Vorwort

Redaktion Revolutionärer Marxismus, September 2015

Der Verrat von Syriza, kam er auch nicht unerwartet für RevolutionärInnen, hat die europäische Linke „überrascht” – auch diejenigen, die es eigentlich besser wissen konnten, ja mussten. Bei Podemos zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab.

Desorientierung und Konfusion sind eine Reaktion auf den Verrat oder Zusammenbruch dieser Formationen. Ihnen kann abgeholfen werden – vorausgesetzt, es ist ein ehrliches Bedürfnis vorhanden, den Ursachen der eigenen Illusionen nachzugehen und daraus die politischen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Die meisten Beiträge dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus” kreisen daher um die Frage der „Umgruppierung”, der Ursachen der Entstehung „neuer” politischer Formationen und der Taktik ihnen gegenüber. Der Artikel „Krise, Klasse, Umgruppierung” stellt ein analytisches und methodisches Instrumentarium zur Verfügung. Die Beiträge zu Syriza, Podemos, zur kurdischen Frauenbewegung und zur NaO setzen sich mit einzelnen Umgruppierungsprojekten auseinander.

Die Kritik an der Untauglichkeit reformistischer und zentristischer Konzepte darf freilich nicht zu sektiererischen Schlüssen führen. So unerlässlich diese Kritik auch ist – so wird sie allein nicht ausreichen, um proletarische und jugendliche AnhängerInnen dieser Formationen für revolutionäre Politik zu gewinnen. Daher widmen sich alle diese Beiträge nicht nur der Kritik, sondern insistieren zugleich auf der Notwendigkeit eines taktischen Eingreifens.

Die Polemiken zur Ukraine-Politik von RIO und zu Lutte Ouvrière setzen sich ebenfalls mit grundlegenden Fehlern pseudo-revolutionärer Gruppierungen auseinander. Den RM selbst schließen „Thesen zum Trotzkismus im 21. Jahrhundert” ab, die wir auf unserem letzten Weltkongress beschlossen haben.

Da „Umgruppierung” nicht im luftleeren Raum stattfindet, versucht der Artikel zum deutschen Imperialismus den politisch-ökonomischen Rahmen abzustecken, vor dessen Hintergrund RevolutionärInnen in Deutschland agieren müssen. Dass sich die herrschende Klasse anschickt, einen dritten Anlauf zum „Platz an der Sonne” zu nehmen, ist ein mehr oder weniger offenes Geheimnis. Das Gros der Linken in Deutschland weigert sich jedoch standhaft, dies zum Ausgangspunkt seiner eigenen Aktivität zu nehmen und daraus die politischen Schlüsse zu ziehen. Auch dem wollen wir mit unseren Beiträgen auf theoretischer und programmatischer Ebene den Kampf ansagen.




Krise, Klasse, Umgruppierung – Strategie und Taktik in der aktuellen Periode

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Historische Krisen verändern alles. Sie stellen alle gesellschaftlichen Verhältnisse, alle Beziehungen zwischen den verschiedenen Klassen wie die „Ordnung“ zwischen den Staaten rasch, oft bruchartig in Frage.

War die vorhergehende Periode von einem mehr oder weniger stabilen „Gleichgewicht“ geprägt, innerhalb dessen sich die sozialen und politischen Verhältnisse entwickelten, das wie eine Schranke der gesellschaftlichen Konflikte wirkte, so zeichnet eine Krisenperiode gerade aus, dass dieses Gleichgewicht nachhaltig gestört, ja zerstört ist. Erst durch eine Reihe von Klassenkämpfen und eine globale politische Neuordnung kann ein neues Gleichgewicht überhaupt re-etabliert werden.

Eine solche Krisenperiode begann 2007. Die Maßnahmen, die die herrschenden Klassen der führenden imperialistischen Staaten zur Bekämpfung der Krise durchführten, haben jedoch bislang keineswegs zur Beseitigung der Ursache der Krise – der Überakkumulation von Kapital – geführt. Im Gegenteil, das überschüssige Kapital, das sich in den Händen der großen Monopole auf dem Finanzsektor und in der Industrie der imperialistischen Staaten konzentriert, wurde auf Kosten der Gesellschaft – v.a. der ArbeiterInnenklasse, der Bauernschaft, der städtischen und ländlichen Armut, aber auch von Teilen des Kleinbürgertums und der Mittelschichten – „gerettet“.

So können zwar kurzfristig Profite gesichert und Anlagesphären für das vagabundierende Finanzkapital geschaffen werden, allerdings nur um den Preis der nächsten, größeren wirtschaftlichen Explosion, der weiteren Anhäufung der Ursachen der Krise. Denn die Vernichtung überschüssigen Kapitals, das keine produktive Verwertung mehr in der Industrie finden kann, ist unvermeidlich, um dem Fall der Profitrate in allen zentralen Wirtschaftssektoren entgegenzuwirken. Das ist letztlich nur durch einen Schock, die Zerstörung enormer Überhänge von Kapital und auch realer produktiver Kapazitäten der Gesellschaft sowie einer historischen Niederlage der ArbeiterInnenklasse und aller nicht-ausbeutenden Schichten möglich.

Imperialismus als ein globales politisches und ökonomisches System bedeutet dabei, dass zwischen den Kapitalien und auch zwischen den großen Staatenblöcken ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt um die Frage, wer welche Kosten der Krise tragen muss, welches nationale Gesamtkapital (und das heißt v.a., welches Monopolkapital) siegt. Diese Konkurrenz wird keineswegs nur auf ökonomischer Ebene ausgetragen, ja sie muss unvermeidlich auch politisch und militärisch ausgefochten werden.

Im Rahmen des Kapitalismus kann die Krise nicht gelöst werden ohne eine Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten. Daher ist die Formierung imperialistischer Blöcke um alte und neue Mächte (USA, China, Japan, Deutschland, Frankreich, Britannien, Russland), das Eingreifen verschiedener Mächte in alle Konflikte auf dem Globus eine notwendige politische Folgeerscheinung der gegenwärtigen Periode.

Im folgenden Artikel wollen wir uns freilich nicht mit den Ursachen der Krise, ihrer Verlaufsform und der inner-imperialistischen Konkurrenz beschäftigen. Dazu haben wir in früheren Ausgaben des „Revolutionären Marxismus“ (RM) grundlegende Artikel veröffentlicht (1). Zur Krise der Europäischen Union und zu den Ambitionen des deutschen Imperialismus findet sich ein Text in diesem RM (2).

Unser Hauptaugenmerk gilt vielmehr der ArbeiterInnenklasse, genauer ihrer politischen Umgruppierung in der gegenwärtigen Periode. Die Bedeutung des Themas lässt sich kaum zu gering veranschlagen.

In den letzten Jahren sind auf der ganzen Welt „neue“ politische Parteien, Formationen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten entstanden. Innerhalb der „radikalen“ Linken findet eine rege Diskussion statt, wie auf diese Veränderung der Klasse zu reagieren, ob und wie in diese Neuformierungen zu intervenieren sei.

Um die politischen Veränderungen der Klasse zu verstehen, reicht es freilich nicht aus, nur die ideologischen Neuformationen zu konstatieren. Der Grund für die Entstehung neuer und, bei Lichte betrachtet, oft keineswegs so „neuer“ politischer Parteien liegt auch darin, dass die Klasse selbst und ihre „tradierten“ gewerkschaftlichen und politischen Organisationen grundlegende Veränderungen durchmachen – und so überhaupt erst das Bedürfnis nach einer Neuorganisation bei größeren Teilen der Avantgarde, der politisch fortgeschrittenen Schichten der ArbeiterInnenklasse, tw. auch bei der Masse, schaffen.

A Die Krise und die Veränderungen der Klasse

Die ArbeiterInnenklasse war seit ihrer Entstehung nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. V.a. aber ist für den marxistischen Klassenbegriff im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie entscheidend, die „Klassenzugehörigkeit“ als ein Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen, zwischen Klassen zu fassen, nicht als eine Ansammlung von individuellen Attributen (Berufsstand, Einkommensgröße …). Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals ist es dabei, die wesentlich die Zusammensetzung, Umwälzung, Neuzusammensetzung der Klasse bestimmt. Die gegenwärtige Krisenperiode hat daher – wenig überraschend – die ArbeiterInnenklasse weltweit grundlegend verändert.

Schon in der vorhergehende Periode, jener der „Globalisierung“, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten (3), begann das Proletariat, weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durchzumachen. In mancher Hinsicht haben die Entwicklungen der letzten Jahre jene der Globalisierungsperiode noch verschärft und beschleunigt. Zugleich stehen wir jedoch auch vor neuen Tendenzen, deren volle Ausprägung wir selbst heute erst in ihrem Entstehen beobachten können. Im ersten Abschnitt des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

Die Verlagerung der industriellen ArbeiterInnenklasse

In den letzten zwei Jahrzehnten ist die ArbeiterInnenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v.a. nach Asien. Das betrifft v.a. das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und Brasilien. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der ArbeiterInnenklasse in China haben heute insbesondere ökonomische Auswirkungen, als sie die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion bieten – aber es ist auch eine neue ArbeiterInnenklasse entstanden, die sich ihrer potentiellen politischen, gesellschaftlichen Macht (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivitäten) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die ArbeiterInnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Ebenso ist Brasilien ein Land mit einer der konzentriertesten Industriegebiete der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So wichtig daher das Anwachsen der ArbeiterInnenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist – letztlich handelt es sich um die Formierung einer ArbeiterInnenklasse in halbkolonialen Ländern, deren Entwicklung jedoch stark vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt.

Auch wenn sich Russland als imperialistische Macht (4) neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit zahlenmäßig nur einem Bruchteil der ArbeiterInnen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist heute gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrie der Welt hatte.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen.

Die letzten Jahrzehnte (und besonders die Krise) haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und hat seither noch immer nicht das Niveau der Phase vor 2007 erreicht. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen – Krise, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008 (5).

Die Entwicklung in den USA und Deutschland stellen jedenfalls die Ausnahmen dar. Die USA, weil sie mehr als jede andere Nation die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrenten in der Eurozone basiert.

Dieser „Erfolg“ geht zugleich mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich v.a. in Griechenland der Prozess rasant fortgesetzt. Rund ein Viertel der ArbeiterInnenklasse ist arbeitslos, mehr als die Hälfte der Jugend. Es folgt damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde und nur einzelne Länder oder einzelne industrielle „Inseln“ als Zulieferer oder Vorproduzenten von westlichen Konzernen überleben konnten.

Die nächste potentiell dramatischere Entwicklung steht in Europa allerdings noch ins Haus – massive Angriffe auf die Industrie Spaniens, Italiens und Frankreichs, die mehr und mehr von der deutschen Konkurrenz an die Wand gedrückt werden.

Außerhalb Europas ist die Lage noch weitaus dramatischer, v.a. in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch de-industrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige  Länder der arabischen Welt.

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiterschaft, ja die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusam-menhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen – sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die ArbeiterInnenklasse insgesamt in den letzten Jahrzehnten (noch) gewachsen ist, haben weltweit die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zugenommen.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Schichten der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden einen wachsenden Teil der Klasse, der von „Niedriglohn“ leben muss. Damit ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der ArbeiterInnenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter ihren Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten und selbst einigen Halb-Kolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 50er, spätestens jedoch in den 60er und auch 70er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der ArbeiterInnenklasse materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

In der Tat war es auch so. Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rivalen (v.a. Deutschland und Japan), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse während des Kriegs in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung einer klaren Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten, damit des Dollar als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der ArbeiterInnenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Mit der „neoliberalen Wende“, den Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse unter Reagan und Thatcher wie auch der neoliberalen Umstrukturierung in Lateinamerika änderte sich das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee – und veränderte zugleich das globale Kräfteverhältnis und stärkte für mehr als ein Jahrzehnt die hegemoniale Position der USA. Immer größere Teile der Klasse werden unter ihr Reproduktionsniveau gedrückt.

All diese Veränderungen haben dazu bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt. Erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D.h. ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft trotz oft drakonischer Strafmaßnahmen durch die bürgerlichen Staaten permanent nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v.a in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut (6).

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von ArbeiterInnen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z.B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar  mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich von erbärmlichen Wohn- und Lebensverhältnissen für Abermillionen ProletarierInnen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

Rund 1,2 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 1,25 Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern, Landlosen, Flüchtenden usw. – aber eben auch Abermillionen EinwohnerInnen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen von weniger als 1,25 Dollar/Tag (7).

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v.a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren wurden samt einer überausgebeuteten IndustriearbeiterInnenschaft. So haben die „WanderarbeiterInnen“ – die weltweit größte und wichtigste Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wird „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten am Land hat, von industriellen Investoren angezogen und folgt ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer, manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive ArbeiterInnenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als GelegenheitsarbeiterInnen, als kleine „HändlerInnen“, als Kriminelle, Paupers usw. verdingen müssen. Ihnen allen ist gemein, dass sie ins Lumpenproletariat abzurutschen drohen. Der Kapitalismus hat für sie selbst als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentlich Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreibt Marx eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des Lohnsklaven als Lohnsklaven immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter hingegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern“. (8)

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantasten können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v.a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko u.a.  zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen versucht dabei in die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu kommen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen, Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu kommen.

Dort droht ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von MigrantInnen, bis heute als „AusländerInnen“ behandelt, als „GastarbeiterInnen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch zugespitzterer Form in manchen Halbkolonien, v.a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im wesentlich aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von MigrantInnen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten ArbeiterInnen-klasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt für die ArbeiterInnenklasse. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, sie untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ ArbeiterInnen (einschließlich früherer Generationen von MigrantInnen), sie schaffen länder- und sprachenübergreifende Verbindungen.

Die Integration der ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlinge in die ArbeiterInnenbe-wegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist jedoch eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Alte und neue Arbeiteraristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die besser gestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels (9) bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiteraristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in die Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war. Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „besser gestellten“ ArbeiterInnen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol ab, und aus der starken ökonomischen Stellung dieser ArbeiterInnenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken von Engels auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der ArbeiterInnenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848-1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit die Oberhand behalten kann.“ (10)

Gegen Lenins Theorie der Arbeiteraristokratie sind viele Einwände in den letzten hundert Jahren gemacht worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi-kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relative gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den ArbeiterInnen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Arbeitskraft über eine längere Periode über dem Wert der Ware Arbeitskraft zu verkaufen (was nichts daran ändert, dass sie weiter LohnarbeiterInnen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Arbeiterschichten sein kann).

Zweitens bedeutet die Zugehörigkeit zur ArbeiterInnenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So waren z.B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig ein Teil der ArbeiterInnenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer ArbeiterInnenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistischerweise mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung der ArbeiterInnenaristo-kratie und damit auch bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher ArbeiterInnenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiteraristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maß und konnte sich über eine historisch außergewöhnlich lange Periode als solche reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer (wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren) „Aristokratie“ lassen sich auch in den halb-kolonialen Ländern, v.a. in den industriell fortgeschritteneren, wie auch in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten konstatieren.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v.a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie (z.B. die Bergarbeiter und Docker unter Thatcher, die Fluglotsen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja teilweise zu bevorzugten Zielen. Die Niederlagen dieser Kernschichten hatten unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der ArbeiterInnenaristokratie beobachten können.

Erstens wurden traditionelle Schichten der Nachkriegsaristokratie aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der ArbeiterInnenaristokratie entstanden infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer  zuvor oft nur formell unter das Kapital subsumierten Arbeit.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v.a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z.B. den BRIC-Staaten, eine neue Arbeiteraristokratie entstanden oder im Falle Chinas im Entstehen.

Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Stalinismus haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die ArbeiterInnenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Produkten für globale Märkte von Gütern und Dienstleistungen. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z.B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten hunderte Millionen Lohnabhängige in multi-nationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – etabliert wird.

Der Kapitalexport und die globalen Geldströme, spekulative Anlagen – kurz sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, zur massiven Veränderung der Eigentums-struktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der Hand des imperialistischen Monopolkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche Seite des Internationalismus.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei Niederreißen für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der ArbeiterInnenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Die Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat wird letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber Instrument der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke hat – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr von der Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die ArbeiterInnenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht – insbesondere, weil ganze Gruppen von ArbeiterInnen, ganze „Standorte“, ja ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat es auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktion geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktion selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der ArbeiterInnenklasse noch dabei sind, sich auf Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophische Entwicklung ab. An einem bestimmten Punkt wird die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umschlagen (was bis zu einem Zusammenbruch des Weltmarktes gehen kann). Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einen gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Zusammenbruch letztlich unvermeidlich.

Reproduktionsprozess

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der ArbeiterInnenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden so Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung.

Andererseits geht es v.a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt – und somit eine Erhöhung der Masse des Profits.

Zugleich hat die Absenkung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen für die Frauen, die Jugend, Kranke und RentnerInnen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von den Kürzungen, von der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

B Auswirkung auf die Organisationen der Klasse

Die Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse folgt generell der Kapitalbewegung. Dies ist jedoch nie Resultat „rein“ ökonomischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen. Vielmehr setzten grundlegend veränderte Ausbeutungs- und Akkumulationsbedingungen immer auch entscheidende Verschiebungen im Verhältnis zwischen den Klassen voraus. Tiefer gehende und zugleich längerfristige Verbesserungen der Ausbeutungsrate, der Möglichkeit, Extraprofite aus Halbkolonien zu ziehen oder Krisenkosten rivalisierenden Staaten aufzuhalsen usw. sind daher nicht nur Resultat ökonomischer Krisen oder Einbrüche, sondern erfordern auch politische Offensiven der herrschenden Klasse, sind immer Resultat von politischen Kämpfen.

Es zeigt sich darin nur, dass die bürgerliche Gesellschaft eben nicht nur auf einer ökonomischen Basis – dem Kapital/Lohnarbeitsverhältnis beruht – sondern eine Totalität samt politischem, ideologischem Überbau, staatlicher und internationaler „Ordnung“, verschiedenen Zwischenklassen und Zwischenschichten, also eine ganze Gesellschaftsformation darstellt. In dieser Gesamtheit stellt sich Politik letztlich als konzentrierte Ökonomie dar – müssen daher alle wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen auch politisch ausgefochten werden.

Die Veränderungen der letzten Jahre und v.a. seit der Krise haben generell zu einer Erhöhung der Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse geführt. Das ist ein wesentlicher Faktor für die Sicherung der Monopolprofite und enormen Gewinne des Großkapitals selbst in der Krisenperiode, während der Fall der durchschnittlichen Profitrate nicht gestoppt werden konnte, weil die „Anti-Krisenpolitik“ gerade auf die Verhinderung der Vernichtung überschüssigen, in den Händen der Monopole konzentrierten Kapitals angelegt war.

Für Überakkumulationsperioden ist es kennzeichnend, dass die Ausbeutungsrate v.a. über die Steigerung des absoluten Mehrwerts erreicht werden soll und Kürzung der Einkommen der Lohnabhängigen und anderer subalterner Schichten und Klassen, was notwendig zur Einschränkung ihres Konsums führt.

Die Krise hat die globale ArbeiterInnenklasse hart getroffen. Aber ihre Wirkungen verschärfen auch die Gegensätze in der Klasse. Das hat einerseits mit der ungleichzeitigen Auswirkung der Krise selbst zu tun. Länder wie Deutschland erholten sich nach einer tiefen Rezession sehr rasch, entpuppten sich als Krisengewinnler, konnten die Arbeitslosigkeit selbst in der Krise relativ gering halten und große Teil der industriellen ArbeiterInnenklasse, die Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie, erhalten und befrieden.

Andere Länder machten einen enormen Niedergang durch, befinden sich praktisch seit 2008 ständig in Rezession, die nur von kurzfristigen Phasen der Stagnation und minimalen Wachstums unterbrochen wird. Dort schrumpfte die Klasse und selbst ehemals sehr kampfkräftige Teile sind ökonomisch massiv geschwächt.

Zugleich vergrößerte sich die soziale Differenz nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der ArbeiterInnenklasse. Die Unterschiede zwischen den „besser gestellten“, aristokratischen Schichten, dem Durchschnitt wie den unteren Schichten des Proletariats haben sich deutlich vergrößert. Das trifft nicht nur auf die etablierten imperialistischen Staaten, sondern auch auf aufstrebende Mächte wie China und die halb-kolonialen Länder zu, wo die Einkommensdifferenz zwischen Aristokratie und Masse oft sehr viel größer ist.

Die Vertiefung der inneren Spaltung der Klasse hat auch zu einer Schwächung ihrer Organisationen geführt, z.T. zum Entstehen neuer Bewegungen und politischer Formationen. Wir stehen am Beginn einer historischen Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse und auch einer Umwälzung ihrer Organisationen.

Gewerkschaften und betriebliche Organisationen

Die Gewerkschaften gelten nicht von ungefähr als „Grundorganisationen“ der Lohnabhängigen. Auf sich allein gestellt, ohne kollektive, gemeinsame Vertretungen sind die ArbeiterInnen letztlich nicht einmal in der Lage, ihre Arbeitskraft zum ihr entsprechenden Preis, also entsprechend ihrer Reproduktionskosten, zu verkaufen.

Es ist kein Wunder, dass Gewerkschaften (und erst recht betriebliche Organisationsformen) der Klasse in einer Krisenperiode in die Defensive geraten müssen. Der „nur-gewerkschaftliche“ Kampf, der Kampf um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft stößt hier unausweichlich an seine Grenzen.

Generell ist der gewerkschaftliche Organisierungsgrad weltweit in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich gesunken. In den meisten europäischen Ländern ist der Organisationsgrad in den letzten Jahren gesunken (Ausnahmen: Italien, Belgien, Norwegen, Zypern, Luxemburg, Malta). Besonders dramatisch ist die Lage in Osteuropa seit dem Zusammenbruch des Stalinismus. In der Europäischen Union beträgt – bei enormen nationalen Unterschieden – der durchschnittliche Organisationsgrad gerade 24 Prozent. (11)

Natürlich war es immer schon ein Mythos, dass alle oder auch nur die Mehrheit der Klasse gewerkschaftlich organisiert wäre. Das traf immer nur auf bestimmte Regionen/Ländergruppen zu – in der Regel die dominierenden, relativ starken imperialistischen Länder, die nicht nur eine starke ArbeiterInnenaristokratie haben, sondern wo die Gewerkschaften auch als regelnder Faktor in das System der Klassenzusammenarbeit über längere Perioden erfolgreich einbezogen werden konnten.

Die Veränderungen der Klasse haben dabei ihrerseits wesentlich zum Erodieren des gewerkschaftlichen Organisationsgrades beigetragen. Das war und ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, weil Gewerkschaften als Mittel zur Führung des ökonomischen Kampfes v.a. defensive, reagierende Organisationen sind – wie der ökonomische Kampf selbst seinem Wesen nach einen reaktiven Charakter hat und als Gegenaktion auf Angriffe des Gegners, auf Zumutungen des Kapitals, auf Veränderungen der ökonomischen Struktur der Gesellschaft verstanden werden muss.

Daher haben es historische Krisen, ökonomische Einbrüche aber auch politische Generalangriffe, revolutionäre Aufstände und Bürgerkriege (also höhere Formen des Klassenkampfes) an sich, dass sie auch die Schwächen der rein-gewerkschaftlichen oder reformistisch geführten Gewerkschaftsarbeit offenbaren, weil sie die Grenzen des ökonomischen Klassenkampfes verdeutlichen.

In den letzten Jahrzehnten haben die Umstrukturierungen der ArbeiterInnenklasse in vielen „neuen“ Industrien und Dienstleistungsbranchen fast zu gewerkschaftsfreien Zonen geführt. Die Verbände erwiesen sich in der Regel als unfähig, sowohl die Lohnabhängigen in „neuen“ Branchen (selbst wenn diese recht privilegiert waren) wie auch jene in den ausgelagerten, prekarisierten Sektoren zu organisieren.

In vielen Ländern wurde – sofern es dies je gab – die landesweite oder branchenweite Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen ausgehebelt. Schon seit den 80er Jahren greift die betriebliche Aushandlung von Löhnen mehr und mehr um sich.

Zugleich hat die Umstrukturierung des Produktionsprozesses zu einer Schwächung und Aushöhlung des Prinzips der Industriegewerkschaften geführt (sofern es je durchgesetzt war).

Heute begegnen wir zwei, tw. einander ergänzenden Entwicklungen. Einerseits einer massiven Zersplitterung der Gewerkschaften. Gerade in den Halbkolonien, Ländern wie Pakistan, Indien, Sri Lanka, geht ein sehr geringer Organisationsgrad mit der Existenz tausender kleiner und kleinster Gewerkschaften einher.

Andererseits (und tw. in Kombination) mit der obigen Tendenz erleben wir die Fusion von Gewerkschaften unterschiedlicher Branchen, die Entstehung konkurrierender Dachverbände und unterschiedlicher Gewerkschaften in einem Betrieb. Die Existenz politisch konkurrierender Verbände oder „politischer“ Gewerkschaften – so verständlich die Spaltungen mitunter sein mögen – erweisen sich selbst als eine Spielart und als Teil des Problems.

Die Schwächung der Gewerkschaften und betrieblichen Interessenvertretungen war natürlich kein Selbstläufer, sondern war und ist auch Resultat politischer und unternehmerischer Angriffe. Weltweit wurden Einschränkungen der Rechte der Gewerkschaften, der Aktivität im Betrieb, des Streikrechts durchgesetzt und werden weiter forciert. Die „Tarifeinheit“ in Deutschland ist nur ein Teil (und international betrachtet sogar nur ein relativ marginaler Teil davon).

Freilich wären diese Angriffe nicht oder jedenfalls nicht mit so wenig Widerstand durchsetzbar gewesen ohne die Kooperation der Gewerkschaftsführungen und des Apparats der Gewerkschaftsbürokratie wie ihrer betrieblichen Entsprechung in Form der Betriebsräte/Personalräte, v.a. in den Großunternehmen und im Öffentlichen Dienst. Bei allen Unterschieden lässt sich feststellen, dass sich die Gewerkschaften mehr und mehr zu Organisationen der besser gestellten Lohnabhängigen in Großbetrieben und im Staatsapparat verengen. Sie waren natürlich auch schon die meiste Zeit im 20. Jahrhundert wesentlich von der ArbeiterInnenaristokratie bestimmt, zogen aber lange Zeit auch wirtschaftlich weniger kampfkräftige Schichten an. Heute erleben wir eine Tendenz der Verengung der Gewerkschaften auf die ArbeiterInnenaristokratie.

Die politische Ausrichtung auf Co-Management, New Realism, Sozialpartnerschaft usw. war die Reaktion der Führungen der Gewerkschaften auf Angriffe, Niederlagen und den Wunsch der Bürokratie, ihre eigene Vermittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit auch unter ungünstigeren Bedingungen aufrechtzuerhalten.

Schon die gesamte Nachkriegsperiode war davon gekennzeichnet, dass die Gewerkschaften und die betrieblichen Vertretungen der Klasse in den Staat oder die Unternehmensführung integriert wurden. Trotzki hat auf diese Tendenz des Monopolkapitalismus in seiner Schrift „Die Gewerkschaften in der imperialistischen Epoche“ sehr ausdrücklich hingewiesen.

„Der Monopolkapitalismus fußt nicht auf Privatinitiative und freier Konkurrenz, sondern auf zentralisiertem Kommando. Die kapitalistischen Cliquen an der Spitze mächtiger Trusts, Syndikate, Bankkonsortien usw. sehen das Wirtschaftsleben von ganz denselben Höhen wie die Staatsgewalt und benötigen bei jedem Schritt deren Mitarbeit. Ihrerseits finden sich die Gewerkschaften in wichtigen Zweiten der Industrie beraubt, die Konkurrenz zwischen den Untenehmen auszunutzen. Sie haben einen zentralisierten, eng mit der Staatsgewalt verbundenen kapitalistischen Widersacher zu bekämpfen. Für die Gewerkschaften – soweit sie auf reformistischem Boden bleiben, d.h. soweit sie sich dem Privateigentum anpassen – entspringt daraus die Notwendigkeit, sich auch dem kapitalistischen Staat anzupassen und die Zusammenarbeit mit ihm anzustreben.

Die Gewerkschaftsbürokratie seiht ihre Hauptaufgabe darin, den Staat aus der Umklammerung des Kapitalismus zu ‚befreien‘, seine Abhängigkeit von den Trusts zu mildern und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Diese Einstellung entspricht vollkommen der sozialen Lage der Arbeiteraristokratie und der Arbeiterbürokratie, die beide um Abfallbrocken aus den Überprofiten des imperialistischen Kapitalismus kämpfen.“ (12)

Die Bindung von Gewerkschaften an den Staat und die Monopole ist längst keine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, sondern ist schon lange etabliert – einschließlich der Verwendung der Gewerkschaften als außenpolitische Agenturen großer imperialistischer Staaten und Konzerne. Hier hat nicht nur die AFL-CIO eine unrühmliche, konterrevolutionäre Geschichte vorzuweisen. Auch die DGB-Gewerkschaften machten sich beim „Export“ des deutschen Modells industrieller Beziehungen (Betriebsverfassungsgesetz, Tarifsystem, Mitbestimmung) in Osteuropa für das Kapital nützlich. Die chinesische Regierung lässt aus gutem Grund das „deutsche System“ der Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung studieren, um so die Beziehungen zwischen Unternehmen und Beschäftigten zu „regulieren“.

Sozialdemokratische und stalinistische Massenparteien

Der Dominanz der Bürokratie und ihre soziale Basis und Verankerung v.a. in der ArbeiterInnenaristokratie entspricht die fortgesetzte Dominanz der Gewerkschaften durch bürgerliche ArbeiterInnenparteien sozialdemokratischen oder labouristischen Zuschnitts (zumeist in Europa, aber auch in Brasilien oder Australien), durch den stalinistischen Reformismus (z.B. in Indien) oder durch bürgerlichen Nationalismus und Populismus (u.a. in Argentinien oder Venezuela). Im schlimmsten Fall sind sie weiter an „linke“ bürgerliche Parteien der imperialistischen Bourgeoisie wie in den USA oder eng an den Staatsapparat gebunden (Russland, China, Türkei).

Unbestreitbar haben die letzten Jahrzehnte und die Jahre seit der Krise die historische und wesentlich noch über die Gewerkschaften bestehende organische Bindung dieser Parteien an die ArbeiterInnenklasse geschwächt. In einzelnen Fällen (Italien) hat sich eine ehemalige bürgerliche ArbeiterInnenpartei durch die Fusion mit einem Teil der Christdemokratie zu einer offen bürgerlichen Partei gewandelt – was freilich die Führung des größten Gewerkschaftsverbandes nicht hindert, sich auch dieser Partei politisch unterzuordnen.

Es wäre jedoch impressionistisch, verkürzt und politisch fatal, auf den unvermeidlichen Abgesang der bürgerlichen ArbeiterInnenparteien als quasi-automatischen Prozess zu hoffen.

Die bürgerliche ArbeiterInnenpolitik hat vielmehr selbst ihre Wurzeln im Lohnarbeitsverhältnis und in der Verlängerung des gewerkschaftlichen Kampfes zur Sozialreform auf politischer Ebene. Die imperialistische Epoche schafft außerdem mit der Entstehung der ArbeiterInnenaristokratie auch die Voraussetzung einer sozial-chauvinistischen-bürgerlichen ArbeiterInnenpartei und deren Reproduktion, macht sie zu einer für das politische System typischen Erscheinung.

Die aktuelle Krise unterminiert zwar ihre soziale Basis, sie zerstört sie aber keineswegs vollständig. In der Tat wird es die Basis für eine bürgerliche, reformistische Strömung in der ArbeiterInnenklasse solange geben wie das imperialistische System selbst. Die Vorstellung, dass die Krise automatisch solche Parteien und deren Einfluss in der ArbeiterInnenklasse erledigte, ist rein mechanisch und hat sich in zahlreichen Ländern als fatale Fehleinschätzung entpuppt. So hatte die NPA-Führung in Frankreich bei Gründung der Partei immer wieder proklamiert, dass der Reformismus als politische Formation erledigt sei. Kurz darauf formierten sich jedoch nicht nur die links-reformistische Konkurrenz der Parti de Gauche und die Front de Gauche als Block mit der KP, sondern selbst die Parti Socialiste von Hollande konnte sich noch einmal, wenn auch kurzfristig, als politische Alternative zu den Konservativen profilieren und gewann bei den Präsidentschaftswahlen.

Zur Begründung des (vorgeblichen) Verschwindens des Reformismus wird gern ein falscher, auf eine bestimmte Form bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik beschränkter Begriff von Reformismus verwandt. Dieser sei wesentlich durch die politische Zielsetzung gekennzeichnet, den Kapitalismus über Reformen zu überwinden, also den „Weg zum Ziel“ zu machen. Wie aber schon Rosa Luxemburg nachwies, ist das jedoch nichts anderes als eine ideologische Beschönigung und Selbstrechtfertigung. Der Reformismus zeichnet sich wie jede bürgerliche ArbeiterInnenpolitik keineswegs nur dadurch aus, dass er auf einem anderen (friedlichen, parlamentarischen usw.) Weg zum gleichen sozialistischen Ziel will. In Wirklichkeit verändert sich gegenüber der revolutionären Politik auch das Ziel. Die Reform, der Kampf um Verbesserungen wird zum eigentlichen Zweck – und damit die Ausgestaltung des bestehenden Systems, nicht dessen Sturz. Diese Politik hat einen bürgerlichen Charakter unabhängig davon, ob der „Sozialismus“ als Ziel proklamiert wird oder nicht. Auch wenn etliche bürgerliche ArbeiterInnenparteien ursprünglich den Sozialismus proklamierten. v.a. jene, die aus der marxistisch geprägten Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts entstanden, macht das keineswegs das Wesen der reformistischen Parteien aus. Manche – wie die Labour Party – traten nie für den Sozialismus ein und gaben nie vor, marxistische Organisationen zu sein. Bestätigt hat sich jedoch seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder, dass die reformistische Partei das kapitalistische und bürgerliche System gegen die Revolution verteidigt.

Mit dem Verrat von 1914 gingen diese Parteien ins Lager des Sozialchauvinismus über, auch wenn ihre sozialen und historischen Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse bestehen blieben. Für die Bestimmung des Klassencharakters dieser Parteien ist es nebensächlich, ob sie den Sozialismus als „Endziel“ beschwören, entscheidend ist vielmehr, welches gesellschaftliche System sie verteidigen. Sie hören daher nicht auf, bürgerliche ArbeiterInnenparteien zu sein, weil sie eine Politik der „Gegenreformen“ oder gar direkt der Konterrevolution wie im Ersten Weltkrieg oder danach durchführen. Entscheidend dafür, ob eine Partei bürgerliche ArbeiterInnenpartei ist oder nicht, ist ihr Verhältnis zur Klasse, nicht ihre Ideologie.

Unter den Bedingungen der Krise ist freilich unvermeidlich, dass die Fähigkeit dieser Parteien, die Lohnabhängigen mit Reformen, mit Brosamen vom Tisch der Herrschenden zu integrieren, schwinden muss. Generell führt die Krise dazu, dass die sozialdemokratischen Parteien (wie auch die von ihr dominierten Gewerkschaften) weiter nach rechts gehen. Im Extremfall versuchen sie, ihre historischen und sozialen Wurzeln in der ArbeiterInnenklasse zu lösen und sich eine neue soziale Basis zu verschaffen. So waren der „Dritte Weg“ von Tony Blair oder die „Neue Mitte“ von Schröder Ideologien, die ihren Parteien eine Basis in den lohnabhängigen Mittelschichten verschaffen und sie unabhängiger von den Gewerkschaften machen sollten. Diese Politik hat zwar die reformistischen Parteien noch rechter, hilfloser und willfähriger gemacht, die neuen „Mittelschichten“ haben sie in der Regel jedoch nicht gewinnen können.

Wie aktuell die Kandidatur von Jeremy Corbyn in der britischen Labour Party zeigt, können unter bestimmen Bedingungen durchaus auch Massenbewegungen zu einer „Wiederbelebung“ dieser Parteien entstehen. Derartigen Brüchen in der Sozialdemokratie, in Labour oder auch Differenzierungen in populistischen Massenparteien (wie der PSUV in Venezuela) müssen RevolutionärInnen immer ein besonderes Augenmerk schenken.

Die Notwendigkeit einer besonderen, taktischen Herangehensweise an reformistische Parteien (wie auch die Massengewerkschaften) – also die Anwendung der Einheitsfronttaktik in all ihren Spielarten – ergibt sich freilich nicht erst mit deren „linkerer“ Erscheinungsweise, sondern besteht im Grunde immer und solange, wie diese Parteien Masseneinfluss haben oder im schlimmsten Fall gar die Avantgarde der Klasse dominieren.

Linke Gewerkschaften?

Die Betrachtung der tradierten ArbeiterInnenbewegung wäre unvollständig, würden wir nicht die oppositionellen Regungen in den Gewerkschaften, die Bildung neuer Verbände oder Kämpfe bislang eher passiver Teile der Klasse betrachten.

Zu konstatieren bleibt jedoch, dass die Brüche insgesamt weitgehend organisatorischer Natur blieben. Die schon länger bestehenden, kleineren „radikalen“ Gewerkschaften (COBAS in Italien, SUD in Frankreich) erwiesen sich in der Krise allenfalls verbal radikaler als die großen Verbände. Eine politische Alternative vermochten auch sie nicht zu weisen – weil sie letztlich nur einen radikaleren Syndikalismus verkörpern.

Hinzu kommt, dass ihre Verankerung in den Betrieben zu gering war und ist, um eigenständige, längere oder gar unbefristete Branchenstreiks durchzusetzen. Das heißt, sie waren auch nicht in der Lage, einen besseren gewerkschaftlichen Kampf zu führen.

Neue Gewerkschaften wie die Labour Qaumi Movement (13) in Pakistan oder selbst alte, ehemals sehr konservative Berufsgewerkschaften wie die GdL erwiesen sich hier als kampffähiger und wirkungsvoller, weil sie die Mehrheit der Beschäftigten in einer Branche oder Berufsgruppe vertreten und mobilisieren können und damit einer zentralen Bedingung jedes erfolgreichen ökonomischen Kampfes – der größtmöglichen Einheit – viel direkter Rechnung tragen als kleine „linke“ oder gar vorgeblich „revolutionäre“ Gewerkschaften, die jedoch nur eine Minderheit der Klasse vertreten. Letztere sind in Wahrheit nur eine Fraktion, eine bestimmte politische Strömung in den Gewerkschaften oder Betrieben – aber eine, die ohne jedes Bewusstsein dieser Tatsache die organisatorische Eigenständigkeit fetischisiert.

Die Lösung des Problems besteht darin, für eine klassenkämpferische, demokratische Einheit der Gewerkschaften nach dem Prinzip „Ein Betrieb, eine Branche, eine Gewerkschaft“ zu kämpfen, statt die gesonderte Organisierung der kämpferischeren Minderheit auf dieser Ebene zu forcieren. Vielmehr sollte diese politisch bewusstere Minderheit den Kampf für gewerkschaftliche Einheit mit der politischen Organisierung dieser Minderheit in einer Partei kombinieren. Doch diese kommunistische und einzig angemessene Lösung des Problems lehnt der Syndikalismus (einschließlich seiner linken und links-radikalen Spielarten) aus doktrinären Gründen, aufgrund der Überhöhung des ökonomischen Kampfes zum „eigentlichen Klassenkampf“, ab.

Die Grenzen des spontanen Gewerkschaftertums offenbaren sich besonders dramatisch im Kernland der Arabischen Revolution, in Ägypten. Die unter dem Mubarak-Regime in der Illegalität entstandene unabhängige Gewerkschaftsbewegung war und ist zweifellos eine der beeindruckendsten, vielleicht die beeindruckendste der Welt. Sie vermag Millionen anzuführen. Beim Sturz des alten Regimes kam ihr durch die Drohung eines Generalstreiks eine Schlüsselrolle zu – wie auch durch die Streikwellen vor dem Sturz von Mursi.

Aber politisch konnte sie der Revolution keine Richtung geben, sondern musste die politische Initiative den Islamisten der Moslembruderschaft, pro-westlichen „liberalen“ Quacksalbern, kleinbürgerlichen Phantasten aus der „sozialen Bewegung“ und schließlich den „säkularen“ Putschisten, Nationalisten und Militärs überlassen.

Die starke Tendenz zum „reinen“ Syndikalismus als falscher Alternative zur sozialdemokratischen oder stalinistischen Beherrschung der Gewerkschaften ist eine der Hauptursachen der Schwäche der gewerkschaftlichen Linken einschließlich linker Abspaltungen in der Krise. Bei allen reformistischen Schwächen bildet die Initiative der NUMSA in Südafrika hier ein Ausnahme in die richtige Richtung – nämlich die Initiative zur Bildung einer Klassenpartei der ArbeiterInnen, die sich gegen die Politik der Klassenkollaboration des ANC und der CPSA stellt.

Revolutionen, Konterrevolutionen und neue soziale Bewegungen

Die Einbindung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in die „Anti-Krisenpolitik“, Angriffe auf und Befriedung der ArbeiterInnenklasse sowie die politische Schwäche der gewerkschaftlichen, betrieblich-oppositionellen Kräfte haben zwei zentrale Phänomene der letzten Jahre hervorgebracht: einerseits „neue“ Parteiformationen (die wir weiter unten betrachten), andererseits neue Bewegungen wie Occupy oder die Indignados.

Ob dieser Entwicklungen wird oft der Unterschied zu politisch weitaus entwickelteren Formen der gesellschaftlichen Widersprüche „übersehen“: zu den Arabischen Revolutionen, zur vor-revolutionären Periode in Griechenland oder zum Bürgerkrieg in der Ukraine.

In den arabischen Ländern hatten wir es mit genuinen „Volksrevolutionen“ zu tun, also Revolutionen, die alle Klassen, alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung setzten, zum Sturz jahrzehntelang etablierter Regime führten oder zu Bürgerkriegen um die politische Macht. Natürlich spielten dabei Massendemonstrationen/Ansammlungen an zentralen Plätzen wie dem Tahrir in Kairo eine Schlüsselrolle (wie in allen Revolutionen der Kampf um die Hauptstadt von zentraler Bedeutung ist). Aber in Kairo war er der Sammelpunkt einer revolutionären Zuspitzung im Kampf um die Macht.

In Griechenland waren die Besetzungen des Syntagma-Platzes in Athen ebenfalls politischer Ausdruck einer langen, vor-revolutionären Periode, die schon 2008 begonnen und immer wieder Phasen der politischen Ebbe und Flut durchlaufen hatte. Die Platzbesetzungen waren dabei aber nur eine Form des Kampfes, die wie andere (durchaus höhere Formen wie z.B. die Aufstände der Jugend 2008, unzählige unbefristete oder politisch wichtige Betriebsbesetzungen) allesamt am Mangel an revolutionärer Führung litten, die die vorrevolutionäre Lage durch ihr bewusstes Agieren in eine revolutionäre hätte verwandeln können.

In Kiew hat der konterrevolutionäre Putsch Anfang 2014 zu einem gerechtfertigten Massenwiderstand im Osten geführt, der rasch die Form des Bürgerkriegs annahm. Wie in Griechenland und den Arabischen Revolutionen zeigte sich auch dort die Tiefe der Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer revolutionären Kaderpartei.

Es ist jedoch für Teile der „radikalen“, genauer der radikalen kleinbürgerlichen, Linken typisch, die Bewegungen in den Arabischen Revolutionen oder auch am Syntagma in eine Reihe mit Blockupy oder den Indignados zu stellen.

Ohne die Bedeutung eines landesweiten Massenprotests und der Besetzung innerstädtischer zentraler Plätze zu schmälern, war Blockupy eindeutig eine kleinbürgerliche Bewegung. Sie artikulierte eine tief greifende Unzufriedenheit auch von ArbeiterInnen, der Armut und selbst der Mittelschichten und entwickelte eine Dynamik, die auch eine große internationale Ausstrahlungskraft hatte. Andererseits aber kam auch sie nicht über einen radikalen Populismus hinaus. Blockupy war nicht der Ausdruck einer Bewegung, die alle Klassen der Gesellschaft umfasste und erst recht nicht die ArbeiterInnenklasse, sondern v.a. jener der Mittelschichten.

Die Indignados und auch viele andere Massenkampagnen in Spanien hatten zweifellos eine tiefere soziale Verankerung und basierten auch auf Massenkampagnen gegen Wohnungsnot, Wasserprivatisierung usw. Aber auch sie waren von der organisierten ArbeiterInnenbewegung relativ getrennt, ja standen nicht nur der PSOE, sondern auch den Gewerkschaften, der IU und selbst den organisierten, radikaleren linken Kräften oft offen feindlich gegenüber. Die Besetzungsbewegung in Spanien war letztlich stark populistisch geprägt, was durch den Einfluss anarchistischer und libertärer Strömungen und deren Anti-Politizismus noch gefördert wurde. Es ist kein Zufall, dass sich aus dieser Bewegung auch der Aufstieg von Podemos, einer populistischen Massenbewegung und neuen Partei, speiste.

Die kommende Periode wird weitere solche Bewegungen hervorbringen – gerade aufgrund des Verrats der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaftsführun-gen sowie der Passivität der „Linksparteien“. Es ist notwendig, in solche Bewegungen zu intervenieren, ihre Mobilisierungen zu unterstützen, wo sie einen fortschrittlichen Charakter haben. Gegenüber ihren politischen Fehlern, ihrem kleinbürgerlichen Populismus darf es jedoch keine Zugeständnisse geben, zumal etliche von ihnen auch leicht dazu führen können, dass (Teile) dieser Bewegungen zum Spielball rechter, demagogischer Kräfte werden.

C Neue politische Formationen

Die Rechtsentwicklung und Krise der sozialdemokratischen Parteien und des Labourismus einerseits, die Grenzen von „reiner“ Bewegungspolitik andererseits haben in vielen Ländern schon vor und auch nach der Krise zur Entstehung neuer politischer Parteien geführt, die sich als politische Alternative anbieten.

Die oft kursorische Betrachtung dieser Parteien hat freilich den Mangel, dass darunter oft sehr verschiedene Formen in einen Topf geworfen werden. Dieser Artikel ist nicht der Ort, um diese Parteien im Detail zu analysieren – wohl aber ist es notwendig, sie hinsichtlich ihres Klassencharakters und ihres Verhältnisses zur ArbeiterInnenklasse, deren Avantgarde und den sozialen Bewegungen zu charakterisieren.

Linke reformistische Parteien

Das erste und zahlenmäßig wohl bedeutendste Phänomen stellen die links-reformistischen Parteien dar. Programmatisch betrachtet repräsentieren sie oft eine mehr oder weniger linke Variante der klassischen sozialdemokratischen Politik der Nachkriegsperiode, wobei klassische Reformkonzepte mit antizyklischer keynesianischer Wirtschaftspolitik kombiniert werden.

Viele dieser Parteien sind keineswegs so „neu“, sondern gehen auf ehemalige stalinistische Parteien zurück, die sich eurokommunistisch und links-sozialdemokratisch gewendet haben (Synaspismos, später Syriza in Griechenland; KP Portugal, KPF, IU, RC in Italien, Linkspartei in Schweden, PDS/DIE LINKE in Deutschland). Tw. kommen sie aus Abspaltungen der Sozialdemokratie (Parti de Gauche; WASG/DIE LINKE in Deutschland; im Grunde auch PSOL in Brasilien). Einige von ihnen sind auch maßgeblich durch die Politik zentristischer Organisationen, v.a. aus der Vierten Internationale oder auch ehemaliger Maoisten, entstanden (Einheitsliste in Dänemark, Linksblock in Portugal, Niederlande/Belgien).

Das zeigt schon, dass viele dieser „neuen“ Parteien keineswegs ganz so neu sind, sondern oft schon eine lange Tradition mit einem bürokratischen Apparat haben. Einige von ihnen waren im Grunde schon vor der Krise politisch schwer diskreditiert aufgrund ihrer parlamentarischen Fixierung, reformistischen Politik und der Beteiligung an Koalitionen mit der Sozialdemokratie (KPF) oder Volksfrontregierun-gen (RC in Italien).

Wichtig für diese Parteien ist, dass sie in bestimmten Perioden in der Lage waren, für Schichten der ArbeiterInnenklasse aus der Sozialdemokratie oder links-nationalistischen Parteien (PASOK in Griechenland) sowie für soziale Bewegungen zum Anziehungspunkt zu werden. Alle diese Parteien konnten zu bestimmten Perioden zu einem Anziehungspunkt für die politisch bewussteren, reformistisch geprägten ArbeiterInnen werden, waren aber aufgrund eben der Begrenzungen ihrer elektoral und reformerisch ausgerichteten Politik nicht in der Lage, mehr zu werden als der linke Flügel des parlamentarischen Spektrums.

Nur eine dieser Parteien – Syriza – hat es geschafft, zur stärksten Partei in der ArbeiterInnenklasse ihres Landes und von einer kleinen reformistischen Partei zu einer Massenpartei zu werden, die auch große Teile der Avantgarde des Landes organisiert.

Dieses Wachstum hatte zwei Ursachen: erstens die tiefe gesellschaftliche Krise und der Zusammenbruch der etablierten Parteien, zweitens vermochte Syriza als einzige Partei, die sich auf die ArbeiterInnen und sozialen Bewegungen stützte, eine, wenn auch reformistische Antwort auf die Regierungsfrage in den Mittelpunkt ihrer Agitation zu stellen.

Die Lage in Griechenland (und im Grunde in allen „Krisenländern“) erfordert eine konkrete Antwort auf die Machtfrage. Über zahlreiche Mobilisierungen und aufgrund permanenter Verarmung haben die Massen gelernt, dass es einer politischen Lösung bedarf, um zu verhindern, dass die Krise weiter auf ihrer Kosten „gelöst“ wird. Syriza (und alle Reformisten) antworten darauf, dass es notwendig ist, an die Regierung zu kommen – auch wenn sie eine Koalition mit sozialdemokratischen und offen bürgerlichen Parteien vorziehen. So hat die Syriza-Spitze in Griechenland von Beginn an eine Volksfrontregierung mit der erz-reaktionären, rassistischen und anti-semitischen ANEL einer Alleinregierung oder dem Kampf um eine ArbeiterInnenregierung vorgezogen.

Hinter der „Macht“politik von Syriza wie aller Linksparteien verbirgt sich zwar die Illusion, mit dem bürgerlichen Staatsapparat eine Politik durchsetzen zu können, die sich gegen den Neo-Liberalismus wendet und eine Umverteilung zugunsten der Ausgebeuteten längerfristig durchsetzt. Aber die Anerkennung der Tatsache, dass in der gegenwärtigen Krise die Machtfrage von entscheidender Bedeutung für die Frage ist, welche Klasse der Gesellschaft ihr „Anti-Krisen-Programm“ aufzwingen kann, hebt Syriza und den linken Reformismus von den utopischen und illusorischen Konzepten ab, die davon ausgehen, dass die Krise nur durch den Kampf der „sozialen Bewegungen“ gestoppt werden könne.

Die Unfähigkeit von KKE und Antarsya, auf diese Frage der Macht eine konkrete taktische Antwort jenseits allgemeiner Formeln zu liefern, war ein zentraler Grund, warum Syriza mehr und mehr AnhängerInnen in der Klasse und den sozialen Bewegungen gewann und als einzige Alternative zu ND und PASOK erschien. Zugleich hat der Wahlsieg von Syriza die Grenzen der reformistischen Politik, ihren illusionären Charakter offenbart. Vom „erratischen Marxismus“ und vom „ehrenhaften Kompromiss“ ist nur die nicht allzu ehrenhafte Kapitulation übrig geblieben. Aber zugleich eröffnet der Verrat auch die Möglichkeit, große Teile von Syriza für einen Bruch und eine Neugruppierung der griechischen ArbeiterInnenklasse, für die Schaffung eine Partei auf Grundlage eines revolutionären Aktionsprogramms zu gewinnen. Die größten Hindernisse sind dabei freilich der passive, links-reformistische oder zentristische Kurs der ehemaligen Syriza-Linken, der FührerInnen der heutigen „Volkseinheit“, die einen Bruch mit Tsipras nicht offensiv vorbereiteten, sondern letztlich vermeiden wollten, die sektiererische Spielart des Reformismus der KKE und die fehlende Klarheit und taktische Flexibilität von Antarsya.

Im Gegensatz zu Syriza sind die anderen Parteien der europäischen Linkspartei in den letzten Jahren weit weniger gewachsen, auch wenn sie sich in den meisten Ländern stabilisiert haben. In Spanien verliert die IU zugunsten von Podemos gewaltig. Andererseits könnte es in Britannien bei einem Sieg des Linksreformisten Corbyn bei der Abstimmung um die Labour-Führung oder im Falle eines Fraktionskampfes seiner AnhängerInnen zu einem Bruch in Labour kommen.

Außerhalb Europas sind kaum Phänomene wie die Linksparteien zu finden, obwohl in einigen Ländern die Basis für eine solche Entwicklung durchaus vorhanden wäre. So betreiben die indischen KPen – immerhin die größten bürgerlichen ArbeiterInnenparteien der Welt – seit Jahren eine widerliche Koalitionspolitik mit der Kongresspartei auf Provinzebene. In Brasilien zeichnet sich nicht nur ein Ende des „Wirtschaftswunders“ ab, sondern auch eine tiefe Regierungskrise und eine Krise der PT, was eventuell dazu führen könnte, dass sich die PSOL als links-reformistisches Partei stärkt oder Teile der PT wegbrechen.

Schließlich schafft die Krise in vielen Ländern, die keine oder nur verschwindend schwache reformistische (zumeist stalinistische) Parteien kennen, die Bedingungen zur Bildung neuer ArbeiterInnenparteien. Das trifft insbesondere auf Südafrika zu, in gewisser Weise aber auch auf Pakistan, wo die AWP eigentlich auch als Keim einer solchen fungieren müsste.

Im Grunde steht die Frage der ArbeiterInnenparteitaktik in zahlreichen Ländern – nicht nur der halbkolonialen Welt, sondern insbesondere auch den USA auf der Tagesordnung.

Bei den „neuen Parteien“ haben wir es aber nicht nur mit der Bildung von linken, reformistischen, also bürgerlichen ArbeiterInnenparteien zu tun, die im Einzelfall sogar zentristische Formen annehmen können.

Bürgerlicher und kleinbürgerlicher Populismus

Schon Ende der 90er Jahre konnten wir in Lateinamerika die Bildung neuer, populistischer Parteien und Bewegungen im Gefolge der venezolanischen Revolution beobachten, die heute die Regierungsgewalt in Ländern wie Bolivien, Venezuela, Ecuador ausüben. Die „bolivarischen“ Parteien sind in Wirklichkeit bürgerlich-populistische Parteien oder solche geworden. Nichtsdestotrotz war es politisch richtig, in deren Formierung zu intervenieren, insbesondere in der Gründungsperiode der PSUV in Venezuela. In den letzten Jahren haben wir es aber auch mit der Entstehung neuer, linker kleinbürgerlicher Parteien in Europa zu tun, die sich als politische Antwort auf die Krise der Gesellschaft anbieten.

Das betrifft einerseits die HDP (Demokratische Partei der Völker) in der Türkei, die sich wesentlich auf die kurdische nationale Befreiungsbewegung stützt, einschließlich der nach wie vor brutal verfolgten PKK, wie auch auf Teile der türkischen radikalen Linken und der Bewegungen der letzten Jahre wie die Gezi-Park-Bewegung und Chancen hat, die Spaltung zwischen kurdischer und türkischer ArbeiterInnenklasse zu überwinden.

Doch die HDP ist keine bürgerliche ArbeiterInnenpartei, sondern vielmehr eine kleinbürgerliche Partei, die v.a. eine unterdrückte Nation und ihren Befreiungskampf politisch vertritt. In der Partei (und in der kurdischen Bewegung) findet unter der Oberfläche schon jetzt der Kampf um ihre Ausrichtung statt. Soll sie eine „linke Volkspartei“, eine Form der türkischen Grünen oder eine türkische Variante von Sinn Fein nach dem Good-Friday-Abkommen werden? Soll sie eine links-reformistische Partei werden? Oder eine sozialistische, eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei? Für letztere Perspektive sollten MarxistInnen in der Türkei in der HDP kämpfen.

In Spanien ist mit Podemos eine linke populistische Partei entstanden, die erfolgreich die IU in Bedrängnis gebracht und auch große Gewinne von der PSOE erzielen konnte. Politisch ist sie stark vom Chávismus inspiriert. Von der ArbeiterInnenklasse ist wenig zu hören, an ihre Stelle tritt das Volk. Zweifellos erfordert auch Podemos die Intervention von RevolutionärInnen, um dort für den Bruch der proletarischen und revolutionären Kräfte mit der populistischen Führung zu kämpfen.

Im Unterschied zu Podemos gibt es für die HDP zur Zeit kaum Spielraum, sich in das autoritäre politische System der Türkei und als feste Größe im Parlamentarismus zu etablieren. Das Regime Erdogan ist vielmehr dabei, einen Krieg gegen die KurdInnen zu entfachen und will die HDP zerschlagen. Die Tatsache, dass die türkische Regierung und die Armee zur Ausschaltung der HDP und der PKK sogar bereit sind, das Risiko eines Bürgerkriegs in Kauf zunehmen, obwohl diese ihre Bereitschaft zu einem Friedensprozess immer wieder zum Ausdruck gebracht haben, zeigt, dass selbst in relativ starken halbkolonialen Ländern wie der Türkei große Teile der herrschenden Klasse nicht bereit sind, die Festigung einer radikaleren, demokratischen „Volkspartei“ einer unterdrückten Nation oder eine reformistische Massenpartei zuzulassen. Dieses Problem trifft zahlreiche Länder der „Dritten Welt“. Aber es trifft auch einige imperialistische Staaten wie China, Russland, wo der Kampf um eine ArbeiterInnenpartei – zumal eine, die frei vom Mief des Stalinismus, Nationalismus und der offenen Bindung an den Staat ist – nur unter Bedingungen der Illegalität oder Halblegalität geführt werden kann. Selbst in westlichen Demokratien wie den USA ist klar, dass jede neue ArbeiterInnenpartei (oder selbst eine populistische  Partei), die sich auch auf die rassistisch Unterdrückten stützen würde, mit Repression, Infiltrationen, rassistischen Übergriffen durch Polizei und faschistoide Kräfte rechnen müsste.

Podemos ist in dieser Hinsicht anders. Die neue Partei könnte in nächster Zukunft sogar zur Regierungspartei im imperialistischen Spanien werden.

Die Bildung der linken populistischen Parteien war bisher in Europa ein recht wenig bekanntes Phänomen (im Unterschied zu Lateinamerika). Die Krise bringt jedoch mit sich, dass die reformistische ArbeiterInnenbewegung – v.a. wo sie mit in der Regierung sitzt – die Lohnabhängigen verrät. Erst recht bietet sie den Mittelschichten und dem Kleinbürgertum, das selbst von Deklassierung betroffen ist, keine Perspektive. Podemos o.ä. Parteien erscheinen heute als eine solche, linke Alternative für die „Mitte“ der Gesellschaft wie für Arbeitslose und Verarmte. Allerdings kann die nächste Enttäuschung mit dem linken Populismus leicht dazu führen, dass sich diese Massen dann nach rechts wenden, um dort den nächsten populistischen Führer zu finden.

Die reformistischen Parteien erweisen sich als unfähig, den Mittelschichten oder dem Kleinbürgertum einen Ausweg aus der Krise zu bieten – nicht nur an der Regierung, sondern auch schon, weil ihre ganze Politik eng auf die Interessen bestimmter Schichten der Lohnabhängigen fixiert ist. Ihre darüber hinausgehende „Gesellschaftspolitik“ ist oft genug wenig mehr als ein eklektischer Mix aus politischen Angeboten anderer Klassen und Bewegungen, wobei sie sich in allen entscheidenden Fragen an die Vorgaben des Finanzkapitals halten.

In der Krise wird eine genuin revolutionäre ArbeiterInnenpolitik für Teile der Mittelschichten und das Kleinbürgertum viel eher attraktiv werden als der Reformismus, da eine revolutionäre Organisation ein Programm vertritt, das sich nicht auf „Arbeiterfragen“ beschränkt, sondern eine grundlegende Umwälzung der gesamten Gesellschaftsordnung anstrebt.

Neue „antikapitalistische Parteien“

In den letzten Jahren entstanden neben „neuen“ Parteien unterschiedlichen Charakters auch Umgruppierungsprojekte und Vereinigungsprojekte. Zweifellos ist das Fehlen revolutionärer Parteien und einer revolutionären Internationale heute das Kernproblem der ArbeiterInnenklasse. Die letzte, die Vierte Internationale Leo Trotzkis ist zwischen 1948 und 1951 politisch degeneriert und seit 1953 auch organisatorisch zerfallen (14). Anders als die ersten drei Internationalen hatte sie, von einigen Ländern und kurzen Perioden abgesehen, nie Masseneinfluss, ja war selbst in der Avantgarde der Klasse nur eine marginale Kraft.

Heute sind die Gruppierungen und Strömungen, die sich auf den Trotzkismus beziehen, zentristische Organisationen. Sie sind alle keine „Parteien“, also Organisationen, die signifikante Teile der ArbeiterInnenklasse anführen, sondern mehr oder weniger große Propagandagesellschaften, die eigentlich vor der Aufgabe stehen, revolutionäre Avantgardeparteien zu schaffen.

Dasselbe trifft auf andere Strömungen der „radikalen Linken“ zu, die sich auf die ArbeiterInnenklasse beziehen. Die „Marxistisch-Leninistischen“ Strömungen basteln an ihren „Internationalen“ ebenso wie andere Strömungen des linken Stalinismus. Auch sie sind letztlich in der Regel keine Parteien im eigentlichen Sinn. Hinzu kommt, dass sie anders als die „trotzkistischen“ Strömungen oft nur nationale Existenz haben, ihre „Internationalen“ wenig bis keine Verbindlichkeit aufweisen.

Darüber hinaus agiert je nach Land eine Vielzahl von „revolutionären“ Strömungen unterschiedlichster politischer Traditionen: linke AutonomistInnen, linke Flügel in bestehenden Massenparteien, linke, syndikalistische Strömungen in Gewerkschaften, links-nationalistische Strömungen in den Halbkolonien usw. usf. Sie alle proklamieren die Notwendigkeit einer revolutionären „Neuformierung“, auch wenn sie darunter höchst Unterschiedliches verstehen.

Eine Reihe von linken Organisationen hat in der letzten Periode auf die Notwendigkeit, die Möglichkeiten zu revolutionärer Einheit, der Schaffung einer politischen und organisatorischen Alternative zum Reformismus reagiert. Allerdings mit mehreren politischen Schwächen und Fehlern behaftet, die immer wieder zur Krise oder zum Zerfall dieser Formationen führen.

Lange Zeit galt die Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) in Frankreich als Modell für diese Formationen. Die NPA wurde 2009 gegründet, nachdem die LCR mit Olivier Besancenot einen extrem erfolgreichen Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl geführt und alle anderen linken Kandidaten – einschließlich der KPF – deutlich hinter sich gelassen hatte. Die LCR entschied sich damals korrekterweise, aufbauend auf diesem Erfolg, die Initiative zur Gründung einer neuen, antikapitalistischen Partei als Alternative zur Sozialdemokratie und zur abgewirtschafteten KPF zu nutzen. Die Resonanz war sehr positiv und die NPA wuchs rasch auf rund 10.000 Mitglieder.

Auch wenn die LCR mit der Gründung der NPA formell programmatische Positionen des Trotzkismus verwarf, so änderte das nichts daran, dass die NPA eigentlich einen Schritt nach links gegenüber der LCR darstellte. Ziele wie „Diktatur des Proletariats“, zu denen sich die LCR auf dem Papier noch bekannte, hatte die Vierte Internationale schon längst über Bord geworfen und für die LCR hatten sie ebenso wenig reale Bedeutung wie ihr abstraktes Bekenntnis zum „Trotzkismus“.

Die Gründung der NPA stellte einen Schritt nach links dar. Sie war ein Bruch mit der damaligen strategischen Orientierung der LCR, der Bildung einer „pluralen Linken“ (gauche plurielle) mit der KPF, den Grünen, kleinbürgerlichen Bewegungen wie Bovés Confédération Paysanne (Bauernbund). Der rechte Flügel der LCR um Christian Picquet lehnte folgerichtig auch die Gründung der NPA ab, was jedoch etliche seiner AnhängerInnen nicht daran hinderte, in der NPA weiter ihr Unwesen zu treiben.

Die NPA nahm 2009 ein relativ linkes „provisorisches“ zentristisches Programm (15) an, das jedoch im Zuge der folgenden Jahre nicht weiterentwickelt wurde. Politisch kontroverse Punkte blieben „offen“, eine Klärung oder Weiterentwicklung gab es nicht. Statt die anderen Parteien der Linken oder ArbeiterInnenbewegung vor sich herzutreiben, wurde sie rasch selbst von der Front de Gauche unter Druck gesetzt. Strittigen politischen Fragen versuchte sie auszuweichen, passte sich an oder schwieg sich aus. Hinzu kam, dass sie aus den Klassenkämpfen gegen die Sarkozy-Regierung und die Rentenreform – einschließlich riesiger Massenmobilisierungen und trotz großer Aktivität der Mitglieder – wenig gewinnen konnte, v.a. weil sie (selbst ein Erbe der LCR) zu einer zentralisierten, verbindlichen Intervention nicht in der Lage war und auch nicht zu einer Politik, die sich von der Gewerkschaftsbürokratie abhob (v.a. jener der CGT, die relativ links agierte).

Die NPA scheiterte letztlich daran, dass sie die Schaffung einer zentristischen Partei, also einer Partei, die zwischen revolutionärer, kommunistischer Politik und Programm und Reformismus schwankt, als strategisches Ziel proklamierte. Die „Einheit“ der anti-kapitalistischen Linken sollte durch Kompromisse oder Vertagen grundlegender politischer und programmatischer Differenzen erreicht werden.

Eine solche Politik ist jedoch eine Utopie. Der Klassenkampf selbst stellt immer wieder Aufgaben, die eine klare Linie, ein konsequentes Programm erfordern. Das stimmt schon für eine kleine Gruppierung. Für eine Organisation mit rund 10.000 Mitgliedern, die also wirklich die Avantgarde der Klasse in der nächsten Periode gewinnen könnte, die sich zur Aufgabe stellen müsste, eine revolutionäre Partei für Zehntausende zu werden, kann jede Halbheit in entscheidenden Fragen nur zur Zersetzung führen. Wird die Halbheit zur Methode, ist der Zerfall vorprogrammiert.

Die NPA ist keineswegs das einzige Phänomen in dieser Richtung. Auch in anderen Ländern kam es zur Gründung von neuen, antikapitalistischen und revolutionären Allianzen von ihrem Wesen nach zentristischen Gruppierungen.

Ähnliche zentristische Projekte stellen Antarsya in Griechenland oder die FIT (Front der Linken und ArbeiterInnen) in Argentinien dar. Auch diese basieren auf einem zentristischen Programm oder einer ebensolchen Wahlplattform. Ein ähnliches Phänomen stellt auch die AWP in Pakistan dar, auch wenn sie sich mehr und mehr zu einer reformistischen Organisation entwickelt. Wegen deren geringer Größe (weniger als 10.000) verfügt sie jedoch (ähnlich wie NPA, FIT, Antarsya) über keinen starken Apparat. Ihre Führung mag sich bürokratisch verhalten – eine nennenswerte Parteibürokratie wie bei etablierten reformistischen Massenparteien haben diese Formationen nicht.

Die Parteien der Europäischen Linkspartei oder die kleinbürgerlichen Parteien wie Podemos und die HDP sind in der Regel Massenparteien oder jedenfalls welche mit einem signifikanten Anhang in der Klasse, national Unterdrückten, im Kleinbürgertum oder den Mittelschichten. Mit ihrer Etablierung haben diese Parteien auch einen Parteiapparat und eine große, über parlamentarische Vertretungskörperschaften vom Staat alimentierte Schicht geschaffen, die eine Bürokratie bilden, die diese Parteien beherrscht (oder um diese Herrschaft ringt). Im Fall der HDP stellt sich die Lage etwas anders dar. Hier stellen eine aus dem Stalinismus entstandene Partei, die PKK, sowie die Guerilla-Strukturen den Kern eines bürokratischen Apparats, der die Organisation beherrscht.

Die neuen „antikapitalistischen“ Parteien haben einen vergleichbaren Apparat nicht, was sie auch instabiler macht. Entscheidend ist jedoch, dass es für sie nur drei Optionen gibt. Erstens können sich die antikapitalistischen Parteien zu reformistischen entwickeln. Diese Möglichkeit ist jedoch eher gering, v.a. in Ländern, wo es schon eine oder mehrere bürgerliche ArbeiterInnenparteien gibt und eine weitere, schwachbrüstige Miniaturvariante des Reformismus nicht gebraucht wird.

Zweitens können die Parteien über gemeinsame Praxis und programmatische Vereinheitlichung den Schritt zu einer genuin revolutionären neuen Partei machen. Dieses in jedem Fall wünschenswerteste Resultat setzt aber voraus, den „Pluralismus“, der jedem Umgruppierungsprojekt eigen ist, die programmatischen und politischen Differenzen, nicht als Ziel, sondern als zu überwindenden Zustand zu begreifen.

Gerade die historischen Beispiele zentristischer Parteien wie der USPD in Deutschland oder der POUM im Spanischen Bürgerkrieg zeigen, dass (a) der Zentrismus keine konsistente Alternative zum Reformismus, Anarchismus oder reinen Syndikalismus bieten kann und (b) zentristische Parteien nur vorübergehender Natur sein können.

Daher ist die dritte Möglichkeit – die Bildung einer zentristischen Partei – letztlich keine dauerhafte Lösung und kann es auch nicht sein. Solche Blöcke/Umgruppierungsprojekte können nur von vorübergehender Natur sein.

Ähnlich wie bei der NPA in Frankreich sind es dabei weniger die inneren Differenzen,  auch wenn es den Beteiligten so erscheinen mag, sondern die Anforderungen des Klassenkampfes, die die Probleme aufwerfen.

Im Fall von Antarsya war es die Weigerung, eine Taktik gegenüber den Reformisten von Syriza (und KKE) anzuwenden, der von diesen die Übernahme der Regierung und die Bildung einer ArbeiterInnenregierung gefordert hätte, um so die Illusionen der Massen in diese Parteien einem Test zu unterziehen in einer Form, die den objektiven Erfordernissen des Klassenkampfes entsprach.

Hinzu kommt, dass die einzelnen Komponenten von Antarsya in der ganzen letzten Periode selbst kein gemeinsames Aktionsprogramm für Griechenland erarbeiten konnten – der Block also selbst keinen Schritt weiter kam, eine revolutionäre Partei zu formieren. Das hinderte letztlich auch daran, in den Aufschwung wie in die Krise von Syriza durch eine Fraktionsarbeit, organisatorischen Anschluss oder Entrismus zu intervenieren. Heute müsste Antarsya eigentlich versuchen, die linke Plattform in Syriza in Kampf um eine Mehrheit und den Bruch mit Tsipras zu unterstützen und vor sich herzutreiben, und so für die Schaffung einer revolutionären Partei zu kämpfen. Doch Antarsya bevorzugt hier Abwarten und Passivität, nicht zuletzt, weil jede solche Taktik, jedes offensive Manöver gegenüber einer reformistischen Massenpartei auch die Differenzen in Antarsya aufs Tapet bringen würde.

Die FIT in Argentinien kam nie über ein Wahlbündnis hinaus. Auch wenn sich seine Hauptorganisationen (Partido Obrero und PTS) gern als „orthodoxe“ Trotzkisten hinstellen und daher die FIT gern als „Modell“ anpreisen, so ist doch bemerkenswert, dass das Wahlbündnis selbst kein revolutionäres Programm hat (16). Die PTS proklamiert zwar, dass aus der FIT eine revolutionäre Partei werden soll, lehnt aber zugleich die Bildung von Grundstrukturen der FIT zwischen den Wahlen ab. Die Differenzen sind nicht geringer als jene in Antarsya oder in der NPA. So vertreten die drei Hauptorganisationen (PTS, PO, IS) zur Ukraine drei unterschiedliche Positionen. PO verteidigt den Widerstand gegen das Kiewer Regime, IS unterstützte den Maidan. Die PTS lehnt es ab, den Widerstand gegen Kiew zu unterstützen und nimmt eine „neutrale“ Haltung ein. Die konkrete Solidarität wird durch eine Abstraktion, den Aufruf zum gemeinsamen Arbeiterwiderstand, ersetzt.

Heute droht eine Spaltung der FIT. Trotz beachtlicher Wahlerfolge ist sie eine reine Wahlfront geblieben, die nun mit zwei gegeneinander antretenden Listen in die Vorwahlen gegangen ist. Diese Ausscheidung hat die PTS gewonnen, war zweifellos eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses im Block darstellt. Dass sich nach geschlagener Vorwahl die unterlegene Liste freudig in den „gemeinsamen“ Wahlkampf einreihen wird, darf jedoch bezweifelt werden.

Noch problematischer ist das Fehlen einer offensiven Taktik gegenüber den peronistisch geführten großen Gewerkschaftsverbänden. In Argentinien zeichnet sich eine neue, tiefe Krise ab. Gerade hier dürfte sich der Kampf für den Bruch mit dem Peronismus nicht auf die Aufforderung zur Wahl eines linken Wahlbündnisses beschränken. Von den Gewerkschaften einschließlich ihrer Führungen müsste auch der Bruch mit der peronistischen Partei und die Gründung einer ArbeiterInnenpartei gefordert werden. RevolutionärInnen sollten dabei klarmachen, dass sie sich daran beteiligen würden – und zugleich dafür kämpfen, dass eine solche Partei von Beginn an ein revolutionäres Programm hat, ohne dies jedoch zur Bedingung ihrer Mitarbeit zu machen.

Die vielleicht größte Schwäche des Wahlblocks der FIT besteht freilich darin, dass die beteiligten zentristischen Gruppierungen des Wahlprogramm als ein revolutionäres ausgeben – und das, obwohl es die Frage der Regierung noch ganz allgemein darstellt. Die Notwendigkeit, dass sich eine ArbeiterInnenregierung auf Räte, auf Milizen stützen und den bürgerlichen Staatsapparat zerschlagen muss, wird im ganzen Text nicht angesprochen. Obwohl die Parteigänger der FIT diese gerne als „revolutionäre“ Alternative zur opportunistischen NPA hinstellen, findet sich im ganzen „revolutionären Programm“ kein Wort von Räten oder ArbeiterInnenmilizen!

Wir haben es hier – mit Ausnahme von Antarsya und bis zu einem gewissen Grad der NPA – mit Umgruppierungsprojekten im trotzkistischen Spektrum zu tun und mit Gruppen, die schon länger existieren.

Die gegenwärtige Periode kann aber auch dazu führen, dass Umgruppierungs-projekte aus recht neuen Gruppen, zentristischen Gruppierungen oder gar Parteien entstehen, weil unter dem Druck des Klassenkampfes auch Abspaltungen von reformistischen Organisationen oder militante ArbeiterInnenschichten in diese Richtung tendieren. Diese Entwicklung, die z.B. in der 68er Bewegung sehr viel ausgeprägter war, ist bislang sehr schwach – sie kann aber durchaus in der nächsten Periode bei eine Vertiefung der Krise und des Widerstands stärker ausfallen, zumal die Massen wie die Avantgarde mit neuen politischen Erfahrungen in die Auseinandersetzung gehen werden.

Ein Beispiel für eine zentristische Gruppierung, die in den letzten Jahren entstanden ist und in Westeuropa eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, ist Borotba (Kampf) aus der Ukraine. Borotba entstand aus einer Abspaltung von der Kommunistischen Jugend der Ukraine gegen die Politik die Unterstützung des Janukowytsch-Regimes durch die KPU.

Anfänglich war Borotba ein politisch heterogener Zusammenschluss, der v.a. aus jungen GenossInnen mit einem Kaderkern und einigen hundert AktivistInnen bestand und sich stark auf anti-faschistische Aktivität konzentrierte. Mit dem Maidan und dem Putsch wurde die Organisation gezwungen, sich wie eine politische Partei oder Vorform einer solchen zu verhalten. Hinzu kam, dass sie außer im Osten im ganzen Land praktisch in die Illegalität gedrängt wurde, ihre Mitglieder auf den „Terrorlisten“ der Regierung auftauchten, ihre Führung praktisch ins Exil gehen musste.

Die Organisation zeigte trotzdem große Stärken und Heroismus, als sie praktisch die einzige größere Gruppierung der radikalen Linken war, die nicht vor dem Maidan-Putsch kapitulierte und auf den Widerstand orientierte, ohne vor dem russischen Imperialismus zu kapitulieren. Zugleich machten sich ihre programmatischen Schwächen, so z.B. eine Faschismusanalyse, die stark an Dimitroff angelehnt ist, wie überhaupt das Fehlen eines Programms und einer programmatischen Methode bemerkbar.

Auch wenn die Neue antikapitalistische Organisation (NaO) in Deutschland mit den anderen Umgruppierungsprojekten zahlenmäßig nicht vergleichbar ist und z.Z. eine schwere Krise durchläuft, so zeigt auch sie, dass ein solcher Umgruppierungs-prozess immer vor die Frage gestellt wird, ob er sich Richtung programmatischer Vereinheitlichung entwickelt – oder auseinandertreibt.

D Die zentralen Fehler der ‘radikalen’ Linken

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist gezwungen, auf die Veränderungen in der ArbeiterInnenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mag, so hat die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen  einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Sie hat den Problemen der „spontanen“ Neugruppierung neue hinzugefügt. Hier zu den wichtigsten Fehlern:

Eine fatale Reaktion bestand darin, den politischen Formierungsprozess zugunsten der Bewegungen abzulehnen. Entstehende Massenbewegungen im Aufschwung erzeugen bei ihren UnterstützerInnen oft den Eindruck, dass eine breite, aktive Bewegung alle Hindernisse aus der Welt schaffen könne, dass politische Organisationen, Programme, „Parteienstreit“ nur zur Spaltung führen würden. Diese Position spiegelt in naiver Form die erste Erfahrung des gewerkschaftlichen Kampfes oder des Kampfes um soziale Verbesserungen wider.

Aber in jeder Bewegung zeigt sich auch, dass es den scheinbar über allen Parteien stehenden, von allen „Außeneinflüssen“ freien Kampf nicht gibt und nicht geben kann. Mag der Ruf nach „Parteilosigkeit“ auch die Enttäuschung über die bestehenden Parteien ausdrücken, die vorgeben, die ArbeiterInnenklasse zu vertreten, so ist er letztlich ein Fallstrick für jede proletarische, jede progressive Bewegung. Die Bewegung „fern“ von der Politik, vom offenen Kampf politischer Ideologien, Strömungen, Parteien zu halten, läuft in Wirklichkeit nur darauf hinaus, dass die schon vorherrschenden Ideologien bzw. jene, die sich auf dem Stand des Bewusstseins spontan entwickeln, dominieren werden. Das heißt, es werden Formen, Spielarten bürgerlichen Bewusstseins, politische Ausrichtungen und Parteien dominieren, die einen in letzter Instanz bürgerlichen Charakter haben.

Wer linke oder revolutionäre Parteien aus dem Kampf um die politische Führung in Bewegungen heraushalten will, verkennt, dass sich revolutionäres Klassenbewusstsein nie spontan entwickeln kann. Eine solche Gruppierung verkennt, dass revolutionäres Klassenbewusstsein von außen in die Klasse und ihre Kämpfe getragen werden muss. Ein revolutionäres Programm entsteht nie einfach „aus der Bewegung“, „von unten“, sondern ist immer Resultat einer wissenschaftlichen, theoretischen Verarbeitung vergangener und aktueller Erfahrung. Nur so kann die Theorie überhaupt, nur so kann das Programm die aktuelle Praxis anleiten, ihr einen Weg weisen.

Der Autonomismus, Anarchismus, die Libertären und linken SyndikalistInnen wiederholen hier auf unterschiedliche Weise die Fehler des Ökonomismus – die Anbetung der Spontanität.

Das führt sie dazu, dass sie bestimmte Formen des Kampfes, nämlich die Formen von „Neuformierung“ auf betrieblicher oder gewerkschaftlicher Ebene samt ihrer Irrwege (insb. der Gründung von separaten Gewerkschaften, Ablehnung der bewussten Intervention in die politischen Neuformierungen) über andere stellen und als  „eigentlichen“ Klassenkampf betrachten. Die Bewegungsfetischisten, die an die Stelle bestimmter Sektoren der Klasse bestimmte, oft kleinbürgerlich-utopische, tw.  populistisch inspirierte Bewegungen zur zentralen Form der „Neuformierung“ machen, sind ihnen ähnlich.

Laufen die einen ideologisch der betrieblichen Selbstverwaltung (oft genug irrtümlich zu einer Form der „ArbeiterInnenkontrolle“ überhöht) hinterher, so die anderen bestimmten Formen des utopischen oder kleinbürgerlichen Sozialismus oder seiner Wiederkehr in neuen Farben. So erfreuen so unterschiedliche Utopien wie der Populismus von Blockupy, die Zapatisten, der „demokratische Konföderalismus“ der PKK oder die Verfechter der „Commons“ ihre Unterstützer. Es herrscht kein Mangel an diesen kleinbürgerlichen Ideologien. Neben Bewegungen und Organisationen, deren mehr oder weniger bewusster Ausdruck sie sind, ist die links-akademische Produktion voll von solchen Ideologien (Negri, Holloway, Naomi Klein).

All diesen Strömungen ist neben einer entschiedenen Ablehnung von „Parteipolitik“ das Fehlen eines klaren, politisch verbindlichen Programms eigen. Ihre Utopien blühen immer wieder auf als scheinbar nahe liegende Reaktion auf den politischen Reformismus und dessen „Staatsfixiertheit“.

Die Fetischisten des ökonomischen Kampfes oder der „reinen“ Bewegung machen es zu ihrem Markenzeichen, die Staatsmacht erst gar nicht erobern zu wollen. Das ändert zwar nichts daran, dass sie in den seltenen Fällen, wo ihnen Regierungsmacht zufällt, als Träger, als regierende Kraft handeln müssen (z.B. in Rojava). Statt diesen Umstand jedoch als ein reales Problem zu begreifen, das ihre Ideologie praktisch in Frage stellt, wird es gern durch allerlei ideologische Notbehelfe verkleistert.

In der Regel führt das „Raushalten“ aus der Politik, der Verzicht auf den bewussten politischen Kampf um die Macht dazu, dass die „linke“ Politik denen überlassen wird oder bleibt, die sie bisher schon betrieben haben – den linken, reformistischen, echten Massenparteien oder auch linken populistischen Parteien/Bewegungen.

So reproduzieren in der Regel die „BewegungsaktivistInnen“ und deren Organisationen eine für das bürgerliche System typische Arbeitsteilung, wenn auch in einer linkeren Variante. Die Trennung von Politik und Ökonomie ist für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv, was sich auch in der Trennung von StaatsbürgerIn und Privatmensch widerspiegelt. In der herkömmlichen Form bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik, wie sie v.a. in Europa etabliert wurde, erscheint diese Trennung als Trennung von wirtschaftlichem Kampf, für den die Gewerkschaften zuständig sind, und Politik, die von der reformistischen Partei betrieben wird.

In den sozialen Kämpfen, in zahlreichen Mobilisierungen der letzten Jahre wurde die Bewegungsmacherei den „AntikapitalistInnen“, v.a. der post-autonomen, post-… Linken überlassen – und die „eigentliche“ Politik, Wahlen, die Vorstellung von „Alternativen“  den linken oder populistischen Parteien.

Die neueren reformistischen und populistischen Parteien haben es umgekehrt ganz gut verstanden, sich viele „Linksradikale“, die vorgeben, die Bewegung über die Partei zu stellen, als ein zuverlässiges Fußvolk heranzuziehen. Es ist durchaus bemerkenswert, dass viele solcher „libertärer, anti-autoritärer“ Kräfte bei den Auseinandersetzungen der reformistischen Parteien mit deren Spitze oder gar deren rechten Flügeln gehen – nicht zuletzt, weil diese dem „traditionellen“ Etatismus des Reformismus ferner stehen würden.

In der Tat hat der traditionelle Reformismus den bürgerlichen Staatsapparat und den Parlamentarismus als ein Mittel betrachtet, durch den, gestützt auf die Masse des Volkes, Schritte zur einer Umgestaltung der Gesellschaft vollzogen werden könnten (im Maximalfall bis zum Sozialismus). Allenfalls müsste dazu der bürgerliche Staat noch weiter demokratisiert und von den reaktionärsten Elementen gesäubert werden.

Der Reformismus hat sich selbst von diesem Programm seit Jahrzehnten weit entfernt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zumeist durch den Keynesianismus ersetzt, der seinerseits auch auf einen Staat setzt, der in die krisenhafte Entwicklung der Ökonomie eingreift.

Ironischerweise kritisieren viele der Bewegungslinken am Reformismus freilich nicht seine Illusionen, seine Fixiertheit auf den bürgerlichen Staat, sondern lehnen jede Notwendigkeit ab, dass sich die ArbeiterInnenklasse der Staatsmacht bemächtigen müsste, dass sie ihren eigenen Rätestaat aufbauen, dass sie die Wirtschaft in ihren Händen zentralisieren und gemäß eines gesellschaftlichen Plans reorganisieren müsste. Den „Bewegungslinken“ erscheint das Programm des Marxismus nicht als eine grundsätzliche Alternative zur bürgerlichen Politik, sondern auch der Räte-Halbstaat als Fortsetzung des „Staatsfetisch“, weil der Marxismus auf den Zentralismus, auf zentraler Planung beharrt.

Die Formierung neuer, reformistischer oder „radikaler“ kleinbürgerlicher Parteien hat die „revolutionäre Linke“ zweifellos vor die Notwendigkeit gestellt, darauf politisch-taktisch zu reagieren.

Der rechteste Teil der Zentristen hat freilich daraus einen fatalen Schluss gezogen. Er tritt für die Schaffung „breiter neuer Parteien“ ein, da die Schaffung von anti-kapitalistischen Organisationen „verfrüht“ sei, weil sie dem Bewusstsein der Klasse nicht angemessen wären. Für diesen Flügel der „radikalen Linken“ geht es letztlich darum, Parteien vom Schlage der europäischen Linkspartei zu schaffen, diese entweder als eigenständige Formationen zur Anpassung an den Reformismus zu führen oder den Aufbau „echter“ anti-kapitalistischer oder revolutionärer Formationen auf eine ferne Zukunft zu verschieben.

Diese Taktik hat nicht nur zur Spaltung der NPA in Frankreich geführt. So wurde auch der Linksblock in Portugal weiter und weiter nach rechts getrieben. Ähnliches gilt für PSOL in Brasilien. Am schlimmsten wirkt diese Methode in Podemos in Spanien. Das Problem ist dabei nicht die Intervention in diese Formationen, sondern der Verzicht auf einen organisierten politischen Kampf.

In der letzten Periode wurde diese Politik der Anpassung noch extrem gesteigert. Anders als die Parti de Gauche oder Syriza sind Parteien wie Podemos keine Parteien, die organisch in der ArbeiterInnenklasse verankert sind, sie sind keine bürgerlichen ArbeiterInnenparteien. Zweifellos ist es richtig, in diesen Formationen für eine revolutionäre Ausrichtung und für eine Spaltung entlang der Klassenlinie zu kämpfen, wenn diese große Teile der Avantgarde oder nach links gehender Schichten der Klasse anziehen oder organisieren. Aber eine gezielte revolutionäre Intervention beinhaltet auch ein klares Verständnis, worin überhaupt interveniert wird – und zu welchem Zweck. In der zentristischen Linken, v.a. unter den rechten Zentristen, ist es Mode, die grundlegenden Unterschiede des Klassencharakters von Parteien herunterzuspielen und so zu tun, als gehörten diese Fragen einer längst vergangenen Periode an.

Dabei zeigt gerade die aktuelle Entwicklung, wie wichtig ein solches Verständnis ist. Alle, die z.B. erklärt hatten, dass die Labour Party längst eine „ganz normale“ offen bürgerliche Partei geworden wäre, die sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zur ArbeiterInnenklasse keinen Deut von jeder liberalen, jeder offen bürgerlichen Partei unterscheide, sind durch die Kampagne von Jeremy Corbyn blamiert. Ihre Einschätzung hat sich angesichts von 100.000 Neueintritten, 300.000 weiteren stimmberechtigten UnterstützInnen und der Bildung einer Unterstützungsbewegung tausender, v.a. junger AktivistInnen als falsch und empiristisch erwiesen.

Umgekehrt ist die Kampagne von Sanders in den USA, der bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei viel Zuspruch erlebt und von Teilen der Gewerkschaftsbürokratie unterstützt wird, damit nicht gleichzusetzen. Während Corbyn um die Wiederbelebung einer, wenn auch bürgerlichen, ArbeiterInnenpartei kämpft, hat Sanders‘ Wahlkampagne keinerlei Auswirkung auf den Klassencharakter der Demokratischen Partei. Diese ist eine der wichtigsten Parteien der imperialistischen Bourgeoisie. Sanders‘ Kampagne dient letztlich dazu, ArbeiterInnen an diese Partei zu binden. RevolutionärInnen sollten zwar in die Kampagne intervenieren, aber dabei erklären, dass die Demokraten die Partei des Klassengegners sind, dass sie keine organische Bindung zur Klasse haben und Sanders und seine UnterstützInnen auffordern, mit ihnen zu brechen und für den Aufbau einer ArbeiterInnenpartei zu kämpfen.

Noch wichtiger als das Verwischen des Unterschiedes von reformistischen, kleinbürgerlichen oder offen bürgerlichen Parteien ist freilich das Negieren des Unterschieds von revolutionären, kommunistischen Parteien zu nicht-revolutionären Formationen. RevolutionärInnen unterscheidet von anderen Anti-KapitalistInnen nicht, dass wir die Notwendigkeit anerkennen, unter bestimmten Bedingungen in reformistischen, zentristischen oder klein-bürgerlichen Organisationen zu intervenieren. Aber es unterscheidet uns das Ziel. Für uns hat jede Taktik nur Sinn als Mittel zum Aufbau einer revolutionären Partei oder jedenfalls zur Stärkung ihrer Vorform.

Während für einen Teil der Zentristen die Bildung einer reformistischen Partei in der aktuellen Periode den Charakter eines strategischen Etappenziels angenommen hat, lehnen viele diese falsche Konzeption ab. Sie treten für den Aufbau einer „breiten antikapitalistischen Partei“ (im Unterschied zu einer „breiten Partei“) ein. Das ist zwar ein Schritt nach links, aber es ist ein inkonsequenter Schritt. Wir haben schon weiter oben das Problem dieser Taktik betrachtet, sowohl in ihren linkeren wie rechteren Spielarten.

Eine Sonderform dieser Politik besteht darin, die Frage der „Umgruppierung“ auf ein bestimmtes ideologisches Spektrum oder auf bestimmte Formen der Radikalisierung festzulegen. Die Frage, mit wem zu welchem Zeitpunkt eine Umgruppierung zur Bildung revolutionärer Einheit sinnvoll ist, ist keine Frage, die nur mit einem Abgleich von „Grundsätzen“, „Prinzipien“ oder dem Bekenntnis zu einer bestimmten historischen Tradition zu erledigen ist. Entscheidender als die formelle Ähnlichkeit der Positionen ist die Bewegungsrichtung anderer Strömungen, um überhaupt die Basis für eine Umgruppierung zu ergeben. Zweitens setzt die Möglichkeit zu einer organisierten Diskussion und Entwicklung einer größeren, revolutionären Formation in der Regel eine Krise bei den beteiligten zentristischen Gruppierungen oder anderen Strömungen voraus.

Wir lehnen jedoch die Vorstellung, dass es um die Einheit einer bestimmen „geschichtlichen Strömung“ gehe, grundsätzlich ab. Die Frage der „Einheit des Trotzkismus“ oder der „Wiedervereinigung“, Neugründung, Bildung ihres vorgeblich linken Flügels ist ein überholtes Konzept, eine Chimäre. Als einheitliche Strömung ist „der“ Trotzkismus, ist die Vierte Internationale tot. Ihre Spaltprodukte stehen der Möglichkeit revolutionärer Einheit, also der Überwindung grundsätzlicher programmatischer Differenzen und der Entwicklung einer gemeinsamen programmatischen Grundlage für eine zukünftige revolutionäre Internationale grundsätzlich nicht näher als andere Strömungen der „radikalen Linken“.

Zweitens verengt die Frage dieser „Einheit“ den Blick auf die Notwendigkeit der entschlossenen Intervention in die historische Neuformierung der Klasse und ihrer Avantgarde. Diese wird unterschiedlichste politische Taktiken des Eingreifens in die Klassenbewegung auf politischer wie ökonomischer Ebene erfordern. Jede Fetischisierung einer bestimmten Variante kann dabei nur zur Anpassung oder zur Selbstisolation vor wichtigen Veränderungen der Klasse und ihrer Avantgarde führen. Sie führt zum:

a) Fetischisieren eines oder mehrerer Elemente realer Bewegungen;

b) zum Verzicht auf flexiblen Zugang zu anderen Phänomenen;

c) Ersetzen von Taktik durch eine Strategie;

d) Verzicht auf Erarbeitung eines revolutionären Programms.

E Trotzkis Lehren

Für alle Strömungen der „extremen Linken“ stellt sich die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit dem Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten können und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau eine revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der ArbeiterInnenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v.a. auch versuchen, Wege und  Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen ArbeiterInnenklasse gegen den Faschismus hatten die TrotzkistInnen für eine Reform der Kommunistischen Internationale als „externe Fraktion“ gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen linken Opposition“, also den „TrotzkistInnen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v.a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre ArbeiterInnen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen ArbeiterInnenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultra-linken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führern die Ablehnung der Einheitsfront mit den KommnistInnen erleichtert, die Einheit der Klasse gegen die Faschisten und die Gewinnung der sozialdemokratischen ArbeiterInnen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die ArbeiterInnenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzkis nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich ArbeiterInnen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen sei und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden wäre, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen, revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 30er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken (17) auseinandergesetzt. Für uns geht es an dieser Stelle darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 30er Jahren angewandt hat und entwickelte, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Block-Taktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Block-Taktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden, zentristischen Organisationen, die sich von der Sozialdemokratie oder dem Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen, neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen einer zukünftigen Einheit mit den Reformisten oder den Stalinisten offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene, revolutionäre Alternative aufzubauen auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin.

Die beteiligten Organisation – die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden – einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission „a) zur Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als Geburtsurkunde einer neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest), c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik“ (18).

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte der Block sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert hat, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeitereinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gibt. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob sie an die Basis und Führung der Massenorganisationen zu richten sei (oder praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt).

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblichen revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelt und zu einer dogmatischen, ultra-linken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) wurde. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch die Mentalität der Sozialdemokratie geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke, die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten, notwendig nur für begrenzte Zeit vorhanden waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentristen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentristen der 30er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen um den nach links gehenden Sozialdemokraten auf halbem Weg entgegenzukommen.

Falsch war daran  nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich daran programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit – und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und ihren Führern – muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und es ist notwendig, die unvermeidlichen Schwankungen der Partner zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, auf organisatorischer Ebene sich überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernst nehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter schroffer Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen, auszusprechen, was ist.“ (19)

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken oder in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für Entrismus.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus – also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei – keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass KommunistInnen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster MitstreiterInnen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labour-KandidatInnen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party an. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013). Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren ArbeiterInnenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte ArbeiterInnenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiterklasse bewahrt.” (20) Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunisten eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“ (21)

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninisten (wie die TrotzkistInnen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese Taktik nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten ArbeiterInnen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern dass die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung eine Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme, wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“ (22)

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninisten hatten, v.a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v.a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentristen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“ (23)

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933-36) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiterpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbst-gefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“ (24)

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer damals wie heute – „prinzipienlos“. RevolutionärInnen würden, so argumentierten z.B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“ (25)

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgen im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, dass sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur hunderte Mitglieder zählen, können nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei – solange es keine Kommunistische Partei gibt – selbst nur bedingt Avantgarde, sprich sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist – also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Stratege der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften – oft in starken Industriegewerkschaften wie den AutoarbeiterInnen in Deutschland oder bis in die 80er Jahre die Bergarbeiter in Britannien – formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. Entscheidend für uns ist dabei, dass die Führung, größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z.B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z.B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v.a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien, hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich dies in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen Strömungen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten in den Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v.a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass links-reformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil der Avantgarde (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. RevolutionärInnen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder herabspielen, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierern und Ökonomisten.

ArbeiterInnenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der ArbeiterInnenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser Taktik fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter- und Bauernpartei“.

Die Entwicklung in den 30er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer ArbeiterInnenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der ArbeiterInnenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z.B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiterklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiterklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.” (26)

In der gegenwärtigen Periode hat die Losung der ArbeiterInnenpartei in vielen Ländern auch heute eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten RevolutionärInnen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v.a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie oder stalinistischer Parteien hat heute in einigen Ländern die Möglichkeit geschaffen, dass die ArbeiterInnenparteitaktik auch angewandt werden kann, wenn es schon eine etablierte, reformistische Partei gibt (z.B. in Deutschland bei Formierung der WASG).

F Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der ArbeiterInnenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht auf die Frage der politischen Organisation, auf Taktiken im Parteiaufbau. Zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue anti-kapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf aber grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene stehen heute zweifellos der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, der Kampf für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die  Sammlung aller anti-bürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, Schulen, Unis, den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der ArbeiterInnendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d.h. es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus und Faschismus, Angriffe auf demokratische Rechte auch die Frage nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v.a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der ArbeiterInnenklasse sind ein unverzichtbarer Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Imperialistische Barbarei oder Sozialismus“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigt, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vor-revolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf Griechenland oder die Ost-Ukraine, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen kann nur ein Impuls zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, die Notwendigkeit bewusst werden – und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, klein-bürgerlichen oder zentristischen Fehlern, findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformisten versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu geben bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der anti-kapitalistischen Linken, einen Kampf in der Labour Party oder den Bruch in einer Partei wie Syriza handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der ArbeiterInnenklasse sein wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken (Blocktaktik, Entrismus, ArbeiterInnenpar-teitaktik) oder auch eine Kombination dieser Taktiken notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihm das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch die meisten der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformisten oder Zentristen oder gar von Populisten wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Freilich, den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen wird, ist der Realismus des Vorweg-Kapitulanten.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil sich, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren müssen, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.

Endnoten

(1) Siehe: Revolutionärer Marxismus 39, Finanzmarktkrise und fallende Profitraten. Beiträge zur marxistischen Imperialismus- und Krisentheorie, Berlin 2008; Markus Lehner, Finanzmarktkrise – Rückblick und Ausblick, in: Revolutionärer Marxismus 41, Berlin 2010, S. 5 – 42, Markus Lehner/Peter Main, Schwache Erholung, massive Aggression, kommende Krise, in: Revolutionärer Marxismus 46, Berlin 2014, S. 214 – 227

(2) Tobi Hansen, Sparpakete, Krise, Widerstand: Welche Perspektive für das EU-Projekt, in: Revolutionärer Marxismus 46, S. 87 – 113; Tobi Hansen, Dritter Anlauf um den Platz an der Sonne, in: Revolutionärer Marxismus 47, S. 56

(3) Unter degenerierten ArbeiterInnenstaaten verstehen im Anschluss an Leo Trotzkis Analyse der Sowjetunion und des Stalinismus Staaten, wo zwar das Kapital enteignet und die Herrschaft der Kapitalistenklasse gebrochen wurde, die politische Macht jedoch nicht von der ArbeiterInnenklasse ausgeübt, sondern von einer bürokratischen Kaste usurpiert wurde. Mehr zu unserer Analyse siehe unsere Broschüre: Gruppe Arbeitermacht, Aufstieg und Fall des Stalinismus, 2009 (http://www.arbeitermacht.de/broschueren/stalinismus/vorwort.htm). Umfassender und ausführlicher: Workers Power, The Degenerated Revolution. The Rise and Fall of the Stalinist States, London 2012

(4) Frederik Haber, Die Auferstehung des russischen Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 46, S. 114 – 143

(5) OECD, World Economic Report 2014

(6) ILO, World of Work Report 2014, S. 2

(7) Ebenda, S. 6

(8) Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 473

(9) Friedrich Engels, England 1845 und 1885, in: MEW 21, S. 191 – 198

(10) Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung der Sozialdemokratie, in LW 23, S. 113

(11) de.worker-participation.eu/Nationale-Arbeitsbeziehungen/Quer-durch-Europa/Gewerkschaften#note1

(12) Trotzki, Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, Intarlit, Dortmund 1977, S. 36

(13) Labour Qaumi Movement (LQM) ist eine Gewerkschaft von Webern in Pakistan, die noch unter der Diktatur Musharaffs gegründet wurde und heute rund 45.000 Arbeiter, v.a. in Faisalabad, einem Zentrum der Textilindustrie des Landes, organisiert. Siehe dazu auch: Martin Suchanek, LQM – eine etwas andere Gewerkschaft, http://www.arbeitermacht.de/ni/ni189/lqm.htm

(14) Zur ausführlichen Darstellung siehe die Broschüre: Gruppe Arbeitermacht, Der letzte macht das Licht aus, http://www.arbeitermacht.de/broschueren/vs/index.htm

(15) Zur Gründung der NPA und zur Kritik ihres provisorischen Programms siehe: Dave Stockton, The New Anticapitalist Party in France: a historic opportunity, in: Fifth International Vol. 3, Issue 2, London 2009

(16) Zur Kritik des Programms der FIT siehe: Christian Gebhardt, Wie weiter für die radikale Linke in Argentinien? http://www.arbeitermacht.de/infomail/711/argentinien.htm

(17) Zur Darstellung der Entrismustaktik, der ArbeiterInnenparteitaktik und der Taktik des organisatorischen Anschlusses siehe: Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, S. 107 – 181; zur Entrismustaktik: Dave Stockton, Turn to the Masses, in: Trotskyist International 24, 1998, Seite 32 – 46, zur Blocktaktik: Dave Stockton, Trotsky and revolutionary unity: The fight for the Fourth International, http://www.fifthinternational.org/content/trotsky-and-revolutionary-unity-fight-fourth-international

(18) Trotzki, Die Erklärung der Vier, in: Trotzki, Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, S. 460

(19) Trotzki, Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, S. 530

(20) Lenin, Collected Works, Bd. 31, S. 199

(21) Ebenda

(22) Trotzki, Writings, Supplement 1934-40, S. 494

(23) Trotzki, Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1977, S. 125/126

(24) Trotzki, Writings 1939-40, S. 34

(25) Vorwort aus Leo Trotzkis „Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), New York 1977, S. 20

(26) Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, S. 176




Dritter Anlauf um den Platz an der Sonne. Der deutsche Imperialismus

Tobias Hansen, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

A Einleitung

Alle Versprechen, welche das imperialistische System nach dem Sieg über die stalinistischen ArbeiterInnenstaaten des Warschauer Paktes gegeben hatte, sind Schall und Rauch. Die Etappe der „Globalisierung“, die nichts anderes war als die Ausbreitung der imperialistischen Wertschöpfungsketten über den gesamten Erdball, brachte nicht Millionen Menschen den Wohlstand, sondern Milliarden Menschen das Diktat der imperialistischen Ausbeutung und Unterdrückung.

2003 und 2007 veröffentlichten wir Artikel im „Revolutionären Marxismus“ (1) über die damaligen Herausforderungen des deutschen Imperialismus. Der EURO war damals seit zwei Jahren als neue Weltwährung etabliert und der deutsche Imperialismus stand vor der Herausforderung, die EU unter sich „zwangszuvereinigen“ und diesen Block gegenüber dem imperialen Hegemon, den USA, in Stellung zu bringen. Daran hat sich nichts Grundlegendes geändert – aber die inneren Widersprüche des Kapitalismus treten viel deutlicher hervor, der Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat sich dramatisch verschärft.

Dabei tritt der deutsche Imperialismus historisch zum dritten Mal in die globale Konkurrenz ein, zum dritten Mal soll am „deutschen Wesen die Welt genesen“, der „Platz an der Sonne“ für das deutsche Kapital gesichert werden. Diese Aussprüche des deutschen Kaisers vor dem Ersten Weltkrieg  sind bekannt, weniger die Analyse des Nachfolgers Max von Baden zu Ende des Ersten Weltkriegs. Dieser stellte für das künftige Weltmachtstreben Deutschlands fest, dass Deutschland nicht mehr militärisch seine Rolle einnehmen kann, sondern es eine zivile, politische Führung in Europa übernehmen muss. Der Zweite Weltkrieg war dann der erneute Versuch, Europa militärisch (diesmal unter der Knute des deutschen Faschismus) zu beherrschen, welcher jedoch die Spaltung Deutschlands zur Folge hatte.

In der von der rot-grünen Bundesregierung so genannten „Berliner Republik“ versucht das deutsche Kapital erneut, eine Weltmachtposition zu erringen, dies v.a. über die Beherrschung des EURO-Raums und der EU. Dieser dritte Anlauf um den Platz an der Sonne kommt bislang ohne offene Kriegsführung in Europa aus, wie auch die militärische Komponente des deutschen Imperialismus heute nicht vergleichbar ist mit den Anstrengungen vor den beiden Weltkriegen. Heute dominiert das deutsche Großkapital ökonomisch und politisch die EU, verfügt mit dem EURO-Raum über einen eigenen „Hinterhof“, einen von ihm beherrschten Binnenmarkt und unterworfene Kapitalfraktionen, wie auch eine beherrschte deutsche und europäische ArbeiterInnenklasse. Von dort aus tritt das deutsche Kapital heute in Konkurrenz zu den USA, zu Japan und zu China, wie es auch gleichzeitig mit ihnen kooperiert – in einer Phase der neuen Bündnisse und Blockbildungen.

Die EU unter deutsch/französischer Führung soll der größte Binnenmarkt werden, hier soll die höchste Produktivität und Profitabilität entstehen und die meisten Investitionen angelockt und getätigt werden. Somit war die „Agenda von Lissabon“, die diese Ziele für die EU festschrieb, eine Erklärung des deutschen Imperialismus, diese EU soll die globale Wirtschaftsmacht Nr. 1 werden,  eine unverhohlene Kampfansage an den engen Verbündeten USA.

Imperialismus auf tönernen Füßen

Die tiefe Krise von 2007- 2009 brachte das imperialistische Weltsystem ins Wanken, Billionen von US-Dollar und EURO galten als „verspekuliert“, Großbanken wie Lehman Brothers gingen pleite, während andere wie Citibank oder die Hypo Real Estate durch die Staaten entschuldet wurden. Die Verluste der Finanzmärkte, des Finanzkapitals und dahinter der globalen Bourgeoisie wurden sozialisiert. Dafür entstand gleich die nächste Spekulationsblase, die der Staatsanleihen. Die Zentralbanken der imperialistischen Mächte (FED, EZB, Japan) haben Massen von Kreditgeld in die Märkte gepumpt, die Geldmenge nach der Krise nochmals drastisch erhöht. Diese Nullzinspolitik (Leitzinsen), die verschiedenen „Rettungsschirme“ und Fonds, ein „quantitative easing“ der „global player“ – dies sind Triebfedern und das Kanonenfutter der aktuellen imperialistischen Konkurrenz.

Diese Krise führte zu einem Einbruch der internationalen Börsen. Millionen Beschäftigte wurden entlassen, weitere Millionen haben seitdem prekarisierte Arbeitsverhältnisse, Hungerrevolten breiteten sich 2009 aus, der Arabische Frühling schuf letztlich für eine ganze Weltregion eine revolutionäre Periode. Doch diese Aufstände und Bewegungen stießen an ihre Grenzen, wurden durch den Vormarsch der Konterrevolution abgelöst. Gleichzeitig sind die imperialistischen Mächte bis heute weit davon entfernt, eine neue, relativ stabile Ordnung im Nahen Osten und Nordafrika zu etablieren.

Das liegt auch daran, dass diese Weltregion zum Schlachtfeld um die Neuordnung der Welt geworden ist. Der Arabische Frühling ist einem konterrevolutionären „Herbst“ gewichen: in Ägypten hat die kleptokratische Militärjunta den Staat wieder in Besitz genommen, Präsident al-Sisi empfiehlt sich als Statthalter des Imperialismus. Die libysche Revolution ist heute ein permanenter Bürgerkrieg, die NATO-Intervention von Frankreich und Großbritannien hinterließ einen so genannten „failed state“. Der syrische Bürgerkrieg hat inzwischen Hunderttausende getötet und Millionen zu Flüchtlingen gemacht und den Aufstieg des IS zu einer dschihadistischen Freiwilligenarmee erlebt. Der IS gründete sich auf den Trümmern der US-Besatzung des Irak. Diese war die Grundlage für zehntausende Freiwillige, welche mit erbeutetem Kriegsmaterial ihren reaktionären „heiligen Krieg“ starteten.

Der Nahe und Mittlere Osten waren Stützpunkte des US-Imperialismus. Hier begründeten sich auch nach 1990 die globale Dominanz und der globale Führungsanspruch der USA. Unter Georg W. Bush wurden Afghanistan und Irak angegriffen und besetzt. Der Krieg gegen den Terrorismus teilte die Welt in „gut und böse“. Für Cheney, Rumsfeld (Vizepräsident und Verteidigungsminister), Exxon und Lockheed Martin (Öl- und Rüstungskonzerne) lag hier der Schlüssel zur Festigung der US-Vorherrschaft.

Zwar konnten die Konzerne und Börsen des US-Imperialismus diese Feldzüge erfolgreich nutzen, die irakischen Ölfelder unter Kontrolle bringen und enorme Kreditgelder in Rüstung, Armee und Märkte pumpen. Jedoch muss heute festgestellt werden, dass die Besatzung eine Niederlage der USA darstellte. Weder politisch noch sozial wurde der Irak stabilisiert. Stattdessen wurde die Grundlage für Bürgerkrieg, Terrorismus und den Aufstieg des IS gelegt. Nach den Versprechungen von Freiheit, Demokratie und Wohlstand führt die imperiale Besatzung de facto zur Zerschlagung des irakischen Staates, zu hunderttausenden Toten und ebenso vielen Freiwilligen für den Dschihadismus.

Die treuen Vasallen des US-Imperialismus und der NATO in dieser Region fangen nun an, eigene imperiale Interessen zu vertreten. Die Türkei, Saudi-Arabien und Katar wollen ihren Status als Regionalmächte erhöhen und sehen sich als Nutznießer der schwindenden US-Dominanz. Dies sind Folgen der Krise von 2007/08 und der gescheiterten US-Politik im Nahen und Mittleren Osten.

Konkurrenz und Neuaufteilung

Die alten imperialistischen Mächte USA, Japan, BRD, Großbritannien und Frankreich standen vor dem Scherbenhaufen ihrer Ordnung. Neue Herausforderer wie China kamen in den Kreis der  Großmächte. Ein neuer Wettlauf der imperialistischen Akteure ist die Folge.

In dieser Periode der Neuaufteilung der Welt tritt die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Staaten noch offener auf. Jeder Marktzugang, jede Direktinvestition und jedes Handelsabkommen ist umkämpft, was den Kampf der jeweiligen (nationalen) Kapitalfraktionen gegeneinander aufzeigt.

Der Aufstieg der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) oder als neuer „Kategorie“ der MINT-Staaten (Mexiko, Indonesien, Nigeria, Türkei) zeigt auf, dass es weiterhin nationale Kapitalfraktionen gibt, die in ihrer Rolle im imperialistischen System nicht endgültig festgelegt sind, sondern als Herausforderer, als Zukunftsmärkte, als „Partner“ o.ä. in dieser Periode der Neuaufteilung neue Rollen einnehmen können. Dass Finanzkapital, Monopolbildung u.a. Elemente der Leninschen Imperialismustheorie gerade heute wirksam sind, werden wir noch am Beispiel des deutschen Imperialismus darstellen. Hier soll festgehalten werden, dass trotz aller Vernetzung und gegenseitigen Beteiligung es natürlich weiter nationale Kapitalfraktionen und nationale Interessen gibt, dies ist gerade bei den aufsteigenden Nationalökonomien sichtbar.

Und so treten die „stellvertretenden“ Nationalstaaten für das und mit dem jeweiligen imperialistischen Kapital international in Konkurrenz zueinander, vertreten mit ihren politischen, juristischen und letztlich auch militärischen Apparaten die nationalen Kapitalinteressen auf globaler Ebene.

Die Kontrolle der Rohstoffversorgung, der Handelswege, der Ausbeutung der Arbeitskräfte und die Sicherung der jeweiligen Profite, wie auch der Marktzugang und der freie Kapitalverkehr (Direktinvestitionen) – das sind die wichtigen Ziele der imperialistischen Staaten und der jeweiligen Kapitalfraktionen.

Dies führt dann ebenso zu einer militärischen Aufrüstung der jeweiligen Nationalstaaten und Blöcke. Wenn heute ein Teil der „radikalen“ Linken Imperialismus auf Militarismus, Nationalismus und Krieg beschränkt wie auch historisch eher den Zeiten der Weltkriege zuordnet, so ist ihnen nicht klar, dass letztere in der imperialistischen Epoche zwangsläufig sind. Diese Epoche beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, führte zu zwei Weltkriegen – und führt seit der Krise 2007/08 zur verschärften Konkurrenz, wovon militärische Aufrüstung, Bürgerkrieg und Krieg die logische Folge sind. Nur eine letztlich kriegerische „Lösung“ kann die entstandene imperialistische Konkurrenz um die Neuaufteilung der Welt beenden, wie schon zweimal in der Geschichte geschehen – dann ist zumindest mittelfristig wieder ein „Sieger“ gefunden, welcher dann die Märkte, Arbeitskräfte, Rohstoffe und die Profite der unterlegenen imperialistischen Kapitalfraktionen auf dem Weltmarkt übernimmt.

Aktuelle Konflikte

Wie schnell sich das imperialistische Gefüge ändern kann, zeigte der Konflikt um die Ukraine. So reduzierte sich auch die Teilnehmerzahl der „G 8“ auf „G 7“, kündigt die NATO die seit 1990 stattfindenden Abrüstungsgespräche mit Russland, und Putin wird im Wochentakt mit Hitler verglichen – so schnell kann’s gehen in der Konkurrenz der Weltmächte. Im Streben um die Vorherrschaft in der Ukraine waren USA und EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite aufeinander gestoßen. Beide „Blöcke“ wollen die Ukraine als Markt integrieren und der „Westen“ hatte seit 2013 intensiv auf eine neue Regierung in der Ukraine hingearbeitet. Als Präsident Janukowitsch zwischen EU-Assoziierungsabkommen und Krediten aus Russland schwankte, machten USA und EU klar, dass ein Schwanken nicht akzeptiert wird. Gestützt auf Teile der ukrainischen Bourgeoisie und faschistische Fußtruppen wurde eine neue Regierung an die Macht geputscht und ein Bürgerkrieg gegen die BewohnerInnen der Ostukraine begonnen, welche sich gegen diesen Putsch und die faschistischen Milizen zur Wehr setzen.

So wurde ein Bürgerkrieg an der EU/NATO-Ostgrenze angezettelt, welcher kurzfristig einen neuen „Kalten Krieg“ mit Russland hervorruft. Dies geht einher mit gesteigerten Rüstungsanstrengungen: die NATO-Ostgrenze wird verstärkt, ein Raketenabwehrschirm wurde bereits installiert und nun werden die militärischen Kontingente aufgestockt. Dadurch wird mittel- und langfristig eine Blockbildung vorangetrieben werden. So entstehen neue Bündnisse, wie es derzeit zwischen Russland und China eine Annäherungen gibt.

Auf den globalen Märkten stehen sich die imperialistischen Kapitalfraktionen gegenüber, durch neue Bündnisse und alte Blöcke entstehen neue Fronten. Der deutsche Imperialismus hat in dieser Epoche immer zur Expansion gedrängt, mindestens die Unterwerfung Europas war immer das strategische Ziel des deutschen Kapitals. Davon ist abhängig, inwieweit der deutsche Imperialismus einen „Platz an der Sonne“ erobern kann.

B Stellung des deutschen Imperialismus in der globalen Konkurrenz

Die EU als „Hinterhof“?

Die Beherrschung der EU und des EURO-Raums ist die Voraussetzung für die globalen Ambitionen des deutschen Imperialismus. Die Bezeichnung „Hinterhof“ kennzeichnete den Aufstieg des US-Kapitalismus und die strategische Orientierung auf Lateinamerika. Dort sollte jeglicher europäische Einfluss unterbunden werden, natürlich mit dem „Hintergedanken“, dass somit die USA die vorherrschende Macht auf beiden Kontinenten werden sollten – „Amerika den Amerikanern“ galt als verkürztes Schlagwort dieser Politik.

Vom Gesichtspunkt des deutschen Imperialismus aus könnte heute der Slogan auf „Europa den Deutschen“ oder auch „Die EU muss deutscher werden“ lauten. Dabei ist die Bildung der EU, der gemeinsamen Währung EURO, des gemeinsamen Binnenmarktes und des Aufbaus einer EU-Bürokratie ein einmaliger Vorgang in dieser imperialistischen Epoche.

Verschiedene imperialistische Mächte und Kapitalfraktionen haben sich in dieser Epoche noch nie „friedlich“ geeinigt bzw. eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik gestaltet, erst recht nicht in Europa. Die Ansammlung imperialistischer Staaten in Europa war im Gegenteil zweimal in dieser Epoche Ausgangspunkt mörderischer imperialer Feldzüge.

Mit der Lissabon-Agenda von 2000 legten diese europäischen Kapitalfraktionen ein gemeinsames Programm gegen die ArbeiterInnenklasse Europas vor und eine Kampfansage an die imperialistischen Konkurrenten. In den Bereichen von Investitionen, Profitabilität und Umsatz soll die EU der führende Block des Globus werden, inklusive der Breite der beteiligten nationalen Kapitalfraktionen ein bisher einmaliges Experiment in der Geschichte des Imperialismus.

Seit der Schaffung des gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsraums ist das Bündnis des deutschen mit dem französischen Imperialismus elementar für die Stabilität der EU. So gibt es eine Tendenz zur Verbindung der beiden größten nationalen Industriekapitalfraktionen der EU inklusive ihrer politischen Marionetten zur herrschenden Kraft – sie tun dies aber gleichzeitig in einer Form, die nicht zur Herausbildung eines „supra-nationalen“ Kapitals führt, sondern in der Regel mit der Vorherrschaft eines nationalen Kapitals verbunden ist. Diese Verbindung bedeutet keine Verschmelzung des Kapitals, wenn auch einige strategische Sektoren dies getan haben, wie in der Pharma- und in der Luftfahrtbranche und teilweise in der Rüstungsindustrie, sondern die Kombination der strategischen Eigenschaften von Deutschland und Frankreich. In diesem Bündnis trifft die geballte industrielle Marktmacht des deutschen Kapitals mit den militärischen Fähigkeiten der Atommacht Frankreich zusammen. Dadurch lässt sich ein Binnenmarkt und teilweise eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik organisieren. Dieser Block ist hegemonial gegenüber den anderen Konkurrenten im EURO-Raum. Gemeinsam verfügen das deutsche und französische Kapital über die größten Monopolkonzerne und Großbanken; letztere sind eine weitere Stärke des französischen Imperialismus. Dieses strategische Bündnis ist auch eine Herausforderung innerhalb des westlichen Blocks, gerade gegenüber den USA und Großbritannien.

Andererseits sind es gerade die deutsch-französischen Beziehungen, die die größte Sprengkraft für die weitere Formierung der EU beinhalten, weil sie aufgrund des ökonomischen Übergewichts Deutschlands letztlich zu einer Unterordnung Frankreichs, als zweiter Führungsmacht der EU, also zur Unterordnung einer historisch gewachsenen imperialistischen Bourgeoisie führen müssen.

Als größter Konkurrent nicht im EURO-Raum, aber bis mindestens 2017 noch in der EU, verbleibt Großbritannien. 2017 wird es ein Referendum über die Mitgliedschaft in der EU geben, dies wird für das britische Kapital zur „Stunde der Wahrheit“. Ein Ausscheiden aus der EU würde einschneidende Konsequenzen haben, der britische Imperialismus wäre vom Kontinent zunächst abgekoppelt.

Diese Widersprüche begleiten die EU seit der Gründung des gemeinsamen Binnenmarktes und der Einführung der neuen Währung und haben sich in der „Schuldenkrise“ seit 2010 weiter zugespitzt. Dabei konnte der deutsche Imperialismus seine ökonomisch und politisch führende Rolle während der Krise behaupten und weiter ausbauen – auf Kosten der europäischen ArbeiterInnenklasse, aber auch auf Kosten der konkurrierenden Kapitale (inklusive des französischen und italienischen Imperialismus). Unter deutscher Führung wurden durch die „Achse“ Berlin-Paris-Brüssel massive Sozialangriffe durchgeführt, wie auch die EU-Bürokratie in diesem Sinne weiter ausgebaut wurde. So war es möglich, neue Regierungen im Interesse des Kapitals in Griechenland (2011) und Italien (2011 – 2013) zu installieren, welche von EZB- und EU-Spitzentechnokraten geführt wurden (Papademos und Monti). Dieses Schicksal widerfuhr auch der Syriza/ANEL-Regierung. Das letzte Memorandum hat Griechenland praktisch zu einem EU-Protektorat gemacht. Hier hat die EU-Bürokratie einen qualitativen „Sprung nach vorn“ gemacht.

Die deutsche Dominanz in der EU birgt in sich aber ebenso auch die Möglichkeit des Scheiterns dieses imperialistischen Projekts.

Krisenhafte Zuspitzung – welche Zukunft für die EU?

Ein Phänomen der aktuellen Krise ist der Aufstieg nationalistischer Kräfte in der EU; ebenso wie die Schuldenkrise ist dieser ein Beispiel für die innere Krise dieses imperialistischen Projektes.

Die Stärkung rechter/faschistischer und/oder populistischer Parteien in der EU ist einerseits der ökonomischen Krise der EU zu verdanken, ist aber auch eine Antwort der nationalen Kapitalfraktionen auf die Dominanz des deutschen Kapitals und seiner Regierung. Dass die Front National in Frankreich oder UKIP in Großbritannien stärkste Parteien bei den Europawahlen 2014 wurden, zeigt, dass Teile der jeweiligen Bourgeoisie wie auch radikalisierte Teile des Kleinbürgertums offen für nationalistische, rassistische und faschistische Antworten sind.

So gemeinsam die Interessen gegenüber der ArbeiterInnenklasse was die Kürzung von Löhnen, Sozialleistungen und Arbeitsrechten angeht, auch sein mögen, so unterschiedlich sind jedoch die immanenten Interessen jeder nationalen Kapitalfraktion in der EU, speziell der mit imperialistischem Anspruch. Dies begründet z.B. den strikt „antieuropäischen“ Kurs von FN und UKIP. Beide haben zuallererst den Fortbestand des eigenen Imperialismus im Sinn. Neben rassistischer Politik gegenüber Flüchtlingen zeichnet beide ein Schutzprogramm für das jeweilige Kapital aus. Der FN will den französischen Markt gegenüber der europäischen und US-Konkurrenz abschotten, somit speziell das kleine und mittlere Kapital schützen wie z.B. die französische Landwirtschaft.

Je stärker der Konkurrenzdruck und die Überlegenheit des deutschen Imperialismus werden, was z.B. 2013 fast zur Übernahme von Alstom durch Siemens geführt und damit den Verlust eines Trusts/Monopolunternehmens bedeutet hätte, desto stärker die nationalen Tendenzen des französischen Kapitals. Hier liegt der Knackpunkt für den Bestand von EURO und EU: in der strategischen Partnerschaft und letztlich ökonomischen Unterordnung des französischen unter den deutschen Imperialismus. Die französische Bourgeoisie hegte stets einen kontinentalen und afrikanisch-arabischen Führungsanspruch als europäische Großmacht. Historisch kollidierte dies zweimal mit dem deutschen Imperialismus. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Bourgeoisie der „Grande Nation“ von selbst darauf verzichtet.

Geschieht dies nicht freiwillig, liegt hier der Wendepunkt der deutschen Dominanz verankert. Dann würden das „Kerneuropa“ zerbrechen und zugleich neue Bündnisse und Blöcke in ökonomischer und politischer Konfrontation sich gegenüberstehen wie schon zweimal zuvor in der imperialistischen Epoche. Dann würden Konflikte wie heute in Mazedonien zu einer wiederholten Balkankrise führen, wie schon vor dem 1. Weltkrieg. Verschiedene europäische Bündnisse würden um die Vorherrschaft auf dem Kontinent ringen, Bürgerkrieg und Krieg Tür und Tor öffnen, wie auch schon die Zerstückelung Jugoslawiens nach 1990 die damalige Ausbreitung des deutschen Imperialismus inklusive der EG einleitete.

Gegenüber den konkurrierenden Kapitalfraktionen in der EU ist die aktuelle ökonomische Krise, welche zwischen Stagnation und Rezession für den EURO-Raum schwankt, der maßgebliche Standortvorteil des deutschen Kapitals. In dieser Lage ist es weder für das französische, italienische, spanische und erst recht nicht für das griechische Kapital verlockend, mit EURO, Binnenmarkt und EZB zu brechen. All dies, wie auch die EU-Austeritätsprogramme sind auch Standortvorteile dieser nationalen Kapitalfraktionen, wie auch der Zugang zum Weltmarkt mit der EU sich einfacher gestaltet.

In diesem Hinterhof sorgt die Krise für die Fortsetzung der Dominanz des deutschen Kapitals, welches selbst diesen Krisenzustand und die Schwächung der Konkurrenz benötigt, um die Führung zu behalten und die EU als Sprungbrett für die globalen Ambitionen zu benutzen.

Dieses scheinbar widersprüchliche Verhältnis innerhalb der EU und des EURO-Raums ist ein Spiegelbild der aktuellen Periode, der Neuaufteilung der Welt und die dadurch neu entfachte innerimperialistische Konkurrenz: entweder der aktuelle Hegemon stellt die Hackordnung zukünftig sicher oder die Konkurrenz bricht offen und letztlich kriegerisch aus.

Dabei muss der deutsche Imperialismus letztlich die Konfrontation mit den USA suchen, ein Unterfangen, was sowohl militärisch als auch ökonomisch ein enormes Risiko darstellt. Die globalen Ambitionen und Zwänge des deutschen Imperialismus müssen zwangsläufig auch das Verhältnis zum aktuellen Hegemon in Frage stellen und diesen auf den globalen Märkten herausfordern. Dies stellt auch das deutsche Kapital vor eine innere Zerreißprobe. Während auf der einen Seite das transatlantische Bündnis via TTIP (Transatlantisches Freihandelsabkommen), TISA (Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen) etc. ebenfalls Vorteile für das Großkapital bringt und via NATO das „westliche“ Militärbündnis weltweite Dominanz durchsetzen kann, so hemmt es auf der anderen Seite den expansiven Charakter des deutschen Imperialismus. Über die Beherrschung des EU-Binnenmarktes hinaus sind es nämlich die Märkte Zentral- und Ostasiens, welche in der nächsten Dekade die höchsten Profite versprechen und hier will das deutsche Großkapital eine entscheidende Rolle einnehmen.

Dies wiederum ist nur möglich, wenn die EU unter deutsch/französischer Führung mit anderen Partnern in Asien kooperiert und damit auch in Konkurrenz zum US-Imperialismus tritt. Ein Schritt in diese Richtung ist die Beteiligung an der Entwicklungsbank der BRIC-Staaten, welche von den USA richtigerweise als Konkurrenzorganisation zum IWF verstanden wird.

Die USA wiederum sind bemüht, ihren Einfluss in der EU und die EU als „Juniorpartner“ innerhalb von NATO, IWF, Weltbank und UNO zu halten. Dabei übernehmen Großbritannien, Polen und die baltischen Staaten ökonomisch und politisch die Rolle von „Stützpunkten“ der USA in der EU. Gerade in Polen und den baltischen Staaten ist diese Position aber stark umkämpft, das deutsche Monopolkapital ist sehr bemüht, diese Staaten und Märkte zu kontrollieren und dort den Einfluss der USA und Großbritanniens zu brechen bzw. zu schwächen.

Zum einen könnten diese Staaten den Ansatzpunkt eines „antideutschen“ Blocks in der EU darstellen, zum anderen direkt die politischen, militärischen und ökonomischen Interessen der USA in den EU-Gremien vertreten. Für den US-Imperialismus wäre es daher nicht günstig, wenn mit Großbritannien der engste Verbündete 2017 die EU verlässt, v.a. wenn Großbritannien allein austritt. Sollte es aber an der Spitze einer Koalition verschiedener austrittswilliger Staaten stehen, dann wäre das Projekt EU unter deutscher Führung gescheitert; der Schlüssel dazu liegt in Frankreich und Italien.

Sollten diese beiden Staaten und Kapitalfraktionen nicht mehr dem „deutschen Weg“ folgen, dann wäre eine Koalition mit Großbritannien das sicherste Ende dieser EU – Europa würde in ein Mosaik verschiedener Bündnisse und Blöcke zerbrechen, wie schon zuvor historisch geschehen.

Je mehr der deutsche Imperialismus die Unterwerfung der anderen nationalen Kapitale forciert, desto eher ist deren Ausscheren aus der EU zu erwarten. Die inneren Kräfte des deutschen Kapitals zwingen dieses, bei Strafe des Untergangs der EU genau diese Situation herbeizuführen. Dies kann durch das Erstarken nationalistischer und faschistischer Teile des Bürgertums geschehen, welche sich dann als Schutzpatrone der jeweiligen Bourgeoisie aufspielen und ihren nationalen Markt und ihre Wertschöpfungsketten vor dem deutschen Imperialismus schützen wollen.

Andererseits haben die fast 15 Jahre EURO-Raum unter deutsch/französischer Führung zur Expansion des EU-Binnenmarktes geführt und ein stabiles imperiales Regime via EU-Bürokratie aufgebaut. Die EU bleibt somit ein einmaliges Projekt in der Epoche des Imperialismus: die inneren Widersprüche und Gegensätze zeigen den Weg der Spaltung, die Realität des letzten Jahrzehnts wiederum bezeugt den Aufstieg des deutschen Imperialismus auf globaler Ebene.

Die EU – schwächstes Glied der Global Player

Das 1. Quartal des Jahres 2015 brachte zwar für die nach der BRD größten Volkswirtschaften ein Wachstum (Frankreich: 0,7%, Italien 0,1%, Spanien 2,6%), was sich aber relativiert, wenn man steigende Staatsverschuldung und ihr langfristiges Niveau berücksichtigt. Die EU-Kommission prognostiziert für Frankreich einen Anstieg der Bruttostaatsschulden für das laufende Jahr um 2,6% (74 Mrd. US-Dollar) bei nur 1% BIP-Wachstum (30 Mrd. US-Dollar). Im 1. Quartal 2015 legte das italienische BIP um mickrige 470 Mio. EURO zu, der gesamtstaatliche Schuldenberg aber um 65 Mrd. EURO. Im Mai 2015 belief sich der Bruttostaatsschuldenstand auf 2,22 Billionen EURO, also 137% der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die industriellen Zuwächse der spanischen Volkswirtschaft beschränkten sich fast ausschließlich auf die Sparte Kraftfahrzeugproduktion – SEAT ist eine VW-Tochter. Alle anderen Bereiche stagnieren praktisch. Der Einbruch der spanischen industriellen Erzeugung von 2007 bis heute liegt bei 27%. Dieses Wachstum reicht nicht zum Schuldenabbau. Die EU-Kommission rechnet bis 2016 mit einem Anstieg der Staatsverschuldung auf 102% des BIP. Insgesamt schafften alle Länder der Eurozone 2014 eine Wachstumsrate von 0,8%, obwohl die EZB mittels einer sintflutartiger Geldschwemme die Zinsen auf einem historischen Tief hielt. Der EURO und die Energiepreise schwächelten, die Industrieproduktion vieler Euroländer bleibt weit unter ihren Höchstständen verharrt. Das homöopathische Wachstum dürfte sich ins Negative verkehren, wenn das weltwirtschaftliche konjunkturelle Umfeld, insbesondere der Volkswirtschaften der USA und  Chinas, sich weiter abschwächt. Im Juli 2015 brach der chinesische Export um 8,3% ein – schlimmer, als die Experten erwartet hatten.

Ohne die niedrigen Zinsen wären die Staatsschulden stärker gestiegen und die Exportchancen schlechter – die durch den niedrigen Außenwert des EURO begünstigt wurden. Die Niedrigzinspolitik begünstigt höhere Einkommensschichten, die von Aktienkursgewinnen und niedrigen Hypothekendarlehen profitieren, Ersparnisse und Lebensversicherungen des „Kleinen Mannes“ für die Altersvorsorge verlieren dagegen tendenziell an Wert.

Der auch von vielen linkskeynesianischen Ökonomen erhoffte Effekt des Kredithebels – die Ankurbelung von Erweiterungsinvestitionen – blieb aber aus. Zum einen geht die Angst vor einer neuen Rezession um, zum anderen haben Banken an Vertrauen verloren. Unternehmen suchen verstärkt nach alternativen Finanzierungswegen, die von den Zentralbanken indirekt gepuscht werden. Das billige Geld fließt in vermeintlich sichere Vermögenswerte wie Staatsanleihen, Aktien und Immobilien. Große Konzerne besorgen sich über neue Aktien Geld, das sie aber nicht real investieren, sondern als Finanzanlage nutzen.

Rudolf Hickel, einer der „alternativen“ Wirtschaftsweisen, fordert eine „deutliche Zinswende“. Höhere Zinssätze belasteten nicht die davon relativ unabhängige Kreditaufnahme der Wirtschaft. Vielmehr sei eine aktive Finanzpolitik mit staatlichen Ausgaben im Bereich der Investitionen und der Infrastruktur erforderlich. Wenn der Gaul der „aktiven Nachfragestimulierung“ totgeritten ist, muss der nächste aufgesattelt werden. Die Staatsschulden lassen Hickels Investitionsförderträume grüßen! Was dem Professor der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ (Memorandum-Gruppe) wie dem gesamten akademischen Halbmarxismus der linken SchülerInnen Keynes‘ entgeht: Geldpolitik und Zins sind nicht die Triebfedern kapitalistischen Wachstums, sie sind abgeleitete Phänomene der Mehrwertproduktion. Wenn in der Krise die Zinsen stärker fallen, als sie in der Erholung danach angehoben werden, wenn dies zudem über Jahre so bleibt, dann handelt es sich um eine ganze Periode verschärfter Überakkumulation. Im „Revolutionären Marxismus 39“ (2) haben wir diesen Zusammenhang ausführlich dargelegt. Die Eurozonenkrise ist ein schlagender Beweis dafür (3).

Sicher ist die EU weit von einer bürgerlichen Vereinigung Europas entfernt – ohne Russland, die Türkei, Schweiz u.a. Länder. Doch immerhin gehören 4 G7-Staaten (noch) zur EU, 3 sogar zur Eurozone. Nach dem 2. Weltkrieg war die Achse Deutschland-Frankreich Motor dieser kapitalistischen Einigung. Seit Beginn des imperialistischen Zeitalters bis zum Ende des 2. Weltkrieges waren beide Länder erbitterte Konkurrenten; die stabile imperialistische Achse in Europa bildete sich um Frankreich und Großbritannien. Die NAFTA ist zwar auch ein Wirtschaftsblock, den der US-amerikanische und kanadische Imperialismus dominieren. Aber die EU umfasst 28 Staaten, die Eurozone 19. Einen gemeinsamen Binnenmarkt, geschweige eine gemeinsame Währung, gibt es zudem nicht in der NAFTA.

Der EURO verkörpert einen historischen Kompromiss: Frankreich und Italien opferten Franc und Lira, weil sie attraktivere Standorte für Geldkapital wurden, das jetzt ohne Aufschlag für Währungsverlustrisiken ins Land gelockt oder dort gehalten werden konnte. Dafür sicherte sich im Gegenzug die BRD-Exportindustrie einen besseren Zugang zu deren Märkten aufgrund der wegfallenden Verteuerung der D-Mark im Vergleich zu Franc und Lira. Im Moment der EURO-Krise wird dieser Pakt brüchig. Frankreich und Italien sowie zahlreiche andere EURO-Länder geraten in strukturelle, chronische und v.a. unaufhaltsame Zahlungsbilanzdefizite. Die günstige Kapitalrefinanzierung, der Hauptvorteil für sie bei der Währungsunion (siehe oben), verliert ihren zündenden Effekt für diese Volkswirtschaften. Die BRD indes profitiert weiter vom im Vergleich zur „härteren“ D-Mark billigen EURO; ihre Industrie drückt ihre unmittelbaren Konkurrenten an die Wand. Dies ist der ökonomische Hintergrund der oben beschriebenen Zerreißprobe. Weil sich im gemeinsamen EURO-Währungsraum die Zahlungsungleichgewichte auf Seiten der unterlegenen Konkurrenten viel eher und direkter als bei der Dazwischenkunft sich ständig verändernder, gleitender Wechselkurse im steigenden Staatsdefizit niederschlagen, versteift sich die Bundesregierung auf die Bedienung derselben. Es ist diese sich öffnende Schere zwischen dem deutschen Hegemon und dem Rest, die dieser Periode des EURO-Gebiets ihren Stempel aufdrückt.

Während die allermeisten Linken darin nur eine zugespitzte staatliche Fiskalkrise sehen, für die die Troika zuständig ist (und das entspricht auch der Wahrheit, aber eben nur zum Teil), erkennen wir ihre Hauptkomponente darin, dass die Bedienung der Staatsschuld eine Fütterung des BRD-Exportgroßkapitals darstellt. Diese Quasi-Subvention erhält den EURO-Zone-Kapitalmahlstrom aufrecht. Die Drohung mit dem Grexit ist der zugespitzte Ausdruck dessen. Am wenigsten will Deutschland die Schwächung des Zusammenhalts innerhalb der Währungsunion. Aber das mag an einem gewissen Punkt das kleinere Übel sein als ein Schuldenschnitt, der andere Wackelkandidaten wie Spanien oder Italien mit in den Strudel reißen könnte.

Was wie Harakiri aussieht, ist also kalkulierte Politik des deutschen Imperialismus. Diese wird aber früher oder später an die Wand fahren, spätestens wenn Italien oder Frankreich in Griechenlands Fußstapfen treten. Als imperialistische, nationale Gesamtkapitale würden sie sich dem Druck einer gemeinsamen Währung mit ihm entziehen müssen – auf Gedeih und Verderb. Und der deutsche Imperialismus? Seine Widersprüche würden den gleichen Siedepunkt erreichen wie schon zweimal in der Geschichte. Er würde neue Allianzen v.a. außerhalb Europas schmieden und die globale „Ordnung“ durcheinanderwirbeln.

Das Beispiel Griechenland

Die Verhandlungen mit der Syriza/ANEL-Regierung haben gezeigt, was sich der deutsche Imperialismus unter einer Hackordnung in Europa vorstellt. Letztlich wurden gegenüber der griechischen Regierung alle Vorgaben der bestehenden Spardiktate durchgesetzt und weitere durch das jetzt vorgesehene 3. Kreditprogramm unter dem ESM (Europäischer Stabilitäts-Mechanismus) aufgedrückt.

Diese Verhandlungen und die Reaktionen aus Berlin und Brüssel auf die neue griechische Regierung zeigen, wie sich das deutsche Kapital Europa vorstellt. So hält es derzeit weiter den Finger am Abzug Richtung „Grexit“. Stellvertretend dürfen dies Schäuble und Teile der CDU/CSU-Fraktion tun, allein um zu beweisen, dass das deutsche Kapital sich in allem durchsetzen kann und dabei selbst den Rausschmiss eines Staates aus seinem EU-„Protektorat“ in Kauf nimmt.

Es ist eine eindeutige Kriegserklärung an das europäische Proletariat, an die europäischen Volksmassen, die hier vom deutschen Imperialismus und seinen Handlangern Merkel und Schäuble ausgesprochen und umgesetzt wurde. Egal, welche Regierung gewählt wird, egal welche anderen Konzepte diese umzusetzen beabsichtigt oder welche Volksabstimmungen diese abhält – am Ende diktiert Berlin via Brüssel die Bedingungen.

Im Fall Griechenlands ging die Bundesregierung sogar das Risiko eines Konflikts mit Frankreich ein, welches wie der IWF einen Schuldenschnitt wenn auch nicht gefordert, so doch zumindest angeboten hätte. In den Verhandlungen zeigte sich auch, dass die „deutschen Verbündeten“ in Skandinavien, Benelux und Osteuropa sitzen, welche vehement für Berlin instrumentalisiert wurden und den Grexit forderten.

Hinter der Wahl von Tsipras und erst recht mit dem OXI vom 5. Juli verbanden große Teile der griechischen ArbeiterInnenklasse die Hoffnung, die Spardiktate der EU abzulehnen und die schlimmsten Verwerfungen der letzten 5 Jahre vielleicht rückgängig zu machen. Manche sozialdemokratischen und reformistischen Träumer in der griechischen Regierung, allen voran Tsipras selbst, waren sogar der Ansicht, das Paradigma des Sparens in der EU-Politik zu ändern oder zumindest für Griechenland einen dementsprechenden Deal herausholen zu können. Ihnen allen wurde gezeigt, was das deutsche Kapital davon hält. Eine Änderung der aggressiven Spardiktate, der Ausplünderung der Sozialkassen und der Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und Aufgaben ist nicht das Ziel des deutschen Kapitals wie auch der anderen europäischen Kapitalfraktionen – dies musste schon 2011 auch der französische Präsident Hollande  feststellen.

Für keynesianische Politik der Umverteilung gibt es in diesem Europa keinen Platz. Mehr Geld und Investitionen fließen nur in die Finanzmärkte oder dienen zur Sicherung der Absatzmärkte des Monopolkapitals – sie fließen aber nicht in Infrastruktur und öffentliche Arbeiten und schon gar nicht in Löhne und Kaufkraft.

Es ist das Ziel des deutschen Imperialismus, der europäischen ArbeiterInnenklasse eine strategische Niederlage zuzufügen. Dabei stehen natürlich die jeweiligen nationalen Kapitalfraktionen „Gewehr bei Fuß“, solange es darum geht, weitere Sozialangriffe gegen das Proletariat durchzusetzen.

Dieser deutsche Imperialismus wird nicht durch sozialdemokratische, reformistische, bürgerliche Regierungen und/oder (Arbeiter-) Parteien gestoppt. Diese dienen letztlich nur als Vollstrecker der aufgezwungenen Maßnahmen, wie jetzt auch die Syriza/ANEL-Regierung in Griechenland. Dieser Imperialismus kann nur durch den massenhaften Widerstand der europäischen ArbeiterInnenklasse gestoppt werden, und dazu brauchen wir speziell in Deutschland eine Belebung, eine Aktivierung klassenkämpferischer Politik gegen Kapital und Staat.

Es werden uns auch keine Beteuerungen der europäischen „Demokratie“ oder angeblicher „europäischer Werte“ helfen: diese Demokratie ist und bleibt eine Klassenherrschaft. Schon bei den technokratischen Regierungen von Papadimos und Monti in Griechenland und Italien hat der deutsche Imperialismus via EU-Bürokratie massiv eingewirkt und einen „regime change“ relativ geräuschlos veranstaltet.

Gegen den deutschen Imperialismus und dessen Rolle brauchen wir keine Beschwörungen der europäischen Demokratie und deren „Werte“ (also Kapital, Profit und Ausbeutung), sondern eine revolutionäre Klassenpolitik gegen Kapital, Staat und die reformistisch, bürgerliche Führung der Klasse. Wenn dies nicht geschieht, kann auch anderen Staaten und ArbeiterInnenklassen Europas das „griechische“ Schicksal drohen, nämlich als EU-Protektorat unter deutscher Knute. Das ist auch, was Schäuble mit „Kerneuropa“ und/oder „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ formuliert: Kerneuropa bestimmt und verwandelt die „Ränder“ zu Sonderwirtschaftszonen unter Kontrolle der deutsch/französischen Führung und deren Kapitale.

C Entwicklung des BRD-Imperialismus

Die Leninsche Definition

Die Krise 2007/08 und die nachfolgende Politik der imperialistischen Staaten zeigt, dass wir es mit dem Imperialismus gemäß der Definition durch Lenin und Trotzki zu tun haben, nicht mit einem postmodernen „Empire“ à la Hardt/Negri, das an frühere „Ultraimperialismus“-Theorien von Kautsky und Hilferding anknüpft. In diesem Zusammenhang war auch die Globalisierung „nur“ eine Etappe des Imperialismus, seiner Ausbreitung im globalen Maßstab. Das „Fit-Machen für die Globalisierung“ in der BRD war die Vorbereitung des deutschen Großkapitals auf globale Aufgaben, auf die globale Konkurrenz gegen andere Kapitalfraktionen. Diese Ausbreitung war möglich und nötig geworden durch die Beseitigung eines bis 1990 bestehenden Hindernisses für den Imperialismus, des „Ostblocks“, der Staaten des Warschauer Paktes. Hier war eine ganze Weltregion nicht dem kapitalistischen Wertgesetz unterworfen und konnte nicht unter den imperialistischen Fraktionen aufgeteilt werden. Dies geschah dann in den 90er Jahren mit der „Globalisierung“.

Wenn von einem Großteil der heutigen Linken der Imperialismus zumeist in die Zeit der Weltkriege verlegt oder/und mit der Kolonialzeit verbunden wird, so wird keine aktuelle Analyse betrieben über die Zusammenhänge zwischen Kapitalen und seinen Erscheinungsformen. Bekannt dürfte dagegen einigen noch die Definition Lenins sein, welche wir hier kurz zitieren:

„Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen speziell die wesentlichen Züge der zu definierenden Erscheinung abgeleitet werden sollen. Deshalb muß man – ohne zu vergessen, daß alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da eine Definition niemals die allseitigen Zusammenhänge einer Erscheinung in ihrer vollen Entfaltung umfassen kann – eine solche Definition des Imperialismus geben, die folgende fünf seiner grundlegenden Merkmale enthalten würde: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“; 3. der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, wo die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.“ (4)

Wie im Zitat ersichtlich haben Definitionen und Zustandsbeschreibungen immer einen relativen, von den allgemeinen Entwicklungstendenzen abhängigen Charakter. Ein zentrales Merkmal der  imperialistischen Epoche ist, dass die Welt unter den Großkapitalen und Großmächten aufgeteilt ist, dass eine Änderung ihres Kräfteverhältnisses und ihrer Entwicklungsdynamik früher oder später notwendig zu einem Kampf um die Neuaufteilung der Welt führen müssen. Die Überakkumulationskrise verschärft diese Tendenz nur.

Neue Konkurrenten fordern den imperialen Hegemon USA heraus, speziell China und die EU treten global in Konkurrenz zum US-Kapital. Viel Missverständliches wurde mit dem Begriff Monopolkapital betrieben, zumeist mit einer sehr engen sprachlichen Definition von Monopol. Wenn heute von Großkonzernen und deren Bedeutung und Stellung auf dem Weltmarkt gesprochen wird, so schließt dies direkt an die leninsche Definition an, wenn auch meist „unbewusst“. Es sind eben „monopolistische Kapitalistenverbände“, welche die zentralen Wirtschaftssektoren (Energie, Pharma, Rüstung, Automobil, Maschinenbau, Luftfahrt, Handel) unter sich aufgeteilt haben und den Markt bestimmen. Allein die 10 größten aufgeführten Konzerne der Welt (5) haben einen vergleichbaren Umsatz wie das BIP der BRD, ungefähr 3,5 Billionen EURO – dies ist konzentrierte Kapitalmacht.

Zum Monopolbegriff noch dies: die Studie über die internationale Kapitalverflechtung und Zugehörigkeit von der ETH Zürich (6) geht davon aus, dass letztlich 43.000 Unternehmen als internationale Großkonzerne identifiziert werden, darunter gibt es 1.318 Unternehmen, welche über Beteiligungen 80% dieser Großkonzerne kontrollieren. Innerhalb dieser 1.318 Megakonzerne existiert wiederum eine Konzentration des Kapitals, in der 147 Gigakonzerne – zumeist Banken, Versicherungen und Fonds – die Kontrolle über 40% aller weltweiten Großkonzerne ausüben: in dieser Größenordnung ist Monopolisierung zu verstehen. So ist auch der Begriff Finanzkapital zu verstehen, sicherlich einer der heute sehr verfälscht benutzten Begriffe aus der leninschen Definition.

Als Finanzkapital bezeichnete Lenin das „Verschmelzen“ von Industrie- und Bankkapital, die Entstehung einer „herrschenden Abteilung“ des Kapitals. Dort ballen sich die angehäuften Profite verschiedener Kapitalfraktionen inklusiv der aktuell angeworbenen Kredite – um als herrschende Abteilung die Geschicke des globalen Kapitalismus zu ordnen. Dabei kommt Banken und Versicherungen eine wichtige Rolle zu, schließlich bündeln hier oft die verschiedenen Kapitalfraktionen ihre Profite, Interessen und nächsten Unternehmungen, aber sie allein sind nicht das Finanzkapital. Dazu gehören z.B. auch die weltweit agierenden Fonds, welche teils „unabhängig“, teils in Kooperation mit den Großbanken agieren. Diese verwalten 2014 weltweit aktuell in den offiziellen Hegdefonds eine Summe von ca. 2,5 Bill. US-Dollar (7).

Der führende Fonds, die US-Gesellschaft Black Rock, wird als eine „Schattenbank“ bezeichnet (wikipedia), welche höchstwahrscheinlich allein Vermögenswerte von ca. 2 Billionen US-Dollar verwaltet, investiert und damit spekuliert – ein gutes Beispiel für einen Bestandteil der „herrschenden Abteilung“, für das real existierende Finanzkapital.

In Deutschland finden sich 2014 Vermögenswerte von 2,4 Billionen EURO in Hegdefonds, wovon 1,7 Bill. EURO von institutionellen Anlegern kommen (zumeist Banken und Konzerne), die restlichen 700 Mrd. EURO aber von privaten Anlegern investiert wurden. Jede nationale Kapitalfraktion und erst recht jedes imperialistisch agierende Kapital bildet diese Abteilungen seiner Wertschöpfung heraus, um im globalen Maßstab konkurrenzfähig zu sein.

Der von Lenin erwähnte „Couponschneiderkapitalismus“, welcher parasitäre Züge zeigt und auf den Niedergang dieser Phase des Kapitalismus hinweist, dieser „faulende Kapitalismus“ (Lenin) hat sich auf höherer Entwicklungsstufe etabliert. Nur reicht „faulend“ als Adjektiv für Kredite nicht mehr aus: diese sind seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 zu „toxischen“ Papieren und Krediten geworden, auch hier quasi eine quantitative und qualitative „Steigerung“ dieses letzten Stadiums des Kapitalismus.

Das deutsche Großkapital

In der traditionellen Zusammensetzung des deutschen Großkapitals gibt es bezüglich der Akteure eine große Kontinuität, es muss aber auch eine Formveränderung der „Deutschland AG“ verzeichnet werden. Als „Deutschland AG“ wurde die enge Vernetzung und gegenseitige Beteiligung der deutschen Großkonzerne bezeichnet: fast alle Sektoren und größeren Monopole standen untereinander in Verbindung, zumeist via Allianz-Versicherung und Deutsche Bank.

Grafik 1: Verflechtungen des deutschen Großkapitals 2006

Diese Verflechtung des deutschen Großkapitals hatte zum einen eine Schutzfunktion gegenüber Übernahmen durch andere Großkonzerne, zum anderen bereitete es die deutschen Konzerne auf die globale Konkurrenz vor. Fusionen wurden untereinander betrieben, wie der Aufbau von E.ON oder die Übernahme der Dresdner Bank durch die Allianz-Versicherung oder die Fusion von Porsche und VW. Dies war eine Epoche der Monopolisierung innerhalb des deutschen Großkapitals, dessen Elemente dann in der Globalisierung und heute während der Neuaufteilung der Märkte auf globalen Beutezug gegangen sind.

Im Vergleich zu 2006 fällt auf, dass sich die Sektoren des Großkapitals neu vernetzt haben, dass sowohl das Industrie- wie das Kredit-/Versicherungskapital sich untereinander neu aufgestellt haben. Weiterhin eine „Zentrale“ des deutschen Großkapitals bleibt die Allianz als größter Versicherungskonzern der Welt mit gestreuten Beteiligungen an verschiedenen Sektoren des Großkapitals.

Grafik 2: Deutschland AG 2010

Diese teilweise Aufsplittung des „Deutschland AG Netzwerks“ erleichterte den Monopolkonzernen, sich ungehindert auf dem Markt zu entfalten und zu expandieren. Gut gerüstet zogen Monopole wie VW, Telekom, Post und Siemens auf die internationalen Märkte und bauten ihre Stellung aus. Zu Zeiten der tieferen Vernetzung der Deutschland AG gab es dementsprechend auch mehr Entscheider auf Kapitalseite, was zwar vor feindlicher Übernahme besser schützen konnte, aber in expansiven Zeiten eben auch hinderlich sein kann. In Zeiten der tieferen Vernetzung erfüllte die Deutschland AG vor allem eine Schutzfunktion für die deutschen Monopole, die sich unter dem Netzwerk weiter zentralisiert haben, um dann „gestärkter“ in die internationale Konkurrenz eingreifen zu können.

Diese konzentrierte Marktmacht des Großkapitals lässt sich auch gegenüber dem deutschen Mittelstand darstellen. Dieser „Mittelstand“ ist eine besondere Entwicklungsstufe innerhalb des deutschen Industriekapitals, welche selbst Weltmarktführer und Unternehmen mit Milliardenumsätzen als Mittelstand bezeichnet, wobei speziell diese größeren mittelständischen Unternehmen immer eine starke Verbindung zu den jeweiligen Monopolkonzernen des Wirtschaftssektors haben. Die fünf größten deutschen Monopole (VW, Daimler, E.ON, Siemens, Metro) haben gemeinsam einen höheren Umsatz als alle 3,2 Millionen Kleinunternehmen zusammen.

Fügen wir den Kleinunternehmen noch die umsatzstärksten mittelständischen Unternehmen hinzu, so entspricht ihr Gesamtumsatz von über 2 Billionen Euro gerade den 100 größten Konzernen. (8) Die Deutsche Bank als größtes Finanzmonopol des deutschen Kapitals schaffte es 2014 mit einer Bilanzsumme von 2,078 Billionen US-Dollar auf Platz 12 der globalen Rangliste, innerhalb der EU reichte es für die Top 5.

Wir sehen aktuell auch eine Zunahme der Fusionen in Milliardenhöhe mit deutscher Beteiligung. 2014 war das Rekordjahr von Fusionen seit der Einführung des EURO. Insgesamt stehen 1.633 Fusionen und Übernahmen mit deutscher Beteiligung zu Buche, davon 934 (57%) mit Firmen aus dem Ausland. Der Wert der Fusionen stieg auf 237 Mrd. EURO, 20 Fusionen fanden in Milliardenhöhe statt. Innerhalb dieser „Mega-Fusionen“ war Bayer die Nr. 1, die vom US-Konzern Merck & Co. die Sparte rezeptfreier Medikamente erwarb und dafür 10,4 Mrd. EURO zahlte.

Auch weltweit war 2014 ein Jahr der Mega-Fusionen. Deren Gesamtsumme übertraf das bisherige Rekordjahr 2007 deutlich, mit 3,2 gegenüber 2,6 Bill. US-Dollar. Die Höchststände der Börsen, die Milliarden und Billionen billigen Geldes via „quantitive easing“ haben das Monopolkapital wieder „phantasievoll“ gemacht, wie es im Börsenjargon heißt. So günstig kam man selten an das fiktive Kapital und so gewinnbringend konnte selten verkauft werden in den letzten Jahren – ein neuer Run der Monopolisierung und Kapitalkonzentration ist im Gang. (9) All das ist auch ein eindrucksvoller Beleg für die Bedeutung des Kapitalexportes in der imperialistischen Epoche.

Marktmacht in Europa

In der EU verfügen die deutschen Monopole über eine dominante Stellung. Unter den Top-100-Gesellschaften Europas finden wir 18 deutsche Monopole, fast ein Fünftel des EU-Großkapitals ist unter „deutscher Flagge“ unterwegs. (10) Unter den Top 21 sieht es noch deutlicher aus: hier rangieren 7 deutsche Monopole, ein Drittel des europäischen Großkapitals steht also unter deutscher Kontrolle. Darunter finden sich viele „alte“ Bekannte, die seit der imperialistischen Epoche aktiv sind und daher auf diesem Sektor eine Konstante darstellen, unabhängig von der jeweiligen Staatsform.

Grafik 3 bietet eine Darstellung der Top 10 in Deutschland 2013. Europaweit müssen diese Konzerne noch um Bayer, Thyssen-Krupp, RWE, Continental, Lufthansa, Hochtief, Celesio und EnBw ergänzt werden. Hiermit haben wir den Kern des industriellen Exportkapitals benannt. Gemeinsam mit der Deutschen Bank, der Münchner Rück und dem Allianz-Konzern bilden sie das Herzstück des deutschen Finanzkapitals.

Diese konzentrierte Marktmacht sorgt auch für die stetigen Handelsbilanzüber-schüsse, welche seit der EURO-Einführung und des EU-Binnenmarktes massiv gestiegen sind und das Rückgrat des deutschen Imperialismus stellen.

Für 2013 und 2014 sind die Überschüsse mit 195 Mrd. EURO und 217 Mrd. EURO zu ergänzen (11), womit sich diese Kennziffer des deutschen Kapitals in den letzten 15 Jahren fast vervierfacht hat, während die Gesamtheit der Exporte (2013: 1.093 Mrd. EURO, 2014: 1.134 Mrd. EURO) sich „nur“ verdoppelt hat.

Grafik 3: Top Ten des deutschen Großkapitals

Grafik 4: Entwicklung des Außenhandels

Hier liegen die Basis für die ökonomische Beherrschung der EU wie das Risiko des Zerfalls nah beieinander. Zum einen kann die dominante deutsche Kapitalfraktion weiter in der EU die gegnerischen Kapitalfraktionen schwächen, einbinden oder aufkaufen – zum anderen liegt hierin aber auch der Schlüssel für einen möglichen Zerfall der EU, wenn nämlich die konkurrierenden Kapitalfraktionen das nicht mit sich machen lassen.

Diese Struktur ist auch der Grundstock dafür, was Lenin als „Extraprofit“ bezeichnet, „Extra“ in der Hinsicht, dass dieser über die Beherrschung und Infiltration internationaler Märkte angesammelt wird, das „heimische“ Großkapital stärkt und die Existenz der Arbeiteraristokratie begründet, für welche dann aus diesen Extraprofiten auch höhere Löhne und eine höhere soziale Stellung innerhalb der Klasse abfallen.

Aber dieser Extraprofit ist natürlich nicht allein für die deutschen Beschäftigten der Exportindustrie vorhanden, sondern in erster Linie für die besitzende Klasse. Und so wurde 2014 eine Rekorddividende der DAX-Konzerne in Höhe von 30,3 Mrd. EURO ausgeschüttet, welche 2015 die 40 Mrd.-Grenze sprengen wird, wie auch die Top-30 der börsennotierten Unternehmen einen Rekordgewinn von 109 Mrd. EURO einstrichen. Begleitet wurde dies auch von einem Börsenrun in den letzten Jahren: allein zwischen dem Krisenjahr 2009 und dem Endstand des DAX 2014 liegt ein Plus von 173% (12). Der DAX konnte sich bis 2015 zum Ausbruch der Griechenlandkrise halten und sogar auf neue Rekordstände klettern, ohne dass es einen signifikanten Aufschwung der Produktion gegeben hätte. Diese liegt erst seit 2012 wieder auf Vorkrisenniveau und wuchs seitdem nur langsam.

Allerdings konnte das deutsche Industriekapital seine Stellung auf Kosten der europäischen Konkurrenten ausbauen. Während in Frankreich, Italien und Großbritannien der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung von 2003 bis 2013 gesunken ist, konnte das deutsche Industriekapital seinen Anteil von 24,5 auf 25,5% ausbauen. (13)

Über die Beherrschung der industriellen Wertschöpfungsketten im EU-Binnenmarkt kann das deutsche Finanzkapital vom Binnenmarkt aus globale Ambitionen umsetzen. Darüber gelingt es, ADI (Auslandsdirektinvestitionen) und damit einhergehend neue Wertschöpfungsketten global zu platzieren, speziell in den Märkten der zwei Hauptkonkurrenten USA und China.

D Prekarisierung und Umstrukturierung in der Klasse

Während in den südeuropäischen Staaten die Massenverarmung sehr zügig mit den Spardiktaten aus Brüssel und Berlin anstieg, können wir in der BRD eine Verarmung seit der Agenda 2010 und deren Einfluss auf den Arbeitsmarkt sowie seit den Auswirkungen der Krise 2007/08 feststellen. Während offiziell die Höchstbeschäftigung seit dem Anschluss der DDR mit 40 Millionen registrierter Beschäftigter bekanntgegeben wird, hat sich doch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden nur unwesentlich verändert. Im Vergleich zum Jahr 2000 sind 2,75 Millionen neue Erwerbstätige registriert, aber mit 0,9% nur unwesentlich mehr Arbeitsstunden geleistet worden. Dies ist Folge einer „Prekarisierung“ neuer Schichten der Klasse, wie wir sie bereits im Revolutionären Marxismus 44 (14) dargestellt haben.

Zeit- und Leiharbeit, die „geringfügig Beschäftigten“, Mini-Selbstständige in siebenstelliger Anzahl und verschiedene befristete und begrenzte Jobs prägen heute den Arbeitsalltag vieler Beschäftigter in Deutschland. Die Agenda 2010 schuf die Grundlage für staatliche Zwangsarbeit via 1-EURO-Job, mit gleichzeitigem Aufbau der Zeit- und Leiharbeitsfirmen und deren formaler Berechtigung, Beschäftigte anzuheuern und auszuleihen, die moderne Form von Handel mit Arbeitskraft. Nach dem Einbruch während der Krise 2007/08 wurden fast 2 Mill. Beschäftigte in die Kurzarbeit transferiert. Die wenigsten von ihnen bekamen ihre alte Stelle und ihren vorherigen Lohn wieder. Die meisten wurden in die Frühverrentung mit gleichzeitigen Abschlägen und/oder in die Zeit- und Leiharbeit transferiert.

Grafik 5: Entwicklung der Teilzeitbeschäftigung

Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Standort Deutschland in zwei Kategorien Spitzenreiter auf Kosten der Beschäftigten geworden ist. Kaum ein anderer Industriestandort konnte so erfolgreich die Lohn„neben“kosten senken, die Reallöhne auf dem Niveau von 2000 fast einfrieren (ein Plus der Kaufkraft von 1,2%) und gleichzeitig die durchschnittliche Produktivität seit dem Jahr 2000 um 14% steigern.

Wie die Spaltung in Voll- und Teilzeitstellen oder die 27,5 Stunden-Stellen speziell im Handel aufzeigen, ist es dem deutschen Kapital gelungen, die gleiche Arbeit auf mehr Hände und Köpfe zu weniger Lohn zu verteilen und damit auch die Konkurrenz innerhalb der Klasse weiter zu erhöhen.

So werden heute 42,6 Mill. Menschen als Beschäftigte aufgeführt, wovon allerdings nur noch 30,5 Millionen als „sozialversicherungspflichtig Beschäftigte“ geführt werden, also ein gutes Viertel der Beschäftigten keinen, wenig oder einen eingeschränkten Zugang zum Sozialversicherungssystem überhaupt hat. Selbst in den geschönten Statistiken der Bundesagentur werden über 7 Millionen als „atypisch Beschäftigte“ registriert, worunter dann auch „Mini-Jobber“, Aufstocker und v.a. junge und weibliche Teilzeitbeschäftigte aufgeführt sind. Dieser hohe Anteil des Niedriglohnsektors wird dann ergänzt um mehrere Ausgliederungen in die „Scheinselbstständigkeit“, welche von der AltenpflegerIn bis zum KurierfahrerIn für DHL oder zur ProgrammiererIn, den „FreelancerInnen“, reicht.

Diese Entwicklung hat im letzten Jahrzehnt zu einer Verarmung breiter Teile der Beschäftigten, aber auch zur weiteren Verarmung der Arbeitslosen geführt. 7,4 Millionen Menschen beziehen heute „soziale Leistungen“ – von Hartz IV und den Bedarfsgemeinschaften bis zur Sozialrente und ca. 1,4 Millionen „Aufstockern“. Diese Gruppe, welche unter direkter Armut leidet, wird ergänzt durch ca. 3,1 Millionen Beschäftigte, welche nicht von ihrer Arbeit leben können und als „working poor“ bezeichnet werden. Nach den Berechnungen der EU gelten Menschen in Deutschland als arm, wenn sie mit weniger als 60% des Median-Einkommens (eine Art Durchschnittseinkommen) auskommen müssen. Dieser Wert liegt bei 1-Personen-Haushalten bei 979 Euro brutto monatlich. Danach werden heute 16,4 Millionen Menschen (20,3% der Bevölkerung) als von Armut und/oder sozialer Ausgrenzung Betroffene in dieser Statistik geführt.

Während weitere Schichten der ArbeiterInnenklasse in Prekarität und Armut gedrängt werden, mästet sich auf der anderen Seite die deutsche Bourgeoisie. Über 1 Million Einkommensmillionäre, 126 aufgeführte Milliardäre und 12 milliardenschwere Familienclans verfügen zusammen mit den restlichen oberen 10% über 66,6% des gesamten Vermögens in Deutschland. Das reichste Prozent darunter verfügt über 36% des Gesamtvermögens (inkl. Aktien und Immobilien) und 45% des Geldvermögens.

Hier werden Kapitalismus und Bourgeoisie ganz real greifbar: auch wenn „antideutsche“ Strömungen dies als verkürzte Kapitalismuskritik hinstellen, ist es soziale Realität. Der Burda-Clan hinter Bertelsmann, Familie Springer mit dem gleichnamigen Verlag, die Quandts, die Mohns, Albrechts, Schwarz‘ etc. bestimmen hierzulande Industrie, Medien und Politik – das ist die Wahrheit hinter der demokratischen Fassade. Und so sollten auch „Linksradikale“ und Co. wissen, was die Bourgeoisie ist, wer dazu gehört und was somit auch Kapitalmacht bedeutet. Das ist nicht verkürzt, das ist Klassenanalyse.

Bis 2016 (Bund) und 2019 (Länder und Kommunen) gilt überall die so genannte Schuldenbremse, welche von CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen 2009 verabschiedet wurde. Danach ist es allen staatlichen Gliederungen verboten, neue Schulden aufzunehmen, was speziell für die Kommunen eine Katastrophe bedeutet. Schon heute sind hunderte Kommunen unter Zwangsverwaltung, dort bekommt die Kommune quasi vom Land ihre eigene kleine „Troika“. Das Hauptaugenmerk liegt dann auf dem Ausverkauf der öffentlichen Güter, Unternehmen und Dienstleistungen, welche dem deutschen Kapital geliefert werden sollen. So hat die Bertelsmann-Gruppe mit der Tochterfirma Arvato schon eine Firma für die öffentliche Verwaltung gegründet. Diese steht bereit, die kommunalen Rathäuser zu übernehmen. Dort wird ein Markt von 20 Mrd. EURO erwartet. Bertelsmann hat, wie auch die Beraterfirma Ernst & Young, umfassende Studien zum Ausverkauf des öffentlichen Dienstes und öffentlicher Leistungen veröffentlicht. Hier wird nach neoliberalem Duktus der Ausverkauf organisiert.

Agenda 2010: ein wichtiger Sieg des deutschen Kapitals

Mit der 2. Legislaturperiode der Schröder/Fischer-Regierung stellten Staat und Kapital sich der Herausforderung, Deutschland „fit für die Globalisierung“ zu machen. Für die Initiatoren der „Agenda 2010“, dem Arbeit„geber“verband Gesamtmetall und der ISM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) lag der Fokus auf der Zerschlagung der bisherigen Sozialsysteme, wie sie die so genannte „Soziale Marktwirtschaft“ hervorgebracht hatte. In der ISM fanden sich Vertreter aller Kapitalfraktionen, welche gemeinsam die erneute rot-grüne Bundesregierung auf Kurs brachten. Zwar hatte sich Kanzler Schröder vom Parteivorsitzenden und Finanzminister Lafontaine in der ersten Legislatur getrennt; jetzt sollten aber Taten im Sinne des deutschen Großkapitals folgen.

Vor dem Hintergrund einer relativ sichtbaren Massenarbeitslosigkeit, offiziell über 4 Millionen, wurde der schwerste Angriff auf die Rechte und Ansprüche der deutschen ArbeiterInnenklasse in der Geschichte der BRD gestartet.

Im „Revolutionärer Marxismus“ 44 haben wir fast die gesamte Ausgabe dem 10jährigen „Jubiläum“ von Agenda 2010 und Hartz IV gewidmet, diesen RM legen wir auch allen LeserInnen ans Herz für dieses spezifische Thema.

Hier müssen wir zusammenfassen, inwieweit die Agenda 2010 für den deutschen Imperialismus ein wichtiges Instrument war, welche Auswirkungen bis heute das deutsche Kapital stärken und welche Schlussfolgerungen daraus für die ArbeiterInnenbewegung, ihre Organisationen und ihre Kampfmittel und Fähigkeiten zu ziehen sind.

Für das deutsche Kapital ist die Agenda 2010 der strategische Erfolg der letzten Periode. Neben massiven Kürzungen des Arbeitslosengeldes, der faktischen Abschaffung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bzw. deren Zusammenlegung als Arbeitslosengeld II wurde ein massiver sozialer Kahlschlag von der Schröder/Fischer-Regierung exekutiert. Die Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose wurden abgeschafft, seitdem werden Arbeitslose unabhängig von ihrer Qualifikation zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen.

„Fördern und Fordern“ hieß damals die Zauberformel, unter der SPD-Fraktionschef Müntefering diese Agenda der Partei und den WählerInnen vermittelte. Auch Formeln à la „sozial ist, was Arbeit schafft“ oder „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ begleiteten diesen Sozialangriff. Hier wurde der schwerste soziale Angriff in der Geschichte der BRD durchgeführt, den das deutsche Kapital der Vorgängerregierung unter Kohl nicht mehr zugetraut hatte.

Gleichzeitig wurde eine massive ideologische Offensive von Kapital und Staat gestartet, welche seitdem in vielen Bereichen anhält. Die Arbeitslosen und Hartz IV-EmpfängerInnen wurden einer neoliberalen Propaganda ausgesetzt, welche das Primat der Verwertbarkeit in Boulevard- oder „seriösen“ Medien auf die Titelseiten brachte. Speziell die Arbeitslosen werden seitdem einem generellen Missbrauchsverdacht ausgesetzt. Sind sie dann noch MigrantInnen oder Flüchtlinge, fallen soziale und rassistische Hetze in eins.

Dies hat die soziale und ideologische Spaltung der deutschen ArbeiterInnenklasse vertieft. Speziell zwischen den unteren Schichten der Klasse und den Arbeitslosen wie auch den MigrantInnen und Flüchtlingen ist ein Nährboden für ein rassistisches Bewusstsein entstanden.

Niedriglohnbereich wird installiert

Dieser Sozialangriff hatte zur Folge, dass ein Niedriglohnbereich in der BRD entstand, welcher heute fast ein Viertel (ca. 10 Millionen) aller Beschäftigten umfasst. Über den 1-EURO-Job per Hartz IV und die Zeit- und Leiharbeitssektoren, welche vom Staat zugelassen und gefördert wurden stieg dieser Niedriglohnbereich kontinuierlich an. Als Folge dessen gab es fast 10 Jahre lang keinen Reallohnzuwachs für die deutschen Beschäftigten, wie auch die Lohnnebenkosten fürs Kapital geringer ausfielen und ihre Beiträge zur Sozialversicherung (z.B. Krankenversicherung) festgeschrieben wurden. Das Gleiche gilt auch für die begonnene Privatisierung der staatlichen und betrieblichen Rente, welche vom ehemaligen Arbeitsminister Riester (SPD) speziell für die industriellen Kernbelegschaften vorgelegt wurde.

Die Losung „fit für die Globalisierung“ wurde vom deutschen Großkapital umgesetzt. Nach diesem Sozialangriff waren die Lohnstückkosten der deutschen Industrie wieder mit Abstand die niedrigsten im Vergleich zu den europäischen Konkurrenten (siehe Grafik „Lohnstückkosten“) und im Mittelfeld der OECD-Staaten angesiedelt. Hier wurde die Basis für die Beherrschung des EURO-Marktes, für einen stetig steigenden Handelsbilanzüberschuss (speziell gegenüber dem EURO-Raum) gelegt.

Grafik 6: Erwerbstätige Hartz-IV-BezieherInnen

Grafik 7: Lohnstückkosten im Vergleich

Der Einstieg in den (Massen-)Niedriglohnbereich wirkte auf das gesamte Lohnniveau des deutschen Arbeitsmarkts. Der 1-EURO-Job wurde im EURO-Raum zur niedrigsten Messlatte zur Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen, und die Möglichkeit zur kompletten Kürzung der Sozialleistungen war einmalig in der Geschichte der BRD nach dem 2. Weltkrieg.

So sehr dieser Sozialangriff den Interessen des deutschen Kapitals entsprach, seine globalen Ambitionen verstärkter wahrnehmen zu können, so sehr schwächte es auch die sozialdemokratischen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland. Die SPD als bürgerliche Arbeiterpartei, die v.a. über die DGB-Gewerkschaften in der Klasse verankert ist, setzte bürgerliche Politik nicht nur um, sondern „verübte“ den schwersten Angriff auf die sozialen Errungenschaften eben dieser Klasse. Ein Resultat davon war der Austritt von Teilen der DGB-Gewerkschaftsmitglieder und einfacher bis mittlerer FunktionärInnen aus der SPD, was zur Gründung der WASG und später infolge der Fusion mit der PDS zur Linkspartei führte.

In den 7 Jahren der Regierung Schröder/Fischer verlor die SPD fast die Hälfte ihrer Mitglieder (ca. 500.000) und ist seitdem nur noch als „Juniorpartner“ der CDU/CSU in „Großen Koalitionen“ vorstellbar.

Ihre Verankerung in der ArbeiterInnenklasse hat schwerere Schäden erlitten, der eigene Anspruch einer „linken Volkspartei“ ist kaum noch vermittelbar. Verankert ist die SPD heute über die DGB-Gewerkschaften, über jene Teile der Stammbelegschaften des deutschen Großkapitals, welche nicht direkt mittels Agenda 2010 und Hartz IV angegriffen wurden.

Die SPD als bürgerliche Arbeiterpartei, welche die Ideologie und Programmatik des Kapitals in der ArbeiterInnenklasse vertritt, hatte mit der Agenda 2010 ihren Dienst am „Standort Deutschland“ geleistet. Das Credo „fit machen für die Globalisierung“ zeigte genau ihre Funktion als bürgerliche ArbeiterInnenpartei auf. Die Ideologie des Sozialabbaus, die weitergehende Spaltung der Klasse wurde durch die SPD und die DGB-Gewerkschaften in die Klasse getragen. Damit wurden die wenigen Proteste und Solidaritätsaktionen innerhalb der Klasse untergraben, der Widerstand letztlich eingestellt, kam die bürgerliche Arbeiterpartei ihrer Hauptaufgabe im Sinne des deutschen Kapitals nach.

Standortvorteil DGB-Gewerkschaften

Ihre Rolle als „Co-Management“ haben die DGB-Gewerkschaften historisch bewiesen: als „verlängerter“ Arm der Interessen des Großkapitals hat die SPD-dominierte Gewerkschaftsbürokratie Ideologie und Praxis der Standortpartnerschaft und des Sozialchauvinismus ins Bewusstsein der Klasse eingehämmert. So geschehen auch bei der Verabschiedung der Agenda 2010 und bei den Folgen der Weltwirtschaftskrise 2007/08.

Die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze wurden unter Mitwirkung der DGB-Spitzen verabschiedet. Der damalige IGM-Chef Zwickel genehmigte als Aufsichtsratsmitglied bei VW das 5000 x 5000-Modell, welches mit dem damaligen VW-Personalchef Hartz ausgearbeitet wurde und einen Einbruch ins Tarifgefüge darstellte. Als Kanzler Schröder seine „Ruck“-Rede im Bundestag hielt und der schwerste Angriff auf die Sozialsysteme der BRD bevorstand, waren es v.a. die Gewerkschaftsspitzen, die die „Genossen“ Schröder, Clement und Müntefering – und damit diese Bundesregierung – gegen den Wählerwillen schützten.

Es waren „Montagsdemos“, welche zunächst im Osten Deutschlands bis zu Hunderttausende auf die Straßen brachten, es waren Gliederungen der Vertrauensleute der Betriebe und die mittleren Ebenen in den Gewerkschaften und viele politische Akteure, die im November 2003 100.000 Demonstrierende in Berlin gegen diesen Angriff mobilisierten. Als dann aber auch in zahlreichen westdeutschen Städten die Mobilisierung anwuchs, distanzierten sich die DGB-Gewerkschaften per Vorstandsbeschluss von diesem Widerstand gegen die Agenda 2010. Als Begründung durfte eine mögliche Beteiligung von Nazis an den Montagsdemos herhalten. Dies zeigt zwar auch, wie sich DGB-Gewerkschaften den antifaschistischen Kampf vorstellen, genügte aber als „Argument“ für den Rückzug. Danach durften gewerkschaftlich Aktive nur noch als Privatpersonen an den Montagsdemos teilnehmen und nicht in ihrer Organisationsfunktion.

Offiziell hatte der DGB dann im April 2004 eine Großdemo in Berlin mit etwa 250.000 TeilnehmerInnen zum Ausklingen der Proteste benutzt. Danach gab es nur noch Unterschriftensammlungen.

Der DGB-Vorstand unterstützte die SPD-Spitzen beim schwersten Sozialangriff der BRD-Geschichte und bewies erneut das unzertrennliche Band zwischen diesen beiden reformistischen Schwergewichten der deutschen ArbeiterInnenbewegung. Die Gewerkschaften betrieben dabei eine ganz konkrete Spaltung, indem sie die Beschäftigten gegen die Arbeitslosen in Stellung brachten und sich nicht mehr für die Arbeitslosen zuständig sahen. So konnte der damalige „Superminister“ Clement jede Hetze gegen die „Sozialschmarotzer“ ungestraft durchs Land tragen, wie auch später Kurt Beck Hartz IV-EmpfängerInnen Empfehlungen zur Körperhygiene geben konnte oder der „ewige Sozialleistungsempfänger“ Sarrazin mit einem eigentlich faschistoiden Verständnis von Sozialpolitik weiter munter in der SPD wirken durfte. Von den Gewerkschaften hatte die SPD nichts zu befürchten, auch sie hatten ebenso den Arbeitslosen jegliche Solidarität aufgekündigt.

Aber auch mit Streikbewegungen zu dieser Zeit wurde keine Solidarität gezeigt. So wurde auch der Streik in Ostdeutschland für die 35-Std.-Woche von den westdeutschen Gewerkschaftsapparaten und Betriebsratsfürsten verraten. Nachdem der Streik auch den westdeutschen Standorten gefährlich wurde, also der eigentliche Sinn und Zweck des Streiks die gesamte Industrie, speziell die Automobilbranche, traf, kündigte die IGM-Spitze in Gewerkschaft und Betrieb die Solidarität auf.

Alte Binsenwahrheiten – neu aufgetischt in der Krise

Solange es „meiner“ Firma gut geht, geht’s mir auch gut und Arbeitsplatzsicherheit ist das Wichtigste bei den Tarifverhandlungen – so und ähnlich haben die DGB-Gewerkschaften das Bewusstsein ihrer Mitglieder geformt und in den letzten 10 Jahren diese reformistischen Leitsätze immer wieder erneuert. Beim Standort Deutschland trieb die angebliche Angst vor Firmenverlagerung die Betriebsräte und Gewerkschaftsspitzen in die Umsetzung der Agenda 2010 und dies wurde auch den Beschäftigten so vermittelt – teilweise auch über Tarifverträge, die die Produktivitätssteigerung schon im Abschluss stehen hatten (VW), damit auf alle Fälle die Konkurrenzfähigkeit erhalten blieb.

Dem Diktat der Sozialpartnerschaft folgten dann die DGB-Spitzen auch bei Ausbruch der Wirtschaftskrise 2007/08. Hier gingen die IGM und ver.di voran, indem sie in den Tarifverhandlungen erst gar keine Lohnforderungen aufstellten, sondern allein die mögliche Arbeitsplatzsicherheit in den Fokus rückten. Hiermit wurde den deutschen gewerkschaftlich organisierten Kernbelegschaften jedes Kampfmittel gegen die kapitalistische Krise aus den Händen genommen. Statt gegen Krise und Entlassungen zu kämpfen, haben die DGB-Gewerkschaften sich freiwillig den Diktaten des Kapitals unterworfen.

Speziell der damalige IGM-Vorsitzende Huber fungierte als Co-Manager der ersten Reihe. Die so genannte „Abwrackprämie/Umweltprämie“, welche vom IGM-Vorstand mit erdacht wurde, sicherte zunächst der deutschen Autoindustrie einen höheren Absatz im Heimatmarkt. Im größeren Maßstab wurde dann die KurzarbeiterInnenregelung zwischen Staat, Kapital und Gewerkschaft verabschiedet, welche zeitweise bis zu 1,5 Mill. Beschäftigte einschloss und die vormaligen 12 Mrd. EURO an Reserven der Arbeitslosenversicherung dafür plünderte.

Die staatlichen Sozialsysteme wurden für das Versagen der „Märkte“ angezapft, ein in der Krise oftmals erlebtes Verfahren, in Deutschland aber mit direkter Unterstützung und Billigung der DGB-Gewerkschaften. Die in die Kurzarbeit entlassenen Beschäftigten waren oftmals Ältere, welche nach 2009 nicht in das alte Arbeitsverhältnis übernommen und stattdessen in Leiharbeit und/oder Frührente abgeschoben wurden.

Dies war, wie auch die Agenda 2010, eine einschneidende Veränderung am deutschen Arbeitsmarkt zu Lasten der Beschäftigten. In beiden Fällen haben die DGB-Spitzen keinen Widerstand dagegen organisiert, sondern im Gegenteil den Verrat als „Sozialpartner“ noch mitgestaltet. Diese Umstrukturierungen der Arbeitsbeziehungen – die Implementierung des Niedriglohnbereichs, das Opfern der Arbeitslosenkassen für die Kurzarbeit – sind wichtige Stützpfeiler der Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus des letzten Jahrzehntes gewesen.

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, als wäre dies ein entschiedener Schritt der DGB-Gewerkschaften nach „rechts“ gewesen, der sie endgültig und unwiderruflich in „gelbe“ Streikbrecherorganisationen, gehorsame Hofhunde der Unternehmerverbände verwandelt hätte. Er war, wie schon zuvor in der wechselvollen Geschichte der deutschen ArbeiterInnenbewegung, ein weiterer Ausdruck des Gehorsams, ein weiterer „Burgfrieden“ mit den Interessen des deutschen Imperialismus auf Grundlage reformistisch geführter Klassenorganisation der ArbeiterInnenschaft selbst.

Das Comeback der „NovemberverbrecherInnen“ ist immer möglich

Zweimal strebte der deutsche Imperialismus mit globalen Ambitionen in die Katastrophe. Die deutsche ArbeiterInnenklasse wurde in zwei Weltkriegen verheizt, von der reformistischen SPD für Imperialismus und Krieg mobilisiert, von der stalino-zentristischen KPD gegenüber Hitler politisch entwaffnet, in die kampflose Kapitulation geführt und schon gar nicht für den revolutionären Kampf gewappnet. Trotz alledem gelang es der deutschen ArbeiterInnenklasse im 1. Weltkrieg, mit Kapital und Kaiser zu brechen, deren Krieg zu beenden und das verrottete Regime zu stürzen. Es waren die Matrosen von Wilhelmshaven und Kiel und die deutschen MetallarbeiterInnen in Berlin, Sachsen und Bremen, welche den Befehl verweigerten, den Streik gegen Krieg, Rüstung und Hunger organisierten und somit den Weltkrieg beendeten.

Es war die relative Schwäche der revolutionären kommunistischen Bewegung, des Spartakusbundes, welche zur Niederlage gegenüber der Mehrheits-SPD führte. Diese stützte sich auf ein Bündnis mit der Bourgeoisie und in letzter Instanz den reaktionären Freikorps, die blutig die revolutionäre Bewegung zerschlugen. Die KPD verkörperte die organisatorische Fortsetzung der im Spartakusbund, in den Bremer und Braunschweiger Linksradikalen, der Berliner Lichtstrahlen-Gruppe u.ä. versammelten revolutionären Kräfte.

Die zweite Niederlage des deutschen Imperialismus im 2. Weltkrieg führte zur Bildung eines bürokratischen Arbeiterstaates auf dem Gebiet der DDR, welcher erstmals das Privateigentum an Produktionsmitteln und das kapitalistische Wertgesetz in Deutschland aufhob und somit einen qualitativen Bruch mit dem deutschen Imperialismus darstellte.

Dieser kurze Blick in die Geschichte zeigt, dass der Bruch mit dem Imperialismus und dessen Partei in der ArbeiterInnenklasse, der SPD, möglich war – auch in Deutschland – und dort die revolutionären Elemente der Klasse eine qualitative Entwicklung durchmachten und eine revolutionäre Partei und Programmatik entwickelten. Diese historischen Abschnitte sollen aber nicht nahelegen, dass wir etwa auf den nächsten Zusammenbruch zu warten hätten, um  revolutionäre Politik machen zu können.

Stattdessen müssen heute KommunistInnen, AntikapitalistInnen und alle, die subjektiv mit dem Kapitalismus brechen wollen, sich mit den Haupthindernissen innerhalb der Klasse und deren Bewegung auseinandersetzen, den programmatischen Kampf führen und den politischen Bruch herbeiführen. Dann können auch in „Friedenszeiten“ die NovemberverbrecherInnen dem deutschen Imperialismus den Kampf ansagen.

Kampf dem Reformismus!

Für jede revolutionäre Politik ist der politische Kampf gegen den Reformismus in Deutschland und dessen Organisationen die Grundvoraussetzung. Seit Januar 2005 gab es, nach Verabschiedung der Agenda 2010 durch die SPD/Grüne-Bundesregierung, die zweite Abspaltung in der langen Geschichte der SPD, die WASG – aus der nach deren Fusion mit der PDS 2007 schließlich die Linkspartei hervorging. Letztere hat gegen Agenda 2010 inklusiv Hartz IV, Auslandseinsätze der Bundeswehr und für die Besteuerung großer Vermögen Opposition von links in den Gewerkschaften organisiert, damit Teile ihrer Basis und der der SPD erreichen können und stellt heute einen weiteren reformistischen Faktor in der deutschen ArbeiterInnenbewegung dar.

Der politische Kampf gegen den Reformismus funktioniert nicht durch ablehnende Phrasen und/oder Verteufelung der DGB-Gewerkschaftspolitik. Dieses Kapitel der kommunistischen Bewegung hatte die KPD bis 1933 bis zum eigenen Ende und bis zum Ende einer organisierten Gegenwehr der deutschen ArbeiterInnenbe-wegung gegen den Faschismus exerziert.

Auch die Wende zur Arbeit innerhalb der DGB-Gewerkschaften bei einigen mao-stalinistischen „Parteien“ (Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, MLPD) führte nicht zur Schwächung der SPD-geführten Gewerkschaftsbürokratie, sondern vielmehr zum „geduldeten“ Unterordnen dieser „Parteien“ unter dem Dach der „Einheitsgewerkschaft“. So sind heute die DKP und MLPD sicherlich nach SPD und Linkspartei die am stärksten verankerten Organisationen der Klasse innerhalb der DGB-Gewerkschaften. Im Fall der MLPD kommt noch der „Unvereinbarkeits-beschluss“ der IGM dazu, was die GenossInnen an der Ausübung höherer Funktionen im Gewerkschaftsapparat hindert.

Während die MLPD, wie bei Opel Bochum, eher isolierte Aktionen und Kämpfe bestreitet, ist die DKP mit ihrer Gewerkschaftspolitik ebenfalls weit davon entfernt, die Gewerkschaftsführung herauszufordern. Beide beteiligen sich kaum an den kleinen oppositionellen Strömungen wie der IVG (Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken), betreiben keine oppositionelle Politik in den Gewerkschaften und akzeptieren dadurch de facto die politische Gemengelage in den DGB-Gewerkschaften.

Hier liegt aber einer der zentralen Punkte im deutschen Klassenkampf: wenn der Reformismus, die Standortpolitik, die Führung der bürgerlichen Arbeiterpartei SPD in den DGB-Gewerkschaften nicht bekämpft werden, dann gelingt auch kein qualitativer Bruch mit dieser vorherrschenden Ideologie in der deutschen ArbeiterInnenklasse.

Wie ein solcher Kampf vonstatten gehen könnte, zeigen die Tarifrunden der Jahre 2014/15. Eine klassenkämpferische Basisopposition hätte in den DGB-Gewerkschaften für die Solidarität mit dem GdL-Streik eintreten und dabei den Widerstand gegen das „Tarifeinheitsgesetz“ in den eigenen Reihen stärken können. So wäre auch der Charakter der SPD-Regierungsbeteiligung aufzeigbar gewesen. „Gegen die Einschränkung des Streikrechts!“ wäre eine wichtige Kampagne gegen die SPD-geführte Gewerkschaftsführung gewesen.

So blieben die Proteste und öffentlichen Aktionen meist auf die Kreise beschränkt, die schon 2011 gegen die Tarifeinheit aktiv waren. Ihr Höhepunkt war eine politisch und gewerkschaftlich vielfältige Demo Mitte Mai mit ca. 500 TeilnehmerInnen.

Dies wäre ein gewerkschaftspolitisch sehr wichtiges Thema für eine Basisopposition in den DGB-Gewerkschaften, genau wie diese sich auch z.B. für gemeinsame Tarifrunden der öffentlich Bediensteten einsetzen könnte (um die Trennung zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu überwinden) und in aktuellen Tarifrunden der führenden Bürokratie eine Alternative entgegenstellen würde. Dann wäre es möglich, die Ergebnisse der Tarifkommissionen und Vorstände nicht nur abzunicken, sondern entschlossenen Widerstand zu organisieren.

Diese Möglichkeiten können aber nur in die Tat umgesetzt werden, wenn gegenüber den DGB-Gewerkschaften eine Einheitsfronttaktik angewendet wird, welche nach außen die Kämpfe gegen Kapital und Staat voll unterstützt, sich dort auch gewerkschaftlich an vorderster Front einbringt, aber ebenso deutlich nach innen andere, weitergehende Kampfmaßnahmen trägt, die Basis eigenständig in Streikkomitees und Versammlungen organisiert und v.a. der SPD, aber auch der Linkspartei die Stirn bietet bei politischen Auseinandersetzungen.

Dann wäre es möglich, in den DGB-Gewerkschaften Diskussionen und Mobilisierungen anzuschieben, welche nicht automatisch von der Führung gedeckelt werden. Dann könnte zu den Refugees, der rassistischen EU-Grenzpolitik, zur EU-Krise und zu Griechenland mehr geschehen als wohlklingende Statements abzugeben, die dann meist zu keiner Aktion führen. Dies wären z.B. aktuelle Themen, an denen die bürgerliche Ideologie der Gewerkschaftsführungen bekämpft werden müsste und wo es real die Möglichkeit gäbe, mit der vorherrschenden Ideologie in den DGB-Gewerkschaften zu brechen.

Für eine revolutionäre Partei!

Eine revolutionäre kommunistische Partei wird nicht per Akklamation verabschiedet, sondern gründet sich auf programmatisch-methodische Klarheit in den aktuellen Klassenkämpfen, in denen dann neue Schichten des Proletariats für eine kommunistische Politik gewonnen werden können. Das Prinzip „Klarheit vor Einheit“ ist daher unerlässlich für eine revolutionär-kommunistische Politik und letztlich den Aufbau einer kommunistischen Partei in Deutschland. So einfach und banal es klingen mag, so schwer stellt es sich beim Zustand der radikalen, selbsternannten revolutionären Linken in der BRD dar.

Die größtmögliche Klarheit gibt es in der deutschen Linken, wenn Faschisten und Rassisten Demos organisieren. Da ist zumindest klar, dass es eine Demonstration gegen die „Nazis“ geben muss. Bei dem, was diese Demo aussagen soll, scheiden sich aber bereits die Geister der deutschen Linken und der ArbeiterInnenbewegung. Während die Reformisten, unterstützt von kleinbürgerlichen Akteuren wie den Grünen, Kirchen oder NGOs die Proteste gern im Gewand der Toleranz einlullen („bunt statt braun“ als Hauptparole), wollen die „radikalen AntifaschistInnen“ am liebsten gleich den Straßenkampf organisieren. Die Frage, wie die ArbeiterInnenbewegung sich gegen Faschismus und Rassismus bei zunehmender ökonomischer und sozialer Krise wappnen kann, bleibt dann oft auf der Strecke bzw. wird nur von wenigen AkteurInnen überhaupt erwähnt.

So stellt die heutige antifaschistische Praxis im Vergleich zum historischen Scheitern der deutschen ArbeiterInnenbewegung keinen qualitativen Fortschritt dar – sie bleibt weiterhin zwischen einer Hörigkeit gegenüber der bürgerlichen Demokratie auf der einen Seite und einer identitären, klandestinen „Radikalität“ auf der anderen Seite hängen. Zusammen können dann zwar größere Demos wie in Dresden in den Jahren 2009 – 2011 organisiert werden, aber keine in die ArbeiterInnenbewegung wirksam ausstrahlenden politischen Interventionen, die gegen Pegida und ähnliche rassistische Mobilisierungen vorgehen. Stattdessen überfallen die Faschisten 1. Mai-Kundgebungen wie dieses Jahr in Weimar, schaffen „national befreite Zonen“ und mobilisieren gegen Flüchtlingsunterkünfte. Während manche „antifaschistische“ Kreise dann wie in Tröglitz mit dem Leittransparent „Scheiß Drecksnest“ sicherlich nichts außer der eigenen Beweihräucherung zum antifaschistischen Kampf beitragen, sammeln sich die anderen Verdächtigen unter dem Schutzmantel von Staat und Demokratie.

Diese hier angerissenen Verhältnisse der „radikalen“ Linken wie der ArbeiterInnenbewegung lassen sich auf weitere Themenfelder beziehen. Methodisch kann weiterhin der Reformismus in verschiedenen Facetten die Aktivität und Ausrichtung bestimmen, während ein „integrierter“ Teil des radikaleren Spektrums nicht daran denkt, die reformistische Führung herauszufordern, sondern stattdessen einfach szenemäßig „revolutionär rüberkommen“ will. Dies ist dann aber nur eine Frage der Oberfläche, nicht des strategisch-taktischen Inhalts. Ein „Musterexemplar“ dieser postmodernen Rechtsentwicklung verkörpert die Interventionistische Linke (IL), ein „Netzwerk“ verschiedener, aus dem Autonomen-Milieu stammender linker Organisationen.

Am meisten wird dies sichtbar in der grassierenden Programmfeindlichkeit vieler Organisationen und Strömungen der Linken. Hier schlagen postmoderne, kleinbürgerlich-akademische Orientierungen voll durch, welchen allen gemein ist, sich von den „Traditionen“ und/oder Erkenntnissen der ArbeiterInnenbewegung fernzuhalten und dies als Fortschritt ihrer Klientel zu verkaufen.

Die Krankheiten sind Ergebnis einer kaum vorhandenen revolutionären kommunistischen Tradition in der BRD, einer kompletten Desorientierung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1990 und einer „Globalisierungsideologie“ vom vermeintlichen „Ende der Geschichte“ innerhalb des linken kleinbürgerlichen Lagers. Begriffe wie „Imperialismus“, „Proletariat“ und „Partei“ gehören für diese Strömungen in die Mottenkiste der Geschichte, um im Gegenzug „Dekonstruktion“, „zivilgesellschaftliche Gegenhegemonie“ und „herrschaftsfreien Diskurs“ als „neue“ Symbole hervorzukramen.

Was dabei rauskommt, ist die Aufgabe jeglicher revolutionären Grundvoraussetzung für eine antikapitalistische kommunistische Politik und Organisation. Hier werden der Klassenstandpunkt, die Klassenanalyse und die Schlussfolgerungen für Programmatik und Organisationsaufbau fallen gelassen.

Aufgabe heutiger RevolutionärInnen muss es sein, die Klassenlinie und -politik dort zu vertreten, wo die Klasse durch reformistische und kleinbürgerliche Politik in die Irre geführt und an die Interessen des deutschen Kapitals gekettet wird. Eine Unterordnung unter diese Politik, ebenso wie ein passives Fernbleiben von der Auseinandersetzung mit dem Reformismus, wird kein revolutionäres Bewusstsein erzeugen, geschweige denn in der Praxis eine Alternative aufzeigen können.

Um Praxis und Programmatik geht es aber, wenn Kommunismus in Deutschland nicht ein historischer Begriff werden soll oder sich darauf beschränkt, die stalinistischen Staaten zu verteidigen, sondern aktiv in der Klasse wirkt, revolutionäres Bewusstsein erzeugt und einen Bruch mit den vorherrschenden Ideologien innerhalb der ArbeiterInnenbewegung herbeiführt.

Die Gruppe Arbeitermacht, gemeinsam mit unseren GenossInnen in der Liga für die 5. Internationale (LFI) tritt heute für die Verteidigung und Weiterentwicklung des revolutionären Marxismus und Kommunismus ein, wie dieser für uns mit Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg und Liebknecht repräsentiert wurde und der ArbeiterInnenbewegung weltweit ein reiches theoretisches und praktisches Erbe hinterlassen hat. Wir rufen alle sozialistischen, kommunistischen und antikapitalistischen Organisationen in Deutschland und weltweit auf, mit uns in Kontakt zu treten, gemeinsam Programmatik und Praxis zu entwickeln und eine neue revolutionäre kommunistische Partei und Internationale aufzubauen!

Dann wird es auch möglich sein, dem deutschen Imperialismus in den Rücken zu fallen, seinen dritten versuchten Aufstieg zu stoppen und Europa zu einem Europa der ArbeiterInnenklasse zu machen, den Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa!

Endnoten

(1) Martin Suchanek, Deutscher Imperialismus heute, in: Revolutionärer Marxismus 33, Berlin 2003, S. 57 – 88 und Martin Suchanek, Der aufhaltsame Aufstieg des deutschen Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 37, Berlin 2007, S. 55 – 71

(2) Revolutionärer Marxismus 39, Finanzmarktkrise und fallende Profitraten. Beiträge zur marxistischen Krisen- und Imperialismustheorie, Berlin 2008

(3) Neues Deutschland, 27.7. und 9.8.15

(4) Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, LW 22, Berlin-Ost, 1960, Kapitel 7, S. 270 – 271

(5) Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Fortune_Global_500#2014

(6) http://arxiv.org/PS_cache/arxiv/pdf/1107/1107.5728v1.pdf

(7) de.statista; mögliche Geschäfte dieser „Schattenbanken“ können dort nicht nachvollzogen werden

(8) Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen, Frankfurt/Main, 2014, Seite 79 ff.

(9) Zahlen und Fakten aus: Wirtschaftsbilanz 2014/15. Zahlen – Kommentare – Cartoons, isw-Wirtschaftsinfo 49, München, 9.3.15, S. 30

(10) http://tool.handelsblatt.com/tabelle/index.php?id=99&so=1a&pc=50&po=0

(11) www.destatis.de

(12) ISW Heft 49, Seite 17

(13) Hans-Böckler-Stiftung, Magazin Mitbestimmung, Ausgabe 06/2015, Düsseldorf, Juni 2015

(14) Tobi Hansen, Das „Prekariat“ – Klassenlage und Klassenkampf, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin, November 2012




PODEMOS – populistische Falle oder Alternative für die ArbeiterInnenklasse?

Christian Gebhardt, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Innerhalb Europas stellt PODEMOS neben SYRIZA wohl als eines der Projekte dar, die mit der größten Ausstrahlungskraft in die europäische Linke aufwarten können. Mit diesem Artikel wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die Entwicklung von PODEMOS zu analysieren sowie Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: Welchen Charakter besitzt PODEMOS? Was ist die Bedeutung des Projektes mit Hinblick auf die Frage, wie die ArbeiterInnenklasse ihre Führungskrise überwinden kann? Darüber hinaus wollen wir uns der Frage widmen, welche praktischen Erfahrungen PODEMOS in seiner jungen Geschichte gemacht hat und welche Schlussfolgerungen für die radikale Linke innerhalb und außerhalb von PODEMOS gezogen werden können.

PODEMOS, der Ausdruck einer sogenannten „neuen Politik“ in Spanien, ist ein noch recht junges politisches Projekt innerhalb der spanischen Politiklandschaft. Kurz vor den Europawahlen 2014 gegründet, entwickelte sich schnell eine große Dynamik um das Projekt. Diese gipfelte in der „Assamblea ciudadana“ – ein einmonatiger Konstituierungsprozess der Partei, um über politische sowie statutarische Fragen als auch über KandidatInnen für die kommenden nationalen wie auch lokalen Wahlen im Jahre 2015 zu entscheiden. Vor einem Publikum von 8.000 TeilnehmerInnen im Palácio de Vistalegre sprach der prominenteste PODEMOS-Führer Pablo Iglesias:

„Wir sind längst nicht mehr nur eine Bürgerbewegung, wir sind eine politische Kraft. Wir werden uns nicht damit zufriedengeben, wie weit wir schon gekommen sind – Zweiter bei den landesweiten Wahlen – denn wir sind gekommen, um zu gewinnen und sie haben Angst vor uns.“

Er stellte sein „Ethisches Dokument“ auf der „Assamblea Cuidadana“ vor, in welchem PODEMOS als „ein Werkzeug der BürgerInnen zur Beendigung der Korruption“ dargestellt wurde. Für ihn wurde PODEMOS deshalb gegründet, da „jemand die ‚Opfer‘ der Krise repräsentieren muss. Was wir sagten, ermöglichte diesen Opfern – die untergebenen Schichten, vor allem der verarmenden Mittelschicht – sich als solches zu identifizieren und sich durch die Formierung eines neuen ‚Uns‘ ein Bild von ‚Ihnen‘, ihren KontrahentInnen zu machen: den alten Eliten. “ (1)

Aufstieg von PODEMOS

Bei den Wahlen am 25. Mai zum europäischen Parlament erreichte PODEMOS 7,9% und somit 1,25 Millionen Stimmen sowie 5 Abgeordnete. Die zwei größten spanischen Parteien, die Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und die Partido Popular (PP), erhielten zusammengenommen weniger als 50% der Stimmen, welches einen starken Verlust im Vergleich zu 2009 darstellte. Damals erhielten beide Parteien noch zusammen 81%. Das verdeutlicht die Tragweite der Desillusionierung mit der „alten Politik“, welche das Land seit der Wiedereinführung der Demokratie nach der Franco-Ära 1978 dominierte.

Mit Blick auf unterschiedliche Umfragewerte befand sich PODEMOS einige Zeit auf einem Umfragehoch und bekam bis zu 27% der Stimmen, gefolgt von der PSOE mit 25%, während die derzeitige Regierungspartei PP auf gerade mal 20% absank. Dieses Wachstum von PODEMOS war ein – wenn auch der am wenigsten erwartete – Ausdruck einer Linksentwicklung innerhalb der politischen Landschaft Spaniens. Ein weiteres Anzeichen hierfür fand sich in der Zunahme an WählerInnenstimmen für die Izquierda Unida (IU). Deren Liste, in welcher u.a. die spanischen Grünen sowie die kommunistische Partei Spaniens vertreten sind, erhielt bei den Europawahlen 10,03%, 1.575.208 Stimmen und gewann 6 Sitze. 2009 bekam die IU noch 588.248 Stimmen, 3,7% und 2 Sitze.

Die objektive Basis für diese Entwicklung stellt die anhaltende wirtschaftliche Krise Spaniens sowie die politische Untätigkeit vieler Parteien und Organisationen dar, etwas gegen die Krisenauswirkungen zu unternehmen. Die Arbeitslosenquote befindet sich seit 2012 bei 25% und steht bei Jugendlichen unter 25 Jahren bei über 53%. Hierbei ist kein Licht am Ende des Tunnels zu erkennen. Dazu kommt, dass eine große Anzahl an SpanierInnen ihre Häuser in der Hypothekenkrise verloren haben und junge Menschen in Massen das Land verließen, um Arbeit zu suchen. Die Sparmaßnahmen, die unter dem Druck der Europäischen Union von PSOE- wie auch PP-Regierungen durchgepeitscht wurden, haben Millionen von SpanierInnen in Langzeitarbeitslosigkeit und Armut geworfen.

Hierbei darf auch nicht der Betrug der PSOE an ihren WählerInnen vergessen werden. Im August 2011 vereinbarte die Partei hinter dem Rücken ihrer Basis mit der PP von Mariano Rajoy – damals in der Opposition – eine Änderung der spanischen Verfassung, um auf Druck der europäischen Union Haushaltsdefizite zu verbieten. Hiermit wurde über Nacht jeder zukünftigen Regierung die Möglichkeit genommen, antizyklische Konjunkturprogramme zu verabschieden, um so zumindest kurzweilig Krisenauswirkungen abzufangen.

Die anhaltende wirtschaftliche Krise führte jedoch auch zu Wellen politischer Kämpfe gegen das vor allem von Jugendlichen als korrupt angesehene politische Establishment der beiden „Volksparteien“. Dies wiederum mündete in eine von Vielen so genannte „Krise der Demokratie“. Eine Erkenntnis durch die Massen, dass die vorhandene Form der Demokratie in Spanien wie auch in anderen Teilen Europas nur Parteien hervorbringt, welche in Zeiten enormer wirtschaftlicher und sozialer Krisen keinerlei reale Alternativen, keine Wahlmöglichkeiten anbieten können. Dies zeigte sich zum Beispiel durch den „sozialistischen“ Präsidenten François Hollande in Frankreich, drückt seine Regierung, einmal gewählt, doch die gleichen Sparprogramme wie ihre konservativen Vorgängerinnen durch. Im Endeffekt zeigt das parlamentarische System in solchen Situationen den WählerInnen: „Wähle, wen du willst, es gibt keine Alternative“.

Die ersten Anzeichen einer klaren Ablehnung dieses Systems traten vor drei Jahren auf. Unter dem Slogan ¡Democracia Real YA! (Echte Demokratie, JETZT!) fanden massive Platzbesetzungen durch junge Menschen in ganz Spanien statt. Die bekanntesten waren die Besetzungen in Madrid auf dem Puerta del Sol und in Barcelona auf dem Plaça de Catalunya.

Diese Massenbewegung wurde unter dem Namen Indignados (die Empörten) oder 15-M Bewegung (die Proteste begannen am 15. Mai) bekannt (2). Spezifische Bewegungen gegen unterschiedliche Aspekte der großen Rezession traten aus dieser Bewegung hervor. Wie zum Beispiel die Plattform für die von Hypotheken Betroffenen (PAH), die Bewegungen für das Recht auf Wohnen oder die sogenannten Mareas, Proteste gegen soziale Kürzungen und Privatisierungen.

Obwohl es in den darauffolgenden Jahren zu vielen Demonstrationen und Aufmärschen (zum Beispiel der „Marsch für Würde“ Anfang diesen Jahres) kam sowie zu Besetzungsversuchen, scheiterte die soziale Bewegung daran, die etablierten Parteien von ihren Kürzungs- und Sparvorhaben abzubringen. Die Massenversammlungen, die jegliche Organisationsstrukturen unter dem Vorbehalt gegen Führungen ablehnten, vermochten es nicht, die politischen Kräfteverhältnisse entscheidend zu verändern. Auch die weit verbreitete Ablehnung politischer Organisierung im Allgemeinen einschließlich der etablierten reformistischen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung führte schließlich zu einem Absterben der 15M-Bewegung.

Jedoch lernten Teile der Bewegung, dass Proteste alleine nichts ändern würden, genauso wenig wie die anhaltenden Versammlungen, in welchen AnarchistInnen sowie Libertäre eine Vorform einer neuen Gesellschaft vorhersahen. Diese Sackgasse war nicht einzigartig für Spanien. Die gesamte Occupy-Bewegung scheiterte daran, die Regierungen zum Nachgeben zu bewegen oder gar irgendeine anhaltende Form für die von vielen TeilnehmerInnen diskutierte „neue Form der Demokratie“ zu schaffen.

Diese Sackgasse entstand unter anderem daher, dass es der Großteil der TeilnehmerInnen oder ihre angeblich „nicht-existierenden“ FührerInnen nicht versuchten oder nicht wollten, die Masse an gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen einzubinden. Deren direkte Streikaktionen hätten die PolitikerInnen zu Zugeständnissen zwingen können. Die Demonstrationen der BergarbeiterInnen und anderer Sektoren boten hierfür Möglichkeiten. Auf der anderen Seite verhinderten die FührerInnen der größten gewerkschaftlichen Dachverbände, wie auch in anderen Ländern, einen politischen Generalstreik, welcher die Sparregierungen zu Fall hätte bringen können.

Somit war zumindest in Spanien im Frühjahr 2014 die Lage reif für einen Schwenk hin zu einer Politik, die in festere organisatorische Strukturen als zuvor eingebettet war. Diese Politik musste jedoch eine „neue“ Politik darstellen. Eine Politik ohne „Experten“ – ohne PolitikerInnen. Jedoch eine Politik mit einem „unerlässlichen Bestandteil […] einer Führungsperson mit einem hohen Bekanntheitsgrad in Spanien“ (3).

Ideologische Wurzeln der „neuen Politik“

Die Gruppe, welche das öffentliche Gesicht von PODEMOS wurde, besteht fast ausschließlich aus Mitgliedern der Fakultät für Politikwissenschaften und Soziologie an der Complutense Universität in Madrid. Pablo Iglesias, Juan Carlos Monedero und Íñigo Errejon hatten sich Prominenz durch ein lokales TV-Programm – „La Tuerka“ – verschafft, welches landesweite Verbreitung dank sozialer Medien und Internet fand. Vor allem der junge Akademiker Pablo Iglesias startete einen gut ankommenden Angriff gegen die PSOE und PP, indem er sie für ihre Korruption, ihre Forcierung sozialer Ungleichheiten, ihre Vertuschungen von Betrug im Bankenwesen, ihre Rettungsaktionen für die Banken sowie ihre Unterstützung für das Sparprogramm des IWF bzw. der EZB an den Pranger stellte, welches mit verheerenden sozialen Auswirkungen verknüpft ist. Er sollte auch die oben angesprochene „Führungsperson mit einem hohen Bekanntheitsgrad in Spanien“ darstellen.

Iglesias vertraute mit Absicht auf – seiner Meinung nach – allgemeingültige Argumente und die Alltagssprache und schwor den rechten wie auch linken Traditionen und Begrifflichkeiten ab. Hierzu schrieb er in einem kürzlich veröffentlichten Artikel in New Left Review:

„Die Zusammensetzung der politischen Landschaft in eine Links-Rechts-Trennung führte zu einer Situation, die einen Wechsel hin zu einer progressiven Richtung in Spanien nicht länger möglich machte. Auf diesem symbolträchtigen Terrain von Links und Rechts haben diejenigen von uns, welche eine post-neoliberale Transformation durch den Staat anstreben – Verteidigung der Menschenrechte, der Souveränität und die Verbindung zwischen Demokratie und Umverteilungspolitik – nicht den Hauch einer Chance auf Wahlgewinne.“ (4)

Neben der Tatsache, dass in dieser Aussage viele schwammige Ziele formuliert werden (Menschenrechte, Demokratie, Umverteilungspolitik), wird hier deutlich, dass Pablo Iglesias eine klare Strategie verfolgt, über Mehrheiten im Parlament Reformen zu „erkämpfen“. Hierzu muss seiner Auffassung nach jedoch die „Links-Rechts-Achse“ aufgebrochen werden, um die Mehrheit der Bevölkerung erreichen zu können und diese nicht zu verschrecken. Dies sei notwendig, um einen durch die Krise aufgebrochenen Diskurs in der Gesellschaft zu führen und um keine Menschen zu verprellen, die durch radikalere Rhetorik nicht erreichbar wären. Diese abgeschwächte Rhetorik und diesen Populismus rechtfertigt Iglesias im selbigen Artikel später wie folgt:

„Wenn wir darauf bestehen, z.B. über Räumungen, Korruption und Ungleichheit zu sprechen, und uns dagegen wehren, in allgemeine Diskussionen über die Form des Staates (Monarchie oder Republik) […] gedrängt zu werden, heißt das nicht, dass wir keine Meinung zu diesen Themen haben oder unsere Positionen abschwächen. Wir nehmen vielmehr an, dass ohne die Maschinerie der institutionellen Macht es wenig Sinn macht, sich zu diesem Zeitpunkt auf Bereiche der Auseinandersetzung zu fokussieren, welche uns von der Mehrheit, ‚die nicht links ist, distanzieren würden. Und ohne die Mehrheit zu sein, ist es nicht möglich, den Zugang zur administrativen Maschinerie zu erlangen, welche uns die Möglichkeit geben würde, diese diskursiven Auseinandersetzungen unter anderen Voraussetzungen zu führen, während in der Zwischenzeit mit öffentlicher Politik interveniert wird.“ (5)

Dass der Aufbau von PODEMOS und das Erreichen der Ziele nur mit einer unerlässlichen Führungsfigur mit nationaler Popularität gelingen könnte, verdeutlicht neben dem Reformprogramm auch noch den populistischen Ansatz von Iglesias. Schnell erhielt er eine große Anzahl an GesinnungsgenossInnen. Einige der ComplutenseakadermikerInnen haben einen linken Hintergrund. Iglesias selbst trat mit 14 den JungkommunistInnen bei, Monedero war Berater für Izquierda Unida. Viele von ihnen haben einige Zeit in Lateinamerika verbracht, wo sie nicht nur die bolivarische Bewegung rund um Persönlichkeiten wie Hugo Chávez wissenschaftlich untersuchten, sondern auch aktiv an ihr teilnahmen. Hierbei lernten sie die praktische Kraft einer klassenübergreifenden Mobilisierung „der Bevölkerung“ gegen „die Oligarchie“ kennen.

Ein einfacher, an der Oberfläche der Gesellschaft verbleibender Antagonismus, welchen die spanischen AkademikerInnen nun in ihrem Slogan „EinwohnerInnen gegen die Kaste“ reproduzieren. Sie „lernten“ zusätzlich aber auch, dass ein traditioneller Bestandteil der spanischen Libertären, welcher stark in der 15M-Bewegung vertreten war, wegen ihrer Feindseligkeit gegenüber FührerInnen über Bord geworfen werden müsse. Íñigo Errejon drückte sich dazu wie folgt aus:

„Wir forderten ebenfalls das FührerInnentabu heraus. Gemäß einigen liberalen Ideen, welche ebenfalls in der Linken verankert sind, ist einE charismatischeR FührerIn unvereinbar mit wirklicher Demokratie. Für PODEMOS war der Nutzen einer medialen Führung durch Pablo Iglesias eine Bedingung sine qua non der Kristallisation politischer Hoffnung, welche die Zusammenführung vereinzelter Kräfte in einem Kontext der Ablehnung der bürgerlichen Kräfte erlaubte.“

Klar wird hierbei, was diese linken AkademikerInnen in Lateinamerika gelernt hatten – die notwendige Ergänzung zum Populismus, der Caudillismo, welcher den Fokus auf eineN charismatischE FührerIn legt und dieseN direkt mit den Massen interagieren und für sie sprechen lässt. Populismus setzt auf Massenmobilisierungen in überwältigenden Ausmaßen, jedoch nicht unter allen Umständen durch Parteistrukturen und eine Pyramide an RepräsentantInnen, sondern direkt durch eineN, oder möglicherweise mehrere, anerkannteN FührerInnen. Die FührerInnen werden durch ihre „Popularität“ legitimiert, ausgedrückt in Massenversammlungen, Kundgebungen und medialer Präsenz.

Hugo Chávez verband dies mit seiner Macht durch wiederholte Wahlen und Referenden, seine riesigen Massenversammlungen und den bolivarischen Zirkel. PODEMOS nutzte die sozialen Medien sowie das Internet geschickt, um dies zu erreichen. Somit können die Schlüsselfiguren in PODEMOS eine Art dauerhafte Volksbefragung durchführen.

Der klassische Chávismus und PODEMOS zeichnen sich durch die Zerstreutheit der AnhängerInnen als Individuen bzw. in kleinen Gruppen aus. Demgegenüber besitzen die FührerInnen Privilegien, wie z.B. öffentlich die Politik zu vertreten, zu entwickeln, zu initiieren sowie auswählen zu können, welche von der Basis ausgehenden Ideen hervorgehoben werden sollen und welche nicht. Andere politische Gruppierungen oder Tendenzen innerhalb der Bewegung sind dadurch sehr angreifbar gegen Spaltungsvorwürfe oder gegen Vorwürfe, sie würden die Mitglieder nicht repräsentieren, sondern nur ihre eigenen kleinen Gruppen. Dies stellt die Demagogie dar, welche unzertrennlich mit dem Populismus einhergeht, das Spielen mit der Ignoranz sowie das Hofieren der Vorurteile der atomisierten Masse.

In Europa stellte der offene Populismus generell eine Domäne der Rechten dar. Teilweise war und ist dies der ArbeiterInnenklasse geschuldet. Die ArbeiterInnenbe-wegung schuf Massenparteien und zwang die Bourgeoisie dazu, das allgemeine Wahlrecht anzuerkennen. Die Klasse stützte Bewegungen – ob Gewerkschafts- oder Parteibewegungen – auf Zellen und Ortsgruppen, welche über Delegiertenkonferen-zen ihre Politik bestimmten und sich selbst Führungen wählten.

Natürlich sind solche Strukturen in Form sozialdemokratischer oder stalinistischer Massenparteien verbürokratisiert. Selbst formal demokratische Strukturen konnten die tradionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegungen nicht davor bewahren, nachdem sie sich auf eine passive Mitgliedschaft und einen bürokratischen Apparat sowie enge Beziehungen zum bürgerlichen Staat stützten. Hinzu kommt, dass sie eine soziale Basis unter den „besser gestellten“, arbeiteraristokratischen Schichten der Klasse haben – was auch erklärt, warum sie vornehmlich ein politisches Phänomen der imperialistischen Länder oder wirtschaftlich stärkerer Halb-Kolonien sind.

Diese Parteien sehen die Existenz des Kapitalismus und kapitalistischen Wohlstand – oder zumindest Stabilität – als eine Grundvoraussetzung für jegliche Reformen an. Konsequenterweise akzeptierten sie damit die Notwendigkeit, in Perioden der Krise oder der verschärften Konkurrenz Sparmaßnahmen durchzuführen, auch wenn diese den Interessen ihrer eigenen UnterstützerInnen zuwiderliefen. Als sich diese UnterstützerInnen gegen diese Parteien wandten, begannen viele nicht nur diese Politik, sondern auch die historische Tradition der ArbeiterInnenbewegung, die sie in verkrusteter Form auch verkörpern, abzulehnen. So erschien die plebiszitäre Form der Demokratie, wie in PODEMOS verkörpert, „partizipativer“ zu sein als die verkrustete Form innerparteilicher Regularien, wie sie in den Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung üblich war. In Wirklichkeit stellt diese Entwicklung einen Schritt zu noch größerer Unabhängigkeit der FührerInnen oder des/der FührerIn von der Basis dar und nicht zu mehr Kontrolle. Diese Entwicklung ist keineswegs auf PODEMOS beschränkt, sondern lässt sich seit Jahren auch bei den „traditionellen“ sozialdemokratischen Parteien beobachten, wenn z.B. mehr und mehr Formen des Wahlkampfes und der KandidatInnenwahl von offen bürgerlichen Parteien übernommen werden (oft am Modell der US-Demokraten orientiert).

Auch wenn viele der PODEMOS-Führungspersonen aus einem IU-Hintergrund kommen, konnten Iglesias und das Team hinter PODEMOS daraus Nutzen ziehen, einen sozialistischen Sprachgebrauch komplett zu vermeiden. Im Gegensatz zu einem Klassenbezug sowie der Anerkennung der ArbeiterInnen als das prinzipielle Subjekt für einen Wandel sprechen sie von „der Bevölkerung“ und „den EinwohnerInnen“. Sie sind alle gleich vage in der Frage, wer genau die GegnerInnen sind, gegen wen die Personen vorgehen müssen.

Indem sie den 15M-Slogan „Sie repräsentieren uns nicht!“ aufnahmen, welcher gegen „die Kaste“ professioneller PolitikerInnen gerichtet war, versuchten sie, Methoden zu entwickeln, die diejenigen der offiziellen Politik – Links wie Rechts – überschreiten. Sie glauben, dass dies ein schnellerer und einfacherer Weg zur Erlangung der parlamentarischen Mehrheit darstellt. Deshalb drückte sich Iglesias im Palácio de Vistalegre wie folgt aus: „Wir werden ihnen sagen, dass wir das Zentrum besetzen wollen; wo eine politische Mehrheit existiert, die an Anstandsgefühl glaubt“.

In Realität ist dies nicht etwa eine ausgeklügelte „konter-hegemoniale“ Strategie. In der Tat ist es nicht einmal neu. Bewusst oder unbewusst stellt es eine Kapitulation gegenüber dem Zentrum, der „Mittelklasse“ und den Mittelschichten dar. Der Glaube daran, dass „ehrliche Menschen“, welche gewöhnlich rechts wählen, durch das Vermeiden alter Terminologie von Rechts und Links, von ArbeiterInnen- und Kapitalistenklasse gewonnen werden können, ist entweder ein Fallstrick oder eine Täuschung. Es wird zu einem Fallstrick, wenn PODEMOS dahingehend sein Programm limitiert, was akzeptabel für diese WählerInnen ist. Es stellt eine Täuschung dar, wenn Iglesias & Co. denken, dass auf solch einer Basis für PODEMOS gewonnene Personen einer eventuellen PODEMOS-Regierung treu bleiben, wenn die Gangarten härter werden und die KapitalistInnen beginnen, all ihre wirtschaftliche Kraft gegen PODEMOS zu richten. In diesen Fallstrick scheint PODEMOS nach seinem Hoch in der Gunst der WählerInnenstimmen nun auch zu fallen. Durch das Aufkommen einer rechts-populistischen Konkurrenz mit dem Namen „Ciudadanos“ vor einigen Monaten fällt es PODEMOS schwer, seine Umfragewerte zu halten. Dies wurde z.B. bei den letzten Regionalwahlen in Andalusien deutlich, bei denen PODEMOS die oben genannten Umfragewerte nicht erreichen konnte.

Darüber hinaus deuten weitere Entwicklungen in Richtung Fallstrick. Während Iglesias bis zur offiziellen Gründung von PODEMOS immer von der Streichung der Schulden gesprochen hatte, nahm die „Assamblea Ciudadana“ einen Antrag an, welcher nur eine „ordentliche Restrukturierung“ der Staatsschulden vorsieht. Bibiana Medialdea, Wirtschaftsprofessorin und die Person, welche damit beauftragt war, die Vorschläge zum Thema „Finanzen“ vorzustellen, erklärte die Position wie folgt: „Die objektive Lage ist nicht, die Schulden nicht zu bezahlen, sondern mit einem nachhaltigen Ansatz zu einem Niveau der Staatsverschuldung zu gelangen, welches die Wiedererlangung des Bevölkerungswohlstandes erlauben würde.“

Die Grundeinheiten von PODEMOS

Angelehnt an die Rolle, welche Chávez‘ bolivarische Zirkel gespielt haben, baute die neue Bewegung ein Netzwerk von PODEMOS-Zirkeln in Städten und Institutionen sowie in unterschiedlichen Bereichen und sozialen Problemfeldern auf. So wurden Zirkel von Arbeitslosen, Behinderten, LGBT, FeministInnen, RenterInnen oder für Gesundheit, Journalismus, öffentlichen Verkehr, Ökologie, usw. gebildet.

„Sie sind Orte, um Ängste, Zersplitterung und Resignation zu beenden, Einigkeit der Bevölkerung zu schaffen gegen die Verelendung und die Beschlagnahmung der Demokratie. Durch die Zirkel verteidigen wir Angelegenheiten des normalen Menschenverstandes: Wir sind EinwohnerInnen und wir haben das Recht auf Rechte: darauf, ohne Ängste zu leben, auf Gesundheitsversorgung, Bildung, Rente sowie soziale Absicherung, auf Land und Boden, auf Beschäftigung, Kultur, darauf uns als Individuen und Personen entwickeln zu können, darauf, dass niemand uns belügt oder uns falsch behandelt, darauf, dass niemand uns mit Schulden überschüttet, dass uns niemand beraubt.“

Cristina Flesher Fominaya, Autorin des Buches „Soziale Bewegungen und Globalisierung“ (Mai 2014) beschreibt die Methoden von PODEMOS daher folgendermaßen: „Diese Kommunikation hat es ermöglicht, die grundsätzliche Achse der klassischen Repräsentation zu überwinden: die Parteiformen, die Kultur von Militanz, die Links/Rechts-Achse, das undurchschaubare Konzept des Verhältnisses zwischen RepräsentantInnen und den Repräsentierten sowie die Idee einer politischen Identität eines mehr oder weniger existierenden Subjekts. PODEMOS hat es geschafft, sich über diese Achsen hinwegzusetzen und dabei die Basis gelegt für eine dreiteilige Beziehung zwischen bürgerlicher Mitbestimmung, sozialen Kämpfen sowie dem Ausdruck von Forderungen in Institutionen, welche über die repräsentative Demokratie hinausgehen und eine grundsätzliche Transformation von Politik, Wirtschaft und sozialem Leben ermöglichen.“ (6)

Aus dem Blickwinkel von Iglesias und seiner Formation „Claro Que Podemos“ innerhalb der Führung von PODEMOS hat sich diese Form der Organisierung längst ausgezahlt. Bei den Online-Abstimmungen zu der Frage, welche Organisationsstrukturen sich PODEMOS geben sollte, gewann der Vorschlag von „Claro Que podemos“ eine überwältigende Mehrheit von 80,7% der Stimmen. Der Antrag sah eineN einzelneN GeneralsekretärIn als ParteiführerIn vor. Die einflussreichste Gegenposition – von der Gruppierung „Sumando podemos“ initiiert – schlug ein dreiköpfiges Sekretariat vor. Einer der führenden Köpfe von „Sumando podemos“, Jesús Rodríguez, definierte ihr Vorhaben damit: „Wir haben die Unterstützung vieler Menschen, welche die Pluralität des Projektes aufrechterhalten wollen. Und darunter befinden sich viele Personen, welche eine Führung mit Unterschieden und Pluralität wollen.“

Iglesias machte mit dieser Vorstellung kurzen Prozess, indem er erklärte, dass „der Himmel nicht durch Konsens, sondern nur durch Angriff erobert werden kann“. Sein zweiter organisatorischer Antrag, welcher ebenfalls erfolgreich war, bestand darin, Mitgliedern, welche gleichzeitig Mitglieder anderer Organisationen sind, die Möglichkeit zu untersagen, sich für die Wahl zum „BürgerInnenrat“ aufstellen zu lassen. Der „BürgerInnenrat“ wird für zwei Jahre als Leitungskörper gewählt, welcher die Partei zwischen den Vollversammlungen anleitet. Dieser Antrag war sehr deutlich gegen die Mitglieder von Izquierda Anticapitalista (IA, Antikapitalistische Linke) gerichtet, die spanische Sektion der Vierten Internationale.

Mitglieder der IA sind jedoch nicht nur zentral für „Sumando podemos“, sie haben auch gut die Hälfte der nötigen Unterschriften bereitgestellt, um den Gründungsantrag für PODEMOS einreichen zu können. Darüber hinaus schrieb IA auch das Wahlprogramm zu den EU-Wahlen, bei welchen PODEMOS gut abschnitt. Auch ein Mitglied der IA, Teresa Rodríguez, wurde als Abgeordnete des EU-Parlamentes gewählt. Doch nun zahlt IA den Preis dafür, dass sie Iglesias seit der Gründung der Partei immer nur entgegengekommen ist, anstatt für alternative Organisationskonzepte und deren Vorteile gegenüber den Vorstellungen der Iglesiastruppe zu kämpfen. Diese Entwicklung ging auch nicht spurlos an der IA vorüber. Zu den Auswirkungen auf die spanische Sektion der Vierten Internationale werden wir uns weiter unten auslassen.

Ist PODEMOS der richtige Weg?

PODEMOS wirft wichtige Fragen für Gruppierungen innerhalb der radikalen Linken auf. Ist diese „neue Politik“, vorgeschlagen von der Führung der jungen Partei, ein Modell, welches in anderen Ländern übernommen werden sollte? Stellt es eine wirkliche politische Alternative für die spanische ArbeiterInnenklasse und Jugend in ihren Kämpfen gegen die kapitalistische Krise und deren Auswirkungen dar? Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, welches Verhältnis RevolutionärInnen zu PODEMOS einnehmen sollten.

Diese Fragen sind deshalb so wichtig, da PODEMOS sich aus einem Projekt entwickelte, welches von einer Gruppe aus AkademikerInnen angestoßen wurde. Ist es daher „nur“ ein Projekt von Intellektuellen „für die Massen“ oder birgt es Potenzial, sich in eine Partei der Massen, also eine Partei der ArbeiterInnenklasse, zu entwickeln? Sind Verbindungen zur ArbeiterInnenklasse überhaupt vorhanden?

Studien zur Demografie von PODEMOS sind bisher rar gesät. In seinem auf der Internetseite Open Democracy veröffentlichten Artikel „Wer ist eigentlich PODEMOS?“ versuchte Fernando Betancour, ein amerikanischer sowie wirtschaftlich und politisch liberal eingestellter Politiker, einige Schlussfolgerungen zu ziehen, indem er die Zusammensetzung der WählerInnen sowie der PODEMOS nahestehenden Personen untersuchte. Er kam zu folgender Schlussfolgerung:

„In Übereinstimmung mit einigen demografischen Informationen, welche durch WählerInnenumfragen erstellt wurden, können wir annehmen, dass die WählerInnen von PODEMOS mittleren Alters oder vorstädtische Jugendliche mit einem überdurchschnittlich wohlhabenden Hintergrund sind. Sie sind nicht, zumindest im Durchschnitt, gefährdet durch Arbeitslosigkeit oder Besitzlosigkeit bzw. dadurch, wirtschaftlich marginalisiert zu werden. Sie scheinen nicht eine Gruppe von ArbeiterInnen, vor allem nicht von LumpenproletarierInnen, wie Herr Iglesias in einem Interview verunglimpfend auf sie verwies, darzustellen. Es handelt sich dabei eher um Personen aus der Mittelklasse. Und wenn sie nicht arbeits- oder wohnungslos sind, dann sind sie aufgebracht von anderen Themen: Korruption, politischer Elitismus, Teilnahmslosigkeit der Regierung sowie wahrgenommene Ungerechtigkeit.“

Dies sollte eineN nicht verwundern, vermeiden die bekanntesten SprecherInnen von PODEMOS, so gut es geht, die Sprache und Symbolik der ArbeiterInnenbe-wegung. Für sie stellt eine solche Bezugnahme die Sprache „der Kaste“ dar, ein Zugeständnis an das „Links-Rechts-Schema“, welches ihrer Meinung nach ohne große Umwege in den Mülleimer geworfen werden sollte.

Ebenfalls stellt es keine Überraschung dar, dass das Programm von PODEMOS nicht wirklich radikaler ist als das Programm der Sozialdemokratie, bevor sie vor dem Neoliberalismus kapitulierte. Das Programm zur EU-Wahl war ein klar linksreformistisches Programm, ein Minimalprogramm, welches nicht über Forderungen hinausgeht wie nach einem Schuldenerlass, einem Mindesteinkommen, der Wiederverstaatlichung von privatisierten, aber strategisch wichtigen Teilen der Wirtschaft oder nach der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Das Programm versprach die Abschaffung von Steuerinseln, die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens sowie die Herabsenkung des Rentenalters auf 60 Jahre. Alles gute und nachvollziehbare Forderungen, jedoch bei weitem kein antikapitalistisches Programm.

Der Kampf für solche Forderungen muss auf jeden Fall auf die Tagesordnung gesetzt werden; jedoch ist die wichtigere Frage, wie diese Kämpfe mit der Eroberung der Macht durch die ArbeiterInnenklasse verbunden werden können.

Um die reformistischen Illusionen zu überwinden und der spanischen ArbeiterInnenklasse ein revolutionäres Programm zu geben, sollten die unterschiedlichen anti-kapitalistischen Strömungen in Spanien, innerhalb und außerhalb von PODEMOS, die Dynamik und Bewegung rund um PODEMOS nutzen, um dafür zu kämpfen, die neue Partei von ihren populistischen und nicht-sozialistischen Einschränkungen zu befreien. Sie sollten offen für eine revolutionäre Linie kämpfen und hierfür für ein revolutionäres Programm mit Fokussierung auf die spanische sowie internationale ArbeiterInnenklasse eintreten. Vor allem mit Hinblick auf die Auseinandersetzung rund um die Wahlen im spanischen Superwahljahr 2015 sollten RevolutionärInnen die entstehende Dynamik und Diskussionen nutzen und die Bildung einer revolutionären Plattform innerhalb von PODEMOS vorantreiben, aber auch den Schulterschluss mit Teilen außerhalb von PODEMOS suchen. Diese Plattform sollte ein Aktionsprogramm sowie ein alternatives Organisationsmodell für die Partei erarbeiten und damit in PODEMOS intervenieren.

Die größte und einflussreichste Organisation der radikalen Linken innerhalb von PODEMOS, die Izquierda Anticapitalista (IA), betreibt freilich eine Politik, die in die entgegengesetzte Richtung führt. Verdeutlicht wird diese passive und defensive Haltung am besten anhand des Umgangs der IA mit den oben genannten Mehrheitsbeschlüssen der „Assamblea Ciudadana“ sowie durch die kampflose Auflösung der IA in PODEMOS.

Nachdem die „Assamblea Ciudadana“den Antrag von Iglesias angenommen hatte, Mitgliedern anderer politischer Organisationen die Möglichkeit zu nehmen, sich zur Wahl der PODEMOS-Führung aufstellen zu lassen, erklärte die IA kurz danach ihre Auflösung in PODEMOS und benannte sich anschließend in „Anticapitalista“ um. Dieser Art des Umgangs mit der Niederlage bei der Abstimmung auf der „Assamblea Ciudadana“, offenbart ein klares Fehlen des Aufbaus einer aktiven und offensiven Opposition gegen die Iglesias-Führung und deren politischen und organisatorischen Konzepte. Vor allem liegt diesem Vorgehen die illusorische Vorstellung zugrunde, dass der grundsätzliche Konflikt mit der Iglesias-Führung vermieden werden könne. Die Iglesias-Führung vertritt nicht nur undemokratische Organisationsziele, sondern vor allem einen kleinbürgerlichen Klassenstandpunkt, der sich im Zuge einer Weiterentwicklung zu einer Form offenen bürgerlichen Populismus‘ entwickeln kann, ja wird. Es ist daher von Seiten dieser Führungsgruppe und ihrer AnhängerInnen nur konsequent, gegen alle Strömungen vorzugehen, die PODEMOS in eine proletarische oder gar eine revolutionäre Richtung drängen oder auch nur drängen könnten.

Anticapitalista will diesen grundsätzlichen Gegensatz jedoch nicht wahrhaben und weicht ihm aus. Rund um diese Auseinandersetzungen auf der „Assamblea Ciudadana“ hätte sie die Zusammenführung revolutionärer Kräfte innerhalb von PODEMOS zu einer revolutionären Plattform vorantreiben können und müssen. Diese revolutionäre Plattform könnte nun aktuell innerhalb von PODEMOS dazu genutzt werden, eine prinzipienfeste Opposition aufzubauen, welche sich für den Aufbau einer demokratisch-zentralistischen Organisation mit voller Tendenz- und Fraktionsfreiheit einsetzt.

Diese Plattform könnte auch in die derzeitigen Auseinandersetzungen in PODEMOS rund um die aktuellen Regional- und Nationalwahlen eingreifen, um die programmatischen Schwächen der Iglesias-Führung aufzuzeigen. Durch das Unterlassen einer solchen Initiative stellte der Umgang von Anticapitalista mit diesen Mehrheitsentscheiden eher einen kampflosen Rückzug gegenüber der Führung dar statt eines offensiven Angriffs gegen die fehlerbehafteten Strategien und Taktiken der derzeitigen Führung. Neben der symptomatischen Auflösung der IA wird ihr Kniefall gegenüber Iglesias auch in einer weiteren Auseinandersetzung deutlich, welche sich rund um die Regionalwahlen in Andalusien abspielte und seitdem landesweite Wellen schlug. Mehr dazu weiter unten im Text.

Ein unausweichlicher Schritt, für welchen Anticapitalista sowie eine eventuelle revolutionäre Plattform oder Fraktion in Opposition zu der Iglesias-Führung eintreten müsste, wäre das Aufbrechen der plebiszitären Struktur der Partei. Konferenzen mit Tausenden TeilnehmerInnen und Hunderttausenden, welche online abstimmen dürfen, erscheinen auf den ersten Blick sehr demokratisch. Im Endeffekt festigt dies jedoch die privilegierte Position der „anerkannten FührerInnen“ – vor allem diejenigen mit einem großen Medienprofil. Wenn zugleich vorhandene organisierte Tendenzen ausgeschlossen und verunglimpft werden, macht dies die Sache nur noch schlimmer. Große Massenkonferenzen politisch unerfahrener, vereinzelter, oft passiver Menschen sind viel einfacher zu manipulieren; das zeigen nicht nur populistische Bewegungen, sondern auch alle Formen bonapartistischer Herrschaft. Die Tatsache, dass allen BürgerInnen, welche nicht aktiv an der Partei teilhaben, die gleichen Rechte gewährt werden wie denjenigen, welche sich aktiv beteiligen, stellt keine höhere Form der Demokratie dar, sondern ist vielmehr eine Waffe gegen sie.

Wahlen und Regierungsfrage

Zweifellos zeigten die in ganz Europa gemachten Erfahrungen neuer Parteien, deren Wachstum die Eroberung der Regierungsmacht ermöglichten, dass blinde Euphorie, hervorgerufen durch einen einzigen Wahlerfolg oder hohe Umfragewerte, deplatziert ist. Die Erfolge von PODEMOS bei den Europawahlen sind hier kein echter Gradmesser für die zukünftige Politik der Partei, weil bei den Europawahlen kein Parlament gewählt wird, das auch eine Regierung bildet. Daher stellt die Stimmabgabe oft primär den Ausdruck der Loyalität gegenüber einer bestimmten Partei oder deren „Abstrafung“ bei einer vergleichsweise „unwichtigen“ Wahl dar. Sie kann allerdings auch als ein Ausdruck gegen die Ausrichtung des „europäischen Projektes als Ganzes“ verstanden werden. Nationale Wahlen im Gegensatz dazu drehen sich um die Frage, wer tatsächlich ein Land regieren soll.

Die Erfahrungen der Rifondazione Comunista in Italien im letzten Jahrzehnt sowie die jüngsten Erfahrungen rund um SYRIZA in Griechenland zeigen, dass jede Partei, welche keinen klaren proletarischen Klassenstandpunkt einnimmt, schlussendlich gegenüber den vorhanden konstitutionellen Grenzen der existierenden bürgerlichen Gesellschaft kapitulieren wird. Dies zeigte sich auch schon in PODEMOS nach dem Abhalten der „Assamblea Ciudadana“, wie in der Abschwächung der Forderung nach einem Schuldenerlass zu sehen ist, sowie in den oben zitierten jüngeren Äußerungen Iglesias, in welchen die Erlangung der institutionellen Macht obenan gestellt und programmatische Klarheit unter den Tisch gekehrt werden.

Für PODEMOS werden die Wahlen sofort die Frage nach einer Koalition aufwerfen. Iglesias sagte, dass PODEMOS in keine Koalition mit Parteien „der Kaste“ eintreten werde. Da dies nicht nur die PSOE, sondern auch die Izquierda Unida beinhaltet, stellen sich nur zwei Szenarien im Falle eines Wahlerfolgs von PODEMOS: Entweder die Formierung einer Minderheitenregierung, um den Versuch zu starten, das Parteiprogramm zu verwirklichen – oder es anderen Parteien zu erlauben, eine Regierung zu bilden. Dies würde entweder eine Koalition zwischen Parteien aus dem rechten Lager oder eine Große Koalition zwischen den traditionellen Parteien, den prinzipiellen Repräsentanten „der Kaste“, bedeuten.

Einer Minderheitsregierung würde offensichtlich nicht nur im Parlament entgegengearbeitet werden, sondern auch von Seiten der Banken, den internationalen Behörden wie dem IWF oder der Weltbank, allen großen Unternehmen sowie natürlich von Seiten der bürgerlichen Medien. Es käme zu einem sofortigen Abfluss von Kapital und einem Aufruhr an den Aktienmärkten. Wäre eine solche Minderheitsregierung nicht in der Lage, schon existierende außerparlamentarische Kräfte zu mobilisieren, um solchen Attacken nicht nur mit Hilfe von Demonstrationen, sondern auch durch Enteignung der Produktionsmittel und Einführung von ArbeiterInnenkontrolle entgegenzuwirken, würde sie nicht lange überleben.

Auf den ersten Blick erschien die Strategie von PODEMOS, jegliche Koalitionen abzulehnen, als sehr radikal, eine entschlossene Ablehnung von allem, für das die etablierten Parteien „der Kaste“ stehen. Iglesias machte deutlich, dass sein Ziel ein sofortiger Wahlsieg, eine Mehrheitsregierung ist. Die vorherige Ablehnung jeglicher Koalitionen, sogar mit der IU und kritischen Elementen innerhalb der PSOE, ist dahingehend gerichtet, die WählerInnen dieser Parteien zu einer Wahl von PODEMOS zu überzeugen. Hierzu äußerte sich Iglesias in einem Interview wie folgt recht deutlich:

„Da ist die Frage der Zahlen (Wahlergebnisse, Anmerkung des Autors) natürlich, aber hinter diesen Zahlen steht die Frage, welche Kapazität jemand besitzt, um Druck auf andere auszuüben. Wenn wir gefragt werden: ‚Werdet ihr Übereinkünfte mit der Sozialistischen Partei machen?‘, antworten wir immer, ‚Die SozialistInnen werden eine 180°-Drehung hinlegen müssen‘.“ (7)

Da jedoch das Programm von PODEMOS qualitativ nicht über demjenigen der IU steht, stellt diese Unnachgiebigkeit keine Prinzipienfestigkeit, sondern Sektierertum dar. Es wird sogar zu einer eindeutigen Farce, beachtet man, dass PODEMOS innerhalb des Europäischen Parlaments keinerlei Probleme besitzt, mit Parteien anderer nationaler „Kasten“ eine Fraktion zu bilden wie z.B. mit der deutschen Linkspartei.

Vor allem stellt sich die Frage, was – wenn von der Rhetorik abgesehen wird – von dieser Strategie übrig bleibt? Was bleibt übrig außer einem sehr naiven Vertrauen in die parlamentarische Demokratie? Die unterschwellige Annahme der PODEMOS-Führung ist, dass die entscheidende Voraussetzung für die Bekämpfung „der Kaste“ und das System, welches sie verteidigt, der Gewinn einer Mehrheit an parlamentarischen Sitzen ist. Aber eine Mehrheitsregierung, gebildet durch PODEMOS, würde den gleichen GegnerInnen und Vorbehalten gegenüberstehen wie eine Minderheitsregierung, auch wenn sich eine solche Regierung entgegen allen nationalen und internationalen Gegenwinden halten könnte. Was könnte der Gewinn von Parlamentsstimmen vollbringen, wenn sich die Finanzmärkte unnachgiebig weigern würden, der spanischen Regierung oder den spanischen Banken und Unternehmen Geld zu leihen?

In der Realität zeigt die „Flexibilität“, welche die Iglesias-Truppe in der Frage der Ablehnung der Schuldenzahlung zeigte, deutlich auf, dass eine PODEMOS-Regierung schnell von ihrem „hohen Ross“ steigen und ihre Politik darauf limitieren würde, was „möglich“ und „akzeptabel“ ist, ohne sich von den Massen, „die nicht links sind“, zu entfernen und den gesellschaftlichen Diskurs zu gefährden. Das Schlimme daran ist jedoch: egal wie viele Zirkel organisiert werden, wenn diese alleine eine „von oben nach unten“ – Beziehung mit der PODEMOS-Führung besitzen und somit keine Möglichkeit der eigenen Koordinierung oder gar Entscheidungsfindung über politische Fragen haben, werden sie niemals in der Lage sein, ihre Führung daran zu hindern solche 180-Gradwendungen zu vollziehen.

Nichtsdestotrotz, auch wenn sich die Iglesias-Führung durch die „Assamblea Ciudadana“ und die Onlineabstimmungen klar konsolidieren konnte, ist PODEMOS immer noch ein sehr junges Projekt und sein finaler Charakter noch nicht entschieden. Die Parlamentswahlen, auf welche Iglesias so viel Hoffnung setzt, werden weitere Episoden erzeugen, die die Lorbeeren von Iglesias beflecken werden. Hier sind die Auseinandersetzungen in Andalusien sowie die kürzlich aufgekommene Führungskrise rund um den Rücktritt von Monedero als jüngste Beispiele zu nennen. Dies bedeutet, dass ein Abseitsstehen von dieser Parteiformierung eine sektiererische Selbstisolation von mehreren Tausend militanten AktivistInnen in sozialen Bewegungen und Teilen der Avantgarde der ArbeiterInnenklasse darstellt.

Die aktuellen Erfahrungen mit PODEMOS in der Praxis

Spanien steht, wie oben schon erwähnt, vor einem Superwahljahr. Im Mai standen Kommunalwahlen an. Gleichzeitig werden im Laufe des gesamten Jahres 2015 in fast allen Regionen die Regionalregierungen neu gewählt. Andalusien – welches am 22. März sein Regionalparlament gewählt hat – stand am Anfang einer langen Reihe kommender Wahlen und politischer Auseinandersetzungen in Spanien. Das Superwahljahr wird schlussendlich im November mit den Wahlen zur nationalen Regierung ein Ende finden. Die Wahl in Andalusien – der bevölkerungsreichsten Region Spaniens – kann somit im von der EU-Krise stark betroffenen Land als Stimmungstest für die politische Stimmung Spaniens gewertet werden.

Hierbei stand PODEMOS, vor allem nach dem Wahlsieg von SYRIZA in Griechenland, im Rampenlicht. Mit Spannung wurde das Abschneiden dieser Partei bei der Regionalwahl in Andalusien erwartet, stand PODEMOS doch in einigen der letzten landesweiten Umfragen mit 27% in der Gunst der WählerInnen an erster Stelle. Dieses historisch hohe Ergebnis in der noch jungen Geschichte von PODEMOS konnte jedoch in Andalusien nicht erreicht werden. Die Wahl gewann wie erwartet die Partido Socialista Obrero Español (PSOE) mit 47 der insgesamt 109 Sitze (35,4%). Jedoch musste die bisherige Regierungspartei Andalusiens klare Verluste verzeichnen und erzielte das schlechteste Ergebnis in ihrer Hochburg seit dem Ende der Franco-Ära. Die Regierungspartei Partido Popular (PP) erlitt jedoch eine stärkere Niederlage und wurde von den WählerInnen für ihre Sparpolitik abgestraft. Sie erhielt 33 Sitze (26,8%) und büßte rund ein Drittel ihrer Mandate ein.

PODEMOS im Gegenzug konnte zwar das erste Mal in seiner Geschichte erfolgreich in ein spanisches Regionalparlament einziehen. Jedoch erhielt es als drittstärkste Kraft nur 15 Sitze (14,8%), welches im starken Gegensatz zu den Umfragewerten stand. Hierbei muss erwähnt werden, dass PODEMOS stark damit zu kämpfen hatte, sich gegen eine neue populistische Mitte-Rechts-Partei mit dem Namen Ciudadanos zu behaupten. Diese Partei konnte aus dem Stand 9 Sitze (9,3%) erhalten. Addiert man die Ergebnisse von PODEMOS und Ciudadanos erhält man 25% und somit die oben genannten Umfragewerte. Wieso konnte PODEMOS jedoch sein Umfragehoch nicht halten?

Ciudadanos, eine populistische, in Katalonien gegen die Unabhängigkeitsbestre-bungen gegründete Partei, erlebt einen ähnlichen Aufschwung wie PODEMOS in den letzten Monaten. Dies weist einerseits darauf hin, dass sich das langjährige Zweiparteiensystem in Spanien überlebt hat. Andererseits zeigt es aber auch deutlich auf, dass PODEMOS mit seiner populistischen Herangehensweise an seine Politik schnell unter Zugzwang von rechts kommen kann. Wie oben erwähnt, orientiert sich die PODEMOS-Führung rund um Iglesias stark am Chávismus und dessen Populismus. Dies äußert sich vor allem in einer Fokussierung auf eine Führungspersönlichkeit und deren Legitimierung durch Massenabstimmungen sowie im Verzicht auf eine klare Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse. Dies führt nun schlussendlich dazu, dass PODEMOE relativ einfach von rechts unter Zugzwang gesetzt werden kann. Die strategische Ausrichtung auf „das Volk“, ohne den Klassencharakter des Kapitalismus offen zu legen, wird hier praktisch als ein Schuss ins eigene Bein offenbart. Jedoch scheut Iglesias und seine Truppe das Wort „Kapitalismus“ wie der Teufel das Weihwasser:

„Nur einige wenige Menschen mit einem hohen Niveau an politischer und theoretischer Bildung wären in der Lage zu sagen, dass das Problem der Kapitalismus darstellt. Wenn wir uns jedoch eine soziale Bewegung mit Hunderttausenden vorstellen, ist es schwer zu glauben, dass es einem Wort wie ‚Kapitalismus‘ möglich wäre zu verkörpern, gegen was die Bewegung sich richtet.“ (8)

Erneut erwies sich die Nichtexistenz einer revolutionären Plattform in PODEMOS mit Hinblick auf die Ereignisse rund um das Superwahljahr als ein großer Fehler. Der Wahlausgang in Andalusien z.B. hätte von einer revolutionären Plattform innerhalb von PODEMOS als Ausgangspunkt verwendet werden können, diesen kritisch aufzuarbeiten und praktisch den Basismitgliedern in PODEMOS die Schwächen des Iglesias-Populismus und dessen Programm aufzuzeigen. Dies hätte zusätzlich dazu genutzt werden können, um für ein revolutionäres Aktionsprogramm einzutreten und MitstreiterInnen für eine antikapitalistische, revolutionäre Politik zu gewinnen.

Anticapitalista in der Krise?

Eine revolutionäre Plattform könnte aber nicht nur die derzeitigen Wahlen dazu nutzen, die Fehler des Linkspopulismus eines Iglesias aufzudecken. Die derzeitigen Entwicklungen rund um Anticapitalista könnten ebenfalls dazu verwendet werden, MitstreiterInnen aus diesen Reihen für den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei zu gewinnen. Der Konflikt innerhalb der Anticapitalista-Reihen entwickelte sich rund um die Wahlen in Andalusien schnell zu einer landesweiten Auseinandersetzung. Es kam vor den Wahlen in Andalusien zu einem Treffen zwischen Iglesias und Teresa Rodríguez (Führungsmitglied von Anticapitalista, sowie PODEMOS-Abgeordnete im Europäischen Parlament).

Auf diesem Treffen wurden Listen für die Regionalwahlen in Andalusien vereinbart sowie für die kommenden Wahlen der Regionalführungen von PODEMOS. Innerhalb von Anticapitalista kam es zu Kritik an dem undemokratischen Vorgehen, da die Basismitglieder nicht an der Zusammenstellung der Listen beteiligt wurden. Als Resultat wurde Anfang April etwa die Hälfte der Anticapitalista-Mitglieder in Andalusien ausgeschlossen, welche eine Opposition gegen den Iglesias-Rodríguez Pakt bildeten. Dieser Ausschluss schlug auch landesweit Wellen und führte dazu, dass Ende April weitere Mitglieder von Anticapitalista in Madrid ihren Austritt erklärten. Ihre Hauptargumente sind der opportunistische Umgang von Anticapitalista mit der Iglesias-Führung, das Unterlassen des Kampfes für ein antikapitalistisches Programm sowie der Bürokratismus und Populismus innerhalb von PODEMOS.

Der Kampf für ein revolutionäres Aktionsprogramm und den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei!

Die oben beschriebenen Konflikte rund um PODEMOS und ihre Entwicklung im Lichte der ersten praktischen Erfahrungen im spanischen Superwahljahr zeigen die notwendigen Aufgaben für RevolutionärInnen deutlich auf. Sie müssen ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, einen Kampf basierend auf Interventionen in den Klassenkampf und mit Fokussierung auf die ArbeiterInnenklasse zu entwickeln statt Fixierung auf Wahlgewinne. Sie sollten sich zu einer revolutionären Plattform zusammenschließen, deren Aufgabe die Erarbeitung eines revolutionären Aktionsprogramms sein muss. Es sollte ein antikapitalistisches Aktionsprogramm gegen die Sparmaßnahmen erarbeitet werden, welches kämpferische Alternativen zu den meisten wichtigsten Fragen aufwirft, vor denen die ArbeiterInnen, Jugendlichen, Frauen und Minderheiten in Spanien stehen.

Neben spezifischen Forderungen nach Arbeit, Löhnen, Unterkünften und allen anderen Bereichen des Klassenkampfes sollte ein solches Programm auch die Notwendigkeit der Bildung von Aktionskomitees in jedem Betrieb, jeder Schule, Universität und Nachbarschaft hervorheben, welche die Aufgabe haben sollten, die jeweiligen Verteidigungsaktionen zu organisieren. Solche Aktionskomitees sollten sich so schnell wie möglich auf einem nationalen Maßstab vereinigen, um den Kampf zentralisiert aufnehmen zu können. So hat die Bewegung als Ganzes auch eine bessere Möglichkeit, über unterschiedliche Einheitsstrategien im Kampf zu diskutieren und zu entscheiden. Um aus der Defensive in die Offensive zu gelangen, sollte die Frage und die Organisierung eines unbegrenzten politischen Generalstreiks auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Ein Generalstreik wirft jedoch unausweichlich die Frage auf: Wer regiert und in wessen Interesse? Die anhaltende Krise innerhalb der spanischen Gesellschaft zeigt klar die Notwendigkeit eines Regierungsprogramms im Interesse der Arbeiterklasse sowie der Bauernschaft auf. Neben der Rücknahme der Sparpolitik sowie der Renationalisierung der privaten Industrie muss ein solches Programm auch gleichzeitig die ungelösten nationalen und demokratischen Fragen der spanischen Gesellschaft angehen: das Recht auf nationale Selbstbestimmung, Abschaffung der Monarchie sowie die Einberufung einer konstituierenden Versammlung. Ein solches Programm wäre unmöglich durchzusetzen ohne die entschädigungslose Enteignung von Großkapitalisten oder Großgrundbesitzern unter ArbeiterInnenkontrolle sowie die Reorganisierung der Wirtschaft auf der Basis eines demokratischen Plans mit Bezug auf die gesamte Gesellschaft.

Dafür ist die Bildung einer ArbeiterInnenregierung notwendig, welche sich auf Kampforgane der ArbeiterInnenklasse, der Bauern und Bäuerinnen, der Jugend, Aktionskomitees, demokratische Räte sowie Selbstverteidigungsorgane stützt. Nur eine solche Regierung kann die Reaktion entwaffnen sowie die bürgerliche Staatsmaschine zerschlagen und ersetzen.

Rund um den Kampf für eine solche Strategie müssen sich RevolutionärInnen nicht nur innerhalb PODEMOS, sondern auch in den Gewerkschaften sowie anderen Organisationen der Arbeiterklasse organisieren, um MitstreiterInnen für den Aufbau einer realen Alternative für die spanische ArbeiterInnenklasse zu finden: eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei. Der neo-reformistische Populismus eines Iglesias bietet hierfür keine Lösung.

Das Beispiel SYRIZAs verdeutlicht, dass ein Bruch mit der reformistischen Führung und dem Parteiapparat unvermeidlich ist. Auch wenn in einem Fraktionskampf taktische Manöver unvermeidlich sein mögen, so wäre es eine selbstmörderische Illusion zu denken, dass die grundsätzlichen politischen Differenzen – letztlich entgegengesetzte Klasseninteressen – durch statutarische oder organisatorische Maßnahmen „gelöst“ werden können. Was für SYRIZA galt, gilt erst recht für PODEMOS, zumal es sich hier um eine kleinbürgerliche Partei handelt, keine bürgerliche ArbeiterInnenpartei. Für RevolutionärInnen gilt es daher, der Konfrontation mit der populistischen Spitze nicht auszuweichen, sondern sie von Beginn an vorzubereiten, den Bruch nicht als zu vermeidende Tragödie, sondern als unvermeidlichen Schritt zur Schaffung einer revolutionären ArbeiterInnenpartei zu begreifen.

Endnoten

(1) Pablo Iglesias, „Understanding Podemos“; New Left Review 93, May-June 2015, Seite 17; http://newleftreview.org/II/93/pablo-iglesias-understanding-podemos; Übersetzung des Autors

(2) Rico Rodriguez, „Spanien – Krise und Führungskrise“; Neue Internationale 179, May 2013; http://www.arbeitermacht.de/ni/ni179/spanien.htm

(3) Pablo Iglesias, „Understanding Podemos“; New Left Review 93, May-June 2015, Seite 15 ; http://newleftreview.org/II/93/pablo-iglesias-understanding-podemos

(4) Ebenda, Seite 15

(5) Ebenda, Seite 16

(6) Cristina Flesher Fominaya, „Soziale Bewegungen und Globalisierung“ (Mai 2014)

(7) Interview mit Pablo Iglesias, „Spain on Edge“; New Left Review 93, May-June 2015, Seite 40

(8) Ebenda, Seite 33




Griechenland: Syriza nach dem Verrat – Handlanger der EU-Diktate

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 3. September 2015, Neue Internationale 202, September 2015, Revolutionärer Marxismus 47, September 2018

Als Alexis Tsipras als griechischer Premierminister am 20.August zurücktrat, löste er damit mehr aus als nur die Festlegung des Wahltermins zum griechischen Parlament am 20. September. Gemäß der griechischen Verfassung ermächtigte er sich auch, die Liste der KandidatInnen seiner Partei aufzustellen. D.h. er kann die 32 Syriza-Abgeordneten, die mit ‚Nein‘ gestimmt hatten und die 11, die sich der Stimme enthalten hatten, ausschließen. Diese AbweichlerInnen verweigerten im Parlament die Zustimmung zum weiteren „Rettungspaket“, dem damit verbundenen dritten Memorandum und dessen harschen Bedingungen seitens der Eurogruppe und des IWF am 14. August. Ferner verhinderte sein Rücktritt die Einberufung eines Parteitags vor den Wahlen. Es gibt demnach keine demokratische Entscheidung der Syriza-Mitgliedschaft über sein Vorgehen.

Im Gegenzug spalteten sich 25 Abgeordnete, angeführt von Panagiotis Lafazanis von Syriza ab und gründeten die neue Partei Volkseinheit (LAE), die am 20. September zu den Wahlen antreten will. Eine weitere Gegnerin des August-Memorandums, die Parlamentssprecherin Konstantopoulou, hat sich zwar der Volkseinheit noch nicht angeschlossen, wohl aber ihre Bereitschaft zur Kandidatur auf deren Ticket bekundet. Die KOE (Kommunistische Organisation Griechenlands), die 3 Syriza-Abgeordnete stellte, erörtert noch einen Beitritt zur LAE. Obwohl der linke Flügel der früheren Mehrheitsfraktion unter Tsipras, die Gruppe der 53, auch über einen Austritt aus Syriza debattiert, scheint nur eine Minderheit zur Verbindung mit der LAE bereit zu sein. Die neue Partei wird sich also zunächst auf die frühere Linke Plattform und das wesentlich kleinere „Rote Netzwerk“ stützen, das von der deutlich linker stehenden Gruppierung „Internationalistische ArbeiterInnenlinke“ (DEA) gebildet worden war.

Natürlich hat Tsipras´ schändlicher Verrat an den 61% Oxi/Nein-Stimmen bei der Volksabstimmung am 5. Juli gegen die Politik der Eurozone die organisierte Unterstützung für Syriza stark ausgehöhlt, wenn nicht gar aufgelöst. Berichten zufolge verlassen massenhaft Mitglieder Ortsgruppen und treten der LAE bei. Die Jugendorganisation hat sich von Syriza getrennt und aufgelöst. Tsipras hofft jedoch, dass seine Popularität der Partei über die Wahlen hinweg helfen wird. Meinungsumfragen scheinen dies zu bestätigen. Eine davon ergab im Auftrag der Bild-Zeitung im August einen Anteil von Syriza für 28%. Die bürgerliche Nea Dimokratia lag bei 25%, und die Volkseinheit schnitt mit 8% ab. Griechische Umfragen, die nicht gerade für ihre Verlässlichkeit bekannt sind, setzen niedrigere Werte an, doch auch bei ihnen steht Syriza noch an der Spitze, knapp vor der rechtskonservativen Nea Dimokratia, die im unteren 20%-Bereich liegt. Die Volkseinheit wird nur zwischen 3 bis 4,5% gesehen. Trotz Zweifeln an der Objektivität dieser Umfragewerte scheint die LAE doch die 3%-Hürde für den Einzug ins griechische Parlament nehmen zu können.

Das wäre gleichbedeutend mit dem Stand, den Syriza vor 2012 erreicht hatte, und besagt, dass LAE weit davon entfernt wäre, die Geschicke des Landes lenken zu können, legt man Parlamentswahlen als Entscheidungsmaßstab zugrunde. Sicher werden die neuen Kürzungsprogramme und Privatisierungen sowie die zu deren Durchsetzung notwendige Repression ab Oktober Auswirkungen haben, und es könnte sich alles ändern. Daher ist Tsipras´ Vorgehen eine solch empörende Täuschung und Verrat an den Hoffnungen und am Vertrauen, das die GriechInnen in diese Partei gesetzt haben. Die Hauptlehren daraus müssen sein: der Zusammenbruch wurde nicht einfach durch Täuschung und Verrat von Seiten Tsipras´ und seiner Fraktion ausgelöst, sondern steckte als Geburtsfehler in der Partei seit ihrer Gründung. Dieser Geburtsfehler heißt: Reformismus.

Syriza – die zweite

Syriza versprach, eine deutliche Senkung der Schuldenlast Griechenlands auszuhandeln. Dieser belief sich 2014 auf 317 Mrd. Euro. Das hielt selbst der IWF als rückzahlbare Summe für unmöglich. Syriza hatte auch versprochen, die Austeritätsbedingungen zu beenden und, nach Tsipras eigenen Worten am Wahltag, dem 25. Januar, „die Troika Geschichte werden zu lassen.“ Er versprach, Privatisierungen aufzuhalten und rückgängig zu machen, v.a. den großen Athener Hafen von Piräus, ferner entlassene ArbeiterInnen des Öffentlichen Dienstes wieder einzustellen, Zwangsräumungen zu beenden und das Wohnungselend anzupacken sowie RentnerInnen und KleinbäuerInnen Erleichterungen zu verschaffen.

Stattdessen unterbrach die Europäische Zentralbank praktisch den Geldzufluss über die Liquiditätsnothilfe ELA an die griechischen Banken, während die griechischen Oligarchen die Kapitalflucht aus dem Land beschleunigten. Völlig in Verhandlungen verstrickt, tat die Regierung nichts dagegen. Währenddessen schoben die europäischen Finanzminister, wie der griechische Finanzminister Yannis Varoufakis bezeugte, auch den Anschein von Verhandlungen beiseite und forderten strikte Unterwerfung von Syriza statt eine Milderung der früheren Memoranden zu gewähren.

Vorherrschaft

Zentraler Zweck dieses Vorgehens war, ein Exempel an Griechenland zu statuieren, um die anderen Schulden-belasteten Staaten der EU einzuschüchtern und Deutschlands Vorherrschaft in der Eurozone zu demonstrieren. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen haben Tsipras und Varoufakis einen Rauchvorhang aus optimistischen Berichten erzeugt, um die griechische Bevölkerung zu täuschen und sie in Untätigkeit und Schicksalsergebenheit verharrren zu lassen. Das dicke Ende kam dann am 30.Juni, als Griechenland die Rückzahlung an den IWF nicht mehr leisten konnte und sich der Schuldenstand auf 323 Mrd. Euro erhöhte.

Auf einer Nachtsitzung der Führer der Eurozone in Brüssel, bei dem Angela Merkel die Rolle des „bad cop“ und Francois Hollande die des geschmeidigeren Kompagnons spielten, unterwarfen sie Tsipras einem „ausgiebigen mentalen Waterboarding“, wie es ein erfahrener EU-Beamter ausdrückte. Sie forderten, dass die griechische Regierung ein noch drakonischeres Paket von Kürzungsmaßnahmen annehmen sollte und die staatlich-finanzielle Souveränität als Preis für die Vermeidung des Zusammenbruchs des griechischen Bankensystems und der Abtrennung von der gemeinsamen Währung aufgeben sollte. Tsipras wurde gezwungen, eine dritte „Rettung“ von 86 Milliarden anzunehmen.

Es unterstreicht zwar die Glaubwürdigkeit der Linken Plattform, gegen diese „Rettung“ aufgetreten zu sein, auch wenn einige Parlamentsabgeordnete Anfang Juli noch gezögert hatten, aber angesichts der Offensichtlichkeit von Tsipras´ Verrat kann diese Haltung kaum als besonders ehrenhaftes Beispiel sozialistischer Unbeugsamkeit gewertet werden. Sie standen nur zu den Versprechungen, die Syriza zur Zeit der Volksabstimmung ein paar Wochen vorher gemacht hatte, was allerdings alle Abgeordneten der Partei hätten tun sollen.

In dieser Hinsicht bedeutet die Volkseinheit keinen politischen Fortschritt. Das drückt sich in Lafazanis Betonung aus, dass die LAE weiterhin auf dem Thessaloniki-Programm der Partei vom September 2014 steht mit dem Zusatz, dass er das Bekenntnis zum Euro, das Syriza im Wahlkampf Januar 2015 abgelegt hatte, widerruft. Das war ein Abrücken vom früheren Versprechen, dass Syriza für den Euro wäre, „aber nicht um jeden Preis“, d.h. um den Preis der Austerität. Lafazanis sagt richtig, dass dies nicht ein Abrücken vom Anspruch auf Beendigung der Austerität bedeuten würde, geschweige denn als Rechtfertigung für die Annahme noch schlimmerer Kürzungspolitik als die beiden vorauf gegangenen Memoranden dienen könne.

Viele Linke haben gemeint, dass dies zweideutig oder widersprüchlich sei und zu Syrizas Tragödie geführt habe. Das stimmt nicht oder stimmt allenfalls oberflächlich betrachtet. Der tiefere Grund war, dass Syrizas Programm (nicht für sich genommen durchaus korrekte einzelne Reformversprechen) und v.a. ihre Strategie und die Handlungsweise zur Befreiung Griechenlands von Kürzungspolitik und der Herrschaft der Troika reformistisch waren.

Ihre ganze Perspektive steckte in einer Zwangsjacke der Anerkennung des kapitalistischen Privateigentums und des Gehorsams gegenüber den Regeln des bürgerlichen Staates. Syriza stellte sich nichts anderes vor als die Einhaltung der Legitimität ihres Wählerauftrags und die Verlängerung der Verhandlungen mit den Gläubigern der EU und der griechischen Banker als Vertreter der kapitalistischen griechischen Oligarchie. Wolfgang Schäuble ehrt seine Offenheit, als er im Januar anmerkte: „Neue Wahlen ändern nichts an den Abkommen, denen die griechische Regierung beigetreten ist. Jede neue Regierung muss sich an die vertraglichen Vereinbarungen ihrer Vorgänger halten.“ M.a.W., das Vertragsrecht stößt sich an den Rechten der Wählerschaft. Wie Marx einst kurz und bündig bemerkte, gilt unter dem Kapitalismus, dass bei gleichem Recht die Gewalt entscheidet.

Es gab praktisch nur eine Kraft, die das Potenzial hatte, die Gewalt der Eurozonen-Minister und der Aktienmärkte aufzuhalten: die griechische und europäische ArbeiterInnenklasse. Doch Syriza unternahm nicht einmal den Versuch, sie in Gang zu setzen. Erst in letzter Minute und dann in passivster Form wurde ein Referendum angesetzt, dessen Ergebnis dann auch noch sofort mit Füßen getreten wurde. Kurzum, die Syriza-Regierung handelte vom ersten Tag an genau wie jede bürgerliche Regierung, was sie in der Praxis auch wirklich war. Die Linke Plattform hat dies auch nicht grundsätzlich angegriffen. Wenn ihre Führer ernsthaft die Austerität und Griechenlands Knechtschaft gegenüber der Troika hätten beenden wollen, dann hätten sie die Arbeiterklasse aufrufen müssen, um Syriza zu zwingen, wie eine echte Arbeiterregierung zu handeln, die Gewerkschaften und ArbeiterInnen in den Wohnvierteln mobilisieren, den Aufbau von ArbeiterInnenräten und  Selbstverteidigungsorganen gegen die repressiven Institutionen des kapitalistischen Staates vorantreiben sollen, dessen Attacken unvermeidlich, aber nicht unüberwindlich gewesen wären. Stattdessen haben sie sich selber an die kollektive Verantwortung der bürgerlichen Klasse gegenüber als Minister gebunden.

Kämpferische Perspektive

Eine solche kämpferische Perspektive hätte ihren Anstoß von dem Wahlsieg nehmen sollen und auf der daraus resultierenden großen Begeisterung aufbauen können, um ArbeiterInnenkontrolle über alle Schlüsselbereiche der Wirtschaft, angefangen bei den Privatbanken, zu errichten. Auf dieser Grundlage hätten die Zahlungen für die Zinsschulden unterbunden werden können wie auch die Kapitalflucht ins Ausland. Die Unternehmungen und Einlagen der Oligarchen in Produktion und Distribution hätten als Druckmittel genommen werden müssen gegenüber ihren Besitzern und hätten unter Arbeiterkontrolle gestellt werden müssen.

Es hätte und konnte von Beginn an klar gemacht werden, dass die Regierung auf keinen Fall die Kürzungspolitik nach den Bedingungen der Eurogruppe durchführen will. Obwohl die Partei wie die Mehrheit der Bevölkerung lange darauf bestand, dass sie in der Eurozone bleiben wollte, statt freiwillig das Risiko der Rückkehr zur Drachme auf sich zu nehmen, hätte klar gemacht werden können, dass die Beendigung der Austerität und die Streichung der Schuldung unbedingten Vorrang genossen. Wenn Griechenland schließlich aus der Eurozone hinaus gedrängt worden wäre, hätte die Schuld auf den Schultern der Verantwortlichen der Eurozone und ihrer Herren, den milliardenschweren Banken gelegen. Ein früher und dringender Aufruf hätte an die ArbeiterInnen Europas ergehen müssen, an ihre Parteien und Gewerkschaften, Griechenland zu Hilfe zu eilen. Praktisch haben jedoch nur ziemlich geringe Kräfte der reformistischen und radikalen Linken Demonstrationen und Proteste organisiert.

Der hohe Grad, zu dem die Linke Plattform Tsipras´ grundsätzliche Methode teilt, wird deutlich an ihrer Passivität während der beinahe sechsmonatigen Scheinverhandlungen. Statt Kampfmaßnahmen der Arbeiterklasse zur Hauptstoßrichtung ihrer Strategie zu machen und damit Tsipras und Co. zu zwingen, ihre Wahlversprechen zu erfüllen, richtete die Linke Plattform ihre Tätigkeit auf lahme Propaganda für ihren Plan B; das gleichermaßen unrealistische Projekt von Verhandlungen mit Wolfgang Schäuble über einen freiwilligen Grexit. Dies erklärt auch ihre fast völlige Lähmung in den ersten Tagen nach Tsipras´ Verrat. Einige enthielten sich der Stimme aus Furcht, die Regierung zu Fall zu bringen, obwohl diese doch den Verrat angezettelt hatte. Nicht einmal riefen sie die ArbeiterInnenschaft auf, sich gemeinschaftlich mit ihren eigenen Maßnahmen wie Streiks und Besetzungen dagegen zu stellen.

Heute sagt Lafazanis: „Die Prinzipien der Partei Volkseinheit, die eine Beendigung der nationalen Unterordnung und die Notwendigkeit beinhalten, einen neuen unabhängigen, souveränen und fortschrittlichen Kurs zu verfolgen.“ Und er fährt fort: „Wenn es notwendig ist, unser Programm durchzuführen, werden wir nicht zögern, die Eurozone in koordinierter Weise zu verlassen und eine nationale Währung wieder einzuführen. Ich glaube nicht, dass diese Aktionen die Hölle für Griechenland bedeuten, wie die Euro-Propagandisten behaupten.“

Konkret bedeutet dies die Verfolgung der Illusion eines weiterhin kapitalistischen Griechenlands außerhalb des Euro. Es beinhaltet, dass dies erreicht werden kann durch Verhandlungen mit denselben Leuten, die Griechenland die Austeritätspolitik auferlegt haben. Lassen wir einmal das Problem beiseite, dass die Drachme wieder hergestellt werden soll, wenn die griechischen Banken vom Kapitalstock der EZB abhängen, um zahlungsfähig zu bleiben. Doch der Glaube, dass Wolfgang Schäuble und Co, sich beteiligen werden an der „Koordinierung“ des Weges von Griechenland zu Liquidität und Souveränität, ist genauso utopisch wie Tsipras´ und Varoufakis´ Glaube, dass sie einen großen Schuldenschnitt bei den europäischen Gläubigern und eine Beendigung der Austerität verhandeln könnten – und all dies zu Bedingungen des Euro, wie von der EZB vorgesehen. Eine solche Perspektive zeigt, dass Syrizas original reformistisches Projekt zur Gewinnung der „Macht“ ausschließlich durch Wahlen immer noch in der Strategie der Volkseinheit ungebrochen herrscht.

Der einzige Unterschied ist, dass Lafazanis und Kouvalakis glauben, dass dies in den Grenzen eines „unabhängigen Griechenlands“, vielleicht mit dem selbstlosen Wohlwollen von Seiten Moskaus oder Pekings bewerkstelligt werden kann. All dies zeigt, dass die Syriza-Linke in einem Schema des Reformismus befangen bleibt. Für sie ist es wirklich unmöglich und unvorstellbar, mit dem Kapitalismus zu brechen. Dies treibt sie aus Zynismus oder Naivität in eine Strategie der Klassenkollaboration und eine Suche nach „fortschrittlichen“ national bewussten Kapitalisten, statt ihr Augenmerk auf international klassenbewusste ArbeiterInnen in Griechenland und ganz Europa zu lenken.

Volkseinheit

TheoretikerInnen der Volkseinheit wie der Wirtschaftswissenschaftler Stathis Kouvelakis behaupten, die neue Front sei sogar „breiter“ als die Neuzusammensetzung der radikalen Linken. Sie soll „den Gesellschaftskräften, die sich nicht notwendigerweise als Teil der Linken betrachten, aber die Sparpakete, Memoranden und ‚neu aufgelegte Troika-Herrschaft‘ des neuen Memorandums bekämpfen wollen“, Ausdruck geben. Er sagte: „Wir planen, alle Kräfte und gesellschaftlichen Organisationen zu kontaktieren“ außer der neonazistischen Goldenen Morgenröte.

Zusammen mit der bewussten Namenswahl – um die chilenische Unidad Popular der 1970er Jahre zu imitieren – kann das nichts anderes bedeuten als das Verlangen, die Volkseinheit auf  rechts von der Linken Plattform stehende Kräfte auszudehnen, also eine Suche nach der klassischen stalinistischen Volksfront. Dies wird unweigerlich Ablehnung antikapitalistischer Maßnahmen zugunsten eines Blocks mit „patriotischen“ Sektoren der Kapitalistenklasse bedeuten. Natürlich wird dies keine einfache Aufgabe werden, sie ist die Suche nach dem Einhorn, aber es verkörpert die Ausrede für das Zurechtstutzen des Volkseinheit-Programms auf das Thessaloniki-Programm plus Plan B.

Wenn die Volkseinheit es fertigbringt, eine Kandidatenliste mit offen bürgerlichen Größen für die Wahlen am 20. September aufzustellen, sollten ArbeiterInnen sie überhaupt nicht unterstützen. Wenn aber die Suche nach einer Kandidatenliste „breiter als die Linke“ scheitert – nicht dass dafür Kouvelakis oder Lafanzanis Dank gebührte – und die Volkseinheit-Liste unabhängig von allen bürgerlichen Parteien oder Einzelpersonen ist, sollten ArbeiterInnen dafür stimmen. Doch eine solche Unterstützung sollte äußerst kritisch erfolgen.

Innerhalb der Volkseinheit selbst müssen nun ihre linken Bestandteile das reformistische, neokeynesianische Programm Lafanzanis‘ aufs Korn nehmen. Viele dieser kleineren sozialistischen Gruppierungen und Strömungen wie die KAI-Sektion Xekinima (Bewegung,  Schwesterorganisation der SAV) waren Teil der OXI-Kampagne und sind jetzt Teil von Volkseinheit. Sie müssen die strategischen Fehler vermeiden, die die Linke Plattform in Syriza beging; sie müssen das Programm der Führung herausfordern. Es kann nur eine sozialistische Alternative zu Austerität und Memorandum als Komponente einer sozialistischen Programmalternative für die griechische ArbeiterInnenklasse geben. Andernfalls werden dieselben reformistischen Illusionen, die aus Syriza stammen, nun in der Volkseinheit verbreitet werden. Es ist Pflicht aller sozialistischen oder revolutionären Organisationen, für eine sozialistische und antikapitalistische Perspektive und ein solches Programm inner- und außerhalb der Volkseinheit einzutreten.

Doch noch wichtiger als die Wahlen ist eine Einheitsfront aller linken Parteien, um das 3. Memorandum zu stoppen, die Privatisierungen, Kürzungen und Räumungen mittels direkter Aktion bis zu und einschließlich einem flächendeckenden Generalstreik aufzuhalten. Dazu sollte ein weiterer Versuch angestellt werden, die Kommunistische Partei (KKE) trotz ihres wie gewöhnlich starrköpfigen sektiererischen Standpunktes, Lafazanis unterscheide sich nicht von Tsipras, einzubeziehen.

Die Tiefe der sozialen und wirtschaftlichen Krise, in der Griechenland steckt, wurzelt darin, dass sie das Land wiederholt in revolutionäre Situationen treibt, also solche, in denen revolutionäre Lösungen aufgeworfen werden, die es erfordern, der Kapitalistenklasse die Macht zu entreißen. Das scheiterte jedoch bisher am nichtrevolutionären, ja antirevolutionären Charakter der Führungen der ArbeiterInnenorganisationen, daran, zur Revolution voranzuschreiten. In kritischen Momenten haben sie diese entweder einer Strategie untergeordnet, sich auf Verhandlungen mit dem Klassenfeind zu verlassen (Syriza und Volkseinheit), oder sie haben die kämpferischsten Sektoren der ArbeiterInnenklasse im Zustand sektiererischer Lähmung gehalten (KKE).

Revolutionäre Partei

Der zunehmende Widerspruch zwischen einer objektiven Lage, die zusehends nach revolutionären Lösungen schreit, und dem aktuellen Stand der griechischen Linken wird immer augenscheinlicher. Die linksreformistische Strategie Syrizas wie auch das ultralinke Sektierertum der reformistischen KKE bilden zwei Seiten derselben Medaille: der Abwesenheit politischer Perspektiven. Mit der Volkseinheit droht eine Wiederholung derselben alten Geschichte, ohne grundlegende Infragestellung der Kernschwächen der Syriza-Strategie.

Das verweist auf den entscheidenden Punkt: in einer Situation akuter politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krise liegt das Hauptproblem, vor dem die griechische ArbeiterInnenklasse steht, im Fehlen von allem, was auch nur entfernt an eine echt revolutionäre Partei herankommt. Diesbezüglich ist Antarsya, die Antikapitalistische Linke Zusammenarbeit für den Umsturz, die sich abseits von Syriza hielt und sie scharf kritisierte, gleichfalls Teil des Problems. Sie ist sicher einer der aktivsten und kämpferischsten Bestandteile der Protestbewegung gegen das Memorandum. Sie organisiert ein Gutteil der kampfwilligsten KlassenkämpferInnen in Griechenland, was durch die Repression bewiesen wurde, die sie während der Proteste gegen Tsipras‘ Kapitulation erfahren hat. Doch obwohl sie auf gewissen abstrakt-antikapitalistischen Prinzipien gründet, erwies sie sich nicht in der Lage, den notwendigen programmatisch-taktischen Zusammenhalt zwischen ihren Einzelorganisationen herzustellen. Über Jahre hinweg war sie nicht fähig, Differenzen zu solch bedeutenden Themen wie dem Euro, der Frage revolutionärer Strategie und dem Verhältnis zu Syriza zu überwinden. Schlimmer noch, sie scheint kaum ein Problem darin zu sehen. Deshalb verwundert es nicht, dass sie sich in der gegenwärtigen vollständigen Neuformierung der griechischen Linken effektiv gespalten hat.

Selbst Antarsyas „trotzkistische“ Versatzstücke – OKDE-Spartakos (eine der Sektionen der IV. Internationale, Schwesterorganisation von ISL und RSB) und die SEK (Sektion der IST, Schwesterorganisation von Marx 21) – nahmen eine passiv propagandistische Politik an, die sich auf polemische Entlarvung von Syrizas Reformismus beschränkte, sowohl während deren Aufstieg an der Wahlurne ins Amt wie auch der Monate an der Macht. Sie versuchten nicht, die in Syriza gehegten Erwartungen und Hoffnungen seitens großer Massen von Lohnabhängigen und Jugendlichen in Mobilisierungen umzusetzen, um die Perspektive einer ArbeiterInnenregierung hochzuhalten und die reformistischen Spitzen mit militanter und organisierter „Unterstützung“ unter Druck zu setzen, so dass dieser sie hätte zwingen können, weiter zu gehen, als sie wollten, oder den Weg für eine neue Führung frei zu machen. Eine solche Strategie hätte die Aussicht auf eine echte ArbeiterInnenregierung eröffnen können. Diese von der leninistischen Komintern entwickelte und von Trotzki im Übergangsprogramm aufgegriffene Taktik hätte sich als immens wertvoll für RevolutionärInnen dabei erweisen können, das Vertrauen großer Teile von Syrizas Basis zu erobern und Tsipras und Co. hundertmal wirkungsvoller bloßzustellen als durch bloß papierne Deklarationen.

Nun kommt es drauf an, revolutionäre Kräfte um ein Aktionsprogramm herum neu zu gruppieren, das seinen Ausgangspunkt beim Widerstand gegen das Memorandum und die (wahrscheinliche) Links-Rechts-Koalitionsregierung nimmt, die es zu oktroyieren versuchen wird. Es muss den Aufruf zu einer Einheitsfront des Kampfes enthalten, die alle Gewerkschaften auf Orts- und Betriebsebene mit Gemeinde-, Studentenorganisationen und den ArbeiterInnenparteien zusammenschließt. Es muss nicht nur die Probleme im Visier haben, die den einfachen Leuten auf den Nägeln brennen, sondern auch Lösungen dafür, die die Eigentumsrechte der Oligarchen oder Auslandsinvestoren nicht achten, im Gegenteil, ArbeiterInnenkontrolle über sie ausüben und Bedürfnisse auf ihre Kosten befriedigen.

Schlussendlich muss ein solches Programm sich als Ziel eine Regierung stellen, die sich verpflichtet, von Tag 1 an antikapitalistische Maßnahmen einzuführen. Diese würden beinhalten: Rauswurf der EU-Kommissare; Nationalisierung aller Privatbanken; Errichtung eines Außenhandelsmonopols; Verstaatlichung der Unternehmen der griechischen Oligarchen unter ArbeiterInnenkontrolle und Appelle an die Lohnabhängigen in ganz Europa, Aktionen zu starten, um die EU-Oberhäupter an einer Blockade Griechenlands, seinem Hinauswurf aus dem Euro oder einer Verschwörung zum Sturz der ArbeiterInnenregierung zu hindern. Zudem müsste sie auch eine Ersatzwährung für den Notfall vorbereiten.

  • Für ArbeiterInnen-, nicht Volkseinheit, im Bündnis mit der Kleinbauernschaft und Familienunternehmen; Schluss mit der vergeblichen und reaktionären Suche nach einem Block mit der „patriotischen“ Bourgeoisie!
  • Für direkte Aktion bis hin zu und einschließlich unbefristetem Generalstreik, um das Memorandum zu zerreißen und dessen Regierung aus dem Amt zu jagen!
  • Für eine ArbeiterInnenregierung, die antikapitalistische Maßnahmen einführt!
  • Für eine vereinigte revolutionär-sozialistische Partei auf einem Übergangsprogramm!
  • Für europaweite Solidarität mit griechischer ArbeiterInnenschaft und Jugend, um die Blockade und Plünderung Griechenlands durch die Machthaber der EU aufzubrechen! Öffnung der Tore Europas und aller seiner Staaten ausnahmslos für die Flüchtigen vor den Kriegen in Afrika, Nah- und Mittelost!
  • Für die Vereinigten sozialistischen Staaten Europas!



Griechenland nach dem Referendum: Ist Plan B die Alternative?

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Das griechische NEIN (OXI) bei der Volksabstimmung am 5. Juli 2015 war eine machtvolle ablehnende Antwort der griechischen ArbeiterInnenklasse, der Jugend u.a. Bevölkerungsteile auf das neue harte Memorandum seitens der Vertreter der Eurogruppe, das Syrizas Premierminister Alexis Tsipras Ende Juni gestellt wurde. Die Mehrheit der Bevölkerung erteilte dem Regierungschef einen noch stärkeren Auftrag als bei den Wahlen vom 25. Januar, die Syriza die Regierungsbildung ermöglichten. 61 Prozent stimmten gegen die Austeritätspolitik.

Die Eurogruppe war außer sich über das bloße Ansinnen einer Volksabstimmung, widerrief ihr Angebot und erklärte das Abstimmungsergebnis von vorn herein für ungültig. Doch sofort nach Bekanntgabe des Aufrufs zum Referendum begann Tsipras mit einem Rückzug und sagte, dass ein Nein die Verhandlungsposition der Regierung stärken solle, anstatt eine endgültige Ablehnung des „Spar”pakets darzustellen. Dies war jedoch keine Abweichung von bisherigen Positionen, denn die Koalitionsregierung von Syriza und der rechten Partei „Unabhängige Griechen“ (ANEL) hatte stets von einem „ehrenvollen” Kompromiss mit den Gläubigern geredet.

Schon am 20. Februar 2015, weniger als ein Monat nach dem Wahlsieg, stimmten Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis einer Vereinbarung zu, die eine viermonatige Kreditausweitung mit der Eurogruppe, d.h. den Finanzministern der Eurozone, zuließ. Die Eurogruppe machte unmissverständlich klar, dass selbst diese Vereinbarung nur provisorisch sein sollte. Diese Übereinkunft wich bereits stark vom „Thessaloniki-Programm“ ab, auf dem Syriza gewählt worden war. Mehr noch, das Programm selbst war ein großer Rückfall hinter das Programm, das Syriza nach den ersten großen Erfolgen in den beiden Wahlen von 2012 angenommen hatte, das die Schulden ablehnte und das völlige Ende der Austerität gefordert hatte.

Nichtsdestotrotz forderte es die Abschreibung großer Teile der öffentlichen Schulden und ein Einfrieren des Schuldendienstes. Rückzahlungen sollten erst wieder erfolgen, wenn die Wirtschaft sich wieder auf Basis positiver Wachstumsraten erholen würde, statt aus den primären Haushaltsüberschüssen, wie es die Troika forderte. Syriza versprach auch, die Wiederherstellung der Gehälter und staatlichen Pensionen im Öffentlichen Dienst, um den Verbrauch zu erhöhen und die Nachfrage zu fördern. Es war also ein typisch keynesianisches Krisenbekämpfungsprogramm. Die Strategie der Tsipras-Führung zielte auf Verhandlungen mit den „Institutionen”, wie die Troika nun genannt wird, an deren Ende ein Kompromiss stehen sollte, der Griechenland eine Erholung von der Rezession bringen würde, in die sie die Austeritätspolitik gestürzt hatte.

Die Eurogruppe und an ihrer Spitze der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte nie die Absicht, irgendeinen „ehrenvollen Kompromiss” auszuhandeln. Sie wollte totale Kapitulation. Sie wollte eine klare Ansage an alle Völker des Kontinents: Wenn es Euch einfallen sollte, Parteien zu wählen, die versprechen, die Sparauflagen und die Diktate der europäischen Finanzschaltstellen und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zurückzuweisen, dann werdet Ihr politische und wirtschaftliche Erpressung erleben. Ihr dürft keine Gnade von der herrschende Elite in und außerhalb der EU erwarten.

Nach seinem Rücktritt hat Varoufakis eine Reihe von interessanten Einblicken in die Ausweglosigkeit der Verhandlungsstrategie enthüllt: „Die sehr mächtige Troika der Gläubiger war nicht daran interessiert, zu einem vernünftigen, ehrenvollen, beiderseitig ergiebigen Abkommen zu kommen. Sie waren vielmehr daran interessiert, diese Regierung zu demütigen und sie zu stürzen oder zumindest sicher zu gehen, dass sie sich selbst zu Fall bringt mit ihrer eigenen Politik“. (1)

Der Druck des Imperialismus war sicher ein Schlüssel, um Tsipras‘ Position immer unhaltbarer zu machen und führte ihn zur Ansetzung der Volksabstimmung am 5. Juli. Es gab jedoch noch einen weiteren Grund: der Druck der eigenen sozialen Basis und besonders aus Syriza selbst.

Syriza an der Regierung

In den vergangenen Monaten gab es keine Massenmobilisierungen in Griechenland. Im Vergleich zum Vorjahr gab es weniger Kämpfe in den Betrieben, den Bildungsstätten und auf den Straßen. Das kam nicht überraschend. Nach Jahren von Massenkämpfen, einer Reihe von eintägigen Generalstreiks und einer ausgedehnten vorrevolutionären Situation erkannten die ArbeiterInnen, dass die Imperialisten und die bürgerlichen Regierungen von Nea Demokratia und Pasok nicht nur durch ökonomischen und sozialen Kampf gestoppt werden konnten. Ein allgemeiner politischer Angriff war vonnöten. Da die Generalstreiks auf eintägige Aktionen begrenzt waren, schien dieser Weg, die Machtfrage durch einen unbefristeten Generalstreik zu stellen, ebenfalls verbaut.

Die ArbeiterInnen wandten sich nun Syriza zu als einziger Waffe, um Samaras, Venizelos und die Austerität mittels Wahlen zu besiegen. Sie war die einzige Partei der Linken, die eine Regierungsalternative bot und die Machtfrage hier und jetzt zu stellen schien. So brachten sie „ihre” Partei an die Regierung. Die heftigen Attacken und Verleumdungen von Seiten der EU wurden von der alten politischen Elite und den reaktionärsten und konservativsten Teilen der griechischen Gesellschaft lebhaft begrüßt und inszeniert. Dies machte die ArbeiterInnen wachsam dafür, dass sie ihre Partei gegen äußere und innere Reaktion verteidigen mussten.

Andererseits machte die Syriza-Führung um Tsipras aber von Beginn an auch klar, dass sie nicht mit den imperialistischen Mächten hinter der EU und dem Euro, mit dem IWF oder insbesondere mit dem griechischen Kapitalismus und den entsprechenden staatlichen Einrichtungen brechen wollte. Dies zeigte sich bei der zügigen Koalitionsbildung mit der rechten erzreaktionären und rassistischen Partei ANEL. Die Syriza-Führer zogen eine Koalition mit dieser offen bürgerlichen Partei dem „Risiko” einer Minderheitsregierung vor, die sich auf die ArbeiterInnenklasse und die Unterstützung der Bevölkerung hätte verlassen müssen statt auf parlamentarische Kombinationen.

Die Parteiführung stimmte sogar der Wahl des Nea Demokratia-Mitglieds und früheren Innenministers Prokopis Pavlopoulos zum Präsidenten zu. Die Regierung beließ auch alte Figuren auf Schlüsselfunktionen, z.B. bei der Nationalbank und in der Staatsverwaltung. Der Militär- und Polizeiapparat wurde nicht angetastet, und der rechte Führer von ANEL, Panagiotis Kammenos, erhielt den Posten des Verteidigungsministers. All dies zeigt, wie weit die Syriza-Führung bereit war zu gehen, um Teile des griechischen Kapitals zu beschwichtigen. Sie demonstrierte im Februar 2015 ihren Willen, die Forderungen der Institutionen zu erfüllen. Sie überschritt laufend „rote Haltelinien” in den Verhandlungen mit EU, EZB und IWF im Juni.

Die Linke wird stärker

Die fortgesetzten Zugeständnisse durch die Syriza-Führer begannen, ihren gesellschaftlichen Rückhalt zu untergraben. Dies bedeutete nicht, dass sich die Bevölkerung in Massen von der Partei abwandte oder sich gar anderen politischen Parteien wie der KKE oder Antarsya zuwandte. Nein, der Druck von Syrizas sozialer Basis drückte sich in erster Linie durch wachsende Spannungen, zunehmende politische Debatten in den Parteigliederungen und durch den  gestiegenen Einfluss der Linken Plattform in der Partei selbst aus.

Tsipras, die Führung um ihn und der von Synaspismos übernommene Parteiapparat waren sich bewusst, dass der Regierungsantritt die Partei einer starken Belastungsprobe unterziehen würde. Daher hatten sie dem Parteivorsitzenden bereits ein hohes Maß an Unabhängigkeit gegenüber dem Zentralkomitee der Partei gesichert.

Der Syriza-Kongress im Juli 2013 änderte die Parteiverfassung. Bis dahin war der Parteivorsitzende gewählt worden und dem 200 Köpfe starken Zentralkomitee der Partei rechenschaftspflichtig und abwählbar. Tsipras und seine Verbündeten schlugen vor, dass der Kongress selbst den Führer wählen sollte und argumentierten, dies sei viel demokratischer, als solche Entscheidungen einem „kleinen Gremium” zu überlassen. Die Wahl des Vorsitzenden durch das Votum des ganzen Kongresses scheint zwar demokratischer zu sein, ist es in Wahrheit aber nicht, denn es macht ihn weniger verantwortlich gegenüber den Parteiorganen, die gewählt worden sind, um die Politik der Partei zu entwickeln und auszuführen und um die Führer zu kontrollieren. Die Führer können sich auf ein Mandat mit höherer Autorität, weil vom ganzen Kongress bestimmt, berufen, obwohl ihre Handlungen sich von denen entfernt haben können, die sie gewählt haben. Zudem ist der Vorsitzende bei Wahl durch das Zentralkomitee viel direkter mit den Leitungsgremien konfrontiert, so dass seine Rechenschaftspflicht ihnen gegenüber viel intensiver ist – und die Gremien wiederum eine viel direktere Verantwortung gegenüber der Basis haben.

Die populistische Demagogie wirkte jedoch, nicht zuletzt, weil der Parteiapparat dafür gesorgt hatte, dass mehr als 3.000 Delegierte teilnahmen, viele von ihnen frisch rekrutierte Kräfte ohne ausreichende Kenntnis über die anstehenden Fragen auf dem Kongress. Im Endeffekt hatte der Kongress eher den Charakter einer Versammlung als den einer politischen Konferenz. All dies trug nicht nur dazu bei, Tsipras zu einer Medienpersönlichkeit zu machen, sondern als einen Führer zu präsentieren, der über den Parteifraktionen und auch über den Leitungsorganen steht.

Auf dem Kongress startete Tsipras einen politischen Anschlag auf den linken Flügel der Organisation. Der Streit ging nicht nur um Statutenfragen. Im Lauf des Jahres 2013 hatte die Syriza-Führung auch einige ihrer Hauptlosungen verändert. „Kein Opfer für den Euro!“, also keine Zugeständnisse gegenüber der Troika, war nun kaum noch zu hören. „Für eine Regierung der Linken“ wurde ersetzt durch die Forderung nach einer „Anti-Austeritätsregierung“, was den Weg ebnete zu einer Koalition mit einer rechten Partei oder einer Abspaltung von Pasok.

Auf dem Kongress baute Tsipras auch seinen Mehrheitsflügel aus und organisierte ihn unter Einschluss sehr heterogener Kräfte. Die Mehrheit kam von Synaspismos und dessen Apparat, andere Teile aber auch als Repräsentanten von sozialen Bewegungen, darunter das Europäische Sozialforum in Griechenland, und sogar die maoistische KOE (Kommunistische Organisation Griechenlands).

Tsipras Hauptherausfordererin war die Linke Plattform, von der britischen Zeitschrift „The Economist“ blumig als „Die Wilden” tituliert. Wie die Parteiführung entstammten die meisten Führer der Plattform der Synaspismos-Richtung, wenn auch von dessen linkem Flügel und Gewerkschaftsfraktionen. Ihr prominentester Führer ist Panagiotis Lafazanis. Zur Linken Plattform gehört auch das „Rote Netzwerk“, eine Minderheit von „Trotzkisten”, am bekanntesten die DEA, die Internationale Arbeiterlinke. Sie unterhält geschwisterliche Verbindungen zur Internationalen Sozialistischen Organisation in den USA. Die Mehrheit der Linken Plattform besteht aus Linksreformisten, es sind keine marxistischen RevolutionärInnen, aber sie sahen sich selbst als Verteidiger einer „traditionelleren” Arbeiterpolitik und erkannten die Notwendigkeit, die Eigentumsfrage als zentral für linke Politik in Griechenland und anderswo in den Blickpunkt zu rücken.

Unter den einflussreichsten Theoretikern der Linken Plattform befinden sich Costas Lapavitsas, ein Professor für Wirtschaftslehre an der Schule für orientalische und afrikanische Studien in London sowie Stathis Kouvelakis, ein Dozent für politische Theorie und Philosophie am King’s College in London. Lapavitsas wurde im Februar als Abgeordneter für Syriza ins Parlament gewählt. Kouvelakis ist Mitglied im Zentralkomitee von Syriza. Diese akademischen marxistischen Theoretiker sind die Befürworter eines Ausstiegs Griechenlands nicht nur aus der Eurozone, sondern aus der EU selbst.

Auf dem Kongress konnte die Linke Plattform eine erhebliche Minderheit um sich scharen und brachte zwischen einem Viertel und einem Drittel in allen strittigen politischen Fragen auf ihre Seite. Die Plattform erreichte 60 Sitze im Zentralkomitee. Doch eine Schwäche wurde bis heute offenbar: sie akzeptierte die Rolle einer permanenten Opposition, statt den Kampf aufzunehmen und die klassenversöhnlerische Führung um Tsipras abzulösen. Die Linke Plattform will zwar offenbar einigen von Tsipras‘ politischen Maßnahmen entgegentreten, aber nicht offen seine führende Stellung angreifen.

Als die neue Regierung gebildet wurde, bekämpfte die Linke Plattform demzufolge nicht sofort die Koalition mit ANEL. Die meisten Parlamentsabgeordneten und führenden Mitglieder hatten keine wirklichen Einwände dagegen, sondern akzeptierten den „Vernunftgrund”, es hätte keine Alternative zu dieser Koalition gegeben. Für sie war dies letztlich keine entscheidende Frage. Gleichermaßen wählten sie Pavlopoulos mit zum Präsidenten. Politisch einflussreiche Unterstützer und Angehörige der Linken Plattform wie Costas Lapavitsas sahen die Koalition mit ANEL nicht als grundsätzlich schlechte Sache an, weil sie die „Unterstützung für Syriza unter den ärmeren Schichten der Gesellschaft festigte.“ (2). Nur Abgeordnete wie Gianna Gaitani, ein Parlamentsmitglied aus Thessaloniki und der DEA zuzurechnen, weigerten sich öffentlich, für ein Mitglied der Nea Demokratia zu stimmen.

Die Vereinbarung vom Februar

Nichtsdestoweniger erzeugte die Vereinbarung mit der Eurogruppe und die Kapitulation der griechischen Regierung eine tiefe Kluft. Ursprünglich hatte die Regierung geplant, die Vereinbarung zur Absegnung noch vor das Parlament zu bringen, ließ dann aber schnell diese Erwägung fallen. Die Syriza-Führung berief nur Treffen ihrer Parlamentsfraktion und des Zentralkomitees der Partei ein, nachdem die Vereinbarung geschlossen worden war.

Ende Februar gab es eine stürmische Sitzung der Parlamentsfraktion mit 149 Abgeordneten. Das Treffen dauerte etwa 12 Stunden und nach einer „indikativen” Abstimmung wurde die Vereinbarung bei 10 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen mehrheitlich angenommen. Unter den KritikerInnen befanden sich Kabinettsmitglieder wie Panagiotis Lafazadis von der Linken Plattform, der Minister für Wiederaufbau, Umwelt und Energie von Januar bis Juli war.

Am letzten Wochenende im März fand ein Treffen des Zentralkomitees von Syriza statt. Auf diesem war Tsipras nur knapp in der Lage, seine Position durchzubringen. VertreterInnen der Linken Plattform brachten ihre eigene Entschließung ein. Die lautete (in Auszügen):

„Wir drücken unsere Ablehnung des Abkommen aus und der Liste von Reformen, die mit der Eurogruppe vereinbart wurden. Beide Texte stellen einen nicht wünschenswerten Kompromiss für unser Land dar und sie bewegen sich in Richtungen und Orientierungen, die sich in ihren Kernpunkten von den programmatischen Verpflichtungen Syrizas wegbewegen oder diesen direkt entgegenstehen.

In der unmittelbaren Zukunft soll Syriza trotz des Abkommens mit der Eurogruppe die Initiative ergreifen zur kontinuierlichen und prioritäteren Umsetzung ihrer Verpflichtungen aus dem Regierungsprogramm.

Um diesen Weg zu beschreiten, müssen wir uns auf die Kämpfe der ArbeiterInnen und des Volkes stützen, zu ihrer Wiederbelebung und zur fortwährenden Ausdehnung der Unterstützung der Massen beitragen, um jeder zukünftigen Erpressung Widerstand leisten zu können und die Perspektive eines alternativen Plan vertreten zur vollständigen Umsetzung unserer radikalen Ziele.“ (3)

Zusätzlich forderte der Resolutionsentwurf, dass zukünftig Beschlüsse in Syriza zunächst in der Partei erörtert und von den Parteiorganen angenommen werden müssten.

Obgleich dieser Vorschlag nicht durchkam, erhielt er doch 68 Stimmen im Zentralkomitee (41%). 92 stimmten dagegen (55%) und 6 enthielten  sich (4%). Sowohl die VertreterInnen der Linken Plattform und  die AnhängerInnen der Maoisten, zuvor in der Kommunistischen Organisation Griechenlands (KOE) organisiert, die der MLPD in Deutschland nahe stehen, wie auch die AnhängerInnen des ehemaligen Leiters der politökonomischen Abteilung in Syriza, John Milos, stimmten für die Entschließung. Lange Zeit hatten diese beiden Strömungen die Führung von Tsipras gegen die Linke unterstützt.

Auch ein neuer Generalsekretär der Partei wurde auf dem Treffen gewählt. Tassos Koronakis erhielt 102 von 199 Stimmen. Der Kandidat der Linken Plattform, Alekos Kalyvis, vereinigte 64 Stimmen auf sich. Bei der Abstimmung über die Zusammensetzung des 11-köpfigen Politischen Sekretariats errang die Mehrheitsfraktion um Tsipras 6 Sitze, während die Linke Plattform 4 und die Maoisten einen Vertreter durchbringen konnten. All das zeigt, dass sich die Kräfte der Opposition in Syriza gestärkt und dass die wiederholten Zugeständnisse an den Imperialismus zum Anwachsen des linken Flügels beigetragen haben.

Der Streit spitzte sich im Mai und Juni  zu, als das ZK die Linie für die Verhandlungen mit der Troika diskutierte. Auf dem Treffen am 23./24. Mai konnte die Führung um Tsipras noch eine Mehrheit von 95 Stimmen für ihren Vorschlag und das Ziel eines „akzeptablen Kompromisses” erzielen; die Linke Plattform stellte allerdings ein alternatives Dokument zur Abstimmung und erhielt dafür 75 Zustimmungen.

Der Vorschlag der Linken Plattform

Die Entschließung der Linken Plattform schlug folgende Punkte vor:

„Die folgenden Maßnahmen müssen sofort umgesetzt werden:

– Die sofortige Verstaatlichung der Banken mit allen notwendigen Begleitmaßnahmen, um ihre Funktion entlang transparenter, produktiver, entwicklungsmäßiger und gesellschaftlicher Merkmale zu sichern.

– Die Errichtung von demokratischer Legalität und Transparenz über die herrschenden Medien, zusammen mit grundlegender Aufsicht über ihre Anleiheschulden.

– Die sofortige Beendigung aller Maßnahmen, die die in Skandale verwickelte Oligarchie des Landes schützen.

– Die Aussetzung der Privilegien, privilegierten Anpassungen und der Unangreifbarkeit der großen Wirtschaftsinteressen.

– Die erhebliche Besteuerung von Vermögen und Großbesitz so wie die Besteuerung von Spitzenverdienern und hohen Profiten von Konzernen.

– Die sofortige und volle Wiederinkraftsetzung sowie der Schutz und die praktische Anwendung von Arbeitsgesetzgebung und Rechten zur gewerkschaftlichen Organisierung.

Die Regierung muss entschieden der Propaganda der herrschenden Kreise entgegen treten, die die Bevölkerung mit dem Szenario erschreckt, wonach die Aufhebung des Schuldendienstes und eines endgültigen Austritts aus der Eurozone die totale Katastrophe über das Land bringen würde.

Die größte Katastrophe für das Land ist die Auferlegung eines neuen Memorandums in der einen oder anderen Weise und die Ausweitung der Anwendung von vergangenen Memoranden.

Diese Entwicklung muss mit allen Mitteln und nötigen Opfern vermieden werden

Jede alternative Lösung für eine fortschrittliche Politik gegen die Memoranden schließt an erster Stelle die Aufhebung der Schuldendienste ein. Ungeachtet aller zugehörigen Schwierigkeiten ist es jeder anderen Option vorzuziehen, denn es bietet dem Land Hoffnung und Aussichten.

Wenn die „Institutionen” ihre Politik der Erpressung in den folgenden Tagen fortsetzen, hat die Regierung die Pflicht, von diesem Zeitpunkt an zu erklären, dass sie die griechische Bevölkerung nicht ihrer Ersparnisse berauben, dass sie nicht zur nächsten IWF-Zahlung übergehen will und dass sie beabsichtigt, alternative Lösungen für den Kurs des Landes auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und strategischer Ebene vorzubringen, die die Anwendung ihres Programms sichern soll.“ (4)

Dies gibt eine Vorstellung vom politischen Programm der Linken Plattform. Es stellt eine klare linke Herausforderung an Tsipras und die Regierung dar und hat wichtige Sofortmaßnahmen zum Inhalt, die RevolutionärInnen unterstützen und wofür sie mobilisieren sollten. Es erkennt offen den Fehler der vergangenen Regierungen und von Syrizas Strategie. Ein „ehrenhaftes Abkommen” mit der Troika konnte bestenfalls ein modifiziertes Austeritätsprogramm bedeuten, und Tsipras‘ Hoffnung, nach dem Referendum bessere Bedingungen zu erreichen, war pure Utopie. Es ermutigte vielmehr die andere Verhandlungsseite, eine noch härtere Linie zu fahren.

Zwar gehen die vorgeschlagenen Maßnahmen weit über jene der dominanten Fraktion in Syriza hinaus, doch sie beschränken sich auf ein Sofortprogramm, das im Rahmen des Kapitalismus verbleibt und keine einzige Übergangsforderung enthält, d.h. Maßnahmen, die entschlossen die Kontrolle des internationalen und einheimischen Kapitals über die griechische Wirtschaft angreifen und auf eine sozialistische Umwandlung der Gesellschaft orientieren. Trotz dieser Beschränkungen würde ein solches Programm sicher heftige Opposition und einen schrecklichen Kampf der Kapitalistenklasse an allen Fronten entfesseln, der sich z.B. in Sabotage, Nichtzahlung von Steuern und der Weigerung, Arbeitsgesetze anzuwenden, manifestiert.

Das würde unweigerlich die Frage stellen: Wie kann dieser Widerstand gebrochen werden? Wer sollte solche Forderungen durchsetzen wie „Sofortige Beendigung aller Maßnahmen zum Schutz der in Skandale verwickelten Oligarchie; die Aufhebung der Privilegien, privilegierter Anpassungen und Unangreifbarkeit für die großen Wirtschaftsinteressen; die grundlegende Besteuerung von Vermögen und Großbesitz wie auch die Besteuerung von SpitzenverdienerInnen und hoher Profite von Konzernen“?

Soll dem korrupten Staatsapparat zugetraut werden, diese Aufgabe zu erfüllen? Kann jemand ernsthaft glauben, dass diese Beamten, die mit tausend Fäden an die privilegierten Klassen gebunden sind, dies übernehmen?

Solche Frage stellen, heißt sie zu beantworten. Nur ArbeiterInnen im Privatsektor, in den Banken, in öffentlichen Einrichtungen, nicht den Bossen und ihren Managern kann dies anvertraut werden. Die einzig realistische Antwort wäre die Öffnung der Geschäftsunterlagen für die ArbeiterInnenkontrolle. Es würde bedeuten, dass in allen Betrieben die ArbeiterInnen und Gewerkschaften eine Bestandsaufnahme der erklärten und verheimlichten Ressourcen durchführen würden. Die ArbeiterInnenkontrolle wäre also der Schlüssel zur Verwirklichung eines solchen Programms.

Doch das Programm der Linken Plattform geht nicht über die Verstaatlichung der Banken hinaus. Was ist mit den Imperialisten und den griechischen Kapitalisten, die das Land ausgeplündert haben? Sollen sie ihre Beute behalten? Oder ist es nicht vielmehr zwingend, sie zu enteignen, wenn verhindert werden soll, dass sie weiterhin Vermögen außer Landes bringen und damit Entlassungen, Nichtzahlungen von Löhnen oder Investitionsboykotte heraufbeschwören? Ist es nicht notwendig, sie unter ArbeiterInnenkontrolle zu verstaatlichen und die Arbeit anhand eines Notplans neu zu gestalten entsprechend den Grundbedürfnissen der Massen?

All diese Maßnahmen würden auf die Notwendigkeit einer Regierung hindeuten, die nicht nur über die Politik von Tsipras hinausgeht, sondern auch die Ursache der gegenwärtigen Krise, den Kapitalismus, an der Wurzel packt.

Noch weniger beschäftigt sich das Programm der Linken mit der Frage des Staatsapparats. Es wirft nicht einmal die Frage auf, wie den Drohungen des Präsidenten und der griechischen Generäle zu begegnen ist, die einen Bruch mit der NATO nicht „erlauben” wollen.

Solchen Drohungen kann nur entgegengetreten werden, wenn sie zunächst offen angesprochen und nicht kommentarlos hingenommen werden. Zweitens würden sie von der Regierung Maßnahmen erfordern, die den alten bürokratischen Apparat aufbrechen, beseitigen und ihn durch Organe der ArbeiterInnenselbstorganisation ersetzen, mit Aktionsausschüssen und Kontrollkomitees, die sich zu Arbeiterräten entfalten können.

Es bedarf offenbar auch der Säuberung der Streitkräfte und Polizei von allen Offizieren, die eine Gefahr für die Regierung verkörpern. Noch wichtiger: die Polizei muss durch eine bewaffnete Miliz ersetzt werden und die Kommandokette der reaktionären Offiziere in der griechischen Armee und Einbindung der NATO und deren Militärberater muss mit Hilfe der Formation von Soldatenausschüssen und -räten durchbrochen werden. Die griechische Linke hat jedoch insgesamt keine Politik gegenüber den Streitkräften, abgesehen von hohlen Phrasen über „demokratische Kontrollen”.

Schließlich ist das Programm der Linken Plattform, obwohl es Bundesgenossen im Kampf in ganz Europa sucht, wesentlich nur ein Programm für den nationalen Wandel in Griechenland. Es sieht letztlich die Lösung des Problems in der Errichtung griechischer Unabhängigkeit, von der es glaubt, sie würde den Raum schaffen, um die griechische Wirtschaft wieder flott zu machen und die Lebensbedingungen für die Bevölkerung rasch im Rahmen eines reformierten griechischen Kapitalismus zu verbessern.

Ein solches Programm, ob es der Linken Plattform lieb ist oder nicht, wird letztlich auf dieselben Schwierigkeiten stoßen wie das Programm von Tsipras. Die Zielstellung, Griechenland auf Grundlage einer Marktökonomie, gleich ob inner- oder außerhalb der Eurozone, ob mit Drachme, dem Euro, einer „Mischung” oder sonst wie zu reformieren, ist eine Utopie. Der Sturz des Kapitalismus ist natürlich eine gewaltige Aufgabe, aber sich vorzustellen, Griechenland könne „transformiert” und „wiederbelebt” werden durch beschränkte Maßnahmen der Staatsreform, ist komplett illusorisch.

Die Linke in Syriza und viele der äußersten Linken außerhalb der Partei führen viele gute Argumente gegen die verräterische Strategie von Tsipras ins Feld. Sie verspotten zurecht die Idee, man könne die EU, die EZB, die deutsche und die südeuropäischen Regierungen gegeneinander ausspielen, um ein Programm von leichten sozialen Reformen zu erreichen. Doch dieselbe reformistische oder zentristische Linke ist ebenso weit von der Wirklichkeit entfernt, wenn sie eigene Alternativen vorlegen soll.

Wie wir oben schon gezeigt haben, verbleibt das Programm der Linken Plattform in Syriza vollends im reformistischen Rahmen. Zwar stellen sie korrekt heraus, dass jede Hoffnung  auf „ehrenvolle Abmachungen” Utopie ist und nur die griechische ArbeiterInnenbewegung schwächen und letztlich den Vorbereitungen für eine Offensive von rechts in die Karten spielen, aber die Linke Plattform und viele andere in der griechischen Linken wie z. B. Antarsya und ein Splitter von Syriza, Mars, sehen einen Austritt aus der Eurozone, wenn nicht gar aus der EU, als strategisches Ziel, als einen Schritt vorwärts.

Natürlich sollten RevolutionärInnen gegen die Opferung von Interessen der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Bevölkerung um einer Währung willen sein, aber sie sollten nicht freiwillig dem Druck von Schäuble und der EZB, der EU und des IWF nachgeben. Sie sollten vielmehr die europäische ArbeiterInnenklasse aufrufen, gegen die Herausdrängung Griechenlands aus der Eurozone mittels der Unterbindung von Finanztransaktionen oder die Inszenierung einer Bankenkrise aufzutreten. Doch innerhalb der Linken Plattform ist die Forderung nach einem „Grexit” immer lauter geworden.

Hieß die Lösung Grexit?

Der Grexit war auch die Linie von Wirtschaftswissenschaftlern wie Lapavitsas. Seit Jahren argumentierte er, Griechenland solle die Eurozone verlassen und seine eigene Währung wieder einführen. Diese Strategie zum EU-Austritt ist als „Plan B“ bekannt geworden. Seine These ist, Griechenland solle den EURO verlassen (aber nicht notwendigerweise die EU), vorzugsweise im Rahmen eines „kontrollierten“ Austritts, der mit den anderen EURO-Ländern ausgehandelt wird.

„Ich möchte klar sein – dies ist ein guter Treffpunkt dafür – und folgendes sagen: die gerade jetzt für Griechenland naheliegende Lösung, wenn ich es als Politökonom betrachte, die optimale Lösung, die wäre ein verhandelter Austritt. Nicht unbedingt ein umstrittener Austritt, sondern einer auf dem Verhandlungswege. Ich denke Griechenland hätte eine vernünftige Chance, ginge ich in die Verhandlungen und wäre vorbereitet, für ein einvernehmliches Ausscheiden einzutreten und es zu akzeptieren. Es könnte für eine begrenzte Zeit erfolgen, wenn das griechische Volk dies eher als angenehm akzeptierte.

Ausgehandeltes Verlassen – ein Abkommen dergestalt, dass die andere Seite der Verabredung ein tiefer Schuldenschnitt wäre, der Preis, den die Währungsunion anzunehmen hätte – eine 50%ige Schuldenabschreibung. Entscheidend ist, der Ausstieg würde in dem Sinn geschützt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) dafür Sorge trägt, dass die Abwertung der neuen Währung nicht mehr als 20% ausmacht und die Banken überleben.

Alle beiden Klauseln – Schutz des Wechselkurses und der Banken – kosten fast nichts. Es ist nicht so, dass die Währungsunion gebeten würde, Geld zuzuschießen oder bedeutende Kosten zu schultern. Für Griechenland würde es einen bedeutenden Unterschied machen, der die Währungsunion effektiv nichts kostet. Die einzige Belastung für sie wäre der Schuldenschnitt. In diesem Zusammenhang kann ich Gründe erkennen, warum die Währungsunion das akzeptieren würde, da es das griechische Problem beendete. Für mich ist das im Moment die beste Lösung, weil ich die Schwierigkeiten eines umstrittenen Ausscheidens sehen kann. Wenn es aber doch dazu kommt, ist das besser als, mit dem aktuellen Fahrplan fortzufahren.“ (5)

Lapavitsas kritisiert die Utopie der Syriza-Spitze, die eine „soziale“ Lösung für die Massen in Griechenland in einem Rahmen auszuhandeln glaubt, der von EU und deutschem Imperialismus gesetzt ist. Er selbst aber spekuliert darauf, dass die EU einschließlich Deutschland einem „kontrollierten“ Verlassen zustimmen und dabei eine Teilschuld erlassen würde. Wenn die Geschichte bereits bewiesen hat, dass Tsipras‘ Hoffnungen, die ImperialistInnen gegeneinander auszuspielen, vollständig illusorisch waren, wäre sie zu Lapavitsas eigener Hoffnung nicht weniger freundlich:

„Eine Restrukturierung wird umso leichter fallen, je weniger sie den Grenzen der Währungsunion unterliegt, viel, viel leichter! Der IWF weiß z.B., dass umgeschuldet werden muss. Die eigentliche Kraft, die die Umschuldung in Griechenland stoppt, ist die EU und die Währungsunion. So sollte dies leichter und machbarer fallen, wenn Griechenland auch austräte. Das ist das Allererste. Die Schulden können warten. Griechenland wird die Rückzahlungen säumen, die Ausstände können sitzen und warten.“ (6)

Richtig, der IWF kritisiert die Eurogruppe und besonders die BRD, weil sie sich weigern, die Frage der Untragbarkeit der griechischen Verbindlichkeiten anzugehen, d.h. einen unvermeidlichen größeren Erlass. Doch trotz allem unternahm Christine Lagarde nichts, Griechenland aus der Patsche zu helfen, sondern beteiligte sich an der hochnäsigen Quälerei der GriechInnen. Der IWF beharrte darauf, dass Umschuldung nur „leichter“ werde, falls Griechenland einem seiner berüchtigten „Strukturanpassungsprogramme“ zustimme, m.a.W., wenn es die Rente u.a. verbleibende „Privilegien“ der Armen kürze.

Im Lichte des finalen Duells in Brüssel von Anfang Juli ist es sogar noch unfassbarer, dass Lapavitsas Plan für eine Ausstiegsübereinkunft auf Deutschland und Schäubles auf 5 Jahre befristeten „zeitweiligen“ Grexit-Vorschlag baut.

„Es wird gesagt, wenigstens behaupten das griechische MinisterInnen, dass Schäuble schon 2011 den GriechInnen ein unterstütztes Ausscheiden angeboten habe. Ich kann von der Perspektive deutscher Machtstruktur her sehen, warum sie von dieser Idee verlockt sein mochten, und ich kann sie als Ziel sehen, das für eine linke griechische Regierung anzustreben wert wäre, aus offensichtlichen Gründen.“ (7)

Tatsächlich war das kein Angebot, sondern eine Drohung, dieselbe, die ein Kopf-unter-Wasser-Tauchen (in den Worten von EU-Offiziellen) verkörperte, das Tsipras zur vollständigen Aufgabe zwang. Er merkte, dass Grexit nicht mit großzügiger Schuldenerleichterung, einer Rettung für die griechischen Banken und langsamem Übergang zu einer neuen Drachme einherging, sondern mit einem brutalen Kappen aller Versorgung.

Nach 5 Monaten Kapitalflucht hätten sich nur extreme Maßnahmen gegen das Kapital zusammen mit der Unterstützung durch die europäische ArbeiterInnenbe-wegung gegen den Zusammenbruch stemmen können – doch niemand innerhalb der Linksplattform zog diese auch nur in Erwägung. Doch Lapavitsas fährt zu versichern fort, Plan B sei eine lebensfähige Alternative – nicht als Kriegserklärung an das Europa des Kapitals, sondern als Verhandlungstrick.

Er gelangt zu einer solch widersprüchlichen Position, weil sein Ausgangspunkt, wie bei der Mehrheit der Linken Plattform, der ist, die sozialistische Revolution und die Bildung einer ArbeiterInnenregierung, die die kapitalistischen Eigentumsver-hältnisse grundlegend in Frage stellt, heutzutage in Griechenland einfach nicht möglich sei, die Zeit sei nicht reif dafür. Deshalb befürwortet er Keynesianismus als Zwischenlösung.

Hiermit bringt er ein Grunddilemma der LinksreformistInnen in Syriza zum Ausdruck. Sie glauben, die Zeit sei noch nicht angebrochen, die Perspektive von ArbeiterInnenmacht und sozialistischer Umwälzung zu stellen. Was ihnen einzig übrig bleibt, ist ein „unabhängiger“, staatlich regulierter Kapitalismus, der eine alternative Entwicklungsstrategie für Griechenland verfolgt. Das beinhaltet Direktinvestitionen, Reindustrialisierung und die Vorteile, die eine abgewertete griechische Währung den Weltmarktexporten des Landes verliehe. Darum kommt in den Debatten innerhalb der griechischen Linken stets das EURO-Thema auf, weil es ein Symbol für die Frage einer unabhängigen nationalen Entwicklung ist.

Lapavitsas behauptet, es sei kein Programm für Autarkie, dass Griechenland den Zugang zu internationalen Märkten, besonders in der EU, aufrechterhalten und internationalen Technologietransfer für seine Entwicklungsprojekte anstreben müsse. In seinem Artikel „Krise in der Eurozone: bettle dich selbst und den Nachbarn an“ merkt er sogar an: „Es existieren keine Garantien, dass solche Flüsse entstehen werden, v.a. weil die etablierte Ordnung in Europa einem radikalen Wandel gegenüber feindlich gesinnt wäre.“ (8) 5 Jahre später haben die europäischen Institutionen ein handgreifliches Bild abgeliefert, was sie mit kleinen Ländern in der Eurozone anstellen, geschweige einem außerhalb der Euro-Zone. Er mag Autarkie nicht wünschen, aber die wird Griechenland bekommen.

Die ganze Strategie ist überaus utopisch, undurchführbar unter Bedingungen friedlichen Übergangs zu keynesianischem Wachstum, wie es sich Syrizas „marxistische“ Volkswirtschaftler einbilden. Würde es versucht, hätte es für die griechische ArbeiterInnenklasse reaktionäre Folgen. Eine außer Kontrolle geratene Inflation der neuen Währung würde zum Einbrechen der Reallöhne führen, lange bevor griechische Exporte oder zusätzlicher Tourismus die Wirtschaft stabilisieren könnten. Folglich würden bald viele weitere Arbeitsplätze verschwinden wegen erlahmender Wirtschaftsbeziehungen zum Rest der EU und lebenswichtige Importe aus Europa abnehmen als Ergebnis fehlender harter Münze, mit der sie bezahlt werden könnten.

Auch für die ArbeiterInnenklasse Europas wäre das Ergebnis ein Rückschritt. Es würde als lebendiger „Beweis“ hochgehalten, dass es zu Sparpaketen „keine Alternative gibt“, die nicht noch viel schlimmer wäre. Zusätzlich würde ein Wirtschaftskollaps in Griechenland wahrscheinlich zu einer Macht-Übernahme durch die Rechte führen, ja selbst zu einem Militärputsch oder dem Aufstieg des Faschismus als ernsthafter Rivale um die Macht. Plan B versagt strategisch, die ArbeiterInnenklasse auf den Umgang damit vorzubereiten außer als Hilfstruppe für die sozialen Bewegungen.

Wie alle Utopien vergisst diese Perspektive und Strategie das Proletariat und seinen Klassenkampf oder beschränkt es auf eine Statistenrolle. Dabei sollten sie für echte MarxistInnen zentral sein. Die Überwindung der Krise und verheerende Zerstörung der griechischen Ökonomie gebietet die Ausübung von ArbeiterInnen-macht in Gesellschaft und Wirtschaft, die in einer ArbeiterInnenregierung gipfelt, welche Notmaßnahmen unter ArbeiterInnenkontrolle umsetzt und sich das Ziel einer sozialistischen Umgestaltung mit der Perspektive der Vereinigten sozialistischen Staaten von Europa setzt. Kurz, Griechenlands Situation ist objektiv revolutionär. Es fehlt das notwendige Instrument, sie zum Ziel zu führen: eine revolutionäre Partei.

Schlussfolgerungen

Seit Syrizas Kapitulation im Juli haben einige in der europäischen Linken die Ereignisse in Brüssel als „griechische Tragödie“ beschrieben mit dem Hinweis, sie stellten ein unabwendbares Schicksal dar. Andere machen geltend, Plan B – der Grexit – hätte versucht werden sollen. Wie wir sahen, war das ein Rohrkrepierer, nicht zuletzt, weil Syriza aller Wahrscheinlichkeit nach niemals auf dieser Grundlage gewählt worden wäre. Weil jedoch beide Strategien zutiefst reformistisch waren, durchkreuzten sie einander: die direkte Aktion seitens der griechischen ArbeiterInnenklasse für die Übernahme der Kontrolle über die griechische Volkswirtschaft, die Aberkennung der Schulden und Konzentration auf die Gewinnung von Lohnabhängigen in ganz Europa für Solidaritätsaktionen.

Was wirklich eine Tragödie für die griechische arbeitende Klasse darstellt, ist, dass sie inner- oder außerhalb Syrizas keine alternative Führung besaß, die mit einem wirklichen Plan B bewaffnet war und offen und kühn dafür unter den LohnempfängerInnen und der Jugend geworben hätte. Vorausgesetzt, eine solche Alternative wäre stark genug und gut verankert unter den Militanten der Parteien und Gewerkschaften, wäre es möglich gewesen, dass diese sich im kritischen Moment von Tsipras‘ Verrat ihr zugewandt hätten. Wenn all jene AktivistInnen der verschiedenen revolutionären Gruppen inner- oder außerhalb Syrizas eine solche Kraft verkörpert hätten, hätte das eine reale Möglichkeit dargestellt.

Ein solcher Plan B hätte ein Aktionsprogramm zur Rettung des Landes vor dem Verderben sein müssen, das sich auf die Schaffung einer ArbeiterInnenregierung zuspitzt, auf Maßregeln konzentriert wie ArbeiterInnenkontrolle über Banken, Industrie und Transportwesen, Annullierung der Schulden, Außenhandelsmonopol, Verstaatlichung der großen Firmen in Industrie und Handel und eine ArbeiterInnenmiliz. Diese Maßnahmen würden von einfachen ArbeiterInnen selbst umgesetzt werden müssen, nicht von bürgerlichen StaatsbeamtInnen.

Doch der Plan B der Linksplattform war, wie wir gesehen haben, sehr weit entfernt davon, ein solches Programm zu verkörpern. Ein ausgehandelter Grexit war so unbrauchbar, wie die Chefs der Eurozone zu überreden, Griechenlands Schulden zu mildern oder zu erlassen. Mehr noch, die reformistische Linke wusste das und unternahm wenig bis gar nichts, Tsipras‘ zeitraubende Verhandlungen zu stören oder in der ArbeiterInnenschaft dafür zu agitieren, die Kontrolle über die Dinge in die Hand zu nehmen durch Aufhalten der Sabotage seitens der griechischen herrschenden Klasse, die ihr Geld während dieser ganzen Periode aus dem Land abzog.

Als das griechische Parlament erstmals am 11. Juli darüber abstimmte, ob ein verschärftes Austeritätsabkommen akzeptiert werden sollte, wagten nur 2 Abgeordnete der Linken Plattform, mit „Nein“ zu stimmen; weitere 8 enthielten sich. Ihre Ausrede bestand darin, dass sie fürchteten, die Regierung zu stürzen. Nur am 26. Juli, als das neue Memorandum dem Parlament vorgelegt wurde und klar war, dass die rechten Parteien dafür stimmen und nicht Tsipras zu Fall zu bringen versuchen würden, rafften sich 39 Abgeordnete der Linksplattform zu einer Gegenstimme auf.

Das zeigte, dass sie wie typische ReformistInnen nur auf parlamentarische Manöver fixiert waren und nicht wie Volkstribune handelten, welche die Massen zum Widerstand aufrufen. Sie betrachteten weiter eine Syriza-Regierung, selbst wenn sie die Bedingungen der Eurogruppe durchpeitschte, als eine Art Schutz für die griechischen Lohnabhängigen. Kurz, obwohl RevolutionärInnen in Syriza die Forderung der Linken Plattform nach einer Tagung des Zentralkomitees, ja einer Parteikonferenz, unterstützen sollten, um Tsipras und Co. vor der Parteimitgliedschaft zur Rechenschaft zu rufen, sollte es ihre vorrangige Pflicht sein, zur Gegenwehr gegen die Regierung und ihre Taten in den Fabriken, den Gemeinden, auf den Straßen zu mobilisieren.

Das Versagen oder die Unfähigkeit der Linken inner- und außerhalb Syrizas, demokratische Aktionsräte aufzubauen, bedeutete, dass zwischen der Wahl und der Volksabstimmung keine Gegenmacht zur Syriza-ANEL-Koalition existierte. Die Regierung blieb im Grunde eine bürgerliche und keine ArbeiterInnenregierung, die nötig gewesen wäre. Sie stand unter dem Druck der Eurogruppe und der griechischen Kapitalisten, nicht unter Kontrolle der arbeitenden Klasse. Der Mangel an solchen Räten während der Woche des Verrats und umso mehr jetzt, wo Widerstand gegen Tsipras‘ Regierungsdekrete so entscheidend ist, war und bleibt das Haupthindernis für ein Zurückschlagen.

Der gebieterische Zwang, dies in Agitation und Propaganda zu erklären und alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, ArbeiterInnenschaft und Jugend dafür zu gewinnen, macht eine Partei notwendig, die zuerst und v.a. den Klassenkampf führt, nicht um Wahlen zu gewinnen oder Sozialarbeit zu betreiben. Einfach auf Syrizas Versagen zu warten, entweder als Daueropposition innerhalb der Partei oder außerhalb in Antarsya, war keine Politik, die den Namen Bolschewismus oder Leninismus verdient.

Die Arbeit innerhalb Syrizas, unter ihren Mitgliedern und mehr noch ihrem Massenanhang, war nach unserer Meinung seit mindestens 2012 korrekt. Dies bedeutete jedoch nicht, für einen Moment vorzugaukeln, Syriza sei überhaupt ein taugliches Instrument, sowohl von der Struktur wie vom Programm. Es hieß, gegen Tsipras‘ Direktwahl als Parteichef, gegen die Koalition mit ANEL, gegen die Kapitulationen vom Februar wie vom Juli einzutreten.

Ein Aktionsprogramm musste entworfen werden, das Maßnahmen beinhaltet gegen Armut und Sozialraub und sich nicht scheut, Kapitalismus und Privateigentum anzugreifen.

Viele Argumente über solche strategischen und taktischen Fragen werden in Griechenland ausgetauscht. Die internationale Linke muss sie verfolgen und sich daran beteiligen. Jene, die sagen, es sei nicht unser Recht bzw. unsere Pflicht, unsere Ansichten bekannt zu machen, legen Hand an die Wurzeln des Internationalismus. Internationalismus darf nicht einfach heißen, unkritische Solidarität mit einer existierenden Führung zu proklamieren. Auf alle Fälle muss unsere Solidarität denen gelten, die gegen die Umsetzung der brutalen Maßregeln der Eurogruppe ankämpfen und nicht jenen, die sie ausführen.

Natürlich muss uns bewusst sein, dass aus der Ferne unser Verständnis der konkreten Umstände in gewisser Hinsicht lückenhaft sein mag. Das heißt, sich auf ernsthaftes Studium und Diskussionen mit revolutionären Kräften in Griechenland und ihr Fazit der Ereignisse einzulassen einschließlich dessen, was sie in kritischen Momenten getan haben. In einem zukünftigen Artikel werden wir Schrift, Wort und Praxis derjenigen unter die Lupe nehmen, die sich als RevolutionärInnen in Griechenland bezeichnen, innerhalb wie außerhalb Syrizas.

Während der Krise vom Juni/Juli haben sich zunehmend Leute gegen die Spitze um Tsipras gewandt und dies hat sich in der Folge fortgesetzt. Wir glauben, das zeigt, dass RevolutionärInnen als organisierte revolutionäre Fraktion in der Partei hätten intervenieren sollen. Das Ziel sollte nicht die illusionäre Gewinnung der reformistischen Vorstände und des Parteiapparates sein, sondern die Stärkung der Basis, um für die Kontrolle über die Partei zu kämpfen wie für die Ersetzung der Führung.

Das Ziel sollte in der schnellstmöglichen Vorbereitung für den Aufbau einer revolutionären Partei bestehen, zusammen mit RevolutionärInnen in Antarsya u.a., die keine passiven SektiererInnen sind. Dann gibt es eine reale Perspektive zum Verrat des Reformismus und zur Unfähigkeit der Linksplattform, eine kämpfende Alternative zu ihm zu bilden. Statt Demoralisierung und Auflösung, gäbe es eine politische Erneuerung. Das kann neuen Widerstand und die Schaffung einer Massenbewegung befördern, die nicht nur gegen Austerität auftritt, sondern antikapitalistisch und revolutionär ist.

Endnoten

(1) http://greece.greekreporter.com/2015/07/21/varoufakis-reveals-pegged-currency-plan-for-greece-admits-mistakes/#sthash.15Echo10.dpuf)

(2) Costas Lapavitsas, Greece: Phase Two, Interview von Sebastian Budgen mit Costas Lapavitsas, http://www.jacobinmag.com/2015/03/lapavitsas-varoufakis-grexit-syriza/

(3) Zitiert nach: Suchanek, Die Linke in Syriza: Schlüsselfaktor der weiteren Entwicklung, Neue Internationale 198, S. 4

(4) Stathis Kouvelakis, Eine Bemerkung an Syrizas Zentralkomitee und der Text, wie er von der Linken Plattform vorgelegt worden ist.

http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article4052

(5) Costas Lapavistsas, Greece: Phase Two, https://www.jacobinmag.com/2105/03/lapavitsas-varoufakis-grexit-syriza/)

(6) Ebenda

(7) Ebenda

(8) Costas Lapavistsas, „Krise in der Eurozone: bettle dich selbst und den Nachbarn an“ (2010) (http://www.eprints.uwe.ac.uk/23045/1/fullreport.pdf) (http://eprints.uwe.ac.uk/23045/1/fullreport.pdf)




Krise der NaO: Revolutionäre Einheit oder plurale Beliebigkeit?

Martin Suchanek, Neue Internationale 201, Juli/August 2015, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Die Krise des NaO-Prozesses ist offensichtlich. Wenn es auch sonst wenig Einigkeit geben mag – dass der Prozess schon länger in der Krise ist, darüber gibt es wohl wenig Dissens.

Damit ist es mit der Einigkeit auch vorbei. Trotz beachtlicher politischer Initiativen ist der Prozess an einem Scheideweg angelangt. Ende 2013 war die NaO durch die Verabschiedung eines Gründungs-Manifests und im Februar 2014 durch die Gründung der Berliner NaO als Ortsgruppe von einer Aufbruchstimmung geprägt.

In Berlin und auch bundesweit erlangte die NaO eine gewisse Ausstrahlungskraft. Sie wuchs nicht nur in Berlin und einzelnen Städten, sie konnte auch über ihre formelle Größe hinaus andere Strömungen in Diskussion ziehen oder wurde von diesen als Referenzpunkt betrachtet – und sei es durch die Notwendigkeit der Abgrenzung.

Die positiven Seiten zeigten sich in der Annahme eines vorläufigen Manifests und der darin enthaltenen Verpflichtung, auf eine revolutionäre Vereinigung hinzuarbeiten. Der strömungsübergreifende Charakter der NaO wurde nicht als Ziel an sich, sondern als Mittel zur Schaffung einer größeren, schlagkräftigeren revolutionären, anti-kapitalistischen Organisation betrachtet.

So heißt es im NaO-Manifest: “Dieses Manifest stellt die Grundlage für das Handeln der NAO, die Basis für unseren Aufbau dar. Es ist jedoch noch weit davon entfernt, ein Programm einer revolutionären Organisation darzustellen, in der die politischen Differenzen der jeweiligen Strömungen überwunden wären. Die Erfahrungen der antikapitalistischen Organisationen in anderen Ländern haben gezeigt, dass Differenzen nicht totgeschwiegen oder hinter Formelkompromissen versteckt werden dürfen. Gerade in einer Umbruchperiode werden Anti-KapitalistInnen rasch vor politische und programmatische Fragen gestellt, die in Zeiten längerfristig relativ stabiler Entwicklung in weiter Ferne schienen.

Eine Aufgabe der NAO wird sein, an der Diskussion und Überwindung dieser Differenzen und an der Ausarbeitung eines Aktionsprogramms zu arbeiten. Für uns steht diese Arbeit nicht im Gegensatz zur gemeinsamen Praxis und zum Aufbau – vielmehr sollen und können diese einander wechselseitig befruchten.“ (Manifest für eine Neue antikapitalistische Organisation, www.nao-prozess.de)

Erfolge

Auf die Gründung der NaO erfolgten unserer Meinung nach wichtige politische und praktische Initiativen und Fortschritte.

  • Die NaO nahm mehrere revolutionäre Stellungnahmen zur Ukraine, zum Kampf gegen das Kiewer Regime, zum Massaker in Odessa und zur Unterstützung des anti-faschistischen und sozialen Widerstands an. Sie initiierte und organisierte Veranstaltungen mit Genossen von Borotba und Demonstrationen gegen die Ukraine-Politik der Bundesregierung und der westlichen Imperialisten.
  • Sie unterstützte den Kampf gegen die rassistische Politik des zionistischen Staates und die Soli-Demos im Sommer 2014 sowie Solidaritätsdemonstrationen und -aktionen zum Nakba-Tag in Berlin und Stuttgart.
  • Am revolutionären Ersten Mai in Berlin trat die NaO als eine zentrale Kraft hervor. Wir prägten 2014 und 2015 die Demonstrationen entscheidend mit und schafften es auch, ihren Bezug zum internationalen Klassenkampf gegen Krise und Krieg ins Zentrum der Mobilisierung zu rücken.
  • Gruppen aus der NaO waren im Refugee-Schulstreik sehr aktiv wie auch im Kampf gegen die rassistischen Ableger der Pegida.
  • Wir initiierten die Kampagne „Waffen für die YPG/YPJ! Solidarität mit Rojava!“, waren bei zahlreichen Mobilisierungen aktiv und entwickelten zugleich unsere Position zum Kampf um nationale Befreiung und zur Rolle der PYD/PKK in Kurdistan.
  • Zu Griechenland war die NaO nicht nur an Solidaritätsaktivitäten beteiligt. Wir entwickelten auch eine Position, die eine sozialistische Perspektive für Griechenland vertritt, sich gegen den deutschen und internationalen Imperialismus, aber auch gegen die politische Ausrichtung der Syriza/Anel-Regierung wendet, den Bruch mit der rassistischen Anel fordert und für eine ArbeiterInnenregierung eintritt.
  • Die NaO organisierte regelmäßig Veranstaltungen, tw. mit hunderten TeilnehmerInnen, und sehr erfolgreiche „Internationalismustage“ im Herbst 2014.

Ursachen der Krise

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Wichtig ist es jedoch zu sehen, worin die Ursachen für die aktuelle Krise der NaO liegen.

Sie erklärt sich z.T. aus der geringen Dynamik des Klassenkampfs in Deutschland, die es  erschwert, eine neue anti-kapitalistische revolutionäre Organisation zu schaffen, zumal der größte Teil der „radikalen Linken“ politisch nach rechts ging. Nicht nur die Linkspartei steht dafür, sondern auch ein großer Teil des „postautonomen Spektrums“.

Die politischen Schritte vorwärts, v.a. die Positionen zur Ukraine und  zu Griechenland, rückten auch die Differenzen in der NaO in den Vordergrund. Von Beginn an standen der RSB (aber auch die ISL, also beide Sektionen der sog. „Vierten Internationale“) dem Aufbau einer aktiven Mitgliederorganisation und der verbindlichen Teilnahme der Mitglieder der NaO-Gruppen an deren vereinbarten Aktivitäten, vorsichtig ausgedrückt, skeptisch gegenüber.

Die Bildung der NaO Berlin bedeutete aber auch, dass eine Ortsgruppe und eine Koordinierung geschaffen wurden, die nur aufgebaut werden können, wenn sich die NaO zu wichtigen politischen Fragen laufend positioniert. Nur so kann sie gemeinsame Handlungsfähigkeit erzielen und zugleich auch einen Schritt zur Überwindung politischer Differenzen und Herstellung von Gemeinsamkeiten leisten.

Dieser Prozess ist unvermeidlich immer auch mit der Möglichkeit des Gegenteils – der Verfestigung von Differenzen und des Bruchs – verbunden. Es gibt zu ihm aber keine realistische Alternative, es sei denn, man betrachtet Inaktivität und Schweigen als solche.

Daher entwickelten sich die Berliner NaO und deren Koordinierung praktisch bundesweit zur maßgeblichen Gruppierung. Andere Ortsgruppen folgten entweder deren politischen Initiativen oder verhielten sich mehr oder minder passiv.

In jedem Fall spitzen sich die Konflikte in der NaO massiv zu. In der Frage der Ukraine oder Griechenlands, der Haltung zum Maidan oder zum Widerstand gegen das Kiewer Regime, zur Anel-Koalition und zur Frage der ArbeiterInnenregierung in Griechenland vertreten die GenossInnen von Arbeitermacht und Revolution einen klaren, proletarischen Klassenstandpunkt – ISL/RSB, wie die ganze „Vierte Internationale“, jedoch nicht.

Hier handelt es sich nicht um „Stilfragen“ oder Fragen von mehr oder weniger Rücksichtnahme, sondern um grundlegende Klassenpositionen, wo es auch keinen Spielraum für Kompromisse geben kann. Da die NaO-Mehrheit in den grundlegenden politischen Fragen eine linke Position einnahm, stimmen ISL und RSB beim NaO-Aufbau mit den Füßen ab. Statt eine Auseinandersetzung zu suchen, wichen sie den politischen Fragen aus.

Die Krise der NaO liege ihrer Meinung nach nicht in den grundlegenden Differenzen, wo sich die NaO eben für diese oder jene Richtung entscheiden muss, sondern in der „Dominanz“ der GAM und von REVOLUTION, in deren „Stil“.

Ginge es nur darum, wären die Probleme der NaO leicht zu lösen. In Wirklichkeit ist damit eine weitere, grundlegende Differenz verbunden, die wir nicht nur zu ISL/RSB, sondern auch zu den GenossInnen der ARAB und etlichen aus der ehemaligen SIB in der NaO haben. Es geht darum, worin eigentlich das Ziel des Prozesses besteht, was aus der NaO schließlich werden soll?

Ziel und grundlegende Fragen der Umgruppierung

Für uns war immer klar (und wir haben das immer klar formuliert): Die NaO ist ein Mittel zum Zweck beim Aufbau einer größeren revolutionären Organisation auf Basis eines revolutionären Programms.

Programm und Aktivität sind dabei für uns nicht entgegengesetzt, sondern ergänzen sich. Letztlich muss aber die NAO ihren Wert darin behaupten, ob sie eine richtige politische Orientierung liefern kann und mit dieser auch auf andere Milieus, Gruppen, Umgruppierungsprojekte einwirkt und so eine breitere Umgruppierung voranbringt.

Der rechte Flügel der NaO sieht das anders. Er hat sich vor kurzem als Strömung „NaO Wolken“ formiert, praktisch eine Anti-GAM/REVO-Fraktion.

Die politische Grundlage der „Wolken“ ist rein negativ. Bei allen Unterschieden wollen sie keine politisch ausgewiesene, genuin revolutionäre Organisation. Die meisten von ihnen wollen weniger „Aktivismus“, also eine weitere Reduktion des öffentlichen Profils der NaO. Und sie wollen gar keinen ernsthaften Versuch der Überwindung politischer Differenzen. Statt dessen beschwören sie den „politischen Kompromiss, die Suche nach Konsens“. Man müsse das „Gemeinsame“ vor das „Trennende“ stellen.

Diese Formeln erwiesen sich anhand jeder wichtigen aktuellen politischen Frage als leer, als vollkommen unzureichend. Jede politische Organisation braucht zu grundlegenden Fragen wie zu Kernfragen des Klassenkampfes eine einheitliche Position. Der Versuch, in einer tiefen Krisenperiode diese Fragen durch „Formelkompromisse“ oder durch die Beschränkung auf einige Aktionslosungen zu lösen, bedeutet unvermeidlich, dass eine solche Organisation den an sie objektiv gestellten Anforderungen nicht gerecht werden und auch keine revolutionäre, anti-kapitalistische Alternative zum Reformismus entwickeln kann.

Das verweist auf die Kerndifferenz mit den NaO Wolken. Sie wollen eine „plurale“, breite, antikapitalistische Organisation, die kein revolutionäres Programm hat und das auch gar nicht anstreben soll. Die politische Vereinheitlichung eines Umgruppierungsprozesses, dessen Bestandteile aus unterschiedlichen Traditionen und Strömungen kommen, halten sie für unmöglich. Programmatische Klarheit würde zur Verengung führen.

Das Gegenteil ist richtig. Der Verzicht auf politische Klärung führt inhaltlich unwillkürlich zur Anpassung an den Reformismus, allenfalls zu einer schwankenden zentristischen Politik, die im „extremsten“ Fall ultra-linke Abenteuer mit biederer Routine verbinden mag. Eine solche Ausrichtung würde unwillkürlich zum Scheitern der NaO führen und den Bruch mit der im Manifest der NaO enthaltenen Idee bedeuten, eine revolutionäre Organisation auf Basis eines gemeinsamen Aktionsprogramms zu schaffen.

Dieser Weg mag, ja wird über eine ganze Reihe von Vermittlungsschritten führen – sein Ziel erreichen kann er nur, wenn er aktive politische Außenorientierung mit programmatischer Klärung verbindet.




Die Ukraine und RIOs Unverständnis revolutionärer Politik

Franz Ickstatt, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Nicht dass alle schriftlichen Ergüsse linker Gruppierungen über die Lage in der Ukraine von hoher Bedeutung wären. Die große Schande des Großteils der deutschen, ja der weltweiten Linken bleibt die faktische politische Unterordnung unter den westlichen Imperialismus, vorzugsweise ihren „eigenen“. Ergänzt wird dies durch die neutralistische Position eines weiteren großen Teils der Linken, dessen Passivität letztlich auch den Imperialisten dient.

Zu solchen Neutralisten gehört zum Beispiel die MLPD, die u.a. den „Abzug aller fremden Panzer“ fordert, was nur als Entwaffnung des legitimen Widerstandes im Osten gegen den Krieg der Kiewer Regierung interpretiert werden kann. Auch sonst verweigert die MLPD die Solidarität mit der Bewegung in der Ostukraine, ruft aber zu Solidarität mit „den Linken“ in der Ukraine auf. Konkret meint sie damit die KSDR, ein Mitglied ihrer internationalen Strömung ICOR. Unter AktivistInnen aus dem Land ist diese Gruppe allerdings völlig unbekannt, dem Rest der Welt sowieso. Sie führt ein politisches Leben nur auf den Seiten der MLPD und des ICOR. Es gibt von dieser Gruppe keinerlei Veröffentlichungen, lediglich ein einziges Interview in der Roten Fahne. Die Solidarität der MLPD beläuft sich in der Praxis darauf, ihr eigenes potemkinsches Dörfchen in der Ukraine zu basteln.

Which side are you on?

Würde die MLPD in der Praxis auf der richtigen Seite stehen – wie es die DKP tut, trotz falscher Begründung (1) – könnte dies zumindest in Deutschland zu einer erheblich besseren Mobilisierung gegen die Politik des deutschen Imperialismus beitragen. So bleibt der Hauptfeind im eigenen Land von der MLPD in dieser Frage unbehelligt.

Gleiches gilt auch für RIO. Diese Gruppe könnte zwar zahlenmäßig deutlich weniger zu einer Mobilisierung beitragen als die MLPD, aber sie hat zum Thema mehr – wenn auch mehr in sich Widersprüchliches – verfasst. Im Aufruf der internationalen Strömung der MLPD, der ICOR, wird der Konflikt in der Ukraine als „Stellvertreterkrieg“ bezeichnet, werden die gegenläufigen Interessen der russischen und westlichen Imperialisten benannt und wird dann zur Ostukraine selbst nur gesagt: „Wenn auch die NATO der Hauptaggressor ist, heißt das nicht, dass sich revolutionäre Organisationen auf die Seite des russischen Imperialismus stellen oder die Gebiete Donezk und Lugansk als ‚befreite Gebiete‘ ansehen können. Es ist sehr auffällig, wie nicht nur Kiew, sondern auch Putin mit Faschisten zusammenarbeitet.“ (2) Dürftiger geht’s wohl nicht mehr.

Anders RIO. Im Gegensatz zu ihrer internationalen Strömung „Trotzkistische Fraktion“, die auf ihrer Web-Seite zuletzt im September 2014 eine Stellungnahme veröffentlichte (3), präsentierte RIO in ihrem Blatt „Klasse gegen Klasse“ Nr. 9 nicht nur eine Analyse der Lage in der Ukraine (Stand September 2014) (4), sondern auch eine Auseinandersetzung mit anderen Linken unter dem Titel „Debatte: Muss man das „kleinere Übel“ unterstützen?“ (5). Dem ging ein erster Artikel im August 2014 voraus (6). Jetzt folgte eine Polemik „Verwirrung und Verzweiflung“ (7), der sich auch mit Positionen anderer linker Gruppen, vor allem aber unserer Stellungnahme sowie der von Borotba befasst.

Aber auch schon in „Debatte: Muss man das „kleinere Übel“ unterstützen?“ ging das Feuer in diese Richtung. Gehen wir über die völlig frei erfundene Behauptung des Autoren Wladek Flakin hinweg, dass die kritisierten Organisationen – seien es diejenigen, die die Maidan-Bewegung, oder jene, die die Bewegung im Osten unterstützen – dies mit der Begründung des „kleineren Übels“ täten. Das tun sie definitiv nicht. Stellen wir der unzureichende Kritik an den Maidan-Unterstützern wohlwollend die Bewertung „stets bemüht“ aus und widmen uns dann dem Teil, der sich mit den von ihm so bezeichneten „AntifaschistInnen“ auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung ist mehr als doppelt so lang wie die andere mit den Maidan-„DemokratInnen“ und offensichtlich der Hauptzweck des Artikels.

Während hier komplett das (ex-)stalinistische/reformistische Lager, z.B. die DKP, unerwähnt und somit unkritisiert bleibt, schreibt Flakin einiges über Borotba, die er einmal als „stalinistisch“ bezeichnet und dann der Vertretung „nationalistischer Positionen“ beschuldigt. Belegen kann er weder das eine noch das andere. Dann folgt eine Auseinandersetzung mit der Jalta-Konferenz, die Anfang Juli 2014 auf der Krim stattgefunden hat. Sie wurde organisiert von einem gewissen Anpilogow, der als russischer Nationalist bezeichnet wird. Er soll dann auch einen Monat später eine Konferenz mit verschiedenen Nationalisten und gar Faschisten aus Europa organisiert haben. Damit habe er „Linke und Rechtsextreme für die gleiche Front mobilisiert“.

Unserem Genossen Brenner, der an der Konferenz in Jalta teilgenommen hatte, wird dabei „eine defensive Verteidigung seiner Position“ und der „Zusammenarbeit mit rechtsextremen ‚AntifaschistInnen’“ nachgesagt. In der Fußnote distanziert sich Flakin zwar von der „sozialimperialistischen AWL“, die diese „Fakten zusammengetragen habe“, aber sie seien „schwer zu widerlegen“. Das ist dann der Fall, wenn man politische Analyse durch eine linke Version der Klatschspalten der Regenbogenpresse ersetzt: Wer hat mit wem getanzt, getrunken oder gar geknutscht?

Revolutionäre MarxistInnen unterscheiden sich aber von OpportunistInnen aller Art auch und vor allem in ihrer Methode.

Wer mit wem oder wer für was?

Unserem Genossen eine „Zusammenarbeit mit Rechtsextremen“ zu unterstellen, ist eine schlichte Lüge der AWL (Alliance for Workers‘ Liberty; britische rechtszentristische Organisation). Der Besuch einer Konferenz ist noch lange keine Zusammenarbeit, schon gar nicht, wenn diese nicht mal anwesend sind. Auch wenn Anpilogow selbst ein Rechtsextremer wäre, wäre er einer der sehr seltenen Rechtsextremen, die für Linke Konferenzen organisieren. Hinzu kommt, dass Anpilogow zwar bei der Konferenz anwesend war, die maßgebliche Person bei der Organisierung jedoch Boris Kagarlitzki war, ein international bekannter russischer Linker.

Aber mal unterstellt, es wäre bekannt gewesen, dass Anpilogow nach der Konferenz der Linken eine ebensolche der Rechten organisieren würde, dann stellt sich die Frage doch so: „Dürfen Linke auf Konferenzen gehen, die von dubiosen, möglicherweise nationalistischen Personen oder Organisationen organisiert werden?“

In der gleichen Ausgabe ihrer Zeitung berichten andere GenossInnen von RIO von ihrem Besuch auf der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di organisierten Konferenz „Erneuerung durch Streik“ in Hannover und erklären, dass dies „eine gute Gelegenheit zur Vernetzung“ gewesen sei, „die es sonst selten gibt“ (8). Unabhängig von und im Widerspruch zu ihrem schönen Namen organisiert diese Stiftung aber auch Veranstaltungen mit übelsten Zionisten und anderen Nationalisten und Rassisten sowie UnterstützerInnen des deutschen und US-Imperialismus, was RIO vermutlich genauso sieht wie wir.

Die Frage, ob eine Teilnahme an einer Konferenz sinnvoll und legitim ist, beantwortet hier RIO aber offensichtlich ganz anders. Die Tatsache, dass einer der Hauptredner in Hannover das IG Metall-Vorstandsmitglied Urban war, der als Mitglied der Linken die entsprechende Rhetorik beherrscht, der in der Praxis aber die ganze rechte korporatistische Standort-Deutschland-Politik dieser Gewerkschaft einschließlich der Unterstützung für den Angriff auf das Streikrecht durch die Bundesregierung mitträgt, ist den RIO-GenossInnen keine Erwähnung wert – was schade ist – und kein Grund für sie, nicht nach Hannover zu gehen -was korrekt ist.

Zu Recht kritisiert RIO übrigens, dass in Hannover die Verabschiedung einer Resolution zur Flüchtlingsfrage verhindert worden ist. Es gab nur eine zur Verteidigung des Streikrechts. Auf der Jalta-Konferenz, der bis dahin einzigen „Gelegenheit zur Vernetzung“ der Linken, die die Bewegung im Osten unterstützen, gab es anders als in Hannover eine gemeinsame Schlusserklärung. Diese würden wir als Mischung von reformistischen und linkspopulistischen Ideen charakterisieren. Mit anderen Worten, diese Erklärung und damit die Konferenz hat mit den Positionen der Rechtsextremen, die sich ein paar Wochen später in Jalta versammelten, politisch aber auch gar nichts gemeinsam! Und das ist auch noch für jedeN überprüfbar – im Unterschied zu Konferenzen, die ohne Erklärung zu Ende gehen. Zweitens gibt eine Erklärung immer die Möglichkeit, inhaltliche Kritik zu üben und Gegenvorschläge zu formulieren – auch für Flakin oder die AWL. Es ist aber bemerkenswert, dass alle Kritiker der Konferenz von Jalta mit keinem Wort auf deren Hinhalt eingehen – obwohl der Text seit langem in verschiedenen Sprachen, darunter auch in deutscher Übersetzung vorliegt (9).

In den Texten wird einfach politische Analyse und Kritik durch Kolportage ersetzt, um so davon abzulenken, dass RIO die Verteidigung des Donbas gegen die Angriffe der ukranischen Armee und faschistischer Milizen neuerdings rundweg ablehnt. Diese Vermutung bestätigt sich mit dem Artikel, den Alexej Geworkian im Mai 2015 für RIO verfasste (10) und der sich erneut vor allem auf unsere Position sowie auf BOROTBA konzentriert. Wir werden zeigen, dass die Methoden RIOs weiterhin zentristisch sind und ihre Politik ebenfalls. RIOs Abkehr von revolutionärer Methodik und Programmatik läuft aber letztlich auf die Unterstützung der westlichen Imperialisten hinaus.

RIOs Zentrismus: Linksradikale Worte – passive Praxis

Die grundlegenden Fehler von RIO in der Ukrainefrage haben wir bereits in Auseinandersetzung mit ihrem Artikel vom August 2014 ausführlich analysiert.

„Waren die beiden Seiten zuerst noch ‚qualitativ‘ ungleich, sind wenige Zeilen später ‚beide Seiten gleichermaßen reaktionär.‘

Um die Verwirrung perfekt zu machen, heißt es gegen Ende des Artikels: ‚Vor dem Hintergrund der notwendigen Verteidigung gegen militärische Angriffe muss ein sozialistisches Programm entwickelt werden.‘  Das heißt aber für jeden klar denkenden Menschen nichts anderes, als dass sich die Arbeiterklasse auf einer Seite im Konflikt positionieren soll/muss – ansonsten ist ja die Verteidigung einer Seite gegen Angriffe vollkommen sinnfrei.

Die ganze Verwirrung kommt daher, dass RIO die Bewegung im Osten einmal als reaktionär definiert, weil die Führung eine Volksfront ist. An anderer Stelle sieht sich die Gruppe aber wieder genötigt anzuerkennen, dass ein Teil der Bewegung im Osten und auch die ‚Volksrepubliken‘ qualitativ verschieden von der Kiewer Seite wären.

Das Problem ist an sich leicht zu lösen. Als RevolutionärInnen unterscheiden wir auch in Donezk und Lugansk zwischen der sozialen Basis, den Zielen und Potenzen einer Bewegung und einer reaktionären Führung. Trotz des reaktionären Charakters der Spitzen der ‚Volksrepubliken‘ müssen RevolutionärInnen diese gegen die Angriffe der Reaktion verteidigen. Wir bekämpfen diese Führungen dabei immer auch politisch und treten für den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei ein – aber wir tun dies auf eine Art und Weise, die den Sieg gegen die Kiewer Reaktion herbeiführen soll. Und das heißt im Bürgerkrieg, um die Führung in der militärischen Verteidigung zu kämpfen.“ (11)

Die zentristische Methode führt RIO dabei zu folgenden Fehlern:

  • In der Analyse der Kräfte im Osten unterschätzt RIO völlig den Einfluss der ArbeiterInnenklasse und untersucht nicht das Verhältnis zwischen örtlichen Kräften und den Zielen Moskaus.
  • In der Frage, ob es sich in erster Linie um einen Bürgerkrieg oder um einen Krieg zwischen Russland und Moskau handelt, gibt es ständige Schwankungen; in der Tendenz neigt RIO aber zu letzterem.
  • Die mangelhafte Bestimmung der Bewegung der ArbeiterInnenklasse führt dazu, keine Taktiken für die Klasse vorzuschlagen, höchstens die radikal klingende, aber im Bürgerkrieg völlig untaugliche Forderung nach einem Generalstreik.
  • So endet RIO in Passivität und konzentriert ihre Angriffe auf die Kräfte, die politisch am effektivsten im Osten eingreifen bzw. diesen Kampf verteidigen, wie z.B. Borotba und die Liga für die Fünfte Internationale.

Wir werden diese Fehler im Einzelnen anhand der Aussagen RIOs analysieren und darstellen.

Der Unterschied zu RIO

Den Fehler, aus einer halb-richtigen Analyse die ganz falschen Schlüsse zu ziehen, setzte RIO in der Herbst-Nummer 2015 ihres Magazins fort. Die „Igitt, was für Leute!“-Geste, die aus Flakins Artikel strömt und der er entweder selbst unterliegt („schwer zu widerlegen“) oder mit der er hofft, andere in die Irre führen zu können, hat ihre Grundlage aber in einem Unverständnis revolutionärer Taktik, das neben RIO auch andere Zentristen teilen, ja es ist für sich genommen ebenfalls ein Kennzeichen dieses Schwankens zwischen Revolution und Reform.

RIO nimmt eine „neutrale“ Position im Ukraine-Konflikt ein und damit zugleich eine untätige. Sie erklärt den ArbeiterInnen, dass sie sich unabhängig organisieren müssten. Da sie dies aber – in den Augen RIOs – nicht tun, steht RIO weiterhin mit erhobenem Zeigefinger am Rande des Geschehens, zu dem sie selbst sagen: „Der BürgerInnenkrieg in der Ukraine ruft die größten geopolitischen Spannungen seit dem Ende des kalten Krieges hervor.“

Wir dagegen suchen nach den Punkten, wo die ArbeiterInnenklasse tätig wird. Wir suchen die Klassenfronten. RIO versucht schon das wegzureden, indem sie uns unterstellt, wir würden das „kleinere Übel“ (Flakin) oder die „fortschrittliche Seite“ (Geworkian) suchen.

Damit soll offenkundig Suggestion an die Stelle einer konkreten Einschätzung der konkreten Situation treten. Eine Niederlage des Widerstandes im Osten, der Volksrepubliken, würde trotz des reaktionären Charakters der Führungen einem Sieg des Regimes der Oligarchen gleichkommen. Er wäre ein entscheidender Schlag gegen die ArbeiterInnenklasse, gegen alle unterdrückten Schichten in der Ukraine. Wahrscheinlich würde er mit einer Pogromstimmung gegen die „Separatistenkämp-ferInnen“ einhergehen wie auch gegen die Kommunistische Partie und linke Organisationen wie Borotba. Die faschistischen und nationalistischen Bataillone, große Teile der Nationalgarde, ja auch der Armee würden sich von brutalen Massakern kaum abhalten lassen.

All das stellt eine besonders brutale und abscheuliche Form der Festigung der Klassenherrschaft der ukrainischen Bourgeoisie, der Festigung ihrer Kontrolle über das Land dar – eine für große Teile des Proletariats im unmittelbaren Sinn vernichtende Niederlage. Ein solcher Sieg würde selbstverständlich auch die Eigentumsfrage usw. im Donbass „lösen“. Für revolutionäre KommunistInnen ist daher ihre Pflicht, den Klassencharakter des Konflikts und der beteiligten Kräfte, nicht nur die Ideologien von Parteien zu untersuchen. Daraus ergibt sich, welchen Platz die ArbeiterInnenklasse in einem Konflikt einnehmen muss. Gibt es eine „fortschrittliche Seite“ in einem Bürgerkrieg, so ist es die Pflicht des Proletariats, diese trotz all ihrer Schwächen gegen die Reaktion zu unterstützen.

RIO ersetzt diese Aufgabe durch die für sich genommen immer richtige Wahrheit, dass sich die Klasse „unabhängig“ organisieren müsse. Diese Erkenntnis verkommt jedoch zur reinen Abstraktion, wenn sie nicht mit der realen Auseinandersetzung vermittelt wird, wenn hinter allgemeinen Formeln geleugnet wird, dass der Widerstand im Osten einen fortschrittlichen Charakter hat. Es bedeutet nichts anderes, als das Proletariat in Stich zu lassen.

Die Klassenfronten in der Ukraine sind die Klassenfronten in Europa

RIO hält umso hartnäckiger an ihrer falschen Einschätzung fest, je klarer die Klassenfronten im Donbass werden. Dass diese offener zu Tage treten, ist allerdings nicht den passiven Ultimaten von RIO zu verdanken.

  • Mit Bombardierung der Zechen im Osten wurde die Masse der Bergleute erst in den Streik getrieben und dann an die Front. Sie bilden die Hauptstütze der „Roten Kosaken“. Das war nicht immer so. Vor dem Bürgerkrieg war der Vorsitzende ihrer Gewerkschaft, der Unabhängigen Gewerkschaft NPGU, für Julia Timoschenkos Vaterlandspartei im Parlament. In Donezk selbst hatte sich die Gewerkschaft gespalten, die Mehrheit wird schon länger von Michail Krylenko vertreten. Unbestreitbar hat hier auch eine Radikalisierung nach links stattgefunden.
  • Ein zweiter Konfliktpunkt ist die Frage der Fabriken und Minen, die von der Kiewer Regierung oder den Oligarchen aufgegeben oder bombardiert wurden. Die Janukowytsch-Leute, russische Nationalisten und Putin-Agenten wollen sie unter die Kontrolle russischer Oligarchen bringen. Die ArbeiterInnen haben offensichtlich andere Absichten. Sogar die „Unabhängige Bewegung Noworossija“, eine kleinbürgerlich-populistische Vereinigung, drückt dies in ihrer programmatischen Erklärung aus: „Großes Eigentum, industrielles und finanzielles Vermögen sollen dem Staat gehören. Der Nationalrat setzt sich zusammen aus Delegierten aus Räten von nationalen und Arbeitskollektiven und soll die höchste gesetzgebende Körperschaft von Noworossija werden.“ Ein offensichtliches Zugeständnis an die Arbeiterklasse.
  • Drittens geht es um die Verteilung der Hilfsgüter: Bestimmt die Administration aus prorussischen Janukowytsch-Leuten oder bestimmen die kämpfenden Einheiten? Diese stellen oft die progressiveren Elemente. Einige treten für Komitees der Bevölkerung ein. Ende des Jahres 2014 gab es zunehmend Konflikte um diese Frage. Etliche Kommandeure der „Roten Kosaken“ griffen das Staatsoberhaupt der „Volksrepublik Lugansk“, Plotnitzki, an, weil er zu wenig für die Bevölkerung täte und Material für sich abzweige. Dieser seinerseits beschuldigte Alexander Bednow, den populären Verteidiger der Stadt in den Augustkämpfen, der Unterschlagung und der Folter von ZivilistInnen. Dies geschah, nachdem Bednow unter nicht geklärten Umständen mit einigen seiner Leute durch eine (vermutlich russische) Spezialeinheit liquidiert worden war.
  • Viertens traten diese Konflikte auch bei den Wahlen im November zutage, bei denen in Donezk die KP an der Kandidatur gehindert wurde, ebenso wie Bednow in der Volksrepublik Lugansk. Genauso stellt die Gefangennahme von 4 Mitgliedern von BOROTBA Ende 2014 einen Beweis für die sich vertiefenden Konflikte im Osten dar. Die Freilassung nach zwei Wochen beweist aber auch das Gewicht der linken Kräfte.
  • Fünftens ist auch der Aufbau von explizit linken Kampfverbänden einerseits etwas, was keine Entsprechung in den Kiewer Truppen findet und andererseits ein Beweis, dass sich die linken Kräfte verstärken konnten. Herausragendes Beispiel ist die „Gespenster“-Brigade des legendären Kommandanten Alexander Mosgowoj. Innerhalb der Brigade gibt es ein Kommunistisches Bataillon, ein sehr internationalistisches Bataillon, in dem KommunistInnen aus vielen Ländern unter roten Fahnen kämpfen. Er organisierte auch eine politische Abteilung zur Schulung der Kämpferinnen und zur Produktion von linker Propaganda. Er warb SozialistInnen und KommunistInnen für diese Posten an.

RIO braucht im Ukraine-Konflikt keine Taktik, weil sie diese durch Allgemein-plätze ersetzt und die reale Bewegung ignoriert.

Einheitsfronttaktik im Bürgerkrieg ist zwar etwas anderes als Einheitsfronttaktik in Gewerkschaften. In jenen sind unsere Gegner/potentiellen Verbündeten meist ReformistInnen, die sich immerhin auf ArbeiterInnenbewegung und Streik beziehen, wie z.B. die Linkspartei-Mitglieder auf der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Bürgerkrieg hat man es dagegen oft auch mit nationalen und nationalistischen Positionen und Konflikten zu tun, wie generell der Bürgerkrieg „verworrener“ ist, weil er eine höhere Form des Klassenkampfes darstellt als der gewerkschaftliche Kampf. Im Bürgerkrieg werden alle Schichten der Gesellschaft in Bewegung gesetzt, alles wird umgeworfen im Kampf um die politische Macht.

Die grundlegende Herangehensweise ist jedoch auch von zwei zentralen Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Sowohl in gewerkschaftlichen wie politischen Klassenkämpfen sind RevolutionärInnen gezwungen, zeitweilige Bündnisse mit nicht-revolutionären Kräften einzugehen. Die Basis dafür besteht in der Verfolgung gleicher Ziele gegen einen gemeinsamen Gegner. Zugleich müssen solche Bündnisse immer mit der strikten Unabhängigkeit der revolutionären Organisation verbunden sein, also ihrem Recht/ihrer Möglichkeit, jederzeit auch Kritik am „Partner“ zu üben. Zweifellos werden daher in vielen Fällen (ob nun in gewerkschaftlichen Kämpfen wie auch im Bürgerkrieg) Einheitsfronten nicht zustande kommen trotz der Anwendung der Taktik der Einheitsfront, also der Forderung an andere, trotz fundamentaler politischer Differenzen den Kampf gemeinsam zu führen.

Die Ablehnung der Einheitsfront oder ihr Nicht-Zustandekommen ändert dabei nichts daran, dass ein fortschrittlicher Kampf weiter unterstützt werden muss.

Hinzu kommt, dass in Bürgerkriegen – und nicht nur dort – soziale Fragen oft die Form von demokratischen oder nationalen Konflikten annehmen. Soziale Forderungen verbergen sich hinter nationalen oder demokratischen Forderungen. Das entspringt aus der einfachen Tatsache, dass die Bourgeoisie zum Zwecke der Ausbeutung von Klassen, die viel zahlreicher an Menschen sind als die ihre, diese auch unterdrücken muss. Gegen diese Unterdrückung begehren dann die in ihren demokratischen und nationalen Rechten Unterdrückten auf. Der soziale Konflikt, die Ausbeutung, erscheint untergeordnet. Die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen – auch wenn die Klassenkämpfe die Form von Kriegen und Bürgerkriegen annehmen. Trotzki präzisierte diese Aussage des Kommunistischen Manifestes noch: „Der Sektierer ignoriert einfach, dass der nationale Kampf, als eine der verworrensten und unübersichtlichsten, aber zugleich äußerst wichtigen Formen des Klassenkampfes, nicht durch bloßen Verweis auf die künftige Weltrevolution entschieden werden kann.“ (12) Als ob er RIOs Erklärungen zur Ukraine gelesen hätte!

Es ist also vollkommen sektiererisch, wenn man in einem Bürgerkrieg nicht Partei ergreift, obwohl man erkennt, dass die eine Seite einen berechtigten Kampf führt – nur weil die Klassenfrage noch nicht offen zu Tage liegt. Es ist zentrale Aufgabe jeder ArbeiterInnenorganisation, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, den Klasseninhalt durch ihren eigenen Kampf sichtbar zu machen!

Welche Taktiken dann für revolutionäre Organisationen in Bürgerkriegen zulässig sind, werden wir weiter unten erläutern. Wir müssen uns noch damit befassen, dass RIO den Bürgerkrieg in der Ukraine zu einem Krieg umdeutet.

Imperialistischer Krieg und/oder Bürgerkrieg

RIO weicht einer wirklichen Analyse der kämpfenden Kräfte in der Ost-Ukraine auch dadurch aus, dass kurzerhand alles in den Volksrepubliken als von Russland gelenkt und kontrolliert dargestellt wird.

Dann erklärt Geworkian, dass RevolutionärInnen in einem Konflikt zwischen Imperialisten keine Partei ergreifen dürfen. Zugleich charakterisiert RIO aber die Russische Föderation als entwickelten Kapitalismus, lehnt es aber ab, dabei von einer imperialistischen Macht zu sprechen. Würde Geworkian seine eigenen Gedanken ernst nehmen, so müsste er sich die Frage stellen, wer hier eigentlich stellvertretend für wen agiert? Um einen imperialistischen Stellvertreterkrieg kann es sich ja schlecht handeln, wenn eine Seite gar keine imperialistische Macht darstellt.

Mit seinen „allgemeinen“ Erwägungen erspart sich Geworkian aber vor allem eine konkrete Analyse. Er unterstellt, dass der Krieg ein „imperialistischer auf beiden Seiten“ wäre, ohne das überhaupt zu untersuchen. Dabei ist genau das die Frage.

Der vorherrschende Charakter dieses Konflikts ist welcher? Handelt Kiew mit seiner Armee einschließlich der faschistischen und nationalistischen Paramilitärs als reine Schachfigur der USA und der EU oder verfolgt es eigene Interessen? Das eine muss das andere nicht ausschließen und sicher hatte der Maidan das Überlaufen der Mehrheit der ukrainischen Bourgeoisie ins westliche Lager zum Ergebnis. Der Hauptaspekt des Krieges ist aber ein sozialer und interner Konflikt: die ukrainische Regierung und ihre Hilfstruppen kämpfen mit der Waffe in der Hand für ein brutales Sparprogramm, für die Abwälzung der exorbitanten Krisenlasten auf die Massen, was natürlich auch im Interesse der EU, der USA und des IWF geschieht. Die arbeitenden Massen im Ostteil des Landes bekämpfen das, teilweise unter Waffen stehend. Es handelt sich also von beiden Seiten vorwiegend um einen Bürgerkrieg: zum einen, weil Russland nicht Kriegspartei ist, zum anderen, weil die Kiewer Regierung nicht überwiegend als Stellvertreterin des Westens agiert.

Wenn Kiew lediglich eine westliche Marionette wäre und Moskau die Volksrepubliken wirklich kontrollieren würde, dann hätte der Krieg einen anderen Charakter und ein anderes Ziel – die Schwächung Russlands bzw. deren Verhinderung – und nähme einen anderen Verlauf, wenn die westlichen Imperialisten ihre Kiewer Marionetten militärisch lenken würden.

Es handelt sich aber auch nicht in erster Linie um einen militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Das ukrainische Bürgertum führt vielmehr einen Bürgerkrieg gegen seine ArbeiterInnenklasse. Im Falle einer Invasion Russlands müsste die ukrainische ArbeiterInnenklasse einen Zweifrontenkrieg gegen zwei gleich große Übel führen, sofern der Charakter des Konflikts sich nicht z.B. in einen gegen nationale Unterdrückung durch Russland änderte und die ukrainische Bourgeoisie den sozialen Bürgerkrieg zurückstellen müsste. Diese Situation könnte z.B. im Vorfeld einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Russland und der EU sowie deren Verbündeten eintreten, wenn Russland die gesamte Ukraine annektierte, die damit das Schicksal z.B. Tschetscheniens teilen müsste. Eine Invasion der Ostukraine durch Russland könnte hingegen von der Mehrheit der dortigen Bevölkerung durchaus nicht als nationale Unterdrückung empfunden werden, wie das Beispiel der Krim zeigt, sondern sogar als „Befreiung“ aufgefasst werden (Noworossija). Nichtsdestotrotz müsste dann die ostukrainische ArbeiterInnenschaft sowohl Kiews wie Moskaus Truppen bekämpfen, denn beide Seiten würden mit den dort, in den Volksrepubliken, erkämpften proletarischen Errungenschaften, Milizen, Betriebsbesetzungen und -übernahmen wie Räteansätzen, gründlich aufräumen, die ohne Wenn und Aber als Faustpfande einer kommenden ArbeiterInnenrevolution verteidigt werden müssen, auch wenn in diesem Kriegsszenario der Bürgerkrieg einen untergeordneten Charakter angenommen hätte und der Krieg Russlands gegen die Ukraine in den Vordergrund gerückt wäre. Vor allem: wenn es sich aber nach wie vor um einen Bürgerkrieg handelt, kommen „RevolutionärInnen“ doch in arge Not, ihre Passivität zu rechtfertigen.

Auch wenn der Bürgerkrieg das dominierende Element in einem Konflikt ist, mischen sich die Imperialisten natürlich ein. Vielen Linken reicht der Hinweis auf imperialistische Einmischung, um Bürgerkriegsfronten zu entscheiden, wenn auch meistens falsch. So wurden von vielen Linken die Revolutionen und Bürgerkriege in Libyen und Syrien kurzerhand zu Projekten des US-Imperialismus erklärt und die Rebellen und revolutionären Kräfte zu seinen Marionetten. Aber im Zeitalter des Imperialismus gibt es keinen und kann es auch keinen Bürgerkrieg geben, den Imperialisten nicht für ihre Konkurrenz-Konflikte nutzen. Ein Bürgerkrieg hört aber weder im Nahen Osten noch in der Ukraine auf, ein Bürgerkrieg zu sein, nur weil sich Imperialisten einmischen. Der spanische Bürgerkrieg blieb eben von Anfang bis Ende ein solcher, obwohl sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien „einmischten“ – wie auch der degenerierte Arbeiterstaat UdSSR. Beide Lager – auch das Francos – agierten deshalb aber nicht schon überwiegend als verlängerter militärischer Arm ihrer imperialistischen Unterstützer.

Nebelkerzen

Noch ist also das dominierende Element der Bürgerkrieg. Wer kämpft denn da auf der Seite des Ostens? Geworkian unterstellt uns: „Die GAM scheint Borotbas Analyse geteilt zu haben, dass in der Ostukraine so etwas wie eine anfängliche soziale Revolution vonstattenging, die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zielte. Hierzu ließ sie sich von der sowjetischen Nostalgie der russischen NationalistInnen mitreißen, die ihre Scheinparlamente gern ‚Sowjets‘ nennen. Doch diese Volksrepubliken entstanden und entwickelten sich unter direkter Führung des kapitalistischen russischen Staates. Auch ein Programm von ‚Verstaatlichung‘ beschränkt sich auf die Notwendigkeiten der Kriegsführung und des Aufbaus einer pro-russischen Enklave wie Transnistrien/ Pridnestrowien – wo Verstaatlichungen die angeschlagene kapitalistische Marktwirtschaft am Laufen halten.“ (13)

Wenn es eine „direkte Führung“ der „Volksrepubliken“ durch den russischen Staat gegeben hätte, wären sie eben keine „Volksrepubliken“ geworden. Transnistrien oder Nord-Ossetien nennen sich nicht Volksrepubliken, gerade weil der direkte russische Einfluss dort so etwas nicht will. Im Unterschied zur Krim – und auch die wurde nicht einfach annektiert – sind Lugansk und Donezk auch kein Bestandteil Russlands geworden. Ein Neu-Russland als Teil der Russischen Föderation ist eher ein Albtraum für Putin und ausgesprochen nicht seine Absicht.

Das, was uns Geworkian unterstellt, war nie unsere Analyse und Geworkian weiß das. Acht von dreizehn Verweisen in seinem Artikel beziehen sich auf GAM bzw. NAO. Er kennt also unsere Artikel. Der Maidan und die Übergriffe der neuen Regierung provozierten einen „Anti-Maidan“ im Osten, eine Massenbewegung, die Zehntausende auf die Straße brachte. Wir sind hingefahren und haben uns das angeschaut. Wir wollten wissen, wie die soziale Zusammensetzung ist, welche Parteien politisch dominieren, wofür die Bewegung kämpft, haben also dieselben Kriterien als Maßstab angelegt, mit denen wir den Maidan be- und verurteilt haben. Schon damals war klar, dass russisch-nationalistische Kräfte dort Einfluss suchen, dass es sich aber um eine Massenbewegung handelt, die vor allem aus der Arbeiterklasse besteht.

Wir haben diese Bewegung weiterverfolgt und untersucht. So haben sich z.B. größere Teile der Bergarbeiter erst später angeschlossen. Wir haben untersucht, ob und wie sich Forderungen der Klasse in diesem Bürgerkrieg ausdrücken.

Anders RIO heute. Während Baran Serhad im August 2014 noch eine differenziertere, wenn auch in sich widersprüchliche Analyse versuchte (14), ist für Geworkian nur noch ein „BürgerInnenkrieg zwischen reaktionären Banden“ zu sehen.

Wo ist denn eigentlich die Arbeiterklasse im Donbass geblieben? Während Serhad noch feststellte, dass es Demonstrationen dieser gegen die „Antiterror-Operation“ gegeben habe, tauchen ArbeiterInnen bei Geworkian real nicht mehr auf. Sind die alle geflohen? Sitzen die zu Hause rum wie RIO und kritisieren diejenigen, die kämpfen?

Bemerkenswert ist, dass Serhad noch analysierte: „Diese sogenannten Milizen stützen sich auf Arbeitslose, bankrottes Kleinbürgertum, NationalistInnen aus Russland, Armeekräfte und SondereinsatzpolizistInnen der alten Regierung. Doch von einem konkreten russischen militärischen Einsatz wie auf der Krim kann in der Ostukraine nicht die Rede sein.“ (15) Während Geworkian schreibt: „ … der ‚antifaschistische Widerstand‘ in der Ostukraine, der russische Militärs, GeheimdienstlerInnen, BürokratInnen und SöldnerInnen sowie einheimische KapitalistInnen umfasst,…“. (16) Die Arbeitslosen, also immerhin ein Teil der Arbeiterklasse, sind plötzlich verschwunden, dafür kämpfen die einheimischen KapitalistInnen. Und der „konkrete russische Einsatz“, den Serhad noch explizit ausschloss, ist bei Geworkian durch die „russischen Militärs“ dann gegeben.

Das wirkliche Problem, wie die ArbeiterInnenklasse, die im Süd-/Osten der Ukraine eben im Verbund mit anderen Kräften kämpft, sich in diesem Kampf als eigene Kraft formieren und ausdrücken kann, wird von RIO jetzt dadurch erledigt, dass sie einfach nicht mehr vorkommt.

Damit sich die ArbeiterInnenklasse aber unabhängig organisieren kann – was natürlich eine notwendige Voraussetzung für revolutionäres Handeln der Klasse ist – müssen RevolutionärInnen in die Kämpfe eingreifen, in denen die Klasse und vor allem ihre Avantgarde für ihre Interessen kämpfen, auch wenn sie dies nicht mit offenem Banner tun.

Serhad schlug vor einem Jahr noch vor: „Um die Unabhängigkeit von der Bourgeoisie zu schaffen, ist gerade in den Volksrepubliken die Bildung von ArbeiterInnenräten in Fabriken nötig, die sowohl die Funktion von Kampforganen haben als auch die Funktion der Verwaltung auf der lokalen und regionalen Ebene.“ (17) Für Geworkian haben aber Schritte, die in diese Richtung gehen, nichts mit der Klasse zu tun: „Auch ein Programm von ‚Verstaatlichung‘ beschränkt sich auf die Notwendigkeiten der Kriegsführung…“. (18)

Wir als GAM aber stellen klar, dass die Übernahme und Kontrolle von Betrieben durch ArbeiterInnen in der Ostukraine natürlich deren Willen und Kraft zeigt und dass hier eine revolutionäre Politik ansetzen kann und muss. Dass diese Entwicklung auch aus der Not des Krieges geboren wurde, sagt weniger über die Lage im Osten der Ukraine aus als über das Unverständnis von RIO für reale Klassenkämpfe. Historisch betrachtet wurden Maßnahmen wie Verstaatlichungen oft aus der Notwendigkeit anderer politischer Ziele geboren.

Diese Übernahmen von Fabriken und Kolchosen müssen ergänzt werden durch ein Programm zur Enteignung aller (auch der russischen) Oligarchen und der Errichtung von ArbeiterInnenkontrolle und Räten. Sie sind in der Tat ein hervorragender Beleg für die Notwendigkeit und die Durchführbarkeit eines solchen Programms – so wie die von der Trotzkistischen Fraktion unterstützte Besetzung und Weiterführung der Keramikfabrik Zanon in Neuquén ein Ansatz für ein entsprechendes Programm für Argentinien ist, obwohl sie selbst nur aus der ökonomischen Notwendigkeit der ArbeiterInnen geboren wurden, die in der Krise 2001 nicht arbeitslos werden wollten.

Aber selbst wenn die Verstaatlichung von Fabriken im Donbass aus dem Besitz von Oligarchen rein aus militärischer Logik durchgeführt würde, wie Geworkian behauptet: Seit wann lehnen wir eigentlich Verstaatlichungen ab, wenn sie vom ideellen Gesamtkapitalisten, dem bürgerlichen Staat, durchgeführt werden? Die Forderung aus dem Übergangsprogramm nach „Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle und entschädigungslose Enteignung der FabrikbesitzerInnen“ verlangt diese explizit dann, wenn der bürgerliche Staat noch existiert. Im ArbeiterInnenstaat wäre diese Forderung überflüssig. Trotzki kritisierte übrigens gerade das republikanische Spanien dafür, dass die Regierung nicht genügend Anstrengungen zum Aufbau einer eigenen Kriegsindustrie unternommen habe.

Wir wissen auch sehr gut, was Räte sind und fallen bestimmt nicht auf nostalgische Begriffsverwendung rein, wie Geworkian behauptet: „Hierzu ließ sie sich von der sowjetischen Nostalgie der russischen NationalistInnen mitreißen, die ihre Scheinparlamente gern ‚Sowjets‘ nennen.“ Im Unterschied zu RIO überlegen wir uns aber auch, warum russische NationalistInnen in Russland ihre Scheinparlamente nicht „Sowjets“ nennen, russische NationalistInnen – und eben auch andere politischen Kräfte – im Donbass aber von „Volksrepubliken“ und „Sowjets“ reden, überlegen, ob das was mit ArbeiterInnenklasse zu tun hat und wie diese ihren Klassenkampf aus seiner verdeckten Form befreien kann.

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur auf der Basis ihres Kampfes unabhängig organisieren. RIO lehnt es de facto ab, der ArbeiterInnenklasse zu helfen, sich aus ihrer „Unterordnung unter bürgerliche“ Kräfte zu befreien, wenn sie den realen, fortschrittlichen Kampf der Klasse ignoriert bzw. desavouiert.

Taktiken im Bürgerkrieg

Mit solcher Vernebelung und Verdrehung glaubt RIO es sich auch weiterhin leisten zu können, die Taktiken zu verleumden, die der Klasse helfen, sich zu formieren. Die Verteidigung gegen das reaktionäre bürgerliche Regime ist aus demokratischen (Recht auf eigene Sprache und gegen nationale Unterdrückung) wie aus sozialen Gründen (gegen die Verelendungsprogramme des IWF und die Ausbeutung durch Oligarchen) völlig berechtigt. Natürlich ist auch der Widerstand gegen die Faschisten nicht nur berechtigt, sondern völlig notwendig, wenn die Arbeiterklasse eigene Organisationen aufbauen bzw. verteidigen will.

In diesem Kampf können Organisationen der ArbeiterInnenklasse – oder diejenigen, die solche aufbauen wollen – eine militärische Front mit anderen, auch mit bürgerlichen, Kräften bilden. Linke dürfen natürlich nicht sich dem bürgerlichen „Antifaschismus“ oder jeder anderen bürgerlichen Politik unterordnen. Es ist völlig klar, dass trotz dieser gemeinsamen militärischen Front es massive politische Konflikte gibt und geben muss, je stärker die Linke wird – wenn auch RIO diese im Donbass gerne ignoriert, um ihr Zerrbild aufrechtzuerhalten.

So schreibt Geworkian : „Gleichzeitig will sie (die GAM) mit SoldatInnen der russischen Armee in einer ‚militärischen Front‘ zusammenstehen, und zwar gegen den Faschismus. Für MarxistInnen ist es eine Frage grundlegender Prinzipien, konsequent gegen den Imperialismus zu kämpfen. Eine solche ‚Einheitsfront‘ (Volksfront) mit einer imperialistischen Macht kann nur Verrat an den Interessen der Unterdrückten bedeuten – auch und gerade im Namen der ‚Demokratie‘ oder des ‚Antifaschismus‘.“

Halten wir zunächst fest: es kämpft im Donbass nach wie vor nicht die russische Armee, was – wie oben gesagt – die Lage ändern würde. Von einer „Einheitsfront mit einer imperialistischen Macht“ kann also keine Rede sein (mal abgesehen davon, dass RIO und ihre Internationale ansonsten gern erklären, dass Russland keine imperialistische Macht wäre). Eine solche war z.B. Stalins Weltkriegspolitik oder der Burgfrieden der sozialdemokratischen Parteien mit „ihren“ Imperialismen.

Nicht jede Einheitsfront mit Bürgerlichen ist allerdings Klassenverrat und umgekehrt nicht jedes klassenverräterische Bündnis mit der Bourgeoisie eine Volksfront. Letztere ist eine Regierung aus opportunistischen ArbeiterInnenparteien und offen bürgerlichen Parteien, Einzelpersonen oder Institutionen (Militär) in einer (vor-)revolutionären Situation oder Periode. Eine Einheitsfront selbst mit dem Bürgertum (oder Teilen davon) kann wiederum völlig legitim sein (19). Wir würden unter 3 Bedingungen Einheitsfronten eingehen: gemeinsame Ziele; Aktions- und Bewegungsfreiheit, Freiheit von Kritik und Propaganda; keine Vermischung der Fahnen oder gemeinsame Aufrufe außer zum Zwecke unmittelbarer Mobilisierung. Wir würden aber immer für die Linie der ArbeiterInnenbeinheitsfront eintreten, also z.B. in einem Anti-Nazi-Bündnis, in dem auch die GRÜNEN und Kirchen sitzen, für physische Konfrontation und Selbstverteidigung der ArbeiterInnenorganisationen, was eine direkte Konfrontation mit den bürgerlichen Kräften in einem solchen Bündnis bedeuten würde.

Kommt keine Einheitsfront zustande, weil auch nur eines der o.a. 3 Kriterien nicht erfüllbar ist, können trotzdem zeitweilige Absprachen durchaus sinnvoll sein, um die Widersprüche im Lager des Feindes auszunutzen: z.B. mit der Résistance im besetzten Frankreich während des 2. Weltkriegs, obwohl TrotzkistInnen schon allein deren Ziel (Niederlage Deutschlands, Sieg Frankreichs)  nicht teilten, sondern im Konflikt Deutschland gegen Frankreich für revolutionären Defaitismus eintraten. Man merkt RIO deutlich an, dass ihr „Trotzkismus“ deutlich kindisch-sektiererische Züge annimmt, die Prinzipien aus einer Reihe auswendig gelernter Formeln bestehen. So läuft jede Tuchfühlung mit nichtproletarischen Kräften oder rückständigen ArbeiterInnenmassen Gefahr, als Verrat verteufelt zu werden.

Armer Trotzki

Geworkian versucht sogar Trotzki zu ent-trotzkisieren: „Wir bedauern, dass die GAM heute schlussfolgert, eine ‚Verteidigung der Volksfrontregierung gegen Franco‘ sei in Spanien notwendig gewesen. Damals haben die RevolutionärInnen in einer Front mit den SoldatInnen der Republik gegen die faschistischen Truppen gestanden – aber im Rahmen dessen dafür argumentiert, die bürgerliche Republik durch eine Räterepublik zu ersetzen. Als die ArbeiterInnen Barcelonas im Mai 1937 gegen diese repressive bürgerliche Regierung einen Aufstand begannen, standen die TrotzkistInnen mit ihnen auf den Barrikaden – eine „Verteidigung der Volksfront” war das sicher nicht, eben nur eine Verteidigung der Bastionen der ArbeiterInnen, um den Sturz der Volksfront zum frühstmöglichen Zeitpunkt vorzubereiten. Die wirkliche Lehre Trotzkis aus dem spanischen BürgerInnenkrieg ist also tatsächlich ‚1:1′ auf den ukrainischen zu übernehmen: Nur die politische Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse gegen jeden bürgerlichen Pseudo-Antifaschismus kann den Sieg gegen den Faschismus bringen.“ (20)

Interessant schon mal, dass es für RIO in Spanien möglich war, „in einer Front“ mit Kämpfern für eine bürgerliche Republik zu stehen und gleichzeitig für revolutionäre Ziele zu argumentieren – was sie für die Ukraine bestreiten.

Aber dann lügt sich Geworkian einiges in die Tasche: Die „RevolutionärInnen“ in Spanien waren nur zum Teil in eigenen Truppen aufgestellt (CNT/FAI, POUM). Der überwältigende Teil der klassenbewussten ArbeiterInnen einschließlich der Sozialdemokraten und Stalinisten kämpfte in den Truppen der Republik. Es ist aber schlechterdings unmöglich, mit den Truppen der Republik zu kämpfen, ohne diese zu verteidigen. Deshalb verbanden Trotzki und die RevolutionärInnen im Bürgerkrieg die Verteidigung der Republik mit dem Kampf für die Revolution. Was Trotzki bekämpfte, war die Unterordnung der revolutionären Ziele unter diese Republik und ihre Verteidigung, wie sie von Zentristen der POUM und den Stalinisten vertreten wurde. Das ist genau der Weg, wie RevolutionärInnen in einen Bürgerkrieg eingreifen, der auf beiden Seiten von bürgerlichen Kräften geführt wird, in dem die Arbeiterklasse aber auf der einen Seite kämpft.

Geworkian beschreibt die Taktik der Revolutionäre in Spanien wie folgt: „Sie haben zwar in der ersten Reihe gegen Francos Schergen gekämpft, behielten aber dabei ihre völlige politische Unabhängigkeit von der bürgerlichen Republik und bereiteten den Kampf für eine ArbeiterInnenregierung vor.“ (21) Die politische Unabhängigkeit behält man in einer gemeinsamen Front mit bürgerlichen Kräften, indem die revolutionären Ziele und Forderungen eben nicht untergeordnet oder zurückgestellt werden. So dass für alle nachvollziehbar ist, wenn die gemeinsame Front aufgelöst werden kann und muss, weil der Weg zur Revolution, zur ArbeiterInnenregierung beschritten werden kann bzw. die revolutionären Errungenschaften gegen die bürgerliche Regierung verteidigt werden müssen, die man zuvor noch gegen die Faschisten unterstützte.

Natürlich ist die Situation dann klarer, wenn sich die RevolutionärInnen und die Bürgerlichen gegenüberstehen. Klar, Genosse Geworkian, dass ihr „1937 mit den TrotzkistInnen gemeinsam auf den Barrikaden Barcelonas gestanden“ (22) hättet. Fein, und vorher? Erkläre uns doch, ob RevolutionärInnen in den Gegenden in der spanischen republikanischen Armee kämpften, wo eine Teilnahme an anarchistischen oder POUM-Milizen unmöglich war, weil es keine gab. „In der ersten Reihe gegen Francos Schergen“ schreibt Geworkian. Der „ersten Reihe“ von was?: der gemeinsamen Front zur Verteidigung der Republik natürlich! Da hilft alles RIO-Schamanentum nichts, weder die Geschichte noch diese grundlegende bolschewistische Taktik kann Geworkian wegzaubern. RIOs Methode zur Bewahrung ihrer unbefleckten Unabhängigkeit aber hätte auch in Spanien ein weitgehendes Raushalten aus dem Bürgerkrieg bedeutet!

Wir bedauern, dass RIO dies nicht mal verstehen will, wenn es Trotzki erklärt. Zum Glück stellen Kriege höchste Anforderungen an Programme, Strategien und Taktiken von Linken, so dass sich hier wie nirgendwo anders ihr wahrer Gehalt zeigt: der eines zusammenhängenden Systems von Handlungsanleitungen, die jederzeit auf der Höhe sich möglicherweise rasch verändernder Situationen stehen oder der einer nachgekauten dünnen Bettelsuppe leerer Phrasen und Beschwörungsformeln hinter der „trotzkistischen“ Fassade.

Die Unabhängigkeit der Klasse erkämpfen

Um der Klasse und den Linken zu helfen, die von RIO so beschworene „Unabhängigkeit“ zu erreichen, ist natürlich nötig, dass sich linke, ja revolutionäre Programmatik entwickelt und mit der Klasse bzw. ihrer Avantgarde verbindet. Neben der – sicher schwierigen – direkten Intervention in die Kämpfe sind dazu die Debatten mit den Kräften nötig, die das tun.

Dazu war die schon erwähnte Konferenz in Jalta die wichtigste Gelegenheit im letzten Jahr. Dieses Jahres gab es eine Konferenz zum Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus, die am 9./10. Mai 2015  in Lugansk und Altschewsk stattfand. Eingeladen hatte die KP von Lugansk (23), gekommen waren 177 Delegierte von 31  kommunistischen und sozialistischen Organisationen aus 17 Ländern. Wohl die bisher größte internationale linke Konferenz auf dem Boden der Ukraine. Nachdem die Regierung von Lugansk sie verbieten wollte, lud Mosgowoj die Konferenz nach Altschewsk ein. Ihre Beteiligung an der Demonstration und das Konzert von Banda Bassotti, einer antifaschistischen italienischen Band, wurden von der Bevölkerung gefeiert.

Geworkian gefällt sich darin, Mosgowoj mit dem Verweis auf seine Religiosität und seinen Sexismus zu erledigen. Wir kritisieren das eine wie das andere. Wir halten aber fest, dass er ein heftiger Kritiker der Regierungsorgane war, für einen ukraine-weiten Kampf gegen die Oligarchen aufrief und kommunistische Propaganda in seinem „Gespenster“-Bataillon nicht nur zuließ, sondern ausdrücklich förderte.

Klassenkämpfe und Bürgerkriege können sprunghafte Radikalisierungen nach links bewirken, was auch zu Widersprüchlichkeiten bei den KämpferInnen führen kann. Sie können auch zur politischen Degeneration nach rechts führen. Wie das Beispiel RIO zeigt, erzeugt aber auch dieser Prozess Widersprüchlichkeiten.

Geworkian ist nicht nur ignorant, sondern fälscht auch. Während sein Genosse Flakin noch feststellte, dass die Jalta-Konferenz von jemand organisiert wurde, der später auch mit Rechten zusammenarbeitete, erklärt jener: „Richard Brenner, führendes Mitglied der Liga für die Fünfte Internationale (L5I, internationale Strömung der GAM), ließ sich zuerst zur Teilnahme an einer von Rechtsextremen organisierten Konferenz und dort noch zur Unterstützung von ‚Neurussland‘ hinreißen, wie wir bereits kritisiert haben.“ Wir haben oben dazu genug geschrieben. Bemerkenswert ist hier nur, dass bei Flakin unser Genosse noch auf einer Konferenz von Linken war, jetzt wird der Eindruck erweckt, da seien Rechtsextreme gewesen.

Solidarität mit BOROTBA!

Die von RIO – wie von den meisten anderen Zentristen angefeindete und oftmals verleumdete – Organisation BOROTBA hat sicher politische Schwächen. So verteidigen, ja glorifizieren die BorotbistInnen ihre programmatische Schwäche, die sich im Fehlen von Analysen zeigt und darin, dass zum Beispiel den programmatischen Erklärungen der Jalta-Konferenz keine eigenen Losungen gegenübergestellt werden. Leninzitate auf Facebook können das nicht ersetzen. Historisch hat das natürlich seine Ursache in der Entstehungsweise von BOROTBA, der Sammlung von GenossInnen unterschiedlicher Überzeugungen auf aktivistischer Grundlage. Der Verzicht darauf, revolutionär-marxistische Programmatik zu entwickeln – was natürlich im Bürgerkrieg nicht die einfachste Aufgabe ist –  kann in der Zukunft noch zu größeren Schwankungen führen als bisher.

So hat BOROTBA die völlig richtige militärische Allianz mit verschiedenen nationalistischen Kräften im Donbass mit einem gewissen Verzicht auf politische Kritik verbunden. Sie haben also die gleiche falsche, zentristische Auffassung von Bündnispolitik wie RIO – nämlich dass ein militärisches Bündnis zugleich auch eine gewisse politische Partnerschaft beinhaltet -, aber sie ziehen den umgekehrten Schluss. Damit stehen sie zwar im Kampf auf der richtigen Seite und haben die Möglichkeit – anders als RIO – in den Klassenkampf einzugreifen. Sie tun das auch, wenn auch zu sehr mit dem Fokus auf Aktion, zu wenig auf politische Propaganda. Ohne diese wird aber das politische Bewusstsein der Klasse, das sich derzeit vor allem in vagem „Linkssein“, im Bezugnehmen auf die Sowjetunion und im antifaschistischen und anti-oligarchischen Kampf ausdrückt, sich nicht auf die Höhe der Aufgaben heben können.

Eine Sache ist es, im Bürgerkrieg verlassene Fabriken oder landwirtschaftliche Betriebe zu besetzen und unter eigener Kontrolle zu führen wie die Kolchose in Altschewsk, eine andere aber, diese dann auch politisch zu verteidigen. Das verlangt danach, den bürgerlichen Parlamenten und Verwaltungen, sei es im Donbass oder der ganzen Ukraine, Arbeiterräte und Milizen entgegenzusetzen, um die Macht der Oligarchen zu brechen und in Richtung Revolution zu marschieren.

Diese unzureichenden Angriffe auf die russischen Nationalisten berechtigen aber keineswegs dazu, BOROTBA selbst als nationalistisch zu bezeichnen, genauso wie die unzureichende Aufarbeitung des Stalinismus in der Organisation als Ganzes dazu berechtigt, BOROTBA als stalinistisch zu titulieren. Solche Logik – angewandt auf RIO, Flakin und Geworkian – würde diese als Agenten des US- oder EU-Imperialismus oder des Kiewer Regimes abqualifizieren. Dagegen würden wir sie genauso in Schutz nehmen.

Aber offensichtlich ist es das wichtigste Anliegen RIOs, jegliche Handlungsper-spektive und praktische Solidarität zu verbauen. Das gipfelt in ihren ständigen Angriffen auf und Verleumdungen gegen BOROTBA, die sich von denen ukrainischer Nationalisten wie der LINKEN OPPOSITION oder zu den Faschisten übergelaufenen Anarchisten inhaltlich nicht unterscheiden. Geworkian aber versucht dabei jetzt, uns zu instrumentalisieren:

„In diesem Zusammenhang kritisiert die GAM erstmalig auch Borotba, weil diese auf ‘eine ausreichende politische Kritik an [den NationalistInnen im Osten] verzichtet’. Ist Borotba erst Anfang dieses Jahres so geworden – oder warum bekam die Gruppe vorher die politische Unterstützung der GAM?“ (24)

Dazu stellen wir fest, dass wir weiter solidarisch mit BOROTBA zusammenarbeiten. Die Tatsache, dass wir ihre Kritik an den NationalistInnen – die selbst Geworkian nicht leugnet – für nicht ausreichend halten, steht dem überhaupt nicht entgegen. Wir, wie die GenossInnen von BOROTBA, betrachten das als eine solidarische Kritik.

Im Bürgerkrieg in der Ukraine sind Tausende gestorben, darunter etliche linke KämpferInnen. Andere sind im Exil oder im Gefängnis. Europa ist hart an die Grenze eines Krieges gerutscht. Das Mindeste, was Linke in Europa angesichts dieses Dramas tun können und müssen, ist, neben der Organisierung von Solidarität die aufgeworfenen Fragen zu klären. Einige Strömungen haben sich in der Ukraine-Frage völlig disqualifiziert und desavouiert.

So der überwiegende Rest der ukrainischen Linken, vor allem die „Linke Opposition“, die in sich nicht weniger uneinheitlich ist als BOROTBA. Alle diese Figuren haben ihre Anpassung an die verschiedenen bürgerlichen Kräfte, die den Maidan dominierten, danach konsequent fortgesetzt bis dahin, die Angriffe der Armee auf den Osten und die Aktionen der Faschisten in Odessa zu rechtfertigen.

In allen Ländern gibt es Linke, die solches Anschmieren an Reaktion und Konterrevolution gutheißen und selbst praktizieren. Mit diesen Kräften werden die deutschen wie alle anderen Imperialisten nicht zu bekämpfen sein. Sie stehen auf deren Seite.

Die Neutralisten, die Schwankenden, die Verwirrten – vor allem auch RIO – sollten sich den Problemen ernsthaft stellen und auch die eigene Methodik überprüfen.

Das Vorgehen von RIO, von den ArbeiterInnen im Donbass zu fordern, dass sie sich erst einmal klassenmäßig organisieren und am besten gleich die Führung der Volksrepubliken übernehmen müssten, ist schlicht ultimatistisch. Wie immer geht linker Radikalismus Hand in Hand mit Opportunismus, in diesem Fall gegenüber der deutschen Bourgeoisie und ihrer Politik wie gegenüber den Maidan-Linken, die angefangen von libertären und anarchistischen KleinbürgerInnen über den rechten Flügel der „Trotzkistischen Familie“ (Mehrheit der „Vierten Internationale“, SAV/CWI, Marx21/IST, AWL,…) bis hin zu den Grünen reichen. Dabei dürfte die Anpassung an die „Trotzkisten“ für RIO der Hauptbeweggrund sein.

Was immer aber ihre Beweggründe sein mögen, je klarer die Klassenfronten werden, desto abenteuerlicher, unmarxistischer und inkonsistenter wird RIOs Position zur Ukraine-Frage. Verwirrung und Verzweiflung liegen ganz auf ihrer Seite.

Endnoten

(1) In den Reihen der DKP gibt es unterschiedliche Begründungsmuster; manche sehen Russland als den „besseren“ Imperialismus an, andere als kapitalistisch, aber nicht imperialistisch, manche scheinen noch in alten Ost-West-Reflexen verhaftet. Überwiegend sehen aber auch sie den Konflikt als vor allem einen zwischen den westlichen Imperialisten und Russland und unterschätzen die Dimension des Bürgerkrieges, die für uns bis heute das dominierende Element ist.

(2) http://www.icor.info/2015-1/aufruf-der-icor-zum-antikriegstag-2015

(3) Die Trotzkistische Fraktion hat übrigens auch nicht die Artikel RIOs übersetzt oder auf ihrer internationalen Seite veröffentlicht.

(4) http://www.klassegegenklasse.org/nach-dem-waffenstillstand/

(5) http://www.klassegegenklasse.org/debatte-muss-man-das-kleinere-ubel-unterstutzen/

(6) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(7) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(8) http://www.klassegegenklasse.org/erneuerung-von-oben/

(9) Die Erklärung von Jalta, http://kai-ehlers.de/texte/thesen/2014-07-16-erklaerung-von-jalta. Zur inhaltlichen Auseinandersetzung und Kritik der Erklärung siehe auch: Dave Stockton, A populist, not a communist manifesto, http://www.workerspower.co.uk/2014/09/ukrain-yalta-conference-manifest

(10) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(11) Martin Suchanek: „Die Ukraine und die Verwirrung des trotzkistischen Zentrismus“, RM 46, Oktober 2014, S. 175/176

(12) Trotzki, Die Unabhängigkeit der Ukraine und die sektiererischen Wirrköpfe, In: Trotzki Schriften 1.2., Rasch und Röhring, Hamburg 1988, S. 1246

(13) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(14) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(15) Ebenda

(16) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(17) http://www.klassegegenklasse.org/die-reaktion-herrscht-in-der-ukraine/

(18) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(19) BRKI, Thesen zur anti-imperialistischen Einheitsfront, RM 36, S. 77 – 84

(20) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/

(21) Ebenda

(22) Ebenda

(23) Die KP von Lugansk hat die sich neu formiert aus Mitgliedern der KP der Ukraine, die in einem hilflosen Versuch, der Repression zu entfliehen, alle ihre des „Separatismus“ verdächtigen Mitglieder ausgeschlossen hat.

(24) http://www.klassegegenklasse.org/zwischen-verwirrung-und-verzweiflung/




Lutte Ouvrière: Dogmatischer Zentrismus

Pouvoir Ouvrier, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Vorwort der Redaktion

Im Folgenden veröffentlichen wir einen Text unserer ehemaligen französischen Sektion. Der Text ist Ende der 80er Jahre in unserem französischsprachigen theoretischen Journal erschienen und liefert eine Analyse der Politik von Lutte Ouvrière (LO), einer der größten trotzkistischen Organisationen in Frankreich.

Wir veröffentlichen diesen Text, der ursprünglich 1989 in „Pouvoir Ouvrier“ Nr. 14 veröffentlicht wurde, weil er nach wie vor nichts an Aktualität eingebüßt hat. Lutte Ouvrière ist so konsequent in ihrem Dogmatismus, dass ihre Positionen über ein Vierteljahrhundert massiver globaler politischer Umbrüche fast identisch geblieben sind. Auch dies ist bezeichnend für die leblose politische Methode dieser Organisation. Allerdings muss man ihr zugestehen, dass diese Verknöcherung sie zumindest vor noch gröberen politischen Fehlern und dem Abdriften in postmoderne, liberale Ideenkreationen bewahrt hat.

Lediglich ihre Position gegenüber der Front National (FN) hat sich in diesen Jahrzehnten verändert – zum Positiven. Unter dem Druck des Erstarkens der FN konnten sie unmöglich weiter ihren Kurs der Ignoranz rechtfertigen. Auch wenn LO nach wie vor in ihrer ökonomistischen Politik gefangen ist und weiterhin den politischen Kampf zu Gunsten des rein gewerkschaftlichen Kampfes vernachlässigt, nimmt sie nun an Aktionen gegen die FN teil und erkennt den qualitativen Unterschied zwischen FN u.a. bürgerlichen Parteien.

Die Sowjetunion ist in der Zwischenzeit gefallen, der Kapitalismus wurde bis auf wenige Ausnahmen auf globaler Ebene restauriert. Daher ist eine Positionierung zu den ehemaligen degenerierten Arbeiterstaaten – abgesehen von Kuba und Nordkorea – zwar keine unmittelbare Notwendigkeit im Klassenkampf, wie sie es noch vor 30 Jahren war. Dennoch ist eine historische Analyse und Positionierung nicht unwichtig, denn sie ist das Fundament, aus dem Schlüsse für den heutigen und zukünftigen Klassenkampf gezogen werden.

Damals wie heute ist der Grund, dass wir uns so intensiv mit einer anderen Strömung der ArbeiterInnenbewegung beschäftigen, ein doppelter. Erstens tun wir dies, um eine Diskussion innerhalb der kommunistischen Bewegung anzufachen und zu bestehenden Diskussionen beizutragen. Wir hoffen, durch unsere Argumente überzeugen und somit zum Aufbau einer revolutionären Internationale – die jetzt mehr denn je eine objektive Notwendigkeit darstellt – beizutragen. Ebenso begrüßen wir es, wenn eine ebenso ehrliche, wohlmeinende und fundierte Kritik zurückkommt, was leider nur selten der Fall ist.

Zweitens können wir durch eine solche analysierende Polemik unsere eigenen Positionen klarer darstellen und für interessierte LeserInnen schärfer herausarbeiten.

Den Anlass für eine erneute Beschäftigung mit LO haben uns die etwas intensiveren Kontakte zum LO-Milieu in den letzten beiden Jahren geliefert. Keineswegs geht es uns bei dieser Veröffentlichung darum, zu beleidigen oder uns sektiererisch von anderen Organisationen abzugrenzen. Im Gegenteil: solche Polemiken ändern nichts an unserem solidarischen Verhältnis und unserem Willen zur Zusammenarbeit.

Lutte Ouvrier: Dogmatischer Zentrismus

Von allen „trotzkistischen“ Organisationen Frankreichs ist Lutte Ouvrière (LO) wahrscheinlich die bekannteste unter ArbeiterInnen. Mit ihren hunderten Betriebs-Flugblättern und ihrer regelmäßigen Teilnahme an Wahlen ist ihr Ausmaß der Intervention beeindruckend. Aber es ist die Qualität der Intervention, die zählt. Wenn das nicht auch für die PCF gelten würde, die eine andere, quantitativ viel beeindruckendere Intervention in den Klassenkampf hat.

In diesem Artikel untersuchen wir die Politik von Lutte Ouvrière in mehreren Fragen: der Betriebsarbeit, dem Kampf gegen Rassismus und Nationalismus, aber auch in einer Reihe anderer eher historischer und theoretischer Fragen, die wir behandeln, weil die Intervention von LO weitergeht, als nur spontan Antworten auf die aktuellen Entwicklungen des Klassenkampfs in Frankreich zu geben. Ungeachtet ihrer Verachtung der Theorie und ihrer deutlichen Bevorzugung einer populistischen Intervention in „die Massen“ stützt LO ihre Politik allerdings auf ein theoretisches Fundament, eine Methode.

Die LO liebt es, gewisse revolutionäre Wahrheiten zu wiederholen wie „die Befreiung der Arbeiter wird das Werk der Arbeiter selbst sein“ oder „ein Volk, das ein anderes unterdrückt, wird niemals frei sein“ oder etwa „es braucht eine revolutionäre Partei“. Welche ihrem Namen würdige RevolutionärInnen könnten dem nicht zustimmen? Dennoch, die Schwierigkeiten beginnen dort, wo diese Wahrheiten in praktische Aktionen des internationalen Klassenkampfes übersetzt werden müssen, das heißt in ein Aktionsprogramm.

Und gerade das ist es, was LO nicht gelingt. Weil LO es nicht schafft, eine konkrete Verbindung zwischen dem abstrakten „marxistischen“ Diskurs und ihrer täglichen Praxis herzustellen, ist sie eine jener Organisationen, die, ein paar „revolutionäre Wahrheiten“ hinzufügend, ganz den spontanen Forderungen der ArbeiterInnen folgt.

Das spiegelt den zentristischen Charakter der LO wider, also die Tatsache, dass sie zwischen revolutionärer Politik und reformistischer Politik schwankt. Wir sagen nicht, dass alles, was LO macht, schlecht ist, auch nicht, dass sie unfähig ist, Positionen anzunehmen, die im Abstrakten revolutionär wären.

Was wir kritisieren, ist die Unfähigkeit von LO, eine konsequente revolutionäre Praxis zu entwickeln – dafür fehlt es ihr an einem Forderungskomplex, an Taktiken und an einem revolutionären Aktionsprogramm.

Wie alle Bruchstücke, die aus der Vierten Internationale hervorgingen, schwankt LO zwischen Sektierertum und Opportunismus. Wie andere auch hat sie ihre eigenen Fetische, die sie vor allen Abweichungen schützen sollen. Für die PCI von Pierre Lambert sind das „Einheit“ und „Demokratie“. Für die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) ist das „Antikapitalismus“.

Für die LO ist es eine scheue – und mitunter sektiererische – Opposition gegenüber nationalistischen Bewegungen, die Priorität auf die Verankerung der AktivistInnen in der ArbeiterInnenbewegung (die tw. bis zur Unsichtbarkeit reicht) und die Propaganda für Streikkomitees.

Wir analysieren hier, wie die an sich korrekten Positionen von LO ihres revolutionären Inhalts beraubt und in sterile Dogmen verwandelt werden.

Angesichts des offenkundigen Opportunismus der PCI und der LCR kann die LO den Eindruck einer prinzipienfesten Organisation machen, die sich qualitativ von anderen, sich trotzkistisch nennenden Organisationen auf der Welt unterscheidet. Doch dem ist nicht so. LO ist durchaus Teil der traurigen Geschichte des Zentrismus, in welchen die Vierte Internationale versunken ist. Dieser Zentrismus, der schon 40 Jahre am Leben ist, markiert einen radikalen Bruch mit der revolutionären, konsequenten, trotzkistischen Politik, die ihm vorangegangen ist.

Trotz aller Versuche, mit dieser Tradition Schluss zu machen, konnte LO nicht weitergehen, als einige isolierte Kritikpunkte am Opportunismus anderer zentristischer Strömungen zu entwickeln, oft zwar richtige, aber immer nur Teilkritiken. Sie hat es nicht geschafft, sich Trotzkis Methode anzueignen: die marxistische Übergangsmethode, die darin besteht, programmatische Antworten auf die Probleme des Klassenkampfes zu entwickeln und fortschreitend und im Detail konkrete Lösungen auf die Frage „Was tun?“ vorzuweisen.

Wir spielen nicht mit Worten. Lutte Ouvrière gibt vor, eine revolutionäre Organisation zu sein. Wir stellen diese Ansicht in Abrede und zeigen die zentristische Natur dieser Organisation auf. LO baut derzeit eine internationale Tendenz auf, die Union Communiste Internationaliste (UCI). Sie versucht andere, ähnliche Organisationen, in anderen Teilen der Welt aufzubauen. Wir denken, dass die Gründung solcher Gruppen nichts als Verwirrung stiften und zur politischen Verwirrung einer neuen Generation von AktivistInnen beitragen wird, aber diesmal auf internationaler Ebene.

Wir versuchen, die AktivistInnen in LO von der Richtigkeit unserer Analyse ihrer Organisation und von der Richtigkeit unserer politischen Methode zu überzeugen. Wie LO selbst sagt, halten wir die brüderliche und loyale Debatte zwischen RevolutionärInnen über die Schlüsselfragen des Klassenkampfes, darüber wie man interveniert, welche Politik eine revolutionäre Partei braucht und darüber, wie letztere siegen kann, für notwendig.

Die Intervention von RevolutionärInnen in Betriebe und Gewerkschaften

Jedes Mal, wenn sie in einen Streik interveniert, hebt LO die Notwendigkeit hervor, ein Streikkomitee zu bilden. An sich hat sie dabei recht. Aber das ist nur der Anfang der Geschichte. Die Rolle der reformistischen Gewerkschaftsführung tritt in allen Streiks zu Tage, selbst da, wo diese sehr wichtigen Streikkomitees existieren, verraten sie mehr oder weniger offen die ArbeiterInnen. Ihr Einfluss ist enorm und es geht darum, eine umfassende Politik zu entwickeln, die es den ArbeiterInnen ermöglicht, mit ihrer aktuellen Führung zu brechen und sich effektiv gegen sie zu verteidigen.

Während sie die opportunistische Arbeit der LCR und der PCI in den Gewerkschaften und den Druck auf den „linken“ Flügel der Gewerkschaftsbürokratie ablehnt, entscheidet sich LO, in Richtung der „breiten Masse der ArbeiterInnen“ zu arbeiten und vernachlässigt die Entwicklung einer spezifischen revolutionären Politik in den Gewerkschaften in Bezug auf den Reformismus. In den Publikationen von Lutte Ouvrière findet man nichts über eine Politik zur Umwandlung der Gewerkschaften, nicht einmal einen Aufruf zur gewerkschaftlichen Organisierung.

Die AktivistInnen der LO haben die Tendenz, ihre Position zu rechtfertigen, indem sie sich zweierlei Argumente bedienen, das eine so falsch wie das andere. Zunächst glauben sie, dass jede Organisation, die ernsthaft in einen gewerkschaftlichen Bereich interveniert, notwendigerweise vor der Bürokratie kapitulieren muss (eine Position, die den einfachen Mangel an Vertrauen in das eigene Programm und in die eigene Fähigkeit, die Intervention der AktivistInnen politisch anzuleiten, zeigt). Dann behaupten die GenossInnen der LO, dass der Druck der „breiten Masse“ der ArbeiterInnen auf die revolutionären AktivistInnen geringer wäre als jener der gewerkschaftlichen Bürokratie.

Aber die Hegemonie der reformistischen Gewerkschaftsführung über die „breiten Massen“ übt ihren Druck unausweichlich auf die „breiten Massen“ selbst aus sowie auch auf die revolutionäre Organisation.

Um dem entgegenzutreten, kann sich die Organisation nur auf die Richtigkeit ihres Programms und auf die politische Schulung und Disziplin ihrer AktivistInnen verlassen.

LO suggeriert, dass die wesentliche Taktik, um dem Einfluss der Gewerkschaftsführung entgegenzuwirken, der Aufbau von Streikkomitees ist. Für LO kommt das Streikkomitee nicht zwangsläufig aus der Generalversammlung der streikenden Belegschaft. LO ist bereit anzuerkennen und zu ermuntern, wenn ein Häuflein von AktivistInnen sich selbst zum „Streikkomitee“ ernennt, sogar wenn die Mehrheit der ArbeiterInnen darin nicht einbezogen ist. Diese ultralinke und sektiererische Konzeption ist mehr ein Eingeständnis der Schwäche als eine geeignete Taktik, um die Einheit der Klasse zu stärken.

Es ist nur die ArbeiterInnendemokratie (dies schließt den Kampf um die Durchsetzung einer starken und eigenständigen Generalversammlung ein und nicht nur die Bildung eines Streikkomitees) verbunden mit einer klaren ArbeiterInnen-politik, die zum Sieg führen kann. Und das impliziert, dass die Mehrheit der ArbeiterInnen mobilisiert sein muss.

Auch das demokratischste Streikkomitee wird die Bürokratie nicht allein daran hindern können, den Streik auszuverkaufen. Solange Bürokraten die Gewerkschaf-ten dominieren, werden die ArbeiterInnen in ihren Aktionen behindert. Die Bedeutung und Autorität der Führung wird schwer auf Streikbewegungen wiegen, wie der Streik der EisenbahnerInnen und der KrankenpflegerInnen gezeigt hat.

In diesen Streiks gab es einen Kampf, es gab Streikkomitees und es gab eine nationale Koordination. Aber die Gewerkschaftsführung konnte sich dennoch durchsetzen. Und: was macht man den Großteil der Zeit, das heißt in Perioden des „sozialen Friedens“, wenn es kein Streikkomitee gibt? LO liefert keine tagtägliche Taktik für den Kampf gegen die Gewerkschaftsführung.

Die Last der Fehler der Vergangenheit

Es ist einige Jahre her, seit LO eine Broschüre „Der Streik bei Renault April-Mai 1947“ herausgegeben hat. Die AktivistInnen der trotzkistischen Organisation Union Communiste (UC) haben eine wichtige Rolle in diesem Streik gespielt, genauso wie jene der Sektion der Vierten Internationale, der PCI. LO sieht sich ein bisschen als politische Erbin der UC und vermittelt ein sehr wohlwollendes Bild ihrer Arbeit. Aber LO liefert nur eine teilweise und beschränkte Geschichte der UC und zieht nirgendwo Bilanz über ihre Arbeit oder über jene des Streikkomitees, welches in die Bildung der Syndicat Démocratique Renault (SDR) mündete.

Diese kleine Gewerkschaft, die nur kurze Zeit bestand, hat versucht, sich den ArbeiterInnen als neuer gewerkschaftlicher Pol zu präsentieren. Der Misserfolg der SDR hat teilweise das Verschwinden der Organisation vorangetrieben, die sie getragen hatte, die UC, welche sich kurz darauf auflöste.

Der sektiererische Fehler der UC zeigt gut die Versuchung auf, die sich für RevolutionärInnen in einer solchen Situation ergeben kann (in der zahlreiche ArbeiterInnen nicht mehr in der gleichen Organisation bleiben wollen wie die Gewerkschaftsbürokratie): dem Druck der Basis nachzugeben und der Aufgabe den Rücken zu kehren, eine gewerkschaftliche Opposition aufzubauen, eine Basisbewegung in den Gewerkschaften. In dem Maß, wie man dieselbe Methode und dieselbe Versuchung bei LO wiederfindet, macht sie sich gut als Erbin der UC nach ’47.

Man findet übrigens über die gewerkschaftlichen Fragen alle grundsätzlichen Elemente der Politik der LO: Ihre Entscheidung, unbedingt in Richtung „des Milieus der Gesamtheit der ArbeiterInnen, organisiert oder nicht, politisiert oder nicht“, des Arbeiters „in der Masse der ArbeiterInnenklasse“ zu arbeiten. Dieser Charakterzug von LO verarbeitet die Erfahrung von ’47 bei Renault und bestätigt diese bedingungslos.

Diese Politik basiert auf einem Bild der ArbeiterInnenklasse als grundlegend getrennt in GewerkschafterInnen („eine sehr kleine Schicht des Proletariats (…) deren Interessen oft mit denen der Mehrheit der ArbeiterInnenklasse auseinandergehen“ – Lutte Ouvrière in: Le mouvement trotskyste, S. 12) und der großen Masse der „einfachen ArbeiterInnen“. Statt die gemeinsame Aktion der kämpfenden ArbeiterInnen – gewerkschaftlich organisiert oder nicht – der Gewerkschaftsbürokratie entgegenzustellen, stellt LO diese ArbeiterInnen den Gewerkschaften selbst gegenüber!

Die Bewegung an der Basis, revolutionäre Gewerkschaftsopposition

Es ist nicht schwer, den Hass zu verstehen, der unter den ArbeiterInnen hervortreten kann, wenn die Gewerkschaftsbürokraten versuchen, den Ausdruck ihres Willens zu verhindern, beispielsweise indem ein Streik sabotiert wird. Die Pflicht von RevolutionärInnen ist es, diesen Hass zu bündeln und in Richtung der Bürokraten zu lenken und nicht gegen die Gewerkschaften als solche.

Man kann das Hindernis nicht umgehen, das von der reformistischen Führung der bürokratisierten Gewerkschaften repräsentiert wird. Im Gegenteil, man muss die organisatorisch und politisch Besten unter den ArbeiterInnen finden, um die Gewerkschaften in Instrumente des Klassenkampfes umzuwandeln.

Das impliziert ein Schwimmen gegen den Strom, einen Kampf, den LO nicht austragen will. Denn es ist immer viel einfacher, in einem Kampf den antibürokratischen Reflexen einer Bewegung zu folgen, als zu versuchen, die ArbeiterInnen mit einer antibürokratischen und antireformistischen Politik auszustatten, die das Ziel hat, Gewerkschaften u.a. Massenorgane aufzubauen. Die Aufgabe wird umso schwieriger, wenn es sich um eine Organisation wie LO handelt, die nicht politisch gewappnet ist, um der Bürokratie die Stirn zu bieten.

Das Wiederaufleben von Kämpfen seit Anfang 1988 verlangt eine richtige Antwort auf dieses Problem. Eine der grundsätzlichen Achsen trotzkistischer Politik muss die Einheit aller kämpfenden ArbeiterInnen in einer gewerkschaftlichen Basisbewegung sein. Eine solche Gewerkschaftsopposition, entschlossen antibürokratisch, muss all jene organisieren, die im Gegensatz zu LO verstanden haben, dass man sich für eine Gewerkschaft des Klassenkampfes auch innerhalb der Gewerkschaft organisieren muss, um die gewerkschaftliche Einheit und Vereinigung in den Kämpfen durchzusetzen.

Demnach müssen bei einem Streik die Streikenden auf einer demokratischen und eigenständigen Streikversammlung ein Streikkomitee wählen, aber in der Gewerkschaft bleiben bzw. dieser beitreten, um die Manöver der reformistischen Gewerkschaftsführungen zu durchkreuzen. Anstatt die Bürokraten zu verstärken, wird die Ankunft junger, neuer, im Kampf gehärteter AktivistInnen den ArbeiterInnen die Möglichkeit geben, die Bürokratie zu destabilisieren und eine Massengewerkschaft der Klasse zu schaffen.

Es ist nicht einfach, eine solche Politik in die Tat umzusetzen. Aber das ist der Weg, den man gehen muss, wenn man will, dass die ArbeiterInnen an der Basis alle Versuche der reformistischen Gewerkschaftsbürokraten, ihre Bewegung (die der Eisenbahne-rInnen und der KrankenpflegerInnen!) zu zerstören, durchkreuzen können.

Wir bemerken beiläufig, dass LO zur Zeit des Streiks der EisenbahnerInnen 1986/87 reichlich zu dieser Arbeit hätte beitragen können. Allerdings hat sich die „berufsübergreifende Koordination“ am Ende der Bewegung aufgelöst, anstatt einen Aufruf zum Aufbau einer Gewerkschaftsopposition zu starten. Selbstverständlich existieren zahlreiche Verbindungen zwischen den AktivistInnen unter den EisenbahnerInnen an der Basis, die während des Streiks geknüpft wurden. Das stellt eine Errungenschaft dar im Vergleich zur Situation vor dem Streik. Aber um die Effizienz dieser neuen Verbindungen zu maximieren, braucht es eine Bewegung der EisenbahnerInnen an der Basis, die eine antibürokratische und kämpferische Opposition organisieren und Initiativen zum Kampf ergreifen kann. Eine solche Perspektive hätte einen Effekt auf zehntausende ArbeiterInnen, aber auch auf die ganze ArbeiterInnenbewegung haben können.

LO zieht es vor, den Kampf zur Umwandlung der Gewerkschaften in revolutionäre Werkzeuge zu vermeiden. Sie scheint zu glauben (wie der Titel ihrer Broschüre zeigt: „Die Gewerkschaften in den imperialistischen Ländern: Vom Klassenkampf zur Einbeziehung in den Staat“), dass diese Schlacht schon verloren sei – deswegen, weil sie lieber auf Streikkomitees setzen und auf eine Politik, deren Logik die Bildung von nicht-revolutionären, aber von LO kontrollierten Parallelgewerkschaften ist.

LO scheint nicht zu verstehen, dass sogar die am wenigsten politisierten und am wenigsten gewerkschaftlich organisierte „einfachen ArbeiterInnen“ eine Tendenz haben, im Kampf den schon an der Macht befindlichen Gewerkschaftsführungen zu folgen. Tatsächlich bevorzugt LO es, neue „Gewerkschaften“ zu errichten (denn das permanente Streikkomitee ist letztendlich nichts anderes als eine Gewerkschaft).

Was die Abhandlung von LO über „die große Masse der ArbeiterInnen“ betrifft, erweist sie sich hier als ein Versuch, die kommunistische Arbeit in den Gewerkschaften „auszuschalten“, um eine Organisation neben den Gewerkschaften und gegen sie einzuführen. Trotzki hatte eine sehr strenge Haltung gegenüber solchen ultimatistischen „KommunistInnen“:

„Aus dem Vorhergehenden folgert ganz klar, dass trotz fortschreitender Degeneration der Gewerkschaften und trotz ihres Verwachsens mit dem imperialistischen Staat die Arbeit innerhalb der Gewerkschaften nicht nur nichts von ihrer Wichtigkeit einbüßt, sondern als eine Notwendigkeit nach wie vor bestehen bleibt und in gewissem Sinne für jede revolutionäre Partei sogar noch wichtiger denn je wird. Die Sache, um die es nach wie vor geht, ist hauptsächlich der Kampf um den Einfluss auf die Arbeiterklasse. Jede Organisation, Partei oder Fraktion, die sich den Gewerkschaften gegenüber eine ultimatistische Stellungnahme erlaubt, d.h. der Arbeiterklasse im Wesen den Rücken zuwendet, bloß weil ihr deren Organisationen nicht gefallen, ist zum Untergang bestimmt. Und es muss gesagt werden, sie verdient ihr Schicksal.“ (1)

Die Forderungen?

Sogar das Forderungsprogramm von LO ist alles andere als der Situation angemessen. Ihr erster Reflex, in ihrer ökonomistischen Politik fundiert, besteht darin, das zu wiederholen, was die ArbeiterInnen schon sagen und wissen. Folglich hebt LO seit über zwei Jahren in ihrer Wochenzeitschrift die Frage der Löhne hervor. Nochmals, daran ist nichts Schlimmes. Doch die Aufgabe von RevolutionärInnen ist es, eine Brücke zwischen den Kämpfen von heute zur Revolution zu schlagen. LO genügt es aber, das zu wiederholen, was die ArbeiterInnen schon wissen und darauf schöne Reden über die sozialistische Zukunft zu setzen.

Diese Methode lässt sich weit in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zurückverfolgen. Sie hat ihren Ursprung in der Zweiten Internationale vor 1914, wo die zunehmende Loslösung der revolutionären Ideologie von den Taten mehr und mehr ersichtlich wurde. Für Lenin und Trotzki musste man diese opportunistische Methode ersetzen durch eine Übergangspolitik, ein System von Losungen, die es den ArbeiterInnen erlauben, ihre unmittelbaren Kämpfe zu gewinnen und zugleich auf den Kampf zur Zerschlagung des Kapitalismus verweisen.

Nehmen wir als Beispiel dieser marxistischen Methode, die von Lenin und Trotzki wieder erarbeitet wurde, die Frage der gleitenden Lohnskala. Diese Forderung ist dazu bestimmt, die ArbeiterInnen gegen Inflation zu schützen, und über den Aufbau von Komitees der ArbeiterInnen und Hausfrauen, um die ArbeiterInnenkontrolle ganz auf die Gesellschaft auszuweiten und die Preise zu kontrollieren. Zumindest die FührerInnen von LO sind mit dieser Losung vertraut, weil sie hin und wieder auf ihren Treffen anlässlich der Wahlen davon sprechen. Aber man findet keine systematische Propaganda zu dieser Losung, weder im Journal der LO noch in ihren Flugblättern oder Plakaten.

Man kann daraus nur folgern, dass diese unbeachtet gebliebene Übergangslosung für LO ein einfacher Ausdruck von Orthodoxie ist, den es hin und wieder wie einen Katechismus zu wiederholen gilt, ohne daran zu glauben, und der keinen überwindenden Inhalt enthält. Doch das ist nicht die Methode, die Trotzki zu diesem Bereich entwickelt hatte.

Ein anderes fundamentales Element der Übergangspolitik ist die Anwendung der Einheitsfronttaktik, um sich den aktuellen politischen FührerInnen der ArbeiterInnenklasse zu stellen, das heißt den Führungen der PS und der PCF. Die streikenden ArbeiterInnen müssen die Unterstützung der reformistischen Parteien fordern und sagen: „Hier sind unsere Forderungen. Unterstützt sie! Unterstützt unseren Kampf, in Worten, finanziell, stellt uns die Ressourcen der Gemeindeverwaltung zur Verfügung, nehmt an unseren Kundgebungen teil!“

Bei LO gibt es eine solche Politik nicht. Jedoch kann die Einheitsfront dem Kampf nur dienen, wenn die reformistischen Parteien sie akzeptieren und den ArbeiterInnen nur helfen, klar zu sehen, wenn die reformistischen Parteien sie ablehnen. Es geht nicht darum, einfach nur „Druck“ auf die reformistischen Parteien auszuüben, wie das LO bei den Präsidentschaftswahlen wollte, wo sie ein Ergebnis von 5% anstrebte – man muss eine Kampagne gegen diese FührerInnen und diese Parteien starten. Dazu braucht es klare Losungen und Forderungen.

Die Aufgabe der RevolutionärInnen in den Kämpfen der ArbeiterInnen gegen die Arbeit„geber“ und die Gewerkschaftsbürokratie besteht darin, ihnen zu erklären, was der nächste Schritt im Kampf sein muss, welche die Aufgaben der Stunde sind, die Losungen und Organisationsformen, welche die kämpfenden ArbeiterInnen auf den Weg revolutionärer Politik führen. Aber LO lehnt diese Methode ab. Durch ihre Nachtrabpolitik gegenüber den Streikenden und ihrer sektiererischen Politik gegenüber den Gewerkschaften lässt sie die Führung über die organisierte ArbeiterInnenbewegung in den Händen der Gewerkschaftsbürokratie und der reformistischen Parteien. Sie behütet ihre „revolutionäre Reinheit“, aber gestattet es den ArbeiterInnen nicht, in einem revolutionären Sinn voranzuschreiten.

Der Kampf gegen Rassismus und Faschismus

Einer der bedeutenden Punkte im politischen Leben Frankreichs der letzten Jahre war der Aufstieg des Rassismus und der Front National (FN). Ungeachtet ihres relativen Wahlrückgangs stellt die FN eine permanente Bedrohung für migrantische ArbeiterInnen als auch für die ArbeiterInnenbewegung insgesamt dar. Der institutionalisierte Rassismus von Polizisten und Staatsapparat wird heute durch den brutalen Rassismus und die mordenden AnhängerInnen von Le Pen verstärkt.

Angesichts dieser Plagen haben RevolutionärInnen die Pflicht, die ArbeiterInnen mit den notwendigen Mitteln, d.h. angemessenen Losungen und Aktionsformen, auszustatten für den Kampf gegen die rassistische Spaltung und gegen die Angriffe, die einen bedeutenden Teil des Proletariats treffen werden.

Diese Situation stellt LO vor eine Reihe von Problemen. Wie wir oben schon gezeigt haben, hat LO eine starke Tendenz, den ArbeiterInnen dort zu folgen, wo sie schon handeln. Nun gab es in den letzten Jahren, abseits einiger spontaner Bewegungen in den migrantischen Stadtvierteln, in der ArbeiterInnenklasse keine Bewegung gegen Rassismus oder Faschismus in größerem Umfang. Das hat es LO erlaubt, die Notwendigkeit einer sofortigen Mobilisierung zu negieren, wobei sie abstrakt die schöne Parole der Einheit der ArbeiterInnen predigt; im Großen und Ganzen eine propagandistische Enthaltung, die RevolutionärInnen nicht würdig ist.

Um das totale Fehlen der Aktion gegen Le Pen zu rechtfertigen, erklärt LO: „Derzeit gibt es allerdings keinen großen Unterschied zwischen der klassischen Rechten und der extremen Rechten, zwischen der RPR und der UDF auf der einen Seite, und der Front National auf der anderen.“ (2)

GenossInnen, ihr träumt!

Le Pen, ein beträchtlicher Teil der FN-Führung und der mittleren „Kader“ dieser Organisation sind Faschisten! Die FN selbst ist klar eine rassistische Organisation, deren Wahlerfolg zum großen Teil darauf beruht, dass MigrantInnen zu Sündenböcken abgestempelt werden.

Das Vorhaben ihrer Führung ist die Umwandlung der Partei in eine starke faschistische Organisation gegen MigrantInnen und ArbeiterInnen, die ihre Macht auf der Straße zeigt. Unsere Aufgabe ist es, das schon jetzt zu bekämpfen, auch auf der Straße. Jeder Kundgebung oder Versammlung der FN muss mit einer entschlossenen Opposition von tausenden ArbeiterInnen begegnet werden. Die ArbeiterInnen müssen mit dieser Perspektive auf dem Prinzip „keine Redefreiheit für Faschisten“ mobilisiert werden.

LO sagt das nicht, sie handelt nicht in diesem Sinn. LO hält es nicht für notwendig, dazu aufzurufen, eine Gegendemonstration auf die Beine zu stellen, wenn die Faschisten demonstrieren. Am 1. Mai 1988 hat sie sich damit begnügt, mit der CGT zu demonstrieren. Am 6. November, dem Tag einer faschistischen Demonstration in Paris zur Wiedereinführung der Todesstrafe, hat LO nichts gesagt.

Vor fünf Jahren stellte sich Arlette Laguiller öffentlich gegen eine physische Konfrontation der FN „so lange sie die Verfassung respektiere“. Was für ein Legalismus! Als ob Hitler die Macht nicht „verfassungsgemäß“ erobert hätte! Muss man warten, bis Le Pen aufhört „die Verfassung zu respektieren“ und damit beginnt, offen den Befehl zu geben, gegen MigrantInnen und ArbeiterInnen loszuschlagen? Schon heute sind gewisse Gemeinschaften ausländischer Herkunft rassistischen Attacken ausgesetzt. Schon heute sät die FN ihren anti-migrantischen Hass. Sollte man MigrantInnen, die unter sich bleiben müssen, sagen, sie sollten damit zufrieden sein, dass die Verfassung immer noch respektiert werde? LO zieht es vor, sich mit folgender Abhandlung zu begnügen: (es ist) „bereits notwendig, der extremen Rechten entgegen zu treten. Aber das beste Mittel dafür besteht allein darin, dass die ArbeiterInnenklasse das politische Feld, auf eigene Rechnung kämpfend, einnimmt, die Regierung zurückdrängt und mit ihr die PolitikerInnen der extremen Rechten, sowie die der Linken.“ (3)

Daher, bis zu dem Tag an dem die ArbeiterInnenklasse sich erheben wird, zieht LO keine einzige spezifische Aktion gegen Rassismus oder Front National in Betracht. LO wartet darauf, dass der Kampf der Klassen das Problem selbst regelt, ohne bewusste und besondere Intervention von RevolutionärInnen in diesem Bereich.

Diese Einstellung zeigt, wie weit die reine und erstarrte „revolutionäre“ Politik der LO gehen kann. Unter dem Vorwand abstrakter Orthodoxie – man muss den Kapitalismus schlagen, um Rassismus und Faschismus zu schlagen – schlägt LO vor, auf Zeiten zu warten, in denen sich die ArbeiterInnenklasse in Bewegung setzt – natürlich nur um ökonomische Losungen. Dass sich die Gewerkschaftsbürokratie so dumm äußert, verwundert nicht. Aber wenn es Leute tun, die sich RevolutionärInnen nennen?!

Ungeachtet dessen, was LO sagt, gibt es eine Menge Dinge, die „ab sofort“ getan werden müssen. Zum Kampf gegen Le Pen zählt auch eine spezifische Aktion in den Betrieben, um die Faschisten aus den Gewerkschaften zu jagen, Demonstrationen gegen den Aufstieg der Faschisten zu organisieren, die Räume zu besetzen, auf die die Faschisten zählen, um ihr politisches Gift zu säen, sie bei ihren Aufmärschen zu vertreiben.

Es ist die Klassenverantwortung des französischen Proletariats, auch jene Maßnahmen zu bekämpfen, die sich gegen ethnische Minderheiten richten: Einwanderungskontrollen, Abschiebungen oder Maßnahmen „zur Rückkehrhilfe“, Polizeiübergriffe, Diskriminierung in Bezug auf Beschäftigung, Lohn, Unterkunft oder demokratischer und gewerkschaftlicher Rechte.

Es ist nicht nur eine grundlegende Aufgabe von RevolutionärInnen, all das den ArbeiterInnen im Detail zu erklären, sondern auch sie zu organisieren, um zu handeln. Wir können nicht warten, dass sich das selbstverständlich und spontan entwickelt. Es braucht dringende spezifische Maßnahmen gegen das Übel des Rassismus und Faschismus, gegen rassistische Angriffe auf MigrantInnen, gegen Manifestationen der FN.

Internationalismus

Wie auf dem Gebiet des „Anti-Rassimus“ ist LO in der Lage, ihren „Internationalismus“ zu proklamieren, ohne ihn in die Praxis umzusetzen, besonders wenn es sich um anti-imperialistische Kämpfe handelt. Das ist nicht lediglich eine theoretische Frage. Seit 1984, vor als auch nach der Unterzeichnung des Plans von Rocard durch die FLNKS (Sozialistische Front der nationalen Befreiung Neukaledoniens) und dem „Ja“ beim Referendum, erfordert der Kampf des kanakischen Volkes unsere Unterstützung. Dieser Kampf hat die Frage aufgeworfen, wie man konkret Solidarität zwischen den Völkern herstellt, wie man auf den Defätismus gegenüber dem französischen Imperialismus hinarbeitet.

Die sterile und sektiererische Politik von LO, die darin besteht, ständig „die revolutionären Ideen“ ohne reale Verbindung zur aktuellen Situation zu wiederholen, erlaubt es ihr nicht, Antworten zu geben. LO konzentriert sich eher darauf, allgemein auf anti-imperialistische Kämpfe zu verweisen, und darauf, dass jener der KanakInnen in Neukaledonien im Besonderen nicht von revolutionären KommunistInnen geführt wird, sondern von Nationalisten.

Dieser Wille, den Nationalismus nur abstrakt anzugreifen, hat sich gut am Slogan gezeigt, den LO für ihre Flugblätter 1986 gewählt hat: „Rassismus und Nationalismus, das ist das Gleiche und ist idiotisch“. Diese Position stellt den Nationalismus der Unterdrückten auf die gleiche Ebene wie den der Unterdrückenden.

Die wichtigste Aufgabe von RevolutionärInnen, die mit einem anti-imperialistischen Kampf konfrontiert sind, ist, das Recht der Völker auf Selbstbestimmung zu bestärken, ihren Kampf gegen den Imperialismus zu unterstützen und Initiativen zu ergreifen, die aktive Solidarität in der ArbeiterInnenklasse organisieren. Wir machen das, ohne irgendeine Bedingung aufzustellen, das heißt trotz der aktuellen Führung des Volkes im Kampf. Die politische Organisation, die dieses Vorgehen nicht übernimmt, überlässt das Feld unausweichlich der vorherrschenden imperialistischen Ideologie.

LO sagt, sie unterstütze die KanakInnen, aber sie macht das auf seltsame Weise. In keinem Moment hat LO ihre eigenen AktivistInnen mobilisiert, um die Wichtigkeit der kanakischen Forderung bezüglicher der Arbeitsplätze aufzuzeigen. Selbstverständlich beteiligt sie sich an – man sollte sagen „unterstützt“ – Solidaritätsdemonstrationen, die von der FLNKS ausgerufen wurden. Was man sagen könnte, ist, dass die Solidarität mit den KanakInnen für sie aber völlig sekundär ist im Vergleich zur Sparpolitik. LO fühlt sich nicht in der Lage, beides zugleich durchzuführen.

Der Internationalismus von LO beschränkt sich letztendlich zeitweise auf große Phrasen und auf einige Demonstrationen. Für sie ist es keine Frage, ihn in dieselbe Reihe wie den Kampf gegen Sparpolitik zu stellen. Für uns hat Internationalismus einen ganz anderen Sinn. Es geht darum, während großer Kämpfe wie jenem des kanakischen Volkes und jenen der britischen BergarbeiterInnen im Streik 1984/85, materielle (Spendenaktionen) und politische (Veranstaltungen, ArbeiterInnenboykott, Proteststreiks) Hilfe zu leisten (4).

TrotzkistInnen machen diese Arbeit selbstverständlich, um im betreffenden Kampf zu Hilfe zu kommen; aber es geht gleichfalls darum, den ArbeiterInnen über eine internationalistische Kampagne die Lehren, die man aus diesen Kämpfen ziehen kann, zu erklären, damit sie verstehen, dass die Leute und die Politik, die die Kämpfe im Ausland vereiteln, dieselben sind, die in Frankreich die Unterstützungskampagne sabotieren und im Namen des „Sparens“ eine Politik gegen die ArbeiterInnen durchführen. Zusätzlich gibt eine solche Kampagne RevolutionärInnen die Möglichkeit zu erklären, wie die unterdrückten Massen sich befreien können, was sie machen müssen, um ihrer aktuellen Führung die Stirn zu bieten.

Eine Frage von Ignoranz oder politischer Entscheidung?

Die AktivistInnen von LO haben oft die Tendenz, ihre politische, d.h. programmatische  „Abwesenheit“ zu rechtfertigen, indem sie vorgeben, die Situation in einem entfernten Land nicht gut genug zu kennen.

Allerdings ist es die Pflicht von RevolutionärInnen, auch ohne Kontakt zu RevolutionärInnen, die vor Ort in einem gegebenen Land arbeiten, zu den bedeutendsten Fragen des internationalen Klassenkampfes Position zu beziehen. Nun, wenn die FührerInnen von LO die Situation z.B. in Palästina, in Argentinien oder in Algerien nicht genug kennen, schlagen wir vor, dass sie sich ein paar Wochen Arbeit in eine Bibliothek setzen. Sie werden aus ihren revolutionären Prinzipien und ihrer Lektüre etwas herausholen können!

Aber das ist nicht der eigentliche Kern des Problems, denn es geht eigentlich bei LO nicht um eine Unkenntnis besonderer Situationen im Ausland. Es geht eher um die politische Methode dieser Organisation. Für LO ist sogar die Idee eines internationalen Aktionsprogramms, das eine Reihe von Taktiken mit der bezweckten Machtergreifung verbindet, unvorstellbar.

Indem wir die Intervention von LO in Frankreich untersuchten, haben wir gesehen, dass LO abgesehen von Streikkomitees und Lohnerhöhungen nicht viel Konkretes für ArbeiterInnen zu bieten hat. Dieses politische Unvermögen wirkt hundert stärker, wenn es um einen Kampf im Ausland geht.

LO hat nichtsdestotrotz gewisse grundlegende Prinzipien, die wir selbstverständlich mit jedem/r ArbeiteraktivistIn teilen: z.B. dass jene, die die politische Macht besitzen, überall „Drecksäcke“ sind und dass es eine Revolution braucht. Aber außer „Streikkomitees“ und „Kampf“ in Frankreich sagen sie uns nicht viel darüber, was konkret gemacht werden muss.

All das ist umso irritierender, als LO einer internationalen Organisation angehört, der Union Communiste Internationaliste (UCI). Aber in Wahrheit bleiben die Positionen der UCI etwas mysteriös, sie wurden niemals veröffentlicht. Allerdings halten wir es für wahrscheinlich, dass die präsentierten Positionen auf den Seiten von LO und von Lutte de Classe (letzteres sei ein „Ausdruck“ der UCI) eigentlich mehr oder weniger mit jenen der internationalen Organisation übereinstimmen.

Es gibt keinen Zweifel, dass UCI im allgemeinen nichts Konkretes zur Frage „Was tun?“ zu sagen hat. Wir nennen als Beispiel ihren langen Artikel „Politik revolutionärer NationalistInnen und Politik proletarischer RevolutionärInnen“. (5) Dieser Artikel versucht, die Politik von RevolutionärInnen in vom Imperialismus beherrschten Ländern zu erklären – die UCI bezeichnet diese Länder vollständig als „rückschrittlich“, ein unklarer und unpolitischer Begriff.

Der besagte Artikel greift die nationalistische Bourgeoisie und das Kleinbürgertum an, wobei er einen groben Überblick über alle wesentlichen anti-imperialistischen Mobilisierungen dieses Jahrhunderts gibt. Lediglich eine einzige Erklärung darüber, was man machen muss, gibt es hier: „Die Politik der proletarischen RevolutionärInnen muss den Schwerpunkt darauf setzen, bis zum Ende auf die Klassenaspekte des Kampfes zu drängen. Das deshalb, damit sich die ausgebeuteten Klassen auf unabhängige Weise von anderen sozialen Klassen organisieren. Deswegen sind sie dafür, dass die Ideen und Politik so gut und so demokratisch wie möglich ausgedrückt werden, damit die ausgebeuteten Klassen entscheiden und auswählen, sich sowohl der Politik der einen als auch der anderen bewusst werden können. “ (6)

Wie übersetzt man diese Prinzipien nun in Aktion? Sollte man demokratische Forderungen, wie die nach einer konstituierenden Versammlung gebrauchen und wenn ja, unter welchen Umständen? Welche sind die Beziehungen zwischen einer solchen Versammlung, Räten (Sowjets) der ArbeiterInnen und BäuerInnen? Ist es möglich, ein Bündnis mit den „anti-imperialistischen“ Teilen der nationalen Bourgeoisie zu schließen, und wenn ja, unter welchen Vorbehalten? Wie reagiert man vor Ort im Rahmen eines nationalen und nationalistischen Kampfes, etwa in Irland oder Sri Lanka? Welche Forderungen sollte man gegenüber der Bauernschaft stellen? Wie soll man die Bauernschaft mobilisieren und dabei eine proletarische Perspektive behalten?

Die RevolutionärInnen des vom Imperialismus unterdrückten Landes brauchen klare Antworten auf all diese Fragen und noch viele mehr. Aber die UCI scheint nicht erkennen zu wollen, dass diese Probleme existieren. Für sie ist es nur nötig, „bis zum Ende auf die Klassenaspekte des Kampfes zu drängen“.

Diese Methode ist steril und unbrauchbar. Sie führt zu nichts Konkretem und ist jener von Trotzki entgegengesetzt. Der Artikel bezieht sich mehrmals auf die Chinesische Revolution der 20er Jahre. Dennoch, Trotzki, der nie in China war, hat es gewagt, eine Reihe von Forderungen für die chinesischen Massen aufzustellen: Verfassunggebende Versammlung, anti-imperialistische Einheitsfront, Konkretisierung der Perspektive der Permanenten Revolution.

Wenn er heute noch leben würde, würde er riskieren, von LO dafür kritisiert zu werden, „Lektionen zu erteilen, ohne das Land, über das er spricht, genug zu kennen“! Im Unterschied zu LO hat Trotzki aber begriffen, dass es notwendig ist, mehr als nur ein paar Allgemeinplätze von sich zu geben, um die PartisanInnen zu bewaffnen, eine revolutionäre Internationale des Proletariats aufzubauen und im Klassenkampf zu siegen.

Ein konkretes Beispiel: Der Mittlere Osten

Wenn UCI im Detail ihre Position zu einer gegebenen Frage erklärt, bringt sie eine Politik, die nicht hoch fliegt. In einem Artikel, der den Mittleren Osten behandelt, behauptet LO, dass sie uns erklären wird, inwiefern „sich unsere Tendenz ( … ) von anderen Organisationen unterscheidet, die sich auf den revolutionären Kommunismus berufen“. (7)

UCI beteuert, dass „alle Völker, die in der Region leben, das Recht weiter ausüben, ihre eigene Sprache, ihre eigene Kultur, ihre eigene nationale Existenz zu haben.“ (8) Was sagt das aus? Zur Zeit haben die israelischen Zionisten „ihre eigene nationale Existenz“ in einer Staatsform mit einer Kultur, Sprache etc. Denkt UCI, dass dieser Staat – wenn man will, diese Nation – weiter existieren sollte? Die Formulierung von UCI scheint das mit „ja“ zu beantworten.

Wir sehen hier, dass die abstrakte und formelle Politik von UCI nicht genügt, um Antworten auf die vom Klassenkampf gestellten Fragen zu entwickeln. Man muss verstehen, dass, wenn eine israelische Nation existiert, es ihre einzige historische Berechtigung und der einzige Grund eine solche zu sein, der ist, dass der Imperialismus sie als treuen Gendarmen im Nahen Osten eingesetzt hat.

Ihre Existenz gründet in der Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Die Zerstörung des sektiererischen israelischen Staates und die Schaffung eines ArbeiterInnenstaates in Palästina sollte unser Ziel sein. Trotz der „revolutionären“ Rhetorik der UCI fehlt diese klare Position in ihrer Politik.

Das propagandistische Unvermögen der UCI zeigt sich noch viel klarer, wenn sie schreibt, dass  revolutionäre Politik – „von dem Kampf der PalästinenserInnen an, insbesondere versuche, das Bewusstsein zu erzeugen, dass gemeinsame Interessen bestehen, dass der Kampf der PalästinenserInnen der gemeinsame Kampf der ArbeiterInnen, der verarmten BäuerInnen und der Bevölkerung der Elendsviertel werden kann gegen geteilte Staaten und gegen die Unterdrückungsmächte und gegen Imperialismus, für die proletarische Macht im Mittleren Osten, für eine Vereinigung in der Unterschiedlichkeit der Kulturen und Ethnien, für den Sozialismus in der arabischen Region und in der ganzen Welt.“ (9)

Die UCI benutzt die gleiche Methode hinsichtlich der Zukunft der jüdischen ArbeiterInnen aus Israel, bei der prachtvoll der wichtige materielle Unterschied ignoriert wird, der die jüdische ArbeiterInnenaristokratie von den palästinensischen ArbeiterInnen trennt: „die proletarischen RevolutionärInnen müssten intervenieren, indem sie insbesondere versuchen, der jüdischen ArbeiterInnenklasse und Bevölkerung zu zeigen, dass es in ihrem Interesse ist, mit der zionistischen Politik des israelischen Staates zu brechen.“ (10)

Aber die Probleme beginnen dort, wo die UCI aufhört! Wie überzeugt man Menschen davon, dass sie die gleichen Interessen haben? Allein durch Propaganda? Das wird niemals reichen. Die Antwort muss programmatisch sein, und darin bestehen, ökonomische, demokratische und Übergangsforderungen aufzustellen, die den Traum der UCI zu einer Realität des Klassenkampfes machen werden.

Wir nennen zu diesem Zweck einige Elemente eines revolutionären Aktionspro-gramms: Der Kampf für die Bildung neuer Gewerkschaften, die in der Lage sind, jüdische und palästinensische ArbeiterInnen zu verbinden; die Enteignung der Grundbesitzer, der Kapitalisten und des Bank- und Finanzsystems; die bewaffnete Verteidigung der PalästinenserInnen; eine souveräne und demokratische Verfas-sunggebende Versammlung; der Aufbau von Räten der ArbeiterInnen der und der armen BäuerInnen. Auf Grundlage der kompromisslosen Verteidigung der Rechte der PalästinenserInnen und der ArbeiterInnen sowie einer totalen Opposition gegenüber dem zionistischen Staat wird das revolutionäre Programm tausende ArbeiterInnen gewinnen können.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die AktivistInnen der UCI damit einverstanden wären. Aber das Problem ist, dass ihre Organisation das nicht sagt, den Klassenkampf nie in einem solchen programmatischen Licht sieht.

Für sie reduziert sich revolutionäre Politik auf gewisse ewige Wahrheiten, ohne Bezug zur Aktualität des Klassenkampfes und ohne eine konsequente Intervention zu versuchen.

Ausgestattet mit der Politik der UCI wäre eine palästinensische Organisation schnell durch das programmatische Unvermögen verdammt, welches LO in Frankreich auszeichnet. UCI hat den unterdrückten Massen nichts zu bieten, als ihre guten „revolutionären“ Absichten. Die Aufgabe von TrotzkistInnen besteht aber darin, die marxistische Methode auf den Klassenkampf anzuwenden und eine Antwort auf die Frage „Was tun?“, ein trotzkistisches Programm, zu entwickeln. Seit ihrer Gründung haben LO und UCI nie diese grundlegende Wahrheit kommunistischer Politik verstanden.

Die UdSSR und andere degenerierte ArbeiterInnenstaaten

Wenn LO sagt, dass es „nicht genügend“ mit der Situation in anderen Ländern vertraut ist, um zu sagen, was zu tun sei, ist sie dennoch in der Lage, Analysen über die Natur verschiedener Länder zu liefern. Folglich hat LO eine Reihe von Broschüren über die UdSSR, China, Kuba, Europa, den Osten usw. veröffentlicht.

Man muss anerkennen, dass LO eine vollkommen originäre Position zu dieser Frage hat. Für Reagan, Mitterrand, und Gorbatschow sowie für alle „revolutionären“ Organisationen gibt es keinen grundlegenden Unterschied zwischen der UdSSR und jenen anderen „sozialistischen Staaten“. Wer auch immer sich genauer für die Wirtschaft dieser Länder interessiert, kommt nicht umhin, festzustellen: wenn sie weit entfernt davon ist, sozialistisch zu sein, ist sie ebenso wenig kapitalistisch. Das dem Kapitalismus inhärente Wertgesetz und der Mehrwert sind durch die bürokratische Planung beseitigt.

Daher sind diese Länder nach-kapitalistische ArbeiterInnenstaaten, aber degenerierte ArbeiterInnenstaaten. Im Fall der UdSSR handelt es sich um die Degeneration einer authentischen proletarischen Revolution, die einer bürokratischen Konterrevolution erlag. In allen anderen Fällen  handelt es sich um von ihrer Entstehung an degenerierte ArbeiterInnenstaaten. In keinem dieser Staaten ist die ArbeiterInnenklasse im Besitz der Macht. Aber wir verteidigen trotz der anti-proletarischen Natur des politischen Regimes den nach-kapitalistischen Charakter dieser Länder gegen den Imperialismus.

LO, und wahrscheinlich auch UCI, sind in der Lage, das zu sehen, was niemand anders auf der Welt erkennen kann. Denn für LO ist die UdSSR ein ArbeiterInnenstaat, aber die Länder Osteuropas, sowie auch von China, Vietnam, Kuba etc. blieben kapitalistische Länder, bürgerliche Staaten.

Aber wenn LO nirgends erklärt, wie sich die Wirtschaft dieser Länder von jener der UdSSR unterscheidet, liegt das einfach daran, dass es keinen grundlegenden Unterschied gibt. LO begnügt sich damit zu erklären, dass es in den Ländern Osteuropas keine Bourgeois gibt, weil sie „unterentwickelte“ Länder sind und weil „wir wissen, das, was unterentwickelte Länder genau charakterisiert, ist, dass sie sich auf kapitalistischer Basis nicht entwickeln und keine leibhaftige Bourgeoisie gebären können.“ (11)

Nach der Logik von LO gäbe es also in Mexiko, Brasilien, Argentinien, Ägypten sowie in allen anderen „unterentwickelten“ Ländern keine „leibhaftigen“ Kapitalisten? Die UCI müsste es wagen, das den ArbeiterInnen dieser Länder zu erklären. Wir sind gewiss, sie wären sehr amüsiert!

Wir merken nebenbei an, dass sich LO auch wenig über die Natur der UdSSR selbst klar ist. Sie sagt uns, sie wäre ein degenerierter ArbeiterInnenstaat. So sei es. Aber das soll heißen, dass der Kapitalismus nicht mehr existiert. Doch wie erklärt es sich dann, dass LO so leicht darüber spricht, wie sich die russische KP wirtschaftlich verköstigt „von dem durch die Bürokratie angeeigneten Mehrwert“. (12)

Wenn es eine Abführung und Aneignung von Mehrwert in der UdSSR gibt, haben wir es mit einer kapitalistischen Wirtschaft zu tun. Der Mehrwert ist eine marxistische wissenschaftliche Kategorie, die dazu verwendet wird, den Prozess der kapitalistischen Ausbeutung zu beschreiben und setzt einen Markt voraus, auf dem alle Waren gekauft und verkauft werden können, einschließlich der Arbeitskraft der ArbeiterInnen. In der UdSSR existieren weder Mehrwert noch Kapitalisten oder Profit.

Handelt es sich daher einfach um eine falsche Formulierung seitens der LO? Wir denken das nicht, denn man findet das sehr oft in ihren Publikationen. Weiter erlaubt es sich LO, die UdSSR u.a.  „ökonomische Weltmächte“ in gleicher Weise abzuweisen. (13)

Ist die UdSSR für LO eine kapitalistische Wirtschaft? Soweit sind sie noch nicht gegangen. Aber ihre Analyse lässt klar ihre Gedanken in diesem Punkt erkennen.

Denn wenn man mit den „bürgerlichen Staaten“ in Osteuropa zu tun hat, deren Wirtschaft in jeder Hinsicht mit jener der UdSSR vergleichbar ist, dann muss die UdSSR selbst eine kapitalistische Wirtschaft haben. Ist das die Position von LO? Letztendlich wäre ihre widersprüchliche und unhaltbare Analyse nur zu verteidigen, wenn die UdSSR auch kapitalistisch ist, oder es handelt sich umgekehrt überall um degenerierte ArbeiterInnenstaaten. Mit ihrer aktuellen Position riskiert LO jederzeit in Richtung einer Analyse der UdSSR vom Typ des „Staatskapitalismus“ oder des „bürokratischen Kollektivismus“ abzugleiten.

Diese wenig ernsthafte Haltung seitens LO hat allerdings nichts Anormales, weil ihre bizarre Position nicht auf einer marxistischen Analyse von Tatsachen beruht, sondern auf abstrakten, sterilen und dogmatischen Prinzipien. LO findet es toll, den Satz von Marx und Engels zu zitieren, gemäß dem „die Befreiung der ArbeiterInnen das Werk der Arbeiter selbst“ sein wird.

Diese vollständig richtige Behauptung wird von LO benutzt, um die nachkapitalistische Natur der Länder im Osten in Frage zu stellen. Wie? Indem für LO die Zerstörung des Kapitalismus „die Befreiung der ArbeiterInnen“ impliziert, und weil die ArbeiterInnen „selbst“ tatsächlich nicht an den verschiedenen „Revolutionen“ in Osteuropa teilgenommen haben. Daher hat es laut LO keinen Umsturz des Kapitalismus in diesen Ländern gegeben. Quod erat demonstrandum!

Diese Erklärungsweise gebraucht eine Methode der formalen Logik und nicht die des dialektischen Materialismus. Das ist eine syllogistische Operation, die von Trotzki in „Verteidigung des Marxismus“ oft kritisiert wurde. Zugleich ist das eine normative Methode; daher, „für eineN Marxisten/Marxistin hat der Begriff ArbeiterInnenstaat eine genaue Bedeutung: jene des bewaffneten Proletariats, das in seinen Klassenorganisationen, den Arbeiterräten zusammengefasst ist.“ (14)

Jedes Phänomen, das für LO nicht in diese Norm passt, sei kein ArbeiterInnenstaat „für eineN Marxisten/Marxistin“. Und die UdSSR? Für LO ist sie ein ArbeiterInnen-staat. Aber, wie sie ohne Schwierigkeiten zugeben wird, gibt es dort seit langer Zeit keine ArbeiterInnenräte mehr. Es muss daher sogar für die speziellen „MarxistInnen“ der LO einen Typ von ArbeiterInnenstaat geben, in dem die ArbeiterInnen nicht die Macht haben.

Ah, sagen unsere „MarxistInnen“, die nicht versäumen, uns zu erinnern, dass es in der UdSSR sehr wohl ArbeiterInnenräte gegeben hat, wohingegen es in Osteuropa niemals welche gab, und dass daher „für eineN Marxisten/Marxistin erfolgt ein ArbeiterInnenstaat nur aus einer siegreichen proletarischen Revolution, und kein Heiliger Geist – selbst Rote Armee getauft – kann die ArbeiterInnenklasse in der Erfüllung ihrer historischen Aufgabe ersetzen.“ (15)

Die Ironie von LO, die gedacht ist, um „religiöse“ Positionen von Organisationen in Schwierigkeiten zu bringen, die denken, es existieren andere ArbeiterInnenstaaten als die UdSSR, ist wirklich schlecht platziert. Das ist in der Tat die Position von LO, die auf einer idealistischen Analyse fußt, welche die Wahrheit verzerrt. LO ist dermaßen entschlossen, ihre strengen Prinzipien nicht zu verlassen, die sie aus anderen Quellen als der Realität zieht.

Das ist die klassische Vorgehensweise einer Sekte: „Unser Glaubenssatz besagt, das gibt es nicht, also gibt es das nicht!“ Dennoch berufen sich diese Leute auf Marx, Lenin und Trotzki, für die die revolutionäre Politik auf der zu entwickelnden materialistischen Wissenschaft beruht und nicht auf einem Dogma, um die Realität zu deformieren!

Denn dieses letzte Zitat der LO zeigt, dass die GenossInnen die Tatsache ignorieren, dass sich ohne die Existenz der UdSSR, selbst konkretes Ergebnis einer „siegreichen proletarischen Revolution“, kein anderer degenerierter ArbeiterInnenstaat herausgebildet hätte. Tatsächlich, einzig die Existenz der stalinistischen Bürokratie des Kremls hat die Schaffung anderer degenerierter ArbeiterInnenstaaten seit dem Krieg erlaubt. Die Schaffung degenerierter Arbeiterstaaten erfolgte in Bulgarien, der DDR, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei  und in Ungarn mehr oder weniger direkt auf den Bajonetten der siegreichen „Roten Armee“, während in Albanien, China, Jugoslawien, Kambodscha, Laos, Vietnam und überwiegend in Nordkorea einheimische stalinistische bzw. kleinbürgerliche Guerillaarmeen, die sich später in stalinistische transformierten (Kuba), den bewaffneten bürgerlichen Staatsapparat besiegten und später den Kapitalismus abschafften – teils mit, teils ohne „Zustimmung“ des Kreml.

Dieser Prozess steht mitnichten in Widerspruch zur marxistischen Staatstheorie (die besagt, der kapitalistische Staat müsse zerschlagen werden). Er zeigt, dass der kapitalistische Staat von einer stalinistischen Bürokratie zerstört werden kann, aber nur in dem Maße, indem die neuen Staaten nicht die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verteidigen und die Mehrheit der gemeinsamen Merkmale mit bürgerlichen Staaten bewahren.

Statt wie LO die Augen vor der Realität zu verschließen, muss man erklären, wie diese bürokratischen sozialen Revolutionen stattgefunden haben und mit der politischen Unterdrückung der ArbeiterInnen einhergingen.

Es gibt hier keine Verletzung der Prinzipien von LO, weil die Befreiung der ArbeiterInnen in Osteuropa, China, Kuba, etc. immer noch durchzuführen ist. Die Schaffung eines gesunden proletarischen Staates, eines authentischen „Halbstaates“ bleibt also eine der Aufgaben der politischen Revolution des Proletariats gegen die bürokratische Kaste. In diesen Ländern konnten die Stalinisten den Kapitalismus auf eine einzigartige Weise stürzen, weil sie die „Gruppen bewaffneter Menschen“ des Kapitalismus bereits ersetzt hatten, sie kontrollierten somit also den kapitalistischen Staat. Am Anfang waren diese Staaten in Polen wie in Kuba, in China wie in der Tschechoslowakei bürgerliche Staaten, weil das ökonomische System der Kapitalismus war.

Nur unter dem Druck des Imperialismus mussten die StalinistInnen gegen ihren Willen (schließlich ist ihre Strategie die der „friedlichen Koexistenz“) das Kapital enteignen, um an der Macht zu bleiben. Sie haben das ohne und gegen die Intervention der ArbeiterInnen gemacht.

Die Analyse, wie eine Bürokratie unter besonderen Umständen den Kapitalismus stürzen kann, verdient das Interesse aller MarxistInnen. Es liegt zu einem großen Teil an ihrer falschen Analyse dieser Umstürze, vor allem Jugoslawien betreffend, dass die 4. Internationale politisch degeneriert und in den Zentrismus abgeglitten ist.

Die Analyse solcher Phänomene bestimmt unsere Analyse des Stalinismus und also auch der Taktiken, die wir anwenden, wenn wir mit ihm konfrontiert sind. Es ist also keine Frage, die man so leichtfertig behandeln kann, wie es LO tut. Weder der Opportunismus der alten Führung der 4. Internationale nach dem Krieg, noch das dogmatische Sektierertum der LO geben adäquate Antworten auf diese Frage.

Es ist wahr, dass die Schaffung einer Serie von ArbeiterInnenstaaten, die von Anfang an bürokratisch degeneriert waren, ein großes Problem für den „orthodoxen“ Marxismus darstellt. Für die 4. Internationale der Nachkriegszeit ist z.B. der jugoslawische Führer Tito, der den Kapitalismus gestürzt und mit Moskau gebrochen hat, kein stalinistischer Konterrevolutionär mehr, sondern eine Art von Zentrist (16). Doch die sterile Antwort der LO, die einfach darin besteht, die Realität der Abschaffung des Kapitalismus zu leugnen, ist nicht besser.

Wir sind hier am Kern der LO-Methode angelangt, die sich niemals ändert. Doch für eine Welt, die sich nie verändert, die, „je mehr sich  verändert, desto unveränderlicher bleibt“, passt eine formale, idealistische, dogmatische Methode perfekt. Jedoch hat die Welt sich seit den Zeiten von Marx verändert und auch seit den Zeiten von Trotzki. Ihre Methode ist auch heute gültig, vorausgesetzt, sie behält ihren kritischen und lebendigen Charakter, den solche dogmatischen Sekten wie LO wie die Pest meidet.

Das Programm zuerst

Wir haben gesehen, wie weit die Idee des kommunistischen Programms als etwas Lebendigem, in Kontakt mit der Realität der Klassenkämpfe Stehendem, LO fremd ist. Anstatt sich der marxistischen Methode zu bedienen, um auf kreative Weise das trotzkistische Programm weiter zu entwickeln, um den bedeutenden Veränderungen der letzten 50 Jahre Rechnung zu tragen, suggeriert LO, dass das Übergangsprogramm, welches seinen 50. Geburtstag bereits hinter sich hat, genug sei.

Auch hier zeigt LO wieder einmal, wie blind und dogmatisch es sein kann: „Die Aktivität des Proletariats hat seitdem keine neuen Gipfel erreicht, die es ermöglichen würden, das Programm um neue Lehren zu bereichern.(…) Deswegen bleibt es bis heute das einzige Programm, auf das sich militante sozialistische RevolutionärInnen beziehen könnten.“ (17)

Das hieße, dass die Antworten zu den Entwicklungen in Ungarn und Ostdeutschland alle in Trotzkis Übergangsprogramm gefunden werden könnten. Hat Trotzki die relative Stabilität des Imperialismus und des Stalinismus nach dem Zweiten Weltkrieg vorhergesehen? Nein. Aber es ist schließlich nicht erstaunlich, dass eine Organisation, die glaubt, dass Osteuropa kapitalistisch sei, diese Fragen mit „Ja“ beantwortet! Und der Kampf um Frauenbefreiung, wird der im Übergangsprogramm durch diskutiert? Nein. Zugleich macht sich LO aber darüber lustig …

Die letzten 50 Jahre haben sehr wohl Situationen hervorgebracht, die eine Bereicherung des Programms „um neue Lehren“ nötig machen. Das Problem ist, dass LO, wie eine Menge anderer, sich selbst trotzkistisch nennende Organisationen damit zufrieden ist, sich in eine „Orthodoxie“ zu flüchten, die in Wirklichkeit aber nur wenig orthodox ist. Wenn dieses Versteckspiel mit der Realität 40 Jahre lang dauern konnte, dann nur, weil diese Organisationen wie LO sich großteils vom Klassenkampf ferngehalten haben.

Ohne eine relevante ArbeiterInnenbasis können sich diese zentristischen Organisationen vor der Realität abschirmen. Im Gegenteil, in den zwei Fällen, in denen diese Organisationen wichtige Teile der ArbeiterInnenklasse in einer gesteigerten Klassenkampfsituation führen konnten (die bolivianische POR und die sri-lankesische LSSP) wurden die desaströsen Konsequenzen ihrer zentristischen Politik für die ArbeiterInnen deutlich sichtbar. Denn wenn sich eine zentristische Organisation in einer extremen Kampfsituation an der Spitze der ArbeiterInnenmas-sen befindet, kommt sie an dem Punkt an, an dem sie ihre Unzulänglichkeiten klar offenbart.

Das ist der Grund, warum wir sagen, dass die Hauptaufgabe von revolutionären Organisationen heute – ebenso, wie es die der 4. Internationale vor dem Weltkrieg war – die programmatische Aufarbeitung, die Weiterentwicklung des marxistischen Programms auf Grundlage der marxistischen Methode ist, um den wichtigsten grundsätzlichen Veränderungen Rechnung zu tragen, die sich in den letzten 50 Jahren des internationalen Klassenkampfes ereignet haben. Diese Arbeit wird nicht auf Kosten einer Intervention in die täglichen internationalen Klassenkämpfe gemacht, sondern ist untrennbar mit dieser verbunden und ergänzt sie, wie Trotzki klar feststellte, als er über das Kommunistische Manifest von Marx und Engels sprach:

„Das revolutionäre Denken hat mit Götzenverehrung nichts gemein. Programme und Prognosen werden im Licht der Erfahrung, die für das menschliche Denken die oberste Instanz ist, überprüft und verbessert. Der Korrekturen und Ergänzungen bedarf auch das ‚Manifest‘. Doch können diese Korrekturen und Ergänzungen   wie die geschichtliche Erfahrung bezeugt – nur dann mit Erfolg vorgenommen werden, wenn sie von der dem ‚Manifest‘ zugrunde liegenden Methode ausgehen.“ (18)

Das Leben ist viel zu einfach für LO. Wenn sie über die Geschichte ihrer Vorgängerorganisation, der Gruppe „Voix Ouvrière“ (ArbeiterInnenstimme) sprechen, erklärt uns LO: „Weil sie eine zu kleine Organisation waren, hatten sie die Einschätzung, dass es notwendig sei, alle ihre Kräfte auf die Verankerung in der ArbeiterInnenklasse zu konzentrieren, und zwar ausschließlich darauf.“ (19)

Und das Häuflein TrotzkistInnen in den 30er Jahren, hätten sie sich auch „ausschließlich“ auf die Verankerung in der ArbeiterInnenklasse konzentrieren sollen? Natürlich nicht. Trotzki hat das für unentbehrlich gehalten, aber die Hauptaufgabe blieb die Verteidigung und daher die Entwicklung des revolutionären Programms. Es war notwendig, AktivistInnen um ein Programm und eine internationale Organisation zu versammeln. Dieses Programm ist nicht vom Himmel gefallen und hat sich auch nicht schon in den Schriften Lenins finden lassen. Es wurde von Trotzki und den AktivistInnen um ihn im Klassenkampf geschmiedet. Es wurde wieder erarbeitet.

LO ist so stolz auf ihre Methode, dass sie sie gleich als Kriterium für die Degeneration der 4. Internationale (deren Teil sie nie war) erhebt:

„Das Scheitern der 4. Internationale rührte von der Ablehnung ihrer AktivistInnen und ihrer Führung, sowohl auf der Ebene der Sektionen als auch in der internationalen Leitung, da es sich hierbei um ein globales Phänomen handelt, anzuerkennen, dass ihre soziale Komposition, die großteils kleinbürgerlich und intellektuell war, strenge politische und organisatorische Maßnahmen erforderte, um aus ihrer Mitte diejenigen Elemente aus den Sektionen der Internationale zu entfernen, die bestechlich bzw. verdorben sind. Um sich dem Einfluss der kleinbürgerlichen Ideologie zu entziehen, muss man sich bemühen, sich maximal aus der ArbeiterInnenklasse zu rekrutieren und die Elemente mit kleinbürgerlichem Hintergrund zur Arbeit in den Betrieben verpflichten.“ (20)

Zuerst muss man betonen, um der historischen Wahrheit Rechnung zu tragen, dass LO immer einen Hang dazu hatte, die Unfähigkeit der jungen trotzkistischen Bewegung, sich in der ArbeiterInnenklasse zu verankern, zu übertreiben. Sie spricht wenig über ihre Erfolge, in einer Reihe von Situationen, die unvergleichbar schwieriger und wichtiger waren als jene, die LO jemals erlebt hat: der LKW-FahrerInnenstreik in Minneapolis in den USA 1934 (21), der Lehrlingsstreik in Newcastle in Großbritannien 1944, die Arbeit der bolivianischen POR unter den MinenarbeiterInnen nach dem Krieg, die Arbeit der PCI bei Renault zwischen 1945 und 1950 in Frankreich, um nur einige Beispiele zu nennen.

Es ist in der Tat richtig, dass die Mehrheit der Kader der jungen 4. Internationale, ebenso wie jene  der LO heute, keine proletarische Klassenherkunft haben. Die soziale Komposition der 4. Internationale nach dem 2. Weltkrieg hat wahrscheinlich zur politischen Degeneration der trotzkistischen Internationale beigetragen. Dennoch reicht das nicht, um alles zu erklären.

Die These von LO weist die marxistische Methode zurück zugunsten eines soziologischen Determinismus, eines Vulgärmaterialismus. Er geht davon aus, dass auch das beste Programm eine Organisation unter gewissen Umständen nicht daran hindern könnte, zu degenerieren oder zusammenzubrechen. Auch wir glauben, dass selbst das beste Programm keine Garantie auf Erfolg ist, wofür Trotzki am Anfang der 30er Jahre ein Beispiel geliefert hat mit seinem Aktionsprogramm gegen Faschismus und Krieg.

Dennoch: ebenso, wie es unzureichend ist, ist ein Programm zugleich absolut notwendig, es ist der erste Ansatzpunkt für jegliche revolutionäre Aktion. Denn „es ist das Programm, das die Partei ausmacht“. Umgekehrt reicht auch die beste Verankerung in der ArbeiterInnenklasse nicht: die PCF, die „fest in der ArbeiterInnenklasse verankert“ ist, ist das nächste Beispiel, welches das klar aufzeigt.

Die Partei und die Internationale

Wie die 4. Internationale im September 1938 erklärte, hatten die meisten ihrer Sektionen nicht mehr als einige hunderte AktivistInnen. Die SWP (USA), die wichtigste Sektion, beanspruchte etwa 1.500 AktivistInnen für sich, was ca. der Größe der LO heute entspricht. Aber: „Ist unsere Internationale zahlenmäßig auch noch schwach, so ist sie doch stark aufgrund ihrer Lehre, ihres Programms, ihrer Tradition und der unvergleichbaren Festigkeit ihrer Kader.“ (22)

Nun aber hat die 4. Internationale niemals ein relevantes Niveau an Verankerung in der ArbeiterInnenklasse erreicht, eine unerlässliche Vorbedingung für die LO. Hatte also Trotzki Unrecht damit, eine Internationale gründen zu wollen? LO mag akzeptieren, dass es richtig war, dies zu tun, wegen des Krieges und der unvermeidlichen Revolten der ArbeiterInnen. Dennoch schreibt LO:

„Die 4. Internationale wurde aus dem alleinigen Willen Trotzkis heraus geboren. Ihre Gründung war auf eine Art künstlich. Sein Programm wurde mit der Perspektive einer revolutionären Krise, die nicht existierte, geschrieben, und es wurde kleinbürgerlichen Organisationen aufgesetzt, die nicht dazu in der Lage waren, es anzuwenden. Die Gründung der 4. Internationale war ein willkürlicher Akt. Und Trotzki war sich dessen besser als irgend jemand anderer bewusst.“ (23)

Also wenn man das richtig versteht, hatte Trotzki Recht … Unrecht zu haben! Und das wusste er sogar!

Hinter den Begriffen „willkürlich“ und „künstlich“ entdecken wir leicht die echte Position von LO, nämlich, dass es der 4. Internationale an starken nationalen Sektionen gemangelt hätte, und dass man damit hätte beginnen müssen. Diese Vorstellung ist ein Etappenkonzept: sie geht davon aus, dass man eine Internationale von unten nach oben aufbaut und ignoriert die vorantreibende Rolle, die eine internationale revolutionäre Strömung dabei spielt. LO versteht das nicht. Sie versteht auch nicht, dass die Perspektive revolutionärer Krisen, die Trotzki gesehen hat, nicht falsch war: zwischen 1943 und 1946 gab es eine ganze Reihe von revolutionären Krisen (Griechenland, Italien, Osteuropa, Vietnam). LO hat definitiv gezeigt, dass sie Trotzkis Methode nicht verstanden hat, die darin besteht, eine Internationale der Propaganda zu schaffen, um sie dann in eine Masseninternationale zu transformieren.

Zu guter Letzt ist der Grund, warum die LO sagt, Trotzki habe Recht gehabt, die 4. Internationale zu gründen, der, dass sie zukünftigen Generationen ermöglicht hätte, „die Flamme nicht ausgehen zu lassen“. Das hat nichts gemeinsam mit der Position Trotzkis, der damit versuchte, die AktivistInnen der 4. Internationale politisch auszurüsten, um sie in die Lage zu versetzen, konkret in die revolutionären Krisen zu intervenieren.

Ihm lag die sektiererische, dogmatische und mystische Haltung der kleinbürgerlichen Götzenverehrung fern. Für ihn sollte das Programm als eine Anleitung für die revolutionäre Aktivität der Massen erarbeitet werden und nicht als ein interner Kurs zur Schulung.

Trotz ihrer sehr zweideutigen Haltung „für“ die Gründung der 4. Internationale glaubt die LO, dass es an der Zeit sei, Organisationen im nationalen Maßstab aufzubauen. LO sagt, dass die Gründung einer Internationale „Erfolg in der Organisation der revolutionären Partei und in der Führung von Klassenkämpfen voraussetzt.“ (24)

Bevor man also die Internationale ausrufen kann, braucht man starke nationale Sektionen, die in der ArbeiterInnenbewegung verankert sind. Man arbeitet also am Aufbau nationaler Organisation, beginnend mit der Betriebsarbeit und erst dann … das Programm? Das von 1938 reicht, meint LO. Trotzdem hat sich LO in den letzten Jahren mit einer kleinen Konstellation von Organisationen umgeben – Schwesterorganisatio-nen, die weder groß noch fest verankert sind. Nach über 10 Jahren Zusammenarbeit fühlte LO sich verpflichtet, einen organisatorischen Rahmen für diese Gruppen zu schaffen, mit dem Namen UCI (Union des Communistes Internationaliste).

Aber diese Organisation ragt vor allem dadurch hervor, dass es kaum Informationen über sie gibt. Was genau ist das Programm der UCI? Mangels der Publikation gemeinsamer Positionen können wir nicht anders als anzunehmen, dass die Politik der UCI von der wichtigsten Gruppe, von Lutte Ouvrière, bestimmt wird. Eine solche Vorgehensweise steht der Praxis eines Lambert oder eines Healy um nichts nach. LO rühmt sich damit, eine internationale Organisation aufzubauen mit  „Leuten, die sich im Leben ein realistisches Ziel gesetzt haben, in einem Wort, eine Organisation, die, wenn sie eine Massenorganisation wird, fähig sein wird, dort zu siegen, wo die anderen degeneriert sind.“ (25) Aber wenn man keine einzige programmatische Deklaration dieser internationalen Strömung lesen kann, muss man mit Recht glauben, dass LO und UCI nichts anderes machen, als die politischen und organisatorischen Fehler der anderen zentristischen Organisationen zu wiederholen.

Schlussfolgerungen

Wir haben in diesem Artikel gezeigt, bis zu welchem Grad LO sich von der Methode Trotzkis entfernt hat, sei es im Klassenkampf in Frankreich oder im Aufbau einer revolutionären Internationale. Seit den Zeiten von „Voix Ouvrière“, die 1968 aufgelöst wurde, hat LO ihre Größe und die Effizienz ihrer Intervention bedeutend erweitert. Aber wie die anderen so genannten trotzkistischen Organisationen in Frankreich – die PCI und die LCR – bewahrt LO die gleichen Methoden wie am Anfang.

Denn die Fehler von LO sind weder miteinander unverbunden noch sind sie etwas Neues. Die Methode der LO ist konstant geblieben. Für die LO geht es um die abstrakte Wiederholung „revolutionärer Ideen“ ohne direkten Bezug zur aktuellen Situation. Und wenn die ArbeiterInnen sich in Bewegung setzen, passt sie sich an deren aktuelles Bewusstsein an. Aber anstatt beim aktuellen Bewusstseinsstand stehen zu bleiben, versuchen RevolutionärInnen diesen zu überwinden, indem sie eine Verbindung zwischen dem Bewusstsein und der historischen Aufgabe der Revolution schaffen. Und dafür reicht die abstrakte Propaganda der LO nicht aus.

Diese Verbindung wird ausgehend vom Kampf um Übergangsforderungen geschaffen. Das ist genau der Weg, den die Revolution immer gegangen ist. Eine Organisation, die sich ihrer nicht bedienen kann, ist in einer revolutionären Situation zur Ohnmacht verdammt. Wir sagen das ohne Furcht vor Übertreibung.

20 Jahre sind seit den Ereignissen des Mai 1968 vergangen, die ArbeiterInnen haben eine vorrevolutionäre Situation erlebt, mit dem größten Generalstreik der Geschichte, in der sich die Machtfrage gestellt hat. Diese Situation wurde in erster Linie von der Bürokratie der PCF und des CGT beruhigt. Sie haben die Bewegung in die Sackgasse der parlamentarischen Wahlen kanalisiert und sie dazu gebracht, die „Übereinkunft“ von Grenelles zu akzeptieren.

Die Verantwortung einer revolutionär-kommunistischen Organisation war es, ein Programm, das auf ArbeiterInnenkontrolle abzielt, vorzuschlagen: die Kontrolle der ArbeiterInnen über ihren Streik, über ihre Fabrikbesetzungen, über ihre Arbeit und über die ganze Gesellschaft, indem sie eine echte ArbeiterInnenregierung bilden, basierend auf ArbeiterInnenkomitees, denen sie  rechenschaftspflichtig ist.

Die Aufgabe war es, diesen gigantischen Kampf, der sich großteils durch „ökonomische“ Forderungen ausdrückte, zu einem Kampf um die ArbeiterInnenmacht zu erheben. Statt eine solche  Politik anzunehmen, entschied sich Voix Ouvrière dazu, sich auf Forderungen, die von den ArbeiterInnen bereits artikuliert wurden, und eine reformistische Lösung zu beschränken. Wir zitieren die „Voix Ouvrière“ vom 20.5.68, ein Tag, an dem mehr als 2 Mill. ArbeiterInnen im Streik waren:

„Auch wenn es Jules Moch nicht gefällt, die BesetzerInnen gehen nicht nach Hause, die Arbeit wird nicht wieder aufgenommen, bevor die folgenden Forderungen der ArbeiterInnen vollständig erfüllt sind:

Keine Löhne unter 1.000 Francs;

Rückkehr zur-40 Stunden-Woche (oder weniger, wo das möglich ist) ohne Lohneinbußen, durch Aufteilung der Arbeit auf alle;

Vollständige Bezahlung der Streikstunden, ohne die das Recht auf Streik nichts bedeutet;

Vollkommene politische und gewerkschaftliche Rechte in den Betrieben: das Recht auf freie Zirkulation von Presse und Ideen, Versammlungsrecht für alle innerhalb des Betriebes.

ArbeiterInnen, wir dürfen uns nicht mit Versprechungen zufrieden geben. Vorwärts, auf ein neues 1936, aber ein 1936, bei dem wir nicht zulassen, dass uns die Siege 3 Jahre später entrissen werden, von denen, denen wir an die Macht geholfen haben.“ (26)

Ohne die hier vorgeschlagenen Forderungen vollständig zu kritisieren, deren Unzulänglichkeit als Programm für die ArbeiterInnenbewegung für jedeN RevolutionärIn auffällig sein müsste, verweisen sie doch auf eine grundlegend nachtrabende und ökonomische Methode, in der das lebendige Konzept der ArbeiterInnenkontrolle und revolutionäre Aufgaben nicht vorhanden sind.

Wir sagen nicht, dass die Revolution stattgefunden hätte, wenn die LO eine korrekte Politik vorgeschlagen hätte. Aber wenn die LO eine Massenbasis gehabt hätte wie die zentristische POUM 1936/37 in der Spanischen Revolution, hätten die ArbeiterInnen teuer für die politische Unfähigkeit ihrer Organisation bezahlt.

Mit dieser Methode versucht LO nun, eine internationale Organisation aufzubauen: die UCI. Angesichts des Opportunismus anderer wichtiger internationaler Strömungen, die sich trotzkistisch nennen, mag LO den Anschein erwecken, „seriöser“ und prinzipienfester zu sein. Doch das stimmt nicht. Weder LO noch UCI bauen eine revolutionäre Organisation auf. Der relative Erfolg der LO in den letzten Jahren zeugt vielmehr von der Schwäche echter „revolutionärer Ideen“ in der ArbeiterInnenbewegung. Es liegt an uns, diese Situation zu ändern.

LO verzerrt die Geschichte der 4. Internationale

Die Methode, mit der LO die Vergangenheit analysiert, offenbart schon deutlich ihre aktuellen Obsessionen. Aus ihrer Broschüre „50 Jahre nach der Gründung der 4. Internationale“ erfährt man viel über … die bessere Orientierung der LO im Vergleich zur PCF heute!

Tatsächlich will LO uns glauben machen, dass die TrotzkistInnen der 30er Jahre die gleiche Orientierung hatten. Zweifellos versuchen sie durch die Umschreibung der Geschichte ihre aktuelle Linie zu rechtfertigen.

Daher sagt uns LO auf S. 17 ihrer Broschüre: „Wie die 3. Internationale aus der 2. hervorgegangen ist, so konnte die 4. Internationale nicht anders als aus der 3. hervorgehen, indem sie den Großteil der Massen und AktivistInnen zu sich heranzog, während die FührerInnen der vorhergehenden Internationale zusahen. Woher sonst?“

All das ist völlig abwegig, vom Anfang bis zum Schluss! Erstens ist die 3. Internationale nicht einfach ein Resultat des Überlaufens von AktivistInnen der 2. Internationale. Einerseits waren die FührerInnen, die von der 2. in die 3. Internationale gewechselt sind, oft die am meisten korrumpierten KarrieristInnen, dazu vorherbestimmt, als loyale Stütze für Stalin zu dienen. Andererseits vergisst LO die 100.000en jungen RevolutionärInnen, die die 2. Internationale nur kannten, um sie zu beleidigen: die Jugendlichen, die in den Schützengräben oder in der Schule der revolutionären Gewerkschaftsarbeit heranreiften.

Schließlich vertrat  Trotzki nie die Auffassung, „dass die 4. Internationale nicht anders als aus der 3. hervorgehen konnte“, wie LO uns glauben machen will. In den 30er Jahren bediente sich die trotzkistische Bewegung einer Reihe von Taktiken, von denen keine einzige in der LO-Broschüre erwähnt wird, um AktivistInnen aus den verschiedenen zentristischen Parteien zu gewinnen: aus der PC (vor 1935), aus den Tendenzen im Schoß der Sozialdemokratie (solche wie die SFIO in Frankreich, von 1934-36), den zentristischen Parteien (POUM in Spanien, ILP in Großbritannien, SAP in Deutschland, PSOP in Frankreich) oder aus dem gewerkschaftlichen Milieu (CIO in den USA) usw.

Tatsächlich hat die Aktivität Trotzkis seit 1923 darin bestanden, den revolutionären Marxismus im Gegensatz zu den zentristischen Irrungen weiterzuentwickeln, zuerst innerhalb der Sowjetunion (gegen Stalin, Sinowjew und Kamenew), später auf internationalem Maßstab. In einer Serie von Polemiken und Diskussionen hat Trotzki den Unterschied zwischen zentristischer Politik, welche sowohl von Massenparteien als auch von kleinen Organisationen betrieben werden kann, und revolutionärer Politik dargelegt.

Die gesamte Aktivität Trotzkis zielte darauf ab, einen politischen Schlüssel zu schmieden, der es RevolutionärInnen in jedem Land und in jedem Moment erlauben würde, zentristische AktivistInnen davon zu überzeugen, mit ihrer Methode und ihrer aktuellen Ausrichtung zu brechen. Folglich hat Trotzki eine ganze Serie an Taktiken für die Arbeit der Sektionen vorgeschlagen. Es stand außer Frage, sich nur auf die kommunistischen Parteien zu konzentrieren.

LO traut sich nicht einmal, den Begriff „Zentrismus“ zu verwenden, den man so oft in den Schriften Trotzkis der 20er und 30er Jahre findet. Es scheint, als wäre das Konzept des Zentrismus für LO unbrauchbar, trotz des Aufschwungs zentristischer Strömungen in der aktuellen Epoche. Das ist nicht überraschend. „Der Zentrist proklamiert gerne seine Gegnerschaft zum Reformismus. Aber er schweigt zum Zentrismus, mehr noch: Er hält den Begriff des Zentrismus selbst für einen ‚unklaren‘, ‚willkürlichen‘ usw. ist. In anderen Worten, der Zentrismus mag nicht beim Namen genannt werden.“ (27)

Die LO-Version der Geschichte der 4. Internationale ist wenig ernsthaft und falsch. Sie müsste ihren SympathisantInnen und Mitgliedern eigentlich zeigen, dass die LO-Methode jener Trotzkis fern liegt.

Endnoten

(1) Leo Trotzki: Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs, in: Trotzki, Die Bedeutung der Gewerkschaften im Kampf für die Revolution, intarlit, Dortmund 1977, S. 39

(2) Lutte de Classe, Februar 1988

(3) Lutte Ouvrière, 20. Juni 1987

(4) Siehe Pouvoir Ouvrier Nr. 7 für unsere Kritik an LO während dieses Streiks.

(5) Lutte de Classe, September 1987

(6) ebenda, S. 34

(7) Lutte de Classe, April 1987, S. 2

(8) ebenda

(9) ebenda, S. 6

(10) ebenda

(11) Sind Volksdemokratien sozialistische Staaten?, LO-Broschüre, S. 16

(12) ebenda, S. 13, siehe beispielsweise auch: Vom revolutionären Russland zur UdSSR der BürokratInnen, Zusatz zu LO Nr. 874

(13) Vom revolutionären Russland zur UdSSR der BürokratInnen, Zusatz zu LO Nr. 874, S. 53

(14) Sind Volksdemokratien sozialistische Staaten?, LO-Broschüre, S. 16

(15) ebenda, S. 3

(16) Siehe dazu Nummern 11 und 12 von Pouvoir Ouvrier sowie Nr. 7 zu China und Kuba.

(17) Lutte Ouvrière, 20. September 1978

(18) Trotzki, Neunzig Jahre „Kommunistisches Manifest“, in: Trotzki, Denkzettel, Frankfurt/Main 1981, S. 333

(19) Lutte Ouvrière dans le mouvement trotskyste, S. 7

(20) Ebenda, S. 32

(21) Siehe, Pouvoir Ouvrier No. 8.

(22) Trotzki, Das Übergangsprogramm, S. 132, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1997

(23) Lutte Ouvrière, 20. September 1978

(24) Lutte Ouvrière dans le mouvement trotskyste, S. 22

(25) 50 ans après la fondation de la IVème Internationale, S. 62

(26) Voix Ouvrière“ vom 20.5.1968

(27) Trotzki, Zentrismus und die IV. Internationale, in: Trotzki, Schriften, Band 3.3, Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln, 2001, S. 524




Trotzkismus im 21. Jahrhundert

9. Kongress der Liga für die Fünfte Internationale, April 2013, Revolutionärer Marxismus 47, September 2015

Grundlegende Prinzipien

1. Die Liga für die 5. Internationale betrachtet sich als internationale leninistisch-trotzkistische Strömung, die eine 5. Internationale auf den marxistischen Grundlagen der vorauf gegangenen vier Internationalen aufbauen will. Unser Programm hat seine Ursprünge in den programmatischen Errungenschaften des Kommunistischen Bundes und der Internationalen Arbeiter-Assoziation, des orthodox-marxistischen und revolutionären Flügels der 2. Internationale (1889-1914), der Iskra- und bolschewistischen Fraktionen der russischen Sozialdemokratie und der Bolschewistischen Partei von 1917 sowie den ersten vier Kongressen der 3. Internationale und den ersten beiden Kongressen der 4. Internationale. Aus der Theorie und Praxis der Begründer des klassischen Marxismus schöpfen wir die folgenden grundlegenden Prinzipien.

2. Das revolutionäre Programm stellt die umfassende Kampfstrategie in der kapitalistischen Gesellschaft dar, die Eroberung der Macht, die Errichtung der Diktatur des Proletariats, die internationale Ausbreitung der Revolution. Auf einem solchen Programm müssen alle nationalen Parteien und eine internationale Partei aufgebaut werden. Nationale und internationale Programme legen die Perspektiven und grundlegenden Strategien über einen längeren Zeitraum fest. Ebenso muss die von Trotzki im Programm von 1938 voll ausgearbeitete Übergangsmethode angewandt werden, um eher konjunkturgebundene Aktionsprogramme als Grundlage für das Eingreifen in kurzlebige, aber bedeutsame Krisen in bestimmten Ländern oder auf beschränkteren Kampffeldern wie der Gewerkschaftsbewegung aufzulegen.

Die revolutionäre Partei

3. Die revolutionäre Partei organisiert die VorhutkämpferInnen der ArbeiterInnenklasse, die Kader für die gegenwärtigen und künftigen Klassenschlachten bis hin zur Machteroberung und darüber hinaus. Sie muss innere Demokratie, d.h. Freiheit der Kritik für Einzelpersonen und Gruppierungen, Fraktionen und Tendenzen, Wahl aller Führungsgremien unter legalen Bedingungen, sowie strenge Disziplin bei der Durchführung der beschlossenen Politik und Taktiken der Partei in sich vereinen.

4. Die Partei muss der Tribun aller ausgebeuteten Klassen, unterdrückten Schichten und Völkerschaften sein, muss deren Kernforderungen nach Freiheit aufgreifen und sie in die ArbeiterInnenbewegung und deren Kämpfe integrieren.

5. Die Partei darf unmittelbare ökonomische und politische Forderungen, die im Kapitalismus erfüllbar sind, nicht außer Acht lassen, darf sich aber auch nicht auf sie beschränken. Sie muss diese Forderungen mit solchen verknüpfen, die das kapitalistische Eigentum und die Kontrolle über die Produktion sowie die staatliche Zwangsmacht angreifen.

6. Die Partei muss in jeder Auseinandersetzung sich für jene Taktiken verwenden, die am ehesten geeignet sind, das Bewusstsein, die Moral und den Organisationsgrad der beteiligten ArbeiterInnen zu heben, selbst wenn sie von den meisten TeilnehmerInnen noch nicht anerkannt sind. Sie muss die Methode des Nachlaufens hinter spontanen Kämpfen oder der Beschränkung auf strategische und taktische Ziele, die nicht über den vermeintlichen Bewusstseinsstand der ArbeiterInnenklasse hinausgehen, zurückweisen. Die Partei muss jene Losungen und Gedanken hervorheben, die objektiv durch den Klassenkampf gestellt werden. Schon das Kommunistische Manifest sagte: „Die Kommunisten kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung.“ (Dietz-Ausgabe, S. 82) Sie sollte Organisationsformen vorschlagen, z. B. Massenversammlungen, Streikausschüsse, Aktionskomitees, Streikpostenket-ten und Selbstverteidigungskommandos, die nicht nur besser den Sieg sichern, sondern auch den Weg zu einer höheren Ebene der Kämpfe weisen können bis hin zur Eroberung und Verteidigung der Staatsmacht.

7. Ein kleiner revolutionärer Kern darf sich nicht für die Partei halten. Er muss die Aufgaben der revolutionären Propaganda und des beispielhaften Eingreifens in Klassenkämpfe erfüllen, bis er mit der Vorhut der ArbeiterInnenmassen verschmelzen kann. Verschiedene Taktiken der klassischen MarxistInnen führen in diese Richtung (prinzipienfeste Einheit zwischen revolutionären Propagandagruppen, Eintritt in eine reformistische oder zentristische Massenpartei zum Zweck des Kampfs um die Führung, Beteiligung an der Bildung einer ArbeiterInnenpartei in derselben Absicht).

8. Für die taktisch und organisatorisch höheren Formen des Klassenkampfs in Generalstreik, ArbeiterInnenräten, ArbeiterInnenmilizen, bewaffnetem Aufstand muss ansatzweise bei allen Auseinandersetzungen, bei Solidaritätsstreiks, Aktionstagen, Streik- und Aktionsausschüssen, Streikpostenschutz usw. immer wieder gefochten werden. Wir erkennen die Dringlichkeit der Revolution bei jedem ernsthaften Konflikt und stellen demzufolge uns und die ArbeiterInnenklasse darauf ein.

9. Internationalismus darf kein hehres Versprechen oder eine gelegentliche Solidarität mit den Kämpfen der ArbeiterInnen in anderen Ländern bleiben. Er muss sich in organisierter Form im Einsatz für eine internationale Partei der gesellschaftlichen Umwälzung auf Grundlage des demokratischen Zentralismus ausdrücken. Seit dem Zusammenbruch bzw. der Degeneration der vorauf gegangenen vier Internationalen heißt die Aufgabe: Aufbau einer neuen Internationale – der fünften.

10. Wir lehnen das Argument ab, wonach eine Internationale nur gegründet werden kann, wenn sich starke nationale Parteien etabliert haben. Im Gegenteil, nationale Parteien spiegeln unvermeidlich nur ihre eigene, lokal begrenzte Erfahrung im Klassenkampf wider und neigen daher zu Einseitigkeit und Anpassung an die nationale Beschränktheit. Den besten Schutz dagegen gewährt ein international ausgearbeitetes Programm und die Überwachung durch eine internationale demokratisch zentralistische Führung. Das Werkzeug hierfür ist der Aufbau einer programmatisch fundierten demokratisch-zentralistischen internationalen Tendenz. Im folgenden stellen wir die Lehren dar, die von den sich für die Gründung einer 5. Internationale einsetzenden Kräften als wesentlich erkannt werden müssen.

Das Schicksal der 4. Internationale

11. Die Degeneration und Auflösung der 4. Internationale unterschied sich vom Schicksal ihren beiden unmittelbaren Vorgängerinnen. Sie stürzte in den Zentrismus ab, nicht in Sozialpatriotismus oder Reformismus, weil sie nie Massencharakter erlangte. Sie hatte nie die Gelegenheit, eine entscheidende Führungsrolle in großen revolutionären Kämpfen zu spielen. Außer in wenigen Fällen wie Vietnam, Bolivien oder Sri Lanka überstieg sie nie das Stadium von kämpfenden Propagandagruppen oder höchstens kleinen Kaderparteien. Sie stand und fiel mit ihrer Fähigkeit, die besondere geschichtliche Aufgabe zu erfüllen, indem sie Trotzkis Programm gegen den Stalinismus verteidigte und für eine politische Revolution gegen die Bürokratien in allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten eintrat. An dieser Aufgabe scheiterte sie.

12. Der Grund für das Scheitern war programmatischer Natur. Bereits desorientiert durch den Ausgang des 2. Weltkriegs, der sich nicht mit Trotzkis Perspektive deckte, antwortete die Führung der 4. Internationale auf die Ausdehnung des Stalinismus und Bildung von neuen degenerierten Arbeiterstaaten mit einer Revision der Analyse des Stalinismus und des revolutionären Programms. Stalinismus hieß für sie Gleichsetzung mit Moskautreue. Daraus schlossen sie, dass Titos Bruch mit der Sowjetführung ihn zu einem Zentristen gemacht hätte, und dass der bürokratische Umsturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse einen Arbeiterstaat hervorgebracht hätte, der ohne politische Revolution reformiert werden könnte und von daher ein gesunder Arbeiterstaat wäre.

13. Diese Anpassung an Titos programmatische Version vom Sozialismus in einem Land wurde von allen wichtigen Führern der 4. Internationale auf dem 3. Kongress 1951 geteilt und ebnete den Weg zu einer vollkommenen Revision nicht nur des Programms für die politische Revolution, sondern verwarf auch die ganze Methodologie des Übergangsprogramms. Die Fähigkeit einer stalinistischen Partei zum Sturz des Kapitalismus wurde damit erklärt, dass sie durch den „objektiven revolutionären Prozess” zu revolutionären Maßnahmen gezwungen sei. In der Folge wurde es akzeptiert, dass dieser Prozess auch andere nichtproletarische Kräfte dazu bringen würde, Revolutionen anzuführen.

14. Verschiedene Führer der 4. Internationale passten sich später an diverse politische Tendenzen an, nicht nur an stalinistische wie Mao Tse Tung oder Ho Tschi Minh, sondern auch kleinbürgerliche Nationalisten oder gar Militärjuntas. Doch keiner von ihnen hielt Trotzkis Programm der politischen Revolution im Sowjetblock und das Programm der permanenten Revolution in den kolonialen und halbkolonialen Ländern hoch.

15. Einen gleichermaßen schwerwiegenden Fehler, wenn auch in entgegen gesetzte Richtung,  beging eine Minderheit in der Internationale, die aus der Tatsache, dass die Arbeiterklasse keine Rolle bei diesen Umwälzungen gespielt hatte, schloss, es hätten gar keine sozialen Revolutionen stattgefunden, und demzufolge seien auch keine Arbeiterstaaten in irgendeiner Weise entstanden. Sie behaupteten, damit die entscheidende Rolle der Arbeiterklasse beim  Sturz des Kapitalismus verteidigen zu wollen. In Wahrheit aber leugnet diese normative Methode Trotzkis Erkenntnis, dass es einen konterrevolutionären Sturz des Kapitalismus geben könne, infolge dessen die Eigentumsverhältnisse umgewälzt werden, aber der Arbeiterklasse die politische Macht vorenthalten wird. Trotzki hatte einen solchen Vorgang bei der Invasion in den baltischen Staaten selbst miterlebt. Die Verleugnung von Trotzkis Untersuchung und Methode endete entweder damit, den Sturz des Kapitalismus überhaupt zu bestreiten, wie dies in Tony Cliffs „Staatskapitalismus“-Analyse geschah, oder in der Feststellung, es handele sich um eine Ersetzung durch eine neue Form der Klassengesellschaft wie den „bürokratischen Kollektivismus“, der um nichts progressiver als der Kapitalismus sei. Die programmatische Schlussfolgerung beider Analysen war eine Ablehnung der Verteidigung der „stalinistischen Staaten” in einem Zusammenstoß mit dem Imperialismus.

16. Der 3. Kongress der 4. Internationale 1951 nahm ohne Gegenstimmen Pablos Thesen zu Jugoslawien an und stürzte so in den Zentrismus ab. Die Spaltung 1953 zwischen Internationalem Sekretariat, IS, und der SWP/USA und deren Anhängerschaft, die sich selbst als Internationales Komitee, IK, bezeichneten, ergab sich nicht aus Nichtübereinstimmung mit den programmatischen Revisionen von 1951, sondern es ging um die vom Pablo-Flügel vorgeschlagene Taktik des „Entrismus sui generis“, einer besonderen Form des Eintritts in die stalinistischen Parteien. Die Spaltung war prinzipienlos, denn sie fand im Vorfeld des 1954 geplanten Kongresses statt, wo die Angelegenheiten auf der höchsten Ebene der Internationale hätten debattiert werden können. Keines der Spaltprodukte verkörperte die Kontinuität von Trotzkis Internationale, zumal beide die Beschlüsse des Kongresses von 1951 aufrecht erhielten und von daher keine grundlegende programmatisch prinzipielle Differenz zwischen ihnen bestand. Während das IS die organisatorischen Zusammenhänge und die Kontinuität bewahrte, kritisierte das IK zwar einige Fehler teilweise, aber korrekt. Beide waren aber schuld an wiederholten opportunistischen Abweichungen, die auf die falschen Beschlüsse auf dem Kongress von 1951 zurück gehen.

17. Auf Basis der Methodologie von 1951 passten sich sowohl das IS wie auch die SWP/USA nach 1959 opportunistisch an die Kubanische Revolution an und sahen in Castros Führung eine weitere Kraft, die durch den „historischen Prozess” gezwungen wurde, die Strategie der Permanenten Revolution umzusetzen, auch wenn diese es nicht vermochte, die „Formen der proletarischen Macht“, also Arbeiterräte, zu errichten. Das schuf die Grundlage für den Vereinigungskongress 1963, auf dem sich auch das Vereinigte Sekretariat der 4. Internationale, VS, gründete. Dies zog auch den lateinamerikanischen Hauptteil des IK unter Führung von Moreno an. Die größeren europäischen Sektionen unter Lambert und Healy blieben draußen, aber nicht mehr organisatorisch untereinander verbunden als zuvor. In der Folge wandten sich Moreno und die SWP/USA gegen das VS, als dies zum Guerrillaismus schwenkte. Meinungsverschiedenheiten über die Anpassung der VS-Mehrheit an die sandinistische Regierung in Nikaragua zogen eine weitere Spaltung nach sich. Solche Entwicklungen und das andauernde Auseinanderdriften der Strömungen unter Lambert und Healy verstärkten die Auflösung der einstigen internationalen trotzkistischen Bewegung.

Wiedererarbeitung des Programms

18. 60 Jahre nach der Aufspaltung der 4. Internationale müssen heutige RevolutionärInnen das revolutionäre Programm wieder erarbeiten, so wie es Lenin 1917 getan hat, wie die revolutionäre Kommunistische Internationale in ihren ersten 4 Kongressen vorging und wie Trotzkis dies 1938 geschaffen hat.

Imperialismus

19. In der imperialistischen Epoche können die grundlegenden Aufgaben der bürgerlichen Revolution, das sind die Auflösung der vorkapitalistischen Ausbeutungsformen im Agrarbereich, die demokratischen Rechte, nationale Unabhängigkeit, wirtschaftlicher Fortschritt, nicht im geschichtlichen Interesse der arbeitenden Massen gelöst werden. Das kann nur unter der Diktatur des Proletariats vonstatten gehen, wenn die Arbeiter-, und wo dies angemessen ist, Bauernräte herrschen. Jeder Versuch, den revolutionären Kampf auf die Errichtung einer „demokratischen Etappe” zu beschränken, würde in Wirklichkeit die erneute Festigung der kapitalistischen Gesellschaft bedeuten und die Arbeiterklasse und ihre Bundesgenossen unterdrücken. Ebenso wäre jede Unterstützung von oder gar die Forderung nach einer Regierung aus den Massenparteien eine opportunistische Abweichung, wenn sie sich nicht auf Arbeiterräte beruft und kein Programm der Enteignung des Kapitals durchführt unter dem Vorwand, sie würde die „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern” repräsentieren. Das wäre ein Rückfall hinter den programmatischen Fortschritt der Bolschewiki im April 1917. Zwar ist die Permanente Revolution eine objektive Notwendigkeit, doch sie ist kein „objektiver Prozess“. Sie ist vielmehr eine Strategie, die die Bedürfnisse und die schöpferischen Möglichkeiten der Arbeiterklasse ausdrückt. Als solche kann sie nur als bewusstes Kampfziel der Arbeiterklasse verwirklicht werden, wenn die Klasse von einer Partei geleitet wird, die diese Strategie verfolgt.

20. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und noch kürzer zurückliegend der Niedergang der Vereinigten Staaten haben den nationalen Befreiungskampf der unterdrückten Völker, die in „multinationalen” Staaten gefangen waren oder denen die Unabhängigkeit durch die regionalen Polizisten des Imperialismus versagt war, ausgelöst und ermuntert. Wir erkennen das Recht solcher Bewegungen an, die Mittel für ihren Kampf aus welchen Quellen auch immer, selbst von Imperialisten, zu beziehen. In einer „einpoligen“ Welt, in der imperialistische Rivalitäten sich verschärfen, würde dessen Ablehnung solche Bewegungen zu Niederlagen verurteilen. Doch wir sind gegen die Unterordnung  legitimer nationaler Kämpfe unter die räuberischen Strategien jedweder imperialistischen Macht und fordern die bedingungslose Hilfe unter Arbeiterkontrolle.

21. Wir verteidigen die Taktik der „antiimperialistischen Einheitsfront“, wie sie von Lenin, Trotzki und der revolutionären Komintern ausgearbeitet und angewandt wurde. Solange der Imperialismus in den halbkolonialen Ländern seinen Wünschen entsprechende Regierungen unterstützt oder einsetzt und er diese Halbkolonien ökonomisch ausbeutet, werden breite nichtproletarische Schichten, Bauernschaft und städtisches Kleinbürgertum in den Kampf um Slogans für Nationalismus und Demokratie getrieben. Die ArbeiterInnenvorhut muss nach Aktionseinheit mit solchen Kräften streben, selbst wenn es bürgerliche sind, wenn sie sich wirklich gegen militärische, politische oder ökonomische Unterdrückung und Ausbeutung der halbkolonialen und kolonialen Länder durch den Imperialismus stellen. Eine solche Unterstützung ist notwendig und auch dann prinzipienfest, wenn eine antiimperialistische Bewegung um Hilfe bei einem konkurrierenden imperialistischen Land nachsucht oder ihr diese gewährt wird. Wir fordern diese bedingungslos und setzen uns dafür ein, dass sie von den antiimperialistischen Kräften kontrolliert wird. Grundsätzlich sind wir gegen jede imperialistische Einmischung, seien es Besetzungen oder Flugverbotszonen, die objektiv die Kontrolle einer imperialistischen Macht stärken. Eine Intervention ändert jedoch nicht den Charakter des Befreiungskampfes. Bei allen Operationen muss die Arbeiterklasse ihre absolute Unabhängigkeit bewahren und den Grundsatz „getrennt marschieren, vereint  schlagen“ beachten. Die leninistische Position der „bedingungslosen, aber kritischen Unterstützung” bedeutet bedingungslosen Rückhalt für all jene, die gegen den Imperialismus kämpfen, verbunden mit der Pflicht, die Gesamtstrategie und Kampfmethoden dieser Bewegungen politisch zu bekämpfen.

ArbeiterInnen- und Bauernregierungen

22. Die einzige ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die für KommunistInnen politisch unterstützenswert ist, oder an der sie sich unter gewissen Umständen sogar beteiligen können, ist eine, die aus einer Periode von siegreichen Massenkämpfen erwächst und auf bewaffneten Kampforganen der ArbeiterInnen und BäuerInnen beruht. Es muss eine Regierung sein, die sich der Verteidigung der ArbeiterInnenorganisationen annimmt und die die politische und wirtschaftliche Krise zu Lasten der Bourgeoisie lösen will. Doch wir weisen die Vorstellung zurück, wonach solche Regierungen eine notwendige oder unvermeidliche Etappe darstellen, ehe eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung errichtet werden kann. Ebenso lehnen wir die Charakterisierung von Regierungen bürgerlicher Arbeiterparteien als „ArbeiterInnenregierung” ab. Zwar ist es legitim für RevolutionärInnen, die Massen aufzufordern, diese Parteien an der Regierung auf die Probe zu stellen, aber wir machen stets klar, dass sie bürgerliche Regierungen bleiben.

Unmittelbare und Übergangsforderungen

23. Es ist notwendig, die Massen unter unmittelbaren und Übergangsforderungen entsprechend der konkreten Lage in jedem Land zu mobilisieren. Das Übergangsprogramm besteht aus einer mit einander verknüpften Reihe von Forderungen, die in ihrer Gesamtheit einen offenen und unmittelbaren Angriff auf die kapitalistische Herrschaft darstellen. Diese Forderungen sprechen die grundlegenden objektiven Bedürfnisse der Massen an, u.a. die Notwendigkeit, Formen der ArbeiterInnenorganisation herauszubilden, die die Grundlage für die Kampforgane für die Zerschlagung des kapitalistischen Staats und die Formation eines Arbeiterstaats stellen können. Ihre Gültigkeit hängt weder von ihrer Plausibilität für das bestehende Bewusstsein der Massen ab, noch werden diese Forderungen dadurch entwertet, dass die Kapitalisten oder Bürokraten gezwungen werden, ihnen statt zu geben. Da allen Übergangsforderungen eine Ausweitung der ArbeiterInnenkontrolle gegen die Kapitalisten innewohnt, wird jeder erfolgreiche Kampf erwartungsgemäß die Unternehmer und ihren Staat früher oder später dazu treiben, ihre Niederlage zu rächen. Das Tempo im Klassenkampf wird sich also beschleunigen. Das heißt jedoch nicht, dass eine Logik die Übergangsforderungen automatisch zur Revolution vorwärts peitscht. In allen Stadien müssen RevolutionärInnen vor Selbstgenügsamkeit warnen und die Fähigkeit der Klasse fördern, ihre Errungenschaften sogar angesichts von solchen Gegenoffensiven des Klassenfeindes auszubauen.

24. Wo die herrschenden Klassen demokratische Rechte vorenthalten wollen, mobilisieren wir um revolutionär-demokratische Losungen. Die treibende Kraft solcher Forderungen wie die souveräne Verfassunggebende Versammlung, das allgemeine und geheime Wahlrecht, volle Gleichstellung der Frauen hat sich immer wieder, jüngst während des Arabischen Frühlings, entfaltet. Innerhalb des demokratischen Kampfs streiten wir für die Unabhängigkeit der ArbeiterInnenorganisatio-nen, ergänzen demokratische Losungen mit Übergangsforderungen und Organisationsformen wie die Überwachung der Wahlvorgänge durch Arbeiterräte und ihren Schutz durch ArbeiterInnenmilizen. Die Notwendigkeit der Verbindung von revolutionär-demokratischen Forderungen mit Übergangsforderungen trifft auch zu auf Kämpfe gegen vorkapitalistische Eigentumsverhältnisse auf dem Land, gegen nationale Unterdrückung, militärische oder zivile, rechte oder „linke” Diktatur und Bonapartismus oder Faschismus. Zugleich weisen wir jede Gleichsetzung der Verfassunggebenden Versammlung mit dem Ziel der ArbeiterInnenmacht zurück, die nur auf ArbeiterInnenräten beruhen kann.

ArbeiterInnenräte

25. Die krönende Losung des Übergangsprogramms ist die Forderung nach einer Regierung, die auf ArbeiterInnenräten beruht. ArbeiterInnenräte beziehen die VertreterInnen all jener Gruppen und Schichten ein, die für die Revolution kämpfen, und koordinieren ihre Kämpfe. Sie sind die höchste Organisationsform des Klassenkampfes und Keimorgane der ArbeiterInnenmacht. Der Einsatz für ArbeiterInnen-, und wo dies angebracht ist, für BäuerInnenräte ist eine zentrale Aufgabe in der Anbahnung revolutionärer Situationen. Wo der Klassenkampf neue embryonale Formen der ArbeiterInnenklassenorganisation wie Streikausschüsse, Bezirkskoordinationskomitees, Fabrikräte usw. aufwirft, stellen wir ihnen nicht voll ausgebildete ArbeiterInnenräte entgegen, sondern schlagen ihre Fortentwicklung in räteähnlichen Organe vor. Das geschieht mittels der Anerkennung des Grundsatzes von jederzeit abrufbaren Delegierten, der Einbindung aller anderen ArbeiterInnenorganisationen und der Ausweitung ihrer Befugnisse. In ArbeiterInnenräten stehen wir für die Freiheit aller politischen Strömungen, die einen Rückhalt in der Arbeiterschaft haben, schließen aber Faschisten aus, die von Grund auf die unabhängige Organisation der Klasse ablehnen. Diese spaltet Glauben, Nation und Rasse, für deren ungehinderte Herrschaft sie eintreten. Wir sind gegen alle Bestrebungen, Organisationen als gleichwertig zu Räten darzustellen, die im Grunde von anderen Agenturen kontrolliert werden, sei es vom Staat oder von der Gewerkschaftsbürokratie. Nur Organe, die wirklich von der Basis der ArbeiterInnen- oder BäuerInnenschaft gewählt werden, dürfen ArbeiterInnen- oder BäuerInnenräte genannt werden.

26. Wir verteidigen die leninistisch-trotzkistische Strategie der Machteroberung für die ArbeiterInnenklasse durch einen bewaffneten Aufstand, geleitet von bewaffneten Kräften, die den ArbeiterInnenräten verantwortlich und treu ergeben sind. Nur diese Strategie kann die Niederlage der bewaffneten Einheiten des bürgerlichen Staats besiegeln und gleichzeitig die Errichtung einer neuen Form der Staatsmacht sichern, den revolutionären ArbeiterInnenstaat, der auf ArbeiterInnenräten beruht. Wir stellen diese Strategie allen Formen des Putschismus oder Guerrillaismus entgegen, die die militärische Niederlage der bestehenden Staatsinstitutionen von der Formierung klassenspezifischer Regierungskörperschaften abtrennen. Damit der Aufstand gelingt, muss die revolutionäre Partei die Unterstützung der BäuerInnen, der städtischen Armut und der Mannschaftsdienstgrade der Armee gewinnen.

Gewerkschaften

27. Gewerkschaften sind die grundlegenden Schutzorganisationen für die ArbeiterInnenklasse in Bezug auf Lohn, Rechte und Arbeitsbedingungen. Gegen die soziale Macht der Kapitalisten ist der/die einzelne ArbeiterIn machtlos. Ihre einzige Stärke liegt in ihrer großen Zahl. Daraus ergibt sich, dass Gewerkschaften so viele der Beschäftigten organisieren müssen wie nur möglich. Der ökonomische Kampf zwischen ArbeiterInnen und Unternehmern um die Aufteilung des von den ArbeiterInnen geschaffenen Werts erzeugt zwei Tendenzen im Gewerkschaftswesen. Die eine passt sich an die Bedingungen des Kapitals an und opfert im ärgsten Fall sogar die ArbeiterInneninteressen, um die kapitalistische Produktion aufrecht zu erhalten. Die andere Richtung versucht den größtmöglichen Anteil für die ArbeiterInnen heraus zu holen und bedroht damit das Überleben der kapitalistischen Produktion durch die Ausschaltung des Profits. Doch diese Möglichkeit kann nur ausgeschöpft werden, wenn die Gewerkschaften von einer bewussten revolutionären Führung geleitet werden. Unser Ziel ist die größtmögliche organisatorische Stärke und Widerstandskraft der ArbeiterInnen durch die Schaffung von massenhaften demokratisch kontrollierten Industriegewerkschaften. Politisch versuchen wir die Gewerkschaften für ein sozialistisches Programm zu gewinnen und nutzen Klassenkampfmethoden, um ihre Fähigkeit zu steigern, sich beim Sturz des Kapitalismus und der Einführung sozialistischer Planung hervor zu tun.

28. Die Erreichung dieser Ziele hängt von der systematischen kommunistischen Fraktionsarbeit in den Gewerkschaften ab. Mit Fraktionen meinen wir Organisationen von Gewerkschaftsmitgliedern, die das Parteiprogramm in Hinblick auf die Gewerkschaftsarbeit nach Kräften unterstützen, selbst wenn sie nicht Parteimitglieder sind. Wir machen uns  für den Aufbau von Bündnissen der militanten Gewerkschaftsmitglieder stark, um die reformistischen Bürokraten in der Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Gewerkschaften zu stürzen, sie in kämpfende Industriegewerkschaften zu verwandeln und in Verbänden klassenkämpferischer Gewerkschaften zu vereinen. KommunistInnen müssen um die revolutionäre Führung mit dem unverbrüchlichen Ziel ringen, die Gewerkschaften in Kampforgane gegen den Kapitalismus zu verwandeln.

29. Wir treten für die größtmögliche gewerkschaftliche Einheit ein, um die Verhandlungskraft der ArbeiterInnen zu stärken und um zu verhindern, dass RevolutionärInnen von den Massen durch bürokratische Ausschlüsse abgeschnitten werden.  Wo demokratisch gewählte ArbeiterführerInnen ausgeschlossen werden oder militante Teile der Klasse gehindert werden, notwendige Kampfmaßnahmen zu ergreifen, müssen wir darauf eingestellt sein, den bürokratischen Führern zu trotzen, und das, falls nötig, bis hin zur Formierung neuer Gewerkschaften. Selbst dann jedoch werden wir für die Spaltung jene verantwortlich machen, die sie inszenieren, die BürokratInnen, aber weiterhin Aktionseinheit und Wiedervereinigung auf demokratischer Grundlage vorschlagen. Wir sind gegen die Bildung „roter” Gewerkschaften, wie sie in der stalinistischen Dritten Periode Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre vorgenommen worden sind, weil ihr Ergebnis die Trennung der KommunistInnen von den ArbeiterInnenmassen war, die unter reformistischer oder noch schlimmerer Führung verblieben.

Einheitsfront

30. Wo die Reaktion in irgendeiner Weise die Rechte und Interessen nicht nur der ArbeiterInnen-, sondern auch anderer Klassen bedroht, befürworten wir gemeinsame Kampagnen und Aktionen um demokratische Forderungen, allerdings nicht auf Kosten von Arbeiterklasseninteressen oder politischer Unabhängigkeit. Wir stellen uns darum der Volksfront-Strategie entgegen, denn in ihr werden ArbeiterInnenklasseninteressen geopfert, um die Beteiligung bürgerlicher Elemente zu sichern oder sie herbeizuführen. Wo solche Volksfronten zustande kommen, unterstützen wir sie nicht politisch, sind aber bereit, in den ArbeiterInnenmassen-organisation auf den Bruch mit bürgerlichen Kräften hinzuwirken und bedienen uns dazu aller Möglichkeiten der Einheitsfronttaktik. Strategisch arbeiten wir für die Niederlage der bürgerlichen Kräfte, sind aber darauf eingestellt, Feindseligkeiten aus taktischen Gründen zurück zu stellen, wenn eine unmittelbarere Gefahr droht, etwa eine Invasion oder ein reaktionärer Putsch, und die ArbeiterInnenklasse noch nicht imstande ist, selbst die Macht zu übernehmen.

Faschismus

31. Faschismus ist nicht nur eine Form bürgerlicher Reaktion, einer militärischen oder bonapartistischen Regierung. Er ist vielmehr eine Massenbewegung plebejischer Schichten, des Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats, die durch eine lange politische und ökonomische Krise des Kapitalismus und die Unfähigkeit des von Reformisten oder Zentristen geführten Proletariats, sie zu lösen, „wild“ geworden sind. Diese Bewegung wird von der Bourgeoisie benutzt, um die ArbeiterInnenbewegung zu zerschlagen und die Klasse zu atomisieren. Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von faschistischen Führern bei der Bildung solcher Bewegungen ist die Fähigkeit, die „Straßen zu kontrollieren“, d.h. GegnerInnen gewaltsam einzuschüchtern, Streiks und Demonstrationen zu brechen, ganze Regionen zu terrorisieren und wichtige FührerInnen zu ermorden. Als Produkt der kapitalistischen Krise kann die einzige strategische Antwort auf den Faschismus nur der Sturz der Bourgeoisie und die Errichtung einer Diktatur der ArbeiterInnenklasse sein. Der antifaschistische Kampf muss mit den Mitteln des Klassenkampfs und mit dem bewussten Ziel eines ununterbrochenen Kampfs für ArbeiterInnenmacht geführt werden.

Bürgerliche Demokratie

32. Demokratische Einrichtungen, Parlamente, Gemeinderäte usw. sind Teil der Diktatur der Bourgeoisie. Ihr Zweck liegt darin, die Massen in der Vorstellung zu wiegen, dass die Ausbeuterherrschaft „die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk” sei. RevolutionärInnen nehmen an Wahlen teil, solange die Massen Illusionen darin hegen, um diesen Irrtum zu erschüttern und sich auf den Sturz des bürgerlichen Staats und seiner parlamentarischen Institutionen vorzubereiten. Wo es materiell möglich ist, stellen RevolutionärInnen KandidatInnen auf ihrem vollen Aktionsprogramm für ArbeiterInnenmacht auf. Wir lehnen alle Auffassungen ab, dass der Wahlkampf sich auf Forderungen nach „unmittelbaren Reformen” beschränken soll, oder auf einem Programm zu kandidieren, das lediglich begrenzte Vereinbarungen zwischen verschiedenen kleinen Sekten verkörpert.

33. Wo die Kräfte des revolutionären Kommunismus zu schwach für eine Eigenkandidatur sind, und wenn die Massen noch reformistischen oder zentristischen ArbeiterInnenparteien ihr Vertrauen schenken, können wir die Taktik der kritischen Wahlunterstützung auf solche KandidatInnen bei Wahlen anwenden. Wir unterstützen in keinem Fall ihr politisches Programm und äußern nicht das mindeste Vertrauen in deren künftige Taten an der Regierung. Unser Ziel ist es, diese Parteien im Amt auf den Prüfstand zu stellen und die ArbeiterInnen dazu zu bewegen, die Forderungen der Klasse an ihre FührerInnen zu stellen und deren Attacken zu widerstehen, wenn sie als bürgerliche Handlanger an die  Regierung kommen. Doch eine solche Unterstützung wäre nicht zulässig, wenn die ArbeiterInnenklasse und ihre Vorhut in offenen und unmittelbaren Konflikt mit der reformistischen Partei geraten, und wo diese sich wählen lässt, um die ArbeiterInnenschaft niederzuschmettern. Wenn die ArbeiterInnen die Wahl zwischen verschiedenen reformistischen oder zentristischen Parteien haben, empfehlen wir eine kritische Unterstützung für jene, die den stärksten Rückhalt unter den kämpferischsten Teilen der Klasse genießt.

Sozialdemokratie und Stalinismus

34. Die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien in den imperialistischen Ländern sind bürgerliche Parteien, genauer gesagt, bürgerliche Arbeiterparteien. Ihre Führung, Organisationen und ihr Programm haben einen politisch bürgerlichen Charakter, diese Parteien sind jedoch organisch durch ihren proletarischen Ursprung, durch Gewerkschaften und Genossenschaften oder durch massenhafte Mitgliedschaft oder Wahlunterstützung durch die Arbeiterschaft mit der Klasse verbunden. Diese Verbindungen unterscheiden jene Parteien auch von den offen bürgerlichen Parteien. Sie erlauben zugleich die Anwendung einer Reihe von Taktiken der Einheitsfront, mit deren Hilfe die Widersprüche zwischen der ArbeiterInnenbasis und den Führern dieser Parteien aufgezeigt und für den Bruch der Basis mit den reformistischen Führern und deren Programm genutzt werden können. Das schließt auch unter Umständen die Arbeit in solchen Parteien ein. Dies kann die Form eines zeitlich begrenzten Eintritts annehmen, in dem eine offen revolutionäre Organisation Seite an Seite mit einer revolutionären Fraktion innerhalb der bürgerlichen Arbeiterpartei arbeitet. Es kann aber auch den vollen Eintritt bedeuten, bei dem die gesamte revolutionäre Organisation der bürgerlichen Arbeiterpartei beitritt, um in einer zugespitzten Krisenlage einzugreifen. In beiden Fällen allerdings bleibt das revolutionäre Programm die Grundlage für unser Vorgehen. Wir lehnen den „Entrismus der besonderen Art” ab, wie er von der zentristischen 4. Internationale praktiziert wird. Dort treten RevolutionärInnen in eine bürgerliche Arbeiterpartei ein, verheimlichen jedoch ihre Politik, um langfristig in der Partei verbleiben zu können.

35. Wir bestätigen aufs Neue Trotzkis Position, dass der Stalinismus eine konterrevolutionäre Kraft innerhalb der ArbeiterInnenbewegung ist. Stalinistische oder stalinisierte Armeen, Parteien oder Volksfrontbewegungen waren zwar in der Lage, den Kapitalismus in Osteuropa, in Jugoslawien, China, Korea, Vietnam und Kuba zu stürzen, doch dies macht weder Trotzkis Charakterisierung des Stalinismus als konterrevolutionär ungültig, noch beweist dies, dass die Umstürzler des Kapitalismus keine Stalinisten gewesen wären.

36. Diese Umstürze unterschieden sich qualitativ von der Oktoberrevolution. Sie brachten bürokratische soziale Umwälzungen mit durchgehend konterrevolutionärem Charakter. Die Arbeiterklasse wurde von Beginn an von der politischen Macht ausgeschlossen. Mit Hilfe von Einrichtungen eines bürgerlichen Staats verhinderte eine schmarotzende Kaste, dass sich unabhängige Organe der ArbeiterInnenmacht entfalten konnten, ArbeiterInnenräte und Milizen, die die Vorbedingung für jeden Fortschritt zum Sozialismus und zur Weltrevolution sind. Ohne politische Revolution, d.h. den Sturz der bürokratischen Herrschaft durch die ArbeiterInnenklasse und ihre BundesgenossInnen, führten die Stalinisten diese Staaten unweigerlich in den Untergang und spielten auch noch eine Schlüsselrolle bei der Restauration des Kapitalismus.

37. Stalinismus ist der Zwilling der Sozialdemokratie, historisch war er der „Agent des Weltimperialismus im Arbeiterstaat” (Trotzki). Sozial wurzelte er in der herrschenden Bürokratie in den degenerierten Arbeiterstaaten, während die Sozialdemokratie ihre Basis in der Arbeiteraristokratie der imperialistischen Länder und auch einiger fortgeschritteneren Halbkolonien hatte. Stalins Programm des „Sozialismus in einem Land” entstand in der revisionistischen Sozialdemokratie, doch ihre charakteristischen Formen von Regierung und Parteiorganisation wurden während der Degeneration der Sowjetunion errichtet und gipfelten in den großen Säuberungen in den 30er Jahren. Der Stalinismus genoss das Ansehen der Oktoberrevolution und hatte wirtschaftliche Errungenschaften trotz des bürokratischen Planregimes sowie den militärischen Sieg über den Nazismus davon getragen. Daher können diese degenerierten Organisationsformen als Modelle für sozialistische Bewegungen missverstanden werden. Dagegen stellt der Trotzkismus den Aufbau von ArbeiterInnenräten und ArbeiterInnenmilizen als Werkzeuge zum Sturz des Kapitalismus und zur Diktatur des Proletariats in den Mittelpunkt.

38. Wir lehnen Stalinophobie, eine  noch größere Feindlichkeit gegen den Stalinismus als gegen die Sozialdemokratie oder andere klassenfremde Einflüsse, ab. Durch Betonung seines angeblich monolithischen Charakters‚ der „durch und durch konterrevolutionär” ist, zeigt diese Wahrnehmung gegen den sozialdemokratischen Reformismus eine weiche Flanke und passt sich ihm an. Ebenso aber lehnen wir die Stalinophilie ab, nämlich die Idee, dass der Stalinismus einen „Doppelcharakter” hätte und manchmal revolutionär, gelegentlich jedoch konterrevolutionär handeln könne, und dass man sich in bestimmten Etappen oder bei besonderen Aufgaben, bspw. der Verteidigung von ArbeiterInnenstaaten, auf ihn verlassen oder ihm eine führende Rolle zubilligen könnte.

Krise des Stalinismus und kapitalistische Restauration

39. Die Kastenherrschaft der stalinistischen Bürokratie beruhte auf einer Diktatur über die ArbeiterInnenklasse und der systematischen Plünderung der geplanten Eigentumsverhältnisse. Aus der Misswirtschaft der Planökonomien der UdSSR und Osteuropas ergaben sich sinkende Wachstumsraten und schließlich Stillstand. Versuche, diese Ökonomien durch „Marktreformen” anzukurbeln, endeten nur in weiterem Verfall. Dies wiederum diskreditierte den Gedanken der Planwirtschaft und rief restaurationistische Kräfte auf den Plan, die die Öffnung der Märkte noch weiter treiben wollten. Das bildete den Hintergrund für die revolutionären Krisen in den Jahren 1989-92, in denen die proletarische politische Revolution die einzige Alternative zur sozialen Konterrevolution war. Wie Trotzki vorausgesagt hatte, begannen diese Krisen mit Massenbewegungen gegen Privilegien und für Demokratie. Ohne eine revolutionäre Führung, die imstande gewesen wäre, sich auf die Massenbewegung zu beziehen und deren Forderungen mit dem Programm der politischen Revolution zu verknüpfen, ergriffen restaurationistische Kräfte die Initiative, aber ihr Sieg war weder sicher noch unvermeidlich.

40. In China nahm die Restauration des Kapitalismus jedoch eine andere Form an. Dort wurden große Schritte zur Privatisierung der Landwirtschaft und zur Schaffung eines freien Marktes auf dem Lande gepaart mit der Einrichtung von wirtschaftlichen Sonderzonen als Anreiz für ausländisches Kapital unternommen. Dadurch wurde die Planwirtschaft in den 80er Jahren untergraben. Die Beibehaltung der Planung in der staatlichen Industrie und im Außenhandel schuf ein äußerst widersprüchliches Produktionssystem und förderte weitreichende Korruption. Als Antwort darauf erhob sich eine Bewegung für Demokratie, die in den studentischen Demonstrationen auf dem Tianmen-Platz im Mai und Juni 1989 gipfelte und auch neue unabhängige ArbeiterInnenorganisationen entstehen ließ. Angesichts rasch wachsender Massenopposition, Verbrüderung mit Truppen und tiefen Spaltungen in den eigenen Reihen wählte die KP-China-Führung unter Deng Xiaoping die Zuflucht zu brutaler Unterdrückung, um ihr Regime zu erhalten. Danach beschloss die Führung 1992, den Kapitalismus unter ihrer eigenen fortwährenden Diktatur durch den Abbau der Planwirtschaft zu restaurieren. Die staatlichen Ressourcen wurden auf verschiedene Weise privatisiert, in staatskapitalistische Konzerne umgewandelt oder völlig stillgelegt, die Rechte der ArbeiterInnen wurden gesetzmäßig abgebaut.

41. Eine politische Revolution zum Sturz der Bürokratie war in allen degenerierten ArbeiterInnenstaaten notwendig. Eng verbunden damit stellte sich die Aufgabe der Verteidigung der geplanten Eigentumsverhältnisse gegen restaurationistische Kräfte. Unabhängige Arbeiterparteien mit leninistisch-trotzkistischem Programm hätten aufgebaut werden müssen, um dies erfolgreich umzusetzen. RevolutionärInnen hätten sich mit den Massen gegen die bürokratische Diktatur wenden und unter ihnen das Programm der politischen Revolution verbreiten müssen. Die Versuche der Bürokratie, ihr eigenes Überleben zu sichern, mit der Verteidigung von Errungenschaften im degenerierten ArbeiterInnenstaat gleichzusetzen, war falsch. Zwar mussten Rechte wie Versammlungsfreiheit, Legalisierung von oppositionellen Parteien und freien Gewerkschaften gefordert werden, doch es war ebenso falsch, die Rufe nach „pluralistischer Demokratie” mit der Forderung nach ArbeiterInnendemokratie oder nach parlamentarischen Institutionen mit ArbeiterInnenräten gleichzusetzen. Genauso war es falsch, ArbeiterInnenselbstver-waltungskonzepten nachzurennen und nicht zu Verteidigung und Kontrolle über den Plan  durch die ArbeiterInnenklasse aufzurufen. Die Aufgabe der politischen Revolution lautete: Errichtung der Diktatur des Proletariats durch Zerstörung der Diktatur der Bürokratie. In Kuba und Nordkorea steht dies nach wie vor ganz oben auf der Tagesordnung.

42. Ungeachtet der jeweiligen restaurationistischen Strategie war der entscheidende Punkt in der politisch revolutionären Krise, an dem das Regime begann, den der Form nach bürgerlichen Staat einzusetzen, um die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu restaurieren. Danach konnten diese Staaten nicht mehr als degenerierte ArbeiterInnenstaaten bezeichnet werden, selbst wenn Elemente der Planung oder des Staatsmonopols zeitweise noch aufrecht erhalten wurden, oder wo stalinistische Parteien im Amt blieben. An dem Punkt konnten RevolutionärInnen sie nicht mehr bedingungslos verteidigen, wenn sie von kapitalistischen Staaten angegriffen wurden.

43. Der Zusammenbruch aller degenerierten ArbeiterInnenstaaten in den 90er Jahren mit Ausnahme von zweien, die Restauration des Kapitalismus in ihnen und die Entwicklung von Russland und China zu neuen imperialistischen Mächten sowie die Schrumpfung oder der Zusammenbruch vieler stalinistischer Parteien in den kapitalistischen Ländern beendeten die Weltordnung nach dem 2. Weltkrieg. Obwohl die Art ihres Zusammenbruchs vielfach den Möglichkeiten entsprach, die Trotzki bereits dargelegt hatte, traf dies die meisten Kräfte, die sich international auf den Trotzkismus und die gespaltene 4. Internationale berufen, völlig unvorbereitet, desorientierte sie eine ganze Periode lang und trieb sie in vielen Fällen beschleunigt in die weitere politische Degeneration. Dies ist eine weitere Bestätigung, dass die 4. Internationale nicht mehr als revolutionäre, antistalinistische Internationale, wie Trotzki sie gegründet hatte, bestand.

44. Der Sieg der westlichen imperialistischen Mächte USA und EU im Kalten Krieg verkörpert eine historische Niederlage der Kräfte der ArbeiterInnenbewegung und des Antiimperialismus weltweit, nicht etwa, weil jene Staaten die „Anfangsstadien des Sozialismus“, geschweige denn den „real existierenden Sozialismus” darstellten, sondern weil sie gezwungen waren, die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse umzuwälzen und den Imperialismus von weiten Teilen der Erde ausschlossen. Die Restauration einer nahezu weltumspannenden kapitalistischen Ordnung gestattete es ihren Ideologen nicht nur, den Sieg über den Kommunismus bzw. Sozialismus zu verkünden und andere Gesellschaftsformen als reaktionäre Utopien abzustempeln, sondern versorgte den Imperialismus auch mit riesigen neuen Ressourcen und menschlichem Reservoir für die kapitalistische Ausbeutung.

Imperialismus im 21. Jahrhundert

45. Lenins Imperialismustheorie und die leninistisch-trotzkistische Taktik im Angesicht des imperialistischen Krieges sind immer noch vollauf gültig. Die Wesensmerkmale des Imperialismus, wie sie von Lenin, der revolutionären Kommunistischen Internationale und Trotzkis 4. Internationale charakterisiert wurden, bestehen weiterhin trotz Auflösung der formalen Kolonialreiche von Großbritannien und Frankreich und Veränderungen im Gefüge von Investitionen und dem verhältnismäßigen Aufstieg von bestimmten nichtimperialistischen Ländern. Die kapitalistische Ökonomie ist nun voll global und wird vom Finanzkapital beherrscht. Der Kapitalexport übersteigt in seinen vielfachen Formen bei weitem die Ausfuhr von Gütern, und eine kleine Anzahl von imperialistischen Mächten herrscht über die Ökonomien der übrigen Länder, die tatsächlich zu Halbkolonien herabgedrückt werden. Die imperialistischen Mächte greifen wiederholt überall auf der Welt ein, um Regierungen einzusetzen, die für die Herausholung von imperialistischem Extraprofit förderlich sind.

46. In Kriegen zwischen imperialistischen Mächten nehmen RevolutionärInnen einen defätistischen Standpunkt ein. In Kriegen und Konflikten zwischen imperialistischen Mächten und halbkolonialen Ländern ist es die Pflicht von RevolutionärInnen, defätistisch gegenüber den Imperialisten aufzutreten und die Halbkolonien zu verteidigen. Es ist legitim für RevolutionärInnen, sich an einer antiimperialistischen Einheitsfront mit nichtproletarischen, selbst mit bürgerlichen, Kräften zu beteiligen, wenn diese tatsächlich am antiimperialistischen Kampf teilnehmen. Aber sie dürfen auf keinen Fall „ihre” Bourgeoisie unterstützen. Um den Krieg zu einem folgerichtig antiimperialistischen Krieg zu machen, bedarf es vielmehr des Sturzes der bürgerlichen Herrscher, obwohl dieses Ziel der Landesverteidigung gegen den Imperialismus untergeordnet ist.

47. In Kriegen zwischen halbkolonialen Ländern um wirtschaftliche, politische oder strategische Vorteile einer nationalen Bourgeoisie muss das Proletariat eine defätistische Haltung einnehmen. Verteidigung ist nur statthaft, wenn ein Land besonders als Agent des Imperialismus auftritt oder versucht, die nationale Selbstbestimmung oder die Unabhängigkeit eines anderen Landes zu verletzen. In diesem Fall ist es die Aufgabe des Proletariats, internationale Solidarität mit den Klassengeschwistern im „Feindesland“ zu üben und nicht nationalistische Parolen und Demagogie zu verbreiten.

48. Gegen den imperialistischen Krieg kann nur der proletarische Kampf und sein Sieg die Gefahr einer atomaren Auslöschung bannen. Krieg ist Bestandteil des Imperialismus. Mit der Entwicklung von Atomwaffen hat der Kapitalismus die Mittel zur Zerstörung der menschlichen Zivilisation entdeckt. Die Menschheit steht buchstäblich vor der Wahl „Sozialismus oder Barbarei“, unter Umständen sogar vor der völligen Auslöschung unserer Gattung. Dies verwandelt die Kriegsfrage aber nicht in eine klassenübergreifende oder klassenlose Angelegenheit, die von einer besonderen Ideologie und Bewegung, dem Pazifismus, zu beantworten ist. Diese Ideologie und ihre Bewegungen bleiben wie vor dem Weltkrieg 1914 oder in den 30er Jahren kleinbürgerlicher Natur. Sie sind unfähig, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, die Imperialisten zu überreden, die Waffen zu strecken und friedlich zu leben oder in neuerer Zeit die Supermächte davon zu überzeugen, ihre Nukleararsenale aufzugeben. Wir weisen die Kennzeichnung von Friedensbewegungen als „objektiv antikapitalistisch” von uns. Das ist eine Ausrede, um dem kleinbürgerlichen Pazifismus nicht den proletarischen Antimilitarismus entgegenzustellen. Die beiden können und dürfen nicht miteinander vermischt werden.

Nationale Selbstbestimmung

49. Lenins Position zum Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Nationen gilt heute noch voll. Es ist eine Pflicht für das Proletariat von Unterdrückernationen, dieses Recht bis zu und unter Einschluss der Abtrennung zu verteidigen. Die Befreiungskämpfe müssen moralisch und materiell ohne Vorbedingungen und Rücksicht auf das Kampfziel oder den Klassencharakter der Führung unterstützt werden. Umgekehrt ist es aber auch die Pflicht des Proletariats der unterdrückten Nation, im Befreiungskampf die Führung anzustreben und die engsten Verbindungen mit den Klassengeschwistern der unterdrückenden Nation zu unterhalten. Ebenso ist es für beide Sektionen der ArbeiterInnenklasse lebenswichtig, die Einheit in gemeinsamen Kämpfen sowohl in den Gewerkschaften wie den ArbeiterInnenparteien herzustellen und zu pflegen. Beide dürfen keinen Augenblick der bürgerlichen/kleinbürgerlichen Ideologie des Nationalismus erliegen.

50. Das nationale Selbstbestimmungsrecht ist ein bürgerliches Recht. Nichtsdestotrotz  muss die Arbeiterklasse weiterhin dieses Recht in jenen Staaten verteidigen, in denen es die Macht ergriffen hat, um das Proletariat der unterdrückten Nationalitäten für den Rückhalt bei der Schaffung und Ausweitung des ArbeiterInnenstaates zu gewinnen. Die Anerkennung dieses Rechts ist in der ganzen Übergangsperiode anwendbar. Die siegreiche ArbeiterInnenklasse kann, wie Engels sagte, „keine Segnungen einer anderen Nation aufzwingen“. Dennoch können militärische Notwendigkeiten des revolutionären Aufstands, des Bürgerkriegs oder einer imperialistischen Intervention die vorübergehende Verletzung dieses Rechts notwendig machen.

Soziale Unterdrückung

51. KommunistInnen nehmen die Befreiung der Frauen, Jugend, Minderheiten der geschlechtlichen Orientierung und rassisch Unterdrückten von der brutalen Repression in der kapitalistischen Gesellschaft sehr wichtig. Der Rassismus hat seine Wurzeln in den frühen kolonialen Formen kapitalistischer Ausdehnung. In der imperialistischen Epoche sorgt er weiterhin für die Spaltung der ArbeiterInnenklasse und ihrer BundesgenossInnen durch die Illusion einer gemeinsamen Überlegenheit aller Klassen einer beherrschenden „Rasse“. Diese Ideologie der Überlegenheit, die oft durch kleine Privilegien bestärkt wird, ermöglicht so die verschärfte Ausbeutung aller ArbeiterInnen und BäuerInnen.

52. Die übrigen Formen der sozialen Unterdrückung sind alle in der bürgerlichen Form der Familie und der auf ihr fußenden sozialen und sexuellen Stereotypen entstanden. Diese Verwurzelung sorgt für die Fortdauer dieser Formen der Unterdrückung, die in jeder Generation auf die eine oder andere Art weiter getragen wird. Obwohl die Familie ihre frühere Rolle in der Herstellung von Nahrung und Kleidung und anderen Lebensnotwendigkeiten verloren hat, hat sie ihre Funktion bei der Produktion und Reproduktion lebendigen Arbeitsvermögens und damit der Ware Arbeitskraft bewahrt. Durch die Übernahme der untergeordneten Rolle der Frauen von früheren Klassengesellschaften hat der Kapitalismus diese wichtige Aufgabe den Frauen als Privatproblem aufgebürdet. Selbst wenn Frauen in die bezahlte Lohnarbeit eingegliedert werden, führt der ideologische Vorrang der Verantwortung für die Familie dazu, dass sie niedrigere Löhne, schlechtere Aufstiegschancen und eine  allgemeine Beschränkung auf Arbeitsplätze, die als „natürliches Umfeld” ihrer Rolle als Frauen und Mütter angesehen werden, erhalten. Wie beim Rassismus wandeln sich die Vorteile für männliche Proletarier, z.B. durch höhere Löhne und eine größere Auswahl an Möglichkeiten und den sozial anerkannten höheren Status „männlicher” Rollen, die für den einzelnen erfahrbar sind, letztlich aber zu Mitteln bei der Steigerung der Ausbeutung aller.

53. Wir unterstützen Kampagnen und auch Einzelpersonen, die solche soziale Unterdrückung bekämpfen, und tun alles, damit die organisierte ArbeiterInnenbewegung (Gewerkschaften, ArbeiterInnenparteien usw.) dies gleichermaßen bewerkstelligt. Unser Ziel ist Hilfe beim Aufbau von proletarischen Bewegungen der Unterdrückten, auch mit eigenen geschlossenen Treffen in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und für ihre Rechte aufzutreten. Wir argumentieren, dass diese Bewegungen zwar demokratisch und selbst verwaltend sein sollen, aber so eng wie möglich in die politische und gewerkschaftliche Bewegung eingebunden. Wir lehnen das Modell der politisch autonomen klassenübergreifenden Bewegungen und Ideologien (Feminismus, Queer-Theorie usw.) als Weg zur Befreiung ab. Stattdessen setzen wir uns dafür ein, dass die ArbeiterInnenklasse die Führung der Kämpfe gegen Diskriminierung und Unterdrückung übernimmt.

Die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit

54. Der Kapitalismus zerstört die Umwelt, Gesundheit und die Wohlfahrt der arbeitenden Massen. Begrenzte Sicherheitsmaßnahmen können durch den Klassenkampf erreicht werden, aber nur die ArbeiterInnenmacht kann die dauerhafte Bedrohung der Umwelt durch den Kapitalismus beseitigen. Die Wurzel dieser Gefahr liegt in dem innewohnenden Drang des Kapitalismus zur Profitmaximierung. Die Kleinkapitalisten verstärken die gefährlichen Arbeitsbedingungen und verschmutzen die Umwelt eher, als Kapital für verbesserte Verfahren zu „vergeuden“. Die internationalen Großkonzerne halten umweltschädliche Industrien aufrecht, um die Einkünfte aus vorherigen Investitionen zu erhöhen. Bei beiden Kapitalfraktionen überwiegen immer wieder kurzfristige und sofortige Vorteile langfristige und soziale Interessen.

55. Nur eine demokratisch geplante und internationale Wirtschaftsordnung kann die Produktion mit größtmöglichem Ertrag organisieren, d.h. Produktion in einem Maß, das menschlichen Bedürfnissen entspricht und in Einklang bringt mit der Umwelt, von der alles Leben abhängt. Zwar sind Aktionseinheiten mit nicht-proletarischen Bewegungen wie UmweltaktivistInnen bei spezifischen Themen zulässig, aber wir weisen die Sichtweise zurück, wonach der Umweltschutz eine klassenübergreifende Sache sei und von nicht klassengebundenen oder klassenübergreifenden Organisationen erkämpft werden könnte. Es wäre genau so falsch, solche Fragen auf unbestimmte Zeit zu verschieben, als wären sie nur im Sozialismus lösbar. Stattdessen sollten alle damit verbundenen Angelegenheiten in das ArbeiterInnenprogramm von Übergangsforderungen aufgenommen und dabei die Frage der ArbeiterInnenkon-trolle in den Mittelpunkt gerückt werden.

Die revolutionäre Partei und ihr Werdegang

56. Eine leninistische Vorhutpartei ist unverzichtbar nicht nur für den Aufstand und die Machteroberung, sondern für alle Stadien des Klassenkampfs. Eine solche Partei muss auf einem internationalen Übergangsprogramm aufgebaut sein, das das geschichtliche Ziel und die Grundsätze mit den grundlegenden Taktiken in einer umfassenden Strategie für die ArbeiterInnenmacht vereint. Allein die ArbeiterInnenklasse kann einen gesunden ArbeiterInnenstaat schaffen. Die revolutionäre Partei muss in der Klasse verankert sein und ihre geschichtlichen Ziele zum Ausdruck bringen. Wir lehnen alle Vorschläge zur Bildung von „Arbeiter-Bauern-Parteien“ oder Parteien aus opportunistischen Fusionen zwischen RevolutionärInnen und NichtrevolutionärInnen ab. Ebenso weisen wir die Idee von uns, dass linksrefomistische oder zentristische „breite Parteien” auf unbestimmte Zeit geeignete Organe für die ArbeiterInnenklasse sein können. Diese Position, vertreten von verschiedenen Strömungen der 4. Internationale seit 1951, wurde korrekterweise von der revolutionären Kommunistischen Internationale abgelehnt, die aus den Erfahrungen der 2. Internationale folgerte, dass ein langjähriges Zusammengehen von RevolutionärInnen mit ReformistInnen in derselben Partei in kritischen Momenten des Klassenkampfs nur zu einer Katastrophe führen kann. Zugleich sind wir gegen die Bezeichnung von kleinen Propagandagruppen als „Parteien“, was nicht nur dem Gedanken einer ArbeiterInnenpartei die Grundlage entzieht, sondern auch die RevolutionärInnen selbst in Bezug auf ihre eigenen Aufgaben und Dringlichkeiten desorientiert.

57. Der Kern der marxistischen Strategie für die Erlangung des Sozialismus war stets die Erkenntnis, die theoretischen Errungenschaften der sozialistischen Bewegung, die in der Geschichte von Intellektuellen erarbeitet worden sind, mit den führenden Elementen der eigenen ArbeiterInnenorganisationen und -bewegungen zu verschmelzen. Unterschiedene Etappen oder Phasen sind in diesem Verschmelzungsprozess in der Geschichte beobachtbar. Es beginnt mit einer sehr kleinen Anzahl von revolutionären Intellektuellen, die sich der Sache der ArbeiterInnenklasse verschrieben haben und eine ideologische Strömung formen.  Ihre erste Aufgabe besteht in der Verbreitung eines revolutionären Programms in der Arbeiterklasse. Propagandagruppen bilden dann ArbeiterInnenkader und Kaderparteien heraus, die vorwiegend aus ArbeiteraktivistInnen bestehen und eine anerkannte politische Strömung innerhalb der ArbeiterInnenklasse darstellen. Das Stadium einer revolutionären Massenpartei ist erreicht, wenn ein erfolgreiches Eingreifen einer Kaderpartei in einer zugespitzten gesellschaftlichen Krise darin mündet, die Führung von entscheidenden Teile der Gesamtklasse zu übernehmen.

58. Das Tempo dieses Prozesses ist notwendigerweise verbunden mit der Geschwindigkeit des Klassenkampfs, was auch bedeuten kann, dass einige der Aufgaben einer Etappe in einer anderen erst in Angriff genommen werden oder im Angesicht einer Niederlage, wiederholt werden müssen, wie dies nach dem 2. Weltkrieg der Fall war und dann nach dem Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten. In jeder dieser Entwicklungsphasen besteht die Aufgabe der revolutionären Strömung im Ringen um die Führung der Klasse gegen andere Tendenzen, die in ihrer Politik den Einfluss anderer Klassen innerhalb des Proletariats repräsentieren. Die Führung ist entscheidend in jeder Teilauseinandersetzung von Klassenkonflikten, und wenn die kapitalistischen Krisen die Zukunft der Gesellschaft insgesamt bedrohen und ein weiterer Fortschritt vom Sturz des Kapitalismus abhängt, ist die Fähigkeit der revolutionären Kräfte, die Führung zu erringen, von größter Tragweite, oder wie Trotzkis es in der Periode unmittelbar vor Ausbruch des 2. Weltkriegs ausdrückte: „Die historische Krise der Menschheit reduziert sich auf die Krise der revolutionären Führung.“

59. Obgleich eine Bandbreite von organisatorischen Formen, Diskussionszirkeln, Studiengruppen, Netzwerken und Konferenzen Foren sein können, auf denen RevolutionärInnen ihr Programm klarstellen und ihre Reihen verstärken können, sind sie nur Mittel zum Endzweck, dem nächsten angemessenen Stadium im Aufbau einer revolutionären Partei. Ähnliches gilt, wenn sich uneinheitliche politische Parteien oder Bündnisse mit einem weiten Spektrum politischer Strömungen vom Reformismus bis zum Linkszentrismus bilden. Dort müssen RevolutionärInnen unter Umständen eintreten, um sie für das revolutionäre Programm zu gewinnen. Die Formierung solcher breit angelegten Parteien ist jedoch weder ein Ziel an sich noch eine notwendige Etappe, die der Aufbau einer revolutionären Partei zu durchlaufen hat.

60. Der demokratische Zentralismus in der Tradition von Lenin bleibt die einzig mögliche Grundlage für revolutionäre Parteien und die revolutionäre Internationale. Der Föderalismus in einer Internationale oder nationalen Partei gewährt Sektionen oder regionalen Organisationen Selbstständigkeit mit Auswirkung. Er verneint den demokratischen Zentralismus und schafft potenziell sich gegenüberstehende Blöcke, die unweigerlich zusammenstoßen und sich spalten werden, wie sich am Beispiel Internationales Komitee und Vereinigtes Sekretariat  der 4. Internationale gezeigt hat. Damit der demokratische Zentralismus erhalten bleibt, muss er auf einem revolutionären Programm beruhen, das die Taktik und Strategie einer Organisation festlegt, wodurch die Führung rechenschaftspflichtig gehalten werden kann. Durch strenge politische Praxis, demokratische Bilanz und Verfeinerung des Programms erhöht die demokratisch zentralistische Parteiorganisation ihre eigene Wirksamkeit und verleibt sich die kollektive Erfahrung des Klassenkampfs ein. Damit können Irrtümer korrigiert, neue Erfahrungen verarbeitet und neue Kader geschult werden. Im demokratischen Zentralismus ist das Recht von Gruppierungen von GenossInnen, Fraktionen oder Tendenzen zu bilden, notwendig, um systematische und tiefe Diskussionen von Differenzen zu sichern. Doch das Fortbestehen von Fraktionen auf Dauer würde grundlegende programmatische Differenzen anzeigen, oder noch schlimmer, die Bildung von Cliquen. In einer solchen Lage kann nur die prinzipienfesteste und gründlichste Untersuchung der Sachverhalte die Organisation auf den Weg der Gesundung zurückbringen, falls nötig, auch durch organisatorische Trennung, d.h. Spaltung.

Zentrismus

61. Alle heutigen größeren „trotzkistischen” Strömungen sind zentristischer Art. Ihre unbeugsame Bekämpfung ist notwendig. Einige scheinen weiter links zu stehen als andere, es gibt jedoch keinen stabilen oder widerspruchsfreien linken Flügel des Trotzkismus, mit dem sich wiedervereinigt werden könnte, mit dem gemeinsam die IV. Internationale wieder aufgebaut oder gar wieder begründet werden könnte. Trotzki selbst wäre erzürnt über das Ansinnen der Wiedergründung einer Internationale gewesen, die als revolutionäre Kraft seit 60 Jahren tot ist, jedoch selbst als Bruchstücke die ganze Zeit über aktiv zentristische Verwirrung verbreitet hat. Die Aufgabe stellt sich als Gründung einer neuen Internationale, einer Nachfolgerin und Fortsetzerin der Arbeit der ersten vier auf einem neu erarbeiteten leninistisch-trotzkistischen Programm: einer fünften Internationale.

62. Der Zentrismus irrlichtert zwischen Reform und Revolution. Der Niedergang der revolutionären Organisationen erzeugt einen rechtslastigen Abwärtszug zum Zentrismus. Revolutionäre Krisen und Kämpfe fördern linke Bewegungen weg vom Reformismus, die, wenn sie nicht sofort zur kommunistischen Bewegung kommen, linkszentristische Organisationen bilden können. Wir müssen einen gnadenlosen Kampf gegen den rechten Zentrismus, der sich vom Marxismus entfernt, mit dem ernsthaften Versuch verzahnen, sich nach links bewegende zentristische Organisationen dafür zu gewinnen, in Einklang mit dem Kommunismus zu stehen und die Wiedergeburt einer trotzkistischen Organisation einzuleiten.

63. Jede Spielart des Zentrismus trägt das Zeichen ihrer Herkunft. Dem Zentrismus sozialdemokratischer und stalinistischer Abstammung hat sich ein Zentrismus trotzkistischer Färbung beigesellt. Dieser trägt für gewöhnlich die Züge eines „verknöcherten” Zentrismus., der sich von den Massenkämpfen der Arbeiterklasse abgesondert hat und unfähig und nicht willens ist, seine Politik der Prüfung im Kampf auszusetzen und der verhältnismäßig unempfänglich für Veränderungen ist. Der Zentrismus trotzkistischen Ursprungs ist nicht irgendwie fortschrittlicher als die übrigen zentristischen Arten. In den massiven Erhebungen nach dem Fall des Stalinismus wurden alle Formen des Zentrismus auf die Waage des Klassenkampfs gestellt und für zu leicht befunden. Wir weisen die Idee eines automatischen spontanen Hinüberwachsens des Zentrismus in den revolutionären Kommunismus von uns. Die Bekämpfung des Zentrismus muss bewusst erfolgen und in einem Bruch mit ihm und der Erkenntnis münden, dass er einen veralteten Zustand einer Organisation oder Strömung darstellt; eine selbstkritische Bilanz muss gezogen werden. Wie Trotzki sagte: „Der Zentrismus hasst es, seinen eigenen Namen zu hören.“

Die Globalisierung und ihre Krise

64. Was auch immer die Fürsprecher des Kapitalismus vorbringen mögen, der endgültige Zusammenbruch der degenerierten ArbeiterInnenstaaten hat nicht eine ganz neue Epoche eingeläutet, geschweige denn „das Ende der Geschichte” gebracht. Obwohl die Überbleibsel der Errungenschaften der russischen Revolution von 1917 endgültig ausgelöscht worden sind, bedeutet dies aber nicht das „Ende des Oktobers“. Die grundsätzliche Scheidung von reformistischen und revolutionären Kräften bleibt dennoch bestehen. Der Zusammenbruch setzte jedoch mächtige entgegenwirkende Kräfte frei, die es dem Imperialismus, allen voran den USA, gestatteten, den Beginn einer Krise der Überakkumulation und der fallenden Profitraten seit Anfang der 70er Jahre hinauszuzögern. Die Periode der „Globalisierung” war eine Periode innerhalb der Epoche des Imperialismus. Sie war gekennzeichnet insbesondere durch ein Anwachsen im Zugriffsbereich des US-Finanzkapitals. Der Druck durch den „Washington-Konsens” (Stabilitäts- und Wachstumsmaßnahmen) und die strukturellen Anpassungsprogramme seitens des Internationalen Währungsfonds beseitigten Zollschranken und privatisierten staatliche Sektoren auf der ganzen Welt, sorgten dafür, dass das US-Kapital Profite aufhäufte, ohne den Profitratenfall der eigenen Wirtschaft zu beseitigen.

65. Es gelang den USA zwar, eine unangefochtene Vorherrschaft in der Welt zu erlangen, doch bedeutete dies keinen erdumspannenden „amerikanischen Frieden“. Im Gegenteil, die ökonomische und militärische US-Aggression erzeugte weltweit eine Vielzahl von feindlichen Bewegungen, auch in den USA selbst. Diese reichten von kriegerischen Auseinandersetzungen zu populären Massenbewegungen und schufen insgesamt Möglichkeiten für die Linke, sich zu erholen in einem Ausmaß wie seit Ende der 60er Jahre nicht mehr. Die etablierten Hauptkräfte innerhalb der Arbeiterklasse hatten jedoch kein Programm, das diesen neuen Bewegungen in ihren Kämpfen gegen den Kapitalismus eine Anleitung hätte geben können. Die stalinistischen Parteien waren nicht nur demoralisiert durch den Zusammenbruch des Sowjetblocks, sondern befanden sich bereits in Auflösung. Die Mehrzahl von ihnen wandelte sich zu sozialdemokratischen Parteien, während die angestammten sozialdemokratischen und Labour-Parteien sich nun als die bevorzugten Agentinnen der neoliberalen Politik präsentieren wollten. Solche Führungen waren zusammen mit den zentristischen Strömungen, die nicht mit ihnen brechen wollten, immer noch mächtig genug, die neuen Bewegungen davon abzuhalten, den Kapitalismus wirksam zu bekämpfen. Dies bewirkte eine Führungskrise, vergleichbar mit der, die Trotzki in den 30er Jahren beschrieben hat.

66. Eine trotzkistische Partei, die diesen Namen verdient, hätte in der Lage sein müssen, in diese Bewegungen einzugreifen und alle grundsätzlichen taktischen Anpassungen vorzunehmen, um sich auf jene aufkeimende, politisch noch unfertige Generation von AktivistInnen zu beziehen. Stattdessen zog sich eine Minderheit von ZentristInnen trotzkistischen Ursprungs auf sektiererische Positionen zurück, die sie von den wirklichen Kämpfen abseitsstehen ließen, indem sie z.B. behaupteten, dass die nationale Frage heutzutage überholt sei oder dass die Gewerkschaften völlig verbürgerlicht wären und nur der Täuschung und Irreführung der ArbeiterInnen dienen würden. Die Mehrheit jedoch passte sich kritiklos der Vielzahl von kleinbürgerlichen Programmen an, die von den neuen Bewegungen erzeugt wurden.

67. Erwartungsgemäß erwies sich der ausschweifende Boom des Imperialismus, angeheizt durch Kredite und einen schier endlos scheinenden Nachschub an billigen Waren aus China, bald als Vorspiel zu einer seiner dramatischsten Krisen. Zunehmend unfähig, eine angemessene Rendite aus Investitionen in der Produktion zu erzielen, erzeugte das US-Kapital immer mehr Scheinkapital in Form von immer vielschichtigeren Finanzderivaten. Die „Kreditklemme” von 2007 zeigte die Erkenntnis, dass trotz ihres Nennwertes die meisten dieser Derivate wertlos und die Finanzinstitute, die mit ihnen handelten, praktisch bankrott waren. Bankpleiten von zuvor großen Finanzhäusern wie Bear Stearns und Lehman Brothers folgten dementsprechend. Die nachfolgende Rezession nutzten die Kapitalisten zu einen weltweiten Angriff auf den Lebensstandard der ArbeiterInnenklasse, als die kapitalistischen Staaten ihre Banken „retteten“ oder Anreizprogramme finanzierten und dann die ArbeiterInnen zwangen, die Kosten durch Lohneinbußen, Leistungseinschränkungen und Steuererhöhungen zu zahlen.

68. Land um Land hat trotz Bereitschaft der ArbeiterInnenklasse, sich zur Wehr zu setzen, eine arbeiterfeindliche Regierungspolitik durchgepeitscht, weil die etablierten Führer der ArbeiterInnenorganisationen, Gewerkschaft und Partei, sich geweigert haben, einen entschlossenen und wirkungsvollen Abwehrkampf zuzulassen. Allzu oft haben diese Führer absichtlich bei der Umsetzung solcher Politik ein Auge zugedrückt, um ihre eigene privilegierte Position zu retten oder bestenfalls ein paar Vorteile für eine Minderheit von Lohnabhängigen der ArbeiterInnenaristokratie  zu erreichen. Unter diesen Umständen sollte es die vorrangigste Aufgabe von RevolutionärInnen sein, für die Formation von revolutionären ArbeiterInnenparteien um ein Aktionsprogramm von Sofort- und Übergangsforderungen einzutreten. Doch keine der Parteien, die sich trotzkistisch nennen, hat diese Strategie befolgt. Günstigstenfalls haben sie die Bildung von neuen Parteien auf ungeeigneten Programmen gefördert, indem sie kritiklos den „linken” FührerInnen nachgetrabt sind, statt Forderungen an sie zu richten und ihre AnhängerInnen  zum selbsttätigen Handeln, wenn nötig auch gegen die Führung, zu ermuntern.

69. Nichtsdestotrotz waren der Imperialismus und das Großkapital weder imstande, eine nachhaltige Erholung einzufädeln noch der Arbeiterklasse eine historische Niederlage in einem Ausmaß beizubringen, die einen wirklichen Aufschwung der Profitraten bewirken könnte. Demzufolge liegen noch mehr und größere Klassenschlachten vor uns, und jene werden das Wachstum neuer politischer Strömungen sowohl innerhalb wie außerhalb des „trotzkistischen” Milieus anspornen. Sie werden nicht nur einen wirksamen Widerstand aufbauen, sondern auf den Sturz des Krisen verursachenden Systems drängen. Das ist der Zusammenhang, in dem eine internationale revolutionäre Strömung die Lehren von vier revolutionären Internationalen in die kommenden Klassenkämpfe hineintragen und eine fünfte Internationale aufbauen muss, die endgültig mit dem Kapital abrechnet.