G8: Plünderer der Welt

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

In den G 8-Staaten ist die Wirtschaftsmacht der Welt konzentriert. Von den 200 größten Industriekonzernen kommen 171 aus den USA, Deutschland, Japan, Britannien, Frankreich, Italien und Kanada. Es sind vor allem diese Konzerne, die von der bestehenden kapitalistischen Weltwirtschaftordnung profitieren.

Die G 8 sind ein wichtiger Teil dieser Ordnung. Zwischen den aktuellen Gipfeltreffen koordinieren diverse Experten- und Ministerrunden die Politik der führenden imperialistischen Staaten. Die Finanz- und Wirtschaftsminister aller Staaten außer Russland treffen sich zwischen den jährlichen Gipfeln, um das internationale Währungssystem einigermaßen stabil zu halten und ihre Wirtschaftsinteressen abzustimmen.

Außerdem beherrschen sie praktisch alle wichtigen Institutionen der Weltwirtschaft – den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO), die Weltbank und sämtliche regionale Entwicklungsbanken.

Profite aus der „Dritten Welt“

Der Reichtum der imperialistischen Metropolen speist sich aus zwei Quellen: erstens aus der Ausbeutung der Lohnabhängigen in den großen Industrieländern selbst; zweitens aus der Aneignung von Extraprofiten und dem nationalen Reichtum der „ärmeren“, vom Imperialismus beherrschten Länder, die wiederum aus der Überausbeutung der Arbeiterklasse der halbkolonialen Welt, der Ausbeutung der Bauernschaft oder der Aneignung der dortigen Rohstoffe und Industrien stammen.

So befindet sich ein immer größerer Teil der Wirtschaft der „Dritten Welt“ in den Händen westlicher Konzerne. Das betrifft nicht nur „boomende“ Länder wie China, wo mehr als ein Drittel aller Exporterlöse direkt an westliche Multis geht. Noch mehr trifft das auf die fast vollständig ausgebluteten Länder Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens zu, wo mittlerweile ein großer Teil aller Rohstoffvorkommen und der Dienstleistungen Monopolbesitz westlicher Konzerne sind.

Diese Politik wird seit den 70er Jahren und der Schuldenkrise in den 80er Jahren systematisch betrieben durch Auflagen des IWF und die Bedienung der Zinsen durch Übertragung öffentlichen Eigentums. Für die Bevölkerung hat das dramatische Auswirkungen: elementare medizinische und öffentliche Versorgung fehlt, traditionelle Lebensgrundlagen (z.B. in der Landwirtschaft) werden zerstört, was wiederum Landflucht, Anwachsen der Slums usw. hervorruft.

Heute müssen rund 1,4 Milliarden Menschen (d.h. etwa die Hälfte aller Lohnabhängigen) auf der Welt mit einen Tagesverdienst von weniger als 2 Dollar überleben.

Neoliberale Ordnung überall

Bei den  G 8-Treffen geht es neben dem Streben nach größtmöglicher Öffnung der Märkte der „Dritten Welt“ auch darum, die Konkurrenz untereinander zu „regulieren.“ Kein Wunder also, dass die Frage der Energieversorgung im Zentrum der Gipfel 2006 und 2007 steht. Hier geht es nicht nur um die Sicherung der Öl- und Gasvorkommen im Nahen Osten. Es geht auch um den Einfluss auf das russische Öl (respektive Russlands Einfluss auf die Weltwirtschaft) oder die Interessen der deutschen und französischen Atomindustrie (Siemens, Framatom), die ihre beherrschende Weltmarktstellung sichern und ausbauen wollen.

Die G 8 richten nicht nur die „Dritte Welt“ nach ihren Vorstellungen ein. Auch in den eigenen Ländern sollen die Profite durch verschärfte Ausbeutung – Abschaffung von ArbeiterInnenrechten, „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes – sowie die fast vollständige Privatisierung öffentlicher Leistungen in die Höhe getrieben werden.

Auf dem Gipfel in St. Petersburg stand aktuell die Frage der Bildung, d.h. der Koordinierung der neoliberalen Angriffe auf das Bildungssystem, im Mittelpunkt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass auf solchen Gipfeln Strategien abgesprochen und vorangetrieben werden, die sich dann z.B. in den akllen Angriffen auf die Studierenden zeigen.

G 8 = Krieg und Besatzung

Seit dem 11. September 2001 stehen der „Krieg gegen den Terrorismus“, die „Sicherheitspolitik“ und die Vorbereitung immer neuer Kriege und Besatzungsoperationen im Zentrum aller G 8-Gipfel.

Aktuell bereiten die westlichen Großmächte einen Militärschlag und Sanktionen gegen den Iran vor.

Die von den USA geführte „Koalition der Willigen“ führte den Krieg gegen die Taliban-Herrschaft in Afghanistan und gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak. Beide reaktionären Regimes waren ursprünglich von den USA und ihren Alliierten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion und gegen andere Regionalmächte wie den Iran militärisch und politisch aufgerüstet worden. Erst, als sie als Verbündete nicht mehr gebraucht wurden, „entdeckten“ die führenden westlichen Staatsmänner den verbrecherischen Charakter dieser einstigen Vasallen.

Die USA führen diese Kriege, um ihre Weltmachtstellung zu behaupten und auszubauen. Hinter Krieg und Besatzung stehen immer wirtschaftliche und politische Ziele – nicht erst seit Bush.

„Euroasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft in Zukunft ausgetragen wird.“ (Zbigniew Brezinski, Berater mehrerer US-Regierungen und des britisch/US-amerikanischen Ölmultis BP Amoco, aus: Die einzige Weltmacht, S. 57)

EU und Deutschland verfolgen eigene Interessen

Die EU oder Russland bedienen sich ähnlicher Mittel. Russland führt seit Jahren einen brutalen Krieg in Tschetschenien und unterstützt reaktionäre und korrupte Regimes in Zentralasien, um seine eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele in Zentralasien und im Kaukasus durchzusetzen.

Die wesentlich größere, mit den USA konkurrierende Macht formiert sich jedoch mit der EU unter deutsch-französischer Führung. Die EU macht nicht nur bei der US-Politik offen oder versteckt mit (z.B. indem Flughäfen zur Verfügung gestellt werden), sie verfolgt immer offensiver auch eigene imperialistische Interessen – im Nahen Osten, in Afghanistan oder jetzt auch im Kongo, wo sie unter deutsch-französischer Führung als UN-Mandatsmacht fungiert. Damit einher geht ein massiver Anstieg der Konkurrenz zwischen den beiden mächtigsten Wirtschaftsblöcken der Welt. Als Resultat dessen werden wir Zeugen von immer weitgehenderen Angriffen auf die Lohnabhängigen in ganz Europa bei gleichzeitig verstärkter Auspressung der osteuropäischen Länder innerhalb der EU.

Als Teil der  G 8 und drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt baut die BRD (teilweise über die NATO, verstärkt über die EU) ihre militärischen Kapazitäten aus.

Das geht auch aus dem neuen Weißbuch der Bundeswehr hervor. Die „Welt“ zitiert Verteidigungsminister Jung: „Vorrangige Interessen seien die Förderung der transatlantischen Stabilität und die Sicherung des Wohlstandes durch freien und ungehinderten Welthandel.“

Und weiter: „Hierbei gilt es wegen der Export- und Rohstoffabhängigkeit Deutschlands, sich besonders den Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden.“

Die  G 8-Staaten sind nicht nur die größten Kriegstreiber. Sie sind auch die größten Kriegsgewinner. Die Rüstungskonzerne in den USA, in Europa, Russland und eben auch in der BRD fahren Rekordaufträge ein und machen Rekordgewinne. So belaufen sich z.B. die Kosten für den Eurofighter auf mindestens 19,5 Milliarden Euro. Insgesamt soll bis 2015 allein für die Bundeswehr Kriegsgerät im Wert von rund 150 Milliarden beschafft werden.

Während täglich Menschen durch die Aktionen der Besatzungssoldaten sterben, brummt das Rüstungsgeschäft. Nicht nur in den USA oder Russland, sondern mehr und mehr auch in der EU. 2005 haben die EU-Länder die USA als größten Waffenexporteur der Welt überholt. Dass deutsche Waffen in aller Welt mitmorden, stimmt heute mehr denn je seit 1945.

G 8 = Zerstörung der Umwelt

Ökologische Katastrophen sind nicht einfach Naturereignisse. Als der Hurrikan Katrina New Orleans verwüstete, starben viele Menschen oder wurden obdachlos. Aber sie wurden es nicht einfach wegen der Flutwelle. Ihr Tod, ihr Elend waren auch das Resultat der Politik der Regierung Bush und ihrer Vorgänger. Der öffentliche Verkehr wurde praktisch abgeschafft. Arme, die keine Autos hatten, mussten in der Stadt zurückbleiben. Die Nationalgarde wurde nach New Orleans geschickt – nicht, um der Bevölkerung zu helfen, sondern um zu verhindern, dass diese an die Lebensmittel in den Supermärkten rankam.

Seit Jahren verändert sich das Weltklima rasch. Die G 8 und andere Industriestaaten geben vor, dass ihnen die Umwelt ein großes Anliegen wäre. Das ist reine Heuchelei!

Die Industriestaaten des Nordens sind nach wie vor die größten Umweltverschmutzer. Gleichzeitig zwingen sie Länder der „Dritten Welt“, ihre Umweltauflagen niedrig zu halten, damit das Kapital dort investiert. Die USA haben bis heute nicht einmal das Kyoto-Protokoll zur Reduktion der Treibgasemissionen unterzeichnet.

Die EU und besonders Deutschland geben sich gern als ökologische Vorreiter. Auch das ist weit entfernt von der Wahrheit. Die mächtigen Energiekonzerne wie EON oder Ruhrgas machen genauso mit beim Kampf um möglichst günstigen Zugriff auf Gas und Öl.

Die Energiewirtschaft und die Kraftwerksbauer forcieren gleichzeitig den Atomstrom als „saubere“ Alternative, obwohl nach wie vor die Fragen der Sicherheit wie der Endlagerung ungelöst sind. Kein Wunder, dass die Energiewirtschaft und Konzerne wie Siemens auf einen Wiedereinstieg in den AKW-Bau drängen, um für den chinesischen und indischen Markt und die dort winkenden Profite Vorzeigeobjekte präsentieren zu können.

Die Agrarindustrie wird zunehmend von einigen wenigen Konzernen wie Monsanto oder der deutschen Bayer AG beherrscht. Genetisch manipuliertes Saatgut wird patentiert. Die Bauern werden, hier und v.a. in der „Dritten Welt“ gezwungen, dieses Saatgut (plus die Pestizide) von Bayer, Monsanto oder anderen zu kaufen. Damit werden Millionen landwirtschaftliche ProduzentInnen in den Ruin getrieben. Gleichzeitig weiß niemand, welche Folgen die großflächige Anwendung der Gentechnik auf den Boden, die Umwelt und die Gesundheit hat. Für die Profite der Konzerne werden ganze Landstriche und Millionen KonsumentInnen zu Versuchskaninchen. So wird allein in Brasilien genetisch modifizierter Mais auf Feldern von der Größe Dänemarks angebaut.

Klar ist, dass die Gewinne der Konzerne ins Unermessliche steigen – die Zerstörung der Umwelt, die Ausrottung vieler Arten, die Auslaugung des Bodens müssen die Armen und die KonsumentInnen bezahlen.

Auf welcher Seite die G 8 stehen, ist auch klar. Die Frage der „Patentierung“ u.a. von Genen und die polizeiliche Durchsetzung dieses Rechts stehen im Zentrum der beiden nächsten Gipfel.

Enteignung von Grundversorgung

Die Zerstörung der Umwelt und der Lebensbedingungen sind auch ein direktes Resultat von Liberalisierung und Privatisierung. So verlieren Millionen und Abermillionen ihre Existenz in der Landwirtschaft aufgrund der zunehmenden Monopolisierung der Agrarindustrie oder aufgrund der Zerstörung des Bodens durch diese.

Gleichzeitig wird in den Städten und auf dem Land die Grundversorgung der Menschen privatisiert. Wasser, Müllentsorgung, Strom usw. sind für viele in den Slums der „Dritten Welt“ (aber mittlerweile auch in Europa) nicht mehr erschwinglich.

Hinter diesen menschlichen und ökologischen Katastrophen steht ein System. Vor fast 150 Jahren hat schon Karl Marx bemerkt: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und die Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und die Arbeiter.“

Für dieses kapitalistische System der Zerstörung von Mensch und Natur stehen die G 8. Es ist dieses System, das verhindert, dass die Technik und die Produktivkräfte vernünftig, zur Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen eingesetzt werden.

G 8 und Imperialismus

Die G 8 stellen eine der zentralen Institutionen zur Organisierung der imperialistischen Weltordnung dar – in einer Periode, die durch eine zunehmende Krisenhaftigkeit des Kapitals aufgrund einer enormen Überakkumulation des Kapitals, verschärfter Konkurrenz und einem globalen Angriff auf die Ausgebeuteten und Unterdrückten sowie die Notwendigkeit der Verallgemeinerung des Widerstandes dagegen geprägt sind.

D.h. die aktuellen Schwerpunktsetzungen der G 8 rühren nicht aus dem „Willen“ der Herrschenden (genauso wenig, wie die tieferen Gründe für die US-Politik in der Person Bushs oder irgend eines anderen Präsidenten zu finden wären), sondern aus den strategischen Erfordernissen des imperialistischen Monopol- und Finanzkapitals.

Wir sehen uns hier in der Tradition Lenins, der die imperialistische Epoche als Stadium der „Neukombination“ der verschiedenen Kapitalformen begreift. Industrie- und Bankkapital verschmelzen zu dem, was Lenin im Anschluss an Hilferding „Finanzkapital“ nennt.

Dieses Finanzkapital wird bei Lenin (und den meisten marxistischen Theoretikern) anders verstanden als heute üblich. Der Mainstream der Anti-Globalisierungsbewegung und viele Wirtschaftsjournalisten verstehen das Finanzkapital eigentlich als Kredit, „Spekulation“, Aktien- und Finanzmärkte usw., also als Kapital in Geldform. Lenin hingegen:

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzen oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“

Allerdings sieht Lenin dabei zu Recht eine dominierende Rolle des Bankenkapitals in diesem Verhältnis. Das ergibt sich logisch daraus, dass letzteres zumeist Kapital in Geldform ist. Als solches ist es im Unterschied zum in Maschinen, Rohstoffen usw. vergegenständlichten industriellen Kapital an keine bestimmte stoffliche Grundlage gebunden.

Ebenso korrekt erkennt Lenin, dass mit der Vorherrschaft des Finanzkapitals dem Export von Kapital gegenüber dem Warenexport eine immer größere Rolle zukommen muss (wiewohl letzterer selbst im Gefolge des Kapitalexportes zunimmt).

Die Entwicklung zum Finanzkapital begreift Lenin als eine nicht rückgängig zu machende, notwendige Entwicklungsstufe des Kapitals – die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise sind dabei nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: sie wirken gewissermaßen auf „höherer“ Stufenleiter fort.

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausmaße erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht‘ besitzen.“

Folgerichtig lehnt Lenin die kleinbürgerliche Kritik am Finanzkapital und am Imperialismus ab, weist jeden Versuch, den Kapitalismus kleiner und mittlerer Produzenten wieder herzustellen, als reaktionär und utopisch zurück (z.B. die Anti-Trust-Bewegung). In Wirklichkeit erkannte Lenin und viele andere Marxisten vollkommen zurecht, dass die technische Weiterentwicklung der Produktionsmittel ein wichtiger Schritt zur Realisierung des Sozialismus waren und noch immer sind. Nur kann ein noch so weitläufiger technischer Fortschritt unter dem System des Kapitalismus nie für die Vergrößerung des Wohlstandes der Menschen genutzt werden, sondern wird immer ein Faktor zur weiteren Niederhaltung und Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse zugunsten des Profits genutzt werden.

Die Welt ist aufgeteilt

Lenins Theorie wäre unvollständig und unverständlich, wenn wir nicht einen anderen Aspekt der Entwicklung des Kapitalismus seit Ende des 19. Jahrhunderts in Betracht ziehen würden: die Welt ist unter den kapitalistischen Monopolen und Großmächten aufgeteilt.

Das heißt nicht, dass damit jegliche vorkapitalistische Produktionsweise schon verschwunden wäre. Allerdings sind diese Überreste mehr und mehr in den kapitalistischen Weltmarkt integriert, untergeordnet, werden durch moderne Klassenverhältnisse ersetzt – unter der Fuchtel des Kapitals.

Das bedeutet auch, dass die „zu spät gekommenen“ kapitalistischen Länder nicht den Weg der „fortgeschrittenen“ einfach nachvollziehen können. Sie sind von Beginn an als imperialisierte – ob in kolonialer oder in formell unabhängiger, halb-kolonialer politischer Form – in den Weltmarkt integriert.

Für Lenin ist „Imperialismus“ eine ökonomische, politische und historische Gesamtheit. Imperialistische Politik ist Resultat der verschärften Konkurrenz zwischen den Mächten und Großkapitalen, und ist somit selbst politische Folge der Vorherrschaft des Finanzkapitals über alle anderen Kapitalformen. Lenin lehnt es daher kategorisch ab, „Imperialismus“ als eine besondere, „schlechte“ oder „aggressive“ Politik der kapitalistischen Staaten zu definieren. Eine nicht-imperialistische Politik der kapitalistischen Großmächte ist schlichtweg unmöglich.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals bedarf immer der staatlichen Absicherung dieser Herrschaft gegen die Arbeiterklasse, aufbegehrende Kolonien oder halb-koloniale Staaten („Schurkenstaaten“, wie man heute sagen würde). Insbesondere tendiert sie immer wieder zum Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den verschiedenen Gruppen des Finanzkapitals und den imperialistischen Mächten – zum imperialistischen Krieg.

Daraus ergibt sich auch eine Reihe von Schlussfolgerungen für die Revolutionsperspektive: Kampf gegen den Imperialismus, gegen das Monopol – aber nicht, um „vor-monopolistische“ Zustände wieder herzustellen, nicht um das „gute, schaffende“ Kapital gegen das „schlechte, raffende“ in Schutz zu nehmen.

Die Perspektive ist vielmehr folgende: Enteignung der Enteigner, Reorganisierung der Produktion auf großer Stufenleiter unter Leitung des Proletariats und im Weltmaßstab!

Wenn Lenin vom Imperialismus als einem „sterbenden, verfaulenden“ Kapitalismus spricht, betont er damit vor allem, dass der Imperialismus in seiner Gesamtheit ein Entwicklungsstadium darstellt, in dem die kapitalistische Produktionsweise reaktionär geworden ist. Es ist eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, daher auch eine Epoche massiver sozialer Erschütterungen, von Krieg, Konterrevolution und Revolution.

Lenins Imperialismustheorie ist also gleichzeitig auch eine Revolutionstheorie, die den internationalen Charakter der Revolution, die Notwendigkeit der Erringung der Staatsmacht durch die organisierte Arbeiterklasse und die Organisierung und Führung der Klasse in einer revolutionären Kommunistischen Internationale beinhaltet.

Welches Einheit brauchen wir?

Der Gipfel 2007 ist auch enorme Chancen für die deutsche und internationale Linke, für die verschiedenen, in den letzten Jahren isoliert gebliebenen Protestbewegungen, ihre Aktionen zu bündeln und im Rahmen einer internationalen Großdemonstration sowie weiterer konfrontativer Aktionen gegen den Gipfel und zentrale Einrichtungen des deutschen Imperialismus in der Region Massen zu mobilisieren und zu politisieren, ja ein Stück weit über den symbolischen Charakter des Protests hinauszukommen und an die Tradition vieler anderer militanter Gipfelproteste anzuknüpfen (wie z.B. in Genua).

Es geht darum, über den Anlass des G 8 -Gipfels hinaus, den Abwehrkampf gegen den Generalangriff im Inneren und die imperialistische Kriegs- und Besatzungspolitik nach Außen zu bündeln und weiter voranzubringen.

Dazu müssen Fordrungen an alle ArbeiterInnenorganisationen, an Gewerkschaften, die WASG und die Linkspartei, gestellt werden, aktiv gegen diese Angriffe zu mobilisieren.

Es bedarf aber auch des Kampfes um eine politische Ausrichtung der Proteste und Mobilisierungen, welche die G 8 und die hinter ihnen stehende kapitalistische und imperialistische Politik offen ins Visier nimmt – und nicht die illusorische „Reformierung“ der G 8 oder anderer imperialistischer Institutionen zum strategischen Ziel erklärt. Gerade das unterscheidet uns von den meisten reformistischen Organisationen und der Gewerkschaftsbürokratie.

Es geht auch nicht darum, den G 8 die utopische Perspektive einer „herrschaftsfreien Gesellschaft“ entgegenzusetzen, die ohne proletarische Machtergreifung und planwirtschaftliche Reorganisation der Weltwirtschaft erreicht werden könnte. Diese Position der Libertären und AnarchistInnen ist nur die Kehrseite des Reformismus.

Daher haben wir uns daran beteiligt, einen internationalistischen Pol in der Mobilisierung aufbauen. Ein solcher Block oder Pol muss sich jedoch nicht nur durch radikalere Forderungen, sondern durch eine aktive, vorwärts treibende Rolle in der Gesamtmobilisierung auszeichnen, ohne sich in der Aktion von anderen Spektren sektiererisch abzukapseln.

Vor allem brauchen wir aber eine politische Alternative zu den verschiedenen Spielarten des Reformismus, Anarchismus oder „Post-Operaismus“. Daher kämpfen wir in vielen Ländern für den Aufbau neuer Arbeiterparteien und treten dafür ein, dass diese (oder Ansätze dazu) von Beginn revolutionären Charakter haben, ohne unsere programmatischen Vorschläge zu einem Ultimatum zu erklären.

So wie Lenin aus seiner Imperialismusanalyse (und der damit verbundenen Charakterisierung des sozial-chauvinistischen Charakters der Sozialdemokratie) die Notwendigkeit des Aufbau der Kommunistischen Internationale ableitete, ist unsere Meinung nach die zentraler Schlussfolgerung aus einer aktuellen Analyse des Imperialismus und Kapitalismus heute der Kampf für den Aufbau neuer revolutionärer Arbeiterparteien und einer neuen, Fünften Internationale.

Das zentrale Problem für den Klassenkampf weltweit ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der objektiven Voraussetzungen der sozialistischen, internationalen Revolution und Umgestaltung der Gesellschaft in Richtung Sozialismus einerseits und dem Fehlen einer revolutionären Massenkraft des Proletariats, die einen Weg weisen kann, die Klasse zu einer Klasse für sich zu machen. Ohne ein politisches Instrument ohne eine revolutionäre Partei und Internationale, ist die Überwindung diese Kluft unmöglich, die Schaffung einer solchen Kampforganisation der Arbeiterklasse daher auch die zentrale Aufgabe unsere Zeit. Auf dass die G 8 und das kapitalistische System, das sie verteidigen, auf dem Müllhaufen der Geschichte lande.




Nieder mit den G8! Nieder mit der imperialistischen Weltordnung!

Entwurf der Liga für die Fünfte Internationale (L5I) zur Mobilisierung und Diskussion über die weitere Kampfperspektive nach dem Gipfel, Neue Internationale 120, Mai 2007; Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Versteckt hinter einem kilometerlangen 2,5 m hohen Zaun, bewacht von Hundertschaften von Spezialsicherheitskräften und 15.000 ‚normalen‘ PolizistInnen, von See her geschützt durch kreuzende Kriegsschiffe und aus der Luft abgeschirmt durch die Luftwaffe – unter diesen Vorkehrungen kommen die SpitzenvertreterInnen der 8 mächtigsten Länder der Erde vom 6.6 – 8.6. zusammen.

Der Krieg der G8 gegen die Weltbevölkerung

Kein Wunder, dass sie jedes Jahr ihren Gipfel wie einen Krieg vorbereiten, denn sie führen diesen Krieg tatsächlich – GEGEN UNS, gegen die lohnabhängige Bevölkerung und die Jugend der Welt.

Seit der Jahrtausendwende haben ihre Kriege an Zahl und Opfern zugenommen:

• die von den USA und Britannien geführten Invasionen und Besetzungen im Irak und Afghanistan,

• die von den USA bewaffneten und unterstützten zionistischen Angriffe auf den Libanon,

• die imperialistischen Interventionen in Afrika, die äthiopische Invasion in Somalia mit Hilfe der USA,

• die EU-Intervention im Kongo,

• die fortdauernde EU- und US-Besetzung des Kosovo.

Bush und seine Verbündeten planen, diese Liste in den kommenden Monaten und Jahren noch zu verlängern.

Die Zusammenziehung der Truppen für einen Luftkrieg gegen den Iran ist im Gange. Die Ziele werden nicht nur Atomforschungszentren betreffen, sondern auch die militärischen Anlagen und Verkehrswege des Landes.

Die USA, die EU und Israel haben ihre Kräfte gebündelt, um die Beseitigung der demokratisch gewählten Hamas-Regierung in Palästina zu fordern.

Syrien und Nordkorea sind ebenfalls mit Angriffen bedroht worden, falls sie den Forderungen von USA und EU nicht nachkommen.

Es gibt Pläne für eine gemeinsame Intervention von UN und NATO in der Darfur-Region im Sudan.

Bush versucht einen ‚letzten Stoß‘, um den irakischen Widerstand zu zermalmen, während der britische Regierungschef Blair seine Truppen nach Afghanistan im Glauben verlegt, dass der Krieg dort ‚gewinnbar‘ sei.

Trotz seiner Verstrickung im Nahen und Mittleren Osten droht das Weiße Haus weiterhin Venezuela und blockiert Kuba.

Der Krieg im Inneren

Der fortwährende Krieg für die Errichtung einer neuen Weltordnung ist auf Jahrzehnte – ja für „alle Zeiten“ angelegt worden.

Dieser Krieg ist in die Metropolen zurückgekehrt in Form von großen Angriffen auf soziale und demokratische Rechte. Die Liste von ‚terroristischen Organisationen‘ enthält Dutzende von nationalen Befreiungsbewegungen, die gegen Diktaturen oder Besatzungsmächte kämpfen.

Die EU, die USA und ihre Verbündeten haben Organisation wie die FARC, den baskischen Widerstand, die palästinensischen Befreiungsbewegungen, linke türkische und kurdische Organisationen im Fadenkreuz. Jeder Widerstand, ob bewaffnet oder nicht, wird als Terrorismus abgestempelt. Erschreckendster Ausdruck davon ist die ‚außergewöhnliche Auslieferung‘ von Kriegsgefangenen oder auch nur Verdächtigen an Länder, in denen sie brutalste Folterung erwartet. Guantanamo Bay ist ein Gefangenenlager außerhalb der Reichweite von nationalem oder internationalem Recht.

Am stärksten von Unterdrückung in den imperialistischen Ländern betroffen sind die lange ansässigen Gemeinschaften ausländischer Herkunft ebenso wie ArbeitsimmigrantInnen aus jüngerer Zeit, AsylbewerberInnen sowie die islamischen Gemeinschaften, die alle des Terrorismus verdächtigt und der Inhaftierung oder Abschiebung rechtlos preisgegeben werden können.

Aber dies ist nicht der einzige Aspekt des Krieges der Herrschenden „im Inneren“. Sie führen auch Krieg gegen alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften der Arbeiterklasse, der Bauern und der Arbeitslosen. Auch in Ländern, die vom Imperialismus ausgebeutet werden, ist die selbe neoliberale Offensive im Gange, koordiniert durch die internationalen Finanzeinrichtungen und durchgeführt von den Agenten der herrschenden Kapitalistenklasse.

Privatisierung, Arbeitsplatzverlagerung, Deregulierung, Lohndrückerei, zunehmende Arbeitslosigkeit und unsichere Arbeit bilden den Hauptstoß der neoliberalen Offensive. Die Handelsrunde von Doha hat einer neuen Liberalisierungswelle des Welthandels die Schleusen geöffnet und soll den Verkauf von Staatsbesitz und die Öffnung von natürlichen Ressourcen der so genannten „Dritten Welt“ für die multinationalen Konzerne erzwingen.

Ein System in wachsender Krise

Trotz allen Geredes über eine ‚bessere Zukunft‘ stehen die G 8-Führer für ein System, das zu Umweltkatastrophen in den nächsten Jahrzehnten führen wird, wenn dieses System nicht gestürzt wird.

Die Europäische Union hat unter deutschem Vorsitz die Verfassungsfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt, d. h. sie will die neoliberale Verfassung durchsetzen, die in Frankreich und den Niederlanden 2005 von der Bevölkerung abgelehnt worden ist. Sie beschleunigen die Erfüllung des Aufgabenkatalogs aus der Lissaboner Agenda, um Europa zum mächtigsten und dynamischsten kapitalistischen Block zu machen und als echter Herausforderer gegen das US-Imperium im Streben nach Vorherrschaft in der Welt antreten zu können.

Die G 8 präsentieren die Beherrscher der Welt. Aber ihre Herrschaft, so allmächtig sie auch erscheinen mag, wird zunehmend durch innere Widersprüche und Krisen zerrüttet. Eine immer kleinere Zahl von internationalen Konzernen wie Wal-Mart, Microsoft, Siemens, Nissan, Exxon Mobil, die in ihrer Jagd nach Profiten von immer schärferer Konkurrenz angetrieben werden, wollen alle Schranken gegen die Ausbeutung niederreißen, die Unabhängigkeit von Staaten, Schutzgesetze, staatliche Wohlfahrt und Bildungssysteme.

Die stagnierenden Profitraten in Amerika, Europa und Japan haben zu massiven Kapitalströmen nach China, Indien oder Osteuropa geführt: auf der Suche nach billiger Arbeitskraft, Rohstoffen und neuen Märkten. Das hat aber nicht die Überakkumulation des Kapitals in den imperialistischen Kernländern überwinden können. Im Gegenteil, die inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems verschärfen sich: die Konkurrenz zwischen den Monopolen, die Angriffe auf halbkoloniale Länder und die wachsende Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten. Der unvorstellbare Reichtum Weniger und die gesteigerte Verarmung der Massen in der Weltbevölkerung gehen Hand in Hand.

Frauen stehen im Kreuzfeuer der Globalisierung. Neoliberale Reformen haben die sozialen Wohlfahrtssysteme, öffentliche Versorgung mit Kinder-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen gekappt, die Frauen bei der Kinderbeaufsichtigung und Altenpflege in der Familie in Anspruch nehmen könnten. In Afrika und Asien haben Aids und andere Seuchen den Frauen riesige Lasten aufgebürdet, während die öffentlichen Gesundheitsdienste zusammenbrechen. Die Globalisierung hat wiederum viele Millionen Frauen in China und Südasien zusätzlich in die kapitalistische Lohnarbeit eingegliedert, aber zu prekären Bedingungen, überlangen Arbeitszeiten und lächerlichen Löhnen, d. h. sie werden besonders krass ausgebeutet. Im ‚zivilisierten‘ Europa, werden islamische Frauen wegen ihrer islamischen Kleidung verfolgt. In Ländern, die patriarchal und religiös autoritär verfasst sind, wird ihnen soziale und politische Gleichstellung im Namen reaktionärer Religion verwehrt.

Im den imperialistischen Kernländern bilden zumindest in „guten Zeiten“ Steuersenkungen und Privilegien für die gut ausgebildeten Eliteschichten der Arbeiterschaft und der bürokratische Apparate eine ‚Massenbasis‘, eine verfälschte öffentliche Meinung zu Gunsten von neoliberalen Reformen und Kriegen. Auf diese Schicht stützen sich die reformsozialistischen, „kommunistischen“ und Labour Parteien. Aber die Massenmitgliedschaften dieser Parteien bröckeln schnell und sie verlieren das Vertrauen ihrer Wählerschaft durch ihre Unterordnung unter den Neoliberalismus und den imperialistischen Krieg, besonders wenn sie regieren.

Der Erdteil Afrika ist ständiger Tagesordnungspunkt auf den Sitzung der G 8, des IWF und anderer imperialistischer Institutionen und wird durch die neoliberale Arznei des IWF und der europäischen und nordamerikanischen ‚Helfer‘ vergiftet. In Wahrheit saugen sie wertvolle Rohstoffe und Agrarprodukte aus dem ärmsten Erdteil heraus.

Selbst wo die Weltwirtschaft rasch wächst, wie in China oder Indien, geschieht dies auf Grundlage von Überausbeutung der Arbeiterklasse und geht einher mit der ‚Überbevölkerung‘ von Millionen und der gewaltigen Zerstörung von Land, der Verschmutzung von Flüssen und dem Ausstoß von giftigen Gasen in die Luft.

In Europa gehören Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne, Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme, grausamer Rassismus und die Errichtung einer ‚Festung‘ Europa auch mitten im ‚Aufschwung‘ der gegenwärtigen Wirtschaftskonjunktur zum Alltag für Millionen.

Nur die zynischen LohnschreiberInnen der Kapitalisten malen eine rosige Zukunft für dieses System oder entdecken den Vormarsch der ‚Demokratie‘ in Afghanistan und im Irak. Lediglich die sozialdemokratischen und Labourparteien und die Nichtregierungsorganisationen können sich vorstellen, dass der Kapitalismus ein ‚menschlicheres und zivileres Antlitz‘ bekommen könnte. Sie betteln darum, die G 8 und andere imperialistische Institutionen mögen doch die ‚Armut in die Geschichte verbannen.‘ Nein! Der Weltkapitalismus, der Imperialismus ist ein System sich steigernder Ausbeutung, von Dauerkriegen, Folter und Besatzung und der Anwendung immer barbarischerer Mittel zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Handvoll imperialistischer Mächte.

Das Problem der Umweltzerstörung durch den Klimawandel, der die Weltbevölkerung mit immer stärkeren ‚Naturkatastrophen‘ bedroht – Stürme, Überschwemmungen, Verwüstungen, Seuchen usw. haben sie nicht ernsthaft angepackt. Das wird kommenden Generationen ein schreckliches Schicksal bescheren, wenn die Milliarden nicht den wenigen Milliardären die Macht entreißen.

Der Widerstand wächst

Doch der heutige Weltkapitalismus ist auch eine Welt voller Kämpfe, Massenwiderstand, Revolutionen, die alle zunehmend die imperialistische und kapitalistische Weltordnung bedrohen.

In Europa haben 2005 die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über die neoliberale EU-Verfassung  den imperialistischen Vereinigungsplänen Europas eine Krise beschert. Die Kämpfe der französischen Jugendlichen in den Banlieus sowie landesweit gegen das Gesetz zur Diskriminierung von jungen Lohnabhängigen (CPE), der international abgesprochene Streik der Dockarbeiter gegen das neoliberale Lohndrücker- und Arbeitsplatzvernichtungsprojekt zeigen, dass Siege möglich sind, wenn wir die Methoden des Klassenkampfs benutzen und von Teilsiegen voran schreiten zum Angriff gegen die höchste Herrschaftsebene der Banker und Konzernaufsichtsräte.

In diesem Widerstand haben Frauen eine hervorragende Rolle gespielt. In Südasien haben sich Frauen in der Textilindustrie und anderen Ausbeutungsstätten organisiert und heldenhaft zur Wehr gesetzt. In Lateinamerika sind Frauen führend in den Volksmassenbewegungen gegen neoliberale Regierungen, Privatisierungen von Wasser und IWF-Programme. In jedem Kampf, auf jedem Erdteil, bauen neue Generationen von jungen KämpferInnen die Kräfte der Revolution wieder auf.

Der bewaffnete Widerstand und die Abwehrkämpfe im Libanon, im Irak und in Afghanistan haben den USA und ihrem Polizisten in Nahost, Israel, wichtige politische Niederlagen zugefügt. Sie haben bewiesen, dass selbst die mächtigsten Armeen mit hoch technisierter Bewaffnung durch entschlossenen Widerstand, der in den Massen verankert ist, geschlagen werden können.

Die revolutionäre Situation in Lateinamerika während der letzten Jahre (Argentinien, Bolivien, Venezuela und Mexiko) hat nicht nur den Griff der USA über ihren vermeintlichen ‚Hinterhof‘ in noch vor 10 Jahren unvorhergesehener Weise gelockert. Der Fortschritt der Massenbewegung von Arbeitern, Bauern, indigener Bevölkerung, der Land- und Stadtarmut hat auch das Bedürfnis nach einem ‚sozialistischen Projekt‘, nach einem gemeinsam geführten Kampf auf Weltebene gegen den Imperialismus und für eine neue Internationale auf die Tagesordnung gesetzt.

Was tun in Heiligendamm?

Auf dem G8-Gipfel in Heiligendamm vom 6.-8.6.2007 werden sich die Premierminister und KanzlerInnen der mächtigsten kapitalistischen Länder als ‚Retter der Welt‘ aufspielen. Dabei wollen sie nichts anderes retten als ihren eigenen Besitz und ihre Herrschaft  über die Welt, die Riesenprofite der multinationalen Großkonzerne, ihren freien Zugang zum Weltmarkt und ihr ‚Recht‘, dies mit allen Mitteln durchzusetzen.

Das meinen sie mit „Effektivierung von Finanzstabilität“, „Investitionsfreiheit“ und „Sicherung von Energieressourcen“. Deshalb sind Mittelost, Afghanistan und der Sudan die Hauptinteressensregionen, wo die Imperialisten ihre Herrschaft sichern wollen.

Wenn sie von ‚Sicherheit‘ reden, verstehen sie darunter ihre eigene Sicherheit und wie unsere Kämpfe am Erfolg gehindert werden können, wie unsere Errungenschaften und die Bewegung zerstört werden können, wie sie uns schlagen können.

Deshalb müssen wir so viele ArbeiterInnen, Jugendliche, MigranntInnen, Frauen, AktivistInnen aus allen Ländern wie möglich zum Gipfel nach Heiligendamm in Marsch setzen. Wir rufen zu einer internationalen Massendemonstration am 2.6. auf und wollen dort einen massenhaften anti-imperialistischen antikapitalistischen internationalistischen Block bilden! Wir rufen gleichfalls zu einer massenhaften Beteiligung an den Aktionstagen, dem Versuch zur Blockade des Gipfels und des Militärflughafens in der Nähe von Rostock, einem großen NATO-Stützpunkt in Nordeuropa auf.

Wir werden eifrig in den Aktionen und Diskussionen tätig sein und für die Notwendigkeit zu kämpfen eintreten.

Unser Kampf gegen die G 8 und das System, das sie schützen, beginnt nicht erst mit der Mobilisierung gegen den Gipfel und hört auch nicht nach dessen Beendigung auf.

Die G 8 ist eine internationale Koordination der herrschenden Klassen der größten imperialistischen Mächte, wo sie ihre Konflikte zu lösen versuchen, ihre gemeinsamen Ziele festlegen und eine Strategie ausarbeiten zur Steigerung von Ausbeutung und Plünderung auf der Suche nach mehr Profit.

Uns, den ArbeiterInnen, der Jugend, den Unterdrückten fehlt ein solches „Netzwerk“. Trotz der Erfolge der letzten Jahre werden unsere Kämpfe oft falsch geführt, ausverkauft oder verloren, weil sie isoliert bleiben.

Im letzten Jahrzehnt sind viele Versuche unternommen worden, die Kämpfe zusammen zu bringen, sie zu koordinieren, z.B. in den Sozialforen auf Welt- oder Erdteilebene.

Aber trotz Hunderttausender Menschen, die daran teilnahmen, sind sie Debattierklubs geblieben, weil sie von reformistischen und linksbürgerlichen Politikern statt von den BasisaktivistInnen beherrscht worden sind. In Heiligendamm werden diese falschen Führer genau wie in Edinburgh 2005 wieder danach trachten, die Mobilisierung in eine Sackgasse zu manövrieren, indem sie einen Kapitalismus mit einem menschlichen Anstrich propagieren und an die Herrschenden appellieren, die G 8 zu reformieren oder zu erweitern, statt den Kampf aufzunehmen, um das Räubernest auszuheben und das System, das sie vertritt, zu beseitigen.

Die falschen FührerInnen in unseren Reihen – GewerkschaftsbürokratInnen, SpitzenrepräsentantInnen der Europäischen Linkspartei und der brasilianischen Partido Trabalhadores, GeschäftsführerInnen der großen Nichtregierungsorganisationen, Attac-AkademikerInnen und populistischen FührerInnen der halbkolonialen Welt – sind politisch verantwortlich für die Störung und Zerstörung eines besser aufgestellten, politisch entschlosseneren und internationaleren Widerstands gegen den Kapitalismus. Heute sind wir mit der Aussicht auf einen neuen Krieg und eine neue neoliberale Offensive in der Europäischen Union nicht besser vorbereitet als 2001/2002. Wir werden also wieder improvisieren müssen. Die antikapitalistischen und antiimperialistischen Kräfte werden die Führung übernehmen müssen, aber diesmal müssen wir dauerhaftere und demokratischere kämpfende Organisationen schaffen.

Diesen Wandel können wir herbeiführen, wenn wir all jene Kräfte aufrufen, die sich einer klassenkämpferischen, antikapitalistischen und antiimperialistischen Politik verpflichtet fühlen, sich zusammenzuschließen, um:

• Kampfstrukturen landes, region-, erdteil- und weltweit aufzubauen

• Kampforgane aufzubauen, die alle Teile der Ausgebeuteten und Unterdrückten einbeziehen und diese Organisationsformen unter deren Kontrolle stellt, wie bei den Aktionsausschüssen der französischen Jugend  im Kampf gegen die diskriminierenden Arbeitsgesetze oder wie bei der Kommune von Oaxaca geschehen.

Um aber das imperialistische System wirklich bekämpfen zu können und gegen dessen Offensive gewappnet zu sein, brauchen wir nicht nur bessere Organisierung oder Koordinierung, wir müssen auch eine klare Alternative zum Kapitalismus als System und nicht nur zum Neoliberalismus anbieten. Der Kapitalismus in seinem imperialistischen Endstadium wird kein einziges Problem der Menschheit lösen, auch nicht das der wachsenden Bedrohung durch eine weltweite Umweltkatastrophe.

Nur wenn wir dieses System überwinden, das sich auf die Jagd nach  Profit, auf gnadenlose Konkurrenz gründet und untrennbar mit Krieg, Hunger, Armut und Umweltzerstörung verbunden ist, und es ersetzen durch eine Gesellschaft, die bewusst plant, können wir das Leben nach den Grundbedürfnissen aller organisieren, Klassen abschaffen und alle Formen sozialer Ungleichheit, auch in Bezug auf Geschlecht, nationale oder ethnische Zugehörigkeit ausmerzen.

Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir auch die entsprechenden Mittel dazu einsetzen. Wir brauchen politische Werkzeuge, mit denen wir die alte Welt zerstören und eine neue aufbauen können: eine Jugendinternationale, eine internationale proletarische Frauenbewegung und vor allem eine neue massenhafte Arbeiterinternationale, die sich ihrer Vorgänger als würdig erweist, gegen den Imperialismus und für die sozialistische Revolution kämpft!

Eine andere Welt ist möglich – eine sozialistische Welt. Wir können sie nur durch eine Weltrevolution erreichen.




Führt Hugo Chavez eine sozialistische Revolution an?

Simon Hardy, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Seit seiner Wiederwahl zum Präsidenten im Dezember 2006 hat Hugo Chávez seine Pläne für einen Übergang zum „Sozialismus“ und für eine neue, vereinigte sozialistische Partei umrissen. Er behauptet sogar, Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution zu unterstützen. Simon Hardy wirft einen kritischen Blick auf Chávez‘ Politik und skizziert die Aufgaben von RevolutionärInnen.

Wir leben in einer Periode großer Massenbewegungen gegen Neoliberalismus und Imperialismus. In den vergangenen 10 Jahren sind Millionen von AktivistInnen auf dem Erdball zusammengekommen und haben den Aufbau von Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung in ihren ökonomischen und militärischen Formen erörtert. Konferenzen wie die europäischen und Weltsozialforen legen Zeugnis ab von den Diskussionen über den Weg vom Widerstand zum Sieg.

Die Rolle von Politik und besonders der politischen Parteien waren dabei immer ein Streitpunkt. In der Anfangszeit der Bewegung Ende des vorigen Jahrhunderts bis 2002 zeigte sich ein Wiederaufschwung von anarchistischen und libertären Ideologien, was sich im Aufkommen von Bewegungen wie People’s Global Action und Reclaim the Streets sowie in der Beliebtheit von Schriften wie John Holloways „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen” widerspiegelte.

Der Regierungsantritt von Lula und einer Reihe sich links gebender Präsidenten in Lateinamerika und die Debatte um die Notwendigkeit von alternativen linken Parteien hat die Frage von politischer Macht wieder in die Bewegung hineingetragen. Dies führte zum Aufkommen der Position, dass politische Macht notwendig sei, um die volle Skala der Forderungen aus der Bewegung zu erfüllen, was von Leuten wie Holloway bestritten wird.

Dies drückt die Umschichtung der Arbeiterbewegung und die Forderungen der radikalisierten Massen nach einem politischen und wirtschaftlichen Wandel auf höchster Ebene aus und ist gegen den vorherrschenden Neoliberalismus gerichtet. Wie wir schon in Fifth International Band 2, Ausgabe 1 hingewiesen haben, läuft dies widersprüchlich ab, denn die reformistischen Regierungen in ihren sozialdemokratischen und populistischen Schattierungen haben sich dem neoliberalen Druck des Finanz- und Monopolkapitals angepasst.

Nun scheint das Regime von Hugo Chávez in Venezuela diesen Trend umzukehren. Statt nach rechts zu rücken, haben sich Chávez‘ Bekundungen in den 9 Jahren seiner Amtszeit radikalisiert, seine Sozialprogramme haben zur Anhebung des Lebensstandards geführt und Schneisen in die Armut der Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung geschlagen.

Auch auf den Sozialforen hat Chávez Stellung dagegen bezogen, dass die Sozialbewegung nicht an der Machtfrage rühren dürfe. Vor 20.000 begeisterten AnhängerInnen erklärte er auf dem Weltsozialforum 2005, die Bewegung müsse eine „Machtstrategie” haben. Das war eine unverhohlene Gegenposition gegen die Führung des Weltsozialforums, die ihr Forumkonzept des „offenen Raumes” heftig gegen das eines „Orts der Macht” favorisiert.

Sein Sozialprogramm hat sich die Wut der venezolanischen herrschenden Klasse und der Imperialisten Washingtons zugezogen. Zweimal haben sie versucht, ihn zu stürzen: zunächst 2002 durch einen klassisch lateinamerikanischen Militärputsch und dann durch eine Amtsenthebung durch eine Volksabstimmung. Beide Male musste sich Chávez des Rückhalts der venezolanischen Arbeiter- und Armenmassen versichern, die auf die Straße und zu den Wahlurnen mobilisiert wurden, um seine Macht zu sichern. Trotz mächtiger Opposition regiert er weiterhin als einer der langlebigsten demokratisch gewählten Präsidenten Lateinamerikas.

Nach dem jüngsten Erdrutschsieg von über 62% und mehr als 7 Millionen Stimmen bei den Wahlen im Dezember 2006 kündigte Chávez einen weiteren Linksruck als Vertiefung der „sozialistischen Revolution” in Venezuela an: „Ich habe gesagt, dass der 3. Dezember kein Ankunfts-, sondern ein Abfahrtspunkt ist. Heute fängt eine neue Epoche an (…) Der Hauptgedanke ist die Vertiefung, Verbreiterung und Ausbreitung der sozialistischen Revolution (1).“

Diese kühne Erklärung verheißt einen Gezeitenwechsel in Chávez‘ Politik seit der Amtsübernahme 1998. Damals überschritt sein Programm nicht die Grenzen eines radikal bürgerlichen Nationalismus. Es war beschränkt auf die Beendigung des korrupten Zweiparteien-Begünstigungssystems und auf eine neue republikanische Verfassung, die sehr stark von den Ideen des pan-lateinamerikanischen Nationalisten Simon Bolivar geprägt war.

Chávez‘ Verkündigungen nach dem jüngsten Wahlsieg scheinen eine neue und bedeutsame Entwicklung vorzuzeichnen. Sie enthalten Versprechen zur Verbesserung seiner eigenen Verfassung, um Venezuela ausdrücklich zu einer „sozialistischen Republik” zu machen, zweitens die „Abschaffung des bürgerlichen Staates” und die Schaffung eines von ihm so genannten „Munizipalstaates” sowie die Durchführung einer Reihe von Verstaatlichungen. „Alles was privatisiert worden ist, soll wieder staatlich werden“, meinte Chávez. Er zitierte nicht nur das Gedankengut von Marx und Lenin, sondern sagte auch: „Ich bewege mich sehr auf Trotzkis Linie – der permanenten Revolution (2).“

Die Ereignisse in Venezuela sind unstrittig von außerordentlicher Bedeutung für AntikapitalistInnen und Radikale auf der ganzen Welt. Chávez‘ kometenhafter Aufstieg zur Macht und sein radikales Programm stellen die Frage nach Verständnis und Einschätzung des Wesens der sozialistischen Revolution im 21. Jahrhundert. Nicht nur die Frage nach der Möglichkeit für Staaten der südlichen Hemisphäre, einen anderen wirtschaftlichen Weg als den des Neoliberalismus einzuschlagen, nein, auch die nach der Richtigkeit der klassisch Marxschen Annahme, dass der Sozialismus nicht über das Parlament erreicht werden kann, wird aufgeworfen.

Der Sinn dieses Artikels liegt in der systematischen Untersuchung der Politik von H. Chávez und ihrer Verbindung zum weltweiten Klassenkampf und zu politökonomischen Entwicklungen. Folgende Bereiche und Fragen sollen hier behandelt werden:

• die politischen Wurzeln von Hugo Chávez und die Hintergründe seines Machterfolgs;

• Chávez‘ Radikalisierung und der Druck der Massen;

• Trotzkis Verständnis des Linksbonapartismus als Rahmen für die Einordnung von Chávez und seines Verhältnisses zu den Massen;

• der Grad der Herausforderung für den Kapitalismus durch Chávez‘ Reformprogramm;

• die venezolanische Arbeiterklasse, die bolivarische Bewegung und die Linksopposition gegen Chávez;

• Chávez‘ Programm der 3. Amtsperiode, die „5 Triebkräfte des revolutionären Prozesses“;

• die Haltung revolutionären KommunistInnen zu Chávez und seiner Bewegung.

Der Aufstieg von Hugo Chávez

Venezuelas Kapitalistenklasse ist eine der schmarotzerhaftesten und oligarchischsten Lateinamerikas. Sie stützt sich auf Großgrundbesitzer und die Entstehung einer heimischen Industrie durch gewaltige Einkünfte aus den riesigen Ölvorkommen des Landes. Venezuela ist der fünftgrößte Ölexporteur der Welt und steht an vierter Stelle der Lieferanten für die USA, was 2004 11,4% der Einfuhren für die US-Ökonomie ausmachte. Venezuela verfügt über große Vorräte, weit mehr als die USA, die nur 22 Milliarden Barrel im Vergleich zu den 77,8 Milliarden Venezuelas fördern können. Außerdem verfügt Venezuela im Orinoko-Gürtel über weitere 260 Milliarden Barrel schweres Rohöl, was es durch die Krise im Nahen Osten und die Unterbrechungen des Nachschubs in den nächsten Jahrzehnten für die USA immer wichtiger werden lässt (3).

Die Beziehungen zwischen Venezuela und den USA haben die Innenpolitik des Landes bestimmt. Jahrzehntelang haben die Spitzenmanager der staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft Petroleos de Venezuela Sociedad Anónima (PdVSA) das Unternehmen als „Staat im Staat” betrieben, sich die eigenen Taschen gefüllt und eine privilegierte Elite gebildet. All das war in den Nachkriegsaufschwungjahren möglich und reichte bis in die 1970er, bevor sich als Folge der Krise im Nahen Osten 1973 der Ölpreis vervierfachte. Die Öleinkünfte wurden verwendet, um das ökonomische Modell der Importsubstitution anzuwenden, das von den meisten Ländern der „Dritten Welt“ damals bevorzugt wurde. Sie trachteten danach, die Binnenwirtschaft in industriellen Fertigungsbereichen aufzubauen, statt auf Importgüter zu setzen. Teile des Ölreichtums kamen über hohe Löhne für die Facharbeiter der Etablierung einer Arbeiteraristokratie zu Gute (4).

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts regierten in Venezuela zumeist Militärpräsidenten, oft ausgesprochene Diktatoren, unterbrochen nur von wenigen demokratischen Zwischenzeiten wie die von Rómulo Betancourts Präsidentschaft 1945-1948, ehe 1958 ein Volksaufstand die Militärherrscher verjagte. Die großen bürgerlichen Parteien profitierten vom Rückzug der Militärs, so Betancourts Accion Democratica, vielfach als sozialdemokratische Partei eingestuft, da sie bis heute Mitglied der Sozialistischen Internationale ist. In Wahrheit aber hängt sie wie die meisten Parteien der Sozialistischen Internationale in Lateinamerika der liberalen Bourgeoisie an. (5) Ferner gab es eine Christlich Demokratische Partei namens Copei sowie eine kleinere Partei, die Union Republicana Democratica.

Ihr Abkommen, der „Punto Fijo Pakt“, legte die abwechselnde Regierungstätigkeit von beiden bürgerlichen Hauptparteien fast 40 Jahre lang fest. Die venezolanische Gewerkschaftsbewegung, die Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV), die von einem Kern von Facharbeitern der Ölindustrie geführt wird, ist eng mit der Accion Democratica durch eine mächtige Bürokratie verbunden. Der Puntofijismus ermöglichte es der Elite des Landes und ihren „Arbeiterhandlangern“, sich in großem Ausmaß durch Korruption und Vetternwirtschaft zu bedienen. Er schloss jegliche eigenständige Äußerung der sozialen Bedürfnisse der Arbeitermassen und der anwachsenden Stadtarmut aus.

Doch als in den 80er Jahren der Ölpreis fiel, geriet Venezuela wie viele andere Teile der Südhalbkugel in tiefe ökonomische Schwierigkeiten. Wegen der verhältnismäßigen Wohlhabenheit schlugen sie jedoch erst 1983 durch, als Präsident Luis Herrera Campins die venezolanische Währung, den Bolivar, abwertete, was das Ende einer Ära versinnbildlichte. Mit Venezuelas Wirtschaft ging es steil bergab. In der Folge stieg die Arbeitslosigkeit gewaltig. Die Barrios, Elendssiedlungen an den Stadträndern, wucherten. Die Schattenwirtschaft erreichte Ausmaße, unter denen heute noch ungefähr 50% der venezolanischen Arbeitsbevölkerung beschäftigt sind.

1987 nahm der Internationale Währungsfonds (IWF) die Konsolidierung Venezuelas ins Visier. Gemeinsam mit der Accion Democratica-Regierung von Präsident Carlos Andres Perez wurde ein Strukturanpassungsprogramm aufgelegt, das in seiner neoliberalen Linientreue seither prägend ist für die Sanierungsprojekte in halbkolonialen Ländern. Es sah vor: strenge Beschneidung öffentlicher Ausgaben und der Löhne, einen freien Wechselkurs, Aufhebung von Handelsbeschränkungen, Streichung von Subventionen für einige Grundversorgungsgüter sowie die Einführung von Verbrauchersteuern. Dies bedeutete ein jähes Ende des nach Autarkie strebenden Einfuhrersatz-Wirtschaftsmodells und eine Wende zum Neoliberalismus. Ein Anstieg der Benzinpreise bedingte einen deutlichen Preisruck für Verkehrs- und Verbrauchsgüter.

Folge davon war 1989 einer der ersten Massenwiderstände (El Caracazo) gegen den IWF. Der Aufruhr von Caracas breitete sich so schnell überall aus, dass den linken politischen Gruppen und sympathisierenden Teilen der Armee kaum Zeit blieb, sich daran zu beteiligen. Innerhalb von zwei Tagen reagierte der Staat mit brutaler Unterdrückung, die Dunkelziffer der vom Staat Getöteten liegt bei 3000 (6). Viele der Opfer wurden in Massengräbern beigesetzt. Obwohl die Erhebung Perez nicht von seiner Politik abbrachte, kostete sie die beiden Hauptparteien und das Punto Fijo-System den Rest an Vertrauen in den Massen. Perez wurde zur Verantwortung gezogen und 1993 seines Amtes enthoben.

Die Unterdrückung und die Rolle der Armee darin empörten Teile des Offizierskorps. Unter ihnen war Hugo Chávez, Oberst in einem Fallschirmjägerregiment.

Er hatte am 24.7.1983 bereits eine militärische Geheimorganisation gegründet, das Movimiento Bolivariano Revolucionario 200 (MBR 200). Dieses Datum wurde bewusst schicksalsträchtig gewählt, es war der 200. Geburtstag von Simon Bolivar, dem berühmtesten Führer der antikolonialen Unabhängigkeitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika, volkstümlich „Befreier” genannt. Bolivar bewunderte die nordamerikanische Revolution 1776-1782, fürchtete aber auch die Vormachtstellung der sich ausweitenden Republik im Nordteil gegenüber dem Süden Amerikas. Er sah die Gefahr, dass ein geteiltes Lateinamerika Nordamerika ausgeliefert sein würde und befürwortete deshalb eine Vereinigung Südamerikas in einem Bundesstaat nach dem Vorbild der USA. Seine politischen Vorstellungen deckten sich mit den damals vorherrschenden radikal-kapitalistischen Ideen des Liberalismus. Chávez und seine Kameraden legten Bolivars Auffassungen als Künder des Antiimperialismus und Widerstands gegen die USA aus.

Beeinflusst war der junge Chávez auch von Douglas Bravo, dem alten Führer eines Guerrillafeldzugs, der von der Kommunistischen Partei Venezuelas ausging und von Anfang der 60er bis Mitte der 70er Jahre dauerte, sowie von dem venezolanischen marxistischen Historiker und KP-Mitglied Federico Brito Figueroa. Natürlich hatte auch das Beispiel von Fidel Castro und Che Guevara Einfluss auf Chávez‘ politischen Werdegang und auf seine „antiimperialistische” und später „sozialistische” Auslegung von Bolivars Ideengut abgefärbt. Diese waren anachronistisch und geschichtlich unhaltbar – doch Chávez suchte nach volkstümlichen Helden. Überhaupt ist es ein Wesenszug seiner Politik, dass er immer bestrebt ist, an seinem Götterhimmel neue Helden erstrahlen zu lassen, ohne Rücksicht auf Zusammenhänge und Folgerichtigkeit.

Seine Beweggründe in den 80er Jahren speisten sich aus dem Streben, Venezuela unabhängig vom US-Imperialismus zu machen, den Traum von einem geeinten Lateinamerika zu verwirklichen, der sozialen Ungleichheit und Armut durch eine gerechte Verteilung des Ölreichtums zu begegnen und die Korruption und Günstlingswirtschaft der Elite Venezuelas zu beseitigen. Wie viele andere junge Offiziere mit plebejischem Hintergrund hatte er eine gemischt eingeboren-afrikanisch-spanische Herkunft. Seine Eltern waren Lehrer. Er erlebte die Anmaßung der „weißen” Elite und die schmerzliche politische, ökonomische und kulturelle Unterordnung unter die Herrschaft des nordamerikanischen Kolosses hautnah. Sein Tatendrang führte ihn mit anderen jungen Offizieren zusammen. Die Erörterung der Gründe für die Knechtschaft des Landes mündete in der festen Absicht, diesen Zustand zu beenden.

Später sagte Chávez rückblickend: „Wir besaßen den Wagemut, eine Bewegung in den Reihen der Armee Venezuelas zu gründen. Wir hatten die Korruption satt und schworen, unser Leben unverzüglich der Schaffung einer revolutionären Bewegung und dem revolutionären Kampf in Venezuela und Lateinamerika zu widmen (7).“

Die MBR 200 stellte einen Flügel des Offizierskorps aus der unteren Mittelschicht, der Arbeiterklasse und der Eingeborenen dar. In ihren politischen Anschauungen war sie radikal nationalistisch und populistisch. Sie wollten die Erniedrigung ihres Landes durch die Imperialisten im IWF nicht länger hinnehmen und putschten 1992 erfolglos gegen Perez. Doch nur 10% der Armee folgten Chávez, die schlechte Vorbereitung zog Isolation und Niederlage nach sich. Chávez gab auf, durfte aber eine Fernsehansprache halten, gerichtet an die Bezirke außerhalb von Caracas, wo der Putsch gelungen war. Darin erklärte er: „Kameraden, leider sind zurzeit die Ziele, die wir uns gesetzt haben, in der Hauptstadt nicht erreicht worden. D.h. hier in Caracas ist es uns nicht gelungen, die Macht zu übernehmen. Wo ihr seid, habt ihr eure Sache gut gemacht, aber es ist nun an der Zeit, die Angelegenheit zu überdenken. Es werden sich wieder neue Gelegenheiten ergeben, und das Land wird sich bestimmt anschicken können, einer besseren Zukunft entgegen zu gehen (8).“

Das „Zurzeit“ vermittelte seinen Anhängern den Gedanken, auf eine spätere Gelegenheit zu warten und sich darauf einzustellen. Der gescheiterte Putsch und die Ansprache machten Chávez zu einer landesweit bekannten Persönlichkeit, fast schon zu einem Helden für jene, die unter Perez‘ Sparpolitik zu leiden hatten.

Chávez wurde zwei Jahre später auf Erlass des neuen Präsidenten aus dem Gefängnis entlassen. Obwohl er sein Hauptziel verfehlt hatte, konnte er doch etwas anderes erreichen. Die Zweiparteienherrschaft war völlig unterhöhlt. Die Massen wählten 1993 mit Rafael Caldera einen neuen Präsidenten, der sich von der Copei-Partei gelöst und Anfang des Jahres eine neue, die Konvergenz-Partei, formiert hatte. Seine Wahl an der Spitze einer Koalition von kleineren links-gerichteten Parteien beendete die Zweiparteienherrschaft. Gewählt wurde er auf einem demagogisch verpackten antineoliberalen Programm, das aber in nur zwei Jahren wieder zu Gunsten einer Pro-IWF-Politik fallen gelassen wurde. Das eröffnete die „künftige Gelegenheit”, auf die Chávez gewartet hatte.

Chávez und die MBR 200 bauten eine Massenbewegung auf, der ein Netzwerk von örtlichen Basisorganisationen, den „Bolivarianischen Zirkeln“, zugrunde lag. Diese trafen sich auf Massenversammlungen in den Barrios, traten für Verbesserungen des täglichen Lebens ein und kündigten einen Kampf um die Präsidentschaft in den Wahlen von 1998 an. Kurz vor den Wahlen formte Chávez die MBR 200 in die „Bewegung für die 5. Republik“ (MVR) um. Sein Programm verkündete die Beseitigung des Punto Fijo-Systems, der korrupten „Parteienherrschaft,” wendete sich an das Volk und gegen die politische Elite und die Reichen und nutzte hierfür das gesamte Wörterbuch des lateinamerikanischen Populismus.

Chávez verband dies mit der Betonung, dass seine Präsidentschaft der Bevölkerung eine neue Art von Demokratie bescheren sollte. Dies müsse über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung und die Entscheidung der gewählten Volksvertreter über eine neue Verfassung geschehen. Zum Inhalt solle sie die Ausmerzung von Bestechung und Korruption, die Verteilung der Einkünfte aus den Rohstoffen des Landes an die Armen und Entrechteten sowie das Auftreten gegen die Bedrohung durch den Weltpolizisten USA und seines Werkzeugs, des IWF, haben. Er wollte den VenezolanerInnen ihre Selbstachtung wieder geben.

All dies nannte Chávez die „bolivarische Revolution” und bestritt, dass es sich um eine sozialistische Revolution handele. Sein überwältigender Sieg 1998 mit 56% der Stimmen, die zum Großteil aus den ärmsten Bevölkerungsschichten kamen, zeigte die Hoffnungen und Erwartungen, die sein Programm geweckt hatte.

Washington betrachtete Chávez‘ Erdrutschsieg mit unverhohlener Feindseligkeit. Die ersten Jahre seiner Amtszeit waren jedoch weniger gegen den US-Imperialismus gerichtet als vielmehr der Erstürmung der verfassungsmäßigen Festungen des Puntofijismus gewidmet. Es entstand eine neue bolivarianische Verfassung während einer einjährigen Debatte in der verfassungsgebenden Versammlung. Jene wurde Ende 1999 angenommen und bildete die Grundlage für das politische Programm des Chávez-Regimes.

Sie brachte die gesellschaftlichen Rechte des Volkes ausführlich zur Sprache und zeigte viele Arten, sich ihrer durch Volksentscheide zu bedienen. Nahezu alle vollziehende Gewalt und die gesetzgeberische Initiative gingen aber auf den Präsidenten über.

Im Dezember 1999 wurde die neue Verfassung von 71,8% der abstimmenden Bevölkerung gut geheißen. Im Juli 2000 wählten über 60% Chávez wieder als Präsidenten.

Chávez scharte eine Reihe von Beratern um sich, die aus der bolivarianischen Bewegung in der Armee und den sozialen Bewegungen in der MVR kamen. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörten die Säuberung von Teilen der alten Bürokratie in der staatlichen Ölgesellschaft PdVSA sowie Gesetzgebungs- und Rechtsreformen. Ein großer Teil der Richter wurde wegen Verstrickung in Korruptionsaffären entlassen.

Die Elite wehrt sich

Die Kapitalistenklasse verhielt sich bis 2001 relativ ruhig, als Chávez die „49 Erlasse” herausgab. Diese forderten die Beendigung von Privatisierungen, setzten eine beschränkte Landreform in Gang und kündigten eine stärkere Nutzung der PdVSA-Einkünfte für soziale Projekte im Sinne der Armen an. Das reichte, um den Aufschrei der Bosse und Landbesitzer hervor zu rufen und führte zu einem Bruch in der bolivarischen Bewegung. Die eher bürgerlich ausgerichteten Teile stellten sich auf die Seite der Opposition und meinten, diese Erlasse gingen zu weit, darunter auch Luis Miquilena, einer von Chávez engsten Beratern.

2002 trafen Chávez‘ Versuche, die PdVSA zu reformieren und so den Ölkonzern unter unmittelbare Regierungskontrolle zu stellen, auf den heftigen Widerstand von PdVSA-Managern und Gewerkschaftsbürokraten. Am 9. April entließ Chávez 7 geschäftsführende Mitglieder des Unternehmens. Die Privatmedien, die bürgerlichen Parteien und der CTV mobilisierten sofort eine Solidaritätskundgebung für die geschassten Chefs. Am nächsten Tag rief der CTV einen Generalstreik aus. Zwei große rivalisierende Demonstrationen begegneten sich in der Innenstadt von Caracas. Auf der einen Seite tummelten sich bürgerliche, kleinbürgerliche und arbeiteraristokratische Demonstranten, die Hauptteilnehmerschaft der anderen stellte die städtische Armut. Die Privatmedien behaupteten, dass auf die Anti-Chávez-Demonstranten Schüsse abgegeben worden wären und einige von ihnen getötet hätten. Sie lasteten dies Chávez und seinen Anhängern an. Dies wurde jedoch als vorbereitete Provokation zurückgewiesen. Später stellte sich anhand von Amateuraufnahmen heraus, dass die Schüsse zunächst aus der Anti-Chávez-Demonstration heraus abgefeuert worden waren.

Lucas Romero, der Oberbefehlshaber der venezolanischen Streitkräfte erklärte in einer Rundfunksendung, Chávez hätte ihm gegenüber seinen Rücktritt eingereicht und wäre auf einen Militärstützpunkt gebracht und dort festgesetzt worden. Die Militärführer ernannten Pedro Carmona, den Vorsitzenden des venezolanischen Verbandes der Handelskammern (Fedecameras) zum neuen Präsidenten des Landes. Sein erster Erlass erklärte alle von Chávez eingebrachten wichtigen Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen für null und nichtig und löste unter dem Jubel von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Anhängern die Nationalversammlung und die gesamte Gerichtsbarkeit auf. Eine unpassendere Handlungsweise ist kaum vorstellbar. Kein Wunder, dass Carmonas Präsidentschaft nicht einmal 48 Stunden hielt.

Chávez‘ Absetzung und Carmonas Erlasse verursachten Massenunruhen im ganzen Land und insbesondere in Caracas. Niedere Offiziersränge und Mannschaftsdienstgrade riefen zu massenhafter Unterstützung eines Gegenputsches, der Chávez wieder ins Amt bringen sollte, auf. Die MVR und die bolivarischen Zirkel waren im Stande, die Massen zu Riesenkundgebungen auf die Straße bringen. Das spaltete die Koalition der Verschwörer und auch die Armee, die sich mit übergroßer Mehrheit hinter Chávez stellte und dies mit großen begeisterten Versammlungen bekundete. Diese Soldaten besetzten den Präsidentenpalast wieder, warfen Carmonas Clique hinaus und befreiten Chávez fast ohne Gegenwehr aus der Gefangenschaft. Am 13. April waren Chávez wieder an der Macht und seine Feinde noch mehr diskreditiert und entwaffnet.

Während des missglückten Putschversuches hatten sich 19 lateinamerikanische Länder dagegen ausgesprochen. Die US-Regierung jedoch, die hinter diesem Staatsstreich steckte, hatte sofort Carmona anerkannt. Obwohl mehrere Offiziere vor Gericht gestellt wurden, wurden die meisten der Hauptakteure des Komplotts von 2002 nur in den Ruhestand versetzt. Chávez‘ Getreue in der Armee erhielten Beförderungen.

Dennoch war die herrschende Klasse nicht vollends entmutigt. Ende 2002 zettelten die Bosse eine Aussperrung in der Ölindustrie an, bemäntelten ihn als Streik, der die venezolanische Wirtschaft lähmte und vielen Tausenden Arbeitslosigkeit und Armut brachte. Die reiche Elite, denen die Medien gehören, begann eine Kampagne gegen Chávez und stellte ihn als Diktator hin, der auf Teufel komm raus die heimische Wirtschaft zerstören wolle (9). Chávez rächte sich, indem er viele der alten Manager und ebenso 18.000 PdVSA-Angestellte aus der mittleren Verwaltung und Facharbeiter feuerte, die die Aussperrung unterstützt hatten.

Viele der einfachen ArbeiterInnen hatten sich gegen die Aussperrung zusammen getan und arbeiteten in den verschiedenen Unternehmensbereichen der PdVSA weiter. Massenkundgebungen fanden statt, um Chávez Rückhalt zu geben. Die ArbeiterInnen besetzten Fabriken, die von deren Bossen aus Solidarität mit der PdVSA-Aussperrung geschlossen worden waren. Schließlich konnte die Aussperrung durchbrochen werden, und Fedecameras misslang es, die Bevölkerungsmehrheit von der Gefolgschaft für die bolivarianische Revolution abzuhalten.

Die korrupte und privilegierte Schicht von unternehmerfreundlichen Bürokraten, aus der sich die Führung der CTV zusammensetzte, unterstützte den Staatsstreich und die Aussperrung. Chávez-Anhänger und antikapitalistische Teile der Gewerkschaften lösten sich davon und errichteten eine neue Organisation: die Nationale Arbeitergewerkschaft UNT. Sie stieg rasch zum stärksten Verband im Land auf.

2004 trachteten die Kapitalisten erneut danach, Chávez abzusetzen, indem sie ein Gesetz zur Amtsenthebung durch Volksabstimmung nutzen wollten, das sinnigerweise in die Verfassung der 5. Republik eingebracht worden war. Chávez aber ging auch hier als Sieger hervor, weil 59% gegen seine Abberufung als Präsident stimmten.

Der Wunsch von Teilen der internationalen Kapitalistenklasse, Chávez zu stürzen, ist vielfach schriftlich belegt. Z.B. hat The Economist zum Regimewechsel aufgerufen (10). Von mehreren neokonservativen Politikern der USA ist das Einschreiten in Venezuela gefordert worden. Auch Organisationen wie das National Endowment for Democracy (Nationale Stiftung für Demokratie) oder das American Center for International Labour Solidarity (Amerikanisches Zentrum für internationale Arbeit’nehmer’solidarität), das mit dem CTV verbunden ist, haben Chávez‘ Herrschaft ins Wanken zu bringen versucht (11).

All dies beweist, dass die Imperialisten und ihre Handlanger in den kapitalistischen Eliten Lateinamerikas ihre Positionen und Pläne seit dem Putsch gegen Salvador Allende in Chile 1973 nicht geändert haben. Sie fürchten selbst eingeschränkte Verstaatlichungen mit Entschädigungen und Landreformen von lateinamerikanischen Regierungen und werden alle Hebel in Bewegung setzen, um sie zu stürzen.

Die Radikalisierung von Chávez

Die Massenmobilisierung zur Rettung von Chávez beförderte eine Radikalisierung der Arbeiterschaft und Armut. Sie hatten das Heft des Handelns in die Hände genommen. Sie selbst waren es, die den Putsch vereitelt hatten, zusammen mit den niederen Offiziersrängen und Mannschaftsdienstgraden der Armee. Sie hatten dies vollbracht, als Chávez selbst handlungsunfähig war. Die Inmarschsetzung seiner gesellschaftlichen Basis hat auch Chávez nach links rücken lassen. Seine Stellung hat ihn erkennen lassen, dass sein Überleben verknüpft ist mit der Umsetzung der Reformen zu Gunsten der Massen und mit ihrer Verbreitung durch die bolivarischen Zirkel und die Misiónes, die besonderen Körperschaften mit dem Auftrag, das Bildungswesen, Gesundheit und Landreform auf Vordermann zu bringen (12).

Chávez war gezwungen, sich unmittelbarer denn je auf die Massen verlassen zu müssen, sie zu organisieren und in begrenztem Maß auch zu bewaffnen. Er kündigte im April 2005 zunächst die Formierung von Zivilmilizen an. Im März 2006 begann ein größeres Übungsprogramm für etwa zwei Millionen Reservisten. Die Bewaffnung von weiten Teilen der Bevölkerung ist ein offenkundiger Meilenstein und zeigt einen deutlichen Aufschwung des revolutionären Kampfes.

Doch die Waffenausgabe erfolgt unter strenger Aufsicht der bolivarischen Zirkel. Die Waffenkontrolle übt die MVR aus, die Milizen unterstehen dem persönlichen Befehl von Chávez. Er rechtfertigte die Aufstellung dieser Miliz mit der Gefahr durch ausländische Intervention und konterrevolutionäre Aktion durch reaktionäre Kräfte. Aber was geschieht, wenn die Armee wieder ihren Oberbefehlshaber verhaftet oder wenn Chávez umgebracht wird? Was, wenn Chávez selbst die Milizen gegen linke Kritiker einsetzen will? Diesen Möglichkeiten müssen die ArbeiterInnen ins Auge sehen und sie durch die Forderung nach Demokratisierung, Ausdehnung und Organisation nicht nur in den Barrios, sondern v. a. auch in den Betrieben auszuschalten versuchen. Denn diese Armee ist keine wirklich demokratische und wählt nicht ihre Offiziere selbst und wacht nicht über die eigenen Waffenlager.

Seit Chávez‘ Hauptrückhalt sich von der Armee auf die verschiedenen Mobilisierungen, die ihn gegen Angriffe von rechts verteidigen mussten, verlagert hat, sah er sich genötigt, ernsthaftere Maßnahmen zu ergreifen, um Armut und Analphabetismus auszumerzen.

Chávez‘ Regime ist also ein Beispiel für großen gesellschaftlichen Druck von Seiten des Imperialismus und der Unternehmer, die ihn loswerden wollen – und von Seiten der städtischen Armut, der Bauern und Arbeiterklasse, die ihn an der Macht halten. Unter Ausnutzung der verfassungsmäßigen Befugnisse seiner Präsidentschaft, seiner Kontrolle über eine gesäuberte Armee sowie einer rührigen und organisierten Massenbewegung hat Chávez eine ganz erhebliche Machtfülle angehäuft.

Linker Bonapartismus

Nach marxistischen Begriffen ist dieses „Regime des starken Mannes” als Bonapartismus zu werten. Karl Marx hat diesen Begriff zuerst in seinem Buch „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte” beschrieben. In Zeiten ansteigender Klassenkämpfe kann ein Führer sich zum scheinbaren Schiedsrichter über die unversöhnlichen Klassen aufschwingen und zum „Mann des Schicksals” werden, der die Staatsgewalt ausübt, oft seine Stütze in der Armee und der Bauernschaft hat, aus der sich die Armee großenteils rekrutiert. Louis Bonaparte war ein Neffe Napoleons und kam in Frankreich nach der Revolution 1848/1849 an die Macht.

Die ArbeiterInnen kämpften im Februar 1848 auf den Barrikaden, aber die Bourgeoisie ergriff die Macht und errichtete eine demokratische Republik an Stelle der Monarchie. Doch die Arbeiterschaft gab nicht auf und nach ihrem missglückten Aufstand im Juni 1848 entpuppte sich die Republik als brutale Diktatur über die Arbeiterklasse. Binnen Jahresfrist hatten sich die bürgerlichen Republikaner unglaubwürdig gemacht. Um einem erneuten Arbeiteraufstand oder einer vernichtenden Niederlage bei den nächsten Wahlen vorzubeugen, beriefen die Oberschichten der Bourgeoisie Louis Napoleon als Spitzenkandidaten auf einem scheinbar arbeiterfreundlichen, antibürgerlichen Programm. Kaum gewählt, führte er aber einen Staatsstreich gegen die Republik und machte sich selber zum Kaiser.

Marx untersuchte diese Vorgänge und schätzte die Situation als eine Lage ein, in der der bürgerliche Staat der unmittelbaren Kontrolle der Parteien und üblichen politischen Elite der Kapitalistenklasse entzogen ist. Nichtsdestotrotz ist der Zweck des Bonapartismus, die soziale Herrschaft der Bourgeoisie, den Besitz und die Kontrolle über die Industrie, die Banken und das Land zu retten – auch um den Preis, die Berufspolitiker zu entlassen. Ein solcher Bonapartismus ist allgemein eine Form von Konterrevolution, die entweder dazu dient, eine beginnende Revolution zu verhindern oder eine revolutionäre Periode zu beenden, in der sich die Arbeiterklasse als unfähig erwiesen hat, die Macht zu erobern und die Gesellschaftskrise zu lösen.

Das gilt sowohl für imperialistische Länder wie für die halbkoloniale Welt. Pinochets Putsch in Chile 1973 ist ein gutes Beispiel dafür. Umgekehrt bezeugt die Geschichte in anderen halbkolonialen Ländern, dass ein „Mann des Schicksals” nicht in jedem Fall die Massen unterdrücken und revolutionäre Ereignisse beenden muss, sondern sie sogar zu verkörpern scheint: Führer, welche die Armee und große Teile der Arbeiter- und Bauernschaft hinter sich wissen und gegen die bürgerliche und grundbesitzende Elite und den Imperialismus vorgehen.

Trotzki begegnete diese Form von Bonapartismus in Lateinamerika, als er im Januar 1937 nach Mexiko ausgewiesen wurde. In dieser Zeit (1934-40) bekleidete dort Lázaro Cárdenas das Präsidentenamt. Als einziger Regierungschef war er bereit, dem Führer der russischen Revolution Aufenthaltsrecht zu gewähren. Er stand in einer Auseinandersetzung gegen die amerikanischen und britischen Ausbeuter Mexikos. Cárdenas hatte das Eisenbahnwesen und die mexikanische Ölindustrie, die sich damals in britischer und amerikanischer Hand befand, verstaatlicht und trotzte einem Handelsboykott und Störversuchen seitens der Imperialisten. Er führte auch eine bedeutende Landreform durch, die die Bauerndörfer, die Ejidos, mit kommunalen Besitzrechten ausstattete. Ihr Anteil an der Gesamtlandnutzung Mexikos stieg von 3 auf 20%. Der überwiegende Teil des Bodens blieb jedoch in Händen der Hazienderos und Großagrarier.

Politischen Beistand erhielt Cárdenas durch Armee und die von ihm ermunterte Gewerkschaftsbewegung und bäuerliche Organisationen. Cárdenas säuberte und reformierte die Gewerkschaften, entfernte Anhänger der alten Elite und ersetzte sie durch Stalinisten wie Lombardo Toledano an der Führung. Er förderte auch die Wiederbelebung der Kulturen der eingeborenen Bevölkerung sowie die Arbeit linker Künstler wie der Maler Rivera, Siqueiros und Orozco.

Trotzki war an den Erfahrungen von Cárdenas und des nationalistischen Widerstands gegen die britischen und US-amerikanischen Imperialisten interessiert. In Lateinamerika befand sich die Arbeiterklasse in einem frühen, aber kämpferischen Stadium der Selbstorganisation Die Bauernschaft war verarmt, aber rebellisch, die Bourgeoisie schwach und fast völlig abhängig von fremdem Kapital. Trotzki beschrieb, wie die Herrscher dieser Staaten einen besonderen Charakter annehmen können und baute darauf seine Thesen zum Bonapartismus besonderer Art auf:

„In den industriell zurück gebliebenen Ländern spielt fremdes Kapital eine entscheidende Rolle. Daher rührt die verhältnismäßige Schwäche der nationalen Bourgeoisie in Bezug auf das nationale Proletariat. Dies erzeugt besondere Bedingungen für die Staatsmacht. Die Regierung dreht sich zwischen ausländischem und einheimischem Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem verhältnismäßig starken Proletariat. Das gibt der Regierung einen bonapartistischen Charakter besonderer Art, einen unterscheidbaren Charakter. Sie erhebt sich sozusagen über die Klassen. Sie kann entweder dadurch regieren, dass sie sich zum Werkzeug des ausländischen Kapitalismus macht und das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur hält, oder dass sie ein Manöver mit dem Proletariat macht und sogar so weit geht, ihm Zugeständnisse zu machen und somit die Möglichkeit eines gewissen Handlungsspielraums gegenüber den ausländischen Kapitalisten erlangt (13).“

Trotzki sagt weiter, dass der bonapartistische Staat sogar der Arbeiterklasse selbst die Verantwortung für staatliche Unternehmen übertragen kann. Das Verhältnis von Staat und Arbeiterklasse nimmt einen neuen dynamischen Verlauf, wenn die fortschrittlichen Forderungen der Arbeiter und Bauern, deren Rückhalt die linksbonapartistischen Führer brauchen, teils durchgesetzt, andererseits aber vom Staat kontrolliert und reglementiert sind, etwa durch Volksentscheide. Der Staat kann solche Maßnahmen erlassen als Folge von Forderungen aus der Bevölkerung, aber sie stoßen stets an die Grenzen des Privateigentums.

Welche Haltung nehmen RevolutionärInnen zu den fortschrittlichen Maßnahmen von Linksbonapartisten ein? In einer Schrift über die Enteignungen der imperialistischen Ölkonzerne in Mexiko führte Trotzki 1938 aus: „Ohne Illusionen oder Furcht vor Verleumdungen werden die klassenbewussten Arbeiter dem mexikanischen Volk in seinem Kampf gegen die Imperialisten beistehen. Die Enteignung von Öl ist weder Sozialismus noch Kommunismus. Aber sie ist eine außerordentlich fortschrittliche Maßnahme nationaler Selbstverteidigung (14).“

Im Folgenden warnt er davor, Illusionen in den sozialistischen Charakter solcher Maßnahmen oder gar des Regimes zu säen: „Das internationale Proletariat hat keinen Grund, sein Programm mit dem Programm der mexikanischen Regierung zu identifizieren. Revolutionäre brauchen ihre Farbe nicht zu wechseln, sich nicht anzupassen und mit Schmeicheleien zu arbeiten wie die GPU-Schule der Höflinge, die im Augenblick der Gefahr die schwächere Seite verraten und verkaufen (15).“

Trotzki betont: Obgleich die Arbeiter die fortschrittlichen Enteignungsmaßnahmen des nationalen Regimes unterstützen müssen, sollen sie aber niemals der Herrschaft des bürgerlichen Staates über sich selbst Unterstützung geben, auch nicht in Gestalt eines volkstümlichen oder „sozialistischen” Bonaparte. Die Aufrechterhaltung der völligen Unabhängigkeit der Klasse ist von grundlegender politischer Bedeutung, besonders angesichts populistischer und „linker“ Führer.

In Lateinamerika nimmt dieser eben dargestellte Linksbonapartismus fast unausweichlich die Form des Populismus an. Michael Löwy, ein Theoretiker der 4. Internationale beschrieb in einem Aufsatz „Populismus, Nationalismus und Klassenunabhängigkeit in Lateinamerika” den Populismus treffend: „Populismus ist eine politische Bewegung und drückt sich in unterschiedlichen Organisationsformen aus (Partei, Gewerkschaft, verschiedene Zusammenschlüsse usw.) Er steht unter bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kontrolle und der charismatischen Führung eines Caudillo (Führers). Einmal an der Macht folgt diese Bewegung, die vorgibt, ‚das Volk‘ in seiner Gesamtheit zu repräsentieren, einer bonapartistischen Linie, vermeintlich über den Klassenteilungen thronend, aber im Grunde die Interessen des Kapitals verfolgend (…) Sie kann auch, besonders bei Druck von unten, den ausgebeuteten Klassen soziale und wirtschaftliche Zugeständnisse machen und/oder wirtschaftliche Maßnahmen antiimperialistischer Art ergreifen (16).“

Der Populismus ist ein starker politisch-ideologischer Zug in Lateinamerika, der in den Traditionen von Lázaro Cárdenas in Mexiko, Getúlio Vargas in Brasilien, Juan Perón in Argentinien, Haya de la Torre in Peru, Víctor Paz Estenssoro in Bolivien und vielen anderen wurzelt. Der besondere Charakter der meisten lateinamerikanischen Länder, ausgebeutet und unterdrückt durch die USA, mit großem Anteil an bäuerlicher Bevölkerung und einer kämpferischen Arbeiterschaft, bietet dort günstige Bedingungen für die Ausbreitung der Formen von Populismus und Bonapartismus.

Der Linksbonapartismus trägt populistische Merkmale, weil die Militanz der Arbeiterklasse aus dieser Sicht politisch aufgelöst und untergeordnet werden muss unter den allgemeinen nationalen Widerstand gegen den Imperialismus mit Teilen der Mittelschicht, Bauernschaft, Staatsverwaltung und sogar patriotischen Kapitalisten, die die Konkurrenz der internationalen Konzerne scheuen oder loswerden wollen.

Der Populismus wendet sich an Teile der herrschenden Klasse und der Mittelschicht, die die Massen – besonders die Bauernschaft und die Arbeiterklasse – kontrollieren wollen, um die Ausprägung von Klassenbewusstsein zu unterbinden.

Der Populismus schwankt zwischen antiimperialistischer und antikommunistischer Rhetorik und Politik, weil er auch zwischen diesen beiden Polen manövriert. Seine Politik gibt sich oft links, trachtet aber immer danach, echtes (kommunistisches) Klassenbewusstsein der Arbeiterbewegung zu hintertreiben und zu isolieren. Der bonapartistisch-populistische Staat will mit seinen Zugeständnissen unabhängige Arbeiterinitiativen verhindern und damit die außerparlamentarischen Aktionen der radikalisierten Teile der Stadtarmut in ungefährlicheres Fahrwasser lenken.

In diesem marxistischen theoretischen Rahmen können wir die Handlungen der chávistischen Regierung und der bolivarianischen Revolution bewerten. Bei der Einschätzung von Chávez‘ Rolle als Linksbonapartist könnten MarxistInnen zwei Fehler unterlaufen: die revolutionären Kämpfe in Venezuela wegen des vorherrschenden Einflusses der radikal kleinbürgerlichen Programme von Chávez und der MVR darin abzuschreiben und zweitens, das Chávez’sche Programm mit dem revolutionären gleichzusetzen.

Es ist aber vielmehr nötig, das Programm als einen – wenn auch verzerrten – Reflex auf die Aktionen der Arbeiterklasse zu begreifen, als Bremse und falschen Wegweiser im Kampf. Es dient nicht dem wahren emanzipatorischen Ziel: der Vergesellschaftung der Produktion. All die Kämpfe um Land, Arbeitsplätze, Produktionskontrolle, Wirtschaftsaufbau zur Ausschaltung von Armut, um Unabhängigkeit vom US-Imperium müssen tatkräftig unterstützt werden – während zugleich das linkspopulistische Programm kritisiert, bekämpft und ersetzt werden muss. Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich der zweite Teil dieses Artikels.

Arbeiterkontrolle und Co-Management

In der zweiten Hälfte von Chávez‘ Präsidentschaft erfolgte eine Reihe von Verstaatlichungen von Unternehmen – auf Druck der ArbeiterInnen selbst. Dies ging in zwei Arten vonstatten: Arbeiter-Kooperativen in Staatsbetrieben und Mitverwaltung von Staatsunternehmen. Ursprung davon war die Aussperrung durch die venezolanischen Kapitalisten 2002-2003. Als sie dabei eine Niederlage einsteckten, fuhren die Bosse mit ihrem Klassenkrieg in Guerrillamanier fort. In einem Betrieb nach dem anderen wollten sie die ArbeiterInnen für die Kosten der Aussperrung bluten lassen, indem sie ihnen keine Löhne mehr zahlten oder die Zahlungen verzögerten. Einige Firmen meldeten sogar Konkurs an, was in den meisten Fällen nur eine weitere Waffe des wirtschaftlichen Klassenkrieges war, um das Chávez-Regime zu erschüttern. „Bankrotte”, d. h. Bilanzfälschungen, Arbeitskräfteabbau und Kapitalverlagerung sind zu den Haupttaktiken der venezolanischen Kapitalistenklasse geworden.

Daher gehören Betriebsbesetzungen zu den Schlüsseltriebfedern der venezolanischen Revolution. So lernen die ArbeiterInnen das Führen ihrer eigenen Betriebe und üben Macht gegenüber ihren Chefs aus. Der Kampf kann auch als Schule für den Sozialismus dienen, wo die ArbeiterInnen lernen, die Wirtschaft zu verwalten und den Weg zum Sozialismus für die Gesamtgesellschaft zu erörtern.

Die Betriebsausschüsse können politische und organisatorische Zentren bilden und Verbindungen zu anderen Betrieben herstellen. Aber sie können die Arbeiterklasse auch auf den Irrpfad der Verwaltung des Kapitalismus zurückführen. Alles hängt von der jeweiligen politischen Richtung ab. Das lässt sich anhand von Beispielen belegen.

Eines der bekanntesten davon ist die Übernahme der Papierfabrik Venepal, neuerdings: Invepal. Die Firma ging Bankrott und entließ 900 ArbeiterInnen. Nach einer 77wöchigen Besetzung und einem langen Rechtsstreit übernahm die Regierung das Unternehmen mit 51%iger Staatsbeteiligung und der Übergabe des Restes an die Belegschaft. Eine Betriebsversammlung entscheidet über die Unternehmenspolitik.

Den ArbeiterInnen wurde von ihrer Führung eingeredet, die Gewerkschaftsmitgliedschaft aufzugeben, weil dies nunmehr überflüssig wäre, denn sie würden jetzt von einer Genossenschaft vertreten. Gewinne und Vergünstigungen fließen an den einzelnen Arbeiter statt zurück in die Kassen eines nationalen Plans. Die Führung der Fabrik wurde im November 2005 auf einer Massenversammlung mit 260 zu 20 Stimmen abgelöst und eine neue Vertretung gewählt. Diese demokratische Entscheidung durch eine Vollversammlung wurde vom Ministerium für Volkswirtschaft angefochten, weil es für sich die Mehrheit der 51% Staatsbeteiligung beansprucht, was sich demzufolge auch in der Unternehmensführung niederschlagen müsse. Das beweist, wie gefährlich diese Art von „Co-Management” ist.

Das Beispiel Venepal brachte das Thema Arbeiterkontrolle wieder auf die politische Tagesordnung. Es gab viele Besetzungen, Forderungen nach Verstaatlichung wurden im ganzen Land erhoben und erhielten Unterstützung von Chávez.

Im Gegensatz dazu haben die Cadafe-Arbeiter bei der staatlichen Stromversorgungsgesellschaft nur eine Zweifünftelvertretung im Koordinationskomitee, das lediglich befugt ist, Empfehlungen auszusprechen. Die ArbeiterInnen haben zusammen mit Mitgliedern von Fetraleac, einem Gewerkschaftsverband, der die Kraftwerksarbeiter vertritt, auf den Mangel an Beteiligung der Beschäftigten bei der Führung des Betriebes hingewiesen.

Eine weitere Übernahme gab es bei der Aluminiumgesellschaft Alcasa, die jahrelang mit Verlust arbeitete und wo eine ähnliche Spaltung zwischen Arbeiterschaft und Staateigentum eintrat. Die 2.700 Beschäftigten haben nun ihren eigenen Verwalter gewählt: Carlos Lanz, einen ehemaligen Guerrillakämpfer. In weniger als einem Jahr stieg die Produktivität um 10%. Rafael Rodriguez, der in der Regierung verantwortlich ist für den Wirtschaftsaufbau, beleuchtet die Unterschiede zwischen Alcasa und der Tradition der sozialdemokratischen Mitbestimmung in Deutschland. Für ihn ist Mitbestimmung ein Übergang zur Selbstverwaltung und zum Aufbau des Sozialismus auf „praktische Weise”. Der Betrieb stellt auch Schulen, Gesundheitsversorgung und Waffenausbildung bereit.

Lanz gab 2005 dem International Viewpoint ein Interview, in dem er ein System von vorherrschender Demokratie in der Fabrik beschrieb, aber auch bestätigte, dass alle wichtigen Beschlüsse oder Auseinandersetzungen vom Staat gefällt und gelöst werden. Er erklärte außerdem, welche politische Absicht hinter dem Mitverwaltungsprogramm der Regierung steckt. Er wertete die Politik des Mitgestaltungsprojekts bei Alcasa als Konzept zum „friedlichen Aufbau des Sozialismus” und fuhr fort:

„Als Marxisten und Gramscianer wollen wir eine Gegenmacht aufbauen. Dazu haben wir ein Zentrum für gesellschaftspolitische Schulung eingerichtet, dass Arbeiter sich in dieses Vorhaben einklinken können. Dies ist mit allen möglichen Namen belegt worden, kommunistischer Katechismus usw. Aber nach und nach haben die Arbeiter dieses Bildungsprogramm angenommen. Jetzt sind es bereits mehrere hundert. Nun können die Arbeiter, wie es auch beabsichtigt war, die Schulung schon mehr und mehr selber leiten.“

Nach der Lage des Eigentums an den Produktionsmitteln befragt, gab er folgende Auskunft: „Sie bleiben in staatlicher Hand. Wie plädieren nicht für eine Art von Co-Management, die das Kapital an die Arbeiter verteilt oder sie mit ihm verbindet, oder Aktien an die Lohnabhängigen ausgibt. In Venezuela liegt das Problem nicht so sehr im Bereich des Privateigentums, sondern der Staat besitzt schon die wichtigen Güter des Landes: den Hauptanteil an Grund und Boden, Öl, die großen Firmen. Für uns besteht eher die Schwierigkeit in der Umverteilung und dem Umbau des Staates in sozialistischem Sinne. Deshalb sehen wir die Beteiligung an der Unternehmensführung nicht auf die betriebliche Ebene beschränkt, sondern sie sollte sich auf das gesamtgesellschaftliche Umfeld und alle Fragen bis hin zu militärischen erstrecken. Aber auf diesem Gebiet sind wir leider noch nicht sehr weit fortgeschritten.“

Diese Auszüge zeigen krass, wie schwach die ideologische und politökonomische Seite des bolivarischen Reformprogramms ist. Die Schriften von Gramsci zu Macht und Gegenmacht sind besonders in den letzten 20-30 Jahren nicht von ungefähr von Reformisten und Postmodernisten benutzt worden, um die Notwendigkeit einer neuen Hegemonie in Form von politischer und sozialer Teilhabe an Stelle einer Enteignung der Produktionsmittel durch die Arbeiterklasse hervor zu heben (17).

Lanz bezieht sich auf diese reformistischen Voraussetzungen und kommt zu dem widersprüchlichen Argument, es sei nicht notwendig, volle Arbeiterkontrolle oder die Betriebsführung zu erlangen, da der Staat der Hauptagent ist. Gleichzeitig aber gesteht er ein, dass sie bei der Demokratisierung des Staates „noch nicht sehr weit fortgeschritten” sind. Lanz umgeht die Frage nach dem Klassencharakter des Staates und dem Verhältnis von Betrieben (Genossenschaft oder Co-Management) zur übrigen Marktwirtschaft.

Ohne Arbeiter- und Volkskontrolle des Staates in Gestalt von Räten und angesichts des Fortbestehens der Marktökonomie haben die Reformen einen staatskapitalistischen Charakter.

Diese miteinander verknüpften Tatbestände verunmöglichen die Schaffung eines wirkungsvollen landesweiten Produktionsplans, wie Berichte über beklagenswerte Misswirtschaft bestätigen. In einem der Mitbeteiligungsunternehmen kauft z.B. der Staat alle Hemden, um die Produktion am Laufen zu halten. Diese Verschwendung erinnert an den Produktionsprozess in der Sowjetunion, wo der bürokratisierte Plan und der Mangel an Demokratie es den Planern erschwerte zu entscheiden, welche Waren ge¬braucht wurden und welche nicht.

Die Betriebsbesetzungen und Verstaatlichungen haben jedenfalls bislang eine sehr begrenzte Rolle in der „bolivarischen Revolution” gespielt. Chávez verkündete 2005, dass 700 Unternahmen des Landes brach lägen und entweder durch Co-Management-Verstaatlichungen oder Kooperativen übernommen werden sollten. Zumindest zu dieser Zeit hielt er den Kapitalisten den Friedensölzweig hin und bot ihnen Hilfe bei der Bewältigung nachgewiesener ökonomischer Schwierigkeiten an. Von diesen 700 sind dann auch nur wenige vom Staat übernommen worden (18).

2006 wurde die „Revolutionäre Front der besetzten Betriebe“ gegründet im Anschluss an einen Kongress über Besetzung und Arbeiterkontrolle in Lateinamerika. Das Ziel dieser Organisation ist „die Ausweitung der Enteignung und Verstaatlichung der venezolanischen Industrie unter Arbeiterkontrolle“. Aber die Behinderungen durch Staatsfunktionäre zeigen auch, dass es in der bolivarischen Bewegung und dem Arbeitsministerium viel Opposition gegen diese Gedanken gibt – ungeachtet dessen, was Chávez über die Arbeiterselbstverwaltung von Betrieben gesagt haben mag. Auch einige der führenden Befürworter der Arbeiterkontrolle haben keine Klarheit, was sie eigentlich bedeutet und wie sie zum Bruch mit dem kapitalistischen Markt beitragen soll.

Landreform

Die Methode von Staatseingriffen, um unproduktive oder ums Überleben kämpfende Wirtschaftsbereiche anzukurbeln, hat auch bei Chávez‘ Landreform Einzug gehalten. Auch hier bleibt Chávez‘ Programm auf die Übernahme nicht genutzten und schlechteren Landes beschränkt – mit anderen Worten: Landstücke in Privatbesitz, die brach liegen. Deshalb wird deren „Enteignung“ nicht die Profite ihrer Besitzer beeinträchtigen. Bauern wurden 2005 per Gesetz dazu ermuntert, anzufangen Ländereien zu besetzen und zu fordern, dass die Regierung sie an das Volk aushändigt.

Richter und Polizeichefs vor Ort, die die Bauern wieder vom Land vertrieben, vereitelten diese Bemühungen aber. Eine große Ranch, die 2005 nationalisiert wurde, gehörte Lord Vestey, einer Person an 56. Stelle der Reichen Britanniens, der in ganz Südamerika über Grund und Boden verfügt. Das löste einen Sturm aus. Doch seitdem sind nur wenige Großgrundbesitzer betroffen gewesen. Es gibt sogar eine Chávez wohl gesonnene Vereinigung von Landbesitzern und Farmern, die seine Bestrebungen unterstützen, das Landesinnere wieder zu bevölkern.

Es sind eher die Sozialmaßnahmen des Regimes als seine bis dato eingeschränkten Verstaatlichungen, die die Massen in ganz Lateinamerika in Aufregung versetzen und zu dem begeisterten Empfang geführt haben, der ihm auf den Weltsozialforen widerfahren ist. Auf einem Kontinent, der 20 Jahre Neoliberalismus erlitten hat und ein großes Maß an Armut aufweist, kommt das nicht überraschend. Diese Programme sind zweifellos beeindruckend.

Die Misiónes

Seit 2003 hat Chávez Millionen Dollar in die Misiónes und andere soziale Projekte investiert, die Analphabetismus und Volkskrankheiten bekämpfen. Das Angebot an freier Gesundheitsfürsorge in Venezuela erreicht nun ungefähr 54% der Ärmsten. Die Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen stellen einen wichtigen Sieg dar, der unter Chávez und der MVR erzielt worden ist.

Die Misión „Barrio Adentro“ (In Nachbarschaft) wurde im März 2003 in einem verarmten Stadtteil der venezolanischen Hauptstadt gegründet. Von hier aus breitete sich das Beispiel übers ganze Land aus. Mehr als 15.000 kubanische Doktoren, MedizinspezialistInnen, ZahnärztInnen und selbst SporttrainerInnen wurden in neuen Gemeindekrankenhäusern für 250 $ monatlich angestellt. Das ist viel weniger als die Gehälter, die Privatärzte verdienen, doch es ist mehr, als ihr Entgelt auf Kuba betrüge. Die Regierung behauptet jetzt, dass 18 Millionen, fast 70% der Bevölkerung, in diesen Kliniken behandelt werden. Seitdem wurden in den letzten drei Jahren vier Diagnostikzentren gegründet und neue Hospitäler errichtet.

Dieses enorme Werk wurde parallel zum existierenden öffentlichen und privaten Gesundheitswesen vollbracht, nicht als dessen Bestandteil. Das trifft auf alle Misiónes zu, die als separater Staat im Staat konzipiert und von MVR-Mitgliedern und AktivistInnen der bolivarischen Zirkel unterhalten wurden und von der Armee unterstützt werden. Dies dient einem doppelten Zweck: nicht nur die Sofortreformen umzusetzen, die die Leute verlangen, sondern auch als Mittel, Chávez‘ Einfluss auf die verarmten Massen zu steigern.

Der Widerspruch in diesem Sozialprogramm liegt darin, dass es nicht mittels Transformation des Staats erreicht worden ist, was Säuberungen korrupter Beamter erfordert hätte, sondern ihn unbehelligt ließ und die Missionen parallel dazu in Gang brachte. Der bürgerliche Staat ist oft, wie bei der Agrarreform, Misión Zamora, dazwischen gegangen und hat versucht, die Praxis dieser bolivarischen Zirkel zu durchkreuzen.

Auf anderen Gebieten müssen die Sozialmaßregeln noch eine gewisse Strecke zurücklegen. So gibt es noch eine gewaltige Zahl von Menschen, die in der prekären Schattenwirtschaft arbeiten. Von den geplanten 120.000 neuen Häusern ist bisher nur die Hälfte gebaut worden.

Die Misiónes sind auch vollständig abhängig von Venezuelas riesigem Ölreichtum. 2004 trugen die Profite aus dieser Branche ca. 25 Mrd. $ bei. Venezuela versorgt Kuba mit 53.000 Barrel unter dem Marktpreis im Gegenzug für die Dienstleistungen tausender ÄrztInnen, LehrerInnen, SporttrainerInnen und anderer Fachleute. Die Erdölgewinne liefern nicht nur die materielle Unterfütterung für die Sozialprogramme. Sie subventionieren auch viele Teile der Wirtschaft, wie die verstaatlichten Fabriken, von denen viele an niedriger Produktivität kranken und ohne Staatshilfe keine lebensfähigen Unternehmen wären.

Die Bedeutung des Öls spiegelt die einfache Tatsache wider, dass Venezuela fest in die Weltwirtschaft mit all ihren Widersprüchen eingebunden bleibt. Eine ihrer Ironien ist die enge Wirtschaftsbeziehung mit den USA. Trotz aller diplomatischen und politischen Spannungen zwischen Washington und Caracas seit 1998 bleibt der Handel mit den Vereinigten Staaten umfangreicher als der mit irgendeinem anderen Staat. Er umfasst beträchtliche US-Einfuhren von Agrarprodukten und gewerblichen Waren wie venezolanische Ölausfuhren. 2006 bezifferten die venezolanischen Importe von US-Gütern ein neues Hoch im Wert von etwa 6,4 Mrd. Dollar. Dank v. a. des Ölexports beläuft sich der Außenhandelsüberschuss mit den USA auf ungefähr 26,4 Mrd. $. Dieser Handel machte 2005 55% der Aus- und 33% der Einfuhren aus (19).

Die Abhängigkeit der Maßnahmen vom Marktwert eines einzelnen Rohstoffs soll weltweit allen als Warnung dienen, die glauben, das Chávez-Programm biete eine Alternative zum vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftsmodell.

Sozialistisch oder kapitalistisch?

Diese Analyse des Wirtschaftskonzepts des Chávez-Regimes enthüllt dessen tiefe nationale und globale Klassenwidersprüche. Wie die Konflikte um die Landbesetzungen bestätigen, haben Kapitalisten und Grundbesitzer noch einen bürgerlichen Staat und eine Armee parat, die ihre Eigentumsrechte achten und wo notwendig verteidigen. Darüber hinaus mag der Staat ein zentraler Akteur in der Wirtschaft, besonders durch seine Rolle in der Erdölindustrie, sein; aber er arbeitet nicht darauf hin, das Funktionieren solcher Kernelemente des Kapitalismus außer Kraft zu setzen wie Warenproduktion, Profit, Wertgesetz, Lohnungleichheiten, Privateigentum und Geld. Im Gegenteil: seine Wirtschaftskraft rührt materiell vom Export einer Ware (Öl) auf den kapitalistischen Weltmarkt, besonders in die Vereinigten Staaten, her.

Somit behält das Staatseigentum, so es überhaupt existiert, einen grundlegend staatskapitalistischen anstatt sozialistischen Charakter. Mit dieser Analyse möchten wir keinesfalls die Bedeutung der dortigen Entwicklungen herunter spielen, besonders der verbreiteten Radikalisierung und Volksverbundenheit marxistischer Politik. Aber sie erkennt den anhaltenden kapitalistischen Grundzug des venezolanischen Staats und der Wirtschaft.

In diesem Zusammenhang rückt die Volksbewaffnung in den Mittelpunkt, um die Auseinandersetzungen um Arbeit, Löhne, Land zu verteidigen und auch für das einzige Mittel zu sorgen, diesen kapitalistischen Staat zu zerstören: die Machtergreifung. Die Chávistas werden sofort kontern, die Volksbewaffnung habe begonnen. Chávez kündigte die Einrichtung der Misión Miranda, der Aufstellung ziviler Milizen im April 2005 an. Im März 2006 startete das erste Ausbildungsprogramm für ungefähr zwei Millionen Reservisten. Waffenkäufe (einschließlich des Erwerbs von 100.000 russischen Kalaschnikows) haben wütende Kritik seitens der kolumbianischen und der US-Regierung ausgelöst. Die Bewaffnung breiter Volksschichten stellt einen bedeutenden Schritt in Venezuela dar. Er hat eine heftige Steigerung des revolutionären Kampfs zur Folge. Doch die Bewaffnung der Reservistenmiliz geschieht allein durch die bolivarianischen Zirkel. Die Waffen werden von den Chávistas und der MVR kontrolliert, und die Miliz ist Chávez persönlich gegenüber verantwortlich.

Es wäre naiv zu glauben, die Miliz werde nur zur Abschreckung fremder Intervention eingesetzt. Sie ist auch eine Warnung an die bürgerliche Opposition, dass Chávez sich vor inneren Unruhen schützen will. Wenn diese Streitmacht gegen die rechten ReaktionärInnen und ihre Putschversuche mobilisiert wird, müssen ArbeiterInnen und SozialistInnen natürlich mit den Chávistas eine Einheit zwecks Niederschlagung des Staatsstreichs eingehen. Im selben Atemzug kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Miliz künftig auch gegen andere gesellschaftliche Kräfte und linke Kritiker an Chávez eingesetzt wird.

Chávez‘ jüngste Vorschläge, die bolivarianische Bewegung in einer politischen Partei zu vereinheitlichen und die Verfassung dahingehend zu ändern, dass die Befristung der Präsidentenamtszeit abgeschafft wird, wecken zusammen mit der Aushebung einer Miliz Erinnerungen an die „realsozialistischen“ bürokratischen Regime des 20. Jahrhunderts. Die Schlüsselfrage lautet: bis zu welchem Ausmaß ist die Arbeiterklasse in der Lage, sich unabhängig vom bonapartistischen Regime zu organisieren und den Weg zum Sozialismus mittels eines revolutionären Programms einzuschlagen? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Studium der Gewerkschaftsbewegung und der extremen Linken entscheidend.

Gewerkschaften und Partei

Die nationale Arbeitergewerkschaft (UNT) wurde sowohl aus den Kämpfen inner- wie außerhalb des alten Dachverbands, der Konföderation venezolanischer Arbeiter (CTV), heraus geformt. Die CTV betrieb Klassenkollaboration mit den Unternehmern und unterstützte Staatsstreich und Aussperrung. Die UNT hat von neuen Arbeitsgesetzen profitiert und ArbeiterInnen organisiert. Ihr Erfolg zeigte sich am Maifeiertag letzten Jahres, als die UNT eine halbe Million ArbeiterInnen aufbot und die CTV weniger als 1000.

Fast 3.000 Delegierte wohnten der 2. UNT-Konferenz vom 25. – 27. Mai 2006 bei. Sie vertraten etwa 1,2 Millionen ArbeiterInnen, die in 700 lokalen und 16 landesweiten Gewerkschaften organisiert sind. Sobald aber Generalsekretär Marcelo Maspero zu reden anfing, ertönten Sprechchöre los: „Wahlen, Wahlen, wir wollen Wahlen“.

Orlando Chirino, ein Erdölarbeiter und Anführer der „Strömung Klassenkampf“, verfügte über die Unterstützung von ca. 70% der Abgeordneten. Er tritt dafür ein, Chávez gegen den Imperialismus zu verteidigen, aber unabhängig von dessen Bewegung zu bleiben. Diese Strömung forderte Wahlen, weil die UNT-Leitung von Beginn im August 2003 sich selbst ernannt hatte.

Die Minderheitsgruppen wie die Bolivarische Arbeiterschaft (FBT) und die autonome Gruppierung, wuchsen aus den Auseinandersetzungen gegen die CTV hervor. Sie unterstützen Chávez stärker. Einige haben Verbindungen zu Teilen des Arbeitsministeriums.

Die kleine „revolutionär-marxistische Strömung“ (CMR), die der Internationalen Marxistischen Tendenz angeschlossen ist, trug vor, die Konferenz solle ein Programm für die UNT und einen Aktionsplan diskutieren, um die Arbeiterklasse in den Mittelpunkt des revolutionären Prozesses zu rücken. Ein solches Programm, sagte sie, muss für Arbeiterkontrolle über die Fabriken kämpfen, für die Verstaatlichung der Industrie unter demokratischer Kontrolle mit Beteiligung der arbeitenden Klasse, für die Abschaffung des kapitalistischen Staats und seine Ersetzung durch einen revolutionären Arbeiterstaat.

Das ist gut. Doch die CMR stellte das der Notwendigkeit, einen Vorstand zu wählen, entgegen. Das genieße keinen Vorrang, argumentierte sie. Bezüglich der Schwerpunkte machte sie gemeinsame Sache mit der Betonung der Chávistas, eine Kampagne für die Wiederwahl des Präsidenten durchzuführen. Sie sagten: „Die Schlacht für die Wiederwahl des Präsidenten ist untrennbar vom Ringen um die Lösung der gravierenden Probleme, die Arbeiter und die breite Bevölkerungsmehrheit weiter erdulden, sowie der Notwendigkeit, den Sozialismus aufzubauen.“

Weit daneben! Die wirkliche Schlacht dreht sich um die Unabhängigkeit der Arbeiterschaft und den Aufbau einer revolutionären Arbeiterpartei, die die Macht erobern kann!

Tatsächlich beschuldigte die CMR jene, die „die UNT weg von der bolivarischen Bewegung abspalten wollen“, des „Ultralinkstums“. Das war zweifelsohne ein versteckter Fingerzeig auf die Partei für Revolution und Sozialismus (PRS), die die Verbindungen der UNT zur Regierung kritisch beäugt und mit der Chirino-Gruppierung zusammenhängt. Diese stellt fest, es sei Pflicht von SozialistInnen, Schulter an Schulter mit den Massen zur Verteidigung Chávez‘ gegen imperialistische Überfälle zu stehen. Gleichzeitig fordert sie die Bildung einer „revolutionären Massenpartei“. Es ist sogar im Gespräch, bei Kommunalwahlen KandidatInnen gegen die bolivarianische Bewegung aufzustellen, um die Staatsbürokraten oder „Kapitalisten, die rote Barette tragen“ bloßzustellen.

Die PRS, deren Kader hauptsächlich aus der morenistischen Tradition stammen, befürwortet die Enteignung des Bürgertums unter Arbeiterkontrolle und kämpft für soziale Revolution auf Weltebene. Aber ihr Programm ist bei der Frage, was die bürgerliche Staatsmaschine ersetzen soll und wie die Arbeiter das erreichen können, sehr ausweichend. Trotz dieses linkszentristischen programmatischen Zuges ist dennoch die PRS momentan die fortschrittlichste politische Organisation in Venezuela mit einer echten Arbeiterbasis.

In diesem Zusammenhang sollten wir Chávez‘ Aufruf vom 18. Dezember 2006 für eine gemeinsame Partei betrachten, um die Parteienkoalition zu vereinigen, auf der seine Macht beruht. Er forderte seine UnterstützerInnen auf, ihre existierenden Parteien aufzulösen und eine neue Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) zu gründen.

Chávez behauptet, die Vielzahl an Parteien, die seine Regierung stützen, sei ein Hindernis für die Herausbildung seines Sozialismus im 21. Jahrhundert: „Wir brauchen eine Partei, keine Buchstabensuppe, mittels der wir mit Lügen übereinander herfallen und die Leute anschmieren.“ Er unterstrich seine Entschlossenheit und sagte, dass jene Parteien, die sich nicht auflösen wollen, seine Regierung verlassen müssten.

Chávez‘ Aufruf ist dazu gedacht, die Entstehung einer wirklichen Arbeiterpartei zu verhindern. Genauso ist die Weigerung der Chávistas, Funktionäre vom UNT-Kongress wählen zu lassen, ein klares Indiz, dass sie nicht darauf eingestellt sind, sich der Arbeiterdemokratie zu beugen, besonders wenn sie von der Linken geschlagen werden könnten.

In der gegenwärtigen Periode ist es offensichtlich schwierig für diese Kräfte, welche nach Klassenunabhängigkeit streben, dem Druck, sich dem Populismus von Chávez unterzuordnen, zu widerstehen. Andernfalls beginge man den politischen Fehler des Sektierertums. Doch die politische Unterordnung unter Chavez muss beendet werden!

Bei den Präsidentschaftswahlen beging die PRS einen bedeutenden taktischen Fehler. Sie rief zur Stimmabgabe für Chávez auf, anstatt ihren eigenen Kandidaten auf Grundlage eines Programms von Übergangsforderungen aufzustellen. Sie hätte die Kampagne nutzen können, um eine Aufforderung nach Vertiefung der fortschrittlichen Maßnahmen der Regierung Chávez zu kombinieren mit der Klarstellung, dass PRS und Classistas Venezuela gegen imperialistische Angriffe und konterrevolutionäre Experimente durch die Kapitalisten in Schutz nähmen. Sie hätte aufgezeigt, warum die Lohnarbeiterklasse die führende Kraft in der Revolution werden, warum sie ihre eigene Partei organisieren und für die Errichtung einer Arbeiterrepublik in Venezuela als Teil der Vereinigten Sozialistischen Staaten Lateinamerikas kämpfen muss.

Die PRS tat das jedoch nicht! Offensichtlich wäre es politischer Selbstmord, die PRS einfach in Chávez‘ neue Partei hinein aufzulösen. Es wäre aber ein grober Schnitzer, beiseite zu stehen, wenn Chávez seine Vereinigte Sozialistische Partei gründet. RevolutionärInnen sollten an allen Debatten und Versammlungen teilnehmen und dafür eintreten, dass die Programmfrage – die Strategie für den Sozialismus – so demo¬kratisch diskutiert werden muss wie der Grundzug von Parteistruktur und Organisation. Die PRS muss wie jede andere Arbeiterorganisation – sei es Partei, Gewerkschaft oder Stadtteilorganisation – volle demokratische Rechte fordern und erkämpfen, einschließlich des Rechts, öffentlich Fraktionen und Tendenzen zu bilden.

Fünf Triebkräfte der Revolution

Wir haben die politischen Ursprünge von Chávez analysiert, ihn als Linksbonapartisten gekennzeichnet und auf den begrenzten, bürgerlich-volkstümlerischen Grundzug seines Reformprogramms verwiesen. Innerhalb dieses Rahmens haben wir seinen Aufstieg in Zusammenhang mit dem politischen und geschichtlichen Umfeld neoliberaler Globalisierung und des Widerstands dagegen gestellt. Im letzten Teil dieses Artikels schauen wir auf den radikalen Wandel in Chávez‘ Rhetorik, seit er im Dezember 2005 mit über 60% der Stimmen wiedergewählt wurde. Chávez hat seither eine Reihe bemerkenswerter Verlautbarungen über die Notwendigkeit, die „sozialistische Revolution“ zu vertiefen, von sich gegeben.

Am 8. Januar, anlässlich der Vereidigung seiner neuen Minister, kündigte er ein Programm an, das sich um fünf „Triebfedern“ des revolutionären Prozesses dreht. Chávez nannte als erste von ihnen ein Ermächtigungsgesetz, das ihm gestattet, Verordnungen mit voller Gesetzeskraft zu erlassen. Das sei, argumentierte er, das „Grundgesetz“ des ganzen bolivarisch-sozialistischen Projekts. Als der Einwand kam, das würde ihm ein Jahr lang gewähren, Dekrete zu erlassen, gab er bekannt, er würde sie für die Nationalisierung der Industriezweige nutzen, die unter Vorgängerregierungen privatisiert worden waren. „All das, was privatisiert ist, lasst es verstaatlichen“, sagte er.

Unmittelbare Zielobjekte umfassen die Elektrizitätsgesellschaft Electricidad de Caracas und den Medienriesen CA Nacional Teléfonos de Venezuela (CANTV). Diese Übernahme würde dem von der Opposition kontrollierten Fernsehkanal RCTV den Stecker herausziehen. Er hatte unablässig gegen Chávez mobilisiert – einschließlich während all der misslungenen Staatsstreiche und Destabilisierungskampagnen der letzten acht Jahre. Die Regierung würde auch die Mehrheitsanteile am Ölprojekt im Orinokogürtel übernehmen, gegenwärtig ein Gemeinschaftsunternehmen mit mehreren Auslandsfirmen, darunter Exxon Mobil und BP.

Die zweite dieser Antriebskräfte ist eine weitere Verfassungsänderung einschließlich der Feststellung, der venezolanische Staat sei ein „bolivarisch-sozialistischer“. Er erklärte: „Wir bewegen uns gerade auf eine sozialistische Republik Venezuela zu und das gebietet eine tief greifende Reform unserer nationalen Verfassung. Wir stürmen vorwärts Richtung Sozialismus und nichts und niemand kann das verhindern.“ Eine andere konstitutionelle Reform, die er vorgeschlagen hat, ist ein Ende der Begrenzung der Zahl an Amtsperioden, die eine Person zum Präsidenten gewählt werden kann.

Der dritte Motor ist der Ausbruch eines neuen Elans für „bolivarische Volkserziehung“, der die „neuen Werte vertiefen und die alten von Einzelgängertum, Kapitalismus und Egoismus sprengen“ werde. Als vierten nannte er „eine neue Machtgeometrie für die nationale Landkarte“, um ärmere Randzonen des Landes zu wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung zu verhelfen.

Schließlich ist der fünfte Antrieb, was er als „Explosion von Gemeindemacht“ bezeichnet. Chávez schlägt vor, den jüngst geschaffenen Stadtteilräten von 200-400 Familien in den Barrios (Vororten) mehr Macht zu verleihen. Jeder davon wird Deputierte für den Gemeinderat wählen. Er hat angekündigt, dass 2007 5 Mrd. $ dafür ausgegeben werden. Tatsächlich peilt er an, dass diese Räte die existierende Staatsstruktur nach und nach ersetzen. Was gebraucht wird, sagt Chávez, ist, „den bürgerlichen Staat abzubauen“, weil alle Staaten „ins Leben gerufen wurden, Revolutionen zu verhindern“. Zweifellos werden einige Zentristen und Stalinisten diese Räte zu Sowjets erklären – das wäre jedoch ein Irrtum und eine große Täuschung der venezolanischen Massen.

Die Räte werden eng mit den Misiónes verknüpft sein und ein Forum für die Teilhabe der Bevölkerung vor Ort an der Ausstattung mit sozialen Dienstleistungen darstellen. Die Gefahr besteht darin, dass sie „parallel“ zum Staat aufgestellt sind, letztlich aber unter Einfluss und Vorherrschaft von Chávez blieben. Somit mangelt es ihnen an wirklicher Klassenunabhängigkeit von Organisationen wie den Sowjets der russischen Revolution.

Bei all seiner Redekunst hat Chávez keine Maßnahmen ins Auge gefasst, die Staatspolizei zu entwaffnen und abzuschaffen oder Räte der Mannschaftssoldatenränge gefordert, die die Macht der Generäle herausfordern könnten. Besonders kritisch ist, dass Chávez den bolivarischen Staat eher als die Arbeiterklasse für die Schlüsselfigur bei der Führung der Revolution hält.

Das spielt auch bei seiner Position zur Verstaatlichung mit. Für die venezolanische Kapitalistenklasse und die Imperialisten ist dies wahrscheinlich der meist umstrittene seiner Vorschläge, bedroht er doch ihre Kontrolle über Produktionsbereiche. Chávez hat versichert, dass die EigentümerInnen in allen Fällen entschädigt werden. Das gewährt den früheren Eignern ein garantiertes Einkommen über Jahrzehnte, auf Kosten der Arbeiterschaft und ohne die gängigen Risiken kapitalistischer Investitionen. Es deutet auch die Möglichkeit an, die Nationalisierungen in Zukunft zurückzunehmen. Kurz: es ist weit von Marx‘ Aufruf zur „Expropriation der Expropriateure“ entfernt.

Ohne Organe der Arbeiterproduktionskontrolle wird die Verstaatlichung eine Form von bürokratischem Staatskapitalismus erzeugen statt der Vergesellschaftung der Produktion. Selbst wenn Chávez seinen gestärkten Staatsapparat nutzen sollte, die Kapitalistenklasse vollständig zu enteignen und einen Produktionsplan einzuführen, käme ohne Arbeiterdemokratie bestenfalls ein bürokratisch degenerierter Arbeiterstaat nach dem Modell von Stalins UdSSR dabei heraus – keinesfalls ein demokratischer Arbeiterstaat, der in den Sozialismus übergeht.

Eine wichtige Wahl, die das Chávez-Regime zukünftig treffen muss, ist, ob das Kooperativ- oder Mitverwaltungsmodell verallgemeinert werden soll. Beide weisen in Richtung unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, einer utopischen Variante von Marktsozialismus, die auf Arbeiteranteilen an Kooperativen fußt, bzw. einer bürokratisch-staatlichen Form von Kapitalismus. Chávez glaubt, dadurch, dass er Schlüsselindustrien verstaatlicht und Sozialreformen unterstützt, den Sozialismus einzuführen – ohne Konfiskation des Privateigentums, ohne Inbesitznahme der Großkonzerne, Banken, des Großgrundbesitzes, in Abwesenheit eines Planwesens, das die Funktionsweise des Markts unterdrückt. Solche Maßnahmen stellen keinen Sozialismus dar. Sie bleiben staatskapitalistisch – ein bedeutendes Attribut vieler Länder der „3. Welt“ bis zur neoliberalen Revolution der 1980er Jahre.

Darum bleibt die Frage nach dem Charakter des Staats, der diese Maßregeln umsetzt, absolut grundlegend. Es gibt gute Gründe, warum MarxistInnen argumentieren, es führe kein reformistischer Weg zum Sozialismus. Denn wir wissen, dass der bürgerliche Staat die Privateigentumsverhältnisse verteidigen wird. Es ist auch in Venezuela unvorstellbar, dass die Bourgeoisie schlicht gestatten wird, dass ihre Wirtschaftsmacht „wegreformiert“ wird. Sie hat schon gegen Chávez zu putschen versucht, als er viel weniger radikal war.

Die Frage ist: Werden die Massen, die Chávez folgen, dies rechtzeitig merken? Werden sie es noch während ihrer Offensive, wenn sie stark sind und das Bürgertum schwach ist, merken oder erst nachdem die Bewegung ins Stocken geraten ist, wenn Chávez begonnen hat, zurückzuweichen? Der Tod des früheren Diktators Augusto Pinochet im Dezember 2006 diente als zeitige Erinnerung an einen möglichen Weg, das herauszufinden – einen blutigen Militärputsch, wie er sich in Chile 1973 zutrug. Eine umfassende Wirtschaftskrise, entweder infolge einer weltweiten Rezession oder wenn es einen Deflationsdruck auf den Ölpreis gibt, könnte die Woge der Reaktion anfachen.

Darum ist es falsch, wenn „SozialistInnen“ argumentieren, einen alternativen Aktionskurs vorzubereiten sei voreilig oder gefährlich – oder dass Chávez sogar Schritt für Schritt eine sozialistische Revolution durchführen könne. Bei Gelegenheit wird die kapitalistische Klasse wieder mobil machen, diesmal mit mehr Unterstützung von ihren herrschenden Klassenkumpanen im Ausland. Welche genaue Form das annehmen wird, bleibt abzuwarten. Es könnten ein Attentat auf Chávez sein, Wirtschaftssanktionen oder eine Invasion; letzteres weniger wahrscheinlich angesichts der Bindung der USA im Mittleren Osten.

Der kubanische Weg?

Natürlich haben Chávez‘ Reden eine extrem feindliche Antwort der Presse ausgelöst. Die New York Times, Washington Post und das Wall Street Journal haben ihn alle bezichtigt, er sei ein Diktator und verwandle Venezuela in ein zweites Kuba. Damit meinen sie eine völlig verstaatlichte und geplante Wirtschaft. Das aber kann Chávez ohne zwei Handlungsausrichtungen nicht tun. Beide würden einen qualitativen Richtungswechsel bedeuten.

Die erste wäre Unterstützung einer wirklich sozialistischen Revolution, d.h. Ergreifung der gesamten Staatsmacht durch die in Arbeiter- und Bauernräten organisierten Massen, die Auflösung der Streitkräfte ins bewaffnete Volk, Enteignung der kompletten Kapitalistenklasse, Vergesellschaftung der Produktion unter demokratischer Planung und Arbeiterkontrolle. Zur Sicherstellung dessen wäre eine revolutionäre Arbeiterpartei notwendig, nicht eine, die dem Präsidenten untersteht oder von ihm abhängig ist. Kurz, es würde beinhalten, dass Chávez selbst von einem Linksbonapartisten zum Mitglied einer revolutionären Partei mutierte. Da so etwas nie vorher passierte, wäre es das Dümmste, darauf zu bauen.

Viele werden aber entgegnen, dass das in der Tat in Kuba geschah. Fidel Castro schaffte den Übergang von einem Populisten zum Oberhaupt eines „kommunistischen“ Staats. Im 20. Jahrhundert hat die Geschichte tatsächlich eine Alternative zur sozialen Revolution, geführt von der Lohnarbeiterschaft und ihrer Partei, gezeigt – eine bürokratische soziale Revolution. In diesem Fall wurde die Arbeiterschaft am Ergreifen der Staatsgewalt gehindert, aber die KapitalistInnen verloren ihre gesellschaftliche und politische Macht.

Castro und seine siegreiche Guerillaarmee kamen als antiimperialistische Volkstümler, nicht als Sozialisten, an die Macht, obwohl Che Guevara und Castros Bruder Raul sich selbst gewiss als Kommunisten betrachteten. Anders als Chávez zerstörten sie jedoch die alte kubanische Armee des Diktators Batista und ersetzten diese durch eine, die auf ihren Guerillakräften fußte. Eine Reihe von entschädigungslose Verstaatlichungen und die Antwort der USA darauf in Gestalt einer Blockade und eines versuchten Putsches (Invasion in der Schweinebucht) trieben Castro zur Etablierung eines degenerierten Arbeiterstaats nach demselben ökonomischen und politischen Modell, wie es damals in der Sowjetunion existierte. Die enorme militärische und wirtschaftliche Unterstützung letzterer spielte eine sehr wichtige Rolle dabei, dass dies eintreten konnte.

Weil die Arbeiterklasse in diesem Verlauf keine bewusste Rolle spielte, weil keine Arbeiterdemokratie in der Revolution aufkam, wurden Castro und Co. zur herrschenden Bürokratie.

Kuba wurde und bleibt ein Einparteienstaat – ohne Arbeiterräte und unter der Herrschaft der Partei- und Militärbürokratie. Er trägt nur Insignien demokratischer Umfragen, Volksentscheide und Wahlen, bei denen keine rivalisierenden Arbeiterparteien zugelassen sind.

Viele der die bürokratische Gesellschaftsumwälzung auf Kuba in den frühen 60er Jahren begünstigenden Umstände existieren nicht mehr. Aber Kuba gibt es noch. Den amerikanischen Imperialismus auch: er wird früher oder später Venezuela blockieren, wenn es ihm weiterhin die Stirn bietet. Solch eine Umwälzung kann darum nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Zudem wird innerhalb Venezuelas wie auf der ganzen Welt eine zunehmende Zahl – einschließlich einiger, die sich als TrotzkistInnen bezeichnen – das als korrekte Richtung befürworten, also „Folgt dem kubanischen Weg!“

Was ist also das Problem mit „dem kubanischen Weg“? Ganz einfach: er führt nicht zum Sozialismus! Sozialismus ist eine Gesellschaft, wo die soziale Gleichheit zunimmt, alle Privilegien abnehmen und die Grundlage für eine vollständig klassenlose Gesellschaft gelegt wird. Um dieses Programm umzusetzen, muss es Arbeiterdemokratie geben, um Bürokratie in Schach zu halten und auszumerzen, den Wirtschaftsplan zu kontrollieren und zu verbessern und zu entscheiden, welche Partei oder Parteien die Interessen der arbeitenden Klasse verkörpern.

Vor allem kann Sozialismus nicht in einem Land aufgebaut werden – nicht mal auf einem Kontinent! Ein Arbeiterstaat muss eine Festung sein, ein Stützpunkt, von dem aus sich die Revolution über den ganzen Erdball ausbreiten kann. Die Isolierung der Revolution, selbst in einem riesigen Land wie Russland, bedeutete am Ende „Vergesellschaftung“ der Knappheit und Armut und private Aneignung der überwältigenden Menge an Vorrechten durch die Partei- und Staatsbürokratie. Der stalinistische Weg – und bei all seinem antiimperialistischen Gerede und Guerillaglanz ist der kubanische ein stalinistischer Weg – ist eine Sackgasse. Wie in Russland, Osteuropa und China führt er zur Restauration des Kapitalismus, wenn nicht vorher eine politische Revolution die Bürokratie stürzt.

Einige Leute werden das bestreiten; weit entfernt, die kubanische Straße einzuschlagen, mache Chávez sich auf den Weg der Permanenten Revolution – Trotzkis Weg.

Permanente Revolution

Bei seiner Einführung ins Präsidentenamt am 10. Januar 2006 unterstrich Chávez die Vorstellung, Venezuela trete in einen achtjährigen Übergang zum Sozialismus ein. Er zitierte nicht nur die Gedanken von Karl Marx und Lenin, sondern sagte auch: „Ich bin eng mit Trotzkis Linie verbunden – der Permanenten Revolution.“

Zuvor berichtete Chávez selbst Folgendes: Als er Ramón Rivero Gonzaléz rief, um ihm den Posten als Minister für Arbeit und Soziales anzubieten, „sagte er zu mir, ‚Präsident, ich möchte ihnen etwas sagen, bevor wir zum Thema kommen … ich bin Trotzkist.‘ Ich sagte ihm: ‚Gut, wo ist das Problem? Ich bin auch Trotzkist! Ich bin Anhänger der trotzkistischen Linie von der Permanenten Revolution.“

Bevor TrotzkistInnen überzeugt werden, Chávez sei ein halber Trotzkist aufgrund seiner Erklärung, er glaube an die Strategie der Permanenten Revolution, sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, dass er sich gleichfalls zum Unterstützer von Jesus, Mao, Fidel Castro und Simon Bolivars erklärt hat.

Aber was genau meint Chávez mit seiner bemerkenswerten Behauptung, der Theorie der Permanenten Revolution anzuhängen? Chávez setzt sie klarerweise gleich mit einem Prozess zunehmender sozialistischer Maßnahmen und einer Form internationaler Ausbreitung der Revolution. Wie wir vorher bemerkten, bleibt Chávez‘ Sozialismus auf einen sehr radikalen Reformismus beschränkt, der auf vereinzelten Verstaatlichungen mit Entschädigungszahlungen statt vollkommener Enteignung der herrschenden Klasse beruht.

Was sein Vorhaben begrenzt, was es grundlegend uneins mit Trotzkis Methode macht, ist, dass bei Chavez der bürgerliche Staat das Subjekt im „revolutionären Prozess“ bleibt. Zusätzlich hat Chávez befreundeten bürgerlichen, volkstümelnden Oberhäuptern in Lateinamerika wie Lula in Brasilien volle politische Unterstützung gewährt. Und er versucht, (kapitalistische) Wirtschaftsintegration in Form von Handels- und Finanzierungsabkommen voranzutreiben.

Diese „Permanente Revolution“ ist meilenweit von der Strategie entfernt, die Leo Trotzki zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausarbeitete. Für Trotzki war der zentrale revolutionäre Akteur die arbeitende Klasse selbst im Bündnis mit der armen Bauernschaft, also die das Volk stellenden Klassen in Stadt und Land – aber nicht „im Volk“ aufgelöst. Es ist notwendig, dass diese Kräfte sich in Räten aus abrufbaren Delegierten, die in den Betrieben, Dörfern, Kasernen und Stadtvierteln gewählt werden, organisieren.

Die Theorie der Permanenten Revolution erkennt die Unmöglichkeit, den Sozialismus per Gesetz einzuführen, ob als Präsidialerlass oder durch ein bürgerliches Parlament. Diese Revolution umfasst das Inbesitznehmen der Staatsmacht und das Zerbrechen der alten Staatsmaschine: Armee, Polizei und Beamtenbürokratie.

Sie muss durch eine gänzlich neue Art von Staatsgewalt ersetzt werden: einen Arbeiterstaat. Dieser würde sich auf einen Rat von Deputierten stützen, der auf Massenversammlungen an den Arbeitsplätzen und in armen Stadtvierteln gewählt und von einer Massenmiliz verteidigt wird. Die Großproduktion wird den Händen der Reichen entrissen. Mittels Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung aller Güter und Dienstleistungen wird sie gemäß einem demokratischen Plan organisiert.

Weit entfernt davon zu glauben, der Sozialismus könne in einem einzelnen Land errichtet werden, kämpft der Arbeiterstaat für die Internationalisierung der Revolution, d.h. für den Sturz der bürgerlichen Klasse in ganz Lateinamerika und weltweit.

Partei und Programm

Permanente Revolution ist kein objektiver Geschichtsprozess, der seinen Weg zum Ziel durch jedes Mittel finden wird, sei es durch einen „sozialistischen Präsidenten“ oder spontane Massenkämpfe. Ihre objektive Grundlage besteht aus einer Verknüpfung einer tiefen Krise der Klassenherrschaft, neoliberaler Globalisierung und Imperialismus sowohl in Venezuela wie international und den massenhaften Widerstandsbewegungen, die sie ausgelöst haben. Aber kein unbewusster oder halbbewusster Prozess kann sicherstellen, dass sich diese Kämpfe die richtige Strategie und Taktik für den Sieg aneignen werden. Damit die Arbeiterklasse die Macht erlangt, die Diktatur des Proletariats errichtet und an den Aufbau einer Gesellschaftsalternative geht, ist eine revolutionäre Partei notwendig, die diese ganze Strategie programmatisch abbildet und unermüdlich die Vorhut in jedem Massenkampf für sich gewinnt.

Der Ausgangspunkt für eine solche Partei ist der Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von jeder Abteilung der herrschenden Klasse und ihrem Staat. Deshalb kann sie der Chávez-Regierung keine politische Unterstützung geben, obwohl sie sie gegen jeden Überfall des Imperialismus und der einheimischen Bürgerklasse verteidigt. In letzter Instanz bleibt die Regierung Chávez eine bürgerliche. Eine politische Unterstützung für, geschweige eine Teilnahme an einer solchen Regierung würden unausweichlich Schutz des kapitalistischen Eigentums und Unterstützung dessen Staatsmaschine gegen die Massen bedeuten.

Eine revolutionäre Partei muss nichtsdestotrotz jede einzelne konkrete arbeiterfreundliche Maßnahme, die die Regierung beschließt, unterstützen. Gleichzeitig würde sie deren Beschränktheit aufdecken und die Lohnabhängigen auffordern, weiter zu gehen, die notwendigen Maßnahmen zu verlangen, um die Massenbedürfnisse ganz zu erfüllen. Das bringt mit sich, in die Aktivitäten der Arbeitenden und der Bevölkerung der Armenviertel einzugreifen, während diese noch ihr Vertrauen in Chávez setzen, aber vor den Gefahren in Chávez‘ Bonapartismus zu warnen: der Konzentration der ausführenden Gewalt in seinen Händen, selbst wenn er sich nach links wendet.

Gewiss ist Chávez gezwungen worden, die Unterstützung der Volksmassen zu mobilisieren, doch er ist ihnen gegenüber in keiner organisierten Weise rechenschaftspflichtig. Er kann massenhaft an sie appellieren, auf dem Weg des Volksentscheids (d.h. nach einem „Ja oder Nein“ für seine Vorschläge fragen). Aber das kann er auch dafür ausnutzen, um jede Opposition niederzuwalzen. Bei all seinen demokratischen Redegesten steht er „über den Massen“ und schwankt zwischen deren Interessen und der Aufgabe, das Kapitaleigentum und die Staatsorgane aufrechtzuerhalten.

RevolutionärInnen müssen das erklären. Andernfalls wird er diese Bonapartenmacht, wenn er sich nach rechts wendet – und das wird er – gegen eine unvorbereitete und vertrauensvolle Masse einsetzen, die schlicht über keine alternative Führung zu Chavez verfügt. Doch er wird diese Macht zuerst verwenden, um solch eine Alternative während ihrer Entstehung zu diskreditieren, zu spalten und – wenn nötig – zu zerstören.

Die Bildung der Classista-Strömung in der UNT und die Gründung der Partido Revolucion y Socialismo zeigen, dass eine Schicht der Lohnarbeiterschaft schon nach Klassenunabhängigkeit von Chávez strebt und gleichzeitig die Massen bestärkt und anleitet, die „bolivarische Revolution“ in eine sozialistische umzuwandeln.

Chávez‘ Entscheidung, eine neue Vereinigte Sozialistische Partei zu bilden, ist ein Versuch, die Entstehung einer unabhängigen und kritischen Arbeiterpartei zu verhindern. Die meisten Parteien, welche Chávez unterstützen, sind trotz all ihres Murrens über seinen Vorschlag, eifrig dabei, sich selbst Posten in Regierung und Staatsapparat zu sichern. Das wird die meisten dahin bringen, in die neue Partei einzutreten und sich Chávez zu fügen.

Chávez besteht darauf: „Diese Vereinigte Sozialistische Partei wird natürlich die demokratischste Partei in der venezolanischen Geschichte sein. Das stimmt; sie wird rundum für Diskussionen offen stehen (20).“

Während niemand sich auf Chávez verlassen sollte, eine neue Partei auf wirklich demokratischer Basis zu gründen, sollten RevolutionärInnen, falls möglich, an der massenhaften Diskussion darüber teilnehmen, woraus das Fundament einer solchen Partei bestehen sollte. Zuerst stellt sich das Thema der politischen Grundlage der Partei, ihres Programms. Welche Ziele soll es verkörpern?

• Welche Lösung schlägt es für die Landfrage vor – nicht nur für Brachland solcher Firmen wie der Vesteys, sondern für die riesigen Güter der venezolanischen Elite?

• Welche Lösung schlägt es für die Fabriken vor – nicht nur der bankrotten Betriebe, deren GeschäftsführerInnen sie schließen wollen, sondern für alle?

• Wo sollen die Quellen erschlossen werden, um die Operationen der Misiónes kräftig auszudehnen, um 50% der Bevölkerung zu beschäftigen, die noch in Elend und Unsicherheit vegetieren?

• Welche Form der Massendemokratie braucht es, den „bürgerlichen Staat zu ersetzen“, können Gemeinderäte in solche Körperschaften umgeformt werden?

• Was soll mit der stehenden Armee, ihrem Offizierskorps und ihren Generälen sowie der Polizei passieren, so dass sie nie wieder gegen das arbeitende Volk eingesetzt werden können?

• Welche bewaffnete Miliz benötigen wir, damit die Massen niemals Opfer eines Militärputschs oder einer imperialistischen Invasion werden?

Ein revolutionäres Programm muss auf diese und viele andere Fragen Antwort geben. Es muss eine klare, zusammenhängende, einstimmige Strategie darstellen, die offen zur Eroberung der Arbeitermacht führt.

In jeder neuen sozialistischen Massenpartei muss es eine offene Programmdebatte geben, mit alternativen Entwürfen, einem Schlusskongress, sie zu verabschieden. Dabei sollen akkurat die unterschiedlichen Tendenzen widergespiegelt werden, die in der Debatte aufgetaucht sind. RevolutionärInnen müssen sich für ein Programm sozialer Revolution, für Arbeitermacht und den Übergang zum Sozialismus aussprechen.

Gleichfalls muss es eine Diskussion um die interne Parteidemokratie geben. Sie erfordert, dass die Leitung und alle ParlamentsvertreterInnen der Partei der Kontrolle und Abrufbarkeit durch jährliche Kongresse und der von ihnen gewählten Exekutivgremien unterliegen. Sie bedarf anerkannter Rechte für die Organisierung von Minderheiten.

Schluss

Dies ist nicht das erste Mal, dass sich halbkoloniale AnführerInnen marxistischer Rhetorik befleißigt haben. Bis zu den 1980er Jahren waren solche Anflüge Gemeingut. Doch die neoliberale Globalisierung und der Zusammenbruch der Sowjetunion änderten das. Die Tatsache, dass Chávez diesen Konsens herausfordert, versinnbildlicht die Wichtigkeit und Bedeutung der Widerstandsbewegungen in den letzten 10 Jahren.

Wäre da nicht der tiefe Schlamassel, in dem der US-Imperialismus in Mittelost steckt, könnten wir sichergehen, dass der verhältnismäßig gedämpfte Zorn, mit dem der Imperialismus auf Chávez‘ reagiert hat, durch ausgesprochen neokonservative Aggression ersetzt würde. Auf keinen Fall können sich Arbeiter- und soziale Bewegungen Selbstzufriedenheit leisten.

Wir müssen zur Verteidigung Venezuelas zur Minute, in der Bush, der US-Kongress und die US-Multis Vergeltungsmaßnahmen versuchen, bereit sein. Die Dringlichkeit der Verteidigung Venezuelas mit vollzählig mobilisierten Millionenkräften ist noch ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit, das Weltsozialforum und die kontinentalen Sozialforen in Kampfeinheiten zu verwandeln, die zur Aktion schreiten können. Chávez selbst forderte just eine solche Entwicklung auf dem WSF 2005 und deren amerikanischem Ableger in Caracas im darauf folgenden Jahr. Damit lag er richtig.

Die sich entfaltenden Ereignisse in Venezuela sind von enormer Bedeutung. Nicht zuletzt wegen der brisanten Themen, die sie für die Weltarbeiterbewegung aufwerfen. Angesichts eines demoralisierten Linksreformismus und eines auf dem Rückzug befindlichen Gewerkschaftertums überredete der Anarchismus viele junge AntikapitalistInnen, es bedürfe keiner Parteien oder eines „Kampfs um die Macht“. Gleichzeitig überzeugte der Postmodernismus viele radikale Intellektuelle davon, dass es keine großartige „Sache“ wie den Sozialismus gebe, kein geschichtliches Subjekt wie die Arbeiterklasse. Jetzt nimmt die Frage der Erringung politischer Macht und ihres Gebrauchs zur Weltveränderung lebendige Gestalt an. Die Worte „Kapitalismus“, „Imperialismus“, „Sozialismus“ und „Revolution“ sind wieder Gemeingut.

Die Frage nach dem Kompass dafür bleibt bestehen: Welche Art Staat kann die Welt verbessern – der bürgerliche oder ein Arbeiterstaat? Welche Art Revolution: eine von der Arbeiterklasse vollzogene, die den kapitalistischen Staat zerschmettert, oder eine von oben durch „sozialistische PräsidentInnen“ herbeigeführte? Welche Sorte Sozialismus: eine Reihe umfassender Reformen in der Verteilungssphäre oder eine demokratische Planwirtschaft, die auf dem enteigneten Eigentum der KapitalistInnen fußt? Welche Partei: eine Parlamentspartei, die bolivarische Reformen vorantreibt, oder eine Partei, die an der Spitze des Kampfes um die Macht steht?

Zunehmend werden RevolutionärInnen diese Fragen im Umfeld einer Revolution, wie sie sich in Venezuela entfaltet, zu beantworten haben, wo aus den gelieferten Antworten Konsequenzen auf Leben und Tod erfolgen werden. Dies ist kein doktrinärer Disput, wie uns jene AktivistInnen erzählen können, die die Krisen von Revolution und Konterrevolution der 1970er Jahre in Bolivien, Chile und Argentinien überlebten. In den kommenden Monaten und Jahren müssen wir alles Machbare unternehmen – praktizierte Solidarität mit schonungslos revolutionärer Kritik verknüpfen – um sicherzustellen, dass in Venezuela und weltweit eine Partei aufgebaut wird, die den Massen ermöglicht, diese Lektionen rechtzeitig zu lernen.

 

Fußnoten

1) http://www.marxist.com/people-voted-revolutionary-project041206.htm

2) http://www.breakingnews.ie/world/Chávez to nationalise companies.09/01/2007

3) „Hugo Chávez: Oil Politics and the challenge to the US“, von Nikolas Kozloff, New York, 2006, S. 8

4) Das Konzept der Arbeiteraristokratie, ursprünglich von Engels gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und von Lenin aufgegriffen, benutzt man, um die privilegierten Schichten der Arbeiterklasse zu beschreiben. Durch wachsende Teilnahme an materiellen Vorrechten bildet sie die materielle Grundlage für reformistische Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung.

5) Hier bezieht sich Sozialliberalismus auf bürgerliche Parteien, die anders als z.B. die Sozialdemokra¬tie in Westeuropa über keine organischen Bindeglieder zur Arbeiterklasse verfügen.

6) S. Richard Gott: „In the Shadow of the Liberator“, 2000, Verso

7) http://en.wikipedia.org/wiki/Revolutionary_Bolivarian_Movement-200

8) http://en.wikipedia.org/wiki/Venezuelan_coup_attempt_of_1992

9) D. Raby: “Red Pepper“, Februar 2003

10) März 2004 http://www.economist.com/world/la/displaystory.cfm?story_id=E1_NVDNSRV

11) http://www.venezuelanalysis.com/articles.php?artno=1148

12) 2003 startete Chávez mehrere Misiónes, vom Staat finanzierte soziale Projekte, um kostenlose Gesundheitsfürsorge, Bildung usw. zur Verfügung zu stellen. Von einigen wurden sie als ‚kurzfristige Maßnahmen gegen Armut‘ tituliert. http://www.venezuelanalysis.com/articles.php?artno=1051

13) L. D. Trotzki: „Nationalised Industry and Workers‘ Management“, 1938

14) ders.: „Mexico and British Imperialism“, 1938

15) ebd.

16) International institute for research and education 1987

17) Siehe: „PERMANENT REVOLUTION“ (Theoretisches Organ von WORKERS POWER BRITAIN) Nr. 7 zum Artikel über Gramsci. Erhältlich über WORKERS POWER/B.

18) http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/4692165.stm

19) S. Romero, 2006, und http://www.state.gov/r/pa/ei/bgn/35766.htm

20) http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1189




Der aufhaltsame Aufstieg des deutschen Imperialismus

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Die Doppelpräsidentschaft der EU und der G8 stellt für den deutschen Imperialismus sowohl eine große Herausforderung wie auch eine große Chance bei der Verfolgung seiner globalen Ambitionen dar. Die Regierung betrachtet 2007 und die kommenden Jahre als Gelegenheit, ihre eigene weltpolitische Rolle zu stärken und die EU als starken imperialistischen Block unter deutsch-französischer Führung voranzutreiben.

Diese Entwicklung findet vor dem Hintergrund deutlicher Risse in der US-Hegemonie statt, die infolge des Widerstandes im Irak, der Niederlage Israels im Libanon und der Schaffung von auf anti-imperialistischen Massenbewegungen gestützten Regierungen in Lateinamerika entstanden sind.

Trotzdem sind die USA die eindeutig führende imperialistische Macht und werden das auch in den nächsten Jahren bleiben. Unter den gegenwärtigen Bedingungen erfüllt sie als „Weltpolizist“ immer auch eine Funktion zur Sicherung deutscher oder französischer Kapitalinteressen. Insofern prägt das Verhältnis BRD/EU zur USA eine Kombination von Element der Kooperation und einer sich verschärfenden Konkurrenz.

Die BRD verfolgt ihre Ziele in einer Situation, in der die Fähigkeit des US-Imperialismus die Formierung der Europäischen Union zu blockieren relativ eingeschränkt ist, in der Bush und Co. selbst auf gute Beziehungen zu den „Partnern“ und „Verbündeten“ des „alten Europa“ aus sind.

Im folgenden Artikel werden wir zuerst die zentralen Ziele der deutschen EU-Präsidentschaft darlegen.

Wir haben schon in früheren Analysen (1) dargelegt, dass sich die BRD, Frankreich und andere, schwächere kontinentaleuropäische Mächte in der EU großen Hindernissen gegenüber sehen, einen Block zu schaffen, der den USA nicht nur auf ökonomischer, sondern auch auf politischer und militärischer Ebene auf „gleicher Augenhöhe“ begegnen kann.

Natürlich hat die EU schon wichtige Schritte entwickelt, die über ein bloßes Bündnis einzelner Nationalstaaten hinausgehen: ein gemeinsamer Markt, eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Zentralbank sowie eine ganze Reihe weiterer supra-nationaler Institutionen, gemeinsame Grenzregimes, und embryonale (und tw. gar nicht so embryonale) EU-Institutionen, die einen gemeinsame Politik koordinieren und Funktionen eines bürgerlichen Staatsapparates ausüben (Polizei, Frontex, Gerichte, …).

Doch auch wenn fast zwei Drittel aller Gesetze, die in Deutschland rechtswirksam werden, mittlerweile EU-Recht sind, so ist die EU selbst noch weit davon entfernt, ein homogener imperialistischer Block zu sein. Sie ist vielmehr ein Block bürgerlicher Staaten, von denen einige lange etablierte kapitalistische und imperialistische Mächte sind, andere schwächere imperialistische Staaten und rund die Hälfe stellen von den imperialistischen Staaten beherrschte Halbkolonien dar (alle osteuropäischen Beitrittsländer und andere wie Irland).

Die EU ist sicherlich weit davon entfernt, ein föderaler Staat zu sein. Aber es ist das Ziel der deutschen und französischen Imperialisten (und ihrer engsten Verbündeten wie Belgien), die EU in einen homogenen Block unter ihrer Führung zu verwandeln. Das beinhaltet, dass bestehende nationale Bourgeoisien „freiwillig“ Machtbefugnisse ihrer Staaten an europäische Institutionen abgeben, die von den großen imperialistischen Mächten beherrscht werden.

In letzter Instanz ist die Fähigkeit der halbkolonialen Länder Osteuropas, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, äußerst begrenzt. Die entscheidenden Hindernisse gehen vielmehr vom US-amerikanischen und britischen Imperialismus aus.

Mittelfristig steht ein solcher Konflikt oder gar Bruch mit Großbritannien an – oder eine politische Wende der dortigen Kapitalistenklasse hin zu einer von Deutschland und Frankreich dominierten EU. In jedem Fall wird sich eine Konflikt nicht einfach graduell lösen lassen, sondern nur durch einen großen politischen Konflikt oder gar Bruch.

Kurzfristig steht das jedoch nicht ins Haus. Die zentrale, unmittelbare Frage für die deutschen und französischen Imperialisten (wie auch eng verbündete Regierungen wie Prodi in Italien) besteht vielmehr darin, wie die „Blockade“ der EU-Entwicklung nach der Ablehnung des Verfassungsentwurfs in Frankreich und den Niederlanden überwunden und wie die deutsch-französische Achse in der EU selbst stabiler und dynamischer werden kann. Daher steht notwendigerweise die Frage im Zentrum, wie der Verfassungsentwurf oder, genauer, dessen inhaltliche Substanz zu EU-Recht gemacht werden kann.

Kurzum, eine ganze Reihe miteinander verbundener Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen, innerhalb herrschender Klassen und den wichtigsten imperialistischen Staaten in der EU müssen teilweise als Voraussetzung, teilweise im Zuge dieser Entwicklung gelöst werden.

Die Möglichkeit, diese Gegensätze im Sinne der deutschen und französischen Imperialisten und ihrer engsten Alliierten zu lösen, hängt auch davon ab, wie sehr die EU und die kapitalistischen Regierungen in der EU in der Lage sind, die Zentralisation und Monopolisierung in der EU und die weitere Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der großen Kapitale in der EU im sich verschärfenden Kampf auf dem Weltmarkt voranzutreiben.

Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist die Niederringung der Arbeiterklasse. Um gegen die USA zu bestehen, muß das europäische Kapital seiner Arbeiterklasse eine strategische Niederlage zufügen, um so die Ausbeutungsrate substantiell zu erhöhen. Es muß die enormen Erfolge, die Reagan, Clinton und Bush in den letzten Jahrzehnten in den USA hatten, nachholen. Damit soll die Bedeutung der bisherigen, oft erfolgreichen neoliberalen Angriffe der europäischen Bourgeoisie keineswegs bestritten werden. Aber sie sind bei weitem noch nicht genug, um das Kampfpotential der Kernsektoren der Arbeiterklasse in den großen imperialistischen Ländern Westeuropas zu brechen.

In der Tat ist die neo-liberale Agenda von Lissabon, der Generalangriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in Europa, aufs engste mit den rassistischen Angriffe und der Vertiefung rassistischer Spaltungen der Klasse sowie der Militarisierung mit dem EU-Projekt verwoben. Daher ist die weitere Entwicklung des Widerstandes der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten bzw. im die Fähigkeit der herrschenden Klasse, diesen zu zerschlagen, zu spalten oder in Teilen zu integrieren und befrieden, von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der EU.

Ziele der deutschen Präsidentschaft

Das Programm der deutschen EU-Präsidentschaft „Europa gelingt gemeinsam“ (2) greift diese Probleme der imperialistischen Blockbildung, wenn auch mit tausenden blumigen Phrasen von Frieden, Wohlstand und Fortschritt kaschiert, auf. Der Kern der Vorhaben zerfällt daher in zwei, eng miteinander verbundene Teile:

• Stabilisierung und Vereinheitlichung der EU selbst unter deutsch/französische Vorherrschaft

• Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Stärke des europäischen Kapitals und seiner weiteren Zentralisierung.

Verfassung einführen, ohne sie Verfassung zu nennen

Die Ablehnung des Verfassungsentwurfes in Frankreich und den Niederlanden hat bekanntlich den Ambitionen der größten imperialistischen Mächte auf dem europäischen Kontinent einen Rückschlag versetzt und eine tiefe politische Krise der Union eröffnet.

Der Verfassungsentwurf war schließlich ausgehandelt worden, um die politische Schwäche der EU als einigermaßen einheitlicher imperialistischer Block wenn nicht zu überwinden, so doch dieser Überwindung deutlich näher zu kommen. Die Verfassung sollte den Rahmen abgeben, pan-europäische politische und staatliche Institutionen zu legitimieren, festzuschreiben und neue zu schaffen. Vor allem sollte damit der Rahmen einer gemeinsamen, vom deutschen und französischen Imperialismus wesentlich bestimmten Außen- und Verteidigungspolitik festgelegt werden.

Das beinhaltete die Schaffung eines europäischen Außenministers, die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, ihre Rüstungsausgaben gemäß den Erfordernissen imperialistischer Interventionspolitik zu erhöhen und – nach der Erfahrung des Irak-Krieges nicht minder wichtig -, die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, gegen eine abgestimmte Politik der EU-Mehrheit nicht zu verstoßen.

Daher beinhaltet der Verfassungsentwurf auch die Einschränkung der Entscheidungsrechte einzelner Staaten in der EU, die Abschaffung des Vetorechts und auch eine stärkere Gewichtung der größeren und mächtigeren Staaten in den Gremien der EU selbst.

Dazu sieht der Verfassungsentwurf auch vor, dass mehr und mehr Exekutivgewalt in der EU konzentriert wird und ihre „Regierungs“institutionen mit mehr Kontinuität ausgestattet werden, um eine längerfristige Verfolgung einmal durchgesetzter strategische Zielsetzungen zu gewährleisten.

Und schließlich sollten eine Reihe schon bestehender Institutionen und Abkommen, die einen zentralen Einfluss auf die Ökonomie in der EU und den Mitgliedsstaaten haben (Zentralbank, Verträge von Maastricht) bis hin zu einer neo-liberalen Wirtschaftspolitik durch die Verfassung praktisch irreversibel gemacht werden.

Die deutsche Regierung ist sich wie alle anderen Verfechter eines starken, einheitlicheren europäischen Blocks sehr wohl bewusst, dass eine einfache „Neuauflage“ des Verfassungsvertrags und neuerliche Abstimmungen darüber mit größter Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt sind. Das ist auch ein Grund, warum ein großer Teil der deutschen und französischen Bourgeoisie Sarkozy – jedenfalls hinsichtlich seiner Position zur EU-Verfassung – bei den Präsidentschaftswahlen unterstützte.

Während Royal und Bayrou versprochen hatten, die EU-Verfassung einer neuerlichen Volksabstimmung zu unterziehen, bevor es einen Fortschritt in diese Richtung geben sollte, kritisierte Sarkozy solche Pläne als abenteuerlich. Er schlug vielmehr vor, die inhaltlichen Bestimmungen des Verfassungsentwurfes anzunehmen – allerdings nicht in Form einer Verfassung, sondern als eine Reihe von „Verträgen“.

In diesem Sinne äußerte sich auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Glosser (SPD) nach der Wahl gegenüber der Berliner Zeitung:

„Es ist zwar eine autonome Entscheidung der französischen Regierung, doch es könnte sein, dass ein vereinfachter Vertrag nur vom Parlament in Paris verabschiedet wird (3)“.

Das ist auch der Weg, der der deutschen Präsidentschaft vorschwebt und den sie verfolgt. Als Schritt dahin wollen Merkel und Steinmeier bis Ende Juni eine Reihe von Regierungen konsultieren und einen Plan für die weitere der Entwicklung der EU vorlegen.

Ein wichtiger Teilerfolg in diese Richtung gelang der Bundesregierung am 25. März 2007, als die EU-Regierungschefs die „Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge (4)“, auch als „Berliner Erklärung“ bekannt, annahmen. Darin heißt es:

„Mit der europäischen Einigung ist ein Traum früherer Generationen Wirklichkeit geworden. Unsere Geschichte mahnt uns, dieses Glück für künftige Generationen zu schützen. Dafür müssen wir die politische Gestalt Europas immer wieder zeitgemäß erneuern. Deshalb sind wir heute, 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge, in dem Ziel geeint, die Europäische Union bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen (5).“

Natürlich besteht für die deutsche Regierung und ihre Verbündeten die Gefahr, dass ihr Plan zwar im Juni angenommen wird, von den nächsten EU-Präsidentschaften jedoch nicht weiter verfolgt oder gar fallengelassen wird.

Darin spiegelt sich das allgemeinere Problem der EU wider, für eine bestimmte imperialistische Strategie eine längerfristige, übergreifende Umsetzung zu gewährleisten – ein Hindernis beim Aufbau eines imperialistischen Blocks, das die Verfassung überwinden sollte.

Es wäre jedoch vollkommen blauäugig zu meinen, dass die herrschenden Klassen seit dem französischen NON nichts unternommen hätten, dieses Problem nicht wenigstens zum Teil in den Griff zu kriegen. So z.B. die sog. „Dreier-Präsidentschaft“:

“Im September 2006 hat der Rat der Europäischen Union in seiner geänderten Geschäftsordnung festgelegt: ‚Alle 18 Monate erstellen die drei künftig amtierenden Vorsitze in enger Zusammenarbeit mit der Kommission und nach entsprechenden Konsultationen den Entwurf eines Programms für die Tätigkeit des Rates in diesem Zeitraum.‘ Deutschland und die beiden folgenden Präsidentschaften Portugal und Slowenien legten dem Rat für allgemeine Angelegenheiten daraufhin im Dezember 2006 ein gemeinsames Programm für die kommenden eineinhalb Jahre vor, das gemäß den Vorgaben aus der Geschäftsordnung erstellt wurde.

Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, die Kontinuität der Ratsarbeit zu stärken und den Initiativen, die im Rat behandelt werden, mehr Nachhaltigkeit zu verleihen. Zentrale Themen des Trioprogramms sind die Fortsetzung des Reform- und Verfassungsprozess der EU, die Umsetzung der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung sowie die weitere Vollendung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Nicht zuletzt gilt es auch, die Kooperation im Bereich des gemeinsamen außenpolitischen Handelns der Europäischen Union zu intensivieren.

Die Triopartner haben vereinbart, über die Erstellung des Trioprogramms hinaus auch während der kommenden 18 Monate verstärkt zu kooperieren, um die gemeinsam benannten Ziele und Vorhaben in ihrer Umsetzung zu begleiten. Dies gilt vor allem für die Themen, die von den Partnern als Prioritäten aller drei Vorsitze behandelt werden. Daneben haben Deutschland, Portugal und Slowenien die Chance ergriffen, die politische Zusammenarbeit auch durch gemeinsame kulturelle Projekte, gemeinsame Fortbildungsprogramme und Personalaustausch zu vertiefen (6).“

Das ermöglicht dem deutschen Imperialismus, die Agenda der EU für 18 Monate und nicht bloß für ein halbes Jahr zu bestimmen. Auch die Zusammensetzung der drei ist dafür äußerst günstig. Portugal hat eine lange Tradition enger Beziehungen zum deutschen Imperialismus und steht der deutsch-französischen Allianz nahe. Slowenien ist einer der, wenn nicht gar der Staat in der EU, der am engsten mit der BRD alliiert ist, dessen Regierung von deutschen Beratern massiv beeinflusst und dessen Ökonomie vom deutschen Kapital dominiert wird.

So wie der deutsche und französische Imperialismus auf die Ablehnung der EU-Verfassung mit Übergangsregelungen reagiert haben, um die Vereinheitlichung und Formierung des EU-Blocks voranzubringen, so haben sie es auch bezüglich der Außen- und Verteidigungspolitik gemacht.

Die Europäische Union spielt in der internationalen Politik eine merklich größere Rolle – und damit auch der deutsche Imperialismus. So ist die EU eine integraler Bestandteil des sog. „Nahost-Quartetts“, bei der Initiierung sog. „Friedensgespräche“ und bei imperialistischen und pro-zionistischen Befriedungsversuchen des Nahen und Mittleren Ostens. Schon mit der Schaffung des EU-Außenministers und der Einsetzung Solanas hat die EU den Grundstein gelegt für eine schrittweise Erhöhung ihres politischen Gewichts.

Ein klares Zeichen dafür war die Intervention der EU im Kongo im Jahr 2006, wo sie und die EU-gestellten Truppen das UN-Mandat zur „Sicherung“ des vorgeblich demokratischen Charakters der Wahlen übernahmen und so die Wiederwahl ihres engen Verbündeten Kabila und damit des Zugriffs auf die Rohstoffe des Landes und die geo-strategischen Interessen der EU auf dem afrikanischen Kontinent abzusichern.

Schließlich zeigt sich das darin, dass die EU die Mandate für die Besatzung Kosovos, Bosniens und Mazedoniens übernommen hat.

Die Sicherung dieser Protektorate und die „Stabilisierung“ des westlichen Balkans insgesamt sind v.a. für den deutschen Imperialismus, aber auch für das Ziel, die EU als imperialistischen Block zu formieren, von strategischer Bedeutung. Kein Wunder, dass die Lösung der Probleme des „westlichen Balkans“ die außenpolitische Priorität der deutschen Präsidentschaft für die nächsten 18 Monate ist:

„In der europäischen Nachbarschaft wird das Schwergewicht des Engagements des Vorsitzes – entsprechend der vom Europäischen Rat am 12. Dezember 2003 verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie – auf der Stabilisierung des Westlichen Balkans liegen, insbesondere durch Unterstützung der Kosovostatusverhandlungen oder der Absicherung einer dann bereits gefundenen Lösung. Hierfür wird die EU ihre bisher größte zivile ESVP-Mission mit den Schwerpunkten Justiz und Polizei durchführen. Die EU-Beitrittsperspektive und ihre weitere Konkretisierung durch den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess – bei strikter Einhaltung der Kriterien des Stufenplans der Kommission und unter Berücksichtigung der Aufnahmefähigkeit der EU – bleibt für die Stabilisierung des Balkans unersetzlich. Dies gilt angesichts des zu erwartenden politischen Wandels in Kosovo und der vollzogenen Unabhängigkeit Montenegros in besonderem Maße für Serbien. Die Verhandlungen über die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen der EU mit Serbien, Montenegro und mit Bosnien und Herzegowina könnten während der deutschen Präsidentschaft abgeschlossen werden.“ (6)

Der Grund für diese Schwerpunktsetzung ist klar. Der deutsche Imperialismus hofft, die aktuelle Weltlage nutzen zu können, um den Balkan in seinem Sinne zu ordnen und den Einfluss der USA und Russlands zurückzudrängen.

Dahinter steckt auch die – vom Standpunkt der deutschen Imperialisten folgerichtige – Auffassung, dass Osteuropa (die Erweiterung der EU) für das deutsche Kapital einen gewaltigen halb-kolonialen geographischen und ökonomischen Raum bietet. Mehr als 100 Millionen Menschen bilden nicht nur einen großen Markt für deutsche resp. vom deutschen Kapital gefertigte Waren. Sie sind ein riesigeres Reservoir billiger und vergleichsweise qualifizierter Arbeitskräfte und ein zentrales Ziel deutscher Direktinvestitionen in einzelnen industriellen Bereichen und zur Übernahme riesiger Dienstleister (Banken, Handel, Telekommunikation, Energie, Wasser etc.).

Stärkung des EU-Militarismus

Die EU und va. der deutsche Imperialismus haben in den letzten Jahren auch große Fortschritte an der militärischen Front gemacht. In der Europäischen Verteidigungsrichtlinie (European Defense Paper) hat die EU die Schaffung einer Reihe von multi-nationalen Eingreiftruppen beschlossen – eine 60.000 Mann starke rasche Eingreiftruppe sowie 12 bis 14 kleiner Einheiten, sogenannte „Battle groups“, mit jeweils rund 1500 Soldaten. Seit dem 1. Januar sind 13 dieser Kampfgruppen einsatzbereit.

In der BRD selbst soll der Umbau der Bundeswehr zu einer globalen Interventionsarmee rasch vorangetrieben werden. Das zeigt sich in der Anschaffung neuer Waffensysteme wie dem Eurofighter, von dem 180 Stück im Wert von 13 Milliarden beschafft werden sollen.

Von zentraler Bedeutung ist auch der Kauf von Transportflugzeugen Airbus A400M oder von gepanzerten, minensicheren Fahrzeugen bis zum wendigen leichten Panzer zur Bekämpfung von Guerilla-Einheiten oder zum Straßenkampf.

Schließlich geht es um moderne Kommunikationssysteme. Folgerichtig will die Bundeswehr in diesem Jahr auch das Satelliten-Aufklärungssystem SAR Lupe in Betrieb nehmen.

Diese Neuanschaffungen gehen auch mit einer inneren Reorganisation einher, um den militärischen Erfordernissen zunehmender Auslandseinsätze gerecht zu werden. Die Truppe soll demzufolge je nach Aufgabe in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte unterteilt werden.

Die Eingreifkräfte sollen 35.000 Soldaten umfassen, die für Kampfeinsätze – im Weißbuch der Bundeswehr von 2006 „friedenserzwingende Maßnahmen“ genannt – zur Verfügung stehen.

Die Stabilisierungskräfte sollen 70.000 Soldaten umfassen und für Operationen „niedriger und mittlerer Intensität und von längerer Dauer“ bei „friedensstabilisierenden Maßnahmen“ dienen, z.B. als als Besatzer in Nordafghanistan oder im Libanon.

D.h. im Zuge der Umstrukturierung der Bundeswehr sollen die für Interventionen verwendbaren Truppen mehr als 100.000 Soldaten umfassen. Im Moment befindet sich rund ein Zehntel davon in Auslandseinsätzen.

Auch die verbleibenden rund 150.000 Unterstützungskräfte werden als Hilfskräfte – für Logistik, Sanitätsdienst, Ausbildung – gemäß den angestrebten neuen Erfordernissen ausgerichtet.

Allein anhand dieser Zahlen zeigt sich, wie tiefgreifend der Umbau der Bundeswehr ist und dass wir erst am Beginn dieser Entwicklung stehen.

Zweifellos wird ein solcher „Umbau“ noch einige Jahre dauern und sein Gelingen hängt nicht zuletzt vom Widerstand gegen die Militarisierung in der BRD und in der EU ab. In jedem Fall aber muss davon ausgegangen werden, dass die Imperialisten ihre Pläne beschleunigen und auch gegen erbitterte Kämpfe durchzusetzen suchen.

Operationsfähigkeit bedeutet aber nicht nur Truppen. Sie bedeutet auch die Formierung eines europäischen Rüstungskapitals, das diese selbstständig versorgen kann, den Aufbau europäischer Monopole unter Federführung der BRD und Frankreichs. EADS, zu dem auch Airbus gehört, ist hier das Musterbeispiel, an dem sich zeigt, dass „europäisch“ immer die Dominanz bestimmter Kapitalgruppen und bestimmter imperialistischer Staaten bedeutet.

Was die Rüstungsindustrie betrifft, so sind die EU-Staaten bei der Umsetzung der Lissabonner Agenda schon weit vorangekommen. Laut der Forschungsinstitut SIPRI haben die EU-Staaten 2005 erstmals die USA und Russland als größte Rüstungsexporteure überholt und diese Stellung 2006 noch einmal ausgebaut.

Hier macht sich die Rüstungsagentur der Europäischen Union offenkundig bezahlt, deren Aufgabe es ist, nicht nur die großen europäischen Rüstungsvorhaben zu planen, sondern auch den Export von Waffen zu fördern.

Trotz dieses offenen Militarismus und Merkels offenem Proklamieren der Notwendigkeit einer „europäischen Armee“ gilt die Große Koalition und auch Sarkozy oft als eine sehr pro-amerikanische Administration.

Doch besonders in Hinblick auf Deutschland dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Es hat ein gewisser Bruch mit Schröders und somit auch Chiracs Politik stattgefunden, die beide Länder zu Beginn des Irakkrieges verfolgten.

Schröders Regierung lehnte offen die direkte Teilnahme am Krieg ab, obschon sie genau wie die französische politische Führung nichts tat, um die US- und UK-Kriegsmaschine zu verhindern, sondern wichtige Nachschubbasen problemlos zur Verfügung stellte.

Sie verkündete eine ‚strategische Partnerschaft‘ mit Russland, eines der Hauptziele deutscher und so weit möglich auch der EU-Politik. Zugleich versuchte Außenminister Fischer die Formierung der EU durch Redewendungen über Kerneuropa und ‚Europa der 2 Geschwindigkeiten‘ zu beflügeln, was aber eher Misstrauen gegenüber den deutschen Interessen weckte.

Verglichen damit ist die Merkel-Regierung eher ‚nicht-visionär‘ und pragmatisch. Die USA werden wieder als ‚engste Verbündete‘ und ‚Freunde‘ tituliert – ganz ähnlich wie auch Sarkozy als US-nahe gilt.

Aber diese Politik geht Hand in Hand mit der geschäftsmäßigen Verfolgung der wirklichen Ziele. Der große Einfluss und die Kontrolle der osteuropäischen Ökonomien durch deutsches Kapital und zunehmend auch auf deren Politik durch den deutschen Imperialismus unterfüttert eine gestärkte Stellung ohne die Notwendigkeit einer besonderen Betonung dieser Haltung.

Merkel kommt bemerkenswerter Weise gelegentlich auf mittel- und langfristige Ziele des deutschen Imperialismus und der EU zu sprechen, ohne damit bei den USA oder anderen imperialistischen Konkurrenten anzuecken. Ende März sprach sie offen die Notwendigkeit ‚eine europäische Armee zu schaffen‘ in der rechtspopulistischen Bild-Zeitung an.

Die deutsche imperialistische Politik wird seit Anfang der 90er Jahre in wesentlichen Zügen fortgesetzt, personifiziert durch Außenminister Steinmeier. Er war als Staatssekretär im Kanzleramt und als außenpolitischer Berater bereits eng mit dem Schröder-Kabinett verbunden.

Schröder selbst wurde nach seiner politischen Tätigkeit Aufsichtsratchef des russischen Gazprom-Energiekonzerns, der wiederum beste Verbindungen zu deutschen international agierenden Firmen wie BASF und EON sowie deutschen Banken pflegt, die als Hauptkreditbeschaffer für den russischen Öl- und Gasriesen fungieren.

Merkel ist davon zwar etwas abgerückt und verfolgt nicht offen die Politik der ‚strategischen Partnerschaft,‘ um auch die Befürchtungen von Polen und anderer osteuropäischer Nachbarn abzuschwächen, dennoch bleiben gute Beziehungen zu Russland ein Hauptanliegen des deutschen Imperialismus.

Die Konkurrenz zwischen den USA und den europäischen Schlüsselmächten Frankreich und Deutschland hat nicht abgenommen. Der US-Vorstoß, NATO-Raketen in Tschechien und anderen osteuropäischen Staaten zu stationieren, richtet sich offenkundig gegen Russland, soll aber auch das Verhältnis EU-Russland stören und die Formierung einer künftigen Achse Frankreich-Deutschland-Russland erschweren.

Es ergibt sich auch aus den Interessen des USA, dass sie einen Fuß in der EU-Tür haben wollen. Selbst wenn die deutsche und französische Regierung sowie deren engste Verbündete in der Europäischen Union die europäische Verfassungsfrage in den Griff bekommen, zieht eine innereuropäische Auseinandersetzung mit dem britischen Imperialismus herauf. Gegenwärtig wandelt dieser auf dem schmalen Grat zwischen US- und EU-Interessen und profitiert von beiden Seiten. Aber seine Stellung hängt ab von weiteren Entwicklungen in der EU und ist auf Dauer unhaltbar.

Das französische Non gestattete es dem britischen Premier Blair, sich erfolgreich um die Frage der Verfassung und der Gemeinschaftswährung herumzudrücken. Aber je mehr die Europäische Union solche Schwierigkeiten überwindet und je mehr Bundesgenossen der britische Imperialismus in der EU verliert, desto klarer werden die britischen Kapitalisten vor die Wahl zwischen EU und USA gestellt.

Veränderte Taktik beim Verkauf der Verfassung

Die Ablehnung des Verfassungsentwurfs in Frankreich und den Niederlanden und die weit verbreitete Unzufriedenheit haben auch einen Politikwechsel der deutschen Regierung und bei einer Reihe von anderen Ländern bewirkt.

Kohl und Schröder haben verschiedene Abkommen z.B. Maastricht, den Euro und die Verfassung ohne viel öffentliche Debatte durchzusetzen versucht. Nach dem Non mussten die deutsche Regierung und andere imperialistische Strategen in Europa erkennen, dass ein europäischer Imperialismus unter ihrer Führung nicht nur Unterstützung von einer Elite braucht, sondern auch aus weiten Teilen der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und sogar der Arbeiterklasse, d. h. der breiteren Massen der Gesellschaft.

Diese Auffassung kommt in der Rede des Außenministers Steinmeier vor der Europa-Konferenz der sozialistischen Fraktion des Europa-Parlaments am 6.11.2006 zum Ausdruck:

„In China, Indien, Russland, auch in Zentralasien und Lateinamerika, machen sich rund drei Milliarden Menschen auf den Weg, einen ähnlichen Wohlstand zu erwerben, wie wir ihn uns erarbeitet haben und wie ihn die gesamte westliche Welt im Durchschnitt genießt. Natürlich auch in der islamischen Welt (…) Der Kampf um immer knapper werdende Rohstoffe und Ressourcen birgt erhebliches Konfliktpotenzial (…) Die globale Konkurrenz (…) bedroht europäische Sozialstandards (…) Was sind unsere Antworten darauf, meine Damen und Herren? Zunächst einmal glaube ich, wir müssen vor allem an unserer inneren Stärke arbeiten. Und das hat gleichzeitig auch eine außenpolitische Dimension. Denn ich bin fest davon überzeugt, Europa kann und wird nur dann eine Friedensmacht sein und bleiben, wenn wir auch die entsprechende politische und wirtschaftliche und in Grenzen auch militärische Stärke auf die Waagschale bringen (8).“

Hieran sehen wir eine Reihe von Elementen für eine große Öffentlichkeitskampagne zu Gunsten der Europäischen Union, wie sie die deutsche Regierung seit einigen Monaten fährt. Auf dem EU-Gipfel in Berlin wurden mehrere hunderttausend Informationsschriften an die Bevölkerung verteilt, worin die EU als Raum des Friedens, der Zusammenarbeit und einer im Schnitt hohen sozialen Sicherheit (‚unsere sozialen Standards‘) in einer zunehmend rauheren Welt gepriesen wird.

Diese Errungenschaften, so der Text, sind in Gefahr, nicht etwa durch deutsche, französische oder andere europäische Kapitalisten, sondern durch die Armen und Verarmten außerhalb Europas und durch die Vereinigten Staaten von Amerika, die keine ‚sozialen Standards‘ haben und keinen Frieden bewahren würden.

Deswegen müssten europäische Grenzen dicht gemacht und die Einwanderung ‚reguliert‘ werden, d. h. Verschärfung rassistischer Gesetze, deswegen müssen ‚wir‘ am ‚Krieg gegen den Terror‘ teilnehmen, aber in ‚vernünftiger‘ ‚europäischer‘, nicht amerikanischer Manier. Zur Friedenserhaltung und der Rolle einer ‚Friedensmacht‘ muss sich Europa, fährt Steinmeier fort, bewaffnen.

Für diese Ziele müssen die deutsche Regierung und die europäischen Imperialisten weiter die Arbeiterklasse und die Armen in Europa einen Preis zahlen lassen, nämlich eine schier endlose Reihe von Reformen. Aber Merkel, Sarkozy und andere versprechen: es lohnt sich, denn sie sichern europäische ‚Sozialstandards‘ und halten die produktiven Arbeitsplätze in Europa. Sie werden dann ‚wettbewerbsfähiger‘ und zwar durch Steigerung der Produktivität, Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und Verstärkung der Arbeitshetze.

Weitere Attacken auf Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen

Die Wahrheit ist ganz anders: Für die Arbeiterklasse in Europa gibt es kein Licht am Ende des Tunnels der neoliberalen Reformen. Zur Stärkung der EU Rolle als Wirtschaftsmacht hat der europäische Ministerrat im März 2000 die sogenannte Lissabonner Agenda als Drehbuch für eine Reihe von neoliberalen Attacken durch die europäische Kommission und in den Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft angenommen. Dazu zählen die sogenannte Bolkestein-Bestimmung zur Deregulierung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich, die Häfenladeverordnung und die Agenda 2010 in Deutschland. Das erklärte Ziel der Lissabonner Agenda war der Aufstieg der Europäischen Union zum größten, dynamischsten und stärksten Wirtschaftsgebiet bis 2010.

Doch die Gemeinschaft ist weit von ihrem Ziel entfernt. Kein Wunder, dass die deutsche Präsidentschaft mehr neoliberale Attacken fordert: weitere Marktliberalisierung in Wachstumsindustrien, weitere Privatisierung von staatlichen Bereichen (Post, Bildungswesen, Gesundheitsfürsorge, Renten, Wasser und Kommunikationseinrichtungen), falls nicht schon geschehen, Beseitigung von Hindernissen zur Zentralisierung von Kapitaltransfer.

Weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes oder wie es im bürgerlichen Neuhochdeutsch heißt ‚Anstieg der Arbeitnehmermobilität‘ ist die Kehrseite der Medaille dieser Entwicklungen, die sich hinter einer Nebelwand von ‚sozialen Komponenten‘ der EU verbergen.

Real bedeutet dies eine Fortsetzung der vor Jahren begonnenen Attacken auf bestehende Errungenschaften und Schutzvorrichtungen der Arbeiterklasse, Attacken auf Gesetzesschutz gegen jederzeitige Entlassungen oder zur Verlängerung des Arbeitstages, wie Sarkozys Plan zur Mehrarbeit an Stelle der 35 Stunden-Woche in Frankreich oder die Heraufsetzung des Rentenalters durch die deutsche Regierung Anfang des Jahres.

Alle diese Maßnahmen zielen auf die Steigerung der Ausbeutungsrate im Einzugsbereich der EU durch Steigerung des Mehrwerts, vornehmlich der absoluten Rate. Zugleich unterstützt die Europäische Union die Senkung von Transferkosten und versucht damit der gesteigerten organischen Zusammensetzung des Kapitals zu begegnen, sowie Schritte zur Verkürzung der Umschlagzeiten für das Kapital usw. zu unternehmen.

Auch wenn die deutschen Kapitale den Weltmarkt als „Exportweltmeister“ heimsuchen, offensiv in den „Wachstumsregionen“ der Weltwirtschaft investieren – insgesamt hat die Europäische Union trotz unbestreitbaren Willens der herrschenden Klasse aller Staaten die neo-liberale Agenda noch nicht voll durchziehen können.

Die Arbeiterklassen bzw. zentrale Schichten der Klasse in Frankreich, Italien, Deutschland verfügen noch immer über Errungenschaften und Zugeständnisse der Nachkriegsperiode, die erst geschliffen werden müssen. Vor allem aber verfügen sie nach wie vor über Kampfpotentiale, die die Herrschaft der europäischen Imperialisten erschüttern können.

Aufgrund der globalen Konkurrenz müssen die Kapitalistenklassen ihren Angriff beschleunigen. Dabei wird v.a. der Klassenkampf in Frankreich in den nächsten Monaten und Jahren – die Angriffe auf die 35 Stunden-Woche, die Angriffe auf die Jugend und die rassistischen Attacken auf die Jugend – zu einem Schlüssel für den Klassenkampf in Europa werden.

Monopolisierung in Europa

Steinmeier, Merkel und andere EU-Strategen beabsichtigen zugleich eine Einbindung der Arbeiteraristokratie und -bürokratie in ihr im wesentlichen sozialchauvinistisches Projekt – nicht zuletzt, um die rassistische Spaltung der Klasse im Angesicht dieser bevorstehenden strategischen Attacken, denen gegenüber Hartz IV und Agenda 2010 erst den Anfang darstellen, zu vertiefen und so ihre Widerstandskraft zu lähmen.

Anders als der Thatcherismus in Britannien, der nicht nur zu einer gewaltigen Zerstörung von Arbeiterrechten und einer strategischen Niederlage der Arbeiterbewegung führte, sondern auch zu einer Vernichtung von britischen Industrien, wollen die deutschen und französischen Imperialisten die Ausbeutungsraten anheben, und Arbeiterrechte beseitigen, aber die Filetstücke der europäischen Industrie halten. Diese sind ihnen für die Weltmachtpläne strategisch wichtig und sollen ihnen im eigenen Land oder Block eine stärkere Wirtschaftsgrundlage bescheren, wenn eine schwere Krise die Weltwirtschaft erschüttert oder die gegenwärtige Zusammenarbeit der imperialistischen Blöcke zusammenbricht.

Gesteigerte Konkurrenzfähigkeit geht Hand in Hand mit einer bewussten Politik zur erleichterten Schaffung von europäischen Monopolen sowie zur Verteidigung und dem Ausbau bereits erreichter Positionen auf dem Weltmarkt.

Ende 2005 hatten 177 der 500 weltgrößten Unternehmen ihren Sitz in Ländern der EU, demgegenüber 189 in der NAFTA-Region, 70 in Japan.

Aber diese beeindruckende Zahl von europäischen international operierenden Konzernen muss im Lichte der Zerbrechlichkeit des EU-Blocks gesehen werden. Neben einigen wichtigen Ausnahmen wie EADS sprechen wir von großem übernationalen Kapital, das in einem bestimmten europäischen Staat seinen Schwerpunkt hat, nicht einfach von ‚europäischem Kapital.‘

Auch die Bildung von mehr europäischem Kapital bedeutet im wesentlichen, dass Großfirmen in den imperialistischen Hauptländern bestehen. Der Prozess ihrer Etablierung als Marktführer auf europäischer und Weltebene in ihren jeweiligen Branchen geschieht nicht einfach durch Übernahmen auf dem Markt, sondern durch Förderung und Steuerung durch die EU und gegenseitige Vereinbarung der bedeutendsten imperialistischen Staaten.

Die Konfliktlinien in der EU schälen sich klar heraus, wenn wir uns Übernahmen wie die spanische Edessa (Energie und Wasser) oder die Schwierigkeiten deutsche und französische Interessen beim Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS in Einklang zu bringen, vor Augen führen.

Zusätzlich wird die ‚Öffnung‘ der Märkte so vonstatten gehen müssen, dass das US-Kapital und Fonds nicht die Bildung europäischer Monopole verhindern dürfen und dass zweitens ein großer Anteil von Übernahmen der privatisierten Staatsunternehmen in Osteuropa Teil der westeuropäischen Konzerne werden.

Die deutsche Regierung spricht diese Schwierigkeit ziemlich offen an, indem sie in ihrem EU-Plan weitere Arbeitsgruppen einrichtet und EU-Politik dazu benutzt, um europäische zentrale Industrien zu fördern und zu subventionieren, die als ‚Zukunftstechnologien‘ erachtet werden wie Automobil und Schienenbeförderung, Luft- und Raumfahrt.

Besonderes Gewicht wird auch auf die ‚Sicherung von Rohstoffen für Europa‘ und natürlichen Vorräten in einem ‚Energiedialog‘ mit Russland und den USA gelegt.

Dies wird auch als Hauptpunkt auf der Tagesordnung für den G 8-Gipfel in Heiligendamm stehen. Es geht um Sicherung der Energieressourcen, ‚Nachhaltigkeit‘ als Beitrag zum Klimawandel, die weitere Öffnung von Märkten in der Dritten Welt als angebliche ‚Hilfe für die Armen‘ durch Investitionsanreize.

Eine zentrale Schwachstelle der Kapitalformierung in der EU stellt die Entwicklung an den Finanzmärkten dar. Gemessen mit den USA und Japan (aber auch Britannien) spielen die deutschen und französischen Börsen eine untergeordnete Rolle, die – siehe die gescheiterten Versuche der Frankfurter Börse, die Londoner zu übernehmen – nicht nur auf wirtschaftliche, sondern auch politische Hindernisse stoßen.

Zweifellos wird auch auf diesem Gebiet die EU bzw. die deutsche und französische Regierung durch Privatisierungen kommunaler Sparkassen etc. die Zentralisation des Kapitals vorantreiben wollen, ja müssen. Allerdings in einer erbitterten Konkurrenz mit den US-amerikanischen Fondgesellschaften.

Die EU und das ‚soziale Europa‘

Zwecks Förderung der Formation eines imperialistischen Blocks muss das Projekt der Europäischen Union durch die Regierungen vorangetrieben werden. Dies machen sie auch vermehrt, z. B. durch positive Reaktionen auf Kritik an der EU, dem verknöcherten und bürokratischen Charakter der Brüsseler Verwaltung, und tun so als ob ein größerer und stärkerer Staatsapparat in Berlin oder Paris sich mehr um die Belange der Menschen kümmern würde.

In der populären Propaganda der europäischen Regierungen und der EU wird der imperialistische Block als Hort des Friedens auf einem immer barbarischeren Planeten dargestellt. Es wird behauptet, die EU und ihre Vorgänger würden seit über 50 Jahren den Frieden, die soziale Sicherheit und das Wohlergehen seiner Bewohner schützen. Beim europäischen Gipfel 2007 in Berlin wurden hunderttausende von kleinen Heften ‚Europa gelingt gemeinsam‘ auf der Straße verteilt. Es endet mit den Worten:

„Mit den ‚Römischen Verträgen‘ entstand 1957 ein neues Europa. Die Geburtsstunde der Europäischen Union. Sie ist auch für uns Deutsche ein großer Gewinn:

– Nie zuvor gab es in der europäischen Geschichte eine so lange Friedensperiode. Seit 50 Jahren lösen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Konflikte mit friedlichen Mitteln. Frieden – das ist der größte Gewinn

– Ohne EU wären wir nicht Exportweltmeister. Wir exportieren im Jahr Waren im Wert von 500 Mrd. Euro in andere EU-Staaten aus. Das sichert Millionen von Arbeitsplätzen.

– Ohne EU wäre vieles teurer. Durch den Wettbewerb in der EU ist z. B. Telefonieren billiger als je zuvor.

– Ohne EU wäre Lernen, Studieren und Arbeiten im Ausland viel komplizierter. Das Europa ohne Grenzen bietet gerade für junge Menschen großartige Chancen (9)“.

Der kalte Krieg gegen die Sowjetunion und andere degenerierte Arbeiterstaaten, die Unterstützung für den Vietnamkrieg, die aggressive Aufrüstung gegen den Warschauer Pakt – alles ‚friedenstärkende Missionen‘? Und die Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan, gerade mal 8 bzw. 6 Jahre her – keine europäischen Kriege?

Ganz offenkundig waren die europäischen Staaten nicht so ‚friedvoll‘, als die britischen und spanischen Staatsapparate dem baskischen und irischen Volk die Selbstbestimmung verweigerten.

Deutsches Kapital, der europäische ‚Exportmeister‘, errang diesen Titel durch gewaltige Ausbeutung einer immer schmaleren Arbeitskräftebasis und die Anneignung von riesenhaften Extraprofiten aus Osteuropa und der sogenannten Dritten Welt.

Wenn Preise gesenkt wurden, dann durch Verbilligung der Kosten für die menschliche Arbeitskraft, d. h. durch Kürzung unserer Löhne und Verschlechterung unserer Arbeitsbedingungen, während die großen Privatunternehmen riesige Monopolprofite in Energie-, Wasser- und anderen Industrien absahnen.

Der größte Witz ist die ‚Bewegungsfreiheit‘, die an den Grenzen zur Festung Europa endet. Dies bedeutet Abschiebung und Tod für Einwanderer aus Afrika und Asien. Es bedeutet Überausbeutung für ‚illegale‘ Einwanderer oder Arbeiter aus Osteuropa, denen der volle Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wird.

Die Lügen der Imperialisten springen ins Auge und sind leicht zu widerlegen. Ihre Stärke liegt jedoch nicht nur in der Macht eines Staats- und Medienapparats, der sie feiert und die Geschichte im Interesse der herrschenden Klassen fälscht.

Sie sind ‚glaubwürdig‘ geworden, seit die ‚aufgeklärte‘ bürgerliche Öffentlichkeit dahinter steht, flankiert von ehemaligen Linken wie Fischer, Cohn-Bendit und vor allem der reformistisch geführten Arbeiterbewegung, in erster Linie in Deutschland.

Die sozialdemokratischen Parteien haben oft genug gerade in jüngster Vergangenheit das Drehbuch für die EU-Propaganda geschrieben. Aber auch die Gewerkschaftsspitzen in der EU und vor allem des Deutschen Gewerkschaftsbundes argumentieren auf derselben Linie. Im September 2006 stellte der DGB-Bundesvorstand eine Reihe von Forderungen an den deutschen EU-Vorsitz unter dem Titel ‚Anforderungen des DGB an die deutsche EU-Präsidentschaft‘ vor. (10) Sie gipfeln darin, die deutsche Regierung aufzufordern, „Europa in der Globalisierung zu stärken“ und „die Verabschiedung des EU-Verfassungsvertrags voranzubringen“. Der einzige Vorbehalt äußert sich in der Hoffnung, die Verfassung möge verbessert werden und „das europäische Sozialmodell solle gestärkt werden“. Aber davon abgesehen ist der DGB nicht beunruhigt über die Europäische Union. Im Gegenteil: „In ihren Grenzen sichert die EU Frieden, Demokratie und Bürgerrechte wie nie zuvor in der europäischen Geschichte.“ Wer solche Feinde hat, braucht keine Freunde mehr.

Die Rechtfertigung der EU auf sozialchauvinistische Weise, dass die herrschende Klasse von den Gewerkschaften unterstützt wird, erleichtert es der Sozialdemokratie in Deutschland, die EU als Erfolgsmodell zu verkaufen und schließlich auch Unterstützung von den Europäischen Linksparteien zu bekommen.

Die Aufrechterhaltung eines industriellen Kerns in Europa, die Schaffung von großen Monopolen in EU-Ländern legt auch die Grundlage für eine kleinere, hochproduktive, ausbeutbare und schlechter gestellte Arbeiteraristokratie.

All dies wird verbunden mit einem offenen ansteckenden Rassismus, der von Faschisten oder rechtsrandigen bürgerlichen Politikern wie Sarkozy und auch in ‚versteckter‘ Form durch die ‚normale‘ bürgerliche Politik gefördert wird.

Dies trifft auch die Erwartungen der herrschenden Klasse, dass ihre Attacken auf Widerstand stoßen. Für sie ist die Schlüsselfrage nicht, ob dies kommen wird, sondern ob sie die Kämpfe isolieren können, sei es in Teilen der Industriearbeiterschaft oder der Armut wie in den Banlieues von Paris.

Die herrschende Klasse erwartet diesen Widerstand, ihren Integrationsplänen und einer Erneuerung oder gar Ausweitung des ‚Korporatismus‘ auf ‚neuer‘ Grundlage – d. h. eine Minderung des politischen Einflusses der Gewerkschaftsbürokratie und Ausdehnung von Betriebsratsformen – zum Trotz.

Deshalb ist das Geschwätz der Führer des Europäischen Sozialforum, von Attac und anderen, von einem ‚sozialen Europa‘ nicht nur nutzlos und utopisch, sondern spielt auch der imperialistischen Bourgeoisie in die Hände. Auf diesem ideologischen Nährboden gedeihen volksfrontartige Blöcke, die von den liberalen und sozialdemokratischen Teilen der Bourgeoisie bis zu den klassisch reformistischen Parteien der 2. Internationale und den Europäischen Linksparteien reichen. Die Prodi-Regierung und die italienische Situation sind eine klare Warnung vor einem Modell, dass die herrschende Klasse auch in anderen Ländern nutzen kann, um den Widerstand abzuwürgen und Unterstützung für einen imperialistischen Verfassungsvertrag auf einem ‚europäischen Sozialmodell‘ zu erlangen.

Unsere Aufgaben

All dies zeigt, dass zu den Hauptaufgaben für Revolutionäre, Kommunisten und Internationalisten die Enthüllung des reaktionären, arbeiterfeindlichen und sozialchauvinistischen Klassencharakters der Politik der Sozialdemokratie, der Gewerkschaftsbürokratie, der Europäischen Linksparteien und ihrer kleinbürgerlichen Ideologen wie von Attac zählt. Das bedeutet, jede Form von klassenversöhnlerischer Politik und jeden Versuch zur Darstellung der Europäischen Union als das kleinere Übel gegenüber dem US-Imperialismus zu entlarven.

Der Kampf gegen einen sich formierenden europäischen Imperialismus unter deutscher und französischer Vorherrschaft bedeutet aber nicht, ‚unabhängige‘ kapitalistische Staaten der EU gegenüber zu stellen. Eine solche Politik würde nur zur Unterordnung unter bürgerliche Fraktionen beitragen, die eine rein nationale Linie verfolgen. Dies wäre eine reaktionäre, rückwärts gewandte Antwort auf die voranschreitende Entwicklung von europäischer Industrie und Handel, auf die Entfaltung der Produktivkräfte.

Entscheidend ist, dass die Vereinigung Europas unter der Herrschaft des deutschen, französischen und anderer kleinerer Imperialismen eine reaktionäre Angelegenheit ist, denn sie kann nur eine Vereinigung bedeuten, die die gemeinsame Ausbeutung der ‚eigenen‘ Arbeiterklasse verschärft, die Völker der halbkolonialen Länder in der EU und die Völker der ‚Dritten Welt‘ unterwirft. Diese Einheit wird eine von Dieben sein, die sich gegen die Ausgebeuteten und Unterdrückten sowie andere Diebesbanden wie die der USA in ihrem Einzugsgebiet verbünden und sich zu guter Letzt auf eine Neuaufteilung der Welt zwischen den imperialistischen Mächten vorbereiten.

All diese Attacken auf die Arbeiterklasse in Europa, auf demokratische und soziale Rechte und Vorgefechte mit dem Widerstand gegen die anwachsende Unterdrückung in Europa sind auf dies eine Ziel ausgerichtet. Deshalb sind die Aufgaben der Revolutionäre und der Europäischen Union dreigestaltig:

• Aufbau von Koordinationen und Aktionsbündnissen beim Kampf gegen die Attacken auf die Arbeiterklasse in Europa, gegen imperialistische Interventionen, Kriege und Besetzungen, sowie gegen rassistische Attacken auf Flüchtlinge und Einwanderer in die EU

• Vorstellung einer klaren Alternative zu den Programmen der Reformisten und Bürokraten, ein Programm von Übergangsforderungen, das den Kampf gegen die Attacken von Regierungen und Kapitalisten verknüpft mit dem Eintreten für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa als Teil des Kampfes für die Weltrevolution.

• Aufbau von politischen Werkzeugen auf der Grundlage eines solchen Programms – Kampf für eine neue Arbeiterpartei in Deutschland und anderen europäischen Ländern und für eine neue Fünfte Internationale – eine neue Weltpartei der sozialistischen Revolution.

 

Fußnoten:

(1) Siehe Martin Schanek: Deutsche Imperialismus heute, in Revolutionärer Marxismus 33 (2003), Martin Suchanek/Michael Pröbsting: EU in der Krise. Soziales oder sozialistisches Europa sowie Michael Pröbsting: ‚Amerikanisierung‘ oder Niedergang. Widersprüche und Herausforderungen für das imperialistische Projekt der europäischen Einigung; beides in: Revolutionärer Marxismus, Nr. 35 (2005)

(2) „Europa gelingt gemeinsam“ auf der Homepage des deutschen Außenministeriums (www.auswaertiges-amt.de)

(3) Berliner Zeitung, 14. Mai, S. 5

(4) „Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge“; siehe homepage der Bundesregierung www.eu2007.de

(5) http://www.eu2007.de/de/News/download_docs/Maerz/0324-RAA/German.pdf

(6) Homepage der deutschen Präsidentschaft: http://www.eu2007.de/de/The_Council_Presidency/trio/index.html

(7) Arbeitsprogramm der deutschen Präsidentschaft, S. 22

(8) Steinmeier, Zitiert nach Junge Welt, 1. Februar 2007

(9) Europa gelingt – gemeinsam, Programmheft der Deutschen Bundesregierung für das Europafest im März 2007, S. 28

(10)Siehe:  http://www.einblick.dgb.de/hintergrund/2006/20/text02/

BESCHLUSS_EU_Ratspraesidentschaft_pdf




Globale soziale Rechte oder sozialistische Revolution?

Gerald Waidhofer, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

In Zeiten einer beschleunigt sich öffnenden sozialen Schere, in denen das Geld sich immer mehr dorthin bewegt, wo schon viel Geld ist und sich von dort zurückzieht, wo bereits sehr wenig ist, greift die politische Inspiration auch vermehrt um sich. In der Vielfalt der daraus entstehenden Konzepte zur Korrektur der sozialen Schieflage fällt eine spezielle Strömung durch ihre besonders fundamental sich darstellende Form auf. In unterschiedlicher Weise tritt sie ein für globale soziale Rechte.

Bekannt wurden dabei vor allem drei: das Recht auf gesicherte materielle Existenz (wie es in der hiesigen Debatte als Forderung nach „garantiertem und bedingungslosen Grundeinkommen“ firmiert), jene nach Bewegungsfreiheit über staatliche Grenzen und das Recht auf Aneignung.

Wir werden uns im Folgenden v.a. mit ersterem beschäftigen. Wie auch bei den anderen „Rechten“ stoßen hier verschiedene Theoriestränge aufeinander, die bei den VertreterInnen der verschiedenen Konzepte munter vermischt und mehr oder weniger beliebig kombiniert werden.

Ein Teil der Begründung für die Forderung nach „sozialen Rechten,“ zumal auf garantiertes Einkommen, bezieht sich auf die „Krise der Arbeitsgesellschaft.“ Bezug nehmend auf liberale Autoren wie Rifkin oder Reformisten wie Gorz wird unterstellt, dass die technische Entwicklung nicht nur zu immer höherer Produktivität führt, sondern auch gefolgert, dass eine Wiederherstellung der Vollbeschäftigung objektiv unmöglich sei und daher ein größer werdender Teil der Gesellschaft über ein „Grundeinkommen“ oder „Existenzgeld“ abgesichert werden müsste.

Diese Argumentation stieß und stößt besonders bei Erwerbslosenverbänden auf offene Ohren. So formulierte „Bundesarbeitsgemeinschaft unabhängiger Erwerbsloseninitiativen“ die Forderung nach Existenzgeld schon in den 80er Jahren. Heute wird die Losung nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ von einem beachtlichen Teil der „sozialen Bewegungen“ als zentrale Forderung begriffen.

Zweitens wurde die Forderung nach „sozialen Rechten“ schon früh von Strömungen vertreten, die sich aus dem Operaismus entwickelten. In der BRD waren das Gruppen wie Fels, die darin eine Forderung erblickten, „die der Klassenstruktur des Post-Fordismus“ gerecht werde und die ein neu zusammengesetztes Proletariat „in konkreten politischen Kämpfen“ konstituieren könne (FelS-Sozial-AG, Für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung, S. 39, in: Krebs/Rhein, Existenzgeld).

Diese post-operaistische Linie gab sich zu Beginn dieses Jahrhunderts ein globales Manifest – „Empire“ von Hardt/Negri. Dort wird das „neue Proletariat“ „aufgehoben“ in der Multitude. Die drei globalen Rechte werden zur vereinheitlichenden Dynamik disparater, spontaner Kämpfe.

Entscheidend ist jedoch – und hier liegt auch die Brücke zu den offen liberalen und reformistischen Anhängern der Forderung nach „sozialen Rechten“ -, dass, anders als das alte Proletariat, die Multitude im Empire keine politische Macht mehr zu erkämpfen brauche, um eine neue gesellschaftliche Produktionsweise erst zu schaffen. Sie braucht nicht die herrschende Klasse zu enteignen und die Produktionsinstrumente unter ihrer bewusste Kontrolle zu bringen, also die Staatsmacht erobern, um überhaupt erst eine sozialistische Transformation der Ökonomie in Gang bringen.

Die Multitude stellt für Negri/Hardt oder für Autoren wie Holloway schon eine neue, entstehende Produktionsweise dar. Hier schließt sich der Zusammenhang zu den „radikaleren“ Forderungen nach Grundeinkommen und anderen „globalen Rechten.“

Um diese Behauptung weiter zu stützen, wird die Entwicklung des Lohnarbeitsverhältnisses, die immer stärkere Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln negiert und das direkte Gegenteil behauptet.

„Die Menge benutzt nicht nur Maschinen zur Produktion, sondern wird auch selbst zu einer Art Maschine, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben – denn dies sind einige der wichtigsten biopolitischen Produktionsmittel. Doch die Tatsache allein, dass diese Produktionsmittel in der Menge selbst zu finden sind, bedeutet nicht, dass die sie auch kontrolliert. Eher lässt das die Entfremdung davon noch niederträchtiger und verletzender erscheinen. Das Recht auf Wiederaneingung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und Eigenproduktion (Negri/Hardt, Empire, S. 413).“

Die Multitude muss also, um sich zu befreien, die Produktionsmittel dem Kapital gar nicht mehr entreißen, denn – so die allerdings recht obskure – Vorstellung, sie würde sie ja zunehmend ohnehin schon besitzen, sie müsse sich nur die Kontrolle, wenn man so will, das Recht auf Eigentum erstreiten.

Es ist daher kein Wunder, dass beide Stränge dieser Theoreme in einem gemeinsamen Wiederaufleben der „Menschenrechte“ als universell selig machendes Heilmittel aller Klassen zusammengehen. Die „Grundrechte“ sind dann auch nichts als neu formulierte bürgerliche Rechte.

Beispiel Mindesteinkommen

Besonders in den Vordergrund drängte sich zuletzt die Auseinandersetzung um ein bedingungsloses Grundeinkommen. So wird auf der Homepage der ATTAC AG Globale Soziale Rechte aus Berlin, die sich in Verbindung zu allen sozialen Kämpfen weltweit verstehen möchte, folgende Kurzdefinition für globale soziale Rechte vorgestellt: Sie „beinhalten das Recht auf angemessenen Lebensstandard, das bedeutet den Zugang zu Nahrung, Bekleidung und Unterkunft; das Recht auf physische und psychische Gesundheit; das Recht auf Bildung und das Recht auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Diese Rechte sollen für jeden Menschen gelten, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Staatszugehörigkeit oder Leistungsfähigkeit. Rechte zu fordern heißt in aller erster Linie Bedürfnisse zu legitimieren (www.globale-soziale-rechte.org)“.

Attac und andere werfen hier die Frage auf, warum denn kein „angemessener Lebensstandard“ verwirklicht wird, warum die diversen „Rechte“ fortlaufend verletzt, eingeschränkt und weiter beschnitten werden, obwohl doch immer mehr Güter geschaffen werden. Und wie so viele andere, vermischt attac dann diese Frage mit der Vorstellung, dass immer größere Anhäufung von Geld und Vermögen in den Händen von immer weniger Leuten schon mit immer mehr Reichtum gleichzusetzen sei.

Ab lassen wir diesen Kurzschluss beiseite. Entscheidend ist für attac und andere, zwar Fragen aufwerfen, sogleich aber die entscheidenden gesellschaftlichen Ursachen – die kapitalistische Produktionsweise selbst – nicht weiter in Betracht ziehen und schon gar nicht die aktuelle Entwicklungsperiode des Kapitalismus, die durch Überakkumulation und verschärfte strukturelle Krisenmomente gekennzeichnet ist.

Statt dessen gipfelt die Betrachtung auch in der bei vielen anderen, auch „radikaleren“ Linken beliebten Vorstellung: „Rechte zu fordern, heißt in aller erster Linie Bedürfnisse zu legitimieren.“

Kling radikal, ist es aber ganz und gar nicht. Ob ein „Bedürfnis“ als legitim gilt – und ob es in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt wird, sind zwei verschiedene Fragen.

Das Bedürfnis des Kapitalisten, die Arbeitskraft möglichst billig zu kaufen ist auf dem Boden verallgemeinerter Warenproduktion ebenso „legitim“ wie das der Arbeiterklasse, den Preis der Ware Arbeitskraft möglichst hoch zu halten.

Diese Betrachtung ist schon deshalb nahe legend, weil die diversen von attac in Spiel gebrachten „Rechte“ oft nichts anderes sind als Teile der Reproduktionskosten der Arbeiterklasse – oder was sonst ist der „angemessene Lebensstandard“ als eine verklausulierter und ideologisierter Ausdruck für den Wert resp. Preis der Ware Arbeitskraft?

Entschieden wird dieser Kampf nicht durch „Legitimation“ bestimmter Bedürfnisse, sondern durch die Stärke, Organisiertheit, das Bewusstsein usw. im Klassenkampf. Die der Durchsetzung politischer und sozialer Rechte ist daher ganz generell eine Frage der Macht – und nicht der „Anerkennung“ ihrer „Legitimität.

Es ist eine Frage der Macht, weil hinter den verschiedenen Bedürfnissen gegensätzlich Klasseninteressen stehen, über den Durchsetzung der Kampf entscheidet, gerade weil sie beide als, wenn auch widerstreitende Rechtsansprüche legitim sind.

Marx führt diesen Sacherhalt bei der Untersuchung über den Kampf um die Länge des Arbeitstages im Kapital aus:

Denn: „Von ganz elastischen Schranken abgesehen, ergibt sich aus der Natur des Warentausches selbst keine Grenze des Arbeitstages, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich macht und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andererseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt (Marx, Kapital Bd. 1, S. 249).”

Genau dieser Konsequenz versuchen die IdeologInnen der „sozialen Grundrechte“ aus dem Weg zu gehen. Statt die Gegensätzlichkeit bestimmter „Rechte“ und Bedürfnisse anzuerkennen und daraus die klassenpolitischen Schlussfolgerungen zu ziehen, soll vielmehr der bürgerlichen Öffentlichkeit „genutzt“ werden, um der herrschenden Klasse vorzurechnen, dass doch auch die Bedürfnisse der Unterdrückten „legitim“ wären.

Eine Spielart dieser Linie versucht Charlotte Ullmann, die sich ebenso für ein bedingungsloses Grundeinkommen ausspricht, und dafür im Netzwerk Linke Opposition eintritt (www. Netzwerk-linke-opposition.de).

In ihrer an Rifkin angelegten Argumentation stellt sie fest, dass auf der Grundlage des gegenwärtigen Standes des technologischen Fortschrittes eine neue Bewertung der Arbeit ansteht. Die notwendige Arbeit könne jetzt überwiegend durch Maschinen erledigt werden. Arbeit soll darum nicht mehr erzwungen werden, sondern wie ein Hobby gestaltet werden, denn immerhin sei Arbeit ja eine Art von Spiel. Und die verbleibenden unangenehmen Tätigkeiten könnten entsprechend der Alternative der ‚Öko-Industrie‘ vollzogen werden, die mit moderner Technologie keine krankmachenden Produkte erzeugt. Und für den Handel könnten wir uns am Vorbild von Tauschringen orientieren: „Schneidest Du meine Haare, backe ich Dir ein leckeres Biobrot!“

Um diese Problem zu lösen schlägt sie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens vor. Damit könnte schließlich auch noch der soziale Friede durch eine gerechtere Verteilung der Ressourcen sichergestellt werden. Als Losung könnte hieraus die Parole zusammengefasst werden: Geld für Frieden.

Solche Bemühungen waren schon immer die Spezialität des Reformismus, der sich umso zweckmäßiger und teurer darstellte, je näher eine revolutionäre Situation kam und je stärker revolutionäre Kräfte waren. Sie sind ein Angebot an die Herrschenden zur Verringerung ihrer Befürchtungen von Klassenauseinandersetzungen und ein Mittel zur Milderung der eigenen Angst vor einer Prekarisierung durch eine garantiertes Einkommen.

Einen anders gelagerten Ansatz vertritt Wolfgang Völker, ein Mitglied der ‚Widersprüche‘-Redaktion. Er plädiert nämlich im Rahmen der Grundrechtediskussion in einer Arbeitsgruppe ‚Soziale Grundrechte‘ für die Einforderung sozialer Rechte anstelle eines Engagements für die Vollbeschäftigung. Die Frage nach der Unbedingtheit der sozialen BürgerInnenrechte ist für ihn das politisch am stärksten umkämpfte Terrain, weil darin die unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit zum Tragen kommen und sich darüberhinaus auch die verschiedenen Positionierungen zur vorhandenen sozialen Ungleichheit bemerkbar machen (Wolfgang Völker: Soziale Rechte statt Lohnarbeit für alle! oder: warum und für was die Grundrechtediskussion wichtig ist. Aus: express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 11-12/2000 und www.labournet.de/express).

Nachdem er in einer Konzeption sozialer Bürgerrechte in der aktuelleren Diskussion innerhalb der Linken einen zentralen Platz einräumt, fragt er sich, ob dies die Bedeutung des Klassenkonfliktes verringern würde. Er verweist auf die bestehenden Schwierigkeiten mit dem Klassenbegriff und „ahnt“ einen Paradigmenwechsel: vom Klassenbegriff zu sozialen Bürgerrechten.

Anlass dazu sieht er erstens in den seit etwa drei Jahrzehnten stattfindenden Abbaus sozialer Leistungen und die damit einhergehende Verteidigung erworbener sozialer Rechte. Zweitens in der Verstärkung des repressiven Charakters sozialstaatlicher Maßnahmen durch die Einforderung eines ‚Wohlverhaltens‘ als Voraussetzung für den Erhalt dieser Rechte. Inzwischen wuchern ja Zumutbarkeitsregelungen, Arbeitsverpflichtungen, Relativierung bürgerlicher Rechte wie das auf die freie Berufswahl, der Unverletzlichkeit der Wohnung, des Rechtes auf Freizügigkeit u.v.a.m.. Drittens in der zunehmenden Marktorientierung und Ökonomisierung sozialer Arbeit und sozialer Dienstleistungen, die in diesem Bereich die Bedarfsorientierung durch einen Wettbewerb um die niedrigsten Ausgaben ersetzen. Viertens im dadurch erforderlichen Rückgriff auf soziale Bürgerrechte unabhängig von der ‚Lohnarbeitszentriertheit sozialer Sicherungssysteme‘.

In einer Hamburger Konferenz mit dem bezeichnenden Titel ‚Lichter der Großstadt‘ werden schließlich soziale Ansprüche als Grund- und BürgerInnenrecht eingefordert und emanzipatorische Sozialpolitik als Bürgerrechtspolitik verstanden. Damit soll ein individueller Rechtsanspruch für alle Gesellschaftsmitglieder die gesellschaftliche Teilhabe garantieren und verhindert werden, dass Sozialleistungen nur bedingt gelten und soziales Elend privater Wohlfahrt überlassen wird. Gegen die Totalität des Marktes und die Repression des bürgerlichen Staates wird also eine Utopie von sozialen Grund- und BürgerInnenrechten zur Erreichung einer zumindest basalen Gerechtigkeit und Wahrung einer würdigen Existenz gesetzt.

Kurz: weil soziale Leistungen abgebaut, mit mehr repressiven Auflagen verbunden und marktanalog organisiert wurden, soll eine soziale Existenzabsicherung ein Grundrecht werden. Und weil der bürgerliche Staat zwischen Erwerbstätigen und Leistungsempfangenden unterscheidet, solle die ‚Lohnarbeitszentriertheit‘ überwunden werden und ein übergeordneter Bürgerstatus für mehr Gemeinsamkeit sorgen. Mithilfe eines bedingungslosen Grundeinkommens sollen dann nicht nur die sozialen Rechte gesichert, sondern auch die Ausübung ziviler und politischer Rechte ermöglicht werden.

Der hierin stattfindende Kampf gegen den Strohmann ‚Lohnarbeitszentriertheit‘ verweist beinahe selbständig auf das, wovon damit die Aufmerksamkeit abgezogen werden soll: das Problem der Arbeitslosigkeit. Anstelle des Rechtes auf Arbeit wird eine Dezentrierung von der Lohnarbeit empfohlen. Und was als generelles und übergreifendes Konzept vorgestellt wird, mündet schließlich im Wunsch nach einer besseren Gestaltung und Reformierung vorhandener sozialer Sicherung zur Gewährleistung von Garantien für eine menschenwürdige Teilhabe im sozialen und politischen Sinn.

Soweit solche Überlegungen und Vorschläge aus der sogenannten gesellschaftlichen Mitte stammen, ist die hierin sich ausdrückende Orientierungslosigkeit relativ naheliegend. Wer es gewissermaßen nach ‚oben‘ nicht schafft und sich ‚unten‘ nicht zuhause fühlt, versteht sich eben lieber als ‚übergreifend‘.

Es handelt sich jedenfalls um einen Versuch, den bürgerlichen Staat angesichts seiner krisenhaften Entwicklung nach seinen eigenen Ansprüchen zu reformieren. Seine Wirklichkeit solle sich an das anpassen, was er von sich selbst vorgibt, sein zu wollen. Die Schwierigkeit liegt hierbei lediglich darin, dass die Kluft zwischen den Idealen bürgerlicher Rechte und der gesellschaftlichen Wirklichkeit kein zufälliges Missgeschick ist, sondern einen notwendigen Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft darstellt.

Außerdem erwartet die Sozialrechtsbewegung die eingeforderte umfassende soziale Sicherung von genau demselben Staat, dem sie Sozialabbau und zunehmende Repressalien vorwirft. Die Frage, woher die zusätzlichen Staatsausgaben stammen sollen und von wem und wie die dafür erforderlichen staatlichen Einnahmen durchgesetzt werden sollen, bleibt unerwähnt.

Die politische Haltung dieser Bewegung ist deutlich: Mag der bürgerliche Staat ansonsten die Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen absichern. An einer bestimmten Grenze, die als existenziell verstanden wird, soll ein Tabubereich errichtet werden, der eine Schutzzone gegenüber den Ansprüchen des Kapitals, den Forderungen des Marktes oder auch den Auflagen des Staates bewahrt. Die Unterschiede in den verschiedenen Konzeptionen dazu bestehen lediglich darin, ob der Schutz als bloße Forderung präsentiert wird, über eine juristische Darstellung präsentiert wird, über einen besonderen moralischen Anspruch verfügt, mit politischen Erfordernissen begründet wird oder etwa mit wirtschaftlichen Berechnungsmodellen ausgestattet erscheint.

Klassencharakter der Menschenrechte

Die ideologisierte Konstruktion „sozialer Rechte“ geht einher mit einer Ablehnung des Klassenkampfes und dem Appell an „die“ Vernunft. Als praktisches Markenzeichen der Sozialrechtsströmung erweist sich, dass sie ihre Bündnisbreite entsprechend der Reichweite ihrer Forderungen versteht. Sie geht schlichtweg von der Annahme aus, dass eine Betroffenheit aller Menschen ein gemeinsames Vorgehen aller Menschen erfordert. So soll ein bestimmtes Ziel über alle Grenzen, Unterschiede und Gegensätze hinweg erreicht werden. Daher wird auch so viel Aufhebens darüber gemacht, dass bestimmte Bedürfnisse oder Rechte als „legitim“ und vernünftig anerkannt würden, denn dann müssten sie doch von allen Klassen der Gesellschaft als solche anerkannt und befürwortet werden.

In grundlegenden Bereichen soll also ein allen Menschen gemeinsames Grundinteresse gegenüber allen gesellschaftlichen Veränderungen geschützt werden. Erst jenseits der tabuisierten Bereiche dürfe etwas zur Ware werden oder eine Auseinandersetzung stattfinden. Eine spezielle Parteilichkeit gilt hierbei als zu eingeschränkte und damit unangemessene Perspektive und ein unmissverständlicher Klassenstandpunkt als Ausdruck einer besonders engstirnigen Weltanschauung. Universell sich verstehende Menschheitsstandpunkte wollen damit die Einseitigkeit eines bloßen Klassenstandpunktes überwinden.

Ein allgemeiner Standpunkt soll also als Ausdruck eines überparteiischen allgemeinen Interesses einen besonderen Standpunkt aufgeben. Die speziellen sozialen Standpunkte und die damit verbundenen Konfrontationen sollen zumindest in den wichtigsten Belangen und grundlegenden Erfordernissen beiseite gelassen werden. Klassenkämpfe sollen sich  begrenzen auf einen Bereich unwichtiger Belange im Rahmen stabiler Entwicklungen. Je bedeutender eine gesellschaftliche Auseinandersetzung wird und je deutlicher sich das Unvermögen der herrschenden Produktionsverhältnisse in der Lösung wesentlicher Problemstellungen offenbart, desto mehr sollen die Ausgebeuteten und Unterdrückten ihren HerrscherInnen bei der Absicherung ihrer Macht beiseite stehen. Die verbleibende Light-Version der Klassenkämpfe soll dann lediglich noch für die restlichen Feineinstellungen sorgen. Ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel, dessen Notwendigkeit sich ja gerade an den wesentlichen Problemen der Menschheit zeigt, soll verhindert werden durch einen Pakt des Proletariats mit der Bourgeoisie.

Eine konkrete Betrachtung des gesellschaftlichen Geschehens zeigt aber rasch, dass die allgemeinen Interessen nicht zwangsläufig alle in derselben Weise interessieren. Zwar erscheinen sie den meisten Menschen tatsächlich als existenziell, aber für eine herrschende Minderheit sind sie keineswegs so unentbehrlich. Diese Minderheit kann sich das allgemein Geforderte schlichtweg problemlos leisten, hat besseren Zugang und bessere Möglichkeiten und kann allgemeine Schwierigkeiten besser kompensieren. Eine Hoffnung auf Unterstützung durch diese greift dadurch erfahrungsgemäß ziemlich ins Leere. Sie nährt vielmehr Illusionen in ein gesamtgesellschaftliches Bündnis, das keine reale Grundlage hat. Bestenfalls entsteht daraus wieder eine Volksfront, welche an die Bourgeoisie zum gemeinsamen Engagement appelliert und ihr dabei verspricht, die Klassenkämpfe entsprechend einzuschränken. Anders ausgedrückt: dem bürgerlichen Regime wird in seiner Krise die Lebensrettung angeboten. So wird aus dem Ruf nach Existenzsicherung der verarmenden Bevölkerung ein zusätzliches Mittel zur Existenzsicherung der bürgerlichen Herrschaft.

Anstatt sich auf ein Versteckspiel hinter allgemeinen Interessen einzulassen, erklärt der Marxismus freimütig seine besondere Parteilichkeit und behauptet dazu auch noch, erst dadurch einen tatsächlich allgemeinen Standpunkt erreichen zu können. Anstatt sich abstrakte Ideale zu konstruieren, leitet er dabei seine Zielvorstellung aus einer Analyse der konkreten Möglichkeiten der gesellschaftlichen Konstellation in der historischen Situation ab.

Der besondere Standpunkt des Marxismus, dem diese allgemeine Relevanz zukommt, ist ein spezieller Klassenstandpunkt. Nur aus den perspektivischen Möglichkeiten der Arbeiterklasse kann eine realistische Parteilichkeit mit dem Potenzial grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen und maximaler Reichweite erwachsen. Dazu stellt sich zunächst die Frage nach dem marxistischen Klassenbegriff.

Klassen und Interessen

Für Marx und Engels entsteht eine Klasse dadurch, dass sich Individuen in einem gemeinsamen Kampf gegen andere Individuen befinden. Der Grund dieses Kampfes liegt in seinem Ausdruck gegensätzlicher gesellschaftlicher Positionen, aus denen sich die Einkommensquelle und die daraus resultierenden Interessen und Gegensätze zu anderen ergeben. Es gibt zwar vielerlei Interessensgegensätze, also etwa auch zwischen Kaufenden und Verkaufenden oder Produzierenden und Konsumierenden, aber zum Klassengegensatz werden gesellschaftliche Gegensätze erst durch ihren Bezug zu den jeweiligen Eigentumsverhältnissen. Erst durch den Gegensatz aus Eigentum und Verfügung über die Produktionsmittel auf der einen Seite und notwendiger Verkauf der Ware Arbeitskraft auf der anderen Seite bilden sich in der bürgerlichen Gesellschaft Klassen. Und erst durch den hierin bestehenden Interessensgegensatz stehen sich gesellschaftliche Gruppierungen als Ausbeutende und Ausgebeutete gegenüber.

Aufgrund der Tendenz zur zunehmenden Verwandlung der Arbeit in Lohnarbeit und der Produktionsmittel in Kapital beschreiben Marx und Engels eine zunehmende Vereinfachung der Klassengegensätze, die sich letztlich als zwei große feindliche Lager gegenüberstehen: der Klasse der Bourgeoisie und der des Proletariats. Engels beschreibt diese beiden Klassen kurz folgendermaßen: „Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.“ (MEW 4: 462, vgl. 4: 463, 25: 892)

Das Proletariat ist in der Konsequenz nicht nur ohne Eigentum an Produktionsmitteln, sondern seine Arbeit vermittelt ihm auch keinen nationalen Charakter und seine Lebensbedingungen weisen über die bestehende Gesellschaftsform hinaus. Aufgrund dieser Voraussetzungen sprechen Marx und Engels von einer revolutionären Funktion des Proletariats. „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse.“ (MEW 4: 472, vgl. 1: 390f.)

Dabei gründet sich diese revolutionäre Funktion besonders auf seine gesellschaftliche Möglichkeiten aus der besonderen Position im Produktionsprozess. „Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre bisher schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen.“ (MEW 4: 472)

Aus den unterschiedlichen objektiven Situationen der Klassen ergeben sich nun verschiedene subjektive Ausdrucksformen mit unterschiedlichen Bezugspunkten und Vorstellungsdimensionen.

Bei allgemein-menschlichen oder gar universell erscheinenden Werten und Zielen stellt sich immer wieder die Frage, wessen Universalanspruch das ist. Es stellt sich nämlich immer wieder heraus, dass hierin lediglich eine Minderheit ihre besonderen Interessen als allgemeine darstellt. Es ist geradezu eine Regel, dass die Ziele der herrschenden Klasse für alle Menschen als bestimmend gelten sollen. So erklärte die französische Bourgeoisie bereits im 18, Jahrhundert ihre Befreiung zur Emanzipation der gesamten Menschheit. Engels bemerkt zur ‚ewigen Vernunft‘ ihrer Philosophen, „daß diese ewige Vernunft in Wirklichkeit nichts andres war als der idealisierte Verstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden Mittelbürgers.“ (MEW 19: 192, vgl. 200, 2: 641, 20: 239, 581)

Soweit allgemeine Interessen von der Bourgeoisie ausgedrückt werden sollen, erweisen sie sich stets als Verallgemeinerung ihrer besonderen Ansprüche, die in der Praxis regelmäßig die Möglichkeit einer Bereicherung für eine Minderheit verbessern sollen und für die Mehrheit der Menschen einen Mangelzustand festigen. Die bürgerliche Gesellschaft wird eben letztlich repräsentiert durch die Bourgeoisie und deren Interessen sollen gesamtgesellschaftlich bestimmend sein. Über diese Repräsentanz hinaus soll es zum Selbstverständnis des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft gehören, unpolitisch zu sein (Vgl. MEW 1: 369, 2: 130).

Um diesen Minderheitenstandpunkt zu überwinden, ist also ein anderer Klassenstandpunkt erforderlich. Das erfordert einen Standpunkt, welcher der Arbeiterklasse entspricht und die proletarischen Interessen ausdrückt. Im Vergleich mit früheren Klassenkämpfen stellen Marx und Engels fest: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“ (MEW 4: 472, vgl. Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Sonderausg., 8. Aufl., Luchterhand, Darmstadt, 1983, 181)

Damit die proletarischen Interessen sich allerdings als wirklich gesamtgesellschaftliche Interessen erweisen, ist es erforderlich, dass „alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert, dazu muß ein bestimmter Stand der Stand des allgemeinen Anstoßes, die Inkorporation der allgemeinen Schranke sein, dazu muß eine besondre soziale Sphäre für das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung von dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint.“ (MEW 1: 388)

Es genügt also nicht, den Minderheitenegoismus der Bourgeoisie und die Ansprüche der proletarischen Mehrheit festzustellen, sondern es gilt, die allgemeinen Mängel als Resultat besonderer Interessen zu entlarven und damit die Notwendigkeit der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen, die diese Mängel verursachen.

Klassenstandpunkt und Ideologie

Dieser Erkenntnis stehen nicht nur materielle Gegebenheiten gegenüber, sondern auch vielfältige ideologische Gegner. Immerhin ist davon auszugehen, dass bestehende Herrschaftsverhältnisse sich nicht bloß auf eine materielle Ausdrucksform beschränken, sondern auch ihre ideologische Entsprechung hervorbringen. „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ (MEW 3: 46, vgl. 4: 480)

Indem die Herrschaftsverhältnisse einen gesellschaftlichen Gegensatz darstellen, ist es aber naheliegend, dass die herrschenden Ideologien unterschiedliche materielle Situationen begründen müssen und damit verschiedene materielle Konsequenzen begründen sollen. Zu dieser unterschiedlichen Bedeutung entsprechend des gesellschaftlichen Standpunktes kommt nun noch eine historische Dimension. Da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder verändern, unterliegen nämlich in entsprechender Weise auch die Ideologien einer Veränderung. Aufgrund des Zusammenhanges zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Funktion ergibt sich dann, dass dieselben Ideen in verschiedenen historischen Ausgangspunkten und gesellschaftlichen Situationen ihre Bedeutung und Funktion völlig verändern können.

Etwa das Ziel der Gleichheit wird unter Bedingungen einer Klassengesellschaft an unterschiedlichen sozialen Standpunkten verschieden interpretiert werden und unterschiedliche Umsetzung finden. „Die Proletarier nehmen die Bourgeoisie beim Wort: die Gleichheit soll nicht bloß scheinbar, nicht bloß auf dem Gebiet des Staats, sie soll auch wirklich, auch auf dem gesellschaftlichen, ökonomischen Gebiet durchgeführt werden.“ (MEW 20: 99, vgl. MEW 2: 40 f., 21: 493)

Allerdings ist die allgemeine Gleichheit, welche die Bourgeoisie dem Proletariat zugestehen möchte, vor allem eine Gleichheit in ihrer Ausbeutung. So beschreibt Marx das Bestreben des Kapitals nach einer Angleichung der Exploitationsbedingungen in allen Produktionsbereichen: „Und gleiche Exploitation der Arbeitskraft ist das erste Menschenrecht des Kapitals.“ (MEW 23: 309, vgl. 419)

Auch bedeutet beispielsweise die Einforderung der Freiheit unter Bedingungen der sozialen Ungleichheit bekanntlich Unterdrückung. Was wäre denn etwa eine Freiheit für die Bourgeoisie ohne die Möglichkeit zur Unterdrückung? Die Freiheit des Menschen, die keinen anderen schaden dürfte, wäre die Freiheit eines sozial isolierten Menschen, eines Eremiten. Praktischen Nutzen erhält das Recht auf Freiheit erst durch seinen Bezug auf das Recht auf Privateigentum. Das bürgerliche Eigentumsrecht bildet dadurch gewissermaßen eines der wesentlichsten Rechte der Bourgeoisie, deren Menschenrechte. (Vgl. MEW 1: 364 f., 19: 190)

Nachdem die französische Bourgeoisie 1789 die Freiheit verkündete, erklärte sie bereits 1791 den ArbeiterInnen, dass ihre Koalitionen als ‚verfassungswidrig‘ und als ‚Attentat auf die Freiheit und die Erklärung der Menschenrechte‘ verstanden werden (Vgl. MEW 23: 769 f.).

Die proklamierten Menschenrechte stellen sich für Marx insgesamt als eine ‚Berechtigung des egoistischen, vom Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderten Menschen‘ dar, die vom bourgeoisen Menschen als des eigentlichen und wahren Menschen ausgeht. „Keines der sogenannten Menschenrechte geht … über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.“ (MEW 1: 366)

Bezogen auf die Ebene des Staates anerkennt für Marx und Engels der bürgerliche Staat die Menschenrechte wie der antike Staat die Sklaverei. „Wie nämlich der antike Staat das Sklaventum, so hat der moderne Staat die bürgerliche Gesellschaft zur Naturbasis, sowie den Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. den unabhängigen, nur durch das Band des Privatinteresses und der bewußtlosen Naturnotwendigkeit mit dem Menschen zusammenhängenden Menschen, den Sklaven der Erwerbsarbeit und seines eignen wie des fremden eigennützigen Bedürfnisses. Der moderne Staat hat diese seine Naturbasis als solche anerkannt in den allgemeinen Menschenrechten.“ (MEW 2: 120)

Während sich beispielsweise Fourier noch damit abmühte, das Fischen, Jagen usw. zu angeborenen Menschenrechten zu erklären, zeigten Marx und Engels ihren Klassencharakter auf. Und indem diese Grundrechte ihre Gültigkeit überwiegend auf die Bourgeoisie beschränken und lediglich in verkümmerter Form auch für das Proletariat gelten, stellen sie einen Gegensatz zum Kommunismus dar, der als Endziel die tatsächliche Befreiung der gesamten Gesellschaft hat.

Parteilichkeit und Bewusstsein

Dass die Sozialrechtsbewegten zu ihren Zielen, deren strategische Konsequenzen und den entsprechenden Methoden gelangen, hängt entscheidend zusammen mit ihrem weltanschaulichen Ausgangspunkt und ihrem gesellschaftlichen Ziel. Ideologische Grundlage, politischer Bezugsrahmen, praktische Umsetzungsmethoden und faktische Perspektive sind schlichtweg bürgerlich. Dabei erscheint ihnen ihre Sichtweise als gründlichste und allgemeinst mögliche Form.

Im Gegensatz zur bürgerlichen Sichtweise kann sich aber tatsächlich nur ein von einem proletarischen Klassenstandpunkt ausgehendes Erkenntnisinteresse weitergehend entfalten. Der Vorzug dieses Standpunktes besteht für den Marxismus bereits darin, dass dieser keine klassenbedingten Einschränkungen in ihren Erkenntnisinteressen hat. Gerade zur Vermeidung einer Einseitigkeit in der Erfassung der Wirklichkeit sehen Marx und Engels einen solchen Standpunkt als erforderlich. Eine Theorie wird also sozusagen dadurch interessant, dass sie bestimmte Interessen vertritt.  „Die ‘Idee’ blamierte sich immer, soweit sie von dem ‘Interesse’ unterschieden war.“ (MEW 2: 85, vgl. 20: 312, Lenin, Wladimir I.: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. In: Ders.: Werke, Bd. 14. Übers. d. 4. russ. Ausg., Dietz, Berlin, 1977, 347)

Indem sich Klasseninteressen in den unterschiedlichen Theorien wiederfinden, ist stets eine dementsprechende ideologische Komponente zu berücksichtigen – auch wenn sie sich keineswegs in allen Bereichen mit derselben Wirkung zeigt. In der Regel ergibt sich ihr Einfluss dort besonders stark, wo ihre Interessen in direktester Weise berührt werden, also verständlicherweise vor allem in Theorien zu den verschiedenen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, also vor allem den Sozialwissenschaften. Bürgerliche Sozialwissenschaft stellt bestenfalls ein regelrechtes Kunstwerk zur Vermeidung wesentlicher Erkenntnisse dar und kann kaum mehr erforschen, als die unmittelbar beabsichtigten gesellschaftlichen Wirkungen menschlicher Handlungen. Sie ist zwangsläufig ein theoretischer Ausdruck bürgerlich organisierter Gesellschaft. (Vgl. MEW 1: 499, 20: 455, Trotzki, Leo: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution. Übers. aus d. Engl.. I. Deutscher u.a. (Hrsg.), Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1981, 355 f., 399)

Lukács spitzt die Bedeutung der Parteilichkeit noch weiter zu. Während er vom Standpunkt der Bourgeoisie aufgrund der daraus resultierenden Befürwortung des Kapitalismus‘ aus lediglich ein unhistorisches Begreifen der Wirklichkeit für möglich hält, sieht er die Erkenntnis der eigenen Klassenlage als Handlungsvoraussetzung für das Proletariat als ein existentielles Bedürfnis. Das geeignete Mittel zur Wirklichkeitserkenntnis für den proletarischen Klassenstandpunkt findet er in der materialistischen Dialektik. Mit dieser lässt sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erkennbar machen. Es sind allerdings erst die konkreten Erfahrungen des Klassenkampfes, aus denen eine solche Erkenntnis gesellschaftlicher Totalität resultieren kann. Der Unterschied des Proletariats zu anderen Klassen erweist sich schließlich darin, „dass es bei den Einzelereignissen der Geschichte nicht stehenbleibt, von ihnen nicht bloß getrieben wird, sondern selbst das Wesen der treibenden Kräfte ausmacht und zentral handelnd auf das Zentrum des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses einwirkt.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 152, vgl. 67 f., 87, 88 – 90, 201, 267)

Dem in der Regel individuellen Standpunkt bürgerlicher Erkenntnisbildung setzt Lukács folglich die Notwendigkeit eines proletarischen Standpunktes aus der Perspektive der gesamten Klasse entgegen: „Die Totalität des Gegenstandes kann nur dann gesetzt werden, wenn das setzende Subjekt selbst eine Totalität ist; wenn es deshalb, um sich selbst zu denken, den Gegenstand als Totalität zu denken gezwungen ist.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 96)

Im Unterschied zur Bourgeoisie, welcher die von ihr entfesselten Mächte als undurchschaubar erscheinen und die ihre gesellschaftsumwälzende Funktion nur unbewusst vollziehen kann, ergibt sich diese Funktion für das Proletariat nur aus einer bewussten, historischen und gesamtgesellschaftlichen Perspektive. „Erst mit dem Auftreten des Proletariats vollendet sich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sie vollendet sich eben, indem im Klassenstandpunkt des Proletariats der Punkt gefunden ist, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 87)

Die Wahrheit über die gesellschaftliche Wirklichkeit wird für Lukács damit zu einer ‚siegbringenden Waffe‘ für das Proletariat. Gerade auch „weil das Proletariat sich als Klasse unmöglich befreien kann, ohne die Klassengesellschaft überhaupt abzuschaffen, muß sein Bewußtsein, das letzte Klassenbewußtsein in der Geschichte der Menschheit, einerseits mit der Enthüllung des Wesens der Gesellschaft zusammenfallen, andererseits eine immer innigere Einheit von Theorie und Praxis werden.“ (Lukács, Georg: a.a.O., 154, vgl. 151)

Mit den Worten von Marx: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“ (MEW 1: 391)

Die marxistische Parteilichkeit ist also nicht einfach zu verstehen als eine Konsequenz aus sozialen Erwägungen oder ethischen Prinzipien, sondern vor allem als Ausdruck eines methodisch begründeten Standpunktes und eines vitalen Bedürfnis eines gesamtgesellschaftlichen Interesses. Sie stellt einen Ansatz zur Überwindung willkürlicher Einseitigkeiten und eine Verpflichtung zu umfassender Vielseitigkeit dar. Sie gibt sich nicht zufrieden mit einer bloß aktuellen Einschätzung, bezieht sich nicht bloß auf eine eingeschränkte Auswahl unmittelbarer gesellschaftlicher Gegebenheiten oder eine vordergründigen Beschreibung verschiedener Sachverhalte, sondern bezieht sich auf den historischen Kontext, drängt zu einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive und strebt zur Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft. Sie ist die praktische Umsetzung wesentlichsten Elemente der marxistischen Philosophie, die materialistischen Dialektik in ihrer gesellschaftlichen Konsequenz.

Klassenperspektiven

Wenn also Marx und Engels bereits 1850 in entschiedener Weise die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von bürgerlichen Einflüssen und der organisatorischen Selbständigkeit der Arbeiter betonen, dann ist das in einem direkten Zusammenhang mit diesem philosophischen Hintergrund zu verstehen. (Vgl. MEW 7: 244 – 249)

Engels beklagt sich darum oftmals über die anstrengenden ‚Einigungsschreier‘ und kritisiert die vermeintliche ‚Unparteilichkeit‘ eines über allen Klassenkämpfen und Klassengegensätzen erhabenen Standpunktes. Obwohl sich bereits zu seiner Zeit jede bürgerliche Partei für eine allgemeine Verbrüderung aller Menschen eintritt, setzte sich bereits damals keine tatsächlich dafür ein. (Vgl. MEW 2: 641, 22: 270, 33: 590, 34: 425)

In krisenhaften Zeiten wird sich die Bourgeoisie zwar verstärkt um eine Ideologie des sozialen Zusammenhalts zur Sicherung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse bemühen, aber sie wird zugleich eine zunehmend repressive Politik umsetzen. Diese widersprüchliche Erscheinung, die den Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Schein und Sein ausdrückt, verdeutlicht sich umso mehr, je aktiver sich das Proletariat dazu verhält. Engels schreibt hierzu an Laura Lafargue: „Die Bourgeoisie wird von dem Augenblick an, da ihr ein bewußtes und organisiertes Proletariat entgegentritt, in hoffnungslose Widersprüche verstrickt zwischen ihren liberalen und allgemein demokratischen Bestrebungen hier und den Unterdrückungsmaßnahmen in ihrem Verteidigungskampf gegen das Proletariat dort.“ (MEW 36: 540)

Soweit sich der Klassenkonflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat zuspitzt, stellt sich nun noch die Frage, wie die sich zwischen beiden befindlichen Bevölkerungsteile einzuschätzen sind. Um hierzu keine allzugroßen Illusionen entstehen zu lassen weist Engels darauf hin, dass sich die Mittelschichten im Klassenkampf nicht schlichtweg auf die Seite des Proletariats begeben und spricht sich nicht zuletzt darum gegen einen massenhaften Zulauf aus dem Kleinbürgertum wegen der darin bestehenden bornierten Klassenvorurteile aus. (Vgl. MEW 7: 522, 36: 539 f.)

In diesem Sinne stellen Marx und Engels zu deren demokratischen Partei fest: „Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird.“ (MEW 7: 247)

Und was ist hierbei für das Proletariat vorgesehen? „Was die Arbeiter angeht, so steht vor allem fest, daß sie Lohnarbeiter bleiben sollen wie bisher, nur wünschen die demokratischen Kleinbürger den Arbeitern besseren Lohn und eine gesichertere Existenz und hoffen dies durch teilweise Beschäftigung von seiten des Staates und durch Wohltätigkeitsmaßregeln zu erreichen, kurz, sie hoffen die Arbeiter durch mehr oder minder versteckte Almosen zu bestechen und ihre revolutionäre Kraft durch momentane Erträglichmachung ihrer Lage zu brechen.“ (MEW 7: 247)

Im Gegenzug rufen Marx und Engels dazu auf, die Revolution permanent zu machen, bis die besitzenden Klassen von der Herrschaft in weltweitem Maßstab verdrängt sind. „Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ (MEW 7: 248, vgl. 247 f.)

Ähnlich möchte heute die Sozialrechtsströmung zur Erweiterung ihrer Unterstützung und Verbesserung ihrer Durchsetzungsmöglichkeiten eine klassenübergreifende Plattform. Sie bemerkt nicht, dass sie gerade durch diesen übergreifenden Ansatz ihren Handlungsspielraum drastisch einengt. Darüber hinaus muss sie sich selbst zum Tragen ihrer bürgerlichen Scheuklappen verpflichten, die ihr einen proletarischen Klassenstandpunkt als Einengung erscheinen lassen.

Das Problem der globalen sozialen Rechte ist also nicht einfach die Illusion der Durchsetzbarkeit, sondern die damit verbundene aktive Schaffung falschen Bewusstseins, die Ablenkung von den erforderlichen Auseinandersetzungen und die lediglich innerhalb des bürgerlichen Rahmens sich bewegende Strategie mit der entsprechenden Taktik der Bindung der Arbeiterklasse an die Interessen der Bourgeoisie. Um bürgerliches Eigentum nicht durch sozialen Unfrieden zu gefährden, sollen alle angemessen leben dürfen. Und für diese Utopie einer alle grundlegend versorgenden und sozial absichernden bürgerlichen Gesellschaft soll letztlich eine revolutionäre Perspektive für eine sozialistische Gesellschaft vermieden werden.

Die Einforderung globaler sozialer Rechte präsentiert sich schließlich zwar zukunftsorientiert, stellt sich aber klar in die bürgerliche Tradition der Menschenrechte. Diese Tradition ist allerdings weder vorwärtsgerichtet, noch neu. Engels meinte bereits 1886: „Wie ihrerseits die Bourgeoisie im Kampf gegen den Adel die theologische Weltanschauung noch eine Zeitlang aus Überlieferungen mitgeschleppt hatte, so übernahm das Proletariat anfangs vom Gegner die juristische Anschauungsweise und suchte hierin Waffen gegen die Bourgeoisie.“ (MEW 21: 493)




Die ökologische Krise des Kapitalismus

Janosch Janglo, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Neben der Aggressivität des Imperialismus und der Verelendung durch Ausbeutung und Unterdrückung ist heute die Schädigung der natürlichen Lebenswelt die dritte große Gefahr, die dem kapitalistischen System entspringt.

Die aktuelle Debatte zum Klimawandel offenbart dazu am deutlichsten, dass der Weg aus der ökologischen Krise nur über eine Überwindung des gegenwärtig herrschenden kapitalistischen Systems führen kann – da der Kapitalismus ähnlich wie im sozialen Bereich hinsichtlich einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft nicht reformierbar ist. Er beinhaltet nicht die Möglichkeit einer Lösung dieser Krise, weil er durch seine Wirkmechanismen diese Krise permanent hervorruft – unfähig auch nur im Ansatz dauerhaft den Konflikt Natur und Mensch so zu gestalten, dass er sich für beide Seiten als tragbar gestaltet.

Absage an einen ökologischen Kapitalismus

Der vierte Klimabericht der „Vereinten Nationen“ zeigt der Menschheit dabei wie in allen Berichten davor auch schon: es gibt kein Rückfahrticket für die globale Erwärmung, egal was auch passiert! Die Frage stellt sich nur nach dem zukünftigen Ausmaße für diese umwälzende Bedrohung der Menschheit. Und an diesem Punkte erweist sich das System Kapitalismus eben als absolut unfähig diese selbst hervorgerufene Krise, die das Fortbestehen großer Teile der Menschheit in Frage stellt, in ihren Auswirkungen zu begrenzen.

Nach besagtem, sehr vorsichtigem Bericht, wird jetzt in allen Szenarien von einem weitaus schnelleren Anstieg der Erderwärmung ausgegangen, wie bisher („optimistisches“ Szenario: 1,8 Grad Celsius bis zur Jahrhundertwende; „realistisches“ Szenario: 3,4 Grad Celsius). Dies bedeuted z.B. einen Anstieg des Meeresspiegels um mindestens 19-37 cm und höchstens um 26-58 cm. Ein Anstieg um 40 cm würde dabei den Verlust des Lebensraums von etwa 200 Millionen Menschen bedeuten! Hauptleidtragende dabei wären nicht die Industrieländer – vor allem in Ländern, die jetzt schon durch soziale und ökologische Katastrophen geprägt sind, wie Bangladesch, würden Millionen Menschen zu Opfern des Klimawandels.

Im Angesicht dieser akuten Bedrohung wird noch nicht mal ein ernsthafter Versuch gestartet, das Ruder rumzureißen. Was Medien als manipulatives Sprachrohr der herrschenden Klasse nicht ohne Wirkung unter die Bevölkerung streuen, ist nichts weiter als vernebelnde Lippenbekenntnisse parlamentarischer Vasallen. Aktuellstes Beispiel dafür, der Streit um die CO2 – Reduktionsziele in Deutschland und Europa. Das von Deutschland angekündigte Ziel seine Treibhausgas-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 abzusenken, bedeuten zweierlei: zum einen den Griff in die Trickkiste und zum anderen harte Einschnitte primär für den Verbraucher, aber nicht für die industriellen Hauptemittenten. Das Bezugsjahr 1990 ist dabei geschickt gewählt, da zu diesem Zeitpunkt die ostdeutsche Industrie noch flächendeckend mit veralteter und damit emissionsintensiver Technik in Betrieb war. So sparte Gesamtdeutschland nach fast vollständigem Zusammenbruch dieser dadurch rund 19 Prozent an CO2-Emissionen gegenüber 1990 ein (1). Die weiteren Einsparungen gehen zu Lasten der sozial Benachteiligten über höhere Kraftstoffbesteuerung, Ausweitung der Mautgebühr für Pkws und CO2-abhängige Kfz-Steuern. Das die Einsparungen hauptsächlich bei den vergleichsweise eher unbedeutenden Verbrauchern geschehen sollen, haben natürlich einen Grund: aufgrund der permanenten Konkurrenz  lassen dem Kapitalismus auf nationaler Ebene keinen Spielraum in teure effizientere Umwelttechniken zu investieren. Ein gutes Beispiel, um diese Unfähigkeit des Systems zu zeigen, mit dieser Krise fertig zu werden, ist das Fiasko Kyoto. Hier sollten die Emissionen um einen kleinen Beitrag reduziert werden. Die osteuropäischen Länder hatten nach der Deindustrialisierung einen „Überschuss“ an Verschmutzungsrechten zum Verkaufen an die hoch industrialisierten Staaten. Deshalb bedeutet die Vereinbarung von Kyoto auch keine wirkliche Verringerung der Emissionen.   Aber selbst dieser winzige und billige Schritt war für die Kapitalisten in den USA und Australien inakzeptabel, aus Angst dies könnte erst der Anfang sein, da die USA 25 % aller Treibhausgase erzeugen, fast doppelt so viel wie die Konkurrenten in der EU (2). Folglich würden ihre Profite unverhältnismäßig stark im Vergleich zu den Europäern geschmälert. Der Klimawandel bedarf einer internationalen Zusammenarbeit, die aber aufgrund imperialistischer Rivalitäten nicht möglich ist. Das ist des Pudels Kern.

Der Kapitalismus ist vom Charakter seiner Organisiertheit her zu einer nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft gar nicht fähig. Dies ist gar nicht anders möglich in einer Ökonomie, in der der Arbeitsprozess nicht in Vorhinein, sondern nachträglich,  durch die Form des Tauschwerts gesteuert wird. Also Verwertbarkeit und anarchisch hergestellter Gesamtzusammenhang die Berücksichtigung langfristiger sozialer ökologischer Ziele notwendig hintertreiben. Denn die Gesetze der Kapitalakkumulation und erweiterten Reproduktion zeigen die Notwendigkeit von ständigem Wachstum zur Aufrechterhaltung der Profite und folglich auch enormen Ressourcenverschwendung. Die kapitalistische Gesellschaft kann also niemals mit geringer Materialintensität arbeiten. In dieser Situation macht der Staat als ausführendes Organ des Kapitals nur das, was er unter den Rahmenbedingungen einer weltweit funktionierenden verschärften Konkurrenz tun muss: der Schutz seines Standortvorteils für hohe Profitraten und damit „seiner“ Konzerne. Bessere Umweltstandards verbunden mit zum Teil hohen Investitionen, die die Profite der Konzerne schmälern würden, wären hier nur von Nachteil. Somit halten staatliche und europäische Institutionen Grenzwerte- und Schwellenwerte für Schadstoffausstöße, Prüfungsverfahren für neue Produkte und Standards für deren Entsorgung relativ zum Produktionsverfahren und letztlich vom Produkt ausgehenden Gefahrenpotential gering.

Die Braunkohle als energiepolitisches Trauerspiel

Beispiel Braunkohle: obwohl der Energieträger mit dem höchsten Ausstoß an CO2 je Kilowattstunde, wollen Konzerne in den kommenden Jahren 26 neue Kohlekraftwerke in Deutschland ans Stromnetz bringen (3). Werden diese Pläne so umgesetzt, werden diese neuen Kraftwerke 150 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr freisetzten. Ihre Leistung entspräche nur etwa einem Fünftel der in Deutschland installierten Kraftwerksleitung, ihre Kohlendioxid-Emissionen aber mehr als der Hälfte des allen Kraftwerken in den Jahren 2008 bis 2012 zugestandenen Ausstoßes (4). Dass dieser klimapolitische Irrsinn durchaus noch politisch gefördert und voraussichtlich auch umgesetzt werden wird, zeigt beispielsweise eine erst kürzlich bekannt gewordene vom Land Brandenburg in Auftrag gegebene Studie. Sie gibt eine klare Empfehlung ab: 7 neue Tagebaue sollen auch über 2030 die neuen Kraftwerke mit Kohle versorgen, betroffen davon werden allein in Brandenburg mindestens 6000 Einwohner sein, die wegen der Braunkohleförderung zwangsumgesiedelt werden müssten (5). Ganz abgesehen von menschenverachtender Vertreibung, der fast völligen Verwüstung einer ganzen Region und der Verschärfung der Krise der globalen Erwärmung, ist hier die rechtliche Durchsetzbarkeit eines solchen Vorhabens erstaunlich – und diese hat sich das Kapital über bürgerliche Gesetze natürlich geschaffen! Zu nichts Anderen sind bürgerliche Parlamente auch beauftragt, nämlich über gesetzliche Vorraussetzungen der Kapitalverwertung auch in ihrer unmoralischsten Form den Weg zu ebnen. Um auch die richtigen Gesetze für seine Herren zu verabschieden, holt man sich schon mal den Chef von Vattenfall (6) zum „Klimaschutzbeauftragten“ in das Bundesumweltministerium. Hier wird bezüglich des Klimaschutzes der Bock zum Gärtner gemacht. Aber damit der Bock kein Bock mehr bleibt, bügelten PR-Strategen die Weste der Braunkohlenverstromer wieder glatt. Das so genannte „Clean-Coal“-Verfahren zur CO2-Abscheidung soll Braunkohle als Energieträger sauber machen. Der verfahrenstechnische Haken bei dieser Technik ist, dass der mit ca. 42 Prozent sowieso schon geringe Wirkungsgrad der Braunkohle durch die CO2-Abscheidung um satte 10 Prozent zurückgehen würde (7). Dies bedeutet ein Viertel weniger Strom je Tonne Braunkohle und somit auch weniger Profit. Klar, dass diese Technik über das Versuchsstadium kaum hinaus kommen wird. Helfen wird es aber bei der Argumentation, auch weiterhin Landschaften für die Abbaggerung in Anspruch nehmen zu können.

Marktmacht der Stromkonzerne

Die Kapitalverwertung in Form der Braunkohleförderung ist gegenwärtig eben, seit die Preise für Öl und Gas und damit die Energiepreise im Allgemeinen explodieren, die profitabelste. Dies führte über Milliardengewinne zur Akkumulation und damit über die Marktbereinigung schwächerer Konkurrenten wie die BEWAG zur Konzentration von Kapital und folglich zum Ausbau einer marktbeherrschenden Position der heute vier großen Stromkonzerne in Deutschland EnBW, Vattenfall, E.on und RWE. Sie teilen sich heute 80 Prozent der Stromversorgung und 100 Prozent der Netze (8). Dieses Monopol ist das Ergebnis der radikalen Liberalisierung. Die Konzerne behielten ihre Stromleitungen, durften sich bei der Regelung des Netzzuganges für Dritte und bei der Preisgestaltung auch noch selbst beaufsichtigen und drängten neue Anbieter vom Markt. Diese Marktmachtposition zumindest auf nationaler Ebene wird in Form illegaler Preisabsprachen, Be- und Verhinderung konkurrierender Technologien und Unternehmen also zur Sicherung der Monopolprofite logischerweise gnadenlos ausgenutzt. Da helfen weder moralische Appelle der Umweltverbände noch politische Umverteilungsstrategien von Organisationen und Parteien keynsianischen Ursprungs, innerhalb des kapitalistischen Systems können Umverteilungsstrategien den Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation und Konzentration des Kapitals nicht entgegenwirken. Die Ursachen der kapitalistischen Produktionsweise bleiben dabei unberührt. Vor diesem Sprung eines solch qualitativen Erkenntnisgewinns sind indes die Umweltverbände noch weit entfernt.

Im aktuellen „Schwarzbuch Klimaschutzverhinderer“ der Umweltorganisation Greenpeace wird ganz richtig aufgezeigt, wie Lobbyisten der Energiewirtschaft als Mandatsträger oder Beamte bundesweit dafür sorgen, dass die Interessen des Kapitals in entsprechende Politik umsetzen. Diese verfilzte Normalität parlamentarischer Entscheidungsträger steht im krassen Widerspruch zur sich abzeichnenden existenzbedrohenden Krise der Menschheit. Unverkennbar wurden von Greenpeace die dem  Klimaschutz entgegenstehenden Konzerninteressen, die diesen mit allen Mitteln blockieren, freigelegt. Hier werden die Verflechtungen von Energiewirtschaft und Politik in Form allein zehn aktueller Bundestagsabgeordneter sowie zwölf gegenwärtiger Landespolitiker dargestellt, die Nebentätigkeiten wie Beirats- und Aufsichtsratsposten bei großen energiewirtschaftlichen Konzernen ausüben. Bestes Beispiel hiefür der designierte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU), der bis 2004 Mitglied im Beirat der E.ON Bayern AG war. Bis zu seinem Amtsantritt war er Vorstandvorsitzender der Unterfränkischen Überlandzentrale, die mehr als 89 Prozent ihres Stromes von der E.on Bayern AG bezieht. Dementsprechend betrieb er natürlich auch im Amt Lobbyarbeit für „seinen“ Konzern und seiner Branche, so forderte er vergeblich im Sommer 2006 eine drastische Senkung der Strafgebühren für die Überschreitung genehmigter CO2-Mengen (9). Aktuelles Beispiel ist die für die Energiewirtschaft vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebene argumentative Schützenhilfe in Form einer Stellungnahme zum Klimawandel, angefertigt von der Bundesanstalt für Geo-Wissenschaften und Rohstoffe Hannover. Hier wird doch schlichtweg behauptet, dass die Sonne und nicht die Industrieabgase Schuld am Klimawandel seien (10). Warum diese Bundesanstalt diesen eigentlich schon wissenschaftlich bewiesenen Fakt leugnet, versteht man, wenn man sieht, wer die Klimaforschung der Bundesanstalt sponsert: im Kuratorium, das die Behörde maßgeblich „berät“ sitzt die Prominenz der Energiewirtschaft, von Exxon Mobile über Konzerne wie Vattenfall und deutsche Steinkohle AG (11). Trotz der massiven Kritik an dieser dubiosen Stellungnahme, nahm die bürgerliche Presse bereitwillig den Inhalt auf, um gleich wieder Zweifel unter die Bevölkerung zu streuen. Dabei zeigt dieses Beispiel noch ein anderes Problem: die Mär von der unabhängigen Wissenschaft. Technologie und Wissenschaft sind nie wertfrei, sondern interessengeleitet. Über die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse entscheiden diejenigen, die Forschung finanzieren und das sind in vielen Fällen eben die Konzerne. Das Kapital greift auch in angeblich freie Forschungsräume ein und bestimmt nicht nur über Lehrstühle und darüber, welche Forschungsansätze für wert befunden werden, also direkt und indirekt Profit versprechen. Das Kapital bestimmt auch, manchmal auf sehr komplexe Weise, welche Projekte zensiert und unterdrückt werden. Verblüffend, wie groß die Einbildung der Forschenden in diesem Land ist, sie Arbeiten „frei.“

Wer Kapitalinteressen nicht (mehr) analysieren kann, wer allumfassende Zensur nicht einmal mehr spürt, ist besonders erfolgreich unterworfen. Schon Karl Marx und Friedrich Engels erfassten diese Unterwerfung der Wissenschaft unter die Interessen des Kapitals im Manifest der Kommunistischen Partei: „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihren bezahlten Lohnarbeiter verwandelt (MEW, Band 4, Seite 465).“

Doch auch so genannte „Ehemalige“ wie Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder sind anschauliche Beispiele, wer eigentlich die Politik im Lande macht. Ihn zog es 2005 nach dem Regierungswechsel als Aufsichtsratsvorsitzender der NEGP Company in die Energiewirtschaft. In seiner Kanzlerschaft förderte er aktiv das Projekt der Ostseepipeline dieses Konzerns (12). Aber auch die Rolle der Gewerkschaften wird von Greenpeace thematisiert, denn in den Aufsichtsräten der Energieversorger sitzen Dutzende von Gewerkschaften als eigentliche Vertreter der ArbeitnehmerInnen. Hubertus Schmoldt (IG BCE) oder Frank Bsirske (ver.di)  sitzen sogar als Bundesvorsitzende in den Aufsichtsräten von E.ON bzw. RWE (13). Logischerweise verdienten sie sich auch ihr Geld als treue Lobbyisten. So mobilisierten die Beschäftigten der Energiewirtschaft für eine Demo Anfang 2007 in Berlin gegen die Zerschlagung der Stadtwerke, Liberalisierung des Strommarktes, aber auch gegen den Klimaschutz. Der deutschen Wirtschaft würden „unfaire Auflagen beim Emissionshandel“ auferlegt (14). Hintergrund ist die geringere Zuteilung von Emissionszertifikaten seitens der EU über 453 Millionen Tonnen (Zertifikate, die sie nicht nur kostenlos erhielten, sondern ihren Ausgabewert ungeniert auf die Strompreise aufschlugen!).  Die deutsche Energiewirtschaft liegt aber mit durchschnittlichen 477 Millionen Tonnen jährlichen Ausstoßes an CO2 darüber und wäre somit gezwungen den Ausstoß zu verringern oder Zertifikate teuer zuzukaufen. Diese Reduzierung des Klimaschädlichen CO2 findet ver.di nun unfair, da diese letzten Endes auch Arbeitsplätze kosten würde. Doch ist dieses Argument grundweg falsch und offenbart hier durch ein gekauftes Gewissen den klassischen Interessenkonflikt der Gewerkschaftsbürokraten, denn den gegenwärtigen ca. 100 000 Beschäftigten im Braun- u. Steinkohlenbergbau, in der Atomenergiewirtschaft sowie Erdgas- und Erdölwirtschaft (15) stehen heute schon 170 000 Arbeitnehmer im erneuerbaren Energiesektor (16) bei einem Gesamtanteil an der Primärenergieproduktion von bisher nur 10 Prozent an der Gesamtstromproduktion (17) gegenüber. Nicht auszumalen welches Potential an Arbeitsplätzen in diesem Bereich steckt, wenn er denn nur stärker anwachsen würde. Dies wäre aber ein klassischer Verdrängungswettbewerb zu Ungunsten fossiler Energieträger, bei dem sich die Großkonzerne natürlich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen und bei jeder Gelegenheit ihre Monopolstellung bzw. Oligopolstellung am Strommarkt verteidigen. Somit wird es keine nennenswerte Steigerung der Anteile erneuerbarer Energien am Strommarkt geben. Folglich konnte sich von den Unternehmen der erneuerbaren Energien noch keines zu ähnlich großen Konzernen aufschwingen mit einer nur annähernd starken Korrumpiermacht, die lukrative Posten für Politiker und Gewerkschaftsbürokraten verspricht, sonst würde eine Bsirske und Co. heute wahrscheinlich auch Interessen großer Windenergiefirmen oder ähnlichen Firmen Erneuerbarer Energien verteidigen.

Krise der Umweltverbände und ihrer parlamentarischen Vertreter

Aber was ist die die Antwort von Greenpeace und anderer Umweltorganisationen auf diesem deutschen Energiefilz? Greenpeace fordert angesichts korrumpierter Politiker und Beamten gar schon die Zerschlagung die Energiemonopole („Zerschlagt die Energiemonopole“ (18)). Doch die Hauptstrategie für ihre Mitglieder dabei ist leider immer die alte, wirkungslose: für einen 10-Punkte-Plan zum Klimaschutz stehen 12 Politiker, Institutionen und Firmen zur Verfügung, bei denen man per Aktionspostkarte und auch selbst entworfenen Protestpamphleten mal so richtig Dampf ablassen kann. Bei eben jenen Politikern, die im parlamentarischen Mechanismus der legalen Bestechung eben nicht die Interessen in Punkto Klimaschutz vertreten wollen und Firmen wie RWE und Porsche diese nicht aus Profitinteressen vertreten können (19). Anstatt die 550 000 Fördermitglieder von Greenpeace zum aktiven Widerstand zu mobilisieren, ziehen sich Umweltbewegte nach dem immer wieder erfolglosen anschreiben gegen diese Krise ohnmächtig in ihre eigenen vier Wände zurück. Die Umweltbewegung steckt letztlich in der Krise, denn die Lösung der ökologischen Krise hat sich durch solche Aktionen und auch durch eine radikale Verweigerungsbewegung nicht entschärft. Unter Linken gab und gibt es ernst gemeinte Debatten, hier entstehe ein neues revolutionäres Subjekt, die klassische Modelle der proletarischen Gegenmachtstrategie  ablösen sollten.

Die Grenzen solcher auch radikalen Verweigerungsbewegungen  wurden spätestens mit den Auseinandersetzungen der Anti-Atombewegungen mit der geballten Macht des bürgerlichen Staates deutlich. Dabei begannen die ideologischen und politischen Kräfte in den Parlamenten und den Medien ihr Ritual der Kombination der Kriminalisierung und Unterdrückung der Radikalität durch Integration in Form von Ausstiegs- und Nachdenkformeln, ohne das System generell in Frage zu stellen. Des Weiteren markierten die von der Gegenseite immer wieder vorgebrachten „Sachzwänge“ die Notwendigkeiten eigene Inhalte und Forderungen entgegenzusetzen. Diese Art der Gegenmacht zeichnete sich nicht durch Radikalität der Aktionsformen oder Eroberung weiterer gesellschaftlicher Bereiche wie der organisierten Arbeiterklasse aus, sondern durch die Entscheidung kleiner bürgerlicher Randkräfte ökologische Parlamentsparteien wie „Die Grünen“ aufzubauen. Ausgerechnet über das Parlament, der für die Bestimmung staatlicher Politik vollkommen überflüssigen Institution, wollte die Umweltbewegung ihren Einfluss erweitern und ihre Kräfte bündeln. Gerade hatte man in den knallharten Auseinandersetzungen mit der bürgerlichen Staatsmacht die Erfahrung gemacht, das parlamentarische Institutionen auf seine Forderungen weder eingehen wollten noch konnten, so wurden die aktivsten Kräfte eben auf diesen „Marsch durch Institutionen“ geschickt. Der Preis dafür war die Umwandlung der Radikalität der „Verweigerungsbewegung“ zur „Wir machen mit“-Initiative im Parlament als einflussloses Areal, das aber umso mehr Kräfte bindet. „Stellvertreterpolitik“ betreibend, ersetzen sie ehemals massenhafte Umweltbewegungen durch parlamentarische Initiativen. Sie täuschen eine Macht und Machbarkeit vor, die nicht annähernd den realen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen entspricht.

Auch die ehemalige PDS und jetzige „Die Linke“ gab sich in einigen Punkten einen grünen Anstrich. Dabei wurde, obwohl von der bei der PDS angesiedelten „Ökologischen Plattform“ in der Diskussion zum neuen Eckpunktepapier eingeforderten radikaleren Forderungen mit eindeutigerem sozialistischem Profil z. Bsp. nach geplanter Wirtschaft, die Messlatte für zukünftige Koalitionspartner nicht allzu hoch gehangen. In allem verfolgt die „Die Linke“ ebenso wie „Die Grünen“ ein klar reformistisches Politikkonzept mit dem Bemühen, die kapitalistische Gesellschaft durch einen Plan von finanziell abgesicherten Maßnahmen schrittweise aus ihrer ökologischen Krise und zu einer nachhaltigeren Produktionsweise zu führen. Dabei soll mit einem hohen Maß an staatlicher Kontrolle eine autarke Wirtschaft geschaffen werden, also ein Programm, das in die entgegengesetzte Richtung weist, weg von einer internationalistischen Sichtweise, eine Sichtweise die nationale Vorurteile schafft. Aber selbst eine Regierung die mehr staatliche Kontrolle schafft, gerät mit dem weiter bestehenden Markt alsbald in Konflikt, wenn er Wachstum und Profiten im verstärkten Maße im Weg steht. Die Grundlagen der Marktmechanismen sind somit eine klare Absage an einen ökologischen Kapitalismus.

Dies ist klar eine Verdrehung der ursprünglichen Radikalität der Umweltbewegung: statt der Entwicklung gesellschaftlicher Gegenmacht, wird eine Entwicklung der gesellschaftlichen Macht versprochen, die die Bedürfnisse aller einzulösen vorgibt, d.h. die Klassengesellschaft durch einen Konsens zwischen den Klassen aufzuheben. Heute haben diese reformistischen Kräfte grünen Anstriches zu jeder Problemlage und „Politikfeldern“ inflationär Programme und Strategien entwickelt, die anstatt Oppositionskräfte zu stärken sie absorbieren und desorientieren. Diese strategische Fehlentwicklung des Reformismus, hervorgerufen durch die Absage an Radikalität und marxistischer Theorie, führte zu einem untauglichen Konzept der Schadensbegrenzung und endet letztlich beim bloßen Managen der Krise.

Die Ohnmacht der Verbraucher

Hierzu gehört auch die Phraseologie vom verantwortungsvollen Verbraucher die auch die Umweltverbände und „aufgeklärte“ Bürger immer wieder bemühen. Die Verbraucher seien Schuld, sie sind es letztlich, die nach Autos, Einwegflaschen verlangen und immer noch nicht zum Ökostromanbieter gewechselt sind. Das ist die eigentliche Crux dieses Bildungsbürgertums mit all ihren Umweltbildungsvereinen, das Pferd eigentlich von hinten aufzäumen zu wollen. Anstatt die Realität des Seins, das das Bewusstsein schafft, wird hier versucht, die gesellschaftlichen Realitäten außer acht lassend, über Bewusstseinsbildung die Gesellschaft von innen heraus zu verändern, nicht erkennend, dass man seit Jahrzehnten schon in eigenem Saft schmort. Hier werden die den Menschen permanent umgebenden und prägenden sozialen und kulturellen Verhältnisse im Kindergarten, Schule und am Arbeitsplatz, die sich natürlich auch in den Familien widerspiegeln, die manipulative Kraft der bürgerlichen Medien und Produktwerbungen vollkommen außer Acht gelassen oder total verklärt. Letzteres, die Stimulation der Nachfrage am Markt, entscheiden über Erzeugnisse und nicht der tatsächliche Sinn eines Produktes, sein echter Gebrauchswert, und schon gar nicht eine gesellschaftliche Abwägung von Wünschen und Verträglichkeit. Das jährlich zu wechselnde Mobiltelefon, bei dem die Telefon-Funktion schon zur Nebensache wird, ist beispielhaft für diese Produktion von Bedürfnissen.

Damit pervertiert der Markt: eine Nachfrage muss erst künstlich geschaffen werden, um für ein Angebot Konsumenten zu finden. Somit mündet der Kapitalismus in eine ungeheure Verschwendung nicht aus privater Verschwendungssucht, sondern als Konsequenz des permanenten Zwangs der Kapitalverwertung. Auf der anderen Seite schwindet mit der wachsenden auch absoluten Verelendung für eine größer werdende Zahl überhaupt die Wahlmöglichkeit. Hier bleibt nur noch das Vertrauen in die „ökologische“ Orientierung von Aldi & Co..

Diese Zusammenhänge ausblendend, argumentieren auch die reformistischen Linken der PDS, dass es eine marktwirtschaftliche Neuorientierung zugunsten der Umwelt und zu Lasten bisher befriedigter Individualbedürfnisse geben muss. Mittlerweile gibt es unendlich viele Kataloge und Einkaufsführer, was nicht getan, nicht gekauft und nicht gegessen werden darf. Nun hat dieser Ansatz bisher kaum nennenswerte Massenkraft entwickeln können. Wie auch, wenn sich der Verbraucher in seiner Verweigerungshaltung nicht die Kraft der solidarischen Masse erfahren kann, sein Widerstand somit auf einer rein individualisierten Ebene abläuft. Somit kommen alle potentiell Beteiligten in rationalen Überlegungen zum Schluss, ihr Beitrag sei entweder vergeblich oder überflüssig. Die Folge ist eine rationale Passivität. Zudem wird nicht erkannt, dass der Verbraucher das letzte Glied in der Produktion in Verwertungskette. Zudem sind sie gleichzeitig als Arbeitskräfte in die Kapitalverwertung mit eingebunden, entwickeln also ein Eigeninteresse am Erhalt „ihres Betriebes“, auch wenn er schädliche Produkte erzeugt oder die Umwelt schädigt. Somit sind das Nachfrageverhalten und die Bedürfnisse der Konsumenten im Kapitalismus total deformiert. Wie schon Marx bemerkte: „Nicht nur der Gegenstand der Konsumtion, sondern auch die Weise der Konsumtion, wird daher durch die Weise  der Produktion produziert, nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv. Die Produktion schafft auch den Konsumenten“. Daneben schauen eben beim Einkaufen immer mehr in erster Linie auf den Preis – umso mehr in den Zeiten von Lohndumping und Hartz IV.

Kein Ausstieg aus dem Kapitalismus

Diese Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und deren Produktion führt zum destruktiven Verhältnis gegenüber der Natur. Somit wird der einzelne Ausstieg aus dem vom Kapital diktierten Konsum genauso schwer zu bewerkstelligen sein, wie der individuelle Ausstieg aus der Produktion und Verhältnissen der Lohnarbeit. Auch die Aussteigerprojekte von nach ökologischen Richtlinien lebenden Kommunen, können den Marktgesetzten und der Ausbeutung durch den Markt nicht entkommen. Projekte wie der „Karlshof“ bei Templin, die eine „nicht kommerzielle Landwirtschaft“ betreiben und aus „dem Koordinationssystem von Markt und Staat“ austreten (!) wollen, sowie „gesellschaftlichen Raum wiederaneignen“ wollen (20), haben es noch nicht verstanden, dass die Aneignung gesellschaftlichen Raumes erst durch die Aneignung politischer Macht erfolgen kann. Zumal kann man nicht einfach aus Markt und Staat austreten, da es ein eigenes Himmelsreich auf Erden losgelöst von den permanent wirkenden marktwirtschaftlichen und staatlichen Realitäten nicht geben kann. Der Staat und seine Kommunen treiben in jedem Falle Grundstückssteuern, Abwassergebühren etc. ein. Zwar ist man abgekoppelt von der Ausbeutung durch Lohnarbeit eines Kapitalisten, ihre Mitglieder werden aber entweder selbst zu solchen auch mit dem Resultat der Selbstausbeutung oder sie bleiben gefangen in den Mühlen staatlicher Beihilfen mit entsprechenden sozialrechtlichen Repressionsmöglichkeiten. Somit sind solche „Aussteigermodelle“, so groß ihre Gemeinschaft auch sein mag, in Wirklichkeit gar keine, da die Schaffung gesellschaftlichen Eigentums und damit den einhergehenden Arbeitsbedingungen statt privaten Eigentums erst eines revolutionären Umwälzungsprozesses bedarf. Daher kann es innerhalb des Systems keinen Freiraum für die Herausbildung nicht-kapitalistischer Eigentumsverhältnisse geben.

Diese Logik beinhaltet auch eine Absage an eine Ökologisierung der Marktwirtschaft. Auflagen, Verbote und Grenzwerte passen nicht in die Marktphilosophie und widersprechen der neoliberalen Offensive der Deregulierung. Bestes Beispiel hiefür sind die schon erwähnten Verschmutzungsrechte für CO2-Emissionen. Jedes Unternehmen kauft Zertifikate, die zu einer bestimmten Menge von Schadstoffemissionen berechtigen, dabei sind die Zertifikate wie Aktien zu erwerben und weiterzuverkaufen. Der Staat bräuchte nur noch nach Stand der Technik Grenzwerte für Emissionen festlegen der Rest regelt der Markt. Somit seien stark umweltverschmutzende Unternehmen gezwungen viele teure Zertifikate zukaufen zu müssen, um die Produktion aufrecht halten zu können und seien zukünftig dadurch gezwungen in fortschrittlichere Technik zu investieren oder die Produktion gar aufzugeben. Eine solche Regelung ist erst einmal nichts weiter als eine bloße Verteilung von Umweltverschmutzung über den Markt. Von Umweltsanierung oder gar -schutz kann keine Rede sein. Ein weiteres Problem besteht dabei in der Gefahr des Hortens und Spekulierens der Unternehmen mit solchen Zertifikaten. Konzerne mit viel Kapital könnten durch Zukauf das Angebot von Zertifikaten künstlich verknappen, um Konkurrenten zu behindern.

Arbeiterbewegung und Ökologie

Dies heißt natürlich nicht, dass der Kampf gegen Umweltzerstörung, -verschmutzung und Emissionen bis zur Überwindung des Kapitalismus aufgeschoben werden soll. Im Gegenteil: Die Klasse, die das zentrale Element der Produktivkraftentwicklung darstellt, die Arbeiterklasse, hat in ihrem Klassenkampf mit dem Kapital auch die Macht und das Interesse zum Widerstand gegen die Destruktivkräfte des Kapitals – etwas, was die kleinbürgerliche Umweltbewegung in den imperialistischen Ländern systematisch ausblendet. Schon seit ihrem Beginn hat die Arbeiterbewegung die zerstörerischen Seiten des kapitalistischen Produktionsprozesses im Kampf um die eigenen Gesundheits- und Lebensbedingungen ins Zentrum der Auseinandersetzungen mit dem Kapital gestellt. Zahllose Sicherheitsbestimmungen, Emissionsbegrenzungen, Schadstoffverbote, Wohngebietssanierungen usw. usf. sind Resultate eines langwierigen Kampfes der Arbeiterbewegung. Mit der Entwicklung des Imperialismus waren jedoch solche Errungenschaften stark auf die imperialistischen Länder konzentriert, und auch hier eher auf die besser gestellten, arbeiteraristokratischen Teile der Arbeiterklasse. Gleichzeitig entwickelte die Einbindung des Reformismus in die imperialistische Staatsmaschinerie eine systematische Ignoranz gegenüber ökologischen Problemen in Gewerkschaften und reformistischen Parteien, sofern es nicht unmittelbar Betroffenheit bei der arbeiteraristokratischen Klientel gab. Die Wiederaneignung der ökologischen Frage durch die Arbeiterbewegung ist daher untrennbar verbunden mit dem Kampf gegen die bornierte Dominanz der reformistischen Bürokratie.

Mit der drohenden ökologischen Katastrophe muss die Frage des Kampfes um Umweltstandards wieder zu einem einigenden Band werden, das für ArbeiterInnen in imperialistischen Ländern wie in Halbkolonien, in Beschäftigung wie in prekären Verhältnissen in allen ihren Auseinandersetzungen mit dem Kapital wieder einen zentralen Stellenwert einnehmen muss. Von der Energiewirtschaft, der Verkehrspolitik bis zur Gestaltung der Produktionsprozesse müssen Forderungen entwickelt werden, deren nachhaltige Umsetzung notwendig die Kontrolle der Arbeiterklasse über die Produktion bedeuten muss, soll dieser Planet über dieses Jahrhundert hinaus noch bewohnbar sein.

Begrenzte Erneuerbare Energien

Viele Umweltschützer klammern sich an den scheinbaren CO2-neutralen Strohhalm Erneuerbare Energien. Diese stehen im Kapitalismus aber ebenso unter der Profitlogik. Somit ist der Import von billigerem Palmöl für die Biodieselproduktion rentabler und damit attraktiver als heimische Rohstoffe wie Rapsöl. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Palmölplantagen auf ehemaligem Regenwaldgebiet stehen und auch weiterhin Regenwald zu diesem Zwecke abgeholzt wird. Regenwald ist aber eine wichtige Kohlenstoffsenke. Hier wird unter dem Diktat des Profits, das Prinzip einer gewissen CO2-Neutralität ins entgegensetzte verkehrt. Bio ja, aber nicht mehr Öko. Längst haben die großen Energie- und Gentechnikkonzerne die Marktlücke entdeckt und geben sich nun in zynischer Weise auch noch ein „Bio-Prädiket“.

Anstatt in erster Linie die Energieeinsparpotentiale, die in dieser energieintensiven Gesellschaft enorm sind, zu nutzen, wird versucht oder angestrebt einen Großteil des gegenwärtigen Strom- und Treibstoffverbrauchs durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Dies ist aber bezüglich der zum Einsatz kommenden begrenzten Biomasse gar nicht möglich und zweitens auch gar nicht wünschenswert. Denn mittlerweile hat dieser Boom nachwachsender Rohstoffe weltweit zu einer Flächenkonkurrenz zwischen der Lebens- und Futtermittelindustrie und der Produktion für Biogas, Biodiesel und Bioethanol geführt. In Mexico zum Beispiel haben sich die Maispreise extrem verteuert, da Mais verstärkt in die USA für die Bioethanolproduktion exportiert wird (21). Leidtragende sind wieder mal die Armen, die auf Mais als traditionelles Lebensmittel angewiesen sind. Letztlich wird diese Flächenkonkurrenz zu einer weltweiten Rohstoffverknappung führen, die am Ende die Lebensmittelpreise in die Höhe steigen lassen werden. Somit müssen Menschen in der „dritten Welt“ noch mehr hungern, damit die Oberklasse auch weiterhin auf der Nordhalbkugel nicht zum Stillstand kommt. Zu dieser sich verschärfenden Flächenkonkurrenz kommt zudem, dass es für die Energieerzeugung schlichtweg gegenwärtig zu den bestehenden Techniken keine Alternativen gibt. Hier ist am Horizont neuer Technologien (z. Bsp. Kernfusion) nichts Gangbares in Sicht. Das Marktsystem zeigt sich unfähig, die notwendigen wissenschaftlichen Durchbrüche zu liefern. Zu einem entstehen riesige Kosten für die Entwicklung neuer Ansätze, vor allem sind aber momentan, da Profite immer Köder für Investitionen sind, eben fossile Brennstofftechnologien am profitabelsten.

Möglichkeiten sozialistischer Planung

An dieser Stelle muss das gefordert werden, was Unternehmen natürlich ausdrücklich vorenthalten: die Offenlegung der Emissions- und Schadensbuchführung sowie der Geschäftsbücher und deren uneingeschränkte Kontrolle durch Beschäftigte und Verbraucher. Das Recht zur Kontrolle über Produkte und Produktion muss auf sie ausgedehnt werden. Arbeiter müssen ein Veto-Recht bezüglich gesundheits- und umweltgefährdender Produktion und Produktionsabläufen bei alten und neuen Produkten erhalten. Dieser Kampf um die Machtverhältnisse in den Betrieben ist antikapitalistisch und wird keine Illusionen im Hinblick auf einer möglichen Selbstreparatur des Systems erzeugen. An dieser Stelle muss die Ökologiebewegung von ihrem elitären Ross steigen und die ökologische Frage endlich mit der sozialen verknüpfen, sie kann nur Erfolg haben, wenn sie mit der Arbeiterklasse verschmilzt und ein gemeinsames Ziel erklärt: die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft als einzige Grundlage, Umweltprobleme zu lösen. Sie muss sich ebenfalls an den betrieblichen Kämpfen der Arbeiter beteiligen und selbstbewusst für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft eintreten. Denn ein „ökologisches Gleichgewicht“ bedingt wissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Planung. Privates Eigentum an Produktionsmitteln und private Nutzung der natürlichen Ressourcen führen unter dem Gesetz der Kapitalakkumulation immer wieder zur Verletzung der Ökosysteme. Erst wenn natürliche Ressourcen nicht mehr unter der Prämisse der profitsteigernden Nutzung stehen, kann sich eine systematische Einheit zwischen Mensch und Natur bilden. Somit ist eine geplante Wirtschaft nicht nur eine Bedingung rationaler gesellschaftlicher Produktion, sondern auch Bedingung des biologischen Überlebens. Es ist unmöglich, Umweltprobleme ohne wirksame internationale Planung anzugehen, für die eine Voraussetzung die Beseitigung von Konflikten ist, die aus Knappheit und Mangel entstehen – noch ein Grund mehr dafür, dass die bürokratische, nicht-demokratische „Planwirtschaft“ der degenerierten Arbeiterstaaten nicht mehr als staatliche Verwaltung von Mangel, Unterentwicklung und der vom Kapitalismus geerbten Umweltzerstörung sein konnte.

Hier kann es aber in einer echten, internationalen und demokratischen Planung nicht bedeuten, dass Bedürfnisse sich weiter unbegrenzt ausdehnen werden. Hier kann es primär nur um die Erfüllung der konstanten Grundbedürfnisse der Weltbevölkerung gehen, Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheitsversorgung etc., die die Mehrheit der Konsumausgaben ausmachen und ausmachen werden, dies ist angesichts des Klimawandels und der allgemeinen ökologischen Krise eine objektive Notwendigkeit. Hier muss es hinsichtlich einer Wiederherstellung der natürlichen Lebensbedingungen um eine zeitweilige Zurückstellung individueller Bedürfnisse gehen. Die egozentrischen Gewohnheiten der Einzelnen, die unablässig von der Marktwirtschaft und ihrer Werbung genährt oder erst hervorgerufen werden, werden in einer sozialistischen Gesellschaft mit einem wachsenden Sicherheits- und Solidaritätsgefühl schrittweise verschwinden. Damit aber eine harmonische und wirksame sozialistische Gesellschaft bestehen kann, muss die gesamte Weltbevölkerung einen vergleichbaren Lebensstandard haben, das heißt, dass das Verbrauchsniveau der industrialisierten Welt für alle gelten muss. Dies erfordert eine gewaltige Umgestaltung der gegenwärtigen Methoden der Energie- und Ressourcennutzung. An dieser Stelle besteht ein Risiko bezüglich der biophysischen Grenzen des Planeten. Es ist unmöglich diese vorauszusagen, wo genau diese liegen. Dies hängt von der Möglichkeit des Einsatzes Erneuerbarer Energien, die stark begrenzt ist oder aber eben von der Entwicklung neuer Technologien zur Energiegewinnung ab. Voraussetzung dafür ist die demokratische Kontrolle von Wissenschaft und wissenschaftlicher Einrichtungen von Arbeitern und Verbrauchern. Des Weiteren muss es einen radikalen Umbau von Verkehr und Transport natürlich in absoluter vergesellschafteter Form geben mit der kostenlosen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Auch werden umweltfreundlichere Autos mit geringem Verbrauch zum Einsatz kommen, die eigentlich heute schon entwickelt sind. Kurz- und Mittelstreckenflüge könnten durch Einsatz von Hochgeschwindigkeitszügen ersetzt werden. Hier darf in einer sozialistischen Gesellschaft die Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt werden, um die internationale Solidarität zu schaffen, die auch für eine andere ökologische Zusammenarbeit nötig ist. Der weitaus wichtigere Faktor, das solch eine zukünftige sozialistische Gesellschaft, deren Grundlage Bedürfnisse und nicht Profite sind, eben ungeheure Vorteile in Bezug von Ressourcen- und Energieeinsparung bietet. Es gäbe keine Zerstörungen von Fabriken und Maschinen in Krisenzeiten mehr, keine Überproduktion und damit die sinnlose Vernichtung von Überschüssen oder künstlicher Verschleiß materieller Güter, all diese Vergeudungspraktiken im Dienste der kapitalistischen Konkurrenz und Profitsteigerung haben auf dem sozialistischen Markt keinen Platz mehr. Die Technik würde der Erhaltung von Gebrauchswerten statt der Steigerung des Umsatzes dienen. Hier besteht eben die Möglichkeit die Probleme vor denen die Menschen zukünftig stehen werden, mit einer demokratischen Planung zu lösen, im Unterschied zu der unausweichlichen Zerstörung der Umwelt, die mit der Anarchie der kapitalistischen Produktion verbunden ist. Lässt sich der heutige Kapitalismus als „Wegwerfgesellschaft“ charakterisieren, so wird der Sozialismus die Energien, die heute in die dauernde Erneuerung schnell vernutzter oder veralteter Gebrauchsgüter gesteckt werden, für andere Zwecke einsetzen, wenn die Produktion auf Haltbarkeit umgestellt wird.  Dieser Rahmen der Beständigkeit wirkt natürlich auch auf die Verhaltensweisen der Menschen, ethische Normen rücken wieder in den Vordergrund. Somit wird sich auch ein anderer Lebensstil herausbilden.

Das Ausmaß der Aufgabe ist riesengroß, das praktisch alle gegenwärtigen Energiequellen ersetzt werden müssen. Hierbei kommt aber noch ein entscheidender Fakt hinzu: die Befreiung der Kreativität der Arbeiterklasse. Im besehenden Marktsystem gibt es für Arbeiter kaum Anreize für „ihre“ Bosse mit ihrer Kreativität auszuhelfen. In der Situation vergesellschafteter Betriebe und fehlender grundlegender Interessenkonflikten, werden die kreativen Instinkte der Arbeiter befreit. Auch die Aussicht steigender Freizeit, die nicht mehr im Gegensatz zur Arbeit steht, und damit die eigene freie Entwicklung, als zentraler Zweck des Menschen, die Förderung innovativer Weiterbildung bestärken diesen Faktor. Auf der Grundlage einer Bildung, die dem Menschen die Aufnahme und kritische Verarbeitung von Informationen im ganzen Umfang des heute in die Produktionsprozesse eingehenden Wissens, können in freier vernünftiger Diskussion Meinungsbildungsprozesse ablaufen, aus denen für die Umwelt verantwortliche Entscheidungen hervorgehen.

In jedem Falle gilt das alte Wort von Marx auch weiterhin: „…dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck von Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden (22).“

Fußnoten

(1) Stocker, A.; Türk, A.: Climate change, Science and policy, http://www.accc.gv.at/pub/ClimateScience.pdf, 2002, S.53

(2) Ebenda

(3) Der Tagesspiegel online: EU gegen neue Kohlekraftwerke in Deutschland http://www.tagesspiegel.de/politik/nachrichten/klimaschutz-kohlekraftwerke/101683.asp, 05.05.2007

(4) Der Spiegel (12/2007): Deutschland: Reise in die Vergangenheit, 19.03.2007

(5) Ministerium für Wirtschaft des Landes Brandenburg: Studie zur Fortschreibung der Tagebauentwicklung im Lausitzer Braunkohlenrevier (Teil Brandenburg), Oktober 2006

(6) großes Energieunternehmen, das neben etlichen anderen Kraftwerken selbst auch 4 Braunkohlekraftwerke und 2 Kernkraftwerke in Deutschland betreibt

(7) Urgewald: Investition in Ineffizienz und Wahnwitz – Die Geschäfte von RWE http://www.projekt21plus.de/downl/Dossier-Endfassung.pdf, 2007, S.14

(8) Greenpeace: Schwarzbuch Klimaschutzverhinderer – Verflechtungen zwischen Politik und Energiewirtschaft,  http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/klima/

Verflechtung_Energiewirtschaft_Politik.pdf, 2007,S.3

(9) Ebenda, S.3

(10) Monitor: Gutes Klima durch geschönte Fakten?,

http://www.wdr.de/tv/monitor/beitrag.phtml?bid=866&sid=160, 01.03.2007

(11) Ebenda

(12) Greenpeace: Schwarzbuch Klimaschutzverhinderer – Verflechtungen zwischen Politik und Energiewirtschaft, http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/klima/

Verflechtung_Energiewirtschaft_Politik.pdf, 2007, S.5

(13) Ebenda, S.6

(14) junge Welt: Ver.di bremst beim Klimaschutz, 11.12.2006, S.5

(15) Berechnungen des Autors

(16) Energie,http://www.tatsachen-ueber-deutschland.de/fileadmin/festplatte/deutsch/ download/00_startseite/Newsletter_03_2006_DEU_01.PDF, 2006

(17) IPPNW: Erneuerbare Energien können die nuklear-fossilen Energieträger zügig ablösen,

http://www.ippnw.de/Atomenergie/Energiewende/article/

Erneuerbare_Energien_koennen_die_nuklear-fossilen_Energietraeger_zuegig_abloesen.html?

swip=0ffeaa5fffbb4ab32ee71d1f814e5efe, 08.02.2007

(18) Greenpeace Magazin (2/07): So retten wir das Klima: der 10-Punkte-Plan, 2007, S.33

(19) Ebenda, S.36

(20) taz: Kapitalismuskritik auf dem Lande, 13.01.2006, S.23

(21) Wikipedia: Welthunger, Erneuerbare Energien können die nuklear-fossilen Energieträger zügig ablösen, http://de.wikipedia.org/wiki/Welthunger

(22) Marx, K.: Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 69f.




Die widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus

Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 37, Juni 2007

Bei der Frage, in welcher Periode der kapitalistischen Entwicklung wir uns befinden, ist ein richtiges Verständnis davon, was materielle Produktivkräfte und ihre Entwicklungsdynamik im Kapitalismus sind, von entscheidender Bedeutung. Die Verwirrung, die verschiedenste Niedergangs- oder Aufschwungspropheten aktuell verbreiten, hat hier ihre Wurzeln.

So wird verbreitet, dass die jüngsten technischen Entwicklungen und die Globalisierung nicht nur eine enorme, beschleunigte Anhäufung des Reichtums in den Händen weniger gebracht hätte. Sie gingen auch mit einer tiefgreifenden Aufschwungsphase einher.

Diese Ansicht vertreten nicht nur bürgerliche Ökonomien und Ideologen, sondern auch diverse pseudomarxistische Theoretiker (1). Auch bei vielen bürgerlichen Kritikern der Globalisierung wie dem US-amerikanischen liberalen Autor Rifkin ist die Vorstellung prägend, dass der Kapitalismus eigentlich eine enorme produktive Dynamik entfaltet hätte und dass die Früchte des Reichtums nur zunehmend schlechter verteilt würden.

In einem Meer zunehmender Armut, Kriege und Klimakatastrophen und einer um sich greifenden Zukunftsangst proklamieren sie zur Verteidigung ihrer kühnen Behauptung eine phänomenale Entwicklung der Produktivkräfte, verweisen auf China und Indien, verweisen sie auf riesige Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts oder auf das Ansteigen der Aktienkurse.

Die Frage, was hier eigentlich wächst, bleibt außen vor. Ein zentrales Problem liegt darin, dass „Wachstum“ mit ohnehin schon fetischisierten Kategorien bestimmt wird, da sie der Ebene der wirtschaftlichen Aktivität ohne notwendigerweisen Bezug zur realen Wertbildung stehen bleiben. Damit wird der Blick auf die dahinter liegende Dynamik – oder besser fehlende – Dynamik in der realen Produktion verstellt.

Rekapitulieren wir daher als erstes, was Marx und die Marxisten eigentlich unter Produktivkräften verstehen. Produktivkräfte umfassen sowohl die materiellen Mitteln und Resultate der Produktion – also Produktionsmittel (Maschinen etc.) und Waren, den erreichten Stand der Organisation des Arbeitsprozesses, von Kommunikation und Transport – als auch die Menschen, die die Produktionsmittel bedienen und zu diesem Zweck bestimmte Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eingehen.

Es versteht sich von selbst, dass Produktionsmittel und Arbeiter einander gegenseitig bedingen und – vom kapitalistischen Gesichtspunkt aus gesehen – der Zweck der Anwendung der Arbeiter an den kapitalistischen Produktionsmitteln darin besteht, Waren und dadurch Mehrwert zu produzieren. Produktivkräfte sind also nicht bloß eine Ansammlung von materiellen Dingen, sondern beinhalten auch und vor allem die Menschen und ihre Lebensbedingungen.

Der gesellschaftliche Charakter der Ware und der Produktivkräfte

Kapital und Ware sind ein gesellschaftliches Verhältnis – also ein Verhältnis zwischen Menschengruppen (Klassen). Marx schrieb dazu: „Das Kapital besteht nicht nur aus Lebensmitteln, Arbeitsinstrumenten und Rohstoffen, nicht nur aus materiellen Produkten; es besteht ebensosehr aus Tauschwerten. Alle Produkte, woraus es besteht, sind Waren. Das Kapital ist also nicht nur eine Summe von materiellen Produkten, es ist eine Summe von Waren, von Tauschwerten, von gesellschaftlichen Größen (2).“

Friedrich Engels fasste diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen:

„Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen; diese Verhältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge (3).“

An einer anderen Stelle wies Friedrich Engels auf die widersprüchliche Einheit des Begriffs „Produktivkräfte“ sowie seine umfassende Bedeutung hin:

„Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zum Zwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mit stets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee. Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz der Konkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung der Produktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion, Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, von Produktionsmitteln und Produkten – Überfluß dort, von Arbeitern ohne Beschäftigung und ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistische Form der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zu zirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihr eigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten (4).“

Dieses Verständnis behielten auch die marxistischen Theoretiker nach dem Ableben der Gründungsväter des wissenschaftlichen Sozialismus bei. Stellvertretend für sie sei Nikolai Bucharin – ein führender Theoretiker der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale – zitiert:

„In der Tat, es ist offensichtlich, daß wenn wir wissen, wie die Produktionsmittel und wie die Arbeiter sind, so wissen wir auch, wieviel sie in einer bestimmten Arbeitszeit produzieren; durch diese zwei Größen wird auch die dritte – das erzeugte Produkt – bestimmt. Diese zwei Größen bilden, zusammengenommen, dasjenige, was wir als materielle Produktivkräfte der Gesellschaft bezeichnen (5).”

Der Arbeiterklasse als wichtigster Bestandteil der Produktivkräfte

Aber sie gingen noch weiter und betonten, dass der wichtigste Aspekt der die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist. Das ist nur allzu logisch, denn es ist nur die lebendige Arbeit, die die natürlichen Reichtümer und die Produktionsinstrumente in Produktivkräfte der Menschheit verwandeln und verwenden können.

Marx betonte die zentrale Stellung des Proletariats im Verständnis der gesellschaftlichen Produktivkräfte:

„Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten (6).“

Ähnlich hob auch Bucharin (und mit ihm Lenin) die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft für das Verständnis der Produktivkräfte in ihrer Totalität hervor:

„Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, der rein kapitalistischen Gesellschaft das Proletariat, ist einerseits eine der beiden Komponenten des Begriffs Produktivkräfte (denn die Produktivkräfte sind nichts anderes als die Gesamtsumme der vorhandenen Produktionsmittel und der Arbeitskräfte); dabei ist die Arbeitskraft, (…), die wichtigste Produktivkraft (7).“

Diesen Gedanken betonte auch Trotzki in einer während des I. Weltkrieges verfaßten Arbeit, wo er die Arbeiterbewegung als „die wichtigste Produktivkraft der modernen Gesellschaft“ bezeichnete (8).

Schließlich sei noch eine weitere Erklärung der komplexen Natur der Produktivkräfte durch den deutschen trotzkistischen Theoretiker Franz Jakubowski angeführt: „Naturkräfte werden zu Produktivkräften erst in ihrer Anwendung durch die menschliche Arbeit. Nur durch ihre Einbeziehung in menschliche Verhältnisse, nur durch die Verwendung für menschliche Zwecke werden sie zu sozialen Kräften. Zu Produktivkräften werden Naturkräfte erst, wenn sie der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens dienen. Die wichtigste Produktivkraft ist die menschliche Arbeitskraft (9).“

Wenn wir also den Standpunkt der Marxisten zusammenfassen, so ergibt sich, daß der Entwicklungsgang des Kapitalismus nicht bloß anhand der Auf und Ab’s des materiellen Outputs gemessen werden kann, weil dieser noch gar nichts aussagt, über die dahinter liegende Dynamik der Kapitalakkumulation oder gar die gesellschaftlichen Entwicklungspotenzen, die systematisch nicht realisiert und unter kapitalistischen Bedingungen auch nicht realisiert werden können.

Die Entwicklung der Produktivkräfte drückt sich auch in der Entwicklung der Ware Arbeitskraft und ihren Reproduktionsbedingungen aus. Mit anderen Worten: wie entwickeln sich die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse. Dies ist ein äußerst wichtiger Faktor nicht nur für die betroffenen ArbeiterInnen und ihre Familien, sondern auch für die gesamte zukünftige Entwicklung der Menschheit.

Die Entwicklung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ergeben sich aus dem Wesen ihrer Existenz – also einer Klasse von LohnarbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft als Ware an die Kapitalisten verkaufen muss. In diesem Prozess schaffen sie mit ihrer Arbeit eine bestimmte Menge an Waren, in denen mehr Wert steckt, als sie als Lohn vom Kapitalisten erhalten. Diese Mehrarbeit eignet sich der Kapitalist als Mehrwert an.

„Das Arbeitsvermögen des Lohnarbeiters … tritt nicht nur nicht reicher, sondern es tritt ärmer aus dem Prozeß heraus, als es hereintrat. Denn nicht nur hat es hergestellt die Bedingungen der notwendigen Arbeit als dem Kapital gehörig; sondern die in ihm als Möglichkeit liegende Verwertung, … existiert nun ebenfalls als Mehrwert, Mehrprodukt, mit einem Wort als Kapital … Es hat nicht nur den fremden Reichtum und die eigene Armut produziert, sondern auch das Verhältnis dieses Reichtums als sich auf sich selbst beziehenden Reichtum zu ihm als der Armut, durch deren Konsum es neue Lebensgeister in sich zieht und sich von neuem verwertet (10).“

Damit kommen wir auch zu der mit der kapitalistischen Ausbeutung verbundenen Verelendung der Arbeiterklasse. Marx unterschied bekanntlich zwischen der relativen Verelendung und der absoluten Verelendung des Proletariat, wobei hier wichtig ist, unter Proletariat die gesamte Klasse zu sehen (also nicht nur die aktiv beschäftigten Arbeiter, sondern auch die Arbeitslosen, proletarische Jugendlichen und Pensionisten etc.). Unter relativer Verelendung verstand er die wachsende Kluft zwischen dem Reichtum des Kapitals und jenem der Arbeiter. Dies schließt eine Zunahme des Arbeitereinkommens nicht aus, nur eben langsamer als das Wachstum der Profite.

„Es zeigt sich hier, wie progressiv die objektive Welt des Reichtums durch die Arbeit selbst als ihre fremde Macht sich ihr gegenüber ausweitet und immer breitere und vollere Existenz gewinnt, so daß relativ, im Verhältnis zu den geschaffenen Werten oder den realen Bedingungen der Wertschöpfung die bedürftige Subjektivität des lebendigen Arbeitsvermögens einen immer grelleren Kontrast bildet. Je mehr sie sich – die Arbeit sich – objektiviert, desto größer wird die objektive Welt der Werte, die ihr als fremde – als fremdes Eigentum – gegenübersteht (11).“

Unter absoluter Verelendung verstand Marx das Sinken der materiellen Lebensverhältnisse des Proletariats in seiner Gesamtheit.

„Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört. (…)

Das Gesetz, wonach eine immer wachsende Masse von Produktionsmitteln, dank dem Fortschritt in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, mit einer progressiv abnehmenden Ausgabe von Menschenkraft in Bewegung gesetzt werden kann – dies Gesetz drückt sich auf kapitalistischer Grundlage, wo nicht der Arbeiter die Arbeitsmittel, sondern die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden, darin aus, daß, je höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingung: Verkauf der eignen Kraft zur Vermehrung des fremden Reichtums oder zur Selbstverwertung des Kapitals. Rascheres Wachstum der Produktionsmittel und der Produktivität der Arbeit als der produktiven Bevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt darin aus, daß die Arbeiterbevölkerung stets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals. (…)

Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert (12).“

Das Steigen der relativen Verelendung ist für die meiste Zeit ein typisches Merkmal für den kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsprozess. In Perioden des kapitalistischen Niedergangs hingegen findet auch ein Prozess der absoluten Verarmung statt. Es lässt sich schwer bestreiten, dass für die Masse der Arbeiterklasse und der unterdrückten Schichten weltweit ein Prozess der absoluten Verarmung stattfindet. Natürlich trifft das nicht in jedem einzelnen Land, nicht in jedem einzelnen Jahr und für jede einzelne Schicht der Klasse zu. Aber als ein allgemeiner, weltweiter Prozess ist dies eine unbestreitbare Tatsache.

Umwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte

Schließlich kommen wir noch zu einem weiteren Charakteristikum der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte in der imperialistischen Epoche: der zunehmenden Umwandlung der Produktivkräfte in Destruktivkräfte.

Marx selber wies schon vorausblickend darauf hin:

„Diese Produktivkräfte erhalten unter dem Privateigentum eine nur einseitige Entwicklung, werden für die Mehrzahl zu Destruktivkräften, und eine Menge solcher Kräfte können im Privateigentum gar nicht zur Anwendung kommen (13).“

„Wir haben gezeigt, daß die gegenwärtigen Individuen das Privateigentum aufheben müssen, weil die Produktivkräfte und die Verkehrsformen sich so weit entwickelt haben, daß sie unter der Herrschaft des Privateigentums zu Destruktivkräften geworden sind, und weil der Gegensatz der Klassen auf seine höchste Spitze getrieben ist (14).”

Die Produktivkräfte haben sich bereits so weit entwickelt, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht nur zu einer Fessel für die vollständige, freie Entfaltung der Produktivkräfte geworden sind, sondern die Produktivkraftentwicklung in einem zunehmenden Ausmaß immer monströsere, zerstörerische Kräfte – Destruktivkräfte – hervorbringt. Sicherlich gab es auch früher Destruktivkräfte, aber erst in der Epoche des Imperialismus nahmen sie einen weltumspannenden Charakter hat, wo sie das Potential haben, die ganze Menschheit in ihrer Entwicklungsstufe um unzählige Generation zurückzuwerfen bzw. überhaupt als ganzes zu vernichten.

Die dramatische Gefährdung der Lebensgrundlagen der Menschheit durch die systematische Umweltzerstörungen durch die Profitgier des Kapitals (globale Erwärmung, Ozonloch usw.) oder auch die Gefahr nuklearer Kriege mit Millionen Toten – all das zeigt, wie sehr die Produktivkraftentwicklung im Kapitalismus zugleich Destruktivkraftentwicklung ist. Marx selber schrieb schon vorausblickend:

„Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter (15).“

Die widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte

Wenn Marxisten also von der Tendenz der Produktivkräfte zur Stagnation sprechen, so meinen sie damit nicht ein wirtschaftliches Null-Wachstum und schon gar nicht einen Stillstand des technischen Fortschritts. Dies ist im Kapitalismus auch nur kurzfristig, in Phasen höchster gesellschaftlicher Krise möglich.

Der Zweck des Kapitals ist seine Selbstverwertung, also seine Vergrößerung, Ausbreitung, also Akkumulation. Die im entwickelten Kapitalismus normale Produktionsweise ist daher die Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter. Alles andere wäre – so Marx im II. Band des Kapitals – „eine befremdliche Annahme“:

„Die einfache Reproduktion auf gleichbleibender Stufenleiter erscheint insoweit als eine Abstraktion, als einerseits auf kapitalistischer Basis Abwesenheit aller Akkumulation oder Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter eine befremdliche Annahme ist, andrerseits die Verhältnisse, worin produziert wird, nicht absolut gleichbleiben (und dies ist vorausgesetzt) in verschiednen Jahren (16).“

Ebenso revolutioniert der Kapitalismus beständig seine technischen Grundlagen. Anders kann es auch gar nicht sein! Denn – wie schon Marx feststellte – die Existenzweise des Kapitals vollzieht sich notwendigerweise in Form der Konkurrenz.

„Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innere Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innere Tendenz als äußerliche Notwendigkeit. (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.) (17).“

Diese Konkurrenz zwingt das Kapital dazu, permanent nach Möglichkeiten der Ersetzung der menschlichen Arbeit durch Maschinen zu suchen, um so den Lohnanteil am Gesamtkapital zurückdrängen und somit billiger produzieren zu können. Daher finden im Kapitalismus immer wieder technische Neuerungen zwecks Steigerung der Produktivität statt. Es reicht beispielhaft folgende zentrale technischen Neuerungen der letzten 200 Jahre zu nennen: die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Telegraphie, das Auto, das Flugzeug, Radio, Fernsehen, Raketen, Computer, die Mobiltelephonie, die Fortschritte im Bereich der Genetik usw.

Tatsache ist, dass sich der Grad der jugendlichen Frische bzw. der Überalterung und Verfaulung des Kapitalismus nicht an dem Umfang der technologischen Entwicklungen ablesen lässt. Demnach wäre ja der Kapitalismus in den letzten 200 Jahren eine stetig voranschreitende Gesellschaftsordnung gewesen und statt dem von Marx und Lenin diagnostizierten Zusammenbruchstendenzen würde er vielmehr ein ungebrochenes Fortschrittspotential aufweisen. Offenkundig ist dem aber nicht so und eine kurze Rekapitulation der Geschichte des imperialistischen Zeitalters macht dies klar: diese technischen Fortschritte waren begleitet von wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Katastrophen – darunter zwei Weltkriege, das Holocaust, Hiroshima um nur die bekanntesten Beispiele zu nennen.

Nein, die Schranke des Kapitalismus besteht nicht in der Erschöpfung seiner Möglichkeiten zur technischen Erneuerung oder gar einem technischen Zusammenbruch der Ökonomie. Die Schranke besteht sich vielmehr in dem Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise innewohnenden Widersprüchen. Mit anderen Worten: den explosiven Widerspruchspotential, das dem lebendigen Prozess des gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit anhaftet. Nicht umsonst schrieb Marx: „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst (18).“

Was wir also im modernen Kapitalismus sehen, ist eine im höchsten Maße widersprüchliche Entwicklung der Produktivkräfte. Einerseits erleben wir eine – vom Stachel der kapitalistischen Konkurrenz angetriebene – Revolutionierung der Technik. Andererseits sehen wir eine zunehmende Untergrabung des gesellschaftlichen Fortschritts der Menschheit und der wirtschaftlichen Grundlagen ihrer Reproduktion. Letzteres ist jedoch der wichtigste Faktor der Produktivkräfte. Jene, die die Produktivkräfte auf die Technik reduzieren, unterliegen letztlich dem gesellschaftlichen Nebel des Warenfetischismus und ignorieren die Warnung von Marx: „Allein die politische Ökonomie ist nicht Technologie (19).“

Natürlich wäre es ein kindischer Umkehrschluss, den Stand der Technik, als unwichtig oder sekundär abzutun. Im Gegenteil sie ist eine zentrale Grundlage für die ökonomische Basis und damit die gesamte gesellschaftliche Entwicklungsrichtung.

Trotzki und die Frage der Entwicklung der Produktivkräfte

Der marxistische Theoretiker und Revolutionär Leo Trotzki verstand es, die der imperialistischen Epoche eigene widersprüchliche Entwicklung von technischen Neuerungen und stagnierender Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte dialektisch miteinander zu verbinden.

„Der menschliche Fortschritt steckt in einer Sackgasse. Trotz der letzten Triumphe der Technik wachsen die natürlichen Produktivkräfte nicht an (20).“

„Das Manifest hat den Kapitalismus gebrandmarkt, weil er die Entwicklung der Produktivkräfte hemmt. Zu seiner Zeit jedoch, wie auch im Laufe der folgenden Jahrzehnte, war diese Hemmung nur eine relative: Wenn die Wirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf sozialistischen Grundlagen hätte organisiert werden können, so wäre der Rhythmus ihres Wachstums unvergleichlich schneller gewesen. Diese These, theoretisch unbestreitbar, ändert nichts daran, daß die Produktivkräfte bis zum Weltkrieg im Weltmaßstab ununterbrochen weiter gewachsen sind. Erst im Laufe der letzten zwanzig Jahre ist trotz der modernsten Entdeckungen von Wissenschaft und Technik die Periode der unmittelbaren Stagnation und sogar des Niedergangs der Weltwirtschaft angebrochen (21).“

„Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der proletarischen Revolution ist schon seit langem am höchsten Punkt angelangt, der unter dem Kapitalismus erreicht werden kann. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren. Die neuen Erfindungen und die technischen Fortschritte dienen nicht mehr dazu, das Niveau des materiellen Reichtums zu erhöhen. Unter den Bedingungen der sozialen Krise des ganzen kapitalistischen Systems laden die Konjunkturkrisen den Massen immer größere Entbehrungen und Leiden auf. Das Anwachsen der Arbeitslosigkeit vertieft wiederum die finanzielle Krise des Staates und unterhöhlt die erschütterten Geldsysteme. Die Regime – die demokratischen wie die faschistischen – taumeln von Bankrott zu Bankrott (22).“

„Die Technologie ist jetzt unendlich mächtiger als am Ende des Krieges von 1914/18, wohingegen die Menschheit sehr viel mehr von Armut betroffen ist. Der Lebensstandard ist in einem Lande nach dem anderen gesunken (23).“

Wir sehen hier also, dass Trotzki keinen mechanisch-technischen Begriff der Produktivkräfte hatte, sondern einen gesellschaftlichen, worin der Arbeiterklasse und ihrer Entwicklung ein zentraler Platz eingeräumt wird.

Die Produktivkräfte drängen zur höheren sozialistischen Gesellschaftsordnung

Die Entwicklung des Kapitalismus bringt also immer wieder und in immer gewaltigeren Ausmaßen einen Zusammenstoß zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen hervor, zwischen den nach gesellschaftlicher Planung und internationalen Zusammenschluss drängenden Produktionsmethoden und -techniken auf der einen Seite und den beengenden Grenzen der einander abschottenden kapitalistischen Konkurrenz, der die gesellschaftliche Verbreitung neuer Erfindung unterdrückenden Monopolherrschaft und der Nationalstaaten auf der anderen Seite.

Der Fortschritt der Technik macht es heute möglich, weltweit Hunger und Arbeitslosigkeit abzuschaffen und die Folgen der Umweltzerstörung einzudämmen. Doch die Verwirklichung dieser Möglichkeiten setzt eine Gesellschaftsordnung voraus, die eben jene Fesseln der kapitalistischen Konkurrenz, Monopole und Nationalstaaten zerschlägt. Die Ausschöpfung des Potentials der Produktivkraftentwicklung bedarf einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, in der die technischen Errungenschaft durch eine weltweite sozialistische Planung unter der direkt-demokratischen Kontrolle der Arbeiterklasse im Interesse des breiten gesellschaftliche Fortschritts ausgeschöpft werden können.

In eben diesem Zusammenprallen zwischen den nach gesellschaftlichem Fortschritt drängenden Produktivkräften und den im historischen und aktuellen Sinne rückschrittlichen kapitalistischen Produktionsverhältnissen drückt sich die Notwendigkeit des Sozialismus aus. Daher die unausweichlichen wirtschaftlichen und politischen Explosionen, vor-revolutionäre und revolutionäre Situationen, mit denen der Fortschritt unüberhörbar an das Tor der Geschichte klopft oder – um die subjektive Seite dieses Prozess zu formulieren – in denen die Arbeiterklasse ihren Willen zum Überleben unter menschenwürdigen Umständen einfordert. Daher ist die Epoche des Imperialismus, des überlebten Kapitalismus, jene Epoche der sozialen Revolution, die Marx schon 1859 voraussah:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein (24).“

Schlussfolgerungen

Fassen wir die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammen. Die Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte drückt sich auch in der Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion aus, aber nicht ausschließlich. Sie drückt sich ebenso auch im allgemeinen Entwicklungsgang der Gesellschaft (Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung) und der Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit aus.

In anderen Worten: es existiert ein eindeutiger Zusammenhang, eine Verbindung zwischen der Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte und der Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion. Sie hängen miteinander zusammen, sind aber nicht identisch! Da Maschinen und Technik Teil der Produktivkräfte sind, ist die Entwicklungsdynamik der Kapitalakkumulation und Warenproduktion ein wichtiger Indikator für die Entwicklungsdynamik der Produktivkräfte. Er ist jedoch nicht der einzige Indikator. Weitere Indikatoren sind die Entwicklungsdynamik der allgemeinen Reproduktionsbedingungen der Arbeiterklasse und der Menschheit, Arbeitslosigkeit und Armut und Formen der Zerstörung von Produktivkräften (z.B. durch Kriege oder Umweltkatastrophen).

Zusammengefasst meinen Marxisten, wenn sie heute von der Tendenz der Produktivkräfte zur Stagnation sprechen, folgende Entwicklungen:

• Weitgehende Unfähigkeit des Kapitalismus, technologische Neuerungen und wirtschaftliches Wachstum in gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit umzuwandeln. Im Gegenteil, der Kapitalismus untergräbt zunehmend die Möglichkeiten des Fortschritts für die Menschheit.

• Sinkende Wachstumsdynamik sowohl der Warenproduktion als auch der Kapitalakkumulation.

• Zunehmende Instabilität und Krisenhaftigkeit des Weltkapitalismus auf ökonomischer und politischer Ebene.

Erst wenn die Schranken der Produktivkräfte – die Bourgeoisie und ihre Gesellschaftsordnung – endgültig gesprengt werden, und somit technische Neuerungen nicht mehr im Interesse des Kapitals, sondern im Interesse der gesamten Menschheit stattfinden, können die Produktivkräfte ihr gewaltiges Potential voll entfalten und wirklich in den Dienst der Menschheit gestellt werden. Deshalb: Kein Fortschritt ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Revolution!

 

Fußnoten:

(1) So z.B. unter anderem die bürgerlichen Ideologen der Zeitschrift Economist, Business Week oder Ökonomen von Goldmann Sachs. Aber auch im linken Lager gibt es eine Reihe von Akademikern, die – wenn auch oft mit „marxistischer“ Phraseologie getarnt – die Krisenhaftigkeit und Niedergangstendenzen des Kapitalismus leugnen (z.B. Leo Panitch und Sam Gindin).

(2) Karl Marx: Lohnarbeit und Kapital, in: MEW 6, S. 408

(3) Friedrich Engels: Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859); in: MEW 13, S. 476. Aus dieser Grundlage der „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ergibt sich das Phänomen der Warenfetischismus, „dieser Religion des Alltagslebens“ im Kapitalismus. (siehe dazu Karl Marx: Kapital Band I, MEW 23, S. 85-98 sowie Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 838f.)

(4) Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft; in: MEW 19, S. 227f.

(5) Nikolai Bucharin: Theorie des historischen Materialismus (1921), S. 125

(6) Karl Marx: Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 181. Auch an einer anderen Stelle bezeichnet Marx den Menschen als „die Hauptproduktivkraft“ (Grundrisse der politische Ökonomie, in: MEW 42, S. 337)

(7) Nikolai Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode (1920), S. 91

(8) Die Arbeit wurde unseres Wissens nach nie auf deutsch oder englisch übersetzt. Das Zitat haben wir folgendem Artikel entnommen: Michael Löwy: Die nationale Frage und die Klassiker des Marxismus; in: Nairn/Hobsbawm/Debray/Löwy: Nationalismus und Marxismus, Berlin 1978, S. 114

(9) Franz Jakubowski: Der ideologische Überbau in der materialistischen Geschichtsauffassung (1935), Frankfurt a.M. 1968, S. 30. Franz Jakubowski war trotz seiner jungen Jahre nicht nur theoretisch versiert, sondern wurde 1935 auch Führer des trotzkistischen „Spartakusbundes“ im deutschen Freistaat Danzig. 1936 wurde die Organisation von der Gestapo ausgehoben und Jakubowski zu drei Jahren Haft verurteil. Trotzki schrieb über den Prozeß einen Artikel. („Der Danziger Trotzkisten-Prozeß“ (29.4.1937); in: Schriften über Deutschland Band II, S. 711ff.)

(10) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 366.

(11) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 368.

(12) Karl Marx: Das Kapital, Band 1; in: MEW 23, S. 673ff.

(13) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 60

(14) Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 424.

Das Marx und Engels zu diesem Zeitpunkt das Entwicklungspotential des Kapitalismus zu früh als ausgeschöpft sahen und diesen Standpunkt später korrigieren mußten, ist eine Tatsache, auf die auch Trotzki in seinem Essay „90 Jahre Kommunistisches Manifest“ hinwies. Sie tut der analytischen Logik der Argumentation jedoch keinen Abbruch.

(15) Karl Marx: Das Kapital, Band 1; in: MEW 23, S. 529

(16) Karl Marx: Das Kapital, II. Band, MEW 24, S. 393f.

(17) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 42, S. 327

(18) Karl Marx: Das Kapital, Band 3; in: MEW 25, S. 260

(19) Karl Marx: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: MEW 13, S. 617

(20) Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit (April 1939), Wien 1987, S. 11, im Internet: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm

(21) Leo Trotzki: Neunzig Jahre Kommunistisches Manifest (1937); in: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a. M. (1981), S. 333

(22) Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm (1938), S. 5, im Internet:

http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1938/uebergang/index.htm

(23) Leo Trotzki: Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution (1940); in: Leo Trotzki: Schriften zum imperialistischen Krieg, Frankfurt a. M. (1978), S. 138

(24) Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: ; in: MEW 13, S. 9