Produktion dieses Verhältnis um: „Indem sie diesen repräsentativen Apparat aufbaut, enteignet die Arbeiterklasse in Wirklichkeit die erste aller Maschinen, das wichtigste Produktionsinstrument: die Arbeiterklasse selbst nämlich, die zu sich selbst gefunden, das Bewusstsein ihrer organischen Einheit erlangt hat und sich geschlossen dem Kapitalismus widersetzt. Die Arbeiterklasse beweist damit, dass der Ausgangspunkt der industriellen Macht wieder die Fabrik sein muss, sie setzt vom Standpunkt des Arbeiters aus erneut die Fabrik als die Form, in der sich die Arbeiterklasse als determinierter, organischer Körper konstituiert, sie macht die Fabrik zur Zelle eines neuen Systems, des Rätesystems. Der Arbeiterstaat, der eine produktive Struktur hat, schafft bereits die Bedingungen für seine weitere Entwicklung, für seine Auflösung als Staat…“ (13).

Hier sind zentrale Fragestellungen der Theorie der Räte zusammengefasst: die bewusste Zusammenfassung der gesamten, bisher zerstückelten ArbeiterInnenschaft; die Neuformung des Produktionsprozesses, der Beziehungen der Produktions-, Verteilungs- und Komsumzentren auf der Basis eines repräsentativen, demokratischen Rätesystems; der Charakter des entstehenden neuen ArbeiterInnenstaates als produktiver Staat, der Staat als „arbeitende Körperschaft“.

Gleichzeitig betont Gramsci den enormen Fortschritt in der Organisation der Massenkämpfe, der durch die Festigung der Räte ermöglicht wird: „Die Tätigkeit der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit trat während der Streiks noch mehr hervor; die Streiks verloren ihren impulsiven, zufälligen Charakter und wurden zum Ausdruck der bewussten Aktivität der revolutionären Massen. Die technische Organisation der Fabrikräte und der Betriebsräte und ihre Aktionsfähigkeit war derart perfekt, dass sie innerhalb von fünf Minuten sechstausend ArbeiterInnen, die über zweiundvierzig Abteilungen der Fiat-Werke verteilt sind, ihre Arbeit einstellen lassen konnten. Am 3. Dezember 1919 bewiesen die Fabrikräte greifbar ihre Fähigkeit, Massenbewegungen großen Stils zu leiten: auf Anordnung der sozialistischen Sektion, die den gesamten Mechanismus der Massenbewegung leitete, mobilisierten die Fabrikräte ohne jegliche Vorbereitung innerhalb einer Stunde hunderzwanzigtausend, nach Betrieben aufgeteilt. Eine Stunde später ergoß sich die proletarische Armee wie eine Lawine bis ins Stadtzentrum und fegte die ganze nationalistische und militaristische Kanaille von den Straßen und Plätzen“ (14).

Gramsci war auch klar, dass diese organisatorische Kampfstärke, die sich entwickelnde Doppelmacht, die Machtfrage stellte, die schnell zu beantworten war: „Niemals ist der revolutionäre Enthusiasmus im Proletariat Westeuropas glühender gewesen als heute. Aber es scheint uns, dass im Augenblick das klare Bewusstsein vom Ziel nicht von einem genauso klaren Bewusstsein der Mittel, wie das Ziel zu erreichen ist, begleitet wird. In den Massen hat die Überzeugung Fuß gefasst, dass der proletarische Staat sich im System der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte verkörpert. Jedoch ist noch keine taktische Konzeption entwickelt worden, die die Gründung eines solchen Staates objektiv sichert.. Die Macht des demokratischen Staates und der Kapitalisten ist noch sehr groß“ (15).

Gramsci und die Frage der revolutionären Partei

Sicherlich gibt es bei Gramsci auch in dieser Periode bestimmte, später von seinen EpigonInnen zum System ausgebaute Schwächen oder Unklarheiten: Es gibt eine Tendenz von einer sehr langen Periode der Räte-basierten Doppelmacht auszugehen, in der sich langsam überall in Stadt und Land die Keime des proletarischen Staates herausbilden: eines Doppelstaates, der von KommunistInnen geführt werden muss, die die erreichten Stellungen der ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der parlamentarischen Irreführung, der pro-kapitalistischen SozialistInnen und GewerkschaftsführerInnen und der bewaffneten Bourgeoisie verteidigen müssen – bis schließlich das Proletariat für den entscheidenden Schlag bereit ist. Man kann beim Gramsci der „L’Ordine Nuovo“ eine Tendenz sehen, die Geschwindigkeit, mit der der Kampf um die Diktatur des Proletariats zu führen ist, zu unterschätzen. Was man aber beim Gramsci dieser Periode klar finden kann, ist, welche Gefahr er für die Revolution in den reformistischen ArbeiterInneninstitutionen, der Führung der SozialistInnen (die PSI befand sich zwar im Beitrittsprozess zur Komintern, war aber in parlamentaristische Rechte, ZentristInnen und einen revolutionären Flügel tief gespalten) und im Gewerkschaftsapparat sah:

„Den Kräften der Arbeiter und Bauern fehlt die Koordinierung und die revolutionäre Konzentration, weil die führenden Organe der Sozialistischen Partei gezeigt haben, dass sie die augenblickliche Phase der nationalen und internationalen Geschichte absolut nicht verstehen und die Mission nicht begreifen, die die Kampforgane des revolutionären Proletariats zu erfüllen haben. Die Sozialistische Partei folgt dem Lauf der Ereignisse als Zuschauerin, … sie gibt keine Losungen aus, die von den Massen aufgegriffen werden, eine allgemeine Richtung bezeichnen und die revolutionäre Aktion zusammenfassen könnten. … Auch nach ihrem Kongress in Bologna [Oktober 1919; endete mit der Niederlage des refomistischen Flügels und dem Beschluss zum Beitritt zur Komintern] ist die Sozialistische Partei eine rein parlamentarische Partei geblieben, die sich starr innerhalb der engen Grenzen der bürgerlichen Demokratie bewegt, die sich nur um die oberflächlichen politischen Bekundungen der Regierungskaste kümmert“ (16).

Trotz des vorgeblichen Siegs des linken Parteiflügels dominierte das Gewicht des parlamentaristischen und gewerkschaftlichen Apparats die Politik der PSI in der Praxis weiter: „Die Polemik mit den Reformisten und Opportunisten wurde nicht einmal aufgegriffen; weder die Parteiführung noch der ,Avanti‘ setzten der unaufhörlichen Propaganda, die die Reformisten und Opportunisten im Parlament und in den gewerkschaftlichen Organisationen betrieben, eine eigene revolutionäre Konzeption entgegen“ (17).

Gramsci analysierte mehrmals in „L’Ordine Nuovo“, dass sich der Reformismus in der ArbeiterInnenklasse sowohl auf gewerkschaftlichem Terrain (durch die Systemimmanenz des bloßen Kampfes um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft) als auch auf politischem Gebiet verfestigte, dadurch, dass die Auseinandersetzungen im Rahmen des bürgerlich-parlamentarischen Systems Bezugspunkte und materielle Basis des Parteiapparats wurden. Anders als die „kommunistische Fraktion“ unter Amadeo Bordiga (die „AbstentionistInnen“) lehnten die OrdinistInnen die Beteiligung am Parlament nicht ab. Nicht nur, da das Parlament als wichtige politische Bühne gerade auch in Krisenzeiten genutzt werden müsse, sondern auch, weil Parlamentsfraktion und Gewerkschaftsapparate nicht einfach dem rechten Flügel überlassen werden sollten. Bei aller Konsequenz und Radikalität der BordigistInnen, als Ergebnis gab das „Links-liegen-lassen“der reformistischen Bastionen den Apparaten in den entscheidenden Momenten 1920 die Macht zum Abwürgen der Revolution.

Sowohl im April als auch im September 1920 waren die Turiner Räte Ausgangspunkt mehrtägiger Massenstreiks, die das ganze Land paralysierten. Auch wenn es zunächst um klassische Forderungen wie den 8-Stundentag ging, war klar, dass derartige unbefristete Generalstreiks die Machtfrage stellten. Da die Gewerkschaftsführungen den Streik nicht unterstützten, wich auch die zentristische PSI-Führung um Serrati zurück und rief nicht zum landesweiten Generalstreik auf. Gramsci stellte im Protest dagegen ein 9-Punkte-Programm mit dem Kernpunkt „Alle Macht den Räten“ auf und erklärte der Parteiführung ausdrücklich, dass „entweder die Eroberung der politischen Macht durch das revolutionäre Proletariat folge oder eine furchtbare Reaktion durch die besitzende Klasse“ (womit er leider sehr Recht behalten sollte). Nachdem im September der Militäreinsatz gegen die Turiner Rätebewegung drohte, handelten PSI- und Gewerkschaftsführung. Aber statt die ArbeiterInnenklasse zu mobilisieren und zu bewaffnen, kungelten sie einen Kompromiss mit der Bourgeoisie aus. Angesichts der drohenden Niederlage waren Kapital und Regierung natürlich bereit, z. B. auf die Forderung des 8-Stundentages (vorübergehend) einzugehen. Doch die Macht, die praktisch auf der Straße gelegen hat, wurde so von der PSI-Führung für billige Reform-Münze verkauft.

Aus diesen historischen Zusammenhängen wird klar, dass, wenn Gramsci später von „Hegemonie“, „vorgeschobenen Bastionen“, „Befestigungen des bürgerlichen Systems“ jenseits des bloßen Staatsapparates spricht, er im Hinblick auf die eigene italienische Erfahrung nicht so sehr das weite Feld von zivilen Institutionen, Presse, Vereinen etc. vor Augen hatte, sondern vielmehr die reformistischen Apparate, die reformistische Ideologie, das rein gewerkschaftliche Bewusstsein etc., das sich auch in Italien als die entscheidende Bastion gegen die Machtergreifung des Proletariats erwies. Denn auch was die bürgerlichen Teile der „Zivilgesellschaft“ in dieser Periode betraf, war Gramsci 1920 sehr klar: „Als politische Kraft reduziert sich der Kapitalismus auf einen Interessenverband der Fabrikbesitzer; er verfügt nicht mehr über eine politische Partei, deren Ideologie auch die kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Schichten ergreift und somit das Weiterleben eines legalen Staates auf breiter Basis erlauben würde… Deshalb neigt die politische Kraft des Kapitalismus dazu, sich immer mehr mit der oberen Militärhierarchie, mit der Gardia Regia, mit den vielen nach dem Waffenstillstand umherschwirrenden Abenteurern zu identifizieren, die, sich untereinander befehdend, der Kornilow oder Bonaparte Italiens werden möchten“ (18).

Auch hier ist keine Rede davon, dass umfangreiche „Hegemonie-Institutionen“ und zivilgesellschaftliche Rückhalte die Kapitalherrschaft sicherten – dies waren vielmehr bewaffnete Teile des Staatsapparates zusammen mit den bewaffneten Horden der Faschisten. Wie Gramsci es richtig vorhergesagt hatte, folgten auf die verpasste Chance des „biennio rosso“ die zwei „schwarzen Jahre“ 1921/22, die mit der Machtergreifung der Faschisten endeten. Das Kapital wurde gerettet durch die Demoralisierung der Arbeiterklasse nach der vertanen revolutionären Chance und die Mobilisierung der kleinbürgerlich-faschistischen Reaktion mit massiver Finanzhilfe durch die Industriellen- und Agrarier-Vereinigungen.

Die Spaltung der PSI, die schließlich 1921 zur Gründung der PCI führte, kam letztlich zu spät. Unter Führung des ultralinken Flügels um Amadeo Bordiga war die PCI auch nicht in der Lage, die Wende von der revolutionären Offensive hin zur Verteidigung gegen die faschistische Gefahr zu vollziehen. Ausgerechnet Bordiga als PCI-Generalsekretär, die Verkörperung der Ablehnung der Einheitsfronttaktik, war natürlich nicht in der Lage, den jetzt notwendigen Schwenk hin zur Einheitsfront mit SozialistInnen, GewerkschafterInnen etc. gegen die faschistische Machtergreifung umzusetzen. Als Gramsci 1923 nach der Verhaftung Bordigas zum Generalsekretär der PCI gewählt wurde und von der Komintern mit dem Mandat zur Umsetzung der Einheitsfronttaktik ausgestattet wurde, fand er unter den Bedingungen der sich festigenden faschistischen Herrschaft keine erfolgreiche Gegenstrategie. Tatsächlich revidierte Gramsci die Einheitsfronttaktik nach rechts, in Richtung Volksfront. Besonders nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Matteotti im Juni 1924, die zu einem Auszug der „antifaschistischen“ DemokratInnen (einschließlich Liberaler und KatholikInnen) aus dem Parlament führte, sah Gramsci die Gelegenheit von einer „breiten Opposition“. Gramsci versuchte die folgende schwere innenpolitische Krise für die Bildung eines Gegenparlaments mit den bürgerlichen „AntifaschistInnen“ zu nutzen. Letztlich scheiterte diese Volksfront wie viele danach am unvermeidlichen Verrat der umworbenen bürgerlichen Kräfte, die sich letztlich vor einer Rückkehr der „roten Jahre“ mehr fürchteten als vor der Konsolidierung der Herrschaft Mussolinis. 1926 ließ Mussolini denn auch alle demokratischen Hüllen fallen – mit vielen seiner GenossInnen wurde auch Gramsci verhaftet und jahrelang unter schwerer Kerkerhaft gesundheitlich und psychisch zugrunde gerichtet. Er starb an den Folgen der Haftbedingungen im April 1937.

Gramscis „Gefängnishefte“ – ein Alternativkonzept?

In der Zeit nach 1929 war es Gramsci möglich, einige seiner Gedanken und politischen Reflexionen in einer ungeordneten Folge von Heften aufzuzeichnen. Aus Angst vor Entdeckung und Vernichtung wurden diese „Gefängnishefte“ in eine Fülle von philosophisch-historischen Studien verpackt, wobei offene Bezugnahme auf Marxismus und die kommunistische Bewegung vermieden wurde. So verwendete Gramsci statt „Marxismus“ die Phrase „Philosophie der Praxis“ u. v. m. Trotz vieler Unklarheiten des Zusammenhangs und der tatsächlichen Absichten Gramscis – der natürlich nichts davon mit anderen GenossInnen diskutieren konnte -, wurden diese „Gefängnishefte“ zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für spätere „Neuinterpretationen des Marxismus“ – unter völliger Ausblendung des eigentlichen politischen Wirkens von Gramsci vor 1926.

Für den Kontext der Gefängnishefte ist auch noch ein anderer Faktor entscheidend: die Veränderung der politischen Verhältnisse in der Komintern. Spätestens seit 1923 war die Komintern vom Fraktionskampf und dem Aufstieg des bürokratischen Zentrums unter Stalins Führung geprägt. Einerseits führte dies zu einem wirren Zickzack in den taktisch-strategischen Direktiven der Komintern, andererseits führte die revisionistische Perspektive des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ immer mehr zur Unterordnung der Kominterntaktik unter das Primat des außenpolitischen Nutzens für die Sowjetunion. Bordiga, der in einer kurzen Phase ohne faschistische Haft nochmal als der Vertreter der PCI am fünften Kominternkongress in Moskau 1924 auftrat, war wohl einer der letzten, der Stalin öffentlich und von Angesicht zu Angesicht als einen Verräter an der Sache der proletarischen Revolution bezeichnete. Gramsci rang sich im Namen des Zentralkomitees der PCI 1926 noch einen Brief ab, in dem er zwar auf Seiten der Mehrheit Position ergriff, jedoch zugleich gegen eine Spaltung und für die weitere Integration von Trotzki und den anderen linken Oppositionellen eintrat. Dieser Brief wurde allerdings durch Togliatti in Moskau „nicht zugestellt“ – was zu einem Zerwürfnis zwischen Gramsci und der späteren PCI-Führung unter Togliatti (der ihm als Generalsekretär folgte) führte.

Insbesondere war es wohl die Politik der „3. Periode“, der „Offensivstrategie“ gegen den Faschismus und die Gleichsetzung von Sozialdemokratie und Faschismus in der „Sozialfaschimus“-Theorie, die Gramsci nicht befürwortete. Insbesondere in Italien unter dem faschistischen Regime musste die stalinistische „Offensivstrategie“ zu einer Selbstmordoperation werden, die die mühsam aufgebaute illegale Struktur der Partei zerstörte. Der später immer wieder aus dem Zusammenhang gerissene Teil der Gefängishefte zu „Stellungs- und Bewegungskrieg“ kann nur in diesem Zusammenhang einer vorsichtigen und verklausulierten Stellungnahme zur aktuellen Kominternstrategie gelesen werden. Auch wenn Gramsci hier besonders Trotzki als den Vertreter des „Frontalangriffs“ kritisiert, ist wohl etwas ganz anderes gemeint – möglicherweise konnte Gramsci in der Haft auch gar nichts davon wissen, dass Trotzki zur selben Zeit einer der schärfsten Kritiker der Offensivstrategie und Verteidiger der Arbeitereinheitsfront auch mit den Sozialdemokraten gegen den Faschismus war.

Es wird hierbei auch unterschlagen, dass Gramsci im besagten Abschnitt „Politischer Kampf und militärischer Krieg“ in seine Analogiebetrachtung nicht nur Stellungs- und Bewegungskrieg, sondern auch den Untergrund/Partisanenkrieg mit einbezieht – eine Kriegsform, die insbesondere bei schwer militärisch überlegenem Gegner es ermöglicht, ihm sporadisch an wichtigen Stellen Niederlagen beizufügen, bis ein Übergang zu einer der anderen Kriegsformen möglich wird. Gramscis Hinweis, dass ein verfrühtes Losschlagen dem Gegener im Untergrundkrieg die Positionen und Stärke der eigenen Kräfte verrät, ist eine klare Anspielung auf Auswirkungen der Offensivstrategie auf die illegalisierte PCI im faschistischen Italien.

Bewegungs- und Stellungskrieg bei Gramsci

Tatsächlich findet sich in diesem Abschnitt aber auch der Ansatz einer Revision der bolschewistischen Revolutionstheorie. Das erklärt sich bei Gramsci vornehmlich aus der Demoralisierung durch die Niederlage gegenüber dem Faschismus, der sich insgesamt nach rechts bewegenden Situation in ganz Europa und der deprimierenden Entwicklung der Komintern. Kernpunkt ist die Analogie des Wandels vom Bewegungskrieg zur Dominanz des Stellungskrieges in der Kriegstaktik mit dem angeblich historischen Abschied von der Epoche der „permantenten Revolution“ hin zur Epoche des politischen Stellungskrieges. Im Ersten Weltkrieg bestanden die Frontstellungen nicht einfach aus Schützengräben – die Front war vielmehr ein kilometerweites System von vorgezogenen und nachgelagerten Grabensystemen, mit komplexen Verbindungssystemen, durchzogen von Befestigunganlagen und eigens gesicherten, weit zurückliegenden Artilleriestellungen. Die Eroberung vorgelagerter Schützengräben brachte kaum Geländegewinne und wurde durch Verschiebungen im Gräbensystem schnell wieder aufgefangen. Auf diese Weise bewegte sich auch bei großen Materialschlachten die Front oft nur wenige Meter hin und her.

In Analogie dazu bezeichnet Gramsci „in entwickelten kapitalistischen Staaten“ die bewaffneten Staatsorgane als nur noch „vorgeschobene Stellungen“. Dahinter stehe eine „bürgerliche Gesellschaft“, die rasch neue Verteidigungslinien aufbauen könne und die ersten Anfangserfolge des Proletariats als nutzlose Geländegewinne entlarve: „die Überbauten der bürgerlichen Gesellschaft sind wie das Grabensystem des modernen Krieges. Wie es hier vorkam, dass ein erbitterter Artillerieangriff das ganze gegnerische Verteidigungssystem zerstört zu haben schien, in Wirklichkeit aber nur dessen äußere Oberfläche zertrümmert hatte und im Augenblick des Angriffs und des Vordringens die Angreifer sich einer noch wirksameren Verteidigungslinie gegenübersahen, so geschieht es in der Politik während großer ökonomischer Krisen; durch die Auswirkungen der Krise werden weder die angreifenden Truppen blitzschnell in Raum und Zeit organisiert, und noch weniger machen sie sich einen aggressiven Geist zu eigen; umgekehrt werden die Angegriffenen nicht demoralisiert, noch verlassen sie die Verteidigungslinie, selbst wenn diese völlig zertrümmert ist, noch verlieren sie das Vertrauen in die eigene Kraft und in die eigene Zukunft“ (19). Gramsci fährt fort, dass das letzte Gegenbeispiel eines möglichen politischen Bewegungkrieges die Oktoberrevolution von 1917 war.

Zunächst fällt einmal auf, wie schwach schon die Analogie mit der Militärstrategie selbst ist. Gramsci erwähnt den italienischen General Cadorna als Beispiel einer verfehlten Frontalangriffsstrategie während der „Dominanz des Stellungskrieges“ (Warnung vor dem „politischen Cadornismus“). Tatsächlich war Cadorna ein Opfer der Fixierung auf den Stellungskrieg. In 11 blutigen Isonzoschlachten hatte er mehrere Armeen in sinnlosen Materialschlachten, konzentriert auf wenige Abschnitte dem Kriegsziel Triest gegenüber, im Stellungskrieg verbluten lassen. Nachdem die deutschen und österreichischen Gegner nach Ende des Kriegs im Osten zum Jahresende 1917 mehrere Reservearmeen zur Verfügung hatten, konzentrierten sie diese im Abschnitt zwischen Dolomiten- und Isonzo-Front. Der folgende Durchbruch im Karstgebirge führte zur Umfassung der gesamten befestigten italienischen Front, verwandelte den Stellungskrieg innerhalb eines Tages in einen rasenden Bewegungskrieg und führte zum Untergang der Isonzo-Armeen Cadornas. Die Analogie legt hier eher die taktische Weisheit Lenins nahe, dass die stärkste Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied sein kann. Noch so gut ausgeklügelte Verteidigungssysteme brechen zusammen, sobald der Gegner eben dieses schwächste Glied zum Einsturz gebracht hat. Übrigens bezeichnete Erwin Rommel, der am Durchbruch im Karst als Kompanieoffizier teilgenommen hatte, diese Erfahrung als Grunderkenntnis für die taktische Neuorientierung, wie sie im Zweiten Weltkrieg angewendet wurde – anders als Gramsci annahm, war der Stellungskrieg nicht das letzte Wort des „modernen Krieges“, vielmehr dominierte in den motorisierten und luftwaffenunterstützten Armeen des Zweiten Weltkrieges wiederum der Bewegungkrieg. Während Gramsci annahm, dass in Kriegen mit modernen industrialisierten Tötungsmaschinerien und Massenarmeen der Stellungskrieg die vorherrschende Erscheinung sei, führten Motorisierung und Luftkrieg dazu, dass sich umgekehrt dieser als taktische Ausnahme und zeitweise Atempause im Bewegungkrieg ergab.

Gramsci und der Begriff der Hegemonie

Genauso, wie die von der Entwicklung der Produktivkräfte bedingten Veränderungen in der Kriegsführung keineswegs den Stellungskrieg zur bestimmenden Form des modernen Krieges machen, ist zu hinterfragen, ob Gramscis Ausführungen zu den „Verteidigungsstellungen in entwickelten bürgerlichen Gesellschaften“ eine materielle Grundlage haben. Zentral verwendet Gramsci hierzu bekanntlich den Begriff der „Hegemonie“. Darunter versteht Gramsci in Anlehnung an Marx‘ Ideologiebegriff die Fähigkeit einer Klasse, ihre partikularen Interessen zurücktreten zu lassen hinter eine vorgebliche Vertretung gesellschaftlicher Gesamtinteressen. Hegemonie besteht vornehmlich in der Anerkennung der subalternen Klassen für den behaupteten Anspruch der herrschenden Klasse, die wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Probleme und Fragen lösen zu können. Gramsci bezeichnet diesen Übergang von den Partikularinteressen zum gesamtgesellschaftlichen Anspruch als den Übergang zum Politischen: „[Es] bezeichnet den glatten Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus. In dieser Phase werden die aufkommenden Ideologien ‚Partei‘, sie konfrontieren einander und bekämpfen sich, bis eine einzige Partei oder eine Parteienkombination die Vorherrschaft auf dem gesamten gesellschaftlichen Gebiet anstrebt. Diese Partei bestimmt außer der Einzigartigkeit der ökonomischen und politischen Ziele auch die geistige und moralische Einheit, indem sie alle Fragen, um die der Kampf entbrannt ist, nicht auf kooperativer, sondern auf ‚universaler‘ Ebene stellt und begründet dergestalt die Hegemonie einer fundamentalen gesellschaftlichen Klasse über andere untergeordnete Gruppen“ (20).

Hegemonie ist also einerseits durch ökonomische Klasseninteressen mit der gesellschaftlichen Basis verbunden, erhebt sich aber andererseits als universalistischer Anspruch anscheinend über den Klassenwiderspruch, entwickelt ein organisiertes, parteimäßiges System von scheinbar objektiven gesellschaftlichen Mechanismen für „gerechten Ausgleich“ und „Regieren im Sinne der Allgemeinheit“. Insofern bedeutet Gramscis Programm der Entwicklung von „Gegenhegemonie“ nichts anderes, als dass die proletarische Klasse und ihre Partei diese allgemeingesellschaftliche Problemlösungskompetenz der bürgerlichen Institutionen und Parteien erschüttern und das Proletariat sich selbst als die Klasse für die Lösung der zentralen gesellschaftlichen Fragen mehr und mehr durchsetzt.

Auch wenn die positive Darstellung der herrschenden Ideologie als befestigter Glaube der Subalternen an die Lösungskompetenz der Herrschenden für alle gesellschaftlichen Probleme und die so befestigte Einreihung aller in die „Einheit der Gesellschaft oder Nation“ eine Hilfe in der Analyse bestimmter historischer Situationen sein kann, ist wichtig zu sehen, was diese „Ideologiekritik“ nicht enthält: Die positive Darstellung als „Hegemonie“ lehnt sich zwar an Marx‘ Ideologiekritik an, verwendet aber nicht die Charakterisierung als „falsches Bewusstsein“, wie dies Marx in der „Deutschen Ideologie“ entwickelt hat. Was immer der Grund bei Gramsci gewesen sein mag (wie gesagt verwendete er in den „Gefängnisheften“ eine Art Code-Begrifflichkeit) – in der neo-marxistischen und post-modernen Rezeption wurde dieser Verzicht auf die Bezugnahme von „Wahrheit“ und „Falschheit“ geradezu Programm. Denn Marx‘ Begrifflichkeit impliziert natürlich, dass es einen dem verkehrten bürgerlichen Bewusstsein gegenüberstehenden, das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft begreifenden und umstürzenden proletarischen Klassenstandpunkt gibt. Im „Hegemonie“-Begriff werden die grundlegende Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Bewusstseins, seine Unfähigkeit, das Ganze der Gesellschaft zu erfassen, und die Aussichtslosigkeit seiner eigenen humanitär-freiheitlichen Ansprüche nicht deutlich – eine Widersprüchlichkeit, die sich von der wissenschaftlich-ideologischen Ebene bis auf die Ebene der Gesetze und Institutionen durchziehen muss. Damit kann es natürlich auch keine durchgreifende und in jedem Fall krisenfeste „Hegemonie“ geben, sondern nur zeitweise scheinbare Ruhigstellung und Vermittlung der Widersprüche, nur um sie in einer nächsten Entwicklungsphase wieder umso heftiger aufbrechen zu lassen.

Natürlich betont auch Gramsci die Bedeutung von „Hegemonie-Krisen“. Krisen im Kapitalismus, politische Führungskrisen (aufgrund verlorener Kriege oder unerwarteten sozialen Aufruhrs, Aufkommens spontaner Bewegungen) können eine „Autoritätskrise“ bis hin zu revolutionären Situationen ergeben (21). Die modernen bürgerlichen Staaten hätten jedoch, so Gramsci, die Fähigkeit entwickelt, in solchen Krisen rasch die politischen Strukturen und Führungseliten zu wechseln, neue Hegemonie-Insitutionen zu schaffen, in denen die „Revolutionäre“ oder Kritiker als integraler Bestandteil mit eingebaut werden (dies nennt Gramsci „passive Revolutionen“). Da diese Fähigkeit zur Integration für ihn ein wesentliches Moment der Hegemonie darstellt, bringt Gramsci die moderne bürgerliche Herrschaft auf die Kurzformel „Diktatur plus Hegemonie“ (22).

Sicherlich hat das bürgerliche System eine gewaltige Flexibilität in seiner Integrationsfähigkeit für oppositionelle Bewegungen und soziale Proteste entwickelt, ebenso wie es immer wieder gelingt, dass große Teile der Unterdrückten, von neuen bürgerlichen Scheinlösungen getäuscht, die Herrschaft des Kapitals in veränderter Form verteidigen. Trotzdem zeigte ja auch Gramscis eigene Erfahrung im Italien der „roten Jahre“, wie weit eine von der ArbeiterInnenklasse vorangetragene Hegemoniekrise das Problem der proletarischen Revolution auf die Tagesordnung setzen kann und sich die Rätebewegung zu großen Teilen nicht ins bürgerliche Sysem integrieren ließ. Die Verteidigungsstellungen der Bourgeoisie waren zunächst vor allem die alten Arbeiterorganisationen, der rechte Flügel der sozialistischen Partei und die Führung der Gewerkschaften. Natürlich zeigt dies an, wie zentral gerade der Reformismus zu einem integralen Bestandteil und Stablisierungsfaktor nicht nur der bürgerlichen „Hegemonie“, sondern auch der bürgerlichen Diktatur geworden ist. Die Integration der tatsächlichen revolutionären ArbeiterInnenbewegung war dem Kapital offenbar weder möglich, noch war es willens dazu – vielmehr ging es nach dem Verpassen des Moments der Revolution seinerseits zum Frontalangriff über, indem es bürgerliche und kleinbürgerliche Massen um die neuformierte faschistische Form der „Hegemonie der bürgerlichen Klasse“ sammelte. Offensichtlich taugt für diese rasche Aufeinanderfolge von revolutionärem Aufschwung und konterrevolutionärem Gegenschlag weder das Hegemonie/Integrations-Konzept noch dasjenige von der Dominanz des Stellungskrieges.

Bilanz

Es fragt sich auch, was die Konsequenz eines jahrelangen „politischen Stellungkrieges“ für die den „proletarischen Hegemonieanspruch“ verkörpernde kommunistische Partei und die Räte bedeuten soll. Gramsci betont ja mehrmals, dass der Stellungskrieg und seine zermürbende Wirkung eine streng disziplinierte und zentralisierte Organisation mit eisernen Disziplinierungs- und Kaderisierungsmaßnahmen gegenüber der eigenen „Front“ erfordere. Gramsci selbst mag sich hierbei eine konsequent kommunistische Partei, die in diesem oder jenem Gebiet Teilerfolge erringt, aber vornehmlich ihre Größe kontinuierlich steigert, gedacht haben, die eine Art Gegengesellschaft in Teilbereichen errichtet, um irgendwann ihre Hegemonie über die Gesamtgesellschaft herstellen zu können. Als die PCI im Nachkriegsitalien Gramscis Gefängnishefte veröffentlichte, war die Interpretation dagegen ganz klar: im Rahmen eines bürgerlichen Italiens mehr und mehr Positionen in Regionalregierungen zu erobern, bis hin zu Regierungsbeteiligun-gen mit den bürgerlichen Parteien, um so die bürgerliche Gesellschaft graduell in eine sozialistische zu transformieren. Dieser „Gradualismus“ wurde geradezu direkt mithilfe Gramscis führenden Theoretikern der PCI gerechtfertigt (insbesondere von Luciano Gruppi, dem „Chefideologen“ des „Eurokommunismus“). Es ist schon ein Hohn, dass Gramsci, der vor den antirevolutionären Wirkungen einer ArbeiterInnenbürokratie im Prozess der revolutionären Krise gewarnt hatte, letztlich zur Rechtfertigung einer bürokratischen Integration des italienischen Stalinismus in das bürgerliche System dienen sollte. Andererseits ist bereits sein Konzept des „politischen Stellungskrieges“ selbst fragwürdig – denn wer führt hier die „proletarische Stellung“ und was soll diese im politischen Sinn überhaupt darstellen? Die Schlussfolgerung, dass es sich bei der Stellung um einen stalinistischen Parteiapparat mit vielfältigen Vorfeld- und Frontorganisationen handeln könnte und bei den „Erfolgen im Stellungskrieg“ um Institutionen und Posten im bürgerlichen System, liegt eben einfach zu nahe, als dass man Gramsci davon freisprechen kann.

Bleibt letztlich die Frage, ob Gramsci damit recht hat, dass die ökonomisch-politische Krise in entwickelten kapitalistischen Staaten nie so tief sein kann, dass etwas wie der Oktoberumsturz von 1917 noch einmal möglich wäre. Hiermit wird behauptet, dass es in entwickelteren kapitalistischen Staaten, als es Russland 1917 war, Systeme der bürgerlichen Herrschaft gäbe, die in ökonomisch-politischen Krisen weitreichendere Abfangmechanismen bereithalten, als es das Russland des Zarismus bzw. der Kerenski-Regierungen zur Verfügung hatten. Wie schon gezeigt, bleibt Gramscis Analyse in Bezug auf diese angeblichen Mechanismen mit seinem Hegemoniebegriff äußerst vage und unfruchtbar in Bezug auf reale revolutionäre Situationen, in denen sich der Konflikt zwischen Reform oder Revolution historisch offenbar gemacht hat.

Althusser und die neo-marxistische „Entmystifizierung“ der Oktoberrevolution

Eine tatsächliche, wenn auch noch revisionistischere Begründung für diese Stabilität des bürgerlichen Systems und die Einmaligkeit der Oktoberrevolution lieferten erst die „neo-marxistischen“ Nachfolger von Gramsci in den 1960er/70er Jahren. Eine herausragende Rolle dabei spielte – zumindest im methodischen Sinn – Luis Althusser.

Der Artikel „Widerspruch und Überdetermination“ aus der bekannten „Für Marx“-Anthologie kann als Ausgangspunkt für die methodische Wende herangezogen werden, die Althusser dem „Wissenschaftsbegriff“ im Rahmen des Marxismus gab. Kernpunkt dieser Wende ist die Ablehnung oder Neuinterpretation des Marx’schen Diktums, dass die Hegel’sche Dialektik als Schlüssel für gesellschaftliche und historische Analyse „umgestülpt“, „vom Kopf auf die Füße gestellt“ werden müsse. Althusser beharrt dagegen darauf, dass nicht nur der idealistische Inhalt problematisch sei, sondern dass auch die dialektische Methode selbst von idealistischem Zukunftsglauben und vereinfachter historischer Logik, die zu einem „Zielpunkt der Geschichte“ hinführen sollen, durchtränkt sei. Althussers Programm ist daher, die marxistische Gesellschaftsanalyse auf „wissenschaftliche“ Grundlage zu stellen, auf einer Dialektik von Strukturanalysen zu begründen. Ein Muster dafür entwickelt er im Begriff der „Überdetermination“, den er im besagten Artikel an einem Beispiel erläutert: der Oktoberrevolution 1917.

Er beginnt die Analyse mit der Fragestellung, warum die Oktoberrevolution in Russland („ausgerechnet Russland“) möglich war und warum sie dort und nur dort erfolgreich gewesen sei.

In Bezug auf die Möglichkeit der Oktoberrevolution gibt Althusser eine klassische Antwort (gegenüber einem „Theoretiker“ des isw-Flügels der DKP, Conrad Schuhler, der im anfangs zitierten Artikel einen Widerspruch zur Marx’schen Revolutionstheorie sieht, hat der Revisionist Althusser hier eine durchaus klare und korrekte Sicht): „Sie war in Russland aus einem Grund möglich, der weit über Russland hinausging – weil nämlich mit der Entfesselung des imperialistischen Krieges die Menschheit in eine objektiv revolutionäre Situation eingetreten war. Der Imperialismus hatte das ‚friedliche‘ Gesicht des alten Kapitalismus erschüttert. Die Konzentration der Industriemonopole und die Unterwerfung der Industriemonopole unter die Finanzmonopole hatte die Ausbeutung der Arbeiter und der Kolonien gesteigert. Die Konkurrenz der Monople machte den Krieg unvermeidlich. Aber dieser gleiche Krieg, der bis zu den Kolonialvölkern, aus denen man Truppen bezog, ungeheure Massen in seine endlosen Leiden hineinzog, warf sein ungeheures Fußvolk nicht nur in die Massaker, sondern auch in die Geschichte. Das Erlebnis des Krieges sollte in allen Ländern dem langen Protest eines ganzen Jahrhunderts gegen die kapitalistische Ausbeutung als Transportgehilfe und als Enthüllungsmittel dienen; schließlich auch als ein Punkt, an dem sich dieser Protest festmachen konnte, indem er eine ganz überwältigende Evidenz und damit auch wirksame Mittel des Handelns gewonnen hat“ (23).

Warum wurde aus dieser Möglichkeit nur in Russland nachhaltig ein sozialistischer Umsturz (die Versuche in Deutschland und Ungarn scheiterten ja in relativ kurzer Zeit)? Althusser geht aus von Lenins Erklärung, dass Russland das „schwächste Glied“ im Staatensystem des Imperialismus war. Diese Schwäche habe sich aus der „Anhäufung und Zuspitzung aller damals möglichen Widersprüche in einem einzigen Staat“ (24) ergeben. Dies betraf die Verschärfung der weiter bestehenden feudalen Ausbeutung, die zu einer Zuspitzung der ländlichen Revolten führen musste und so, anders als 1905, ArbeiterInnen und Ba(e)uerInnen in eine Front gegen den Zarismus bringen sollte; verschärfte Konflikte durch die rasche Industrialisierung, die zu Erfahrungen harter Klassenkämpfe in allen großen Städten und Industriezentren geführt hatte; scharfe nationale Konflikte durch den inneren und äußeren Kolonialismus im „Völkergefängnis“ des Zarismus; „ein gigantischer Widerspruch“ zwischen dem Grad der Entwicklung kapitalistischer Produktionsmethoden (z. B. Konzentration von ArbeiterInnenmassen wie die 40.000 in den Putilowwerken in Petersburg) und der mittelalterlichen Rückständigkeit auf dem Land; Zuspitzung der politischen Konflikte nicht nur mit der ArbeiterInnenklasse, sondern auch in den herrschenden Klassen selbst (insbesonder auch was die bürgerliche und kleinbürgerliche Opposition gegen den „Despotismus“ betraf). „Dazu traten in den Einzelheiten der Ereignisse noch andere Umstände mit ‚Ausnahmecharakter‘, die ohne diese ‚Überlagerung‘ der inneren und äußeren Widersprüche unverständlich geblieben wären“ (25): Althusser nennt hier den „fortgeschrittenen Charakter der russischen revolutionären Elite“, die sich z. B. vor allem im Exil bildete, „das ganze Erbe der politischen Erfahrung der Arbeiterklassen des westlichen Europas (und vor allem: den Marxismus)“ aufsog – nicht zuletzt mit den Bolschewiki eine Partei entwickelte, „die an Bewusstsein und Organisation alle westlichen ‚sozialistischen‘ Parteien bei weitem übertraf“; die Generalprobe von 1905, die unter anderem das wesentliche Organisationsmoment der Sowjets hervorbrachte; schließlich das Moment der Erschöpfung der alten Mächte im dritten Jahr des verheerenden Krieges, die es den Bolschewiki ermöglichte, ihre Bresche in die Geschichte zu schlagen (die Politik der Alliierten, die den Zaren loswerden, aber mit der „demokratischen Regierung“ den Krieg fortsetzen wollten, ebenso wie die zumindest indirekte Unterstützung des deutschen Generalstabs für die Rückkehr der exilierten Revolutionäre, um gerade dies zu untergraben…).

Daraus schlussfolgert Althusser: „Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus mündete über den Krieg von 1914 in die Russische Revolution, weil Russland in der vor der Menschheit eröffneten revolutionären Periode das schwächste Glied in der Kette der imperialistischen Staaten war: weil es die größte Summe damals möglicher Widersprüche anhäufte; weil es zugleich die am meisten verspätete und die am meisten fortgeschrittene Nation war, ein ungeheurer Widerspruch, den ihre unter sich uneinigen herrschenden Klassen weder umgehen noch auch lösen konnten“ (26).

Dies konfrontiert Althusser nun mit der Revolutionserwartung der SozialdemokratInnen in Deutschland des 19. Jahrhunderts: „Sie glaubten offensichtlich, dass die Geschichte über die andere … Seite fortschreitet, die der größten ökonomischen Entwicklung, der größten Expansion, des auf seinen allerreinsten Aufriss reduzierten Widerspruchs (zwischen Kapital und Arbeit) – wobei sie aber vergaßen, dass sich dies alles im vorliegenden Fall in einem mit einem mächtigen Staatsapparat ausgestatteten Deutschland abspielte, das mit einer Bourgeoisie ausgestattet war, die schon seit geraumer Zeit ‚ihre‘ politische Revolution im Austausch für den polizeilichen, bürokratischen und militärischen Schutz erst Bismarcks, dann Wilhelms, ‚heruntergeschluckt‘ hatte, sowie für die ungeheuren Profite der kapitalistischen und kolonialen Ausbeutung, zudem ausstaffiert mit einem chauvinistischen und reaktionären Kleinbürgertum – wobei sie auch noch vergaßen, dass im vorliegenden Fall dieser so simple Aufriss des Widerspruchs ganz einfach abstrakt war: der wirkliche Widerspruch war so sehr mit diesen ‚Umständen‘ eins geworden, dass er nur durch sie hindurch und in ihnen überhaupt noch zu erkennen, zu identifizieren und zu handhaben war“ (27). Sicherlich ist diese Darstellung der deutschen Vorkriegs-Sozialdemokratie nicht gerecht, was viele ihrer führenden TheoretikerInnen betrifft – dies ist aber an dieser Stelle irrelevant.

Was sicher stimmt, ist, dass über die Frage der Bedingungen und des Charakters der proletarischen Revolution eine sehr unklare Vorstellung herrschte, wie sich speziell an der Staatsfrage zeigt (siehe den Abschnitt zu Kautsky im ersten Teil dieses Artikels). Sicher ist auch richtig, dass es eineTendenz zur mechanischen Ableitung des „Sieges der Revolution“ aus der Entwicklung des ökonomischen Klassenkampfes gab. Die Bemerkung Althussers, dass sich der ökonomische Klassenkampf in entwickelten kapitalistischen Ländern immer mehr mit Elementen der politischen Auseinandersetzungen verschränkt und Klassenkonflikte sich dort in „normalen Zeiten“ kaum in den rein ökonomischen Kämpfen widerspiegeln, ist sicher eine richtige Spitze gegen den Ökonomismus.

Bemerkenswert an dem Abschnitt ist zweierlei:

1) Althusser betont den „Ausnahmecharakter“ der Oktoberrevoluton anhand der genannten Anhäufung von Umständen und kontrastiert diese Umstände mit der ungünstigen Situation der deutschen Sozialisten in Bezug auf die Stärke von Staatsapparat und reaktionären politischen Kräften. Er führt aber dann nicht mehr aus, dass trotzdem nach dem November 1918 in Deutschland eine Situation entstehen konnte, die derjenigen in Russland 1917 an Schärfe in nichts nachstand, auch wenn im Vergleich zu Russland das Militär und der alte Staatsapparat noch weit intakter waren und die Hegemonie der sozialdemokratischen VerräterInnen weit weniger herausgefordert wurde.. In Deutschland entwickelte sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seines Generalstabs eine der umfassendsten Rätebewegungen dieser von Althusser richtig beschriebenen revolutionären Menscheitsperiode. Die Erschütterung des Machtapparats war derart, dass das kapitalistische Sytem 1918/1919 nur durch die Sozialdemokratie selbst (d. h. ihren rechten Flügel) gerettet werden konnte. Diese Situation war außerdem nicht auf Deutschland beschränkt, sondern entwickelte sich auch in den Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie, in denen entweder Räterepubliken errichtet wurden (Ungarn, Slowakei) oder nur die konterrevolutionäre Politik der Sozialdemokratie die Herrschaft der Bourgeoisie retten konnte (Österreich). Auf Italien haben wir schon weiter oben verwiesen. Selbst in Ländern wie Britannien zeigten sich in der Shop Steward-Bewegung und in der politischen Entwicklung bis zum Generalstreik 1926 massenhaft Formen proletarischer Selbstorganisation. Hinzu kommen die Entwicklungen der Revolutionen in den vom Imperialismus beherrschten Ländern, die auch die Frage der permanenten Revolution auf die Tagesordung stellten (China).

Althusser unterstellt einen „Ausnahmecharakter“ der Russischen Revolution, der von der realen historischen Entwicklung nicht gestützt wird. Wie schon beim späten Gramsci wird die Rolle der ReformistInnen zu einem nebengeordneten „Umstand“, als sei der Verrat der Sozialdemokratie im Westen eine Art objektive Notwendigkeit, ein Element der bürgerlichen Herrschaft wie alle anderen gewesen. Wie bei Gramsci verschwindet auch die subjektive Schwäche der RevolutionärInnen im Westen, rechtzeitig nach dem Vorbild der Bolschewiki eine aktionsfähige Einheit gebildet zu haben, die auf der Grundlage von Herrschaftskrise, Rätebewegung und Doppelmacht ähnlich wie in Russland in die „Bresche der Geschichte“ hätte schlagen können. Unerwähnt bleibt auch, dass Lenins Bemerkung, dass mit Russland „das schwächste Glied im System der imperialistischen Staaten“ gerissen sei, ja auch der Umstand gemeint war, dass diese Revolution natürlich ungeheure Stoßkraft auf alle Klassenkämpfe im Westen hatte – damit ja auch tatsächlich eine Kette internationaler Revolutionen möglich geworden war.

2) Methodisch entwickelt Althusser in der Gegenüberstellung „Anhäufung der Widersprüche“, „abstrakter Glaube an den Widerspruch von Kapital und Arbeit“ allerdings eine prinzipielle Relativierung der Bedeutung des ökonomischen Grundwiderspruchs. Althusser sieht es als das „mystisch-unwissenschaftliche“ Erbe des Hegelianismus, von zentralen, wesentlichen Widersprüchen, die in einem hierarchischen Gefüge zusammenwirken und letztlich von der Bewegungsrichtung der zentralen Widersprüche bestimmt seien und auf deren „Aufhebung“ (auch ein angeblich unwissenschaftliches Konzept) zustreben. Am klarsten: Wenn in der Althusser’schen Analyse die Oktoberrevolution so sehr als „Ausnahme“ erscheint, dann fragt sich: als Ausnahme von was?

„Etwa in Bezug auf eine gewisse ganz abstrakte, aber doch bequeme und beruhigende Vorstellung eines ‚dialektischen‘, bereinigten, einfachen Schemas, das in seiner Einfachheit gewissermaßen die Erinnerung des Hegel’schen Modells bewahrte oder aber einfach dessen Gangart wieder aufnahm – und zwar den Glauben an die lösende ‚Kraft‘ des abstrakten Widerspruchs als solchen. Im vorliegenden Fall ging es um den ‚schönen‘ Widerspruch von KAPITAL und ARBEIT. Ich leugne gewiss nicht, dass die Einfachheit des ‚bereinigten‘ Schemas gewissen subjektiven Notwendigkeiten der Massenmobilisierung entsprechen konnte“ (28).

Vielmehr würde sich in allen konkreten politischen Analysen von Marx und Engels etwas über das dialektische Schema Hinausreichendes finden: „Es zeichnet sich in ihnen ab, dass der Widerspruch Kapital-Arbeit niemals einfach ist, sondern dass er immer durch die Formen und die konkreten historischen Umstände spezifiziert ist, unter denen er wirkt. Spezifiziert durch die Formen des Überbaus (der Staat, die herrschende Ideologie, die Religion, die organisierten politischen Bewegungen etc.); spezifiziert durch die äußere und innere historische Situation,… nationale Vergangenheit (vollzogene oder zurückgenommene bürgerliche Revolution, völlig, teilweise, oder gar nicht beseitigte feudale Ausbeutung, lokale Sitten, spezifische nationale Überlieferungen beziehungsweise ein ‚eigentümlicher Stil‘ der politischen Kämpfe oder Verhaltensweisen etc.) … des jeweils bestehenden globalen Zusammenhangs… Kann das überhaupt etwas anderes bedeuten, als dass der scheinbar einfache Widerspruch immer überdeterminiert ist?“ (29)

Dies bedeutet, dass jede gesellschaftliche Situation jeweils durch ein Geflecht von Strukturen, mit jeweils eigenen Widersprüchen/Konflikten/Bewegungsformen ausgezeichnet ist, die sich jeweils gegenseitig beeinflussen/determinieren. Insofern ist auch der Kapital/Arbeit-Widerspruch bei Althusser seinerseits nur über das Geflecht der anderen Strukturwiderprüche gegeben bzw. selbst bestimmt, tritt nie in einer „reinen Form“ auf, sondern ist immer z. B. mit Widersprüchen in Überbau, Staat, Institutionen verknüpft bzw. äußert sich zugespitzt dort und nur untergeordnet in den unmittelbaren Produktionsstätten. Die Konstellation des Verhältnisses der verschiedenen Strukturen und ihrer Widersprüche führt entweder dazu, dass trotz derselben „Schärfe des Kapital-Arbeit-Widerspruchs“ die gesellschaftliche Entwicklung gehemmt ist oder aber zu einem „revolutionären Bruch“ (ein zentraler Begriff für Althusser) führen kann: „… dass der überdeterminierte Widerspruch überdeterminiert entweder im Sinne eines historischen Hemmnisses sein kann, einer echten Blockierung des Widerspruchs (Beispiel: das wilhelminische Deutschland) oder aber im Sinne des historischen Bruchs (das Russland von 1917)…“ (30).

Umkehrung der Hegel’schen Geschichtsphilosophie im dialektischen Materialismus

In Hegels Geschichtsdialektik muss sich die „sittliche Idee“ durch die Ebene der bürgerlichen Gesellschaft (der interessengeleiteten, ökonomisch handelnden Menschen) hindurchbewegen, um im Staat/Geistesleben zu sich selbst zu kommen – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“. Die „Idee“ wird zum bewegenden Faktor der Geschichte, indem sie sich in ihren verschiedenen Momenten durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entfaltet, als „Wahrheit“ einer Epoche „erscheint“. Dabei scheitere diese Verwirklichung immer wieder am eigenen Anspruch, das „Sein“ entspricht nicht dem „Begriff“, werde damit zu „unwahrem Sein“. Daher strebe die gesellschaftliche Wirklichkeit über die jeweils erreichte Erscheinungsform, die bestehende staatliche Ordnung hinaus – wenn es sein muss. Sie verwende die „List der Vernunft“ dabei auch die ihr scheinbar widersprechenden gewalttätigen Perioden des Niedergangs. Doch nach jedem Umbruch, in jeder neuen Epoche, seien die bisher erreichten Momente der Idee in der neuen Stufe der Entwicklung aufgehoben, bis am „Ende der Geschichte“ die Idee der Vernunft in ihrer reichen und durch all die vorangegangen Stufen vervollkommneten Form im Zukunftsstaat erscheine.

Um die Wirkungskraft dieser Hegel’schen Fortschrittsmythologie zu demonstrieren, ist es eine gute Veranschaulichung, hier kurz auf den italienischen Neuhegelianer Benedetto Croce einzugehen, dessen historische Studien ein wichtiger Anknüpfungspunkt für Gramsci waren (die Hegemonietheorie entstand in einer Auseinandersetzung Gramscis mit Croces Machiavelli-Studien). Croces geschichtsphilosophisches Hauptwerk ist sicherlich seine „Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert“ (31).

Darin führt er aus, dass mit der Französischen Revolution die „Idee der Freiheit“, die in vielen Jahrhunderten davor im Untergrund der Geschichte heranwuchs, unwiderruflich an die Oberfläche der Geschichte durchgebrochen sei. In allen Ereignissen bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, schildert nun Croce, wie bei allen Rückschläge der Drang nach Durchsetzung von Freiheit das nach vorne drängende Moment der europäischen Geschichte gewesen sei. Selbst den Faschismus, der ihn sein Buch unter Hausarrest schreiben ließ (wenn auch nicht unter ebensolch schlimmen Bedingungen wie denen des von ihm geschätzte Gramsci), sah Croce als einen extremen „Ausreißer“, der letztlich in einer Art „List der Vernunft“ die Völker Europas zur Besinnung bringen würde, so dass sie nach dem Zeitalter der Extreme unweigerlich eine Form der demokratischen und liberalen Vereinigung Europas anstreben würden. Nachdem die Entwicklung dann nach der Niederschrift seines Werkes in Europa unmittelbar doch „etwas“ anders verlief, schrieb Croce im Nachwort von 1947: „Für den Verfasser wie für andere Männer seiner Generation ist es gewiss schmerzhaft, dass der Lauf der Geschichte nach 1931 andere Wege eingeschlagen und dass keine Wiederentdeckung des Freiheitsideals stattgefunden hat. Einigen Trost kann man jedoch aus den Worten Hegels gewinnen: dass die Idee keine Eile hat“ (32).

Althussers Punkt ist, dass die übliche, vereinfachte Form der materialistischen Uminterpretation der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, in der statt der Idee nunmehr die Entwicklung der Produktivkräfte im Verhältnis zu den Produktionsverhältnissen und der darauf beruhende Klassenkampf zum Motor der Geschichte würden, nichts anderes als eine neu eingekleidete Heilserwartung à la Hegel sei. In „materialistischer Paraphrase“ von Croce könnte man sagen: Mit der Oktoberrevolution ist die Periode der Weltrevolution, das letzte Gefecht gegen das todgeweihte kapitalistische System auf die Bühne getreten. Es mag diese oder jene Rückschläge geben, aber der Sieg der Weltrevolution ist nun nicht mehr aufzuhalten. Tausende Militante gingen beruhigt in den Tod, mit der Gewissheit, dass die Weltrevolution auf dem Marsch ist…

Althussers „wissenschaftliche Alternative“

Was ist nun Althussers „wissenschaftliche Alternative“ zu dieser angeblich materialistisch verkleideten „Heilslehre“?

Bekanntlich verlegt die marxistische Gesellschaftsanalyse die geschichtlich vorantreibenden Widersprüche nicht einfach (was eine einfache „Umstülpung“ Hegels wäre) von der politischen Bühne des Staates auf „die Gesellschaft“. Die unhistorische Auffassung Hegels von der „bürgerlichen Gesellschaft“ als eine durch den „ökonomisch handelnden Menschen“ geschaffene Welt der Interaktion zwischen egoistischen Individuen abstrahiert eben gerade von den zentralen materiellen Bedingungen der handelnden Menschen. Die „Idee der Freiheit“ kann nicht verwirklicht werden, wenn der Großteil der Gesellschaft die Bedingungen ihrer Verwirklichung nicht kontrollieren kann und vor allem um seinen Anteil an der Verteilung auch der grundlegend zum Überleben benötigten Güter erstmal kämpfen muss. In der marxistischen Gesellschaftsanalyse wird Hegels „bürgerliche Gesellschaft“ durch die jeweils herrschende Produktionsweise ersetzt.

Hier beginnt Althusser nun eine neue Terminologie einzuführen: Die mit der Produktionsweise gegebenen Eigentumsverhältnisse als Produktionsverhältnisse bestimmen laut Althusser eine ökonomische Struktur, der auf einer anderen Ebene, der Ebene des sozialen Handelns, Klassenverhältnisse entsprechen. Der Staat wiederum wird auf der Ebene des politischen Handelns angesiedelt, im Zusammenhang mit der Sicherung bestehender Klassenherrschaft. Wichtig ist hier, dass Althusser nicht nur wie Marx die Relationsglieder in den gesellschaftlichen Bestimmungsverhältnissen gegenüber der Hegel’schen Dialektik ändert, er ändert auch das, was „Bestimmung“ bzw. „Determination“ bedeuten. Was „unwissenschaftlich“ bei Hegel sei, soll das einfache, hierarchische Determinationsverhältnis sein: Die ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen Strukturen müssten vielmehr jeweils zunächst einzeln betrachtet, um dann in ihrer wechselseitigen Beeinflussung erfasst zu werden.

Die einfache Bestimmung des staatlichen Überbaus durch die ökonomische Basis wird bei Althusser zu einer „letztlichen Bestimmung“, die aber auch in umgekehrte Richtung wirkt. Dazu kommt, dass es in einer konkreten Gesellschaft jeweils zur Verschränkung verschiedener Strukturen auch auf denselben Ebenen kommt: Z.B. mögen neben der dominierenden kapitalistischen Produktionsweise Reste der feudalen noch eine gewichtige Rolle spielen, eine Gesellschaftsformation umfasse viele Produktionsweisen und Klassenverhältnisse, es wirkten vormoderne Ideologien nach, auf politischer Ebene könne die Feudalaristokratie weiterhin zentrale Positionen im Staatsapparat besetzen usw. usf. Insofern bestimmt laut Althusser der Kapital-Lohnarbeits-Widerspruch nur „im Letzten“ die historische Tendenz. Tatsächlich würde sie jedoch überdeterminiert durch das komplexe Zusammenwirken der verschiedenen, zum Teil sehr widersprüchlichen Teilstrukturen, aus denen sich in nicht-harmonischer Weise das Gesellschaftsganze zusammensetze.

Nicht durch den „Basiswiderspruch“, sondern auch durch die Widersprüche und Differenzen in der Gesamtheit der für die Situation wesentlichen Strukturen ergebe sich die Möglichkeit des „revolutionären Bruchs“. Das bedeutet das Auftreten einer Situation, in der eine revolutionäre Praxis auf allen Ebenen (der Ökonomie, der Politik, der sozialen Verhältnisse, der Ideologie…)von der Umwälzung der Produktionsweise ausgehend die Gesellschaft auf eine neue Grundlage stellen kann. Wie schon bei seiner Analyse der Oktoberrevolution ist dabei auch die revolutionäre Praxis selbst, hier in Gestalt der bolschewistischen Partei, ein Resultat einer „besonderen“ Entwicklung, ein weiteres hinzukommendes (kontingentes) Strukturelement. Auch der „subjektive Faktor“ wird bei Althusser zu einem Moment der objektiven Überdetermination.

Im Zusammenhang mit der Revolutionstheorie kommt dazu, dass Althusser davon ausgeht, dass sich, je mehr sich der Kapitalismus entwickelt, sich die Widersprüche und Auseinandersetzungen von der unmittelbaren ökonomischen Ebene umso mehr auf die von Politik und Überbau verlagern. In diesem Zusamenhang behauptet er (33), dass in der marxistischen Gesellschaftsanalyse die Analyse der Wirkungen des Überbaus und vor allem seiner Rückwirkung auf die ökonomischen Widersprüche unterbelichtet sei. Als rühmliche Ausnahme bezieht er sich auf Gramsci, der mit dem Begriff der Hegemonie „ein bemerkenswertes Beispiel für die Skizze einer theoretischen Lösung des Problems der wechselseitigen Durchdringung der Ökonomie und der Politik“ (34) aufgezeigt habe.

Mit seiner späteren „Theorie der ideologischen Staatsapparate“ begründete Althusser denn auch, warum die Subjektbildung im entwickelten Kapitalismus immer nur im Rahmen der beschriebenen überdeterminierten Widersprüche erfolge, eine selbstbestimmte Subjektivität nur selbst wieder ideologische Konstruktion sein könne. Im entwickelten Kapitalismus könne es nur in außergewöhnlichen Situationen von Brüchen zwischen diesen Strukturen dazu kommen, dass revolutionäre Praxis in jeweils ganz besonderer gesellschaftsspezifischer Form in jeweils zu analysierenden besonderen Kräften auf die Bühne tritt – ein allgemeines Modell wie die Errichtung der proletarischen Diktatur auf der Basis von Räteherrschaft à la Oktoberrevolution gebe es dann natürlich nicht.

Althussers „Austreibung von Hegel“ aus dem dialektischen Materialismus endet also eigentlich bei Kant: Die gesellschaftliche Wirklichkeit sei nur in Teilstrukturen erkennbar. Dahinterstehende, übergreifende Tendenzen zu ergründen wäre „unwissenschaftlich“, ein allgemeines Subjekt der Geschichte gebe es nicht, sondern in Ereignissen des revolutionären Bruchs, die aufgrund der kontingenten Anhäufung einer Vielzahl von Strukturproblemen möglich würden, seien jeweils spezifische soziale und politische Kräfte zu revolutionärer Praxis fähig.

Es ist hier nicht der Platz, eine ausführlichere Kritik dieser strukturalistischen Revision des dialektischen Materialismus auszuführen. Es sollen hier die wichtigsten Kritikpunkte, wie sie für das Verständnis einer auf die Oktoberrevolution bezogenen marxistischen Revolutionsauffassung zentral sind, angeführt werden:

  • Indem Althusser den „Widerspruch“ aus dem Kernbereich der Ökonomie in Gegensätze der verschiedenen Teilsysteme einer Gesellschaftsformation verlegt, die sich zum Widerspruch verschärfen können, verkennt er die grundlegende Dynamik des in den Grundlagen des Kapitals selbst angelegten Widerspruchs. Im Nachwort zur zweiten Auflage von „Das Kapital“, in dem Marx seinen Bezug auf die Hegel’sche Dialektik begründet, betont Marx gerade, dass sich „die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft“ am schlagendsten in der Tendenz zur verallgemeinerten Krise zeige (35). Diese Tendenz sei die konkrete Form der Revolte der sich im Kapitalismus entwickelnden Produktivkräfte gegen die Fesseln der bürgerlichen Produktionsverhältnisse. Damit ist allerdings ein umfassender Rahmen gegeben, der alle Teilwidersprüche – unmittelbare ökonomische Klassenkämpfe, politische und soziale Auseinandersetzungen im Inneren und Äußeren, ideologische und institutionelle Erschütterungen etc. – zu einer „Totalität“ verbindet. Eine fundamentale Krisenperiode, wie sie der Oktoberrevolution vorausgegangen ist, ist keine „Einmaligkeit“ mit ganz „besonderer historischer Spezifik“. Krisenperioden, in denen von der Ökonomie bis zu den politischen und ideologischen Strukturen alles Bestehende grundsätzlich in Frage gestellt ist, sind für die bürgerliche Gesellschaft vielmehr notwendig wiederkehrende Bedrohung.
  • Die Behauptung, eine von den ökonomischen Grundwidersprüchen ausgehende allgemeine historische Dynamik anzunehmen, sei bloßer Hegel’scher „Geschichtsmystizimus“, verkennt, dass der dialektische Materialismus gerade die revolutionäre, subjektive Seite der Hegel’schen Dialektik in seinem System aufgehoben hat: Das Scheitern der Ideen und Ansprüche (z. B. des Freiheitsideals) an der Wirklichkeit führt gerade zur Frage eines Subjekts, eines Standpunktes, von dem aus dieses Scheitern nicht nur verstanden, sondern auch überwunden werden kann. Die materialistische Geschichtsauffassung gipfelt gerade darin, dass die objektiven historischen Voraussetzungen für einen solchen Standpunkt mit der Entwicklung der entscheidendsten Produktivkraft im Kapitalismus gegeben sind: im Klassenstandpunkt des Proletariats. Dies ist kein „Geschichtsmystizismus“, sondern darin begründet, dass mit dem Proletariat zum ersten Mal in der Geschichte eine Klasse die Herrschaft erobern kann, die die Grundlagen aller gesellschaftlichen Praxis selbst produziert und somit deren selbstbestimmte Gestaltung bewusst angehen kann.
  • Kern der materialistischen Umkehrung Hegels ist nicht wie bei Althusser eine neuerliche Trennung von Theorie und Praxis, eine bei Althusser wiederum vollzogene bloß betrachtende, analysierende Gesellschaftskritik. Die Alternative ist nicht, dass ein mystischer „Geist der Weltrevolution“ die Geschichte antreibe, sondern dass das Proletariat als revolutionäre Klasse tatsächlich zum bewussten Subjekt des geschichtlichen Handelns werden kann. Das ist die revolutionäre Praxis, in der sich der Klassenstandpunkt des Proletariats verwirklichen kann. D. h., das Proletariat ist nicht mehr nur Resultat verschiedenster objektiver Prägungen, ist nicht nur Resultat seiner ihm selbst entfremdeten Produkte seiner Arbeit, sondern zugleich in der Lage, eine Gesellschaft hervorzubringen, in der es seine Zwecke selbst bestimmen und die Folgen seiner Entscheidungen auch vorhersehen kann. In seiner revolutionären Praxis drückt sich daher das Verständnis sowohl der Grundlagen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft, der notwendigen Handlungen zu ihrer Überwindung als auch die Möglichkeit einer selbstbestimmten sozialistischen Gesellschaft aus.
  • Die Behauptung, der Kapitalismus in entwickelten kapitalistischen Ländern würde Hegemonie-Mechanismen entwickeln, die ihn widerstandsfähig gegen allgemeine Krisenperioden und fähig zur Integration aller Oppositionskräfte machen würden, ist nicht nur eine Revision der marxistischen Krisentheorie. Sie verkennt auch die Bedeutung des subjektiven Faktors: Ob das Proletariat tatsächlich in der Lage ist, die von seinem Klassenstandunkt aus mögliche revolutionäre Praxis erfolgreich umzusetzen, hängt davon ab, ob es in der Lage ist, tatsächlich in der Praxis die Frage von „Staat und Revolution“ zu lösen, also die Krise für die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, die Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht, die Durchsetzung der eigenen politischen Hegemonie gegenüber den Integrations- und Repressionsmöglichkeiten der Bourgeoisie zu nutzen. Gerade die Frage, warum die Ausdehnung der Revolution über Russland hinaus nach 1917 nicht gelang, zeigt eher nicht, dass es sich hier um eine Frage von „Bewegungs- oder Stellungskrieg“ handelte – sondern vor allem um eine Frage der Entwicklung des subjektiven Faktors, der revolutionären Praxis und Führung der ArbeiterInnenbewegung in Westeuropa.

Poulantzas als der Anti-Lenin – Transformation als „dritter Weg“

Die „Transformationstheorie“ sucht heute einen „dritten Weg“ zwischen Reform und Revolution. Nachdem unter Berufung auf Gramsci behauptet wird, dass die „Bewegungskriegstaktik“ der Oktoberrevolution für die entwickelten kapitalistischen Länder mit ihren komplexen Zivilgesellschaften und der durchgreifenden bürgerlichen Hegemonie nicht geeignet sei, wird als eine Taktik des Stellungskrieges die langwierige „Transformation“ des Kapitalismus vorgeschlagen, die durch immer radikalere Reformen und Aufbau von „Gegen-Hegemonie“ irgendwann in eine sozialistische Demokratie umschlagen werde.

Die theoretische Gründungsfigur dieses Transformationskonzeptes ist sicherlich Nicos Poulantzas, der auch explizit die VordenkerInnen in Linkspartei und DKP von Demirovic, Candeias bis Mayer und Schuhler methodisch geprägt hat.

Tatsächlich läßt sich Poulantzas‘ „Staatstheorie“ geradezu als Anti-Buch zu Lenins „Staat und Revolution“ lesen.

Poulantzas‘ Analyse des Staates im Kapitalismus steht in der Tradition der „Verwissenschaftlichung“ und „Entmystifizierung“ des Marxismus, wie sie hier schon am Beispiel von Althusser dargestellt wurde. So lehnt Poulantzas die „historisierende“ Herleitung des Staates aus der Entstehung von Klassengesellschaften und der daraus folgenden Notwendigkeit der politischen Absicherung von Klassenherrschaft ab. Die Reduktion des Staates auf dessen Klassen-Herrschaftsfunktion, die sich um den Kern des Gewaltapparates gruppiert, wie sie der „traditionelle Marxismus“ lehre, verkenne die verschiedenen Staatsfunktionen und die komplexe Überlagerung verschiedener Strukturen, die den Staat ausmachten. Der Staat basiere zwar auf den kapitalistischen Produktionsverhältnissen, habe aber unterschiedliche materielle Apparate und geistige Potenzen, die sich in jeweils besonderer Weise mit diesen Produktionsverhältnissen verbänden. So erklärt Poulantzas etwa, dass sich aus der verstärkten Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Kapitalismus ergebe, dass sich immer mehr Funktionen der Wissenschaftsproduktion, -vermittlung, der intellektuellen Verarbeitung, der Informations- und Analysefunktionen etc. in den öffentlichen Raum verschöben und daher in staatliche oder halbstaatliche Apparate hineinwüchsen. Genauso würden immer mehr Bereiche des unmittelbaren Alltagslebens, auch durch Institutionalisierung von z. B. kommunalen oder regionalen Konfliktlösungsprozeduren, vom Mitwirken im Staat durchzogen. Dazu komme im entwickelten, immer mehr der Krisenbewältigung dienenden Staat eine größer werdende unmittelbare ökonomische Funktion des Staates, ob in staatlichen Industrien oder im Finanzbereich.

Alle diese Faktoren (Poulantzas entwickelt natürlich noch viel mehr) sollen zeigen, dass der Repressionskern des Staates bloß einer unter vielen Strukturelementen ist. Wie auch schon bei Althusser kommt dazu, dass der Staat selbst auch wieder zu einem Moment der Bestimmung der Basis, also der Produktionsverältnisse selbst werde: „Der Staat spielt also eine entscheidende Rolle in den Produktionsverhältnissen und im Klassenkampf, insofern er von Anfang an in ihrer Konstitution und Reproduktion präsent ist“ (36).

Die Betonung der „konstitutiven Rolle“ des Staates für die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wie auch für die Mechanismen der Austragung von Klassenkämpfen bedeuten, dass die ökonomischen Machtverhältnisse und Konfliktaustragungen im Kapitalismus immer einen bestimmten staatlichen Rahmen voraussetzten, der mit dieser Rahmensetzung zugleich sowohl das Bestehen als auch die systemkonforme Transformation dieser Verhältnisse garantiere. Poulantzas lehnt daher das „übliche marxistische“ Vorgehen ab, den Staat und die „eigentliche dahinter stehende Macht“ zu trennen. Der Staat sei kein reines „Instrument“, sondern in seiner Verschränkung mit dem Prozess der Kapitalreproduktion zugleich eine der Materialisierungen von „Macht“ im Kapitalismus: „Jede Macht … existiert nur in materiellen Apparaten… Diese Apparate sind nicht einfach Anhängsel der Macht, sondern beeinflussen sie in konstitutiver Weise: Der Staat selbst spielt eine organische Rolle in der Machtbeziehung von Klassen“ (37). Hier kommen wir also bei der Umkehrung von Engels‘ materialistischer Herleitung der Entfremdung staatlicher Machtstrukturen aus Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen an: Die immer komplexere Entwicklung von staatlichen Strukturen und die sich in ihnen ausdrückenden Konflikte würden zur Grundlage der Entwicklung von Klassenherrschaft.

Insofern wird auch klar, dass Poulantzas die Strategie der Zerschlagung des Staates (des Kapitals) und seine Ersetzung durch eine neue Form von rätedemokratischem Halbstaat nicht teilen kann: „Die Analyse und die Praxis von Lenin durchzieht eine prizipielle Linie: Der Staat muss en bloc durch einen frontalen Kampf in einer Situation der Doppelmacht zerstört, und durch eine zweite Macht, die Sowjets, ersetzt werden, deren Herrschaft kein Staat im eigentlichen Sinn mehr wäre, weil er bereits ein absterbender Staat sei“ (38). Dabei „reduziere“ Lenin den Staat in der Gleichsetzung von repräsentativer Demokratie und Macht des Kapitals auf die „Diktatur der Bourgeoisie“. Dagegen behauptet Poulantzas: „Der kapitalistische Staat wird dabei als bloßes Objekt oder Instrument betrachtet, das von der Bourgeoisie, deren Produkt er ist, nach Belieben manipuliert werden kann – man gesteht ihm keine inneren Widersprüche zu. Ebenso wenig wie die Kämpfe der Volksmassen in ihrer Opposition gegenüber der Bourgeoisie einer der Faktoren der Konstitution dieses Staates sein könnten (z. B. im Fall der Durchsetzung repräsentativer Demokratie), könnten sie den Staat selbst durchziehen, der als monolithischer Block ohne Risse begriffen wird. Die Klassenwidersprüche liegen zwischen dem Staat und den dem Staat von außen gegenüberstehenden Volksmassen – bis zu jenem Krisenpunkt der Doppelherrschaft, jenem Moment, in dem der Staat de facto durch die Zentralisierung von Paralellmächten, die zur realen Macht werden (die Sowjets), vernichtet worden ist“ (39).

Konsequenzen der Revision

Hier wird kristallklar, wohin die Revision der marxistischen Staatstheorie und die strukturalistische Widerspruchstheorie führen: Statt die gesellschaftlichen Widersprüche als Grundlage des Klassenstaates zu verstehen und den Klassenstaat im Kern als ein durch alle Klassenherrschaften hindurch immer mehr verfeinertes Herrschaftsinstrument zu sehen, wird der Staat selbst zu einem aus vielen, in Widersprüchen miteinander stehenden Strukturen, die konstitutiv für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte sind. Damit lässt sich der Staat, der alle gesellschaftlichen Ebenen durchzieht und wesentlicher Bestandteil der erreichten gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist, für Poulantzas auch nicht einfach durch etwas ganz Neues ersetzen. Der Versuch, die erreichte staatlich vermittelte Vergesellschaftung durch Sowjets zu ersetzen, müsse in der mangelhaften Widerspiegelung der gesellschaftlichen Komplexität und der damit verbundenen Auseinandersetzungen enden – womit die Basisdemokratie dann zwangsläufig durch autoritären Etatismus überholt werden müsse, da ja repräsentative Demokratie zerschlagen wird. Poulantzas nimmt Luxemburgs Kritik an der Zerschlagung der konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki wieder auf: Da die Sowjets nicht wirklich zur sozialistischen Transformation in der Lage gewesen wären, hätten Elemente der repräsentativen Demokratie die daraus notwendig gewordene Rückkehr zu administrativer Staatlichkeit ergänzen müssen.

Hier sind zwei wesentliche Revisionen des Leninismus enthalten: Erstens wird davon ausgegangen, dass „komplexe, entwickelte kapitalistische Staaten“ gar nicht wirklich durch Räteherrschaft in eine neue Staats-Funktionsweise umgewandelt werden können. Es wird entsprechend behauptet, Ziel sei weniger die tatsächliche Hervorbringung des proletarischen Rätehalbstaates, als vielmehr die Machteroberung im Staat selbst: „Es geht im Grunde gar nicht um eine Transformation des Staatsapparates: Zuerst ergreift man die Staatsmacht, sodann stellt man eine andere Macht an ihre Stelle“ (40).

Zweitens wird damit das Verhältnis von „Umwandlung des Staatsapparates“ und Machteroberung umgekehrt: Poulantzas spricht von einem „langen Prozess“ der Veränderung der Klassenverhältnisse innerhalb des Staates, der „eine gleichzeitige Transformation seiner Apparate“ umfasse: „Die radikale Transformation des Staatsapparates auf einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als ‚Zerschlagung‘ oder ‚Zerstören‘ dieses Apparates bezeichnet“ (41). Denn dies würde eine vorschnelle Beseitigung von Mechanismen wie z. B. der repräsentativen Demokratie bewirken, die jedoch für die Umgestaltung noch wesentlich seien. Andererseits müssten immer mehr Elemente des entfremdeten Parlamentarismus durch unmittelbare Beteiligung der Massen und basisdemokratische Strukturen ersetzt werden. Man müsse also noch im Rahmen der Kapitalherrschaft mit der Perspektive der Vergesellschaftung und des Absterbens des Staates beginnen.

Poulantzas ist sich dabei durchaus bewusst, dass die Vermeidung der Machtfrage die Gefahr des Reformismus bzw. der raschen Repression und Vernichtung aller „Transformationen“ durch die gegnerischen Klassenkräfte in sich birgt. Im Unterschied zu anderen „TransformationistInnen“ sieht Poulantzas daher die Veränderungen im Repressivapparat selbst als zentrales Element der „Bildung von Widerstandszentren im Staatsapparat“ an (und im Mangel davon den Grund des Scheiterns der Volksfront in Chile 1974).

Letztlich werde die „radikale Transformation“ zu einem langwierigen Prozess der „Kräfteverschiebung“ im Zwischenraum Staat-Klassenkämpfe, der über verschiedene „Linksregierungen“ durch viele Rückschläge hindurch zu einer immer breiteren Verankerung für die sozialistische Umgestaltung führe. Dies setzt Poulantzas der „Strategie der Ergreifung der Staatsmacht“ entgegen, die angesichts der fehlenden Umwandlung der gesellschaftlichen Strukturen nur entweder im sozialdemokratischen Reformismus oder im stalinistischen Etatismus enden könne. Bei der kontinuierlichen Transformation handle es sich dabei nicht um eine Anhäufung von Reformen, sondern um Reformen, die über das System hinausgingen.

„Das innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung ‚effektiver Brüche‘, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig ein solcher Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt“ (42).

Dies sei dann der Punkt, an dem tatsächlich Organe der proletarischen Selbstorganisation den alten Staat durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen – wobei Poulantzas nicht davon ausgeht, dass dieser Prozess „friedlich“ abläuft: „Es wäre falsch… aus der Präsenz der Volksklassen im Staat zu schließen, dass sie ohne eine radikale Transformation dieses Staates dort Macht besitzen oder auf lange Sicht behalten können. Die internen Widersprüche des Staates implizieren kein ‚widersprüchliches Wesen’…. nicht… eine Situation von Doppelherrschaft in seinem Inneren …. Selbst wenn sich das Kräfteverhältnis und die Staatsmacht zugunsten der Volksklassen verändern sollten, tendiert der Staat mehr oder weniger langristig dahin, das Kräfteverhältnis, manchmal in anderer Form, zugunsten der Bourgeoisie wiederherzustellen“ (43). Somit sieht Poulantzas die Aktionen und Reformen innerhalb des Staates nur als „hinreichende Bedingung“ der Transformation, die Selbstorganisation und Entwicklung rätedemokratischer Alternativen als notwendige Bedingung, die wohl oder übel an einem Punkt in gewaltsamen Konflikt mit den herrschaftssichernden Mechanismen des bestehenden Staates kommen würden: „Der Prozess bietet auch dem Gegner mehr Möglichkeiten, entweder das Experiment des demokratischen Sozialismus zu boykottieren oder aber brutal zu intervenieren, um ihm ein Ende zu setzen. Der demokratische Weg zum Sozialismus wird sicherlich kein friedlicher Weg sein“ (44).

In Verteidigung des Modells Oktoberrevolution

Wie leicht zu sehen ist, greift Poulantzas in neuem theoretischen Begründungszusammenhang die alten Diskussionen um die Fragen von Räteherrschaft, repräsentativer Demokratie und Diktatur des Proletariats wieder auf, wie sie angesichts der Oktoberrevolution innerhalb der Tradition der Zweiten Internationale geführt wurden: Natürlich erinnert die „Transformationsstrategie“ an Kautskys Vorstellung in „Der Weg zur Macht“, wo er die Koexistenz von Rätestrukturen und einer weiterhin parlamentarisch bestimmten Regierung, die langsame Umformung des Staatsapparates bis zum Umschlag der Kräfteverhältnisse skizziert. Erst dann könnten die unmittelbare Herrschaft des Proletariats und das Absterben des Staates beginnen. Auch hier war Kautsky nur Theoretiker einer vielfältigen, in verschiedenen Fraktionen der Rätebewegung vorherrschenden Vorstellung von einer langfristigen Transformationsperiode, in der die Rätebewegung mit fortbestehendem Kapitalismus und mit bloßer Kontrolle über fortbestehende Administrationen des alten Staatsapparates voranschreiten könne.

Die Problematik der Poulantzas’schen Theorie liegt nicht nur in einer undialektischen Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen des Staates, die nicht erkennt, dass die zugrundeliegende gesellschaftliche Dynamik des Kapitalwiderspruchs eine wesentliche Machtverschiebung und Transformation innerhalb des bestehenden Staatsapparates natürlich nicht zulässt und jegliche solche Ansätze in kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehren muss. Sie verkennt auch die Frage des Subjekts der „Transformation“, die weitgehend als objektiver Prozess einer parallelen Reformpolitik und spontaner Selbstorganisation angesehen wird. Die Frage, wie schon dargestellt, ist aber: Mit welchem Bewusstsein, mit welchem Verständnis des Prozesses und seiner Zielsetzung wird dies von den beteiligten Massen vorangetrieben? Wie am Beispiel der Novemberrevolution oder der italienischen Rätebewegung dargestellt, war selbst das Bewusstsein der fortgeschrittensten ArbeiterInnen bzw. von subjektiv gutwilligen RevolutionärInnen der politisch agierenden ArbeiterInnenorganisationen weit entfernt von Klarheit über die Notwendigkeiten des Moments der gesellschaftlichen Zuspitzung, und das bedeutet in der Konsequenz den sicheren Weg in die Niederlage.

Das weiterhin von den kapitalistischen Zuständen geformte Bewusstsein der Unterdrückten, die Herrschaftsinstrumente zu dessen Befestigung, letztlich die Entschlossenheit der Bourgeoisie, „stabile Verhältnisse“ so schnell wie möglich wiederherzustellen, geben dem Proletariat ohne Machteroberung keine „lange Periode“, in der es langsam selbstorganisierte Vergesellschaftung, Entwicklung von Produktionskontrolle etc. ausprobieren und dabei dann langsam sich auch in Denken und Handeln von der kapitalistischen Prägung befreien könnte. Weitaus mehr und öfter als die „Strategie der Machteroberung“ zur Ermöglichung von Räteherrschaft hat sich bisher die „Strategie der Transformation“ als Utopie und sicherer Weg in die Niederlage erwiesen. Und ein Sieg der Konterrevolution, eine Niederlage von Hoffnungen, auf selbstbestimmte Weise seine Probleme lösen zu können – das führt nicht einfach zu einem Einfrieren des Kräfteverhältnisses im Sinne des Stellungskrieges. Solche Niederlagen sind zumeist auch Wendepunkte die, kombiniert mit reaktionären, konterrevolutionären Bewegungen, auch die Unterdrückten spalten und Nährboden für reaktionäre subjektive Lösungen wie Chauvinismus und Faschismus sind.

Poulantzas‘ Warnung davor, dass die Machteroberungsperspektive die Tendenz zu autoritärem Etatismus enthält, verkürzt seinerseits die „Transformationsperspektive“ der Diktatur des Proletariats. Es ist gerade die Erkenntnis, dass die wirkliche Umgestaltung von Ökonomie und gesellschaftlichen Verhältnissen von den bestehenden staatlichen Apparaten mit aller Macht hintertrieben wird. Dies muss dazu führen, ihnen einen radikal neuen Typ von Demokratie entgegenzusetzen: eine Demokratie, die auf Grund ihrer Verbindung zu den unmittelbaren Produktionsagenten tatsächlich gesellschaftliche Veränderungsmacht hat. Gleichzeitig ist sich die Perspektive der Rätemacht, wie auch gezeigt wurde, durchaus bewusst, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Räte und die Vielfalt der staatlichen Aufgaben, die nicht unmittelbar und sofort überall durch Räte administriert werden können, dazu führen, dass der Rätestaat zunächst sogar zu einer Vergrößerung staatlicher Apparate führen kann. Die Frage des Abbaus und der Kontrolle dieser staatlichen Apparate ist sicherlich das Hauptproblem einer Übergangsgesellschaft zum Sozialismus. Und sicherlich ist die Sowjetunion mit der baldigen Degeneration ihres Rätesystems an dieser Aufgabe vollständig gescheitert. Dies heißt nicht, dass durch ein z. B. parlamentarisches Korrektiv zur „Sowjetmacht“ dieses staatlich-bürokratische Übergewicht wahrscheinlich vermieden worden wäre. Die schwierige Situation der Sowjetunion mit Bürgerkrieg, Blockaden und Hungersnöten hätte unter Fortbestestand einer Doppelmacht mit parlamentarischer Vertretung der Bourgeoisie wahrscheinlich bald zu einer Konterrevolution geführt, die in einer schrecklichen faschistischen Diktatur geendet hätte, sicher keine positivere Alternative.

Tatsächlich haben z. B. die Diskussionen in der Novemberrevolution gezeigt, dass es sehr wohl auch arbeiterInnendemokratische Alternativen gab: so etwa die Konzeption, die auf betrieblichen Räten basierende ökonomische Gesamtplanung zu ergänzen durch ein System politischer Räte, das die bürgerlichen Repräsentativorgane ersetzt als auch politische Kontrolle über die Wirtschaft im ArbeiterInnenstaat ausübt. Auch wenn die Perioden erfolgreicher Räteherrschaft bisher nicht sehr lange dauerten, so sind doch die geschichtlichen Erfahrungen eindeutig: Ohne Machteroberungsstrategie, ohne Diktatur des Proletariats keine wirkliche Räteherrschaft. Ohne sich entwickelnde Räteherrschaft, ohne immer umfassender werdende ArbeiterInnendemokratie keine nachhaltige sozialistische Umgestaltung, kein Übergang zum Sozialismus. Insofern bleibt die Oktoberrevolution von 1917 das bisher einzige erfolgreiche Modell einer sozialistischen Revolution. Durch das Scheitern der Sowjetunion nach ihrer bürokratischen Degeneration und der schließlich erfolgten Restauration des Kapitalismus bleibt sie für uns heute, ähnlich wie die Pariser Kommune von 1870/71, eine unumstößliche theoretische Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung: Jede zukünftige proletarische Revolution wird auf dem grundlegenden Konzept von Machteroberung und Räteherrschaft von 1917 aufbauen müssen und den unermesslichen Erfahrungsschatz dieser Revolution und der folgenden weltweiten Bewegung als Grundlage der Fortentwicklung des revolutionären Marxismus nutzen.

Die Oktoberrevolution als neue Entwicklungsetappe des Marxismus – Lukács und Korsch

Im Sinn der letzten Bemerkung haben zwei andere intellektuell sehr wirksame marxistische Theoretiker die Oktoerrevolution und das Scheitern ihrer Ausdehnung nach Westeuropa interpretiert: György Lukács und Karl Korsch. Althusser erwähnt sie an der Stelle, an der er sich lobend über Gramsci äußert, mit dem „Gott sei bei uns -Hegelianer!“-Schuldspruch. Dabei haben beide wesentlich treffendere theoretische Analysen der Problematik geliefert als Gramsci – zum Teil wohl auch deshalb, weil ihre wesentlichen Beiträge dazu schon 1923 veröffentlicht wurden, als die kommunistische Bewegung noch nicht derart degeneriert war wie zu dem Zeitpunkt von Gramscis Gefängnisheften.

Auch wenn Lukács und Korsch von ihren Gegnern (z. B. Sinowjew) gerne als „rote Professoren“ abgetan wurden (Korsch war Arbeitsrechtsprofessor, Lukács ein bekannter Literaturkritiker), so waren sie durchaus auch revolutionäre Praktiker: Lukács war nicht nur Volkskommissar für Erziehung und Kultur in der kurzlebigen ungarischen Räterepublik von 1919 – er befehligte als Politkommissar außerdem eine Division der ungarischen Roten Armee gegen die Invasion aus Rumänien und der Tschechoslowakei, die von den Entente-Mächten zur Niederschlagung der Räterepublik benutzt wurde. Korsch war ein Sprecher des ArbeiterInnen- und Soldatenrates seiner Heimatstadt und gehörte der Sozialisierungskommission für den deutschen Bergbau während der Novemberrevolution an; später wurde er in der kurzlebigen ArbeiterInnenregierung in Thüringen 1923 Justizminister für die KPD und war Mitorganisator für die proletarischen Hundertschaften. Die beiden zentralen Werke „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (45) von Lukács und „Marxismus und Philosophie“ (46) von Korsch betonten vor allem eines: wie sich mit der Oktoberrevolution und der folgenden revolutionären Welle das Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte herausgebildet hat, wie der Leninismus zum Ausdruck dieser neuen Subjektivität geworden ist – und dass das Scheitern der Revolution außerhalb Russlands vor allem Resultat des Versagens der Führungen in entscheidenen historischen Momenten war. Korsch entwickelt in „Marxismus und Philosophie“, dass mit der Oktoberrevolution eine „dritte Entwicklungsperiode“ des Marxismus (nach der Gründungsperiode und der Periode der Zweiten Internationale) eingesetzt habe. Während sich der vorherrschende Marxismus der Zweiten Internationale dem Problem von Staat und Revolution nur abstrakt genähert habe, kündigt Lenins „Staat und Revolution“ nicht einfach eine „Wiederbesinnung“ auf die Klassik an, sondern die Konkretisierung der Frage von Zerschlagung des bürgerlichen Staates und Errichtung der proletarischen Diktatur. Mit der Einbeziehung dieser Fragen in die revolutionäre Praxis des Proletariats erweisen sich die aus der Vorperiode überkommenen staatssozialistischen Vorstellungen von Kautsky bis weit auch in die Reihen der Komintern hinein als wesentliches subjektives Hindernis. Lenins Polemik dagegen war auch in ihrer Schärfe berechtigt, um den richtigen Weg aufzuzeigen.

Nachdem die Betonung auf subjektive Fehler und die vielfache Übernahme alter Lehren der Zweiten Internationale auch ganz offen als Kritik an Fehlern der Komintern-Führung zu verstehen war, wurden beide Werke speziell von Sinowjew und im Gefolge dann von mehreren subalternen bezahlten Theorie-Bürokraten als „Subjektivismus“ verurteilt bzw. ins „ultralinke“ Eck gestellt.

Lukács hat auf die Kritik in einer Verteidigungsschrift mit dem Titel „Chvostismus und Dialektik“ geantwortet, die hier von besonderem Interesse ist. Als Kritiker von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ fuhr die Komintern Deborin und Rudas auf. Insbesondere László Rudas war ein Kampfgenosse von Lukács aus der Räterepublik in Budapest, war aber inzwischen in Moskau zu einem Vertreter der sich etablierenden stalinistischen Schulphilosophie geworden. Deborin und Rudas gehörten zu den Vorläufern der Verflachung des Marxismus mit den bekannt-berüchtigten Schemata des DiaMat, auch wenn Deborin selbst ab 1930 zum Opfer stalinistischer Säuberungen wurde, als er sich weigerte, Stalins Autorität in philosophischen Fragen anzuerkennen (47).

Ähnlich wie die Adepten von Gramsci und Co. begründete auch schon Rudas, warum die ungarische Räterepublik unbedingt scheitern „musste“. Hier war es aber nicht die „Hegemonie“ oder die „Unterschätzung der Tiefe der Verteidigungslinien der Bourgeoisie“, hier waren es die „ungünstigen objektiven Bedingungen“ (die Lieblingsbegründung aller stalinistischen Bürokraten für „Rückschläge“). Dies wurde gegen Lukács angeführt, der darauf beharrte, dass die Verteidigung der Revolution 1919 auch in Ungarn möglich gewesen wäre.

Rudas führt insbesondere drei Faktoren an, an denen die Revolution scheitern musste: die Blockade durch die umliegenden kapitalistischen Staaten, der Verrat der Offiziere und die Ungunst des Territoriums, das eine Verteidigung gegen die Invasion schwierig machte. Lukács erwidert darauf: Ja, die Blockade führte zu Versorungsproblemen – aber die Situation erreichte nicht im Entferntesten die Hungerkatastrophe, die sich im russischen Bürgerkrieg ergab. Problematischer habe sich erwiesen, dass die Versorgungsprobleme auch in den Räten zu einer Verstärkung der sozialdemokratischen Propaganda führten, die versprach, „dass alle Probleme verschwänden, wenn man nur zur Demokratie zurrückkehrt“. Und hier erwies sich auch in Ungarn wieder das Problem, dass sich die KommunistInnen organisatorisch noch nicht von der Sozialdemokratie getrennt hatten.

„Was fatal in der Situation war, war, dass die Arbeiter der Demagogie glaubten – gerade weil ihr keine kommunistische Partei entgegentrat!“ (48). Auch der Verrat der Offiziere war natürlich fatal. „Aber Genosse Rudas als führender Kader musste wissen, dass überall, wo wir verlässliche und fähige Genossen in den Reihen der Armee hatten, die Divisionen standhaft blieben und zum Kampf bis zum Ende bereit waren. War es tatsächlich ‚objektiv‘ unmöglich, für unsere 8 Divisionen (und die entsprechenden Untereinheiten) kommunistische Kommissare und Kommandanten zu finden? Es war unmöglich, weil es keine kommunistische Partei gab, die die Auswahl traf, die Ernennungen durchführte und den richtigen Handlungsplan bestimmte“ (49).

Und zu den ungünstigen militärischen Voraussetzungen bemerkt Lukács: „Ich möchte Rudas daran erinnern, dass der Fall der Räteherrschaft nicht einfach eine militärische Angelegenheit war. Am 1. August befand sich die Rote Armee in einer vielversprechenden Gegenoffensive mit einigen militärischen Erfolgen (…), gerade als die Führung der Räterepublik zurücktrat – eben weil eine kommunistische Partei fehlte“.

Lukács bemerkt dazu, dass natürlich auch das Fehlen einer kommunistischen Partei zum damaligen Zeitpunkt in Ungarn objektive Gründe gehabt habe, aber diese „Objektivität“ habe auch mit einer Reihe subjektiver Momente zusammengehangen, die zu dieser Entwicklung geführt hätten. Die dialektische Herangehensweise verbietet eben gerade die mechanische Trennung von Subjekt und Objekt, muss ihre widersprüchliche Verbindung betrachten. In diesem Zusammenhang entwickelt Lukcas die Dialektik von „Prozess“ und „Moment“.

Der subjektive Faktor

Welche Rolle spielt in den durch objektive Faktoren der ökonomischen und sozialen Entwicklung bestimmten gesellschaftlichen Prozessen das Bewusstsein der in ihnen Handelnden? Abgesehen davon, dass die Absichten und Gedanken der Handelnden durch diese objektiven Faktoren nur zu oft hintertrieben oder umgekehrt werden, so ist jedenfalls die Widerspiegelung des Prozesses im Bewusstsein ein wesentlicher Faktor in der Entwicklung des Prozesses. Mit dem Standpunkt des Proletariats als dem des allgemeinen unmittelbaren Produzenten wird es zusätzlich möglich, diese objektiven Faktoren auch tatsächlich zu durchschauen und selbst zu verändern. Gesellschaftliche Prozesse, die auf der Grundlage widersprüchlicher Bedingungen sich entfalten, stellen nun im Allgemeinen nie einfach immer eine „stetige Steigerung“ der Bedingungen bis zu einem objektiven Umschlag in einen neuen Prozess dar:

“Was ist ein Moment? Eine Situation, die länger oder kürzer sein mag, die aber von dem Prozess, der zu ihm geführt hat, sich darin unterscheidet, dass er alle wesentlichen Tendenzen dieses Prozesses zusammenballt und eine Entscheidung verlangt über die zukünftige Entwicklung des Prozesses. Das heißt, dass die Tendenzen einen gewissen Zenit erreichen, und entsprechend dem, wie die Situation gelöst wurde, nimmt der Prozess nach dem Moment eine andere Richtung. Die Entwicklung läuft nicht in der Art einer ständigen Intensivierung, in der die Situation dann mal günstig ist für das Proletariat, und morgen ist sie dann sogar noch günstiger und so weiter. Es bedeutet dagegen, dass an einem bestimmten Punkt die Situation eine Entscheidung verlangt, und morgen mag es schon zu spät sein, noch eine Entscheidung treffen zu können“ (50).

Lukács führt hier verschiedene Aussagen Lenins zur Frage des Aufstands an. So, als Lenin im Oktober 1917 feststellte: „Die Tage, in denen friedliche Kompromisse geschlossen werden konnten, sind vorbei… Die Geschichte wird den Revolutionären nicht verzeihen, wenn sie heute gewinnen können (und natürlich werden wir siegen), und sie morgen schon so viel verlieren können, alles verlieren können“ (51). Mit dem Proletariat als Subjekt-Objekt der Geschichte sei es notwendig, dass solche Wendepunkte, solche Momente, in denen es auf das bewusste, subjektive Eingreifen ankomme, immer wieder in zugespitzten Situationen aufträten. Die kommunistische Partei, als „Form des proletarischen Klassenbewusstseins“ sei der entscheidende Faktor in solchen Momenten, wenn entschlossenes Handeln notwendig ist oder die Konsolidierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse droht. Alles andere wäre Nachtrabpolitik hinter der Erwartung, dass „die Bewegung“ schon kommen werde, dass die Situation jetzt möglicherweise „noch nicht reif ist“, dass man „alles Aufgebaute jetzt nicht gefährden soll“. Lukács kritisiert an dieser Stelle auch Rosa Luxemburgs Vertrauen in die „Spontaneität der Massen“, die kein „bolschewistisches Kommando“ bräuchten – auch dies habe sich als verhängnisvolle Nachtrabpolitik hinter der Hoffnung auf den „objektiven Prozess“ herausgestellt.

Natürlich sei auch die Erwartung, dass der „subjektive Moment“ immer gegeben sei, falsch: Dies führe zu ultralinkem Abenteurertum, bei dem die Frage des Aufstands immer auf der Tagesordnung stehe und eigentlich nur eine Frage der technischen Vorbereitung sei. Lukács verweist hier auf die Entwicklung der Frage des Aufstands bei Lenin: Während die Revolution nach dem Februar beständig auf den Aufstand zugearbeitet habe (Krieg, Hunger, Bauernbewegung, das Schwanken der Herrschenden zwischen Kompromiss und Sammeln der Kräfte für das Zurückschlagen, die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in den Sowjets etc.), sei es entscheidend gewesen, wie sich diese Frage in der ArbeiterInnenklasse entwickelt – im Juli seien die Arbeiter und Soldaten noch nicht bereit gewesen, für den Umsturz „zu kämpfen und zu sterben“. Bis zum Oktober veränderte sich die Situation im Hinblick auf den Aufstand der Klasse : „Nun das stille Verzweifeln der Massen, die fühlen, dass weitere Halbmaßnahmen nichts mehr helfen, dass die Regierung nicht mehr beeinflussbar ist, dass der Hunger alles wegfegen wird, alles anarchistisch zusammenbricht – wenn die Bolschewiki nicht wissen, wie sie uns in den entscheidenden Kampf führen“.

Die Frage der Bewältigung der revolutionären Krisensituation, der sozialistischen Lösung des objektiven gesellschaftlichen Krisenprozesses kulminiert letztlich darin, ob es eine bewusste, politisch organisierte Kraft mit sozialistischem Programm gibt, die auf die entscheidenden Momente des gesellschaftlichen Umschwungs vorbereitet ist oder nicht. Offensichtlich war es das Fehlen einer starken kommunistischen Avantgarde, das in den entscheidenden Momenten in der Novemberrevolution in Deutschland, in den „2 roten Jahren in Italien“ oder in der ungarischen Räterepublik wesentlicher Faktor für die letztliche Niederlage war. Lukács führt als aktuelles Beispiel (sein Text erschien 1923) das Versagen der KPD-Führung im Oktober 1923 an – ein weitaus katastrophaleres subjektives Versagen als 1919. Trotz schwerer politischer und ökonomischer Krise UND einer diesmal vorhandenen revolutionären kommunistischen Partei wurde die Frage des Aufstandes von vorne bis hinten in den Sand gesetzt.

Der subjektive Faktor ist natürlich nicht nur in den entscheidenden Momenten der Zuspitzung von Bedeutung. Viele kleinere Momente zuvor können entscheidende Weichenstellungen dafür sein, ob es denn dann, wenn es darauf ankommt, eine organisierte Avantgarde gibt. Lukács zitiert aus den Thesen zur Organisation des dritten Komintern-Kongresses: „Es gibt keinen Moment, in dem eine kommunistische Partei nicht aktiv ist“, d.h., es gebe eben keinen Moment, in dem der subjektive Charakter des gesellschaftlichen Prozesses völlig fehlt, es daher nicht möglich wäre, aktiv die subjektiven Momente im Prozess zu beeinflussen. Schließlich komme es nach der Machtübernahme noch viel mehr auf das subjektive Moment der kommunistischen Partei an: nicht nur in Fragen des Kampfes gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung, sondern auch an entscheidenden Punkten, in denen es um Weichenstellungen zur Überwindung der Überreste der kapitalistischen Ökonomie geht.

Insofern ist es klar, dass die Erfahrung der Oktoberrevolution die marxistische Revolutionstheorie erweitern muss. Nicht nur die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die Bildung von Räten und die Durchsetzung von Räteherrschaft sind unumgänglich – eine erfolgreiche proletarische Revoltution bedarf auch einer kommunistischen Partei, die sich der revolutionären Aufgaben bewusst ist, die in der Avantgarde der Klasse verankert ist und der es gelingt, im entscheidenden Moment die Mehrheit der Klasse für den Aufstand zu gewinnen.

Natürlich ist Lukács Theorie des Moments das glatte Gegenteil von Gramscis „Stellungskriegsformel“ (zumindest wie dies Gramscis heutige Epigonen verstehen). Die Vorstellung, man könne durch radikale Reformpolitik die bürgerliche Hegemonie graduell schwächen und eigene Bastionen Stück für Stück ausbauen, verkennt nämlich, wie schnell beim Verpassen bestimmter Momente das allgemeine Rollback auch sicher geglaubte „Bastionen“ wieder wegräumt. Man denke nur an den Moment nach dem siegreichen OXI-Referendum in Griechenland 2015 und den Niedergang des Widerstands gegen das EU-Diktat nach dem Einknicken der Syriza-Regierung. Statt dass der „Machterhalt“ der Syriza-Regierung, wie es von den Transformisten erhofft wurde, zu einer „Kräfteverschiebung“ im EU-Krisenregime geführt hat, hat der Verzicht auf das Risiko des zugespitzten Zusammenstoßes mit den EU-Institutionen und die Perspektivlosikeit solcher „linken Alternativen“ inzwischen europaweit eine Kräfteverschiebung nach rechts vorbereitet.

Die Partei und das Klassenbewusstsein des Proletariats

Lukács begründet die zentrale Bedeutung der Partei für die Frage der proletarischen Revolution noch aus einem anderen Aspekt: der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins selbst. Es braucht nicht wiederholt zu werden, dass schon Marx und Engels eine Unterscheidung vornehmen zwischen dem tatsächlichen, empirisch vorhandenen Bewusstsein der einzelnen ArbeiterInnen, „dem, was dieser oder jener Proletarier denkt“, und dem Bewusstsein, das dem Klassenstandpunkt des Proletariats gemäß wäre, „dem, was das Proletariat aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung zu tun gezwungen ist“. Lukács selbst hat in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ eine ausführliche Analyse für die materielle Befestigung bürgerlicher Ideologie in der Klasse geliefert, und zwar durch das Konzept der „Verdinglichung“ – also der mit dem Waren- und Geldfetisch in der kapitalistischen Ökonomie eingeübten Verhaltensweisen, die die Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaft genauso verschleiern, wie sie das gewöhnliche Arbeiterbewusstsein auf Lohnfetisch und den „gerechten“ Staat beschränken.

Dieses Bewusstsein wird nur durch einschneidende historische Erfahrungen, durch Zuspitzung von Kämpfen etc. so erschüttert, dass es aufnahmebereit für eine auf dem eigenen gesellschaftlichen Sein beruhende Gesamtsicht auf die bürgerliche Gesellschaft ist. „Das gesellschaftliche Sein stellt den einzelnen Arbeiter unmittelbar nur in den Kampf mit einem gewissen Kapital, während das proletarische Klassenbewusstsein erst Bewusstsein für sich wird, wenn es das Wissen um die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Totalität einschließt“ (52).

Dies schließt also die Fragen der Politik und des Staates genauso ein wie die Frage der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern wiederholt auch Lukács die Lenin’sche Formel von der Notwendigkeit, das Klassenbewusstsein „in die Klasse zu tragen“ als zentrale Aufgabe der kommunistischen Partei. Natürlich stellt Lukács dazu die Frage, wie die Partei selbst dieses Bewusstsein erlange. Dazu macht er klar, dass die Entwicklung von Klassenbewusstsein ein Prozess ist, in dem Partei und Klasse die bewegenden Momente sind. D. h., dass natürlich auch die Partei nicht von Anfang an „vollständig entwickeltes“ Klassenbewusstsein haben kann, dass es immer wieder Momente gibt, in denen Klassenaktionen weit über das Parteibewusstsein hinausgehen. Dass es also auch hier „Momente“ gibt, in denen wesentliche Entwicklungsschritte sehr schnell vorangehen, während es nach Zeiten der Rückschläge oft nur auf die Bewahrung der Erfahrungen in der kommunistischen Organisation ankommt. Oft sind auch Rückschläge und Niederlagen wesentlich für das Vorantreiben des Klassenbewusstseins, wenn die Ursachen der Niederlage schonungslos erfasst werden (siehe z. B. die große Weiterentwicklung der kommunistischen Auffassungen vom Staat nach der Niederlage der Pariser Kommune).

Als zentrale Errungenschaft des Leninismus erkennt Lukács die Bedeutung von „organisatorischen Formen“ als Vermittlungsformen zwischen dem in aktuellen Arbeiterkämpfen entwickelten Bewusstsein und dem notwendigen Klassenbewusstsein. „Die organisatorischen Formen des Proletariats, allen voran die Partei, sind die tatsächlichen Vermittlungsformen, in denen und durch die sich das Bewusstsein entwickelt, das seinem gesellschaftlichen Sein entspricht“ (53).

Die organisatorischen Formen sind es, in denen sich die vergangene Erfahrung der Klasse genauso verkörpert wie die Entwicklung der eigenen Stärke in aktuellen Kämpfen. Durch das Aufstellen von Forderungen, die den unmittelbaren Klasseninteressen entsprechen, kann sich das Proletariat in der Erfahrung der Kampfergebnisse ein immer besseres Verständnis der eigenen Lage und der notwendigen nächsten Schritte erarbeiten. Letztlich ist es das Programm der Partei, das für den gegenwärtigen Moment die zentralen Forderungen, Lehren und organisatorischen Aktivitäten zusammenfasst, das den höchsten Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins zum Ausdruck bringen muss. Lukács zitiert hier Lenin: „Wir Kommunisten sind ein Tropfen im Ozean des Volkes. Wir können nur führen, wenn wir ihm den richtigen Weg aufzeigen“.

Die erste Antwort auf die Frage nach der Aktualität des „Modells Oktoberrevolution“ ist also: Es ist nicht eine Frage der besonderen objektiven Bedingungen oder der außerhalb des zaristischen Russlands schon viel entwickelteren „Zivilgesellschaft“ und der in „entwickelten Kapitalismen“ ungeheuer ausgebauten Hegemonie-Mechanismen, die seither eine Wiederholung des „Oktober-Ereignisses“ so schwierig gemacht haben – es ist vor allem eine Frage des subjektiven Faktors, d.h. die Frage einer den objektiv krisenhaften Bedingungen gewachsenen revolutionären kommunistischen Partei, die in der Lage wäre, die revolutionären Massen auch zu führen. Diese Betonung der Bedeutung einer das proletarische Klassenbewusstsein in entschlossener, revolutionärer Praxis zum Ausdruck bringenden Partei ist der entscheidende Bruch mit der Tradition des Marxismus der Zweiten Internationale.

Auch die linkesten TheoretikerInnen aus letzterer Tradition wie Rosa Luxemburg waren zwar keine VertreterInnen einer „Spontaneitätstheorie“, die ihnen später untergeschoben wurde. Sie vertrauten aber darauf, dass der Druck der objektiven Entwicklung und die spontane Radikalisierung der Massen die gesamte ArbeiterInnenbewegung nach links, zur Revolution stoßen würde – entweder indem sie die zögerlichen FührerInnen zu mehr Entschlossenheit treiben oder rasch durch geeignetere ersetzen würde. Das erklärt auch, warum bei Luxemburg einerseits sehr früh überaus weitsichtige und pointierte Kritiken am Revisionismus wie auch am „marxistischen Zentrum“ Kautskys zu finden sind, andererseits aber viel später und inkonsequenter ein Bruch mit dem sich formierenden Reformismus erfolgt.

Im 1909 erschienenen „Der Weg zur Macht“, also beim „orthodoxen“ Kautsky, bleibt die Frage offen, auf welche Organe sich die Regierung in einer Revolution und beim Übergang zum Sozialismus stützen solle. Den größten Teil des Buches widmet Kautsky vielmehr der Darstellung der objektiven Entwicklungstendenzen, die den Eintritt in eine neue Periode der revolutionären Umwälzung verkünden würden. Programmatisch bleibt der Text aber gerade angesichts dieser Prognose äußerst vage. Als einziges klares Ziel wird die „demokratische Republik“ formuliert, für das in der kommenden Periode auch mit revolutionären Mitteln (Generalstreik) gekämpft werden müsse, was schon allein heftige Ablehnung von Seiten des Parteivorstandes und der Gewerkschaftsführungen hervorrief.

Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kausky selbst eine Regierung auf parlamentarischer Ebene nicht ausgeschlossen hat, sondern im Grunde auch als Ergebnis einer „Revolution“ nahegelegt. Die Lehren der Kommune spielen in „Der Weg zur Macht“ eigentlich keine Rolle. Die Revolution und der Übergang zum Sozialimus werden vielmehr als eine langgezogene Periode gradueller Machtverschiebungen im Staat vorgestellt: „Anfangs der neunziger Jahre habe ich anerkannt, dass eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des proletarischen Klassenkampfes auf den gegebenen staatlichen Grundlagen das Proletariat in der Situation jener Zeit am weitesten vorwärts bringe. Man wird mir also nicht vorwerfen können, es sei das Bedürfnis, mich in Rrrevolution und Rrradikalismus zu berauschen, wenn mich die Beobachtung der heutigen Situation zu der Anschauung führt, dass die Verhältnisse seit dem Anfang der neunziger Jahre gründlich geändert sind, dass wir alle Ursache haben, anzunehmen, wir seien jetzt in eine Periode von Kämpfen um die Staatseinrichtungen und die Staatsmacht eingetreten, Kämpfen, die sich unter mannigfachen Wechselfällen durch Jahrzehnte hinziehen können, deren Formen und Dauer vorläufig noch unabsehbar sind, die aber höchst wahrscheinlich bereits in absehbarer Zeit erhebliche Machtverschiebungen zugunsten des Proletariats, wenn nicht schon seine Alleinherrschaft in Westeuropa herbeiführen.” (54)

Im Gegensatz zu späteren Schriften schließt Kautsky 1909 noch jede Koalition mit bürgerlichen Parteien kategorisch aus, aber auch in seiner „orthodoxen Phase“ wird die Revolution als eine lang gezogene Reihe von „Kräfteverschiebungen“ gedacht, in der es dem Proletariat vor allem darum gehen müsse, immer organisierter zu werden, den Staat immer mehr zu demokratisieren und „verfrühte“ Zusammenstöße zu vermeiden. Im Wesentlichen kehrt der „Transformationismus“ zu diesen Ideen Kautskys zurück.

Lenin und die Bolschewiki haben auf dem Weg zur Oktoberrevolution radikal mit diesem Gradualismus, dieser Nachtrabpolitik, dem bloßen Warten auf das spontane Voranschreiten des Proletariats, dem Warten auf das Werk des „Prozesses“ gebrochen. Insofern hat Korsch vollkommen Recht, dass damit eine „neue Entwicklungsstufe“ des Marxismus erreicht wurde. Dies war nicht einfach nur der organisatorische Bruch mit dem Reformismus, wie er sich im Verrat von 1914 gezeigt hatte – es war ein viel fundamentalerer Bruch in der marxistischen Methode selbst. Die revolutionäre ArbeiterInnenorganisation kann nicht mehr eine Vereinigung verschiedener „mehr oder weniger marxistischer“ Funktionäre und Strömungen sein, sie muss eine geschlossene Einheit mit klarem methodisch begründeten Programm sein, das sie zur Führung der Revolution, zum entscheidenden Faktor in den Wendepunkten der revolutionären Entwicklungen macht.

Exkurs: Zizek  – Vom Ergreifen des Moments zum Rückfall in die Nachtrabpolitik

Slavoj Zizek macht in seinen „Dreizehn Versuche über Lenin“ (55) die Radikalität des Bruchs deutlich, der auch viele der Bolschewiki, die noch in der Tradition der Zweiten Internationale dachten, noch im April 1917 völlig vor den Kopf stieß: „Man kann das explosive Potential von ‚Staat und Revolution‘ gar nicht hoch genug einschätzen. In diesem Buch wurde das Vokabular und die Grammatik der westlichen Politiktradition abrupt dispensiert“ (56) – wobei mit „westlicher Politiktradition“ die gesamte, in der parlamentarischen und gewerkschaftlichen bürgerlichen Normalität denkende Adaption des Marximus der Zweiten Internationale gemeint ist. Dieser Bruch war nicht nur in Westeuropa heftig gewesen – auch für russische „Sozialdemokraten“ war es verblüffend:

„Als Lenin 1917 in seinen ‚Aprilthesen‘ den Augenblick erkannte, die einmalige Chance für die Revolution, wurden seine Vorschläge von der großen Mehrheit seiner Parteigenossen mit Fassungslosigkeit und Verachtung aufgenommen. Innerhalb der bolschewistischen Partei unterstützte keiner der Führer seinen Aufruf zur Revolution, und die Prawda tat den ungewöhnlichen Schritt, dass sich die Partei und die Herausgeber insgesamt von Lenins ‚Aprilthesen‘ distanzierten. … Bogdanow charakterisierte die ‚Aprilthesen‘ als das ‚Delirium eines Wahnsinnigen‘ und Nadeschda Krupskaja selbst kam zu dem Schluss: ‚Ich fürchte es sieht so aus, als sei Lenin verrückt geworden’“ (57).

Wie Zizek ausführt, war diese radikale Wendung Lenins offenbar auf eine lange Auseinandersetzung mit dem Charakter der Epoche (Imperialismustheorie) und dem darin begründeten Wesen des reformistischen Verrats zurückzuführen, aber auch auf die Erkenntnis, welcher entscheidende Moment mit der Februarrevolution aufzog, der zu einer Wende der Ereignisse nicht nur in Russland, sondern in der imperialistischen „Gesamtkette“ führen konnte.

Auch wenn in der Partei selbst viele noch nicht so weit waren – es war gerade das massenhafte Aufbrechen der sich selbst organisierenden Proletarier und Bauern, das Misstrauen gegenüber den halbgaren Antworten auch der „Marxisten“, was Lenins Thesen außerhalb der Partei so ungeheur populär machte. Hier funktionierte also die revolutionäre Dialektik von den Momenten der Entwicklung des Klassenbewusstseins über die Wechselwirkung zwischen den Polen Partei und Massenbewegung. Erst dieser Konflikt machte die bolschewistische Partei zu dem entschlossenen, bewussten Subjekt, das für den Weg zum Roten Oktober bereit war. Die Althusser’sche Behauptung aus „Für Marx“, die weiter oben zitiert wurde, dass zu den vielen „Überdeterminiertheiten“ der Oktoberrevolution auch gehöre, dass in dieser Periode die Bolschewiki als „stählerne Kette ohne schwaches Glied“ aufgetreten seien, ist also reiner Geschichtsmythos (aus der stalinistischen Mottenkiste).

Dies ist nochmal umso bedeutsamer, als diese Fähigkeit der Entwicklung der revolutionären Subjektivität ja offenbar nach Lenins Tod, nach der Degeneration der Kommunistischen Partei Russlands ab 1923 Schritt für Schritt verloren ging. Die Bürokratisierung des Parteiapparates, die faktische Diktatur über die Sowjets, die Zentralisierung von immer mehr Macht in den Händen des Generalsekretariats etc. führten auch dazu, dass immer weniger Impulse von außen das immer geistlosere Gefüge im Inneren erreichen konnten.

Mit dem Niedergang der revolutionären Praxis der Sowjetführung, ihrem Versagen in der Kominternführung wurde auch das Konzept der „marxistischen“ Politik wieder immer mehr ins Denken der Tradition der Zweiten Internationale zurückgeführt. Letztlich ist der Kampf gegen die „Theorie der permanenten Revolution“ Trotzkis, die eigentlich eine Systematisierung der „Aprilthesen“ in globalem Maßstab darstellte, nichts anderes als die letzte ideologische Schlacht um die Reetablierung der Nachtrabpolitik, mit der das Warten auf die stetig und unaufhaltsam wachsende „Sowjetmacht“, die strategische Beschränkung auf die gerade objektiv mögliche „Etappe“ etc. wieder zum Grundprinzip des Denkens der „Kader“ und der „Führung“ wird. Tragischerweise wurden die Form und die Sprechweise von „Sowjets“ bis hin zum „Marxismus-Leninismus“ beibehalten – der Inhalt war jedoch formelhaft entkernt und auf das Niveau der Diktatur der Stalin-Bürokratie abgesunken.

Diese Degeneration des subjektiven Faktors, die seit 1923 nicht wirklich überwunden werden konnte – auch nicht durch die nie zur Massenkraft gewordenen Versuche Trotzkis und seiner Nachfolger, eine Vierte Internationale zu begründen -, ist das Hauptproblem, dass trotz immer wieder gegebener Krisenperioden und möglicher Wendepunkte der Geschichte ein erneutes „Oktober-Ereignis“ nicht mehr möglich war. Insofern kann nur auf das Eingangsstatement des „Übergangsprogramms der Vierten Internationale“ von 1938 aus der Feder Leo Trotzkis verwiesen werden: „Die objektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind nicht nur schon ‚reif‘, sie haben sogar bereits begonnen zu verfaulen. Ohne sozialistische Revolution… droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen. Alles hängt ab vom Proletariat, d. h. in erster Linie von seiner revolutionären Vorhut. Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung“ (58).

Insoferne sind auch die „unorthodoxen“, scheinbar mit dem stalinistischen Schematismus brechenden Ansätze von Althusser oder die auf Gramsci sich beziehenden Theorien im besten Fall eine Rückkehr zu einer „linken“ Methode aus der Periode der Zweiten Internationale. Obwohl sie offenbar die Verfaultheit und Inhaltsleere der „marxistisch-leninistischen Orthodoxie“ zu überwinden scheinen, scheuen sie vor dem radikalen Bruch mit den Methoden des „beschaulichen Marxismus“ – hin zu einer radikalen revolutionären Subjektivität zurück, ein Bruch, der heute sicher nicht weniger „verrückt“ oder „dem Delirium entsprungen“ erscheint als das, was Lenin im April 1917 vertrat. Was bei diesen scheinbar „neuen Ansätzen“ herauskommt, ist bestenfalls eine Variante von Kautskys Transformationsillusionen, vor allem aber eine methodische Entkernung des Marxismus, die ihn jeder revolutionären Dialektik beraubt. Indem sie die Leiche des degenerierten Kommunismus auch noch zum modischen Zombiewesen machen, sind sie jedoch nur ein weiteres Hindernis dafür, dass eine wirklich revolutionäre Alternative aufgebaut werden kann.

Zur Diskussion über Räteherrschaft und die Bedeutung von Sowjets in der sozialistischen Revolution

Die zweite wesentliche Frage für die Aktualität des Modells Oktoberrevolution lautet, wie sehr die Erscheinungen von Rätebewegungen, Rätedemokratie als Alternative zur bürgerlichen Demokratie und die Möglichkeit der Räteherrschaft über die Periode der Oktoberrevolution hinaus in jeder revolutionären Periode grundlegend für eine sozialistische Umwälzung der Gesellschaft sind. Besonders ausführlich diskutiert und dokumentiert wurden diese Fragen in der Periode der Novemberrevolution in Deutschland. Der Grund: Hier gab es das außerhalb Russlands wohl entwickeltste und massenhaft verbreiteteste Beispiel von Rätedemokratie – und aufgrund des höheren ökonomischen Entwicklungsstandes Deutschlands auch mit einem größeren Modellcharakter für entwickelte kapitalistische Länder.

Bekanntlich ging die Hauptauseinandersetzung um die Frage der Doppelmacht zwischen Arbeiterräten und bestehendem bürgerlichen Staatsapparat: ein Punkt, dessen Nicht-Lösung (auch aufgrund der geringen Kraft der noch kleinen KPD) die Rätemacht letztlich in Deutschland scheitern ließ. Für die Fragestellung hier ist aber zunächst interessanter, wie sich insbesondere in der linken Avantgarde die Diskussion über die Realisierung der Rätemacht nach einer Errichtung der proletarischen Diktatur entwickelt hat. Denn auch innerhalb der Vertreter des „reinen Rätesystems“, also derjenigen, die das Rätesystem als unabhängiges Mittel zum Kampf für die Diktatur des Proletariats und zur Zerschlagung der bürgerlichen Herrschaftsapparate sahen, sowie zwischen ihnen und der KPD gab es unterschiedliche Auffassungen vom Weg zur Macht, der Ausgestaltung von Rätedemokratie und dem, wie Räteherrschaft nach der Machtübernahme aufgebaut werden müsse.

Die Entwicklung der Rätebewegung während der Novemberrevolution

Die frühe KPD hatte bis zur Erfahrung der Niederschlagung der Januarkämpfe eine eher spontaneistische Haltung zur Rätefrage – d. h., sie stellte zwar die Losung „Alle Macht den Räten“ in den Mittelpunkt ihrer Agitation, vernachlässigte jedoch den Kampf um die Führung in den Räten bzw. nahm an, dass der sozialdemokratische Einfluss in den Räten durch den Gang der Ereignisse wie von selbst überwunden werden könne. Danach kämpfte sie für „echte“, revolutionäre Räte, die rein auf der Basis von Betrieben gewählt werden, die Produktionskontrolle ausüben, sich gegen jede kapitalistische Regierung wehren sollten. „Alle Gegner der Räte, insbesondere die SPD-Anhänger“ sollten hinausgeworfen werden (59).

Tatsächlich waren die Rätewegungen sehr heterogen. In vielen Gegenden wurden Räte nicht nach dem Betriebsprinzip gewählt, sondern einfach aus SPD- oder/und USPD-AktivistInnen zusammengesetzt. In radikalen, proletarischen Zentren waren sie oft von linken USPD-AktivistInnen und revolutionären Obleuten (dem radikalen Kern der Rätebewegung, der sich aus den Streikleitungen während des Ersten Weltkrieges gebildet hatte) geführt. Auf nationaler Ebene ergab sich jedoch eine SPD-Mehrheit, die sich insbesondere beim ersten Reichs-Rätekongress (16.-21.12.1918) fatal auswirkte. Statt die mit dem Novemberumsturz errichtete Doppelmacht von Zentralrat und Reichsregierung aufzulösen, beschloss er, vor allem durch die Mehrheit in den Soldatenräten, dass die Räte nur als Übergang zu einer nach allgemeinem Wahlrecht bestimmten Nationalversammlung dienen sollten. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 19.1.1919 und die Niederschlagung des Januaraufstandes (5. bis 12. Januar) waren entscheidende Momente für die Wiederetablierung der bürgerlichen Ordnung. Der Januaraufstand war sicher wie die Juli-Kämpfe 1917 in Russland das Beispiel, wie ein revolutionärer Aufstand zur Unzeit auf die Tagesordnung gesetzt werden kann. Der politische Rückhalt fehlte noch für eine solch weitreichende Aktion in den Räten. Im Unterschied zu den Bolschewiki vermochte es die gerade erst gegründete KPD jedoch nicht, sich an die Spitze der zum Losschlagen bereiten ArbeiterInnenavantgarde zu stellen und sie davon zu überzeugen, dass die Situation für den Aufstand noch zu unreif war, zu sagen, dass ein eventueller Erfolg des Aufstandes nicht zu verteidigen gewesen wäre, ohne sich zuvor den Rückhalt dafür in den Räten durch die Erlangung von deren Mehrheit verschafft zu haben. Dieser Fehler der KPD hatte nicht nur verheerende Folgen für die Stärkung der bürgerlichen Repressionsorgane. Es kostete auch auf tragische Weise das Leben der wichtigsten FührerInnen, Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts.

Der nach diesen Ereignissen begonnene Kampf um die Revolutionierung der Räte mit den oben genannten Programmpunkten, zusammen mit der USPD-Linken (den Vertretern des „reinen Rätesystems“), war bereits fast zu spät. Es gelang zwar, wichtige Positionen zu erkämpfen und nach langem Hinhalten auch einen zweiten Reichsrätekongress (8.-14.4.1919) zu erzwingen und dort zu verhindern, dass sich die politischen Räte zugunsten der Nationalversammlung auflösten. Doch die Mehrheit der SPD im Zentralrat konnte nicht gebrochen werden, so dass die politischen Räte als Doppelmachtorgane langsam abstarben. Nur während des Kapp-Putsches und in den folgenden Kämpfen erhielten sie noch einmal kurz (bis April 1920) eine wichtige Kampffunktion. Dagegen wirkten die wirtschaftlichen Räte im Sinne der Produktionskontrolle in wichtigen Industriebereichen noch das ganze Jahr 1919 unvermindert fort. Erst im Februar 1920 wurden sie durch die Etablierung des Betriebsrätegesetzes in den Rahmen der bürgerlichen Ordnung zurückgestutzt – auch dies erst nach einem langen politischen Kampf, in dem USPD und KPD zumeist zusammenwirkten (im Januar 1920 bei einer Massendemonstration von USPD und KPD mit über 100.000 TeilnehmerInnen vor dem Reichstag wurde das Feuer eröffnet und Ebert ließ den Ausnahmezustand ausrufen). Trotzdem konnte sich die KPD, besonders nach ihrer Vereinigung mit der linken USPD im Dezember 1920, auch über die Arbeit in diesen zurechtgestutzten Betriebsräten bis 1923 stark verankern, so dass bei der neuerlichen revolutionären Zuspitzung Mitte 1923 tatsächlich wieder die Möglichkeit einer auf Räten (diesmal mit starkem kommunistischen Einfluss) beruhenden ArbeiterInnenregierung gegeben war.

Aus der Geschichte der Rätebewegung in der Novemberrevolution und der Intervention der KPD in diese Bewegung lassen sich Diskussionen um folgende drei zentrale Fragestellungen veranschaulichen:

  • Sind Räte notwendigerweise (anfänglich oder in ihrer Entwicklung) revolutionär, muss um die politische Führung gekämpft werden, wie steht es mit Parteien innerhalb der Räte vor und nach der Revolution?
  • Was sind überhaupt Räte, wie sehr verändern sie sich selbst in ihrer Form im Verlaufe einer revolutionären Situation?
  • Welche Strukturen braucht ein Rätesystem sowohl im geographischen Sinn wie auch in Bezug auf politische und wirtschaftliche Fragen; war die Trennung in der deutschen Rätebewegung zwischen politischen ArbeiterInnenräten und wirtschaftlichen Betriebsräten notwendig?

Der Kampf um die revolutionäre Führung in den Räten

Ein großer Teil der Linken in der Novemberrevolution, anfänglich selbst in Spartakus/KPD, sah zuerst in den Räten selbst die Antwort auf die Frage der Revolution. In der spontaneistischen Tradition von Luxemburg und Pannekoek erwartete man aus der Erfahrung der wirklichen Demokratie der Räte gegenüber der entfremdeten bürgerlich-parlamentarischen Demokratie und der Konfrontation, die den ArbeiterInnen von der Reaktion aufgezwungen werden würde, dass die Proletarier in den Räten die Notwendigkeit der vollständigen Machteroberung und der Errichtung der Diktatur des Proletariats als Räteherrschaft schon von selbst erkennen würden. Luxemburg beharrte auch in der KPD-Programmdebatte zur Frage der Räte darauf, dass die KommunistInnen nur das „Sprachrohr der Massen“ in diesem Prozess sein könnten (60) und die Errichtung der Diktatur des Proletariats nur „das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse“ sein dürfe (61). Es überrascht daher nicht, dass viel zu spät erkannt wurde, dass sich die Räte im Wesentlichen weiterhin im Rahmen der sozialdemokratischen Hegemonie entwickelten und von sich aus zwar einzelne Schritte vorwärts, aber letztlich qualitativ keinen Sprung zu wirklich revolutionären Räten vollzogen. Als die KPD dazu überging, den politischen Kampf in den Räten aufzunehmen, ja, um die Führung der Räte zu kämpfen, war es schon fast zu spät.

Als dann die Parteiführung Ende 1919 die Niederlage der Rätebewegung konstatiert und den Rückzug auf den politischen Kampf inklusive Beteiligung an Parlamentswahlen antrat, spaltete sich ein beträchtlicher Teil des linken Flügels der KPD ab und gründete später die sogenannte „rätekommunistische“ KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands). Das Interessante daran ist, dass einer der führenden Köpfe dieser Abspaltung, Anton Pannekoek (zusammen mit Otto Rühle), die Differenz genau auf der Grundlage der alten spontaneistischen Theorie Luxemburgs begründete. Nicht nur das: Die Niederlage der Novemberrevolution gegenüber dem Sieg der Oktoberrevolution begründete Pannekoek sehr ähnlich wie Gramsci. Das viel entwickeltere bürgerliche System samt Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, die entwickelteren bürgerlichen Institutionen etc. hätten sich so fest in die Hirne der ArbeiterInnen gebrannt, dass sie sich auch in der Revolution in ihrer Entwicklung und Entschlossenheit gehemmt gesehen hätten. Pannekoek zieht aber die gegenteilige Konsequenz von der, wie sie Gramsci unterstellt wird (möglicherweise meinte der aber angesichts seiner Räteerfahrungen mit dem „Stellungskrieg“ sogar etwas Ähnliches!): dass die Rätebewegung der einzige Weg zur „Entwicklung des Selbstbewusstseins“ (62), zum Brechen der ideologischen Bevormundung und zur politischen Handlungsfähigkeit des Proletariats sein könne. Trotz des Niedergangs der Rätebewegung sollten KommunistInnen daher vorrangig ihre Weiterentwicklung und Radikalisierung betreiben – und die „Parteiform“ als bürgerliches Element, das selbst an der Fremdbestimmung der Proletarier mitschuldig sei, aufgeben, um sich „räteartig“ zu organisieren. Die „Arbeiter-Unionen“, die die RätekommunistInnen anstelle von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen setzten (z. B. AAUD, AAU-E), sollten die Räteform bewahren und bei Bedarf wieder zu Kernen einer neuen Rätebewegung werden. Auch wenn sie zu Zeiten erhöhter Massenaktivität Anfang der 20er Jahre großen Zulauf bekamen, verfielen sie nach dem Abebben der revolutionären Welle nach 1923 in bedeutungsloses Sektierertum.

Auch die größte der linken Strömungen in der Novemberrevolution, die linke USPD, die zumindest wichtige ArbeiterInnenräte, wie in Berlin, anführte, hatte letztlich eine ebenso passive Hoffnung auf den unausweichlichen Marsch der Massen nach links. Die führenden Köpfe, wie der Sprecher der revolutionären Obleute, der Metallarbeiter Richard Müller, oder der spätere USPD-Vorsitzende Ernst Däumig entwickelten das Konzept des „reinen Rätesystems“ (63). Einerseits lehnten sie, anders als die rechte USPD (um Kautsky und Haase), die Koexistenz von Räten und parlamentarisch-bürgerlichem Staatsapparat ab, insofern sollte das „reine Rätesystem“ sich der Doppelherrschaft mit den bürgerlichen Institutionen entledigen. Allerdings stellte man sich dies andererseits zugleich als einen Prozess vor, in dem irgendwann die Mehrheit dafür in den Räten gewonnen werden würde (Däumig stellte auch einen entsprechenden Antrag auf dem ersten Reichsrätekongress, der aber leider abgelehnt wurde). Entscheidend für letzteres hielten Däumig und GenossInnen, dass sich die Räte als „Organe der Zusammenfassung des Proletariats oberhalb der Parteien“ bilden sollten (ähnlich wie Gramsci in seiner Gegenüberstellung von Räten und Partei), dass in den Räten „keine Parteipolitik zu betreiben ist, sondern revolutionäre Arbeiterpolitik“ (64). Das reine Rätesystem sollte also auch „rein“ von Parteien und ihrem Führungsanspruch sein. Leider aber gaben die Mehrheits-Sozialdemokraten ihren Führungsanspruch doch nicht auf!

Ganz offensichtlich wird hier, dass mehr oder weniger bei allen linken Strömungen der deutschen ArbeiterInnebewegung 1918/1919 der dialektische Zusammenhang von revolutionärem Prozess, Herausbildung von Klassenbewusstsein im Proletariat und den Vermittlungsformen von Partei und Räten nicht verstanden wurde. Einerseits wurde ein mechanisch-spontaneistischer Zusammenhang von revolutionärer Zuspitzung, Entwicklung von Klassenbewusstsein und Radikalisierung der Räte angenommen. Andererseits wurde die Räteform selbst abstrakt abgehoben von ihren historisch-politischen Entstehungsbedingungen verstanden und idealisiert, ohne sie selbst auch in ihrer Form als ein grundsätzlich zu veränderndes Kampffeld zu begreifen.

Trotzki steckt dieses Kampffeld im Übergangsprogramm sehr klar ab: Sowjets sind zunächst klar zu unterscheiden von bloßen „Fabrikkomitees“, die ein Element der Doppelmacht in einem Betrieb sein mögen (65). Die Frage der Doppelmacht im ganzen Land, die eine Rätebewegung stellt, entwickelt sich jedoch nicht einfach stetig aus solchen Fabrikkomitees: „Sowjets können nur dort entstehen, wo die Massenbewegung in ein offen revolutionäres Stadium eintritt. Als Angelpunkt, um den sich Millionen von Arbeitern in ihrem Kampf gegen die Ausbeuter sammeln, werden Sowjets vom ersten Augenblick ihres Erscheinens an zu Rivalen und Gegnern der örtlichen Behörden und schließlich der Zentralregierung selbst“. Mit der spontanen Stellung der Machtfrage auf einer viel allgemeineren Ebene ändern sich auch der Charakter und die Zusammensetzung gegenüber den übersichtlichen Fabrikkomitees: „Die Sowjets sind a priori an kein Programm gebunden. Sie öffnen allen Ausgebeuteten ihre Türen. Die Vertreter aller Schichten, die in den allgemeinen Strom des Kampfes hineingezogen werden, finden Eingang in sie. Die Organisation erweitert sich mit der Bewegung und erneuert sich dadurch ständig. Alle politischen Richtungen des Proletariats können um die Führung der Sowjets auf der Basis der breitesten Demokratie kämpfen“.

Die Vorstellung, dass vereinzelte Fabrikkomittees mit Produktionskontrolle in „friedlichen Zeiten“ so etwas wie „sowjetische Keimzellen“ darstellten, geht genauso am Sowjet-Begriff vorbei wie die, dass sich nach dem Niedergang einer Rätebewegung diese durch „Arbeiter-Unionen“ als Keimzellen irgendwie am Leben halten ließen. Sowjets sind Ausdruck extrem zugespitzter revolutionärer Situationen, in denen das herrschende System derart erschüttert ist, dass spontan massenhafter Zustrom zu Basiskomitees der Protestbewegung tatsächlich zu so etwas wie vernetzten Gegenmachtinstitutionen führt. In allen tatsächlich zugespitzten revolutionären Situationen haben sich früher oder später sowjetartige Organisationsformen herausgebildet (was nicht heißt, dass revolutionäre Situationen nur dann bestehen können, wenn es solche Organe gibt – das revolutionäre Moment kann auch vorher niedergehen oder verpasst werden). Und anfänglich waren solche Organe nie ein Ebenbild von Organisationen mit klarem Plan und vollem Bewusstsein ihrer Aufgaben. Revolutionärer Elan, Begeisterung, endlich selbst die unmittelbaren Probleme besprechen und entscheiden zu können, ersetzen zunächst die notwendige Zielgerichtetheit. Jeder der schon mal den Anfang einer Protestbewegung erlebt hat, erinnert sich vielleicht daran, wie eine der üblichen langweiligen Protestversammlungen altbekannter PolitkaktivistInnen plötzlich von einer nicht geahnten Menge an TeilnehmerInnen überrannt wird und plötzlich die „linken“ AktivistInnen von immer radikaleren Vorschlägen aus der Versammlung geradezu überollt werden.

In größerem Ausmaß geschah dies auch in der Novemberrevolution, als die Räte, die ursprünglich aus Streikkomitees der revolutionären Obleute entstanden waren, zu Massenversammlungen wurden – und an allen Ecken und Enden „Räte nach dem Vorbild der Sowjets“ aus dem Boden schossen. Vielerorts hatte das nur bedingt mit betrieblichen Komitees zu tun und es handelte sich oft eher um Stadtteil- oder Gemeindekomitees. Und natürlich wurde nicht nach der Parteizugehörigkeit gefragt oder eine genaue soziologische Untersuchung über den „Proletarierstatus“ gemacht. Wie Trotzki oben richtig anmerkt, ist gerade in diesem ersten spontan nach vorwärts treibenden Moment Demokratie und Offenheit der Räte richtig und erforderlich, um den Klärungsprozess, der dann einsetzen muss, so umfassend und massenhaft wie möglich zu machen. Räte, die „von Anfang an unter kommunistischer Führung“ stehen, in der „keine nicht-revolutionären Arbeiterparteien geduldet sind“, lassen eher vermuten, dass es sich um Strohpuppen gewisser politischer Akteure handelt – dabei entspricht dies nicht nur stalinistischer Methodik, sondern leider auch der selbsternannter „trotzkistischer“ Strömungen. So behauptete etwa Namuel Moreno, dass es keine Demokratie für nichtrevolutionäre Strömungen in Sowjets geben könne, revolutionäre Räte nur kommunistisch geführte Räte sein könnten (66).

ArbeiterInnendemokratie und der Kampf um die Diktatur des Proletariats

Andererseits wäre es auch eine problematische Verallgemeinerung, aus dieser super-demokratischen und offenen Phase der Räte in der ersten Euphorie ihrer Entwicklung ein allgemeines Prinzip zu machen. So etwa das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale in seiner grundlegenden Resolution „Sozialistische Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ (67). Darin wird ganz allgemein erklärt, im Rätesystem herrsche „ArbeiterInnendemokratie mit dem Recht der Massen, zu wählen, wen immer sie wollen, und die politische Organisationsfreiheit für diejenigen, die die Räteverfassung in der Praxis anerkennen (selbst wenn sie bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologien oder Programme vertreten)“. Alles Einschränken politischer Parteien führe „zu systematischer Einschränkung der ArbeiterInnendemokratie“ und tendiere „unvermeidlich zu einer Einschränkung der Freiheit in der Avantgardepartei selbst“ (68).

Die Frage der ArbeiterInnendemokratie derart abstrakt zu stellen, verkennt, dass sich der zugespitzte Kampf um die Macht natürlich auch in den Räten abspielt und zuspitzt, und zwar zwischen denjenigen, die die Diktatur des Proletariats erkämpfen wollen, und denen, die sie erst bekämpfen oder nach der Revolution beseitigen. Die Reife der Revolution in Russland konnte gerade aus der Verschiebung zwischen Menschewiki und Bolschewiki in den Sowjets abgeleitet werden, wobei (69) zumindest die rechten Menschewiki schon im Vorfeld des Oktoberaufstands zu Recht aus den Sowjets gedrängt wurden (bzw. die Arbeit dort aufgaben). Andererseits verhinderten die Mehrheits-SPDler mit aller Macht, dass andere Parteien ihre Mehrheit besonders in den Reichsorganen der Räte in Frage stellten. Die Forderung der KPD im Februar 1919, die SPD aus den Räten rauszuwerfen, war sicher angesichts der realen Kräfteverhältnisse in den Räten verfrüht und konnte wichtige Teile der ArbeiterInnenschaft nur vor den Kopf stoßen – aber früher oder später hätte eine wirklich revolutionäre Rätebewegung ohne die Marginalisierung der SPD in den Räten unmöglich siegreich sein können.

Produktionskontrolle und politische Macht

Schließlich muss noch die Frage der Räte zur Produktionskontrolle, zur Sozialisierung und den daraus folgenden Organisationsfragen behandelt werden. Die zentrale Errungenschaft der Sowjets ist sicher, dass sie eine Form der Demokratie entwickeln, die unmittelbar die Bestimmung über Produktion, Verteilung und Konsum mit einschließt. Doch wird auch dies in den ersten Phasen jeder Rätebewegung zunächst nur die Ebene der ArbeiterInnenKONTROLLE über wichtige Betriebe, Fragen der Verteilung öffentlicher Güter (z. B. Transport), der Gesundheitsversorgung u. Ä. betreffen. Sie wird kaum sofort zur Zerschlagung des bürgerlichen Eigentums und zu einer vergesellschafteten Ökonomie schreiten. Eine Radikalisierung der Rätebewegung wird jedoch immer zur Ausdehnung der Produktionskontrolle in Richtug auf Planung und Vergesellschaftung fortschreiten. Karl Korsch hat in seinem während seiner Rätezeit geschriebenen Artikel „Grundsätzliches zur Sozialisierung“ dargestellt, dass die Entwicklung der Räteorganisation wesentlich dafür sei, dass eine mit der Diktatur des Proletariats eingeleitete Übergangsgesellschaft tatsächlich eine sozialistische Entwicklung einleiten kann. Diese müsse zwischen den Polen „Staatssozialismus“ und „Produzentensozialismus“ vermitteln. Eine Sozialisierung der Produktion ohne ArbeiterInnendemokratie müsse zwangsläufig die Mechanismen des alten Systems und des staatlich-bürokratischen Zwangsmechanismus wiederherstellen und „Bürokratismus, Schematismus, Ertötung der Initiative und der Verantwortungslosigkeit… Lähmung und Erstarrung“ heraufbeschwören. Andererseits ist eine reine „Sozialisierung von unten“, eine sich „organisch aus den Räten“ entwickelnde Vergesellschaftung auch nur eine Quelle von Partikularismus bestimmter Großbetriebe, Verfestigung alter Arbeitsteilungen, ökonomistischer Verengung auf die am besten rätemäßig organisierten Teile der Ökonomie. Korsch spielt hier auf die Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Rätebewegung an, die wohl auch viele wichtige gesellschaftliche Bereiche noch nicht erfasse. Zum Ausgleich dieser Ungleichgewichte, ebenso zur Aufrechterhaltung der Disziplin, gerade auch in komplexen industriellen Großfertigungen, ist daher in den ersten Phasen der Vergesellschaftung eine wichtige ökonomische Funktion auch in der rätedemokratisch kontrollierten Neuschaffung einer staatlichen Verwaltung gegeben. Diese steckt sicherlich wichtige Eckpfeiler für die Frage einer arbeiterInnendemokratisch kontrollierten Planwirtschaft ab.

Korschs Artikel ist einer von vielen Beiträgen während der Novemberrevolution zur Frage der „wirtschaftlichen Räte“ – einer Diskussion, die teilweise mit großem formalistischen Aufwand betrieben wurde (z. B. wurde eine Vielzahl von komplexen Organisationsdiagrammen veröffentlicht – wahrscheinlich eine typisch deutsche Form von „Konkretheit“).

Real ergab sich die Aufspaltung von ArbeiterInnenräten und den Betriebsräten (den „wirtschaftlichen Räten“) eigentlich durch den politischen Niedergang der Rätebewegung, der jedoch auf betrieblicher Ebene noch in Form von mehr oder weniger Produktionskontrolle verzögert erfolgte. Während speziell in der USPD und der KAPD Illusionen in den weiteren Fortschritt der „wirtschaftlichen Räte“ und ihre angebliche Fähigkeit, die Vergesellschaftung „von unten“ voranzutreiben, bestanden, betonten Korsch wie auch die KPD die Unmöglichkeit dieses Programms ohne politische Machtergreifung und Errichtung eines proletarischen Halbstaates. Korsch bekräftigte, wie oben gesehen, dass selbst nach der Machtergreifung die politische Initiative und Führung gegenüber den betrieblichen Räten entscheidend zur wirklichen Überwindung der überkommenen kapitalistischen Strukturen seien. Klar ist auch, dass schon für den Kampf um die Macht eine Dominanz der politischen Räte gegenüber dem reinen Betriebsrätesystem erreicht werden muss. Die KPD entwickelte daher zu Recht ein paralleles Modell der politischen Räte, die nicht einfach einzelne Betriebe, sondern Wirtschaftsregionen nach zentralen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen repräsentierten (nach Delegiertensystemen aus Betrieben und Stadtteilen und Gemeinden). Über mehrere territorale Stufen bis zum politischen Zentralrat sollten Delegierte mit imperativem Mandat gewählt werden. Auch nach Errichtung der Diktatur des Proletariats sollte dieser Zentralrat, stärker die gesamtgesellschaftlichen Interessen vertretend, das letzte Wort gegenüber dem national von den Betriebsräten gebildeten Wirtschaftsrat in wirtschaftlichen Planungsfragen haben.

Conrad Schuhlers Behauptung in der isw-Broschüre „Kapitalismus oder Demokratie“ (70), die Rätebewegung der Novemberrevolution könne kein Vorbild für die heutige Suche nach Alternativen zur parlamentarischen Demokratie sein, da sie die „Menschen außerhalb der Betriebe“ nicht organisiert habe, also eine reine Vernetzung von Betriebsräten gewesen sei, zeugt also vor allem von geringer Kenntnis der Entwicklung der Räte in der Novemberrevolution wie auch der damaligen Diskussionen um die Räte selbst. Schuhlers Alternative, das „territoriale Prinzip“ und Föderation nach dem Vorbild der Pariser Kommune, fällt um Meilen zurück hinter die Entwicklung der Vermittlung betrieblicher Selbstverwaltung und gesamtgesellschaftlicher Rätekontrolle, wie sie während der Novemberrevolution skizziert wurde. Natürlich passt die „immer umfangreicher werdende Gemeinde-Kommunen-Bewegung“ besser zur unmerklichen Transformation der Gesellschaft, bei der ja irgendwie die Machtfrage nicht so heftig auf die Tagesordnung kommt und irgendwie auch Vergesellschaftung von unten wächst. Selbst die KAPD mit ihren „Unionen als Keinmzellen“ der Rätemacht war da wohl realistischer.

Sozialistische Revolution ohne Sowjets?

So wie die Frage der Partei vom bolschewistischen Typ ist natürlich auch der zweite Aspekt, die zentrale Rolle der Sowjets, ein Punkt, mit dem sich das „Modell Oktoberrevolution“ als etwas Vergangenes, für heutige „radikale Politik“ als nicht mehr anwendbar, ausgeben lässt. Hier muss nicht weiter auf die vielen Strömungen eingegangen werden, die mit dem „Abschied vom Proletariat“ und vom „ArbeiterInnenbewegungsmarxismus“ damit natürlich auch keine Verwendung für ArbeiterInnenräte haben können. Ersatzweise klassenunspezifische „Räten“, die nicht mehr ihre Basis in der Produktion haben, können natürlich nicht im Ansatz die gesellschaftliche Macht des Kapitals herausfordern, wozu tatsächliche Sowjets in der Lage sind. Noch viel weniger können sie Grundlage echter Vergesellschaftung und Durchsetzung einer demokratischen Planung des gesamtgesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozeses sein.

Slavoj Zizek, der sich in seiner Gesellschaftskritik in der Tradition von Althusser sieht, beschreibt das Problem anders: Zwar sei das Schicksal der Lohnsklaverei so verbreitet wie nie, gleichzeitig aber auch total „verdrängt“ (71) aus der Öffentlichkeit. Dass die Millionen, die in Fabriken arbeiten, in der postmodernen Kultur wieder zu „Nichtsichtbarkeiten“ wie in der klassischen Kultur geworden seien, ist für Zitek der Ausdruck für das Verschwinden des Proletariats als Subjekt. Der besondere Augenblick zwischen Februar und Oktober 1917 in Russland, der eine beispiellose demokratische Massenbewegung und -diskussion hervorgebracht habe, sei der Moment für das „utopische Modell“ der Räteherrschaft gewesen, so Zizek (72). Seither sei das Proletariat als selbstbewusstes Subjekt von der Bühne getreten, wieder in die vielen, von objektiven Strukturen zerstückelten Formen von Subjektivität zerfallen: „Anstatt nach der verschwindenden Arbeiterklasse zu suchen, sollte man besser fragen: Wer besetzt heute ihre Position als Proletariat, wer ist in der Lage, sie zu subjektivieren?“. Insofern sieht Zizek die „TrotzkistInnen“, die er sonst gegenüber allen Linken als die „konsequenten Nachfolger Lenins“ sieht, dem „Arbeiterklassen-Fetisch“ verfallen (73). Zizek will eine „Rückkehr zu Lenin“, zur „genialen Auffassung des Augenblicks“, wie dieser sie 1917 geleistet hat, zu seiner Erfassung des plötzlichen, unverhofften Auftretens massiver Subjektivität. Außer dass „die Revolution kommt“, dass ein neues Proletariat unvermeidlich auf die Bühne träte, dass Kapitalismus und Demokratie am Scheitern seien, lässt uns Zizek aber im Dunkeln, was daraus abzuleitende Handlungsperspektiven wären.

Sicherlich bedeuten die Veränderungen im Produktionsprozess, die weitere Anonymisierung des Arbeitsprozesses und die jahrelange Zerstörung von radikalen Widerstandstraditionen in den produktiven Kernen der ArbeiterInnenschaft, dass die Bildung von Räten heute ganz andere Gestalten und Verläufe annehmen wird als 1917. Die Bildung der zersplitterten ArbeiterInnenschaft zum massenhaft handelnden Proletariat muss viele subjektive Schranken durchbrechen. Aber auch die enorm rasche Radikalisierung der ArbeiterInnenschaft nach 1917, einer ArbeiterInnenschaft in Russland und ganz Europa, die gerade zu Millionen als reines Schlachtvieh im Weltkrieg herumkommandiert worden war, und dies mit Billigung des allergrößten Teils der einzigen PolitikerInnen, denen sie vertraut hatten, war selbst für viele MarxistInnen eine Überraschung.

Und Zizek hat Recht, dass Lenin einer der wenigen war, der das Ausmaß der Dynamik dieser Radikalisierung sehr früh erfasst hat. Aber die Rätebewegung hatte auch den Aspekt, der großen Unzufriedenheit der Massen mit den bestehenden Parteien der Zweiten Internationale eine Bühne zu bieten. Die Räte waren somit auch ein Ausdruck der spontanen Erkenntnis der Massen, dass es einer übergreifenderen, weitaus demokratischeren Organisation ihrer Interessen bedürfe, um mitten in der Krise das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Insofern sind Räte in Zeiten der revolutionären Zuspitzung immer Ausdruck eines Bruchs der Ausgebeuteten mit bestehenden, verkrusteten, systemischen Organisationsformen der Klasse, die zum Hindernis für die Bildung zur „Klasse für sich“ geworden sind. Gerade in der Situation der gegenwärtigen ArbeiterInnenklasse ist es daher um so weniger denkbar, dass der „Augenblick der Revolution“ zur Möglichkeit wird, ohne dass sich vorher massenhaft selbstbestimmte Basisorganisationen gebildet hätten, die Produktionskontrolle, politische Entscheidungen, überregionale Vernetzung, Herausforderung der bestehenden staatlichen Institutionen in so etwas wie einer Rätebewegung vereinen.

Die Atomisierung der heutigen ProduktionsarbeiterInnenschaft, die weiter vorangetriebene Entpolitisierung des Betriebsalltags, die weitere Desillusionierung über die tradierten ArbeiterInnenorganisationen lassen natürlich spontan Organisationsformen von radikalisiertem Protest entstehen, die noch viel weniger „organisch“ aus Fabrikkomitees herauswachsen als in früheren Zeiten. Es wäre wohl eine opportunistische Verklärung, die Platzbesetzungen im Rahmen des Arabischen Frühlings oder der „Empörten“ der spanischen Anti-Krisenproteste als „Vorformen von Räten“ darzustellen. Trotzdem drückt sich auch in ihnen bereits der Bruch mit der bestehenden Form von repräsentativer Politik aus, das Misstrauen gegenüber den traditionellen „OppositionsführerInnen“, der Wunsch nach Formen der direkten, selbstbestimmten, massenhaften Demokratie.

Trotzki hat in seinen Beiträgen zur Entwicklung der spanischen Revolution in den 1930er Jahren klargemacht, wie wichtig es dort war, angesichts einer breiten Protestbewegung, die viele Formen klassenübergreifenden Protestes (katalanischen und baskischen Nationalismus, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc.) hervorgebracht hat, die Losung des Kampfes um Arbeiterräte als zentrale politische Orientierung zu sehen (74). Dabei ginge es gerade um die Durchsetzung des proletarischen Charakters der Protestbewegung genauso wie um den Kampf um die politische Führung im Proletariat selbst. Deshalb trat Trotzki auch dafür ein, dass in den spanischen Juntas (unabhängige politische Machtorgane, Räte) alle wesentlichen Organisationen der ArbeiterInnenklasse vertreten sein, ja sie sogar dort hineingezogen werden müssten (ebd.). Dies ist wichtig gerade gegenüber den Tendenzen der heutigen radikal-demokratischen Protestformen, die „Alt-Parteien“ und alles Organisierte aus den Basisorganisationen mit allen möglichen Mitteln herauszuhalten. Dies ist nur eine Methode, um die insgesamt weiterbestehende Vorherrschaft reformistischer Organisationen innerhalb der ArbeiterInnenschaft zu befestigen und den echten Kampf um die Perspektive in der Gesamtklasse zu verhindern.

Letztlich geht es darum, das Proletariat aus diesen „Bewegungen des Volksprotestes“, die in vieler Hinsicht nur neue Formen der klassischen „Volksfront“ sind, eigenständig und als die Kraft zu organisieren, die tatsächlich in der Lage ist, das Ganze der bestehenden, krisenhaften Gesellschaft umzuwälzen und auf eine neue Grundlage zu stellen. Insofern hatte schon Trotzki in den 30er Jahren festgestellt, dass „die Volksfront die Hauptfrage der proletarischen Klassenstrategie“ geworden sei (75). Denn in jeder der aktuellen Revolutionen, auch der Oktoberrevolution, begeben sich nicht nur die reformistischen ArbeiterInnenorganisationen in Koalitionen mit bürgerlichen Kräften zur Kanalisierung des Protestes: „Vom Februar bis zum Oktober waren die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre … in engstem Bündnis mit der bürgerlichen Partei der Kadetten, mit denen sie zusammen eine Reihe von Koalitionsregierungen bildeten. Unter dem Zeichen dieser Volksfront befand sich die ganze Masse der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Freilich nahmen die Bolschewiki an den Räten teil. Aber sie machten nicht die geringsten Konzessionen an die Volksfront. Ihre Forderung lautete, diese Volksfront zu ZERBRECHEN … und eine echte Arbeiter- und Bauernregierung zu schaffen“.

Sowjetfetischismus oder sowjetische Strategie?

Die Abkehr von den „Sowjets“ gibt es aber noch in einer anderen, sehr viel „politischeren“ Form. Unter dem Eindruck der Entstehung „sozialistischer Staaten“ in Osteuropa, Asien und Kuba seit 1945 wurde die Vorstellung, dass „sozialistische Umwälzungen“ ohne Rätebewegung der „Normalfall“ und die Oktoberrevolution die „Ausnahme“ sei, nicht nur in der (post-)stalinistischen Linken verbreitetes Gemeingut. Vielleicht am konsequentesten wurde dies gerade vom „Trotzkisten“ Nahuel Moreno (der eine der größten lateinamerikanischen Strömungen des „Trotzkismus“ begründete) formuliert, als er seinen WidersacherInnen in der 4. Internationale vorwarf, einen „Sowjetfetischismus“ zu vertreten (76).

In der Polemik gegen die oben zitierte Resolution zur „Sozialistischen Demokratie und die Diktatur des Proletariats“ behauptet Moreno, dass der entscheidende Faktor der Revolution die Führung der Massen durch die revolutionäre Partei sei, während die Frage der Sowjets nur eine untergeordnete taktische Frage sei. Sowjets könnten eine Rolle bei der Erlangung der Führung der Massen durch die Partei spielen, doch könne dies auch anders erfolgreich gelingen. Im „Übergangsprogramm“ hatte Trotzki von der unwahrscheinlichen Möglichkeit gesprochen, dass eine von reformistischen ArbeiterInnenparteien (auch StalinistInnen) dominierte „Arbeiter- und Bauernregierung“ unter dem „Einfluss eines außergewöhnlichen Zusammentreffens bestimmter Umstände (Krieg, Niederlage, Finanzkrach, revolutionäre Offensive der Massen usw.)… auf dem Wege des Bruchs mit der Bourgeoisie weiter gehen können, als ihnen selbst lieb ist“ (77). Aus dieser „Ausnahmesituation“, der Überdetermination, die Trotzki nicht ausschließen wollte, macht Moreno nun das allgemeine Modell, dass die Errichtung der Diktatur des Proletariats vor allem über die ArbeiterInnenregierung voranschreitet – im positiven Fall über eine revolutionäre, das heißt für ihn von einer revolutionären Partei geführten ArbeiterInnenregierung, während in Fällen wie in China oder Kuba durch den mangelnden revolutionären Charakter der Führung, die nur durch den Gang der objektiven Umstände zur Diktatur gezwungen sei, eben ein „deformierter ArbeiterInnenstaat“ entstünde (in der Art, wie Lenin den Rückzug zu staatskapitalistischen Maßnahmen in den 1920er Jahren als „Deformation“ bezeichnete).

Diese Revolutionstheorie der „revolutionären ArbeiterInnenregierung“ verkennt die zentrale Rolle der Sowjets für eine wirkliche proletarische Revolution. Während sie die Sowjets zu einer untergeordneten Taktik macht, wird ein tatsächlich spezifisch taktisches Moment – die der Einheitsfronttaktik der Komintern entnommene Losung der „Arbeiter- und Bauernregierung“ – zu einer revolutionären Strategie fetischisiert. Die radikale Pose der „revolutionären Diktatur“ hat dabei die opportunistische Kehrseite, dass alle möglichen „revolutionären Einheitsfronten“ mit reformistischen GewerkschafterInnen, PeronistInnen, GuerillaistInnen, „Arbeiter- und Bauernblöcke“ etc. – die vor allem deshalb „revolutionär“ waren, weil sie mit den selbsternannten „Revolutionären“ zusammenarbeiteten – zu Etappen auf dem Weg zur „revolutionären Arbeiterregierung“, also zur „Revolution“ gemacht werden. Dies ist offensichtlich nur eine in die Terminologie der Komintern gekleidete Wiederauflage von Kautskys „Weg zur Macht“.

Tatsächlich sind die Bildung von Sowjets und der Kampf um ihre revolutionäre Führung nicht einfach eine taktische Frage unter besonderen Bedingungen – die Frage der Sowjets ist für die proletarische Revolution von strategischer Bedeutung. Die von Lenin in „Staat und Revolution“ entwickelte Staatstheorie bestimmt im Kern die Bedeutung der Sowjets für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates damit, dass die Diktatur des Proletariats zugleich die Errichtung eines proletarischen Halbstaates sein muss, soll sie eine erfolgreiche proletarische Revolution sein. Je mehr es gelingt, die bürgerlichen Insitutionen, von den Repressionsorganen bis zur Verwaltung und den ideologischen Apparaten, durch die Selbstverwaltungsorgane des Proletariats zu ersetzen, umso größere Chancen bestehen für eine wirkliche, die Produktionsweise in allen ihren Aspekten umwälzende Übergangsgesellschaft Richtung Sozialismus. Je mehr diese innere, nicht bloß formale eigentumsrechtliche Enteignung und Entmachtung der Bourgeoisie durch die eigenständige Bewegung der Klasse voranschreitet, desto größer die Chancen auch für die Abwehr der notwendigen konterrevolutionären Gegenschläge.

Eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, die ohne diese Selbsttätigkeit vor allem „von oben“, vor allem über „Verstaatlichungen“ abläuft, wird umso mehr Elemente des alten bürgerlichen Staates bewahren und anstelle wirklicher Räte setzen. Alle Erfahrungen, von der Stalinisierung der Sowjetunion über die Umstürze in Osteuropa und der DDR bis zu den Siegen in China, Kuba und Vietnam, zeigen, dass die Formen der Staatlichkeit in diesen Regimen kaum zu unterscheiden waren von ganz gewöhnlichen bürgerlichen Diktaturen. Selbst was sich „Räte“ oder gar „Sowjets“ nannte, war nichts anderes als parlamentarische Staffagen, „Quasselbuden“ ohne Bezug zu den tatsächlichen Problemen der arbeitenden Bevölkerung, die sie angeblich vertraten. Die bürgerliche Form dieser Staaten im Gegensatz zu ihren nach-kapitalistischen Eigentumsverhältnissen war Ausdruck der Abtötung des Lebenselements im Sinne eines wirklichen Übergangs zum Sozialismus: der immer weiter um sich greifenden Selbstorganisation der Arbeitenden, die immer mehr alle Formen von Staatlichkeit überwindet. Dagegen waren die Ausschaltung der Sowjets in der UdSSR bzw. die unter ganz besonderen Umständen möglich gewordenen Umwälzungen durch „bürokratische ArbeiterInnen- und Ba(e)uerInnenregierungen“, die auf militärischen Organen statt auf Räten beruhten, zentral dafür verantwortlich, dass die errichteten ArbeiterInnenstaaten zugleich Diktaturen bürokratischer Schichten über die ArbeiterInnen wurden. Früher oder später musste die ökonomische Krise des blockierten Übergangs und der bürokratischen Misswirtschaft große Teile dieser Bürokratie selbst zu Agenten der Konterrevolution machen. Die bürgerliche Form des Staatsapparates konnte ihre letzte Funktion in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten bei der formal legalistischen Durchführung der Restauration des Kapitalismus spielen.

Dies ist kein „Rückwärtslaufen des reformistischen Films“ des Weges zum Sozialismus – denn mit der stalinistischen Konterrevolution, der Zerschlagung der revolutionären Organisationsformen, der revolutionären Partei und der arbeiterdemokratischen Sowjets, war die „Diktatur des Proletariats“ bereits ihres revolutionären Subjekts beraubt. Die ArbeiterInnenklasse herrschte nur noch abstrakt, „objektiv“, über die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse vermittelt. Nachdem die Krise der bürokratischen Planwirtschaft große Teile der Klasse und der Bürokratie in diesen Staaten keine Perspektive mehr sehen ließ, fehlte jegliches Subjekt zur Verteidigung dieser Art von Staat – es blieb nur die kapitalistische Restauration oder eine neue politische ArbeiterInnenrevolution, die wiederum auch diesen „Arbeiterstaat“, d. h. seine bürokratischen Strukturen hätte zerschlagen müssen, um die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Insofern haben auch die Aufstände in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, ob in Polen, der DDR, Ungarn oder der Tschechoslowakei sofort auch immer wieder zur Bildung von Streikkomitees und Rätestrukturen geführt. Auch hierin zeigt sich die spontane Tendenz der ArbeiterInnen in revolutionären Situationen, ihre unabhängige, gegen bestehende staatliche Strukturen gerichtete Stoßrichtung – genauso wie die beständige Gefahr, dass solche Räte oder Selbstorganisationsansätze unter reaktionäre Führung geraten können, wenn es keine revolutionären Organisationen gibt, die darin für eine sozialistische Perspektive kämpfen.

 

Endnoten

(1) Schuhler, Conrad: Der Marxismus und das Ende des Kapitalismus, Seite 5 von 8; zitiert wird aus den Gefängnisheften von Antonio Gramsci. In der Ausgabe „Philosophie der Praxis“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt/M., 1967) findet sich das Zitat auf Seite 347, im Kapitel „Politischer Kampf und militärischer Krieg“

(2) Schuhler, ebd., S. 6 von 8

(3) In: Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, Berlin/O., 1975, S. 27 ff.

(4) Lenin, W. I.: Staat und Revolution (SuR). Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, LW 25, Berlin/O., 1972, S. 400

(5) Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW 20, Berlin/O., 1962, S. 261

(6) ebda., S. 262

(7) Marx, zitiert nach Lenin, Staat und Revolution, a. a. O., S. 427

(8) Lenin, ebda, a. a. O., S. 463

(9) Lenin, ebda, a. a. O., S. 501, 504

(10) Gramsci, Antonio: Philosophie der Praxis, a. a. O., S. 75

(11) ebda., S. 33

(12) ebda., S. 96 f.

(13) ebda., S. 67

(14) ebda., S. 97 f.

(15) ebda., S. 34

(16) ebda., S. 60

(17) ebda.

(18) ebda., S. 86

(19) ebda., S. 346

(20) ebda., S. 328

(21) ebda., S. 332

(22) ebda., S. 349

(23) Althusser, Louis: Für Marx, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968, S. 113 f.

(24) ebda., S. 114

(25) ebda., S. 115

(26) ebda., S. 116

(27) ebda., S. 117 f.

(28) ebda., S. 126 f.

(29) ebda., S. 128 f.

(30) ebda., S. 129

(31) Croce, Benedetto: Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 1968. Original: Storia d’Europa nel secolo decimonono, Neapel, 1932

(32) ebda., S. 324

(33) Althusser, a. a. O., S. 140

(34) ebda., S. 141

(35) Marx, Karl: Das Kapital. Band I. Nachwort zur zweiten Auflage, MEW 23, Berlin/O., 1971, S. 27 f.

(36 Poulantzas, Nicos: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, VSA Verlag, Hamburg, 2002. Originalausgabe: Paris, 1977, S. 64

(37) ebda., S. 74

(38) ebda., S. 279

(39 ebda., S. 281

(40) ebda., S. 289

(41) ebda.

(42) ebda., S. 286 f.

(43) ebda., S. 174

(44) ebda., S. 292

(45) Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Frankfurt/M., 1968; Erstausgabe: Berlin, 1923

(46) Korsch, Karl: Marxismus und Philosophie, London, 1998; Original: Berlin, 1923

(47) Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, , Mehring Verlag, Essen, 2006, S. 277 ff.

(48) Lukács, Chvostismus und Dialektik (1925), Áron Verlag, Budapest, 1996, S. 51

(49) ebda., S. 51 f.

(50) ebda., S. 55

(51) Zitiert von Lukács, ebda.

(52) ebda., S. 83

(53) ebda., S. 78

(54) Kautsky, Karl : Der Weg zur Macht, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/M., 1972, S. 60 f.

(55) Zizek, Slavoj: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2002

(56) ebda., S. 10

(57) ebda.; historische Bezüge und Zitate jeweils aus: Harding, Neil: Leninism, Durham, 1996

(58) Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale. Übergangsprogramm der 4. Internationale. Ende des ersten Abschnitts, in: ders., Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 bis 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen, o. J., S. 5 f.

(59) Arnold, Volker: Rätebewegung und Rätetheorien in der Novemberrevolution, Hamburg, 1985, S. 113

(60) ebda., S. 148

(61) ebda., S. 152

(62) ebda., S. 158

(63) ebda., S. 188 f.

(64) ebda., S. 190

(65) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 28

(66) Karim, Darius (Pseudonym von Nahuel Moreno): Die revolutionäre Diktatur des Proletariats, Bogotá, 1979

(67) Resolution des 12. Weltkongresses der 4. Internationale, 1985. Aus: Warum wir den Sozialismus wollen II, RSB, Die Internationale Theorie, Heft 30, Mannheim, 2006

(68) ebda., S. 33

(69) Arnold, a. a. O., S. 214

(70) Schuhler, Conrad: Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie, isw-Report 96, München, 2014

(71) Zizek, Lenin, a. a. O., S. 123 ff.

(72) ebda., S. 11 f.

(73) ebda., S. 185

(74) Siehe: Trotzki, Leo: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-1939, Frankfurt/M., 1975, Band 1, S. 75

(75) ebda., S. 204

(76) Karim, a. a. O., S. 149

(77) Trotzki, Übergangsprogramm, a. a. O., S. 27




Lehren des Oktober – Ihre Aktualität und Bedeutung für revolutionäre Politik heute

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 49, März 2017

100 Jahre Russische Revolution, 100 Jahre Sturz des Zarismus, 100 Jahre Oktoberrevolution – dieses Jahr steht im Zeichen von 1917.

In dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ haben wir uns mit zentralen Fragen kommunistischer Politik beschäftigt, mit dem Verhältnis von Programm und Partei, der Rolle der Räte, der Entwicklung zum Stalinismus, die Lage der Frauen. Dabei stellen wir nicht allein historische Betrachtungen an, sondern wollen Lehren für revolutionäre Politik heute in den Vordergrund rücken.

1917 gelang es den russischen ArbeiterInnen, Soldaten und Bauern innerhalb eines Jahres, sich gleich von zwei „großen Übeln“ zu befreien. Der Zarismus fiel in der „Februarrevolution“, die bürgerlich-kapitalistische „Provisorische Regierung“ im Oktober – ein bis heute beispielloser Akt der Befreiung.

Im Folgenden werden wir uns zuerst mit Leo Trotzkis „Die Lehren des Oktober“ beschäftigen. Dieser Text wurde 1923 geschrieben und behandelt zum einen das Scheitern der deutschen KPD im Jahre 1923, die in einer aussichtsreichen Situation ihren „Oktober“ nicht zum Erfolg führen konnte. Zum anderen zieht Trotzki in diesem Text Schlussfolgerungen aus dem russischen Oktober und der damaligen Politik der Bolschewiki. Beides war zugleich Teil der Debatten in dem sich zuspitzenden Fraktionskampf in der KPR(B) um die Zukunft des Erbes der Oktoberrevolution.

Im zweiten Teil betrachten wir die aktuelle Weltlage und stellen zentrale politische und programmatische Lehren des Oktober für die aktuelle revolutionäre Politik dar.

Die Lehren des Oktober und die Kommunistische Internationale 1923/24

Die Veröffentlichung der Schrift „Die Lehren des Oktober“ im Jahre 1923 war Teil des sich nach dem Bürgerkrieg verschärfenden Fraktionskampfes innerhalb der kommunistischen Bewegung und Internationale um die Entwicklung der Sowjetunion im Besonderen und die globale revolutionären Strategie im Allgemeinen. Die Möglichkeit einer revolutionären Entwicklung in Deutschland 1923 befeuerte noch einmal die Erwartung von 1917, dass die russische Revolution nur der Auftakt für einen weltweiten revolutionären Prozess sein werde. Das Scheitern der KPD wie auch die durch die (Nach-)Bürgerkriegslage erzwungenen taktischen Rückschritten gegenüber der Perspektive von „Staat und Revolution“ (z. B. die Einführung der „Neuen ökonomischen Politik“) mussten zwangsläufig zu einer kontroversen Debatte um Strategie und Perspektive führen.

In der Sowjetunion selbst wurde diese Debatte durch die zunehmende Bürokratisierung von Staats-, Sowjet- und Parteiapparaten geprägt, indem die neu entstehende BürokratInnenkaste zunehmend zum Faktor der Abkehr von einer dynamischen Sichtweise auf und Perspektive für die Weltrevolution wurde. Mit dem 12. Parteitag im April 1923, der bereits stark von der Stalin-Fraktion dominiert wurde, geriet die leninistische Position Trotzkis in die Defensive, zumindest in Russland selbst. Im Zuge der Entwicklung in Deutschland um den Oktober 1923 wurde die Debatte um die revolutionäre Strategie auch in der Komintern zugespitzter. Die Diskussionen um die Lehren der russischen Revolution müssen daher in diesem Kontext gesehen werden, nicht einfach als historischer Rückblick. Damit haben sie methodisch gesehen vor allem die Frage im Blick, welche Schlussfolgerungen für die weitere Strategie in einem Umfeld der Stabilisierung der kapitalistischen Herrschaft in den imperialistischen Zentren und der zeitweiligen Isolierung zu ziehen sind.

Hinsichtlich der Rolle des Verhältnisses von objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Revolution, der Rolle der Partei, der Verbindung von Strategie und Taktik im Kampf um die Macht war dies noch einmal eine gründliche und lehrreiche Diskussion der kommunistischen Bewegung, wie sie für die ersten Jahre der Komintern charakteristisch war.

Die Bolschewiki gingen bekanntlich nicht als der monolithische und immer schon voll auf der Linie der „Aprilthesen“ stehende geschlossene Block in die revolutionäre Periode nach dem Februar 1917, wie das einige Geschichtsmythen schon 1923 dargestellt haben wollten. Vielmehr entwickelte sich die Politik der Bolschewiki in einer dynamischen Wechselwirkung zwischen den Massenbewegungen, den verschiedenen Strömungen in der Partei und dem methodischen Kampf um die richtige Linie. Für Trotzki waren folgende Punkte zentral in der „inneren“ Auseinandersetzung der Bolschewiki vor der Oktoberrevolution:

„Im Mittelpunkt der Differenzen steht, wie bereits gesagt, die Frage der Machtergreifung. Dies ist überhaupt das Merkmal, das den Charakter einer revolutionären (und nicht nur einer revolutionären) Partei bestimmt. In engem Zusammenhange mit der Frage der Machteroberung wird in dieser Periode die Frage des Krieges gestellt und gelöst. Wir werden diese beiden Fragen nach den wichtigsten chronologischen Wegzeichen betrachten: der Standpunkt der Partei und der Parteipresse in der ersten Periode nach dem Sturz des Zarismus bis zur Ankunft Lenins; der Kampf um die Thesen Lenins; die Aprilkonferenz; die Folgen der Julitage, das Abenteuer Kornilows, die Demokratische Konferenz und das Vorparlament; die Frage des bewaffneten Aufstandes und der Eroberung der Macht (September-Oktober); die Frage der ,homogenen‘ sozialistischen Regierung.“ (1)

Diesen historischen Bogen spannend, zeigt Trotzki auf, dass eben in allen diesen Situationen innerhalb der Bolschewiki unterschiedliche Ansichten vertreten waren, es eben nicht die „eine“ Linie der „einigen“ Partei gab, sondern im Gegenteil die Fragen der Analyse und Taktik, aber auch der allgemeinen strategischen Ausrichtung Gegenstand scharfer innerer Auseinandersetzungen waren.

Dies zeigt auch das Verständnis einer revolutionären Partei nach leninistischem Muster, nicht nach stalinistischem Zerrbild, welches seither als Leninismus verkauft wird. Lenin war mit seinen „Aprilthesen“ in der Partei ein fraktioneller Kämpfer, jemand, der genau gegenteilig zur damaligen Parteipresse argumentierte. Hier sei dies „nur“ an der Frage der Weiterführung des Krieges angerissen, da in anderen Artikeln dieses Journals die Aprilthesen detailliert behandelt werden.

Bis zur Rückkehr Lenins, den Aprilthesen und der Aprilkonferenz der Bolschewiki trat die Prawda-Redaktion für die „kritische“ Unterstützung der Provisorischen Regierung und damit der Fortsetzung des Krieges ein. Mitte März veröffentlichte die Redaktion unter der Leitung Kamenews und Stalins einen Leitartikel in diesem Sinn.

 „,Wenn eine Armee einer anderen gegenübersteht‘ – lesen wir in einem ihrer Redaktionsartikel – ‚dann würde die unvernünftigste Politik die sein, die einer der Beiden vorschlagen würde, die Waffen zu strecken und nach Hause zu gehen. Eine solche Politik wäre keine Friedenspolitik, sondern eine Politik der Knechtschaft, eine Politik, die ein freies Volk mit Entrüstung von sich weisen würde. Nein, ein freies Volk wird fest auf seinem Posten ausharren, jede Kugel mit einer Kugel, jedes Geschoß mit einem Geschoß beantworten. Das ist unbestreitbar. Wir dürfen eine solche Desorganisierung der militärischen Kräfte der Revolution nicht zulassen.‘ (,Prawda‘, Nr. 9 vom 15. März 1917 in dem Artikel: ,Ohne Geheimdiplomatie‘)“ (2)

Und weiter zur Perspektive einer bolschewistischen Politik gegenüber dem Krieg und der Regierung: „Nicht die Desorganisierung der revolutionären und der sich revolutionierenden Armee und nicht das inhaltslose ‚Nieder mit dem Krieg!‘ ist unsere Losung. Unsere Losung ist Druck (!) auf die Provisorische Regierung mit dem Ziele, sie zu zwingen, offen vor die ganze Weltdemokratie (!) zu treten, mit dem Versuche (!), alle kriegführenden Länder zu einer sofortigen Aufnahme von Verhandlungen über die Methoden der Beendigung des Weltkrieges aufzufordern. Bis dahin aber bleibt jeder (!) auf seinem Kampfposten.“ (3)

Hier finden wir „Blüten“ einer sozialdemokratischen Politik, die sicherlich niemand mit Kommunismus oder revolutionärer Politik verbinden würde, aber genau dies verbreitetet der rechte Flügel der Bolschewiki im März 1917. Der Klassencharakter des Krieges wird nicht erwähnt, die Friedenshoffnungen werden auf die „Weltdemokratie“ projiziert, es scheint, als wäre aus den Bolschewiki eine Partei geworden, die glaubt, dass „Demokraten“ den Krieg beenden würden, wenn man nur „Druck“ auf sie ausübt.

Hauptgrund war natürlich nicht, dass „die“ Bolschewiki plötzlich nichts mehr vom imperialistischen Krieg wissen wollten, sondern dass sie auf dramatische Veränderungen der Klassenkampflage reagieren mussten. Lenin hatte diese „Ausnahmesituation“ im Juli 1917 beschrieben. Trotzki führt dieses Zitat als exemplarisches Beispiel dafür an, was revolutionäre Politik zu leisten hat:

„Allzu oft ist es vorgekommen – schrieb Lenin im Juli 1917 – daß, wenn die Geschichte eine scharfe Biegung macht, selbst die fortgeschrittenen Parteien eine mehr oder minder lange Zeit dazu brauchen, um sich der neuen Lage anzupassen, und Parolen wiederholen, die gestern noch richtig waren, heute aber jeden Sinn verloren, wie ,plötzlich‘ die scharfe Wendung eingetreten ist. (Ges. Werke, russ. Ausgabe, Bd. XIV/2, S. 12)“ (4)

Das Überprüfen der bisherigen Taktik im Zusammenhang mit der Strategie, der Machtergreifung des Proletariats, bestimmt den „Reifegrad“ einer kommunistischen Partei. Dieser „Reifegrad“ und das Vermögen der Partei, die ArbeiterInnenklasse zum Sieg zu führen, fehlte in Deutschland 1923. Hier zunächst noch eine der Hauptfragen in der Auseinandersetzung um die „Lehren des Oktober“, nämlich: War die Oktoberrevolution die Vollendung der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ oder die Diktatur des Proletariats?

Charakter der Revolution

In den Auseinandersetzungen bekämpfen vor allem Kamenew und Sinowjew die Schrift Trotzkis. In ihren Antworten prägten sie als erste den Begriff „Trotzkismus“ als einer angeblichen Abweichung vom „rechten“ Leninismus. Trotzki hatte in seiner Schrift in Erinnerung, dass diese beiden Führer, welche in Partei, Räten und der Klasse hohes Ansehen genossen, die Machtergreifung am entschiedensten bekämpften. Beide lehnten den Aufstand offen ab und vertraten die Ansicht, eine möglichst „breite“ sozialistische Regierung zu bilden. In Texten wie „Zur gegenwärtigen Lage“ versuchten sie vor der Machtergreifung des Revolutionären Militärkomitees in St. Petersburg, dieses zu boykottieren und warben weiterhin für eine Regierung der SozialistInnen.

Im Gegensatz zu den beiden nahm Trotzki diese Politik als Beispiel für den Kampf, welcher auch innerhalb der Partei stattgefunden hat und in dem die Partei zu bewerten hatte, inwieweit eine demokratische Revolution abgeschlossen ist bzw. überhaupt sein kann, inwiefern die schematische Gegenüberstellung von demokratischer und sozialistischer Umwälzung nicht selbst eine leblose Abstraktion darstellt, welche Rolle die Räte einnehmen werden und wie die Partei die Klasse zur Machtergreifung, zur proletarischen Revolution führen kann.

Trotzki hatte in seiner Theorie der „Permanenten Revolution“ schon 1905 die russische Revolution vor dem Hintergrund der internationalen Lage betrachtet. Er war nicht nur zum Schluss gekommen, dass die russische KapitalistInnenklasse nicht mehr bereit und willens war, die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen und umgekehrt die ArbeiterInnenklasse die demokratischen Fragen nur lösen könne, wenn sie selbst die Macht erobert und die sozialistische Umwälzung einleitet.

Am Beispiel einer der Hauptlosungen der Bolschewiki „Land, Brot und Frieden“ können wir das kurz skizzieren. Frieden war mit dem russischen Bürgertum nicht machbar, verfolgte es doch selbst imperialistische Interessen im Kampf um die Neuaufteilung der Welt und war seiner ökonomischen Stellung nach zudem stark vom britischen und französischen Kapital abhängig, wie Lenin in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ nachwies. Land, eine der zentralen Forderungen jeglicher bürgerlichen Revolution gegenüber dem Großgrundbesitz, konnte eben nicht von einem russischen Bürgertum durchgesetzt werden, welches selbst massiv abhängig von der Kooperation mit den feudalen Gutsherren war. Wie ohne diese beiden Forderungen das Brot, also die elementare Grundversorgung der Massen, gewährleistet werden sollte, darauf fand die Provisorische Regierung eben keine Antworten – und konnte auch keine finden.

In dieser Hinsicht stellen die Aprilthesen Lenins eine „Neuausrichtung“ der Analyse der Verhältnisse in Russland dar. Die Februarrevolution hatte gewissermaßen die bürgerlich-demokratische „Etappe“ abgeschlossen wie auch deren Ausweglosigkeit bewiesen. Lenins Politik, sein offener Fraktionskampf für die proletarische Revolution innerhalb der Partei, stützte sich auf seine Imperialismus-Theorie und die implizite Anerkennung der Theorie der Permanenten Revolution.

Nur das Proletariat war in der Lage, diese Forderungen umzusetzen. Nur wenn es die Revolution führt und in einem politischen Bündnis mit der Bauernschaft auftritt, kann die Diktatur des Proletariats die elementaren Aufgaben der bürgerlichen Revolution erfüllen. Das war die Neuausrichtung der Bolschewiki, die Kamenew und Sinowjew 1917 bekämpften. Sie taten dies auch bei der Veröffentlichung der „Lehren des Oktober“ 1924, indem sie behaupteten, die Oktoberrevolution sei die Verwirklichung der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ und Trotzki die Verzerrung des Bolschewismus in einen „Trotzkismus“ unterstellten. In Wirklichkeit wurde von ihnen der Weg zur Fälschung der Geschichte der Revolution beschritten, die im Stalinismus „vollendet“ wurde.

Die Lehren – was heißt heute Revolution?

In der öffentlichen und akademischen Diskussion zur Russischen Revolution werden uns auch dieses Jahr bekannte Gleichnisse erwarten. Für die bürgerliche Geschichtsschreibung konnte die Revolution von 1917 nur im späteren Stalinismus enden. Sie zieht eine Linie vom Sowjetsystem zu den Moskauer Prozessen. Mag sie auch anerkennen, dass Revolutionäre wie Lenin oder Trotzki diese Entwicklung nicht wollten – sie erscheinen in der bürgerlichen Auffassung wie Zauberlehrlinge, die allenfalls selbst zum Opfer der Geister wurden, die sie riefen.

Somit konnte die Politik der Bolschewiki nur zu den späteren „Einheitsparteien“ führen, so musste auf Lenin Stalin folgen. Eine Revolution selbst, der gewaltsame Sturz des Kapitalismus, muss letztlich als das Grundübel herhalten. So dient die Entartung durch den Stalinismus als Maßstab zur Bewertung der russischen Revolution. Diese hätte nichts wirklich verändert und auch nicht verändern können. Vor allem die Demokratie der westlichen Staaten wird dabei zum Gegenstück, zum Erfolgsmodell für alle Klassen verklärt, als eine Gesellschaftsordnung, die Brüche und Veränderungen zulassen würde, die dem „Willen“ der Mehrheit folge. Dass diese Demokratien eine Form der Klassenherrschaft sind, dass der Kapitalismus eben nicht im Parlament abgeschafft werden kann, mag das Wahlvolk zwar erahnen. Umso entschiedener soll es mit der herrschenden demokratischen Ideologie benebelt werden.

Oftmals wird auch die pazifistische Argumentation gepflegt, dass aus „Gewalt“ nichts Gutes entstehen könne, schon gar keine befreite Gesellschaft. Die Finger von der Revolution lassen, lautet diese „Lehre“. Die Infragestellung der bestehenden Gesellschaft – sofern überhaupt nur gedacht – endet dort, wo ihr die reale Gewalt des Staatsapparates die Grenzen setzt.

Nicht ganz so kritisch geht die bürgerliche Geschichtsschreibung mit den eigenen, also den bürgerlichen Revolutionen um. Schließlich wird noch heute in der Schule der Verlauf der französischen Revolution bspw. gelehrt. Doch selbst deren „Exzesse“, die Gewaltherrschaft, das Köpfen des Kaisers dienen vor allem dazu, die bürgerliche Gesellschaft als eine Ordnung schönzureden, die solche Gewalt nicht mehr nötig hätte.

Wie alle anderen Wissenschaften auch ist die Geschichtswissenschaft nicht unabhängig von der jeweiligen Klassenherrschaft, besonders neigt sie dazu, eine „Geschichte der Sieger“ zu sein, dementsprechend auch das eher negative Bild der russischen Revolution. Die Februarrevolution kommt dabei – gerade weil sie nur auf halbem Wege war und die Eigentumsverhältnisse nicht überwand – als die „gute“ Seite davon. Wirklich schrecklich wurde es im Oktober. Hätte die damalige „Provisorische Regierung“ gehalten, hätte Russland seine „Weimarer Republik“ gehabt, wir würden wahrscheinlich noch heute positive Bezüge der Geschichtswissenschaft dazu finden. Diese Provisorische Regierung der bürgerlichen Parteien, der Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre hielt aber keine acht Monate, an ihrem Ende stand der Beginn der Diktatur des Proletariats, also einer Gesellschaftsordnung, in der die ausgebeutete Klasse die Herrschaft übernahm.

Der Kampf der Klassen

Russland war in seiner gesellschaftlichen Entwicklung zweifellos rückständig. Aber die Entwicklung kombinierte Formen extremem Hinterherhinkens, feudaler und halb-feudaler Verhältnisse am Land mit der Entwicklung einer für ihre Zeit riesiger und moderner Industrieregionen wie in St. Petersburg. Diese ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung war selbst Resultat der internationalen Ordnung, in der die Länder mit späterer kapitalistischer Entwicklung nicht einfach den Entwicklungsprozess anderer wiederholen, sondern vielmehr höchst moderne mit altertümlichen Formen kombinieren. Diese Gesetzmäßigkeit kann auch heute in den vom Imperialismus beherrschten Ländern immer wieder beobachtet werden.

Sie widerspricht und widersprach zugleich den schematischen Vorstellungen der Zweiten Internationale. Als „rückständiges Land“ müsste Russland noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte auf die sozialistische Umwälzung warten. Zu mehr als einer demokratischen Revolution wäre das Land nicht reif. Die Tatsache, dass die Diktatur des Proletariats dann Realität wurde in Russland, widerlegt auch dieses Konstrukt des Gradualismus und Reformismus der Zweiten Internationalen, das in der sog. „Etappentheorie“ des Stalinismus wieder zu einer „Gesetzmäßigkeit“ ideologisiert wurde. Das Programm der Bolschewiki war auf zwei Hauptrichtungen ausgerichtet. Diese lassen sich mit den Losungen „Alle Macht den Sowjets!“ und „Land, Brot und Frieden“ agitatorisch darstellen. Die Macht den Sowjets zu übertragen bzw. dafür zu kämpfen, dass die Sowjets die Macht übernehmen, hieß den endgültigen Bruch mit der „Provisorischen Regierung“ herbeiführen und damit auch den Bruch mit dem bürgerlich-parlamentarischen System zu vollziehen. Nur durch den Übergang der Macht von einer Klasse zu andern, von der Bourgeoisie zum Proletariat, konnte dies erreicht werden.

Die Forderung nach Frieden, Brot und Land beinhaltet dabei Tagesforderungen, Übergangsforderungen und auch Maximalforderungen. Das Programm stellt die unmittelbaren Bedürfnisse des „Volkes“ nach Brot, nach Land, nach Frieden in den Zusammenhang, wie denn diese längerfristig zu sichern sind.

Die Bolschewiki in ihrer Gesamtheit, ihrer steigenden Verankerung in den Sowjets, in den Garnisonen und Truppenverbänden, ihren lokalen Organisationen, ihrer Parteipresse, ihrer politischen Führungskader waren auf die Zerschlagung der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft ausgerichtet. Ihr Charakter als „Kampfpartei“ ermöglichte es ihnen, den Kampf um die Führung der Klasse, wenn auch nicht ohne Reibungspunkte, so doch systematisch zu führen. Auch diese revolutionäre „Kompaktheit“ hatte sich erst im Jahre 1917 zwischen dem Februar und dem Oktober entwickelt, war Teil eines politischen Kampfes auch innerhalb der Führung der Bolschewiki.

Die Partei entwickelte sich mit der revolutionären Gesellschaft in Russland. Sie fand neue Antworten auf die Verschärfung der Krise der Provisorischen Regierung, entwickelte Taktiken gegenüber den politischen GegnerInnen innerhalb der Klasse und war dadurch in der Lage, sich mit ihrer Avantgarde, dem fortgeschrittenen Teil, zu vereinigen und mit dieser den Kampf um die Macht anzugehen.

Wesentliches Merkmal des Klassenkampfes in Russland 1917 war die besonders zugespitzte Klassenpolarisierung. Die Sowjets, als Organe der Doppelmacht, also embryonale Form der Diktatur des Proletariats, spiegelten diese Entwicklung wider, indem sie sich mehr und mehr vom Kurs der „Versöhnler“, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre abwandten und offen gegen die Provisorische Regierung auftraten. Je offener dies geschah, desto klarer wurde die Schwäche der Bourgeoisie. Die proletarische Klasse zu ermächtigen, ihr Programm zu entwickeln und zu verteidigen, dem Proletariat organisierten Ausdruck in politischer und militärischer Form zu geben, dies erhöhte nicht allein dramatisch das Bewusstsein der Klasse, es zeigte den konkreten Weg zum Sieg, zum Aufstand auf – das war eines der wesentlichen Elemente der Klassenpolitik der Bolschewiki 1917.

Diese Politik war es auch, welche das bürgerliche Lager und dort besonders die Vertreter eines reformistischen, bürgerlich-demokratischen Kurses innerhalb der ArbeiterInnenklasse schwächte. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, welche während der Februarrevolution noch die stärksten Kräfte innerhalb der ausgebeuteten und unterdrückten Massen von Stadt und Land waren, wurden durch ihre eigene Politik geschwächt, durch ihren Versuch, unversöhnliche Klassengegensätze miteinander zu versöhnen. Aber es war die Politik der Bolschewiki, die diese inneren Widersprüche nicht nur offenlegte und vertiefte, sondern zugleich auch eine politische Alternative, den Kurs auf den Oktober wies. So konnten die Massen nicht nur von ihren Illusionen befreit werden. Sie wurden zugleich für eine Lösung gewonnen, die ihnen eine Perspektive bot.

Diese revolutionäre Klassenpolitik wurde durch die Degeneration der Dritten Internationale und tiefe Niederlagen in der ArbeiterInnenklasse marginalisiert. Seit dem politischen Scheitern der Vierten Internationale Ende der 40 der Jahre sind wir mit einer Lage konfrontiert, in der es keine „Weltpartei“ der sozialistischen Revolution gibt, in der die revolutionäre Kontinuität über Jahrzehnte unterbrochen wurde.

In dieser Hinsicht leben wir in einer anderen Zeit als die Bolschewiki am Beginn des Ersten Weltkrieges. Der Verrat der Sozialdemokratie fand vor dem Hintergrund einer politisch vom Marxismus stark beeinflussten und von einer revolutionären Zukunftserwartung geprägten ArbeiterInnenavantgarde statt. Dies war auch ein günstiger, weil schon politisch vorgeprägter Boden für die Dritte Internationale.

Heute leben wir in einer Periode, die von einer Tiefe der Krise der proletarischen Führung geprägt ist, von einer Marginalisierung des revolutionären Kommunismus in der ArbeiterInnenklasse wie auch von einem Jahrzehnte lang anhaltenden Abbruch einer lebendigen Tradition politischer und programmatischer Diskussion in der Avantgarde der Klasse. Der revolutionäre Kommunismus ist auf das Stadium von Propagandagruppen zurückgefallen, die ihrerseits auch programmatisch und theoretisch weit hinter den Aufgaben der Zeit zurückliegen.

Vor uns steht also die Aufgabe, wie die Trennung von der AbeiterInnenvorhut zu überwinden und zugleich der Marxismus auf die Höhe der Zeit zu heben sind. Das kann nur durch eine Kombination theoretischer und programmatischer Klärung mit entschlossener Aufbauarbeit bewerkstelligt werden.

Diese Arbeit findet vor dem Hintergrund einer historischen Krisenperiode des Kapitalismus als globalem System statt. Die Bourgeoisien fechten weltweit den Kampf um „ihre“ Herrschaft, die Neuaufteilung der Welt in den kommenden Jahrzehnten aus. Daher stellt eine revolutionäre Antwort und Politik heute eine entscheidende Notwendigkeit dar.

Imperialismus heute

Seit 2007/2008 tritt uns die Krise des Gesamtsystems entgegen. Ihr zugrunde liegt eine Überakkumulationskrise des Kapitals, die mit den normalen Mitteln der Kapitalvernichtung im industriellen Zyklus nicht gelöst werden kann. In den ersten Jahren nach Ausbruch fürchteten die herrschenden Klassen und die IdeologInnen des freien Marktes, dass vor allem die Linke von der Krise politisch profitieren würde. Nicht nur der Neoliberalismus, auch der Kapitalismus war in den Augen von Millionen und Abermillionen fragwürdig geworden. Aber die ArbeiterInnenbewegung, die Gewerkschaften und reformistischen Massenparteien versagten darin, globalen Widerstand gegen die Abwälzung der Kosten der Krise auf die Massen zu organisieren. Im Gegenteil. Statt gemeinsamen Kampfs wurde vielfach der nationale Schulterschluss gesucht, um durch „Partnerschaft“ mit dem Kapital „das Schlimmste“ zu verhindern.

So konnten die herrschenden Klassen dem ersten Schock der Krise entrinnen. Sie setzten auf die Rettung des Großkapitals, der Banken, Finanzinstitutionen und großen Industriekonzerne – auf Kosten der Massen in den halb-kolonialen wie in den imperialistischen Ländern. Die Mittel, die zur Rettung der Großkapitale vor der Vernichtung „überschüssigen“ Kapitals verwandt wurden, befeuerten die Staatsverschuldung, neue spekulative Blasen und die Schuldenkrise. Die nächste Explosion kommt sicher – und sie wird wahrscheinlich noch heftiger als 2007/2008, da der Spielraum für ein koordiniertes Vorgehen zwischen den imperialistischen Staaten aufgrund der verschärften Konkurrenz immer geringer wird.

In dieser Krise ist ein Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten entbrannt – ein Kampf um die weitere Vorherrschaft, um die Verteilung der Zugriffsrechte der verschiedenen imperialistischen Kapitalfraktionen auf den Weltmarkt und die Produktivkräfte ist ausgebrochen.

Das sind die heutigen Voraussetzungen und diese führen zum Zusammenbruch der alten Gewissheiten. Blöcke verschiedener Staaten fallen auseinander, alte Koalitionen sind nichts mehr wert, neue Koalitionen und besonders neue Fronten bilden sich. So verlässt ein imperialistisches Kernland wie Großbritannien die EU, so schürte der Ukraine-Konflikt wieder eine Blockkonfrontation der NATO gegenüber Russland.

Als inner-imperialistisches Spannungsfeld steht heute vor allem der Pazifik inklusive der „angrenzenden“ Kontinente im Fokus. Speziell die Vormachtstellung in Asien ist dabei umkämpft. Hier sammeln sich verschiedene imperialistische Staaten und Regionalmächte, die die Vormachtstellung der USA angreifen. In China, Japan, Indien, Südkorea, Australien, Indonesien wird ein immer größerer Teil aller Waren produziert, investiert und konsumiert.

Die Neuaufteilung der Welt ist Zeichen der Krise der bisherigen imperialistischen Ordnung. Die Ordnungsmacht USA wird herausgefordert, von alten Verbündeten wie der EU und Japan, aber auch von neuen Mächten wie China und Russland. Diese Ausgangslage führte in der imperialistischen Epoche schon zweimal zum Weltkrieg, zur letzten „Lösung“ für dieses System und dessen Krise. Der Kampf gegen alle imperialistischen Mächtegruppen, gegen Aufrüstung, Interventionen, Besetzung, Krieg ist notwendiges Mittel zur Herausbildung eines neuen proletarischen Internationalismus.

Vor allem Nationalisten, Rassisten, Faschisten sind es, die sich aufgrund des Versagens der traditionellen ArbeiterInnenbewegung, des Linkspopulismus und von Niederlagen (Scheitern der griechischen Revolution, Kapitulation von Syriza, …) im Aufwind befinden.

Die Krise trifft nicht nur die Masse der ArbeiterInnenklasse, der Bauernschaft und städtischen Armut der Halbkolonien. Sie setzt auch die Mittelschichten in Gang, radikalisiert sie aufgrund der Drohung des sozialen Abstiegs. Der Rechtspopulismus vermischt dabei Demagogie gegen das (ausländische) Großkapital mit Nationalismus und Rassismus. Dies gilt nicht allein für die kleinbürgerlichen Unternehmen oder „Mittelständler“, die unter vermehrten Druck geraten, sondern auch für ganze Berufsgruppen bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenklasse, die sich vom Abstieg bedroht sehen. Für die Mittelschichten droht eine Perspektive als überausgebeutete Selbstständige oder das Abrutschen in die ArbeiterInnenklasse, für Teile der traditionellen Kernschichten der IndustriearbeiterInnenschaft Jobverlust und Ruin.

Und so sammeln ein Front National (FN), eine UKIP, die AfD oder auch Trump in den USA die enttäuschten, deklassierten oder vom Abstieg bedrohten Teile der Gesellschaft und geben ihnen ein gemeinsames Feindbild – das Fremde, die MigrantInnen oder die Geflüchteten, wenn dazu noch islamischen Glaubens, dann passt das Feindbild. Gleichzeitig wird die Stärke von Nation und Volk beschworen – der angeblich sichere Hafen in den Krisenzeiten des Kapitalismus. Das „Binnenklima“ dieser imperialistischen Periode ist von Konkurrenz, Angstmache, realer Panik und Hetze gekennzeichnet, ein optimaler Nährboden für nationalistische und in weiterer Folge auch faschistische Krisenlösungen.

Wohin die Widersprüche drängen

Nach dem Ende des sog. „Kalten Krieges“, der Niederlage des Warschauer Pakts im ewigen Wettrüsten, den Versprechungen der Globalisierung und des Neoliberalismus können wir heute feststellen: Das Kapital hat nicht nur keine Versprechungen gehalten, es droht die Menschheit in den Abgrund zu reißen. Der Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium bringt keine Fortschritte mehr für die Massen. Alle Fragen, die die Menschheit zukünftig lösen muss, Lebensmittelversorgung, Trinkwassergewinnung, Umweltzerstörung und Klimawandel, genügend Arbeit für Milliarden von Händen und Köpfen – all das kann der Imperialismus, kann die imperialistische Bourgeoisie nicht lösen. Ihren Medien und „Ideologen“ bleibt als letzte „Rechtfertigung“, dass es eben nicht „besser“ gehe, dass auch der Kommunismus nicht funktioniert hätte und daher eine andere Gesellschaftsordnung, eine andere Produktionsweise, andere Produktionsverhältnisse überhaupt nicht möglich wären.

Dabei zeigt auch unvoreingenommene Betrachtung der heutigen gesellschaftlichen Realität, dass eine globale Planwirtschaft funktionieren könnte. In seiner entfremdeten, widersprüchlichen Form zeigt dies sogar der aktuelle Kapitalismus. Die heutigen Großkonzerne, die Monopole, welche die Märkte aufgeteilt haben, arbeiten natürlich mit Planung, mit internationaler Planung. Eine internationale Arbeitsteilung wäre gar nicht möglich, wenn diese Abläufe keiner Planung unterworfen wären. So ist bei jedem Produkt klar, woher die Rohstoffe kamen, wie sie weiterverarbeitet wurden, welche Produktionsprozesse wo stattgefunden haben und welche ZwischenhändlerInnen es bis zum KonsumentInnen brachten. Nur nach welcher Maßgabe funktioniert das heute? Nach den Angebotsstrategien der Konzerne, ihrer Marktmacht, ihrer Macht zu bestimmen, was wo gekauft werden kann. Letztlich orientiert sich alle Produktion, Distribution und Konsumtion danach, ob genügend Gewinn bei den Konzernen und der besitzenden Bourgeoisie hängenbleibt. Dieser Zwang bestimmt die gesellschaftliche Entwicklung – und hemmt ab einer bestimmten Stufe die Entwicklung der Produktivkräfte selbst. In einer solchen Periode leben wir.

Schon mit dem gegebenen Stand der Produktivkräfte wäre es möglich, ausreichend Ernährung, Kommunikation, medizinische Versorgung, Infrastruktur, Verkehrswege, Energie und Bildungszugang für alle sieben Milliarden Menschen zu organisieren. Dem steht die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums entgegen. Nur durch die Enteignung des Privateigentums können die Produktivkräfte nicht für diesen bornierten, profitorientierten Zweck, sondern für die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Gesellschaft eingesetzt werden. Das Ziel einer revolutionären Politik muss die Enteignung der KapitalistInnenklasse und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft sein.

Programmatisches Erbe

Wir stehen heute am Beginn einer weltgeschichtlichen Periode, die in vielem der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, hinterlässt die Politik des Bolschewismus ein theoretisch-programmatisches Erbe das auch heute noch, ja wieder aktuell ist und an das es anzuknüpfen gilt.

1. Der internationale Charakter der Revolution

Der Kapitalismus ist schon immer ein internationales gesellschaftliches System gewesen. Seine inneren Krisen treiben notwendigerweise zu revolutionären Zuspitzungen – und zwar im globalen Maßstab. Kommunistische Politik darf daher den internationalen Klassenkampf nicht als Summe nationaler Kämpfe begreifen, sondern muss umgekehrt von den Gesamtinteressen der Klasse ausgehen. Der Sozialismus in einem Land hat sich im Stalinismus als das erwiesen, was er seinem Begriff nach schon immer war – eine reaktionäre Utopie.

2. Anti-Imperialismus

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt droht der Menschheit mit neuen Handelskriegen, Zuspitzungen bis hin zum großen Krieg. Die ArbeiterInnenklasse darf in diesem reaktionären Ringen keine Gruppe imperialistischer Staaten und Mächte unterstützten, sondern muss sich im Konflikt der Methode des „revolutionären Defaitismus“ bedienen und des Klassenkampfes gegen die „eigene“ Bourgeoisie . Liebknechts Losung „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ hat nichts an Aktualität verloren.

Antiimperialismus bedeutet nicht nur Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie, er bedeutet auch die Unterstützung nationaler Befreiungskämpfe unterdrückter Nationen, von Aufständen und Klassenkämpfen gegen die ImperialistInnen und die „nationale“ Bourgeoisie in den halb-kolonialen Ländern.

3. Permanente Revolution

Der niedergeschlagene „Arabische Frühling“ war ein weiterer Beweis dafür, dass demokratische Forderungen im Zeitalter des Imperialismus nicht allein durch eine „demokratische Revolution“ errungen werden können. Die Abhängigkeit des Bürgertums in den Halbkolonien von den imperialistischen Bourgeoisien ist heute genauso gegeben wie die Abhängigkeit der russischen Bourgeoisie vom Großgrundbesitz und dem französischen und britischen Finanzkapital. Daher braucht das Proletariat eine unabhängige Klassenpolitik. Nur diese kann die Basis für ein Bündnis mit den ausgebeuteten Schichten von Stadt und Land, speziell den unteren Schichten der Bauernschaft in den Halbkolonien sein. Dies bedeutet auch, dass Proletariat, Bauernschaft und die städtische Armut nicht auf die Illusionen in eine „westliche“ Demokratie setzen dürfen, sondern stets deren Abhängigkeit vom Imperialismus berücksichtigen und für die proletarische Demokratie, die Rätedemokratie kämpfen.

4. Verteidigung demokratischer Rechte

Gerade angesichts der reaktionären Züge unserer Zeit gewinnen die Verteidigung demokratischer Rechte und das Einstehen für demokratische Forderungen eine wichtige Bedeutung. Wir stehen an der Seite derjenigen, welche die Meinungs- und Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit auf gewerkschaftlicher und Parteiebene gegen staatliche Eingriffe und Repressionen verteidigen. Dabei ist uns aber auch klar, dass dieser Kampf nicht abstrakt für die parlamentarische Demokratie geführt werden kann, sondern auf eine proletarische Demokratie, eine Rätedemokratie abzielen muss.

5. Soziale Unterdrückung

Die kapitalistische Ausbeutung stützt sich zusätzlich auf mannigfaltige Unterdrückung verschiedener Teile der Bevölkerung und insbesondere unter den ProletariarierInnen. Rassismus, Sexismus, Homophobie werden benutzt, um die Spaltung der Klasse zu vertiefen und chauvinistische Vorurteile und rückständiges Bewusstsein zu stärken. Deswegen treten wir für besondere Rechte der unterdrückten Teile der ArbeiterInnenklasse ein, wollen die Selbstorganisierung von Frauen, von MigrantInnen, von Menschen mit LGBTIQA-Orientierung und der Jugend stärken. So können diese ihren Kampf gegen die Unterdrückung als Teil des Proletariats führen, wie wir auch in der Klasse gegen Vorurteile und rückständiges Bewusstsein kämpfen. Der Kampf wie der gegen Rassismus, für offene Grenzen und gleiche Rechte aller MigrantInnen und Flüchtlinge ist integraler Bestandteil des Klassenkampfes.

6. Taktik der Einheitsfront

RevolutionärInnen suchen die größtmögliche Einheit der ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen das Kapital, die Regierung, den bürgerlichen Staat. Diese Forderung richten sie – wie die Bolschewiki 1917 – an die ArbeiterInnenparteien und Massenorganisationen, deren Basis wie deren Führungen. Der gemeinsame Kampf für klar definierte Ziele darf dabei nie auf Kosten der Freiheit der Propaganda und Kritik der zeitweiligen reformistischen, gewerkschaftlichen oder kleinbürgerlichen BündnispartnerInnen gehen. Ein revolutionäre Anwendung der Einheitsfronttaktik verfolgt nämlich immer zwei Ziele gleichzeitig – größtmögliche Einheit in der Aktion und die Ablösung der ArbeiterInnen und Unterdrückten von reformistischen, zentristischen oder klein-bürgerlichen Führungen.

7. Zerschlagung des bürgerlichen Staats – Kampf um die Rätemacht

Ein entscheidendes Merkmal der erfolgreichen russischen Revolution waren die Sowjets, die Räte, welche den gesammelten Willen des Proletariats, der Bauernschaft und der Soldaten 1917 repräsentierten und daher die wichtigste Stütze der Revolution verkörperten. Diese können nur in revolutionären und vor-revolutionären Situation entstehen. So wichtig die Räte dabei als elementare Form der Selbstorganisation der Klasse sind, so können sie ihr Potential als Kampforgane und Kern einer zukünftigen proletarischen Staatsmacht nur verwirklichen, wenn sie von einer revolutionären Partei geführt werden. Alle Theorien, die die Räte der Partei entgegenstellen, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. Nur durch eine revolutionäre Führung kann die Klasse, gestützt auf Räte, auf Milizen – den bewaffneten Teil der ArbeiterInnenklasse – und in Räten organisierte Soldaten die Macht erobern, eine Doppelmachtsituation aufheben, die bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen und durch einen proletarischen Halbstaat ersetzen.

8. Proletarier aller Länder vereinigt Euch!

Diese bekannte Losung aus dem kommunistischen Manifest hat an Strahlkraft nichts von ihrer Bedeutung verloren, im Gegenteil. Ein revolutionärer Kampf, eine Befreiung der Menschheit vom Kapitalismus, die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft kann nur auf internationaler Basis stattfinden – oder eben nicht. Dies war die Erkenntnis von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki bis zu ihrem Tod. Die Entfremdung dessen, ja sogar völlige Verzerrung durch die Ideologie des „Sozialismus in einem Land“ hat nicht nur die Degeneration und schließlich das Ende dieses ArbeiterInnenstaates eingeläutet, es hatte auch verheerende Folgen für den internationalen Klassenkampf und die politischen Organisationen. Letztlich führte dies zur Abschaffung der Komintern, welche zuvor den nationalen Bedürfnissen der Sowjetbürokratie untergeordnet wurde.

Deswegen ist der Aufbau einer Weltpartei der sozialistischen Revolution, einer 5. Internationale heute die zentrale Aufgabe unserer Zeit. Nur ein internationales Programm gegen den Imperialismus, welches die aktuellen Kämpfe weltweit via der Übergangsmethode mit dem Kampf gegen die herrschende Ordnung verbindet, kann diesen auch herausfordern und stürzen.

9. Für die revolutionäre Partei!

Wir treten ein für das methodische und taktische Rüstzeug der linken Opposition in der Sowjetunion, für die Theorie und Praxis der Bolschewiki-LeninistInnen. Mit ihrer Methode und ihren Analysen haben sie die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus betrieben und real die „Lehren des Oktober“ gezogen. An diesen Fundus knüpfen wir mit unserer Programmatik, unserer Strategie und Taktik an und wollen diese in den Aufbau einer neuen kommunistischen Partei und Internationale einbringen, da nur auf dieser Grundlage eine lebendige kämpferische Organisation aufgebaut werden kann. Zu den Werkzeugen des Marxismus, des Leninismus wollen wir eine Herangehensweise entwickeln, die im folgenden Zitat gut wiedergegeben ist:

„Und wenn irgendetwas tödlich für das geistige Leben der Partei und die theoretische Erziehung der Jugend sein kann, dann dies, nämlich den Leninismus aus einer Methode, zu deren Anwendung Initiative, kritisches Denken und ideologischer Mut notwendig sind, in einen Kanon zu verwandeln, der nur Interpreten braucht, die ein für alle Mal ernannt wurden.“ (5)

 

Endnoten

(1) Trotzki, Leo D.: „Die Lehren des Oktober“, in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band II, 1924-1925, Berlin/West [Olle & Wolter], 1975, S. 204

(2) Ebenda, S. 205

(3) Ebenda, S. 205 f.

(4) Ebenda, S. 196

(5) ders.: „Schriften zum Neuen Kurs der Partei“ (Kapitel: Tradition und revolutionäre Politik), in: Wolter, Ulf [Hrsg.]: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928“, Band I, 1923-1924, Berlin/West [Olle & Wolter], 1976, S. 390