Klasse, Partei, Programm

Von der Ersten zur Fünften Internationale

Von Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 34, Mai 2004

Die Krise von Kapitalismus und Reformismus, der wachsende Widerstand der ArbeiterInnen und Bauern haben die Frage einer neuen Internationale auf die Tagesordnung gestellt. Die Bewegung gegen den globalen Kapitalismus und eine sich neue formierende Arbeiterbewegung auf der ganzen Welt sind in den letzten Jahren in Massenaktionen imperialistischem Krieg und neoliberalen Angriffen entgegengetreten. Was sie eint, ist ihr gemeinsamer Gegner: der Kapitalismus.

Doch eine Frage bleibt unbeantwortet: Welche Organisation, welche politische Kraft ist notwendig, um den Kapitalismus zu zerschlagen? Durch welches politische und ökonomische System soll er ersetzt werden?

Aus diesem Grund legte die Liga für die Fünfte Internationale ein neues Programm vor, das wir in der Arbeiterbewegung und mit allen Anti-KapitalistInnen diskutieren wollen, denn: wer den Kapitalismus wirklich besiegen will, muss sich auch über die Mittel dafür Klarheit verschaffen.

Die revolutionäre Arbeiterbewegung hat bisher vier Mal Anlauf genommen, ein solches Instrument – eine Arbeiterinternationale – zu schaffen. In der gegenwärtigen Periode stellt sich die Aufgabe erneut. Es ist daher lohnend und notwendig, einen Blick auf die geschichtlichen Erfahrungen der ersten vier revolutionären Internationalen – ihre Errungenschaften, aber auch die Ursachen ihres Scheiterns zu werfen.

Die Erste Internationale

Die „Internationale Arbeiterassoziation“ (IAA) wurde am 28. September 1864 in London, St. Martins Hall, gegründet. Sie ging später als “Erste Internationale“ in die Geschichte ein. Trotz der kurzen Zeit ihres Bestehens – insgesamt gerade 12 Jahre – hatte sie enormen Einfluss auf die Arbeiterbewegung und ihre weitere Entwicklung. Sie war die erste Organisation, die versuchte, den Kampf für den Sozialismus international zusammenzuführen und anzuleiten.

Alle folgenden Internationalen bezogen sich auf das politische und theoretische Erbe der Ersten und auf die zentrale Rolle, die Karl Marx darin spielte.

Auch in der antikapitalistischen Bewegung wird immer wieder auf die Erste Internationale als „Modell“ für eine neue revolutionäre Internationale verwiesen. Sie wird dabei oft der Kommunistischen Internationale und ihrer zentralisierten Disziplin entgegengestellt, weil sie einen besonders „breiten“ und „losen“ politischen Charakter gehabt hätte.

Wahr daran ist, dass die Erste Internationale Marxisten, Anarchisten, GewerkschafterInnen ohne politische Bindung, ja selbst polnische und irische bürgerliche NationalistInnen umfasste. Daher wurde sie für viele zum Modell, die eine „dezentralisierte“, lose, „pluralistische“ und strömungsübergreifende Organisation befürworten, die weder revolutionär, noch reformistisch ist.

Wie wir sehen werden, entspricht diese Vorstellung der Ersten Internationale aber keineswegs der Zielsetzung von Marx und Engels, noch ihrer realen Entwicklung.

Es stimmt natürlich, dass sie von sehr heterogenen politischen und sozialen Kräfte ins Leben gerufen wurde. Aber die 12 Jahre ihrer Existenz waren von einem offenen und notwendigen politischen Kampf zwischen den verschiedenen Tendenzen geprägt – einem Kampf, der vor allem vom Londoner Generalrat der Internationale unter der Leitung von Karl Marx geführt wurde.

Ursprung der Ersten Internationale

Den Nährboden für die Gründung der IAA bereiteten tief greifende Veränderungen des Kapitalismus in den 1850er und frühen 1860ern. In dieser Periode gab es einen enormen Aufschwung des Kapitalismus. Neue Industrien und Handelswege entstanden. Neue Schichten, neue Sektoren der Arbeiterklasse begannen, die gewerkschaftliche und politische Bewegung der Klasse zu prägen. Gleichzeitig hatte sich die materielle Lage der Lohnabhängigen nicht verbessert. Im Gegenteil: in vielen Bereichen hatte die Konkurrenz unter den ArbeiterInnen sogar zugenommen.

Neue kämpferische Arbeiterschichten und Gewerkschaften waren jedoch – insbesondere in Britannien – auf den Plan getreten, vor allem im Maschinenbau und in der Bauindustrie. In den Jahren 1859 bis 1862 wurde London von heftigen Arbeitskämpfen in der rapide wachsenden Bauindustrie erschüttert, von Aussperrungen und Massenstreiks, die auf die Sympathie der gesamten Arbeiterklasse stießen. Auch in Frankreich, Belgien und Deutschland erholte sich die Arbeiterbewegung mehr und mehr von den Niederlagen der 1848er Revolution.

Ein weiterer Impuls ging von den revolutionären Emigranten aus, die vor allem in London konzentriert waren. Ohne ihre politischen, theoretischen und organisatorischen Erkenntnisse und Erfahrungen wäre die Erste Internationale sicher nie zu ihrer geschichtlichen Bedeutung gelangt, wäre vielleicht nur eine zweitrangige Episode in Geschichte der Arbeiterbewegung geblieben.

Die IAA entsprang also dem Bedürfnissen nach internationaler Verbindung unter den ArbeiterInnen. Die wichtigste Rolle kam hier sicher dem britischen Proletariat zu, der damals größten und stärksten Arbeiterklasse der Welt. In den Bauarbeiterstreiks hatte sich auch eine neue Schicht von Gewerkschaftsführern hervorgetan, die mit dem überwiegend ständischen Charakter der ehemals dominierenden Textilarbeitergewerkschaften brachen und sehr viel militantere Taktiken entwickelten und einsetzten.

Diese Gewerkschaftsführer wollten auch internationale Verbindungen zu den kontinental-europäischen ArbeiterInnen und ihren Organisationen herstellen, u. a. weil Arbeitsimmigranten vom britischen Kapital oft als Streikbrecher eingesetzt wurden.

Diese Gewerkschaftsführer – darunter Leute wie der Zimmermann Robert Applegrath, der Schuster George Odger oder der Maschinenbauer William Allan – schlossen sich zur sog. „Junta“ (auf Deutsch: Rat) zusammen und arbeiteten mit dem Londoner Trades Council (eine Art Dachverband der Arbeiterorganisationen) zusammen, der 1860 unter dem Vorsitz von Odger gegründet worden war.

Die Junta beschäftigte sich nicht nur mit ökonomischen Fragen, sondern initiierte auch eine politische Kampagne zur Ausdehnung des Wahlrechts auf die ArbeiterInnen und wollte diesen Kampf auch international führen.

Sie konnten sich dabei auch auf eine fortschrittliche politische Tradition der britischen Arbeiterbewegung stützen, die schon lange vor Gründung der Ersten Internationale für die Unabhängigkeit und nationale Einigung Polens, Irlands und Italiens eingetreten war. Die Arbeiterbewegung unterstützte im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-64) den Norden. Die ArbeiterInnen in der Textilindustrie unterstützten den Kampf gegen die Sklaverei und die Blockade der Baumwollausfuhr der Südstaaten durch den Norden, obwohl das Rohstoffverknappung, zu Schließungen und Massenarbeitslosigkeit in Lancashire betrug.

Auch der polnische Aufstand von 1863 gegen die zaristische Herrschaft fand unter den ArbeiterInnen und SozialistInnen in Paris und London große Unterstützung.

Die zunehmenden Verbindungen zwischen den Gewerkschaftsführern führten 1864 zur Gründung der Ersten Internationale. An der ersten Versammlung nahmen neben britischen Gewerkschaftern französische Sozialisten und viele europäische Flüchtlinge teil.

Ideologisch gesehen, war es eine sehr heterogene Versammlung. Die französischen Delegierten waren vielfach Anhänger Proudhons, eines der Begründer des Anarchismus, oder Gewerkschafter. Eine radikalere Minderheit waren Anhänger Blanquis.

Unter den Delegierten waren auch politische Nachfolger des Frühsozialisten Owen, der Chartisten, christliche Sozialisten, polnische und irische Nationalisten, die Anhänger Mazzinis in Italien und deutsche Kommunisten.

Den Vorsitz führte Edward Spencer Beesly, ein englischer positivistischer Historiker und Professor an der University of London. Marx intervenierte auf der Gründungskonferenz nicht, sondern war, in seinen eigenen Worten, eine „stumme Figur auf der platform“. (Brief an Engels, 4. 11. 1864, MEW 31, S. 13)

Die Gründungsversammlung vom 28. September 1864 nahm kein Programm an, sondern beschränkte sich auf eine Deklaration, auf eine Erklärung der Notwendigkeit einer Arbeiterinternationale. Sie schuf jedoch ein Provisional Committee, dem Marx als Vertreter der deutschen Kommunisten angehörte und das eine Satzung sowie eine Prinzipienerklärung formulieren sollte.

Die ursprünglichen Entwürfe wurden von Major Wolff (einem Anhänger des italienischen Nationalisten Mazzini) und von Weston (einem Fabrikbesitzer und Anhänger Owens) vorgestellt. Marx war in der Lage, die Gegensätze im Komitee zu nutzen und eine „redigierte“ Fassung der Prinzipienerklärung durchzusetzen, die kaum ein Wort von den ursprünglichen Entwürfen enthielt. Ähnlich verhielt es sich mit den Statuten.

Die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (MEW 16, S. 5-13) und die „Provisorischen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ (Ebenda, S. 14-16) wurden von Marx entworfen und schließlich einstimmig angenommen – auch wenn, wie sich in der ganzen Geschichte der Internationale zeigen solle, keineswegs gleich interpretiert.

Marx erkannte, dass die Arbeiterbewegung zu dieser Zeit – einschließlich der Mitgliedsorganisationen der IAA – noch sehr weit von den Prinzipien des Kommunistischen Manifests entfernt war. Im oben erwähnten Brief an Engels über die Inauguraladresse hält er fest:

„Es war sehr schwierig, die Sache so zu halten, dass unsere Ansicht in einer Form erscheint, die sie dem jetzigen Standpunkt der Arbeiterbewegung acceptable machte. Dieselben Leute werden in ein paar Wochen Meetings von Bright und Cobden (liberale englische Fabrikanten; Anm. der Red.) für Stimmrecht halten. Es bedarf Zeit, bis die wiedererwachte Bewegung die alte Kühnheit der Sprache erlaubt. Nötig fortiter in re, suaviter in modo (stark in der Sache, gemäßigt in der Form).“ (Marx, Brief an Engels, 4.11.1864)

Hier zeigt sich bereits, dass Marx und Engels keineswegs bereit waren, ihre eigenen Prinzipien und ihr Programm fallen zu lassen.

Es ist bemerkenswert, wie viele Aspekte des Kommunistischen Manifestes sich in der Inauguraladresse der IAA und in den Statuten wieder finden. Ganz zurecht schrieb Rjazanow darüber:

„Marx hat in seinem neuen Manifest (der Inauguraladresse) ein klassisches Vorbild der Anwendung der Taktik der Einheitsfront gegeben. Er formulierte in ihm die Forderungen und hob alle die Punkte hervor, in denen sich die Arbeitermassen vereinigen mussten, auf deren Grundlage sich die Klassenbewegung der Arbeiter weiter entwickeln konnte.“

Marx beginn die Inauguraladresse mit einer Darstellung der Lage der Arbeiterklasse. Er zeichnet die Lebenslage der Massen nach, verdeutlicht, die Tendenzen zur Verelendung der Klasse – und das trotz oder gerade auf Grundlage des ungeheuren industriellen und kommerziellen Aufschwungs des Kapitalismus.

Er folgert daraus, dass die Arbeiterklasse entgegen den Versicherungen der bürgerlichen Ökonomen von der technischen Entwicklung, der Ausdehnung des Handels und des Weltmarktes, von der Entdeckung neuer Kolonien, der immer stärken kapitalistischen Durchdringung der ganzen Welt – heute würde man sagen, von der „Globalisierung“ – keine Verbesserung ihrer Lage zu erwarten haben.

Während die internationale Arbeiterbewegung nach der Niederlage der 1848er Revolution nur in der „Gemeinsamkeit der Niederlage“ existierte, markierte u.a. der Kampf für den 10-Stunden-Tag in England eine Trendwende und zeigte einen neuen Weg auf.

„Der Kampf über die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wütete umso heftiger, je mehr er, abgesehen von aufgeschreckter Habsucht, in der Tat die große Streitfrage traf, die Streitfrage zwischen der blinden Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche die politische Ökonomie der Mittelklasse (der Bourgeoisie; Anm. der Red.) bildet, und der Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht, welche die politische Ökonomie der Arbeiterklasse bildet. Die Zehnstundenbill war daher nicht bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der Sieg eines Prinzips. Zum erstenmal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.“ (MEW 16, S. 11)

Marx würdigt in der Folge auch andere Ansätze zur Selbstorganisation, zum Aufbau von Schutzorganisationen der Arbeiterklasse, z.B. die Kooperativbewegung, da diese, gerade wo sie ohne Kapitalisten existiert, beweist, dass die ArbeiterInnen die Produktion selbst organisieren können, dass eine Planwirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Produzierenden und Konsumierenden möglich ist, dass die Arbeiterklasse kein Heer von Antreibern (Meistern) dazu braucht.

Aber die Inauguraladresse zeigt auch, dass diese Versuche innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse keine Lösung bieten können, ja nicht einmal das Elend der Massen „merklich zu erleichtern“ vermögen.

„Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Förderung durch nationale Mittel. Aber die Herren von Grund und Boden und die Herren vom Kapital werden ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole. Statt die Emanzipation der Arbeit zu fördern, werden sie fortfahren, ihr jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen.“ (MEW 16, S. 12)

Daher folgert die Inauguraladresse auch ganz logisch im Sinne des Kommunistischen Manifests, dass die Arbeiterklasse die politische Macht erobern muss, dass darin ihre „große Pflicht“ besteht. Dazu ist nicht nur Masse, sondern auch Solidarität unbedingt erforderlich – internationale Solidarität, die Marx am Beispiel des Kampfes gegen die Sklaverei in den Südstaaten oder an der Solidarität mit dem nationalen Befreiungskampf Polens und der Kaukasusvölker gegen die Unterjochung durch den Zarismus darstellt.

Diese Prinzipien der Inauguraladresse werden noch einmal in den Statuten knapp und beeindruckend zusammengefasst:

„In Erwägung,

daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß; daß der Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenvorrechte und Monopole ist, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller Klassenherrschaft;

daß die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, d.h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen ihren Formen zugrunde liegt – allem gesellschaftlichen Elend, aller geistigen Verkümmerung und politischen Abhängigkeit;

daß die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse daher der große Endzweck ist, dem jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen ist;

daß alle auf dieses Ziel gerichteten Versuche bisher gescheitert sind aus Mangel an Einigung unter den mannigfachen Arbeitszweigen jedes Landes und an der Abwesenheit eines brüderlichen Bundes unter den Arbeiterklassen der verschiedenen Länder;

daß die Emanzipation der Arbeiterklasse weder eine lokale, noch eine nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder umfaßt, in denen die moderne Gesellschaft besteht, und deren Lösung vom praktischen und theoretischen Zusammenwirken der fortgeschrittensten Länder abhängt;

daß die gegenwärtig sich erneuernde Bewegung der Arbeiterklasse in den industriellsten Ländern Europas, während sie neue Hoffnungen wachruft, zugleich feierliche Warnung erteilt gegen einen Rückfall in die alten Irrtümer und zur sofortigen Zusammenfassung der noch zusammenhangslosen Bewegungen drängt;

aus diesen Gründen haben die unterzeichneten Mitglieder des Komitees, welches am 28. September 1864 auf der öffentlichen Versammlung in St. Martin’s Hall, London, gewählt wurde, die notwendigen Schritte zur Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation getan.“ (MEW 16, S. 14)

Nachdem sie vom Provisorischen Komitee angenommen war, wurden Inauguraladresse und Statut in Gewerkschaftszeitungen gedruckt, zehntausende Exemplare unter ArbeiterInnen verbreitet und in verschiedene Sprachen übersetzt. Ihre programmatischen Grundsätze und Thesen wurden in den folgenden drei Jahrzehnten von vielen neu entstehenden Arbeiterparteien übernommen und oftmals Wort für Wort in ihren Programmen und Gründungserklärungen wiederholt.

Wachstum und Entwicklung der IAA

In den nächsten Jahren entwickelte sich die Mitgliedschaft der IAA rasch. In England traten im Februar 1865 die Buchmacher und die Ziegelarbeiter bei. Der Gewerkschaftskongress 1866 forderte seine Mitglieder zum Beitritt auf. In jenem Jahr zählte die Erste Internationale in Britannien 25.000 Mitglieder. Ein Jahr später traten ihr die Amalgamated Society of Engineers (Maschinenbauer) mit 33.000 ArbeiterInnen und die United Excavators mit 28.000 Mitgliedern bei.

In Frankreich bestand die Mitgliedschaft der IAA aus zwei Hauptgruppen. Erstens aus Gewerkschaftern, die sich von einer Periode der Reaktion erholt hatten und nach etlichen Jahren wieder legal agieren durften. Die Gewerkschafter und die meisten ihrer prominenteren Vertreter wie Eugene Varlin nahmen eine stark syndikalistische (rein gewerkschaftlich) geprägte Haltung an. Das wurde dadurch verstärkt, dass sie 1867/68 einige gesetzliche Reformen erkämpfen konnten und insgesamt auf eine Periode längeren, organischen Anwachsens ihrer Bewegung hofften.

Die andere Kraft waren die Anhänger Proudhons, die einen kleinbürgerlichen Sozialismus vertraten, der die gesellschaftliche Stellung qualifizierter Handwerker und kleiner agrarischer Produzenten zum Ausdruck brachte, die im damaligen Frankreich noch immer sehr zahlreiche gesellschaftliche Klassen waren.

Proudhon und seine Anhänger sehen im zinstragenden Kapital, im Bankkapital, die eigentliche Wurzel allen Übels, nicht in der Ausbeutung der Lohnarbeiter im Produktionsprozess. Sie lehnten folglich die Verstaatlichung der Produktionsmittel ab. Proudhon argumentierte auch gegen die gewerkschaftliche Organisierung und gegen Streiks, wie auch gegen die Einbeziehung der Frauen in den Produktion.

Der sich entwickelnden kapitalistischen Produktion auf großer Stufenleiter setzte Proudhon nicht die Enteignung der Kapitalisten und die Reorganisation der gesellschaftlichen Produktion gemäß den Bedürfnissen der ProduzentInnen entgegen, sondern die Rückkehr zu einer angeblich heilen Welt der kleinen Warenproduktion, wo in kleinen Unternehmen und Kooperativen produziert werden solle. Die kleinen Produzenten sollten zinslose Darlehen von einer „Tauschbank“ erhalten. Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit, des „Mutualismus“ würde schließlich die Konkurrenz durch das Großkapital eliminieren und zum „Sozialismus“ führen.

Die britische und französische Bewegung stellen in den ersten Jahren die Hauptkräfte der Ersten Internationale. Die deutsche Arbeiterbewegung befand sich hingegen in einen bedauernswerten Zustand. 1864 war Lassalle bei einem Duell ums Leben gekommen. Sein Nachfolger als Vorsitzender des Allgemeinen Arbeitervereins war Becker, eine recht blasse Figur. Schweitzer, der Chefredakteur des „Social-Demokrats“, des Zentralorgans des Vereins, war zwar politisch bedeutender und lud Marx und seine Anhänger in Deutschland, darunter Wilhelm Liebknecht, auch zur Mitarbeit ein. Aber sie überwarfen sich rasch wegen Schweitzers opportunistischer Haltung gegenüber der Regierung Bismarck. Lassalles AnhängerInnen distanzierten sich vorerst von der Internationale und Marx konnte nur auf recht wenige Unterstützer in und aus Deutschland bauen.

Die ersten Kongresse der IAA in Genf (1866), in Laussanne (1867) und in Brüssel (1868) waren vom politischen Kampf zwischen den Proudhonisten und dem Generalrat der Internationale bestimmt, dessen Anhänger mit der Zeit als „Marxisten“ bezeichnet wurden.

Marx legte für den Genfer Kongress 1866 eine Reihe von Resolutionen, die „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen“ (siehe MEW 16, S. 190ff) vor, die als offizieller Bericht des Generalrats der Internationale verlesen wurden. Die Resolutionen wiesen die Position der Proudhonisten entweder zurück (so wie die Position zur „Tauschbank“ oder zur Fetischisierung der Kooperativen) oder stellten sie in einen praktischen Zusammenhang.

Der Kongress bestätigte schließlich nicht nur die Statuten der Internationale, sondern nahm auch sechs der neuen, von Marx vorgelegten Punkte als Resolutionen zu folgenden Themen an: über die internationale Vereinigung der Anstrengungen; über die Kinder- und Frauenarbeit; über die Kooperativarbeit; über die Gewerksgenossenschaften und über die Armee. Zur polnischen Frage wurde eine Kompromissresolution angenommen.

Diese wurden später ergänzt durch Resolutionen, die die Vergesellschaftung der Großindustrie forderten.

Am Brüsseler Kongress wurde noch einmal die Rolle, aber auch die Grenzen der Kooperativen ähnlich wie schon in der Inauguraladresse bestimmt. Wie weitsichtig und wegweisend diese Dokument waren und sind, zeigt, dass auch die Kämpfe dieses Jahrhunderts – z.B. die Rolle der Kooperativen in der revolutionären Krise in Argentinien – die Position der Ersten Internationale bestätigen.

Marx führte auch den Kampf des Londoner Generalrats der Internationale, die Bedeutung der Gewerkschaften als Verteidigungsorgane der Arbeiterklasse sowie der gegenseitigen Unterstützung bei Streiks anzuerkennen.

1869, auf ihrem Basler Kongress, war die IAA am Höhepunkt ihrer Entwicklung angelangt. Marx hatte für seine Positionen die Unterstützung der meisten SozialistInnen und GewerkschafterInnen der Internationale gewonnen.

Die Analyse und Programmatik des Kommunistischen Manifests, das vor der Internationale nur Wenigen bekannt war, hatte eine große Öffentlichkeit – zehn- wenn nicht hunderttausende ArbeiterInnen – erreicht. Neue Organisationen und Parteien der Klasse entstanden. Die Arbeiterbewegung wuchs in Europe und in Amerika rasch an.

Aber diese Erfolge der Ersten Internationale sollten auch zur Entwicklung neuer Differenzen und  schließlich zum Zerfall führen.

Der Deutsch-Französische Krieg

Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 endete mit der Niederlage Frankreichs und der deutschen Einheit unter preußischer Führung. Napoleon III. floh ins Exil und eine rechtsgerichtete bürgerliche Regierung unter Thiers wurde gebildet. Diese fürchtete die Pariser ArbeiterInnen, die die Stadt vor der Eroberung durch die preußischen Truppen verteidigen wollten, mehr als die Besatzung durch den deutschen „Erzfeind“.

Die Regierung Thiers wollte die Kanonen der Nationalgarde aus der Stadt transportieren und die Pariser ArbeiterInnen entwaffnen. Das Zentralkomitee der Nationalgarde kam diesem Manöver jedoch zuvor und alarmierte die Pariser Bevölkerung.

Das gescheiterte Vorhaben Thiers führte schließlich zum Ausbruch des Bürgerkrieges. Auf der einen Seite stand die bürgerliche, royalistische (monarchistische) und klerikale Reaktion, die sich um die Nationalversammlung in Versailles gruppierte und sich mit den deutschen Truppen verbündete. Ihnen gegenüber stand die Pariser Arbeiterklasse. Am 26. März 1871 hielt das Zentralkomitee der Nationalgarde in Paris Gemeindewahlen ab, die Commune wurde gebildet.

Die Pariser Commune bestand aus 96 Delegierten, die meisten davon ArbeiterInnen. Politisch betrachtet standen sie mehrheitlich in der Tradition des Frühkommunisten Auguste Blanqui, der noch der illusionären Hoffnung anhing, Revolution und Aufstand als Resultat einer Verschwörung und nicht einer Massenaktion durchführen zu können oder in der Tradition des radikalen kleinbürgerlichen Republikanismus (des Jakobinismus der Französischen Revolution). Eine Minderheit der Delegierten waren Mitglieder der Ersten Internationale.

Die Delegierten erhielten ein Mindestgehalt, das jenem ihrer WählerInnen, der ArbeiterInnen entsprach. Sie waren ihren WählerInnen verantwortlich und konnten von diesen abgewählt werden.

Die Commune beging ein Reihe taktischer Fehler, die sich später als tragisch erweisen sollten. Sie lehnte es ab, eine militärische Offensive gegen die Konterrevolution zu starten und gab so den Versaillern Zeit, sich auf den Kampf gegen das aufständische Paris vorzubereiten und zu reorganisieren. Die Commune versäumte es auch, die französische Zentralbank zu verstaatlichen und ihre Goldreserven zu konfiszieren.

Rasch wurde die Commune in die Defensive gedrängt und Paris belagert. Aber selbst in den wenigen Monaten ihres Bestehens verwirklichte sie eine Reihe von Reformen wie die Trennung von Kirche und Staat, die Abschaffung der Todesstrafe, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Aufbau einer Arbeitermiliz. Die IAA agitierte auf der ganzen Welt für die Verteidigung und Unterstützung der Commune.

Marx und Engels zogen die Lehren aus der Geschichte der Commune. Erstmals wurden sie in „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ niedergelegt, ein Klassiker des Marxismus, der auch vom Generalrat der Internationale angenommen wurde.

Marx schloss aus den Erfahrungen der Commune nicht nur, dass die bürokratische, bürgerliche Staatsmaschinerie zerschlagen werden muss – diese Lehre geht schon auf die Analyse des 18. Brumaire Napoleons III. zurück. Er zeigt vor allem, dass mit der Commune endlich Form gefunden war, in der die Diktatur des Proletariats, die Herrschaft der Arbeiterklasse verwirklicht werden konnte.

Trotz ihrer Fehler und Grenzen war die Commune ein neuer Staatstypus. Die stehende Armee, die unkontrollierte bürokratische Beamten- und Verwaltungsmaschine des bürgerlichen Staats wurde zerschlagen und durch einen neuartigen Staat ersetzt: durch die Bewaffnung des Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten und durch die Räte.

Die zweite damit verbundene, nochmals bestätigte Lehre bestand darin, dass die Arbeiterklasse eine eigene, politische Klassenpartei braucht. Das Fehlen einer politischen Organisation, die den Kampf hätte organisieren und führen können, unterminierte die Fähigkeit der Commune, sich gegen die Konterrevolution zu verteidigen und diese zu besiegen. Mehr als 30.000 CommunardInnen wurden durch die Konterrevolution ermordet, zehntausende mussten fliehen und ins Exil gehen.

Marx und Engels schlossen daraus, dass die Schaffung eine Arbeiterinternationale notwendiger denn je war. Sie schlossen daraus, dass revolutionären Arbeiterparteien notwendig waren, um der reaktionären Hexenjagd und dem Vormarsch der Konterrevolution international und koordiniert entgegentreten zu können.

Der Kampf mit dem Anarchismus

In dieser Periode entflammte der Kampf mit den Anarchisten unter der Führung von Bakunin, welche die Internationale mehr und mehr lähmten. Michail Bakunin wurde 1814 in Russland geboren und begegnete Marx zum ersten Mal im Jahr 1844. Er nahm aktiv an der 1848er Revolution in Deutschland teil.

1868 gründete er die „Allianz der sozialen Demokratie“, die relativ viele AnhängerInnen in der Schweiz, Spanien und Italien hatte.

Die Allianz suchte als Organisation um den Beitritt zur Internationale an. Marx und der Generalrat lehnten das ab und schlugen vor, dass ihre Mitglieder, darunter auch Bakunin, individuell den nationalen Sektionen der IAA beitreten sollten. Daraufhin wurde die Allianz scheinbar aufgelöst. In Wirklichkeit agierte sie aber weiter als Geheimfraktion in der IAA.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich anhand der Lehren aus der Pariser Commune die Differenzen zwischen Marxismus und Anarchismus vertiefen mussten. Die Anhänger Bakunins lehnten Parteien und Politik prinzipiell ab. Kein Wunder also, dass sie ihren politischen Angriff auf Marx und die von ihm im „Klassenkampf in Frankreich“ erarbeiteten politischen Lehren genau zu dieser Frage eröffneten.

Der Kampf gegen den Anarchismus sollte aus verschiedenen Gründen gleichzeitig der letzte Kampf in der IAA sein. Warum? Erstens folgte auf die Niederlage der Commune eine tiefe, reaktionäre Periode in Europa.

Zweitens – damit zusammenhängend – wandten sich die britischen Gewerkschaften, die eigentliche Machtbasis von Marx in der Internationale von der IAA ab, ja überhaupt vom Ziel, eine von allen Fraktionen der herrschenden Klasse unabhängige Arbeiterpolitik zu betreiben.

Schon 1867 hatten die englischen Gewerkschaften eine Ausdehnung des Wahlrechts auf die besser gestellten ArbeiterInnen, die entstehende Arbeiteraristokratie erreicht. Dadurch konnten einige Gewerkschaftsführer über die liberale Partei Parlamentssitze ergattern. Viele Gewerkschaften wurden zur politischen Gefolgschaft der Liberalen.

Auch im Generalrat der Internationale gab es eine Fraktion, die in einem Pakt mit den Liberalen den wichtigsten Weg zu weiteren Erfolgen sah.

Marx und Engels wiederum hatten im „Bürgerkrieg in Frankreich“ ihre Anschauung eher noch radikalisiert – und ihre Ausdrucksweise. Das schreckte die nach rechts gehenden Gewerkschaftsführer auf. George Odger und Benjamin Lucraft traten aus dem Generalrat der Internationale zurück. Odger trat der Liberalen Partei bei. Selbst die linkeren Arbeiterführer wie Applegarth und Mottershead, die Marx jahrelang sehr nahe standen, distanzierten sich nun von der Internationale.

Die Anhänger Bankunins organisierten sich inzwischen gehein innerhalb der Internationale und hatten auch eine gewisse Anhängerschaft unter den Schweizer HandwerkerInnen, v.a. den kleinbürgerlich geprägten Uhrmachern im Jura.

Der Londoner Kongress von 1871 verbot die Mitgliedschaft von Geheimbünden in der IAA. Er forderte den Zusammenschluss der Jura-Föderation mit der älteren Genfer Gruppe der Ersten Internationale, die die Politik der Generalrats unterstützte.

Der Kampf ging jedoch in der Hauptsache nicht um die Frage der Geheimbündelei in der Internationale. Der Londoner Kongress nahm auch eine Resolution zur Frage des politischen Kampfes an, die sich direkt gegen die Anhänger Bakunins wandte.

Die AnarchistInnen lehnten den politischen Kampf wie auch die Schaffung einer politischen Partei ab. Sie hielten das für eine Form der politischen Ablenkung, wenn nicht gar Unterordnung unter das bestehende System. Der Organisierung zur politischen Partei, die ihrer Meinung nach das autoritäre System des Staates nur kopieren würde, stellten sie den Aufbau kleiner konspirativer Gruppen, von Geheimbünden entgegen, die durch eigene gewaltsame Aktionen den Kapitalismus beenden und die Revolution herbeiführen sollten.

Marx und Engels lehnten diese Taktik ab. Der „prinzipielle“ Verzicht auf bestimmte – sei es politische oder gewerkschaftliche – Kampfformen, so wiesen sie nach, läuft nur auf die freiwillige Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten oder überhaupt auf das Ignorieren bestimmter Ausprägungen des Klassenkampfes hinaus. Taktiken wie der Boykott der Politik oder von bürgerlichen Wahlen durch die Arbeiterbewegung führen nur dazu, dass die Arbeiterklasse insgesamt für ganze Phasen politisch apathisch bleibt oder gezwungen ist, zwischen verschiedenen Politikern oder Programmen der herrschenden Klasse zu „wählen“.

Die Kampftaktik der Anarchisten, an die Stelle des organisierte und zentralisierten Kampfes einer Partei, die ihre Politik vor der Klasse begründen und die Massen überzeugen muss, eine kleine Gruppe von „Geheimbündlern“ zu stellen, war für Marx und Engels (und wie die ganze Geschichte bis heute bewiesen hat) nicht nur politische hoffnungslos. Sie ist im Grunde viel elitärer als jede Form der politischen Partei, weil jede Geheinstruktur notwendigerweise von der Masse nie kontrolliert werden kann.

Der Kampf mit den Anhängern Bakunins wurde nach dem Londoner Kongress fortgesetzt und zog sich das ganze Jahr 1872 hin. Marx erkannte, dass die IAA durch den Fraktionalismus zerstört wurde. Für Engels und ihn hatte der Kampf aber trotzdem große Bedeutung. Er ging darum, ob die Internationale zu einer anarchistischen Sekte werden oder zumindest die Zielsetzung weiter fortleben sollte, eine genuine Massenbewegung der Arbeiterklasse zum Sturz des Kapitalismus zu schaffen.

Der Haager Kongress

Im September 1872 fand der letzte, wirkliche Kongress der IAA in Haag statt. Die ersten drei Tage brachte er damit zu, festzustellen, wer eigentlich delegiert sei. Schließlich unterstützten 40 Delegierte Marx und den Generalrat, 24 Bakunin.

Der Kongress unterstützte den Generalrat und seine Vollmachten, darunter auch jene, Sektionen oder Individuen aus der Internationale ausschließen zu können. Bakunin wurde schließlich ausgeschlossen. Seine politische Karriere war damit zu Ende. Er zog sich aus der Politik zurück und starb 1875.

Ein andere Resolution bekräftigte noch einmal die Notwendigkeit der Schaffung von Arbeiterparteien.

Schließlich wurde der Sitz des Generalrats diskutiert und auf Antrag von Marx und Engels beschlossen, ihn nach New York zu verlegen.

Ein Grund dafür war das Wachstum der Arbeiterbewegung in den USA, wo die IAA 30 Ortsgruppen und mehr als 5000 Mitglieder hatte. Es war gerade auch angesichts der massiven Repression in Europa zweifellos eine rationale Überlegung, sich stärker mit der entstehenden US-amerikanischen Arbeiterbewegung zu verbinden.

Der entscheidende Grund für die Verlegung des Sitzes der IAA war jedoch ein anderer, nämlich die Leitung der Internationale dem Einfluss der Bakuninisten und Blanquisten gänzlich zu entziehen.

Die Anarchisten versuchten, das durch eine prinzipienlose Allianz mit den rechten britischen Gewerkschaftsführern zu verhindern, die ja auch gegen jede unabhängige Arbeiterpolitik und gegen die Schaffung von Arbeiterparteien eintraten.

Marx´ Vorschlag wurde jedoch mit 30 gegen 14 Stimmen angenommen, der Sitz des Generalrats nach New York verlegt und Adolph Sorge zum Generalsekretär der IAA gewählt.

Sie wuchs jedoch in den USA nicht mehr an. Der letzte Kongress der Ersten Internationale fand 1876 in Philadelphia statt.

Marx und Engels kamen schon vorher zur Schlussfolgerung, dass die Internationale vorübergehend keinen Nutzen bringen würde und nicht künstlich am Leben gehalten werden könne oder sollte. In einem Brief an Sorge bringt das Marx zum Ausdruck:

„Nach meiner Ansicht von den europäischen Verhältnissen ist es durchaus nützlich, die formelle Organisierung der Internationalen einstweilen in den Hindergrund treten zu lassen und nur, wenn möglich, den Zentralpunkt in New York deswegen nicht aus den Händen zu geben, damit keine Idioten wie Perret oder adventurers wie Cluseret sich der Leitung bemächtigen und die Sache kompromittieren. Die Ereignisse und die unvermeidliche Entwicklung der Dinge werden von selbst für die Auferstehung der Internationalen in verbesserter Form sorgen. Einstweilen genügt es, die Verbindung mit den Tüchtigsten in den verschiedenen Ländern nicht ganz aus den Händen schlüpfen zu lassen, …“ (Marx, Brief an Sorge, 27.9.1873, S. 606)

Lehren der Ersten Internationale

Die IAA machte größere Arbeitermassen mit dem Marxismus bekannt. Sie bekräftige viele Thesen des Kommunistischen Manifests, insbesondere hinsichtlich der historischen Rolle der Arbeiterklasse und der Notwendigkeit, den Kapitalismus durch eine sozialistische Revolution zu stürzen.

Sie erarbeitete die Grundlagen der Marxistischen Haltung zu den Gewerkschaften und eine Reihe anderer wichtiger programmatischer und taktischer Positionen. Sie hob die Notwendigkeit der Schaffung von Arbeiterparteien und deren politischer Unabhängigkeit von allen Flügeln des „fortschrittlichen“ Bürgertums hervor.

Sie stellte den Kampf für Reformen wie den Acht-Stunden-Tag in den Kontext des Kampfes für die soziale Emanzipation der Arbeiterklasse. Sie unterstützte den ersten Versuch der Arbeiterklasse, die politische Macht zu ergreifen und zu behaupten. Sie entwickelte dabei das revolutionäre Programm in der Staatsfrage gegen Reformisten und Anarchisten entscheidend weiter.

Die Erste Internationale hat nicht nur viele Forderungen des Kommunistischen Manifests aufgegriffen und popularisiert. Sie hat auch viele Positionen selbst entwickelt: Steuerforderungen wie die Ablehnung indirekter Steuern; Forderungen nach Sozialisierung und Planwirtschaft; Notwendigkeit von Arbeitermilizen, um die bürgerliche Armee zu zerstören; Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe in Polen und Irland.

Die Erste Internationale hat wichtige politische Grundlagen geschaffen für eine demokratisch-zentralistische Internationale mit gemeinsamem Programm, gemeinsamer Disziplin, gemeinsamen Zielen.

Ein Jahrzehnt lang waren Marx, Engels und ihre AnhängerInnen in der Lage, eine führende Rolle in den Arbeiterkämpfen einzunehmen, RevolutionärInnen im Kampf mit ernsthaften, nach links gehenden GewerkschafterInnen und ReformistInnen zu vereinen und diese für kommunistische Positionen zu gewinnen. Sie haben gleichzeitig den politischen Kampf gegen die Kapitulation der Gewerkschaftsführer vor den Liberalen, gegen anarchistisches Abenteurertum und den utopischen Sozialismus geführt. Sie haben so in Theorie und Praxis entscheidende Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus geschaffen und vertieft. Sie haben die Grundlagen für eine neue Marxistische Internationale geschaffen.

„Die Internationale hat zehn Jahre europäischer Geschichte nach einer Seite hin – nach der Seite hin, worin die Zukunft liegt – beherrscht und kann stolz auf ihre Arbeit zurückschauen. Aber in ihrer alten Form hat sie sich überlebt. Um eine neue Internationale in der Weise der alten, eine Allianz aller proletarischen Parteien aller Länder hervorzubringen, dazu gehörte ein allgemeines Niederschlagen der Arbeiterbewegung, wie es 1849-64 vorgeherrscht. Dazu ist jetzt die Welt zu groß, zu weitläufig geworden. Ich glaube, die nächste Internationale wird – nachdem Marx’ Schriften einige Jahre gewirkt – direkt kommunistisch sein und geradezu unsere Prinzipien aufpflanzen.“ (Engels, Brief an Sorge, 12.-17.9.1864, MEW 33, S. 642)

Nach dem Zusammenbruch

Marx und Engels wandten sich nach dem Zusammenbruch der IAA vermehrt den deutschen SozialdemokratInnen zu. Diese hatten nicht nur die Illegalität unter den Sozialisten-Gesetzen (1878-1890) überstanden, sondern waren sogar gestärkt daraus hervorgegangen.

Marx und Engels betrachteten den Untergang der Ersten Internationale ohne Wehmut, sondern durchaus zuversichtlich. Sie gingen davon aus, dass eine neue Internationale nicht einfach improvisiert werden könne, sondern dass ihr große gesellschaftliche und politische Ereignisse vorausgehen würden. Dazu müsste jedoch auch die politische und ökonomische Stabilität nach dem Vormarsch der europäischen Konterrevolution unterminiert werden.

So warnte Engels 1882 in einem Brief an Johann Becker, einem wichtigen kommunistischen Vertreter der Ersten Internationale, vor einer „vorschnellen“ Gründung einer neuen Internationale, da diese keine nennenswerten neuen politischen Kräfte umfassen würde, sondern vielmehr die Gefahr bestünde, dass sie die falschen Leute aufnehme und zu einer putschistischen Propagandagesellschaft verkommen würde. Die existierenden sozialistischen Gruppierungen, Zirkel, Zeitungen würden durch eine voreilige Proklamation der Internationale nichts gewinnen, sondern nur deren Idee diskreditieren.

„Kommt aber der Moment, wo es gilt, die Kräfte zusammenzufassen, so ist es ebendeswegen Sache eines Moments und braucht keine lange Vorbereitung. Die Namen der Vorkämpfer eines Landes sind in allen andern bekannt, und eine von allen unterzeichnete und vertretene Manifestation würde einen kolossalen Eindruck machen, ganz anders als die meist unbekannten Namen des alten Generalrats. Aber ebendeshalb muss man eine solche Manifestation aufsparen bis zum Moment, wo sie durchschlagend wirken kann, d.h., wo europäische Ereignisse sie provozieren. Sonst verdirbt man sich den Effekt für die Zukunft und tut nur einen Schlag ins Wasser. Solche Ereignisse aber bereiten sich vor in Russland, wo die Avantgarde der Revolution zum Schlag kommen wird. Das und den unvermeidlichen Rückschlag auf Deutschland muss man abwarten – nach unsrer Meinung -, und dann wird auch der Moment einer großen Manifestation kommen und der Herstellung einer offiziellen, förmlichen Internationale, die aber keine Propagandagesellschaft mehr sein kann, sondern nur noch eine Gesellschaft für die Aktion.“ (Engels, Brief an Becker, MEW 35, S. 276)

Diese Position und gemeinsame Schlussfolgerung von Marx und Engels war auch eine Kerndifferenz mit den Anhängern Bakunins. Marx und Engels wollten die schon existierenden oder in Bildung begriffenen Massenorganisationen der Klassen, allen voran Arbeiterparteien zum Kern einer neuen Internationale machen. Eine Internationale kleiner Propagandagruppen, die noch dazu selbst auf dem Boden aller möglichen Verschwörertaktiken und utopischer Programme standen, konnte daher auch nur schädlich sein.

Ansätze zur Schaffung der Zweiten Internationale

Anfang der 1880er Jahre wurden die ersten Versuche zur Konstituierung einer Zweiten Internationale sichtbar. Gerade wegen ihrer oben genannten Befürchtungen standen Marx und Engels diesen Versuchen sehr skeptisch gegenüber. So schrieb Marx 1881 an die Niederländischen Revolutionäre in ähnlichem Ton wie Engels an Becker, dass er „alle Arbeiterkongresse, resp. Sozialistenkongresse, soweit sie sich nicht auf unmittelbare, gegebne Verhältnisse in dieser oder jener bestimmten Nation beziehn, nicht nur für nutzlos, sondern für schädlich“ halte. (Marx an Nieuwenhuis, 22. Februar 1881, MEW 35, S. 161)

Marx und Engels sollten darin recht behalten, dass alle Versuche, einen nennenswerten internationalen Zusammenschluss am Beginn der 1880er Jahre zu schaffen, zu nichts führten, und ebenso rasch zerfielen, wie sie zustande kamen.

Aber im Laufe des Jahrzehnts änderte sich die Lage. In Europa und in den USA waren Gewerkschaften und sozialistische Organisationen und Parteien stark gewachsen. Ein immer größeres Bedürfnis nach internationaler Zusammenarbeit erwuchs bei jenen Kräften, die wichtige Teile der Arbeiterklasse repräsentierten.

1890 wurde das Sozialistengesetz aufgehoben. Die Deutsche Sozialdemokratie war zu einer Massenorganisation geworden. Die Französischen Sozialisten waren zwar seit 1882 gespalten in Marxisten (die von Guesde geführte Arbeiterpartei) und den „Possibilisten“ (geführt von Paul Brousse). Trotzdem wuchsen beide Parteien stark, führten wichtige Kämpfe zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für den Achtstundentag.

In den USA waren die „Knights of Labour“ und später die AFL (American Federation of Labour) ebenfalls in den Kampf um den Achtstundentag involviert.

In Britannien rekonstituierte sich die sozialistische Bewegung um drei Parteien: Die Sozialdemokratische Föderation Henry Hyndmans, die anarchistisch beeinflusse Socialist League um William Morris und die schottische Labour Party von Keir Kardie.

Die Gewerkschaften standen noch immer im Bündnis und unter Kontrolle der Liberalen Partei, aber es regte sich mehr und mehr Widerstand gegen die politische Unterordnung unter einen Flügel der herrschenden Klasse. Das zeigte sich insbesondere 1889 beim Dockerstreik, als viele ungelernte ArbeiterInnen in Aktionen traten und als es zu militanten Arbeitslosendemos kam.

Anlässlich der Weltausstellung in Paris 1889 – zum Jahrestag der Großen Französischen Revolution – ergriffen die französischen Sozialisten die Initiative zur Formierung einer neuen Internationale, obwohl sie in zwei Flügel spalten waren. Die „Possibilisten“ repräsentierten eine Frühform des Reformismus oder Revisionismus. Ihrer Auffassung nach sollte sich die Arbeiterbewegung auf das „Machbare“ – daher auch Possibilisten – beschränken. Ihnen standen die AnhängerInnen von Marx und Engels gegenüber, die an einer revolutionären Perspektive festhielten.

Die Possibilisten hatten schon zwei internationale Kongresse – 1883 und 1886 – organisiert, auf denen sozialistischen Organisationen und Gewerkschaften vertreten waren, darunter auch der britische TUC.

Die Konferenz von 1886 beschloss außerdem gemeinsame Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Verkürzung der Arbeitszeit. Kurz nach der Tagung organisierten die französischen Gewerkschaften einen eintägigen Generalstreik für den Achsstundentag und versuchten die Aktion mit britischen Gewerkschaftern zu koordinieren. Der nächste Kongress sollte 1888 in London vom TUC ausgerichtet werden.

Dabei nahmen die Führer des britischen Dachverbandes nur sehr widerwillig an den Kongressen teil. Der Führungskern des TUC – das Parliamentary Committee (ein Komitee, das hauptsächlich versuchte, Einfluss auf Parlamentarier zu gewinnen; das einzige zentrale Führungsgremium des TUC zwischen Kongressen) – war in dieser Frage von zwei Gewerkschaftskongressen überstimmt worden.

Das Parliamentary Committee opponierte gegen die Teilnahme an den Arbeiterkongressen, weil es die Teilnahmen der „Sozialisten“ vom Kontinent befürchtete. Statt dessen setzte es weiter auf Reformen und Abkommen mit der Liberalen Party.

Es konnte jedoch nicht verhindern, dass die Abhaltung des nächsten Kongresses in London vom TUC beschlossen wurde. Ähnlich wie heute die Reformisten in den Sozialforen setzte es jedoch durch, dass keine Parteien an dem Kongress teilnehmen dürften.

Beim internationalen Gewerkschaftskongress 1888 waren daher die Sozialistischen Parteien ausgeschlossen. SozialistInnen und Vertreter Sozialistischer Parteien nahmen zwar teil, aber nur bei Umgehung des Verbotes. Bekannten Sozialisten wie John Burns und Tom Mann (beide SDF) und Keir Hardie wurden ausgeschlossen, obwohl letzterer von den Schottischen Bergarbeitern delegiert worden war.

Insgesamt war der Kongress ein Schritt zurück. Die Deutschen Sozialisten konnten aufgrund der Sozialistengesetze nicht teilnehmen. Das Verbot politischer Parteien führte auch dazu, dass viele sozialistische Gruppierungen und Organisationen nicht vertreten waren. Besonders wichtig war dabei der Ausschluss der französischen MarxistInnen um Guesde.

Die Führer des TUC waren darüber natürlich erfreut und schlossen eine Bündnis mit den Possibilisten. Unter ihrem gemeinsamen Vorsitz wurde jeder Protest gegen den Ausschluss politischer Parteien unterbunden und z.B. Keir Hardie am Reden gehindert, während die „Arbeiter“parlamenterier, die über die Liberale Partei ins britische Unterhaus gekommen waren, am Kongress natürlich teilnehmen konnten.

Gefahr einer reformistischen Masseninternationale

Der Ausschluss politischer Parteien und die geringe Teilnahme kontinental-europäischer Sozialisten führte dazu, dass die Vorbereitung des internationalen Arbeiterkongresses 1889 praktisch in die Hände deklarierter Anti-Marxisten und Reformisten fiel – der SDF Hyndmans und der französischen Possibilisten.

Engels erkannte die Gefahr, die von dieser neuen Konstellation ausging. Die Anti-Marxisten hatten freie Hand und es bestand die Gefahr, dass sie eine neue Masseninternationale schaffen würden, die fest unter ihrer Führung steht.

Während bei den verfrühten Versuchen zur Gründung einer neuen Internationale am Beginn der 1880er Jahre, die meist von sektiererischen Propagandagruppen ausging, wenig Gefahr bestand, dass das Projekt je Realität werden könnte, so bestand nun die ernste Gefahr, dass eine von Beginn an reformistische Masseninternationale zustande kommt, die wirkliche Kräfte führt.

Daher widmete sich Engels Anfang 1889 über seine Kontakte in London und in seiner ausführlichen Korrespondenz mit französischen und deutschen Sozialisten und Kommunisten einer Kampagne gegen den Pariser Kongress, um zu verhindern, dass eine mögliche neue Internationale in die Hände der Gegner des Marxismus fallen würde.

Dafür unterbrach er auch seine Arbeit an der Herausgabe des dritten Bandes des Kapital und ging daran, eine Gegenkraft zur Koalition von Possibilisten und TUC-Führern aufzubauen.

Im Lauf des Jahres wurde es klar, dass am 14. Juli 1889 zwei internationale Kongresse in Paris tagen würden. Die französischen Guesdeisten hatten zu einem „Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress“ aufgerufen, der von den Deutschen Sozialdemokraten und den Belgischen Sozialisten unterstützt wurde.

Die Possibilisten mobilisierten weiter für ihren Kongress. Versuche, die beiden doch noch zu vereinen, scheiterten. Schließlich kam es zum Kampf um die Größe und Repräsentativität des jeweiligen Kongresses.

Engels spielte eine wichtige Rolle, die Manöver von Hyndman und der Possibilisten zu durchkreuzen. Er redigiert die von Bernstein auf seine Initiative verfasste Broschüre „Der Internationale Arbeiterkongress von 1889“, die im März und April 1889 in Englisch und Deutsch erschien und eine wichtige Rolle gerade in Britannien spielte.

Tom Mann und John Burns – führende Mitglieder von Hyndmans SDF – begannen, in ihrer Partei gegen die Praktiken ihres Anführers zu opponieren. William Morris, Mitglied der Socialist League, veröffentlichte einen Aufruf für eine Konferenz der Marxistischen Kräfte, der selbst von Reformisten wie Keir Hardie unterstützt wurde. Im Juni 1889 zeigte sich das Kräfteverhältnis deutlich:

„Die Possibilisten haben außer der Social Democratic Federation keine einzige sozialistische Organisation in ganz Europa. Sie fallen daher auf die nichtsozialistischen Trade-Unions zurück …“ (Engels, Brief an Sorge, 8. Juni 1889)

Engels schloss keineswegs eine Vereinigung aus. Aber:

„Wenn beide Kongresse offen sozialistisch wären, könnten wir hinsichtlich der Form manche Konzession machen, um einen Skandal zu verhindern. Aber die Gruppierung in zwei Lager unter zwei Fahnen, die sich ohne uns ergeben hat, fordert, dass wir die Ehre der sozialistischen Fahne schützen; die Vereinigung, wenn sie zustande kommt, wird keine Vereinigung, sondern eher eine Allianz sein, und die Bedingungen einer solchen Allianz müssten genau diskutiert werden.“ (Engels, Brief an Paul Lafargue, 15. Juni 1889)

Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis eine solche Allianz zustande kam.

Der Kongress der Possibilisten war zwar mit 600 Delegierten größer. Aber rund 500 davon waren Franzosen. Die deutsche Arbeiterbewegung, die sich in dieser Phase zur stärksten der Welt entwickelte, war am Kongress der Possibilisten überhaupt nicht vertreten.

Der Marxistische Kongress wurde von 391 Delegierten besucht und war weitaus repräsentativer (darunter: 81 deutsche, 22 britische, 14 belgische, 8 österreichische und kleinere Delegationen aus den Niederladen, Dänemark, Schweden, Italien, Spanien, Portugal, Russland).

Viele Delegierte waren bekannten Arbeiterführer oder sollten es in den kommenden Jahrzehnten werden: Wilhelm Liebknecht, August Bebel, Clara Zetkin; Victor Adler; Paul und Laura Lafargue, Eduard Vaillant; Georgi Plechanov, Emile Vandervelde; William Morris, Eleanor Marx, Keir Hardie.

Beide Kongresse waren politisch keineswegs so klar und einheitlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Anarchisten waren z.B. auf beiden, wenn auch in größerer Zahl bei dem der Possibilisten vertreten. Einige Delegierte wechselten auch die Kongresse.

Trotzdem konnten sich beide Kongresse – nicht zuletzt aufgrund der Intervention des AFL, der zwei Delegierte bei den Possibilisten und einen Beobachter bei den Marxisten stellte – auf einige wichtige gemeinsame internationale Aktionen einigen.

Der AFL hatte schon 1888 eine große Kampagne für den Achtstundentag gestartet. Die französische Arbeiterbewegung hatte diese Idee aufgegriffen und im Februar 1889 Demonstrationen und Streiks im ganzen Land organisiert.

Für den 1. Mai 1890 wurde ein internationaler Streiktag für die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit auf 8 Stunden vereinbart. Auf Antrag der deutschen Delegierten, wurde der Antrag damit ergänzt, dass die jeweiliger Situation im Land berücksichtigt werden sollte und anstelle des Streiks andere Aktionen durchgeführt werden könnten. Der Hintergrund für diese Relativierung war, dass viele deutsche Delegierte befürchteten, ein Massenstreik könne zum Vorwand für die Wiedereinführung der Sozialistengesetze dienen.

Der Erste Mai 1890 war ein gigantischer Erfolg, auch wenn die Demonstrationen in Deutschland und Britannien erst am Sonntag nach dem Stichtag stattfanden. Die größten Kundgebungen und Streiks fanden in Frankreich, Österreich-Ungarn, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Italien, den USA und Skandinavien statt.

Dieser Erfolg führte dazu, dass der nächste Kongress ein gemeinsamer war. Er wurde 1891 in Brüssel durchgeführt und die Zweite Internationale formell aus der Taufe gehoben.

Zweifellos war die Zweite Internationale keine marxistische Internationale, sondern von Beginn an auch das Terrain, auf dem die politischen Gegensätze in der Arbeiterbewegung ausgetragen wurden.

Kampf gegen den Anarchismus in der Zweiten Internationale

Der politische Kampf, den Marx und Engels in der Ersten Internationale gegen den Anarchismus geführt hatten, wurde auf den ersten vier Kongressen der Zweiten Internationale fortgesetzt. Die Auseinandersetzung konzentrierte sich auf die Frage der „politischen Aktion“, also darauf, ob SozialistInnen auch für Parlamente kandidieren und, einmal gewählt, für Gesetzesreformen im Interesse der Arbeiterklasse eintreten sollten oder ob sie sich davon fernhalten und, wie die Anarchisten vorschlugen, auf die „direkte Aktion“ beschränken sollten.

Letztere Position hatte eine starke Anziehungskraft. Sie konnte sich auf eine traditionelle Unterstützung in vielen Teilen Europas stützen und auf das lebendige Erbe der Barrikadenkämpfe der 1848er Revolution und der Pariser Kommune von 1871.

Aber die Anarchisten erkannten nicht, dass jede erfolgreiche Aufstandstaktik eine tiefe soziale Krise, eine revolutionäre Situation voraussetzt, dass eine Revolution weder durch einen noch so „heroischen“ Willen zum Aufstand, noch durch die „Propaganda der Tat“ erzwungen werden kann.

Diese Auseinadersetzung muss auch vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung betrachtet werden. Zwischen 1889 und 1903 gab es kaum eine revolutionäre oder vorrevolutionäre Situation in einem europäischen Land.

Gleichzeitig gab es aber eine wachsende organisierte Arbeiterklasse, die politische und soziale Reformen (nicht zuletzt auch über Wahlen) erkämpfen wollte. Die Haltung der Anarchisten verdammte sie entweder zu reiner, abstrakter Propaganda und Zirkelwesen, zum individuellen Terrorismus (eine Taktik, die sie von den russischen Populisten übernommen hatten) oder zu einer besonderen Formen des Gewerkschaftertums, den Anarcho-Syndikalismus. Es ist kein Zufall, dass es nur diese Spielart des Anarchismus vermochte, in Spanien, Frankreich und Italien zeitweilig Masseneinfluss zu erlangen.

Die Marxistischen Parteien, allen voran die SPD, konzentrierten sich in dieser Periode auf den Kampf für Arbeiterrechte, den Aufbau der Gewerkschaften, Kampagnen für das Wahlrecht für Männer und Frauen. Sie organisierten eine proletarische Frauenbewegung und eine sozialistische Jugendbewegung. Sie verbreiteten den Marxismus unter hunderttausenden ArbeiterInnen.

Andere Parteien der Zweiten Internationale folgten dem Beispiel der deutschen Sozialdemokratie und errangen ähnliche Erfolge. Die Belgischen Sozialisten waren fest in den Gewerkschaften und der Genossenschaftsbewegung verankert. Sie wandten als erste die Taktik des Massenstreiks für das allgemeine Wahlrecht an. 1886 blieb sie noch ohne Erfolg, 1893 mobilisierte sie große Arbeitermassen. 1913 wurde schließlich das allgemeine Männerwahlrecht durch politische Massenstreiks erzwungen.

Diese realen Erfolge der „politischen Aktion“ und der Verallgemeinerung dieser Taktiken hatten die Anarchisten und Syndikalisten schließlich nichts entgegenzusetzen.

Der Aufstieg des Reformismus in der SPD

Die Aufhebung der Sozialistengesetze 1890 gab der Sozialdemokratie auch die Möglichkeit, ihr eigenes Programm neu zu diskutieren. In den Jahren der Illegalität hatte sich eine linke Opposition in der Partei gebildet, die parlamentarische Aktivitäten als nutzlos kritisierte. Gleichzeitig wurden jedoch die Reichstagsabgeordneten der Sozialdemokratie zu wichtigen Tribunen, welche die politische Bühne zur Denunziation des Systems, zur Propaganda für den Sozialismus und zum Kampf für Reformen nutzten.

Natürlich wurden nur wenige solcher Forderungen vom Reichstag aufgegriffen, geschweige denn umgesetzt. Aber die SPD war durch diese Politik in der Lage zu zeigen, dass selbst zur Durchsetzung solcher demokratischer und sozialer Errungenschaften eine sozialistische Umwälzung und die Erringung der Macht notwendig waren. Bei den Wahlen und im Parlament trat die SPD in klarer Opposition zu allen bürgerlichen Parteien auf – von der Rechten, über das katholische Zentrum bis zu den Liberalen. Sie lehnte auch alle „fortschrittlichen“ Blöcke mit den Links-Liberalen ab und trat auf einer offen sozialistischen Wahlplattform an.

Aber das sozialistische Ziel und die unmittelbaren Forderungen (Reformen) mussten miteinander in Bezug gesetzt werden. Diese Aufgabe sollte mit dem Erfurter Programm von 1891 gelöst werden. Dieses Programm ist in zwei Abschnitte geteilt. Im ersten Teil werden die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus dargestellt, die Notwendigkeit der politischen Machtergreifung der Arbeiterklasse und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. Der zweiten Abschnitt beinhaltet eine Reihe von unmittelbaren Forderungen, die die Sozialdemokratie im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzen wollte. Der erste Abschnitt wurde später als „Maximalprogramm“, der zweite als „Minimalprogramm“ bekannt.

Die Verbindung zwischen den beiden Teilen war freilich unbestimmt, es klaffte eine Lücke zwischen ihnen, die jedoch solange überbrückt werden konnte, als die ArbeiterInnen graduell unmittelbare Reformen durchsetzen konnten und gleichzeitig keine revolutionäre Krise herannahte.

Die Erfolge der SPD führten jedoch zum Anwachsen reformistischer und opportunistischer Tendenzen. Diese entstanden zuerst in Süddeutschland, wo die revolutionären Teile des Programms verwässert wurden, um Kleinbauern leichter für die Partei gewinnen zu können. Bald aber zeigten sich diese Tendenzen auch in den Gewerkschaften, und zwar in weitaus stärkerer und gefährlicherer Form.

Mit der Aufhebung der Sozialistengesetze hatte die SPD ihr Bemühen verstärkt, die ArbeiterInnen gewerkschaftlich zu organisieren. In der Partei entstand eine Tendenz, das Programm dem rein-gewerkschaftlichen Bewusstsein vieler ArbeiterInnen anzupassen und politische und sozialistische Forderungen zu streichen. Diese Gefahr wurde auch durch den Erfolg und das starke Wachstum der Gewerkschaften in den 1890er Jahren – selbst eine Folge der wirtschaftlichen Expansion des Kapitalismus – verstärkt. Der Vorsitzende der Gewerkschaften, Karl Legien, wurde zu einem wichtigen Mentor der Parteirechten.

Aufgrund ihres Wachstums und ihrer Erfolge wurden die Gewerkschaften auch verhältnismäßig reich. Anders als die Parteilinke maß die Gewerkschaftsführung Erfolg nicht in der Vorbereitung der Arbeiterklasse auf die Revolution, sondern in Verbesserungen von Löhnen und Arbeitsbedingungen sowie der Ausweitung der Tarifverträge. Er war nur eine logische Folge, dass die Interessen der entstehenden Gewerkschaftsbürokratie und der besser gestellten Arbeiterschichten eng mit dem bürgerlichen System, mit dem Kapitalismus verschmolzen. Der Reformismus entwickelte mächtige soziale Wurzeln, die Marx und Engels so nicht vorausgesehen hatten.

Vor diesem Hintergrund entwickelte Eduard Bernstein eine theoretische Rechtfertigung der zunehmend reformistischen Praxis der Sozialdemokratie. In der SPD kam es zu einer offenen politischen Konfrontation, die enorme Auswirkungen auf die Entwicklung und das Schicksal der Zweiten Internationale haben sollte.

Bernstein stellte seine Ansichten in dem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ dar. Er lehnte Marx´ Sichtweise ab, dass der Kapitalismus immer tiefere Krisen hervorbringen müsse, sondern hielt dem entgegen, dass Wachstum und Stabilität in diesem System dauerhaft möglich wären.

„Die Zuspitzung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie das ‚Manifest‘ schildert. Es ist nicht nur nutzlos, es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalmagnaten, sonder von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus, Seite 6, Bonn 1984)

Mit der Ausdehnung der Mittelklassen wie auch der Steigerung des Lebensniveaus der ArbeiterInnen verknüpft Bernstein die Vorstellung, dass sich die politischen Institutionen – nicht zuletzt auch aufgrund des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes der Arbeiterbewegung – mehr und mehr allen Klassen öffnen.

Die Demokratie ist für ihn nicht mehr eine bestimmte Form der politischen Herrschaft einer Klasse, sondern die Form, in der die Aufhebung der Klassenunterdrückung sich mehr und mehr vollzieht.

„Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.“ (Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus, Seite 155)

Bernsteins drängte darauf, dass die Sozialdemokratie alles daran setzten solle, nicht nur die Ausdehnung der politischen Rechte der Arbeiterklasse zu erkämpfen. Sie solle darüber hinaus auch an die bürgerliche Regierung zu kommen, was nur eine logische Folge dieser Sichtweise ist. Gleiches gilt für die Forderung, dass die Sozialdemokratie ihre revolutionäre Phraseologie aufgeben müsse, um die Unterstützung eines großen Teils des Bürgertums zu erlangen.

Rosa Luxemburg trat als die schärfste Kritikerin Bernsteins auf. Sie antwortete auf seine Argumente in „Sozialreform oder Revolution“, einem ihrer Hauptwerke. Schon zu Eingang des Werkes weist sie auf die Konsequenzen aus Bernsteins Theorie hin:

„Diese ganze Theorie läuft praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. (…) Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die sozialistische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung verwandelt, so ist die Frage Sozialreform oder Revolution? im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern handelt es sich nicht um diese oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung:“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Gesammelte Werk, Bd. 1, S. 369/370)

Sie wies nach, dass der Kampf für Reformen die Arbeiterklasse auf den Kampf um die Macht vorbereitet – nicht wegen seiner Erfolge, sondern insbesondere wegen seiner Grenzen. Das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise macht eine grundlegende Änderungen der Gesellschaft durch Reformen unmöglich. Gerade das würde der Arbeiterklasse vor Augen halten, dass eine wirkliche Umgestaltung der Gesellschaft im Interesse der großen Mehrheit ist nur durch die politische Machtergreifung mit revolutionären Mitteln möglich sei.

Bernstein und die Revisionisten unterlagen auf dem Parteitag von Hannover 1899 und Dresden 1903 einer Allianz aus Parteilinker und Zentrum. Aber die Resolutionen der Parteitage hatten einen großen Haken. Sie verurteilten die Revisionisten, indem sie Bernsteins Forderungen die traditionellen Prinzipien und Taktiken der Partei entgegenhielten, nicht jedoch, indem sie das Verhältnis des Kampfes für Reformen mit dem Kampf um die sozialistische Revolution wirklich klärten.

Reformismus international

Parallel zu den Debatten in Deutschland wurden die Positionen der Revisionisten auch auf den internationalen Sozialistenkongressen in Paris 1900 und Amsterdam 1904 erörtert.

Auch in Frankreich war die parlamentarische Stärke der Sozialisten gestiegen. 1897 wurde die französische Regierung von einer inneren Krise erfasst. Das bürgerliche Lager war über die Affäre Dreyfus gespalten, einem jüdischen Offizier, der von der politischen Rechten als deutscher Spion denunziert wurde. Einige Sozialistenführer wie Jean Jaures verteidigten Dreyfus öffentlich und entschlossen und wurden dafür von der Parteilinken heftig kritisiert, die ihnen vorwarf, auf einen Streit innerhalb der herrschenden Klasse zu viel Zeit zu verschwenden.

1899 gerieten die Sozialisten, die sich mit den bürgerlichen Verteidigern von Dreyfus verbündet hatten, in eine politische Zwickmühle. Eine neue Regierung wurde gebildet und die liberale Bourgeoisie suchte nach republikanisch gesinnten Verbündeten gegen die Rechte. Ein führender Sozialist, Alexandre Millerand, akzeptierte das Angebot und trat als Handelsminister dem bürgerlichen Kabinett bei – einem Kabinett, dem als Kriegsminister auch General Gallifet angehörte, der Schlächter der Pariser Commune von 1871.

In ganz Europa ging das Wachstum der sozialistischen Parteien mit einer mehr und mehr reformistischen Praxis einher.

Am fünften Kongress der Sozialistischen Internationale, der im September 1900 in Paris stattfand, wollten Jules Guesde, der Wortführer der orthodoxen Marxisten in Frankreich, und der Italienische Delegierte Enrico Ferri ein grundsätzliche Verurteilung jeder Beteiligung an bürgerlichen Regierungen durchsetzen. Sie argumentierten richtig, dass eine Arbeiterpartei nicht gemeinsam mit einer bürgerlichen Partei regieren könne, nur weil sie einige taktische Positionen teilt.

Auch die „fortschrittlichste“ bürgerliche Regierung steht auf dem Boden des Kapitalismus und verteidigt ihn. Die „sozialistischen“ Minister einer solchen Regierung würden unwillkürlich in die Verantwortung für die Regierung, den bürgerlichen Staat und ihre arbeiterfeindlichen Maßnahmen geraten – Einsätze der Polizei gegen Streikende, Erhöhung von Lohn- und Massensteuern, Unterstützung der bürgerlichen Armee, des Militarismus und, in letzter Instanz, von Kriegen, wo die ArbeiterInnen einer Nation gegen ihre Klassenbürger und -schwestern als Kanonenfutter verheizt  werden. Ein solcher Auskauf politischer Prinzipien für kurzfristige Erfolge war also purer Opportunismus – im besten Fall!

Guesde nahm die politischen Konsequenzen für die Arbeiterbewegung vorweg: „Mit einem italienischen Millerand, einem deutschen Millerand, einem englischen Millerand würde es keine Internationale mehr geben.“ Aber viele Delegierte wollten sich die Tür offen halten – für „ihren“ Millerand. So argumentierte der Belgier Vandervelde, dass die Koalition in Frankreich zwar politisch nicht legitim sei, weil es dabei nur um die Frage der Rechte einer Person ging (von Dreyfus) – in Belgien hingegen wäre sie legitim, „wenn es eine Frage der Erringung des allgemeinen Wahlrechts ist“.

Karl Kausky präsentierte eine Resolution der deutschen Delegation, die die einander ausschließenden Positionen miteinander aussöhnen sollte. Diese erlaubte SozialistInnen unter außergewöhnlichen Umständen vorübergehend einer kapitalistischen Regierung beizutreten. Gleichzeitig verurteilte sie Millerand, weil er der Regierung ohne vorhergehende Zustimmung seine Partei beigetreten war.

Der Entwurf wurde angenommen. Die Entscheidung markierte einen politischen Sieg des „Zentrums“ um August Bebel und Karl Kautsky. Weder die Linke noch die Rechte hatte, was sie wollte.

Aber es ist nicht schwer zu sehen, wie eine solche Resolution z.B. im Falle eines imperialistischen Krieges zur Rechtfertigung des Eintritts in ein Kriegskabinett „zur Verteidigung des Vaterlandes“ genutzt werden konnte.

Am Pariser Kongress wurde auch ein Internationales Sozialistisches Büro aus führenden VertreterInnen der wichtigsten Parteien ernannt und ein Sekretariat in Brüssel eingerichtet. Emile Vandervelde wurde erster Vorsitzender. Mit dieser neuen Führungsstruktur wurden große Hoffnungen verbunden. Sobald es aktiver wurde und regelmäßiger tagte, sollte es ein Generalstab der europäischen Revolution werden.

Aber diese Hoffnungen wurden rasch enttäuscht. Das Internationale Sozialistische Büro hatte sehr eingeschränkte Funktionen, da es die großen Parteien der Internationale ablehnten, dass ihre taktischen Entscheidungen von einen internationalen Organ bestimmt werden. Daher beschränkte sich die Funktion des Büros darauf, die Aktivitäten der Mitgliedsparteien zu koordinieren und die Vereinigung rivalisierender sozialistischer Parteien in Ländern mit mehreren Gruppierungen, die der Internationale angehörten, herbeizuführen.

Auf dem Amsterdamer Kongress 1904 debattierten Bebel und Jaurés offen die Frage des Revisionismus. Jules Guesde präsentierte eine Resolution, die 1903 von der deutschen Sozialdemokratie angenommen worden war. Die Debatte zog sich über vier Tage, drei in Unterkommissionen, einen im Plenum. Schließlich wurde der Antrag angenommen.

Die Resolution verurteilte die Revisionisten und hielt fest, dass ihre Taktiken dazu führen würden, dass sich die Internationale mit einem reformierten Kapitalismus abfinden würde. Sie bekräftigte die Position von 1900, dass die Parteien der Internationale keinen kapitalistischen Regierungen betreten dürfen und dass sie ihre Positionen in den Parlamenten zum Kampf um soziale und demokratische Forderungen und zur Propaganda für den Sozialismus nutzen sollten.

Aber ähnlich wie in Deutschland ging die Niederlage der Revisionisten in der Abstimmung damit einher, dass das Verhältnis des Kampfes für Reformen zum strategischen Ziel der Machtergreifung des Proletariats nicht geklärt wurde – und damit zukünftige Konflikte vorprogrammiert waren.

Massenstreikdebatte

1902 führte die belgische Arbeiterklasse einen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht. 1903 wandte die holländische Arbeiterbewegung dasselbe Mittel im Kampf gegen gewerkschaftsfeindliche Gesetze an, die das Streikrecht drastisch beschneiden sollten.

Der Amsterdamer Kongress 1904 sprach sich für den politischen Massenstreik aus, unterschied diesen jedoch scharf vom „anarchistischen Generalstreik“ und warnte davor, dass sich Sozialisten vor der Anarchisten spannen und den Generalstreiks als Allheilmittel akzeptieren würden. Aber der Kongress erkannte aber an, der politische Massenstreik „ein äußerstes Mittel sein kann, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen durchzuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen“ (Resolution zur Frage des Generalstreiks, Internationale Sozialisten-Kongress 1904, in: Antonia Grunenberg (Hg), Die Massenstreikdebatte, Frankfurt/M 1970)

Das war ein Schritt vorwärts, hatte doch gerade die deutsche Delegation bis dahin immer erklärt, dass der Generalstreik überhaupt „nicht zur Diskussion“ stünde. Aber die Resolution blieb vage und wurde nie umgesetzt.

Die russische Revolution 1905 erschüttert die Welt. Sie zeigte auch, wie ein Massenstreik für revolutionäre Ziele eingesetzt werden kann. Sie belebte auch die Debatte um die Eroberung der Macht in den Sektionen der Internationale neu, da sie nach Jahrzehnten die Frage der Machtergreifung als unmittelbare Aufgabe in den Augen von Millionen ArbeiterInnen aufwarf.

In der Internationale brachten die russische Revolution und eine Streikwelle, die in den ersten beiden Jahren nach der Revolution viele Länder umfasste, die Linke im Kampf gegen den wachsende Gewerkschaftsbürokratie wieder in die Offensive.

Sozialismus und Krieg

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts, in der Frühphase der imperialistischen Epoche, nahmen auch die Rivalitäten zwischen den europäischen Mächten zu. Die Kriegsfrage trat daher notwendigerweise in den Mittelpunkt des Interesses. In Frankreich wurde in diesem Zusammenhang immer wieder auch die Generalstreiksfrage diskutiert. Auf dem Stuttgarter Kongress 1907 wurde die Kriegsfrage zum bestimmenden Streitpunkt.

Der Franzose Gustav Hervé schlug eine Resolution vor, die er schon ein Jahr zuvor am Parteitag der französischen Sozialisten eingebracht hatte. Jeder Kriegserklärung sollte mit einer Revolte und einen Generalstreik entgegengetreten werden. In seiner Begründung griff er außerdem die zunehmende Bürokratisierung der deutschen Arbeiterbewegung an.

Bebel trat dem Antrag in der typischen Manier des „Zentrums“ der deutschen Partei entgegen. Eine Debatte sei seiner Auffassung nach überflüssig, da das Thema schon auf früheren Kongressen diskutiert worden sei. Er „vergaß“ dabei zu erwähnen, dass die Resolutionen aller vorhergegangenen Kongresse einen großen Mangel hatten – sie verpflichten die Sektionen der Internationale nicht zur Aktion.

Vandervelde sprach sich ebenfalls gegen den Antrag aus. Da die Bewegung so groß und erfolgreich geworden sein, hätte sie sich auf „wichtigeres“ zu konzentrieren, als auf Resolutionen, die „nur“ feststellten, dass Krieg dem Kapitalismus immanent sei und die stehenden Armen durch Volksmilizen zu ersetzen seien. Indirekt polemisierte er damit auch gegen bestehende Beschlüsse der Internationale.

Gleichzeitig griff auch die Linke massiv in die Debatte ein. Lenin und Luxemburg erkannten aufgrund der Erfahrung der russischen Revolution, dass ein europäischer Krieg auch die Staatsmaschinerie des bürgerlichen Staates unterminieren würde und Sozialisten die Möglichkeit zur revolutionären Machtergreifung bieten könnte. Luxemburg argumentierte dafür, dass die Agitation, Aufstände und Streiks zu Beginn eines Kriegs nicht nur auf die Beendigung des Gemetzels zielen, sondern auch zum Sturz der Klassenherrschaft des Kapitals genutzt werden sollten.

Die Debatte und die scharfen Gegensätze auf dem Kongress führten schließlich zu einer Resolution, die – wie so oft in der Zweiten Internationale – für jeden etwas enthielt, aber niemanden zu bestimmten Aktionen verpflichtete. Sie wurde einstimmig angenommen.

Trotzdem ist es wichtig, die Resolution auch inhaltlich zu betrachten. Sie hielt fest, dass der Krieg zum Wesen des Kapitalismus gehört, dass die Arbeiterklasse und ihre Organisationen der bürgerliche Kriegsmaschinerie keinerlei Unterstützung, also „keinen Mann und keinen Groschen“ gewähren dürften. Sie sprach sich für die Abschaffung der stehenden Armee aus und für die Schaffung einer Volksmiliz, die allgemeine Volksbewaffnung.

Die Internationale, so weiter, könne nicht festhalten, welche Aktion in verschiedenen Ländern durchzuführen sei, da die Umstände in jedem Land verschieden seien. Sie würde aber für Frieden und Entwaffnung eintreten. Bei Ausbruch des Krieges wäre es die Pflicht der Arbeiterklasse, die Beendigung des Kriegs und der kapitalistischen Herrschaft zu erkämpfen.

Wie die späteren Ereignisse und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zeigten, entpuppte sich die Resolution als unzureichend.

Ein erstes gewichtiges Warnsignal war der Ausbruch der Balkankriege 1912. Das Internationale Büro wollte zur Aktion gegen den Krieg schreiten. Ein Notkongress der Internationale wurde nach Basel einberufen. 555 Delegierte von 43 verschiedenen sozialistischen Gruppierungen und nahezu alle bekannten FührerInnen der Bewegung versammelten sich.

Eine Rede nach der anderen beschwor den Horror des Kriegs. Eine Rede nach der anderen unterstrich, dass die Arbeiterklasse den Krieg stoppen könne, wolle und müsse. So erklärte ein holländischer Delegierter, dass „das Proletariat der kleinen Ländern bereit stünde, mit seinen politischen Positionen und seinem Blut alles zu tun, um die Beschlüsse der Internationale gegen den Krieg umzusetzen.“ Aber die Internationale Notkonferenz beschloss – nichts!

Am 29. Juni 1914 wurde Erzherzog Ferdinand von Österreich-Ungarn von serbischen Nationalisten erschossen. Kurz danach brach der Erste Weltkrieg aus.

Das Internationale Büro trat am 27. Juli zusammen. In vielen Ländern fanden Anti-Kriegsdemonstrationen statt. Aber von der Internationale kam kein verallgemeinernder Aufruf. Vielmehr konzentrierte man sich darauf, zu einem weiteren Kongress unter dem Titel „Der Krieg und das Proletariat“ aufzurufen.

Solche halbherzige Aktion war selbst der Ausdruck zentrifugaler Kräfte in der Internationale. Die SPD-Reichstagsabgeordneten stimmten am 4. August geschlossen für die Kriegskredite. Andere Parteien folgten dem Beispiel rasch. Die Internationale war zusammengebrochen.

Internationalistische Opposition

Fast unmittelbar nach dem historischen Verrat der Zweiten Internationale entwickelte sich in der Arbeiterbewegung eine Opposition gegen die Sozialchauvinisten. Es handelte sich dabei keinesfalls um eine einheitliche und sich gleichmäßig entwickelnde Strömung. Aber in vielen Fällen stützte sich auf die internationalistische Linke, die schon lange vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialistischen Internationale gegen die Rechte, aber auch gegen das „marxistische Zentrum“ angetreten war – und zwar nicht nur zur Kriegsfrage, sondern zu fast allen wichtigen taktischen und strategischen Fragen der Arbeiterbewegung.

Für die Entwicklung dieser internationalen Opposition spielten die Anti-Kriegsresolutionen der Zweiten Internationale in dreifacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Erstens als Anknüpfungspunkt an korrekten, verteidigenswerten Positionen, die von der großen Mehrheit der Sozialistischen oder Sozialdemokratischen Parteien mit Füßen getreten wurden. Zweitens erlaubte das auch an das Bewusstsein der sozialistischen ArbeiterInnen anzuknüpfen, die von der Internationale die ehrliche Umsetzung ihrer Resolutionen erwartet hatten und die im Geiste des Internationalismus erzogen worden waren. Drittens mussten aber die Schwächen der Resolutionen der Zweiten Internationale überwunden werden und mit ihrem allgemeinen, vagen und unverbindlichen Charakter abgerechnet werden.

Die Zweite Internationale war schließlich daran gescheitert, dass die nationalen Parteien schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg, ihr eigenes „nationales“ Interesse vor jenes der Internationale gestellt hatten. Eine solche Politik musste aber im Falle einer scharfen Konfrontation zwischen den imperialistischen Mächten dazu führen, dass sich diese Parteien auf die Seite ihrer „Nation“, also der herrschenden Klasse, stellen und dafür die Klasseninteressen des Proletariats opfern würden.

Die Anzeichen für Opportunismus waren – wie schon gezeigt – auch vor dem Ersten Weltkrieg unübersehbar. Das ging auch an der Linken, an Luxemburg oder Lenin, nicht vorbei. Rosa Luxemburgs scharfe und treffende Kommentare über die deutsche Sozialdemokratie und auch deren versöhnlerisches „marxistisches Zentrum“ um Kautsky sind vielen bekannt.

Aber auch Lenin, der gerade am Beginn des 20. Jahrhunderts die deutsche Sozialdemokratie als nacheifernswertes Musterbeispiel für eine marxistische Partei betrachtete, kommentierte deren Politik auf dem Stuttgarter Kongress von 1907 äußerst kritisch:

„Eine bemerkenswerte und traurige Erscheinung war hierbei, dass die deutsche Sozialdemokratie, die bisher stets die revolutionäre Auffassung im Marxismus vertreten hatte, diesmal schwankte oder sich auf einen opportunistischen Standpunkt stellte.“ (Lenin, Der internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, LW 13, S . 77)

Die Differenzen zeigten sich auf dem Stuttgarter Kongress bei praktisch allen wichtigen Fragen. Neben der oben dargestellten Kriegsfrage auch bei der eng damit zusammenhängenden Kolonialfrage und bei der Frage der politischen „Neutralität“ der Gewerkschaften.

In der Kommission zur Kolonialfrage hatte ursprünglich eine rechte Mehrheit einen Passus durchgesetzt, die einer Unterstützung der Kolonialpolitik der Großmächte das Wort redete, sofern diese „zivilisierenden“ Charakter habe. Unter dem scharfen Protest der Linken und mit Unterstützung des „Zentrums“ wurde diese Position zu Fall gebracht und durch eine generelle Ablehnung der Kolonialpolitik ersetzt.

Ein Blockbildung zeigte sich auch in der Debatte um die „Neutralität“ der Gewerkschaften. Hier verteidigten die Linken und des Zentrum die Führungsrolle der Partei und die politische Unterordnung gegen die rechten Gewerkschaftsführer und die AnhängerInnen Bernsteins.

Trotz aller Anzeichen einer zunehmend reformistischen Tagespolitik der Sozialdemokratien war auch die Linke über das Ausmaß und das Tempo des Zusammenbruchs der Sozialistischen Internationale und der Degeneration ihrer Parteien zu „sozialpatriotischen“ Organisationen überrascht.

Im September 1914 traten die Bolschewiki mit einer umfassenden Stellungnahme an die Öffentlichkeit. Lenin stellte ihre revolutionäre Position zum Krieg dar. Der Krieg wurde als imperialistischer Krieg charakterisiert, als Raubkrieg der Bourgeoisien der großen kapitalistischen Nationen für die Neuaufteilung der Welt.

Aufgrund dieser Einschätzung und der Kongresse der Zweiten Internationale vor dem Krieg entwickeln Lenin und die Bolschewiki die Position, dass der imperialistische Krieg zu einem Bürgerkrieg gegen die kapitalistische Herrschaft zu einwickeln sei und dass der Kampf gegen den Krieg die sozialistische Revolution auf die Tagesordnung setze:

„Die Bourgeoisie aller Nationen betrügt die Massen, indem sie den imperialistischen Raubzug mit der alten Ideologie des ’nationalen Krieges‘ verbrämt. Das Proletariat entlarvt diesen Betrug und verkündet die Losung der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg.“ (Lenin, Lage und Aufgaben der sozialistischen Internationale, LW 21, S. 27)

Lenin verbindet diese politische Stoßrichtung mit einer Analyse des Kapitalismus in seiner Endepoche:

„Der Krieg ist keine Zufall, keine ‚Sünde‘, wie die christlichen Pfaffen glauben (die nicht schlechter als die Opportunisten Patriotismus, Humanismus und Frieden predigen), er ist vielmehr eine unvermeidliche Etappe des Kapitalismus, eine ebenso gesetzmäßige Form des kapitalistischen Lebens wie der Frieden. Der Krieg unserer Tage ist unvermeidlich ein Volkskrieg. Aus dieser Wahrheit folgt indes nicht, dass man mit dem ‚Volks’strom des Chauvinismus schwimmen soll, sondern dass die Klassengegensätze, von denen die Völker zerfleischt werden, auch zur Kriegszeit, auch im Krieg und dem Krieg angepasst, fortbestehen und in Erscheinung treten werden. Kriegsdienstverweigerung, Streik gegen den Krieg usw. ist einfach eine Dummheit, ein jämmerlicher und feiger Traum von unbewaffnetem Kampf gegen die bewaffnete Bourgeoisie, eine Seufzen nach Beseitigung des Kapitalismus ohne erbitterten Bürgerkrieg oder eine Reihe solcher Kriege. Die Propaganda des Klassenkampfes bleibt auch im Heer Pflicht der Sozialisten; die Arbeit, die auf die Umwandlung des Völkerkrieges in den Bürgerkrieg abzielt, ist in der Epoche des imperialistischen bewaffneten Zusammenpralls der Bourgeoisie aller Nationen die einzige sozialistische Arbeit.“ (Ebenda, S. 27)

Schon in diesen frühen Stellungnahmen entwickelt Lenin die Notwendigkeit, mit der vom Opportunismus und Nationalismus zerstörten Zweiten Internationale zu brechen und eine neue, die Dritte Internationale aufzubauen. „Der III. Internationale steht die Aufgabe bevor, die Kräfte des Proletariats zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen zu organisieren, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisien alle Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus!“ (Ebenda, S. 28)

Vorbereitung

Im September 1915 trat im Schweizer Städtchen Zimmerwald die erste internationale Anti-Kriegskonferenz der Sozialisten zusammen. Sie umfasste aber nicht nur die Linke, sondern auch einen Teil des sozialdemokratischen Zentrums. Inhaltlich war daher keineswegs nur die revolutionäre, sondern auch die pazifistische Opposition zum Krieg vertreten. Diese Strömung lehnte nicht nur die Politik des revolutionäre Defätismus, wie sie Lenin entwickelt hatte, ab, sondern stellte sich auch vehement gegen einen politisch-organisatorischen Bruch mit den Sozialpatrioten der Zweiten Internationale.

Die Mehrheit der Zimmerwalder Konferenz stimmte gegen die Position der Bolschewiki. Nach langen, heftigen Debatten stimmten die Bolschewiki zwar der Deklaration der Konferenz zu, weil sie sie als einen „ersten Schritt“ und einen Aufruf zum Kampf betrachteten.

Aber sie formierten gleichzeitig auch die „Zimmerwalder Linke“, die ihre eigenen Stellungnahmen veröffentlichte und als Sammelpunkt der revolutionären Kräfte diente.

Die Zimmerwalder Bewegung gewann mehr und mehr an Boden unter den ArbeiterInnen, als die Schrecken des Krieges für die Lohnabhängigen und Unterdrückten offensichtlicher wurden. Statt des „schnellen Sieges“, den die Kriegstreiber aller Länder verheißen hatten, starben Millionen als Kanonenfutter oder hungerten in den Städten und Dörfern. Von den Parteien der Zweiten Internationale lehnten u.a. die Schweizer, die Serbische und die Italienische Partei den Krieg ab. Die Schwedischen Linkssozialisten, die Norwegische Arbeiterpartei, die britische „Independent Labour Party“ (Unabhängige Labourparty) und die deutsche Linke traten auch gegen den Krieg auf. Die SPD-Abgeordneten Karl Liebknecht und Otto Rühle brachen mit der Parteilinie, stimmten im Parlament gegen die Kriegskredite und nutzten ihre Funktionen als Abgeordnete zur Agitation gegen den Krieg und zur Mobilisierung. So fand im Mai 1916 in Berlin eine Demonstration gegen den imperialistischen Krieg und für Sozialismus statt, an der 50.000 ArbeiterInnen teilnahmen.

Revolution

Die Opposition gegen den Krieg wurde durch die beiden russischen Revolutionen vom Februar und Oktober 1917 enorm gestärkt. Besonders die bolschewistische Machtergreifung im Oktober warf die Frage der proletarischen Machtergreifung, der Errichtung der Räteherrschaft für Millionen, auf.

Im Januar 1918 kam es in Deutschland, Österreich, Ungarn und Polen zu Massenstreiks bei denen die ArbeiterInnen in der Rüstungsindustrie die Schlüsselrolle spielten. Rund zwei Millionen beteiligten sich an diesen Ausständen, die von den Herrschenden noch gezügelt werden konnten. Im November 1918 kam es jedoch zum Aufstand der Kieler Matrosen. Dieser Aufstand war ein Initialzünder. In ganz Deutschland bereitete sich die Revolution aus, Arbeiter- und Soldatenräte wurden gegründet. Der Kaiser musste abdanken und die Arbeiterräte standen vor der Frage der Machtergreifung. Aber die Räte selbst waren von der Sozialdemokratie dominiert, die der Konterrevolution die Kastanien aus dem Feuer holen sollte.

Die deutsche Arbeiterbewegung war in drei Strömungen zerfallen – die Mehrheitssozialdemokratie um die sozialpatriotischen Führer wie Ebert und Scheidemann, die zahlenmäßig schwachen Revolutionäre im Spartacusbund und später in der Kommunistischen Partei (KPD) um Luxemburg, Liebknecht usw. Außerdem hatte sich auch eine Partei, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD) gebildet, die zwischen den Fronten stand, die zwischen Reform und Revolution schwankte (daher auch die Charakterisierung „zentristisch“) und die eine verhängnisvolle Rolle in der Revolution spielen sollte.

Die Mehrheitssozialdemokratie spielte eine entscheidende Rolle, um die Revolution zu besiegen – wie auch die Österreichische Sozialdemokratie. Die Führer dieser Parteien waren sich ihrer Rolle durchaus bewusst, wie Otto Bauer, ein linker (!) austromarxistischer Führer selbst darstellte:

„Die Regierung stand damals immer wieder den leidenschaftlichen Demonstrationen der Heimkehrer, der Arbeitslosen, der Kriegsinvaliden gegenüber. Sie stand der vom Geist der proletarischen Revolution erfüllten Volkswehr gegenüber. Sie stand täglich schweren, gefahrvollen Konflikten in den Fabriken, auf den Eisenbahnen gegenüber. Und die Regierung hatte kein Mittel der Gewalt zur Verfügung: die bewaffnete Macht war kein Instrument gegen die von revolutionären Leidenschaften erfüllten Proletariermassen. Keine bürgerliche Regierung hätte diese Aufgabe bewältigen können. Sie wäre binnen acht Tagen durch Straßenaufruhr gestürzt, von ihren eigenen Soldaten verhaftet worden. Nur Sozialdemokraten konnten diese Aufgabe beispielloser Schwierigkeiten bewältigen. Nur Sozialdemokraten konnten wildbewegte Demonstrationen durch Verhandlungen und Ansprachen friedlich beenden, die Arbeitermassen von der Versuchung revolutionärer Abenteuer abhalten.“

In Deutschland, Österreich und Ungarn versuchten die ArbeiterInnen die Macht zu ergreifen oder schufen sogar Sowjetrepubliken. Zweifellos war der revolutionäre Faktor in allen Fällen schwach, unerfahren und beging eine Reihe grober Fehler. Aber der zentrale Grund für das Scheitern der Revolution war die konterrevolutionäre Politik der Parteien der Zweiten Internationale.

Im Krieg waren die Reformisten eine wichtige Stütze der bürgerlichen Kriegsanstrengungen, agierten als Agenten der herrschenden Klasse unter den ArbeiterInnen. In der revolutionären Nachkriegsperiode offenbarten sie ihre konterrevolutionären Rolle nicht minder deutlich. Reformismus heißt nicht einfach, gegen revolutionäre Maßnahmen einzutreten – es wurde klar, dass Reformismus heißt, für die Zerschlagung der proletarischen Revolution und die Machterhaltung der Kapitalisten zu arbeiten.

Um gegen die Reformisten bestehen zu können, trat Lenin dafür eine, dass eine neue Internationale so schnell wie möglich aus der Taufe gehoben werden müsse.

Die Bolschewiki, die sich nunmehr in Kommunistische Partei Russlands umbenannt hatten, ergriffen die Initiative, eine Konferenz zur Schaffung einer neuen Internationale einzuberufen. Am 24. Dezember 1918 veröffentlichte Radio Moskau einen Aufruf zur Gründung einer neuen Internationale, der sich an alle Gruppierungen, Parteien und Organisationen richtete, mit den Sozialpatrioten brechen wollten, die für die sozialistische Revolution, die Diktatur des Proletariats und für die Sowjetmacht standen.

Aufgrund der revolutionären Wirren, der fortlaufenden militärischen Operationen und der Blockade gegen das revolutionäre Russland war es nur wenigen möglich, im März 1919 in Moskau am Gründungskongress der Kommunistischen Internationale teilzunehmen. Nur 35 stimmberechtigte Delegierte waren anwesend. Außer den russischen KommunistInnen waren die wichtigsten VertreterInnen aus Deutschland, Norwegen, Schweden und den Balkan-Ländern.

Anfang Mai wurde die Konferenz mit einer Ehrung Luxemburgs und Liebknechts eröffnet, die beide von der deutschen Konterrevolution ermordet worden waren.

Die KPD, die auf dem Kongress von Hugo Eberlein vertreten wurde, hatte die Frage der Gründung eine neuen Internationale selbst auch diskutiert. Obwohl Luxemburg eine solche Internationale als „absolut notwendig“ betrachtet hatte, war sie gegen die unmittelbare Proklamation einer neuen Internationale auf der Konferenz. Die deutschen Kommunisten vertraten die Auffassung, dass eine Internationale erst aus der Taufe gehoben werden könne, wenn eine Reihe Kommunistischer Parteien existieren würden, die im Proletariat der jeweiligen Länder verankert wären.

Die Bedeutung der KPD war in den Augen der Bolschewiki so groß, dass sie anfangs zustimmten, der Tagung den Charakter eine Vorkonferenz zu geben und die formelle Gründung der Kommunistischen Internationale aufzuschieben.

Das änderte sich jedoch, als der österreichische Delegierte Gruber ankam. Gruber war 17 Tage unterwegs gewesen, um am Kongress anzukommen. Nun berichtete er über die revolutionären Erhebungen auf dem Territorium der zerfallenden Donaumonarchie. Er berichtete von der Gründung des Arbeiter- und Soldatenrates in Wien und begeisterte die Kongressdelegierten.

Der Vorschlage wurde gemacht, eine neue Internationale sofort zu gründen. Eberlein enthielt sich bei der Abstimmung, sagte aber zu, dass der die KPD von dieser Einscheidung überzeugen wolle. Alle anderen Delegierten stimmten der Gründung der Kommunistischen Internationale, der dritten revolutionären Internationale, zu.

Die Entscheidung erwies sich rasch als richtig. Mehrere große Arbeiterparteien traten der KI in den ersten Monaten nach ihrer Gründung bei – die Italienische Sozialistische Partei, die Norwegische Arbeiter Partei, die Bulgarische Partei und die KPD. Andere Parteien, wie die Französische Sozialistische Partei, die USPD in Deutschland und die Britische ILP brachen mit der Zweiten Internationale und traten mit der KI in Diskussion.

Im Oktober 1919 brach die Dänische Sozialistische Jugend mit der reformistischen Mutterpartei und trat der KI bei. Einen Monat später gründeten Delegierte von 14 Jugendorganisationen die Kommunistische Jugendinternationale.

Der Kongress der Zweiten Internationale, der im Juli 1919 stattfand, war demgegenüber eine Flop. Von den großen europäischen Ländern entsandten nur die SPD und die Labour Party Delegierte. Noch erbärmlicher war ihre politische Botschaft – Frieden machen mit den Kriegstreibern und Kampf gegen das revolutionäre Russland.

Weltpartei

Die Kommunistische Internationale sollte nicht bloß Resolutionen verabschieden. Sie sollte auch eine Organisation zur deren internationaler Umsetzung sein. Sie sollte eine wirkliche internationale Partei sein und nicht nur eine Föderation nationaler, in letzter Instanz unter einander unabhängiger Organisationen.

Innerhalb des ersten Jahres ihrer Existenz kam sie dabei deutlich voran. Als der zweite Kongress der KI am 19. Juli 1920 eröffnet wurde, war sie eine sehr andere, sehr viel größere Organisation geworden. 217 Delegierte repräsentierten nun 67 Parteien und sonstige revolutionäre Organisationen aus 40 Ländern.

Die Tagung dauerte fast drei Wochen und fand im Kreml statt. Die Rote Armee und Sowjetrussland waren dabei, den Bürgerkrieg zu gewinnen, die revolutionären Kräfte hatten den polnischen Angriff auf die Westukraine zurückgeschlagen und sollten nun gegen Polen vorstoßen.

Der Kongress hatte sehr wichtige Aufgaben vor sich und war, wenn man die Bedeutung der strategischen und programmatischen Diskussion in Betracht zieht, der eigentliche Gründungskongress der KI.

Die revolutionäre Welle hatte sich in den ökonomischen und politischen Krisen der Nachkriegsperiode fortgesetzt. Nur wenige Wochen nach dem ersten KI-Kongress wurde die ungarische Räterepublik ausgerufen, wo die junge Kommunistische Partei mit der Sozialdemokratie die Macht übernommen hatte.

Aber die Räterepublik wurde rasch durch die Konterrevolution und imperialistische Intervention in Blut ertränkt. Die Bayrische Räterepublik erlitt ein ähnliches Schicksal. Italien wurde von einer sehr tiefen Krise erschüttert, die Bauern besetzen die Ländereien des Großgrundbesitzes, Massenstreiks brachen im ganzen Land aus. Im April 1920 riefen die Turiner ArbeiterInnen einen Generalstreik zur Verteidigung der Fabrikkomitees und der besetzten Fabriken aus.

Deutschland spielte wieder eine zentrale Rolle. Nach der Niederlage des sog. „Spartacusaufstandes“ im Januar 1919 und der Ausrufung der Weimarer Republik, überreizte die konterrevolutionäre Rechte ihre Karten. Der Kapp-Putsch vom März 1920 sollte die SPD in Berlin stürzen und eine Diktatur errichten. Aber die von SPD und USPD geführten Gewerkschaften riefen zum Generalstreik gegen die Putschisten auf, paralysierten die Reichswehr und zwangen die Rechte zum Rückzug.

In der Eröffnungsrede zum Zweiten Kongress bezog sich Sinowjew auf seine optimistische Prognose von der Gründung der KI, dass „Europa innerhalb eines Jahres sowjetisch sein werde“. „In Wirklichkeit“, so modifizierte er seine Aussage, „werde das nicht nur ein, sondern zwei bis drei Jahre dauern, bis ganz Europa eine Sowjetrepublik wird.“

Das war nicht nur leere Rhetorik. Die wirtschaftliche und politische Krise nach dem Ersten Weltkrieg war vor allem in den Verliererländern dramatisch und wurde durch den Versailler Friedensvertrags (z.B. durch die daraus erwachsenden Reparationen) verschärft. Die Linke konnte sich trotz einer Reihe politischer Fehler stärken.

Die Manifeste und Aufrufe der beiden ersten Kongress der KI spiegeln das wider. Sie sind in einer Periode des revolutionären Aufschwungs, der akuten revolutionären Krise verfasst, wo die Machtergreifung der Arbeiterklasse direkt auf der Tagesordnung stand.

Der 2. Kongress war eine Art Kriegsrat der Revolutionäre, um Strategie und Taktik in dieser Periode der Offensive zu diskutieren und festzulegen. Er war im wahrsten Sinne des Wortes eine arbeitende Körperschaft, die die Versprechungen des ersten Kongresses, die Trotzki im März 1919 in einem Artikel zusammenfasst hatte, verwirklichte:

Ähnlich äußerte sich Lenin nach dem Gründungskongress in einem Artikel, der die Aufgaben der Dritten Internationale noch einmal im Bezug auf die vorhergehenden Arbeiterinternationalen zusammenfasste:

„Die I. Internationale (1864 – 1872) legte den Grundstein der internationalen Organisation der Arbeiter zur Vorbereitung ihres revolutionären Ansturms gegen das Kapital. Die II. Internationale (1899-1914) war eine internationale Organisation der proletarischen Bewegung, die in die Breite wuchs, was nicht ohne zeitweiliges Sinken des revolutionären Niveaus, nicht ohne zeitweiliges Erstarken des Opportunismus abging, der schließlich zum schmählichen Zusammenbruch dieser Internationale führte.

Die III. Internationale entstand faktisch im Jahre 1918, als der langjährige Prozess des Kampfes gegen Opportunismus und Chauvinismus, besonders während des Krieges, in einer Reihe von Nationen zur Bildung von kommunistischen Parteien geführt hatte. Offiziell ist die III. Internationale auf ihrem ersten Kongress 1919 in Moskau gegründet worden. Und der charakteristische Zug dieser Internationale, ihre Bestimmung: das Vermächtnis des Marxismus zu erfüllen und in die Tat umzusetzen, die uralten Ideale des Sozialismus und der Arbeiterbewegung zu verwirklichen – dieser charakteristischste Zug der III. Internationale trat sofort darin zutage, dass die neue, die dritte ‚Internationale Arbeiterassoziation‘ schon jetzt in gewissem Maß mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammenfällt.

Die I. Internationale legte den Grundstein zum internationalen proletarischen Kampf für den Sozialismus.

Die II. Internationale war die Epoche der Vorbereitung des Bodens für eine weite Ausbreitung der Bewegung unter den Massen in einer Reihe von Ländern.

Die III. Internationale übernahm die Früchte der Arbeit der II. Internationale, beseitigte ihren opportunistischen, sozialchauvinistischen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Unrat und begann, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen. (…)

Die weltgeschichtliche Bedeutung der III., der Kommunistischen Internationale besteht darin, dass sie damit begonnen hat, die große Losung von Marx in die Tat umzusetzen, die Losung, die aus der hundertjährigen Entwicklung des Sozialismus und der Arbeiterbewegung die Bilanz zieht, die Losung, die ihren Ausdruck findet in dem Begriff: Diktatur des Proletariats.“ (Lenin, Die Dritte Internationale und ihr Platz in der Geschichte, Werke Bd. 29, S. 295/296)

Entwicklung des Kommunistischen Programms

Der erste Kongress der KI stand auch in seinen Manifesten, Richtlinien und Hauptthesen ganz im Geiste des Ziels der raschen Machteroberung des Proletariats. Das findet sich beispielsweise in den von Bucharin entworfenen „Richtlinien der Kommunistischen Internationale“.

Sie gehen von einer tiefen, akuten Krise des Kapitalismus, des imperialistischen Weltsystem aus:

„Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“ (Richtlinien, in: Thesen, Resolution, … S. 40)

Daraus auch die politische Zielbestimmung des Kongresses: Eroberung der politischen Macht!

Unter den Resolutionen des ersten Kongresses finden sich daher auch als wichtigste programmatische Verallgemeinerung die „Thesen zur bürgerlichen Demokratie und zur Diktatur des Proletariats“, die von Lenin verfasst wurden. Darin wird versucht, die Lehren aus der Rätebewegung und vor allem der Rätemacht in Russland zu verallgemeinern und die Überlegenheit der Rätedemokratie gegenüber dem Parlamentarismus nachzuweisen.

Diese Frage war von enormer Wichtigkeit angesichts Bildung von Räten in Deutschland, Österreich und Ungarn.

Die Sozialdemokratie war außerdem zur massiven Denunziation der Räteherrschaft wegen ihres vorgeblich undemokratischen Charakters übergegangen. Als Aufhänger dienten ihren die Auflösung der Konstituierenden Versammlung durch die Bolschewiki 1918. Darin sahen nicht nur die Mehrheitssozialdemokraten, sondern auch die zwischen sozialchauvinistischen und kommunistischen Kräften schwankenden Zentristen einen entscheidenden wunden Punkt der Bolschewiki und der Kommunistischen Internationale, die damit bewiesen hätten, dass sie nicht gestützt auf die Mehrheit des Volkes, sondern nur im eigenen Interesse herrschen möchten.

Die Thesen halten dem entgegen, dass jede revolutionäre Klasse sich diktatorischer Mittel zur Sicherung und Ausdehnung ihrer eigenen Macht schaffen muss. Dass die „reine“ Demokratie nicht über den Klassen steht, sondern dass eine so gewaltige Umwälzung wie die sozialistische Revolution sich nicht im Rahmen und Anerkennung der etablierten parlamentarischen Institutionen der bürgerlichen Demokratie vollziehen kann, sondern neue Formen der politischen Macht – die Räte oder räteähnliche Organe – schaffen muss.

Die Kongresse bis 1923

Der zweite Kongress der Kommunistischen Internationale (17. Juli – 7. August 1920) fand schon unter deutlich veränderten Bedingungen statt. Neben wichtigen Rückschlägen war die Periode noch von vielen Anstürmen der Arbeiterbewegung gekennzeichnet. Der Sieg im russischen Bürgerkrieg stand bevor. Die Rote Armee war auf dem Weg nach Warschau. In Italien schien die Revolution (noch) vor der Tür zu stehen.

Auch die Kommunistische Internationale war massiv angewachsen. Zentristische Parteien und Massengewerkschaften suchten den Anschluss an die KI.

Gleichzeitig aber wurde eine „linksradikale Tendenz“ deutlich, das was Lenin „Linksradikalismus“ nannte als „Kinderkrankheit“ vieler Parteien der Kommunistischen Internationale.

Junge Kommunistische Parteien, die oft nur eine kleine Minderheit des Proletariats organisierten, lehnten es oft ab, in den reformistischen und „gelben“ Gewerkschaften zu arbeiten. Diesem linken Radikalismus lag ein starker, subjektiv revolutionärer Impuls zugrunde, eine sehr verständliche und gerechtfertigte Empörung über den Verrat und die Klassenkollaboration der reformistischen, sozialdemokratischen Parteien oder der Gewerkschaftsbonzen.

Aber es lag ihr auch eine naive Sicht des Verhältnisses von reformistischer Führung und Arbeiterbasis zugrunde. Die Kontrolle der Arbeiterbewegung durch die reformistischen Parteien und Apparate wurde als eine Art „Käfig“ oder „Gefängnis“ des spontan revolutionären Arbeiterbewusstseins aufgefasst, das man durch die bloße Denunziation aktivieren könne und das durch den Aufbau von rein revolutionären, „unbefleckten“ Massenorganisationen organisiert werden müsse.

Demgegenüber argumentieren Lenin und Trotzki, dass die kleinen Kommunistischen Parteien einen Weg zu den reformistischen Arbeitermassen finden müssten, um überhaupt der Lage zu sein, die Massen zum Kampf um die Macht zu gewinnen.

Dazu müssten sie aber auch Taktiken anwenden, durch die die reformistischen Massen in der Praxis die Ernsthaftigkeit der KommunistInnen überprüfen könnten und in der gemeinsame Praxis sich von den Argumenten der KommunistInnen überzeugen ließen. Denn, so Lenin, das Problem bestehe darin, dass die reformistischen ArbeiterInnen bei allem Unbehagen oder Zweifel selbst noch immer mit ihren FührerInnen in der politischen Grundkonzeption übereinstimmten. Dass die Führung und Kontrolle der Sozialdemokraten oder Gewerkschaftsbürokraten über die Arbeiterorganisationen auch darin wurzele, dass sie von der Klasse als Führung anerkannt würden und sich auf eine gemeinsame, reformistische Ideologie stützen könnten.

Daher wurde zurecht darauf gedrängt, dass die Kommunistischen Parteien auch in den reformistisch dominierten Gewerkschaften arbeiten müssten, dass sie die Massenorganisationen ansonsten nur den Bürokraten überlassen und diesen in die Hände arbeiten würden.

Mit dieser Wendung zur Einheitsfronttaktik, wie sie z.B. in den „Leitsätzen über die Gewerkschaftsbewegung, die Betriebsräte und die III. Internationale“ aufstellt wurde, ging auch eine Spaltung von linksradikalen Elementen einher.

Die Anwendung der Einheitsfrontarbeit und die Vorbereitung zur Machteroberung machten aber auch eine stärkere Zentralisierung der KI notwendig, wie sie in den „Leitsätzen über die Bedingungen der Aufnahme in die KI“ und ähnlichen Dokumenten hervorgehen.

Schließlich wandte sich der Zweite Kongress auch der National- und Kolonialfrage verstärkt zu.

Die Arbeit des Zweiten Kongresses wurde in vielen Aspekten auf den folgenden beiden Kongressen (22. Juni bis 12. Juli 1921 und 4. November bis 5. Dezember 1922) vertieft.

Die beiden Kongress fanden allerdings unter einer nochmals veränderte politischen Situation statt. Während am 2. Kongress die sozialistische Revolution noch immer als sehr nahe betrachtet wurde, musst der dritte Kongress eine negative Bilanz der Flut der Revolution nach dem Weltkrieg ziehen. Der europäische Kapitalismus war dabei, sich etwas zu stabilisieren. Die revolutionäre Energie der Arbeiterklasse war gleichzeitig erschöpft.

Die Streiks und Fabrikbesetzungen in Italien hatten im September 1920 Niederlagen erlitten. Ebenso der Generalstreik Ende 1920 in der Tschechoslowakei. In Deutschland endete die „Märzaktion“ der KPD in einer schweren Niederlage.

Angesichts dieser Situation und zunehmender innerer Krisen musste auch die Sowjetmacht mit der „neuen ökonomischen Politik“ einen politisch-ökonomischen Rückzug antreten.

Der Dritte Kongress gibt daher zurecht die Losung „Heran an die Massen“ aus. Durch eine Systematisierung der Einheitsfronttaktik und die Entwicklung von Übergangslosungen als Mittel sollte die Klasse in der Defensive gesammelt werden und so zur revolutionären Offensive vorzubereitet werden.

Degeneration und Ende der Dritten Internationale

Das Verebben des ersten Ansturms der proletarischen Revolution in Europa (aufgrund des Verrats der Sozialdemokratie und der politischen Unreife und Schwäche des Kommunismus) führte zur Isolierung der Sowjetunion nach dem Ersten Weltkrieg. Nur unter der Führung der Bolschewiki konnte die Arbeiterklasse, gestützt auf die Bauernmassen, die politische Macht erobern und gegen die Konterrevolution verteidigen.

Aber das Ausbleiben der internationalen Revolution führte zu einer Verschiebung des sozialen und politischen Kräfteverhältnisses in der Sowjetunion selbst. Eine mächtige politische Kaste, die Sowjetbürokratie, konnte sich der Errungenschaften der Oktoberrevolution bemächtigen und die politische Macht monopolisieren. Ihr Aufstieg und ihre Machtergreifung sind untrennbar mit der politischen Degeneration der sowjetischen Innen- und Außenpolitik und der Kommunistischen Internationale (Komintern) verbunden.

Noch auf dem 3.Kongress der Komintern hatte Lenin erklärt: „Es war uns klar, dass ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch nachher dachten wir: Entweder sofort oder zumindest sehr rasch wird die Revolution in den übrigen Ländern kommen, in den kapitalistisch entwickelteren Ländern, oder aber wir müssen zugrunde gehen. Trotz dieses Bewusstseins taten wir alles, um das Sowjetsystem unter allen Umständen und um jeden Preis aufrechtzuerhalten, denn wir wussten, dass wir nicht nur für uns, sondern auch für die internationale Revolution arbeiten“ (Werke, Bd.32, S.503).

Das Ausbleiben der Revolution in den anderen Ländern führte in beiden Aspekten zu heftigen Auseinandersetzungen und letztlich zur Degeneration. Die „Aufrechterhaltung des Sowjetsystems um jeden Preis“ führte angesichts der damit verbundenen Erstarkens der bürokratischen Kaste mehr und mehr zu einer Diktatur der Bürokratie über die letzten Reste von Arbeiterdemokratie, die einst dieses Sowjetsystem ausgemacht hatten. Andererseits wurde die internationale Revolution durch die Fehler, Schwankungen und letztlich Degeneration der Komintern-Führung selbst mehr und mehr verspielt, bis zu dem Punkt, wo sich das Verhältnis von „Weltrevolution“ und „Aufrechterhaltung des Sowjetsystems“ genau umgekehrt hatte: die Komintern und ihre Sektionen waren ab Ende der 20er Jahre zu einer Spielfigur in der Außenpolitik der Sowjetunion und der in ihr herrschenden Kaste herabgesunken.

Als entscheidend erwies sich dabei das Versagen in den revolutionären Situationen 1923 in Deutschland und Bulgarien, sowie in den folgenden Jahren bei der chinesischen Revolution. Die Führung der Komintern nach Lenin – unter wesentlicher Ägide von Grigori Sinowjew – erwies sich als unmethodisch, impressionistisch und oft von einem Extrem ins andere schwankend. Ultra-linke Abenteuer wechselten sich ab mit der Absegnung prinzipienloser „Einheitsfronten“, immer garniert mit einer alles andere als wissenschaftlich fundierten euphorischen Perspektive von einer Zuspitzung des „revolutionären Tempos“ und des unmittelbar bevorstehenden Moments der Machtergreifung.

Selbst nach ganz offensichtlichen und schweren Niederlagen, wie im Oktober 1923 in Deutschland, mit der die letzte Chance zur revolutionären Machtergreifung in der Nachkriegsperiode vertan war, hieß es auf dem 5. Kominternkongress dazu lapidar: „Die Fehler in der Einschätzung des Tempos der Ereignisse, begangen im Oktober 1923, haben der Partei viele Schwierigkeiten gebracht. Dies ist aber nur eine Episode. Die grundlegende Einschätzung bleibt bestehen“ (inprekorr 24.4.1924, S.563).

Statt die Ursachen der Niederlage zu analysieren und eine entsprechende Neuausrichtung der deutschen Sektion zu beschließen, wurde die falsche Politik der Komintern als „im Prinzip richtig“ fortgeschrieben und nur die verantwortlichen Umsetzer in Deutschland – die damalige Parteiführung um Heinrich Brandler – als „Parteirechte“ abgesetzt.  Hier zeigte sich die Komintern-Führung bereits als typisch bürokratische Maschinerie, der die Selbstbeweihräucherung wichtiger ist als eine wirklich revolutionäre Führung.

Auch wenn der 5. Kongress noch eine Reihe richtiger Positionen gegen prinzipienlose Blockpolitik, falsch verstandene Einheitsfrontpolitik und andere rechte Abweichungen beschloss, so gab er auf die entscheidenden Fragen der internationalen Politik keine Antworten: auf die Frage der neuen strategischen Orientierung nach dem Ende der revolutionären Nachkriegsperiode in Europa wie auch auf die immer drückender werdende Frage von Bürokratisierung der Sowjetunion und ihrer weiteren ökonomischen Entwicklung angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen. Wie Trotzki es formulierte wurde auf dem Kongress „jede Mücke eingehend beschaut und die Kamele glatt übersehen“ („Die dritte Internationale nach Lenin“, S.113).

Kein Wunder, dass der 5. Kongress zu keiner Klärung der Linien beitrug, sondern die fraktionellen Kämpfe in allen Sektionen danach noch verschärfter losbrachen. Entschieden wurde diese Phase der innerorganisatorischen Kämpfe letztlich in der Sowjetunion. Dort war der politisch mittelmäßige, aber aufgrund seiner administrativen Fähigkeiten in der Bürokratie fest verankerte Josef Stalin inzwischen zum Bonaparte über die verschiedenen Fraktionen (speziell diejenigen von Trotzki, Sinowjew und Bucharin) aufgestiegen.

Sich wenig um programmatisch-methodische Probleme der sozialistischen Revolution kümmernd, ging es ihm vornehmlich um die Sicherung der „Sowjetherrschaft“ in Russland und den anderen Sowjetrepubliken, d.h. um die Sicherung der Herrschaft der sich herausbildenden bürokratischen Kaste, die er nunmehr repräsentierte. Das Problem des Ausbleibens der Revolution im Westen wurde daher von ihm relativ plump überspielt: „Die Partei ist immer davon ausgegangen, dass der Sieg des Sozialismus in einem Land die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in diesem Land bedeutet, wobei diese Aufgabe durch die Kräfte eines Landes gelöst werden kann“ (inprekorr, 19.1.1926, S. 2489).

Der proletarische Internationalismus der frühen Komintern und des Bolschewismus wurden durch die reaktionäre und utopische Politik des „Aufbaus des Sozialismus in einem Land“ ersetzt. Diese Wende wurde auf internationaler Ebene endgültig auf dem 6. Kongress der Komintern besiegelt, auf dem erstmalig in der Komintern-Geschichte ein umfassendes Programm verabschiedet wurde. Trotzki sah zurecht, dass die Komintern und ihre Sektionen mit der im neuen Programm ausgedrückten Orientierung von den jeweils spezifischen, nationalen Wegen zum Sozialismus auf dem unaufhaltsamen Weg Richtung Sozialpatriotismus und Reformismus geraten waren (siehe Trotzkis Kritik am Programmentwurf in „Die Dritte Internationale nach Lenin“).

Nachdem Sinowjew 1925 zur Opposition gegen Stalin gewechselt war, wurde die Komintern kurze Zeit zur Bühne heftiger fraktioneller Auseinandersetzungen. Im Kampf gegen die Sinowjew-Fraktion benutzte die Stalin-Bürokratie dabei auf internationaler Ebene die verschiedensten politischen Strömungen. So ist es kein Wunder dass z.B. in Deutschland ehemals „Ultra-Linke“ wie Thälmann zu Instrumenten des Kampfes gegen die „linken Sinowjewisten“ wie Fischer und Maslow in der deutschen Parteiführung wurden. Im Gefolge der Niederlage Sinowjews wurden ab 1926 in allen Sektionen der Komintern gewaltige „Säuberungen“ durchgeführt, d.h. ein großer Teil der ursprünglichen Aufbau- und Führungskader wurde aus den Parteien ausgeschlossen, an den Rand gedrängt oder gefügig gemacht. Bis Ende der 20er-Jahre war aus den einst lebendigen, revolutionären Kampforganisationen eine bürokratisch kontrollierte, diktatorisch geführte, willfährige Manövriermasse für alle nur möglichen politischen Wendungen der stalinistischen Führungs-Clique geworden.

Die Politik der Stalin-Bürokratie zeigte sich über ein Jahrzehnt äußerst schwankend, von rechts-opportunistischen Positionen (z.B. in der chinesischen Revolution) bis hin zu ultra-linken Phrasen (Sozialfaschismustheorie). Nach der Machtergreifung des Faschismus in Deutschland, der verheerendsten Niederlage der Arbeiterklasse, zeigten sich weder KPD noch die Komintern einer ernsthaften Selbstkritik fähig. Die Niederlage – und vor allem der eigenen Anteil daran – wurden schöngeredet.

In der politischen Taktik zeichnete sich ein wichtiger Schwenk ab. War der Stalinismus bis Mitte der 30er Jahre durch ein, wenn auch hilfloses Schwanken zwischen Reform und Revolution im Weltmaßstab gekennzeichnet, so folgte Mitte der 30er Jahre der endgültige Übergang ins Lager des Reformismus.

Hatten die Stalinisten in der sog. „Dritten Periode“ (1929 – 33) die Einheitsfront mit den Sozialdemokraten gegen den Faschismus rundweg abgelehnt, so trat nun an Stelle der Einheitsfront das strategische Bündnis mit den Reformisten und mit den „fortschrittlichen“ Teilen der nationalen Bourgeoisie, die „Volksfront“. Diese konterrevolutionäre Politik, die immer zur Unterordnung der Klasseninteressen des Proletariats (und natürlich auch der sozialistischen Revolution) führen muss, wurde besonders im spanischen Bürgerkrieg mit letzter Konsequenz und bis zum bitteren Ende durchgeführt.

Die Kommunistische Partei in der Sowjetunion und die Komintern machten den Wandel von einer revolutionären Masseninternationale zu einer Agentur der herrschende Bürokratie nicht ohne innere Kämpfe durch. Die Bolschewistische Partei und die Komintern wurden in den 20er und 30er Jahren von allen revolutionären, ja schließlich von allen irgendwie „abweichlerischen“ Elementen systematisch gesäubert. Der 7. Komintern-Kongress 1935 brachte den endgültigen Bruch mit der revolutionären Komintern-Tradition offen zum Ausdruck: Er war ein Treffen von Polit-Marionetten, die die „Vaterlandsverteidigung“ der Sowjetunion zum obersten „internationalistischen“ Prinzip erhoben und mit der Kodifizierung der „Volksfront“-Politik den endgültigen Übergang der Komintern zum Reformismus zum Ausdruck brachten. Es ist kein Wunder, dass Stalin die Komintern 1943 mit einem Federstrich für aufgelöst erklären konnte: als reines Instrument seiner Außenpolitik, zu dem sie geworden war, war sie ihm nun in seinem Bündnis mit den West-Alliierten unangenehm geworden. Der ausgestopfte Leichnam hatte seine Schuldigkeit getan und wurde – wie bei Stalin üblich – unzeremoniell entsorgt.

Kampf der Linken Opposition

Gegen die Degeneration der Komintern hatten sich schon früh oppositioneller Widerstand  gebildet, der sich oft an taktischen oder Teilfragen entzündete. Manche dieser oppositionellen Strömungen kamen und gingen rasch, Teile wanderten zur bürgerlichen Linken ab (also zum linken Flügel der Konterrevolution), andere erstarrten im Sektierertum wie sog. „Linkskommunisten“ (Rätekommunisten, Bordigisten), manche verharrten in mehr oder weniger nationaler Existenz.

Nur die Linke Opposition um Trotzki vertrat von Beginn an ein Programm zur Wiederherstellung der Komintern auf revolutionärer, leninistischer Basis – sowohl, was ihre Programmatik, als auch, was ihr inneres Regime anging. Es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass sich gerade Leo Trotzki, der erst 1917 zur Bolschewistischen Partei stieß, als deren konsequentester Vertreter, als entschlossenster und vor allem politisch-theoretisch weitsichtigster Gegner des Stalinismus erwies.

Dabei ging es keineswegs in erster Linie um die Kritik an Stalin, sondern vor allem um die Verteidigung und Weiterentwicklung des politisch-programmatischen Erbes der Kommunistischen Internationale, vor allem deren erster vier Kongresse.

„Die revolutionäre Politik kann nicht ohne revolutionäre Theorie entwickelt werden. Es geht hier keineswegs darum, ganz von vorne anzufangen. Wir stellen uns auf den Boden von Marx und Lenin. Die ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale haben uns ein unschätzbares programmatisches Erbe hinterlassen: die Charakterisierung unserer Epoche des Imperialismus, d.h. des Niedergangs des Kapitalismus; die Natur des zeitgenössischen Reformismus und die Methode des Kampfes gegen ihn; das Verhältnis zwischen Demokratie und proletarische Diktatur; die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution; das Verhältnis zwischen der Partei und dem Kleinbürgertum, besonders der Bauernschaft (Agrarfrage); die nationale Frage und der Kampf der Kolonialvölker für ihre Befreiung; die Arbeit in den Gewerkschaften; die Politik der Einheitsfront; die Haltung zum Parlamentarismus usw.; alle diese Fragen waren im Laufe der Arbeit der vier Kongresse Gegenstand von Analysen und prinzipiellen Erklärungen, die in keinem Punkt überholt sind.“ (Trotzki, 17.8.1933)

Trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche knüpften die Internationale Linksopposition und später die Internationale Kommunistische Liga an diesem Erbe an und verteidigten es. Bis 1933 hatte die Internationale Linksopposition den Kampf für die Gesundung der Kommunistischen Internationale ins Zentrum gestellt. Der Sieg des Faschismus zeigte dann jedoch, dass sie als Instrument zum Sturz des Weltkapitalismus vollends verloren war.

Für die Vierte Internationale!

Der Kampf für die Vierte Internationale wurde aufgenommen. Bei aller Verschiedenheit der Aufbauphasen und Taktiken zieht sich ein roter Faden durch die Politik Trotzkis: die Verbindung programmatischer und politischer Unnachgiebigkeit mit äußerster taktischer Flexibilität (Blöcke mit nach links gehenden Zentristen, Entrismus in reformistische Parteien, Taktik der Arbeiterpartei …).

„Wie auch immer eine neue Internationale Form annehmen wird, welche Stadien sie durchlaufen wird, welche abschließende Form sie annehmen wird – das können wir heute nicht voraussagen. Ja, es gibt keine Notwendigkeit, das zu wissen. Das wird die Geschichte zeigen. Aber es ist notwendig, damit zu beginnen, ein Programm zu proklamieren, das den Aufgaben der historischen Epoche entspricht. Es ist notwendig, Mitstreiter auf der Basis dieses Programms zu mobilisieren, die Vorkämpfer einer neuen Internationale. Ein anderer Weg ist nicht möglich.“ (Trotzki, Writings 35-36, S. 159)

Dieses Bestehen auf programmatischer Klarheit hat „dem Trotzkismus“ bis heute jede Menge Kritik eingehandelt. Damit, so die verschiedensten Gegner (wie auch manche vorgebliche Anhänger), würde man sich von „den Massen“, „von der Linken“, von anderen „Sozialisten und Kommunisten“ isolieren und die „politische Einheit“ gefährden.

Dieser Vorwurf wurde noch dadurch „erhärtet“, dass der Trotzkismus nach 1945 selbst in konkurrierende, mehr oder weniger prinzipienlose und/oder sektiererische Splitter zerfiel. Ein Teil der „Trotzkisten“ hatte außerdem selbst immer schon Trotzkis Bestehen auf programmatischer Klarheit abgelehnt (Linksruck, Lutte Ouvrier) oder essentielle Teile des Programms, wie die Frage der Zerschlagung des bürgerlichen Staates durch die proletarische Revolution, die Bewaffnung der Arbeiterklasse und die Schaffung eines Rätestaates (der Diktatur des Proletariats) unter den Tisch fallen lassen (z.B. SAV).

Andererseits wurde in den Händen der Sektierer, wie der Spartakist Arbeiterpartei oder der „Partei für soziale Gleichheit“, das Programm zu einem reinen Fetisch, das von einer Anleitung zum revolutionären Handeln zu einem bibelähnlichen Beleg fürs „Rechthaben“ wurde.

Wozu ein Programm?

Das Programm, so Trotzki, ist die Partei. Es ist die wissenschaftlich begründete Zusammenfassung der bisherigen historischen Erfahrungen der Arbeiterklasse. Es ist ein Programm, das von den objektiven Verhältnissen ausgeht und daraus entwickelt, welche Aufgaben die Arbeiterklasse hat, welche Taktiken und Methoden die Avantgarde der Klasse anwenden muss, um die Massen zur Revolution zu führen.

„Was ist nun die Partei? Worin besteht ihr Zusammenhalt? Dieser Zusammenhalt ist das gemeinsame Verständnis der Ereignisse, der Aufgaben; und dieses gemeinsame Verständnis – das ist das Programm der Partei.“

Ein solches Programm muss nach Trotzkis Auffassung von der objektiven Lage ausgehen.

„Überall frage ich, was sollen wir tun. Unser Programm der objektiven Lage oder der Mentalität der Arbeiter anpassen?“ (Diskussion zum Programm, S. 67)

Trotzki Antwort darauf ist eindeutig, ja kategorisch.

„Jetzt treten die Vereinigten Staaten in eine vergleichbare Lage (wie Europa; die Red) ein, mit vergleichbaren Gefahren einer Katastrophe. Die objektive Lage des Landes ist in jeder Hinsicht und sogar mehr als in Europa reif für die sozialistische Revolution und für den Sozialismus, reifer als die jedes anderen Landes der Welt. Die politische Rückständigkeit der amerikanischen Arbeiter ist sehr groß. Diese ist der Ausgangspunkt unserer Aktivität. Das Programm muss die objektiven Aufgaben der Arbeiterklasse eher ausdrücken als die Rückständigkeit der Arbeiter. Es muss die Gesellschaft widerspiegeln so wie sie ist, und nicht die Rückständigkeit der Arbeiter.“ (Diskussion zum Programm, S. 57)

Trotzki folgt damit dem Gebot von Marx und Luxemburg, dass die Kommunisten ihre Ziele offen und klar darlegen. Es geht darum zu sagen „was ist“ – und was notwendig ist, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen.

Dazu muss sich die Avantgarde der Klasse, müssen sich die bewusstesten Teile des Proletariats in einer revolutionären Partei organisieren – und zwar auf Grundlage eines solchen Programms, das sowohl der Partei (der Führung wie den Mitgliedern) und der Klasse die Überprüfung ihrer Politik erlaubt (so wie auch die Partei im Lichte der Erfahrung ihr Programm modifizieren wird).

Für Trotzki ist das Programm eine Anleitung zum Handeln, eine Anleitung, die „Tageskämpfe“ der Arbeiterklasse, ja alle Formen des Kampfes gegen Unterdrückung und Ausbeutung mit dem Kampf um die Eroberung des Macht zu verbinden. Daher knüpft er an der Methode der Übergangsforderungen an, wie sie schon bei Marx im Kommunistischen Manifest erscheinen – wenn auch nur auf eine akut revolutionäre Krise bezogen.

Auch die Kommunistische Internationale hatte nach dem Abebben der Revolution nach 1918/19 begonnen, den Defensivkampf und die Abwehrfront gegen Angriffe der Kapitalisten mit Übergangsforderungen zu verbinden, um so eine Brücke zum Kampf für den Sozialismus zu schaffen.

Unter Übergangsforderungen verstehen wir dabei Forderungen wie „Produktionskontrolle“ usw., die allesamt in Richtung der Schaffung von Doppelmachtorganen der Klasse weisen und auf Dauer mit dem Fortbestand des Kapitalismus unvereinbar sind.

Die zentrale Bedeutung der Übergangsforderungen ist im Gründungsprogramm der „Vierten Internationale“ klar niedergelegt.

Ein „Übergangsprogramm“ muss daher sowohl aus aktuellen, unmittelbaren ökonomischen und politischen Forderungen, aus Maximalforderungen wie auch aus Übergangsforderungen bestehen, die eine Brücke zwischen dem aktuellen Bewusstsein der Klasse, das vorwiegend reformistisch oder rein gewerkschaftlich geprägt ist, und dem Kampf um die Macht bilden.

Dieser neue Typus von Programm macht jedoch nur aus dem Blickwinkel der sozialistischen Revolution Sinn. Für jeden Reformismus ist die Überwindung von Maximal- und Minimalprogramm ganz sinnlos, da die Machtergreifung ohnedies nicht angestrebt wird. Ebenso wenig macht es für Sektierer Sinn, die meinen durch reine „Kritik“ und „Aufklärung“ die ArbeiterInnen gewinnen zu können – ohne Taktik, wie die Massen in die theoretische und praktische Konfrontation mit Reformisten und Gewerkschaftsführern geführt werden und in dieser gewonnen werden können.

Das Programm und die Partei sind jedoch Kampfinstrumente, um die Führung der Klasse zu erringen und müssen daher auch über ein taktisches Arsenal verfügen, das den Kampf gegen reformistische und andere kleinbürgerliche Strömungen (einschließlich einer Bündnispolitik gegen Imperialismus und Kapital) ermöglicht.

Ein weiterer, wesentlicher Aspekt der Gründung der Vierten Internationale war Trotzkis Bestehen darauf, dass die revolutionäre Partei von Beginn an international aufgebaut werden muss. Jedes Warten darauf nach dem Motto „Zuerst national verankerte Parteien aufbauen“ und dann politischer Zusammenschluss würde von Beginn an die Gefahr der Degeneration in einen nationalbornierten Revolutionismus beinhalten – und damit der Wiederholung der nationalen Anpassung von Sozialdemokratie und Stalinismus den Weg bereiten.

Auch die Frage des Aufbaus einer revolutionären Internationale ergibt sich also ganz folgerichtig aus dem Charakter des Imperialismus, als Niedergangsstadium, als Übergangsepoche vom Kapitalismus zum Sozialismus. Das Proletariat kann zwar in einem oder einer Reihe von Ländern siegen – der Übergang zum Sozialismus, zur klassenlosen Gesellschaft wird aber nur im internationalen Rahmen möglich sein. Daher ist auch die internationale Verbindung der revolutionären ArbeiterInnen von Beginn an so wichtig.

Die Vierte Internationale wurde 1938 gegründet, als Organisation von Propagandaorganisationen und kleinen Avantgardeparteien. Ihre Gründung war aber in jedem Fall notwendig und korrekt. Ein weiteres Hinauszögern der Gründung hätte nicht – wie damalige und heutige Kritiker meinen – zu einem späteren, besseren Start mit „mehr Masse“ geführt. Die wenigen genuinen revolutionären KommunistInnen dieser Zeit hätten vielmehr ihre eigene Unentschlossenheit gegenüber der Arbeiterklasse und deren Avantgarde demonstriert und die politische Vereinheitlichung im Kampf erschwert. Es ist kein Wunder, dass alle Strömungen, die die Gründung der Vierten ablehnten, den Test des Zweiten imperialistischen Weltkrieges nicht bestanden, oft genug in den Schoß von Sozialdemokratie oder Stalinismus zurückkehrten und politisch vor diesen kapitulierten.

Dass die Vierte Internationale nicht zur Massenkraft werden konnte, spricht nicht gegen das politisch notwendige Projekt, sondern eher für die verstärkte Schlagkraft ihrer politischen Gegner und die Fähigkeit des Kapitalismus, im Verbund mit dem Stalinismus die Weltordnung nach 1945 auf dem Rücken der Arbeiterklasse zu stabilisieren.

Eine spätere Gründung der Vierten, ein „Warten“ auf das Anwachsen nationaler Parteien usw. hätte demgegenüber nicht geholfen, sondern bestenfalls zur Wiederholung des Fehlers der sozialistischen Linken vor und während des Ersten Weltkrieges geführt, einer verspäteten fraktionellen und programmatisch fundierten Sammlung.

Degeneration der Vierten Internationale

Die Gründung der Vierten basiert nicht nur auf programmatischen Forderungen und einer bis heute aktuellen und korrekten Methode – jener des Übergangsprogramms. Diese Methode ist sicher der Kern des politischen Erbes Leo Trotzkis und der revolutionären Phase der Vierten Internationale.

Aber die Vierte basierte auch auf einer politischen Perspektive. Korrekt wurde der herannahende imperialistische Raubkrieg vorausgesehen. Genauer als viele andere Strömungen wurden die barbarischen Konsequenzen wie der Holocaust von Trotzki schon in den 30er Jahren erkannt.

Die Vierte Internationale ging davon aus, dass der Krieg auch zu einem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion führen würde und dass die Stalin-Bürokratie selbst zur Verteidigung des Landes gegen Imperialismus und kapitalistische Restauration nicht fähig wäre, dass nur eine politische Revolution der Arbeiterklasse die Verteidigung der Sowjetunion und der verbliebenen Errungenschaften der Oktoberrevolution sichern könne.

Sie sah voraus, dass der Krieg mit einer Reihe von Kolonialaufständen und Kriegen gegen den britischen, französischen und japanischen Imperialismus einhergehen würde.

Ähnlich wie die InternationalistInnen im ersten Weltkrieg ging die Vierte Internationale davon aus, dass der imperialistische Krieg von einem reaktionären Völkergemetzel zu einem Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie transformiert werden könne und müsse.

Die letzten Phasen des Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegsperiode verdeutlichten das Potential der sozialistischen Revolution in Europa und den imperialisierten Ländern.

Aber der Stalinismus überlebte und die imperialistische Welt wurde unter US-Führung neu geordnet; die riesige Kapitalvernichtung und massive Niederlagen der Arbeiterklasse schufen die Voraussetzungen für einen ökonomischen Aufschwung und führten zu einer konterrevolutionären relativen Stabilisierung der Weltlage Ende der 1940er Jahre.

Auf eine solche Änderung der Weltlage war die Vierte Internationale nicht nur unvorbereitet. Die wichtigsten ihrer Führer und Sektionen weigerten sich hartnäckig, diese anzuerkennen oder ernsthaft zu untersuchen. Aus der Lageeinschätzung von 1938 wurde ein Fetisch.

Deutlich zeigte sich das darin, dass ein weiterer Weltkrieg als unmittelbar bevorstehend betrachtet wurde und die Zeichen für einen Aufschwung der US-Wirtschaft und ihre hegemoniale Rolle negiert wurden (insbesondere auch von der SWP(US), der US-amerikanischen Sektion der Vierten Internationale).

Das Überleben und die Expansion des Stalinismus desorientierte die Vierte komplett. Der Bruch Titos mit Stalin und die unter den Jugoslawischen Stalinisten von oben bürokratisch durchgeführte Enteignung der Bourgeoisie und die Errichtung eines von Beginn an degenerierten Arbeiterstaates führte die Vierte 1948 zur Anpassung an den Stalinismus.

Mit seinem Bruch mit Stalin hätte Tito aufgehört „Stalinist“ zu sein, der Stalinismus wäre als politische Strömung in Jugoslawien zu einer kleinen Minderheit geworden. Daher wäre eine politische Revolution und der Aufbau einer revolutionären Partei in diesem Land nicht mehr notwendig. In anderen Ländern wurde den Anhängern Titos (die von den moskautreuen KPen in übler Weise als „Tito-Faschisten“ diffamiert wurden) die Fusion angeboten (in Deutschland hielt diese gerade ein Jahr lang).

Die Vierte Internationale erklärte Tito zum „unbewussten Revolutionär“, der entgegen seiner eigenen Absicht vom „objektiven Prozess“ (dem Druck der Arbeiterklasse, der Zuspitzung und Krise der Weltlage) dazu gezwungen worden sei (und mit ihm der ganze stalinistische Apparat der KP!), den Weg der proletarischen Revolution einzuschlagen.

Dieser heute sonderlich anmutende Bruch mit der Analyse des Stalinismus (der allerdings anders als die Sozialdemokratie in der Lage ist, degenerierte Arbeiterstaaten zu schaffen) wurde in den folgenden Jahren und von verschiedenen Abspaltungen der Vierten nicht analysiert und oft genug wiederholt.

Wenn der objektive Prozess Tito in die Arme der Weltrevolution treiben konnte, warum nicht auch so illustre Figuren wie Mao, Castro, Ben Bella, Nasser, Maurice Bishop, Daniel Ortega? Warum sollte der objektive Prozess, wenn Stalinisten „revolutioniert“ werden konnten, ohne es zu merken, nicht auch an Sozialdemokraten, an (klein)bürgerliche Nationalisten, an „Bewegungen“ (Studentenbewegung, Ökologiebewegung etc.) Wunder vollbringen?

Der Kampf für ein revolutionäres Programm wurde folgerichtig zu einer zweitrangigen Übung. Wichtiger wurde die „Verschmelzung“ mit „Avantgarden“ bei Verzicht auf den Kampf ums Programm. Die Vierte Internationale zerbrach als einheitliche Organisation 1953. Seither existiert sie als zersplitterte Strömung. Politisch hörte sie schon davor, am Dritten Weltkongress 1951 auf, revolutionär zu sein, als die Politik gegenüber Tito kodifiziert wurde.

Die diversen „Vierten Internationalen“ degenerierten in zentristische Organisationen, die zwischen Reform und Revolution schwankten und über die Jahrzehnte auch ein ansehnliche Mischung von opportunistischen, aber auch ultra-linken Schwenks hervorbrachten.

Anders als der Zentrismus von Arbeiterparteien wie der deutschen USPD oder der spanischen POUM konnte sich der Zentrismus der Vierten jedoch jahrzehntelang am Leben erhalten. Warum? Weil die Vierte anders als z.B. die USPD bis auf wenige Ausnahmen von der Arbeiterklasse isoliert blieb und weil es keine revolutionäre Organisation gab, die den Zentrismus von Links bedrängt hätte.

Im Gegenteil: die revolutionäre Kontinuität zerriss nach 1951 für fast ein halbes Jahrhundert. Der Grund lag darin, dass die verschiedensten subjektiv revolutionären Gruppierungen, die sich nicht zuletzt auch in Form von Abspaltungen aus diesem oder jenem Fragment der Vierten gebildet hatten, unfähig waren, zu den Wurzel des politischen und organisatorischen Scheiterns der Vierten vorzudringen.

All jene, die die Gründung einer revolutionären Vierten Internationale schon immer abgelehnt hatten, hatten dies im Grund nicht wegen des politischen Inhalts, des Programms, getan, sondern schlichtweg die „zu frühe“ Anstrengung kritisiert. Unglücklicherweise können diese Kritiker der Vierten auf keinen rühmlicheren politischen Weg verweisen als die späteren Fragmente der Vierten.

Für viele andere wurde die revolutionäre Kontinuität der Vierten durch die jeweils eigene „Spaltungslinie“ bis zum heutigen Tag weitergegeben.

Andere wiederum sehen in der mangelnden Verankerung in der Klasse – zweifellos ein Riesenproblem – die Ursache für die Zersplitterung und programmatische Degeneration, die erst durch die Verankerung in der Klasse überwunden werden könne.

Dahinter steht jedoch eine Leugnung des wissenschaftlichen Charakters des  Programms und der Notwendigkeit, revolutionäres Klassenbewusstsein in die Klasse tragen zu müssen. Diese Sicht unterstellt letztlich, dass die Klasse aufgrund ihres „Arbeiterseins“ revolutionäres Bewusstsein spontan hervorbringe. Wozu dann allerdings eine politische Partei der Klasse notwendig sein soll, die das Proletariat politisch führt, bleibt ein Rätsel.

Schließlich gehen viele von einer Art „trotzkistischer Familie“, einer Zersplitterung aus, die nur gekittet werden müsse. Es wird hier eine „Einheit“ des „Trotzkismus“ unterstellt, die einfach phantastisch und nutzlos ist, so als wollte man eine Einheit der „Sozialisten“ oder der „Kommunisten“ unterstellen, unabhängig davon, ob es sich um Revolutionäre, Zentristen,  Sozialdemokraten oder Stalinisten handelt. Es ist ebenso ein Mythos, dass diese „Sozialisten“ oder „Kommunisten“ der Revolution „näher“ stünden als andere. Genauso würde die  „Einheit“ der Trotzkisten heute nur zur Einheit der Verwirrten führen.

Ohne Bruch mit der degenerierten „Vierten Internationale“ ist das revolutionäre Erbe Trotzkis, ist die Methode des Übergangsprogramms nicht zu retten. Auch das ist ein Grund, warum wir für die Schaffung einer neuen, revolutionären Fünften Internationale eintreten.

Für die Fünfte Internationale

Die Schaffung einer neuen, revolutionären, einer Fünften Internationale ist ein dringendes Gebot der Stunde. Der Weltkapitalismus ist in den letzten Jahren in eine neue Krisenperiode eingetreten, die von einer strukturellen Krise der Kapitalakkumulation, von strategischen Angriffen nach Innen wie nach Außen und von einer Erosion des tradierten sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Reformismus in der Arbeiterklasse geprägt ist.

Um aus den stattfindenden Umgruppierungen der Arbeiterklasse und der anti-kapitalistischen Bewegung aber auch wirklich eine revolutionären Organisation aufbauen zu können, eine neue Weltpartei der sozialistischen Revolution, müssen wir auch die Lehren der bisherigen vier Internationalen – ihren Stärken und Schwächen -beherzigen.

Die Erste Internationale zeigte: es ist zwar möglich, verschiedene Kräfte in einen weltweiten Zusammenschluss der ArbeiterInnen hineinzubringen, wenn aber Teile der Internationale sich heftig gegen den politischen Kampf wenden, kann die Einheit nicht von Dauer sein. Deshalb muss  die Fünfte Internationale anstreben, die breitesten Schichten von Kampfverbänden zusammenzuziehen – aber sie muss ihre politischen Ziele schnell abstecken und entschlossen alle Forderungen ablehnen, welche die einzige Methode leugnen, die zum Sieg über den Kapitalismus führt: Arbeiterregierung und Arbeitermacht. Deshalb werden wir darauf bestehen, dass die Internationale einen ernsthaften politischen Kampf auch in den eigenen Reihen führt und nicht den Bruch mit AnarchistInnen, PopulistInnen oder den liberalen Federführern der Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) scheut, die unsere Klassenziele nicht teilen können.

Die Zweite Internationale zeigte: zweifellos können politischer und gewerkschaftlicher Kampf, Wahlkampagnen sowie weitreichende Agitation und Propaganda den Arbeiterparteien überall Massenkräfte zuführen. Aber wenn eine Bürokratie in einer nationalen Arbeiterbewegung entsteht, die sich auf privilegierte Sektoren der Arbeiterschaft stützt, kann sie schnell ihren Frieden mit den Ausbeutern schließen und selbst den schlimmsten Schandtaten der Bourgeoisie noch Rückendeckung geben, z.B. als die Zweite Internationale 1914 die Arbeiter in einen mörderischen  Bruderkrieg ziehen ließ. Für ihre nationalen Sektionen ist diese Kumpanei mit den KapitalistInnen seither zum Regelfall geworden.

Wie die Zweite muss sich die Fünfte Internationale der Techniken der politischen Massenaktion bedienen, die nicht nur ein paar hundert Menschen zu Propagandagesellschaften zusammenfasst, sondern Hunderttausende in Parteien der Arbeiterklasse. Wir dürfen jedoch niemals den verhängnisvollen Fehler begehen und reformistische Funktionäre und karrieristische Pöstchenjäger in unseren Reihen dulden. Bürokratie, Nationalchauvinismus, parlamentarischer oder gewerkschaftlicher Reformismus verdammen die antikapitalistische Bewegung zu blutiger Niederlage. Das Ringen um die Fünfte Internationale ist untrennbar vom Kampf, die Arbeiterbewegung aus dem Griff der Kriegstreiber und Verräter zu lösen. Wir rufen die Arbeiterparteien auf, die den Weg des Kampfes gegen das Kapital eingeschlagen haben, sich in der Fünften Internationale zu versammeln. Zugleich fordern wir sie auf, alle Verbindungen zu den KapitalistInnen unwiderruflich abzubrechen und bürokratische Verräter aus ihren Reihen zu vertreiben! Ansonsten wäre die Internationale schon bei der ersten ernsthaften Prüfung dem Untergang geweiht.

Die Dritte Internationale zeigte: um die reformistischen falschen Führer zu stürzen, sich dem imperialistischen Krieg entgegen zu stemmen, die ArbeiterInnen im Kampf um die eigene Macht zusammenzuschweißen, bedarf es einer Bewegung, die vollste interne Demokratie mit  zentralisierter Aktion auf Weltebene kombiniert. Ohne Demokratie besteht keine Aussicht auf echte Einheit, auf Zusammenziehung der ArbeiterInnen aller Länder zur Formulierung einer internationalen Strategie, auf Auflehnung gegen bürokratische Kontrolle. Ohne strengen Zentralismus – was voraussetzt, dass nationale Parteien und Führer demokratische internationale Beschlüsse anerkennen – eröffnet sich keine Möglichkeit, nationalem Druck standzuhalten, und keine Möglichkeit gemeinsamen revolutionären Handelns. Die Fünfte Internationale muss ein Höchstmaß an innerer Demokratie mit größtmöglicher Einheit in der Aktion verknüpfen; beides sind Vorbedingungen für einen wirkungsvollen revolutionären Kampf.

Das schreckliche Schicksal der Dritten Internationale ist eine Warnung für die Zukunft. Wenn eine Revolution in einem Land sich nicht beizeiten über seine Grenzen hinaus ausdehnt, wenn die Arbeiterdemokratie unterdrückt wird, wenn das Ziel der Revolution der Sicherung kapitalistischer Demokratie geopfert wird, wenn Koalitionsregierungen mit kapitalistischen Parteien eingegangen werden, wenn eine bürokratische Kaste in einem Arbeiterstaat die Weltrevolution als Ziel fallen lässt zugunsten einer ’friedlichen Koexistenz’ mit dem Weltkapitalismus, dann können sogar die mutigsten und fähigsten revolutionären Parteien sich ins Gegenteil verkehren und Instrumente der Konterrevolution werden.

Der Stalinismus ist ein Schandfleck auf der Geschichte der Arbeiterbewegung. Mit ihm kann es  keinen Kompromiss geben. Kommunistische Parteien, die sich in der Fünften Internationale einfinden wollen, müssen mit dem reaktionären Programm des Stalinismus brechen. Ohne einen klaren Trennungsstrich zum Stalinismus wird die Internationale niemals eine neue Generation um das Banner zur Befreiung der Menschheit scharen können.

Als alleinige Vertreterin aus der einst mächtigen kommunistischen Bewegung stellte sich die Vierte Internationale gegen die Gräuel des Stalinismus und die furchtbaren Niederlagen, die er der Arbeiterklasse zufügte. Sie hinterließ den künftigen Generationen ein unschätzbares politisches Vermächtnis: Arbeiterdemokratie statt bürokratischer Planung, die Herrschaft von Arbeiterräten statt Diktatur einer privilegierten Kaste; Internationalismus statt nationalem Chauvinismus, ununterbrochene (permanente) Revolution statt Dauerblock mit ’demokratischen’ KapitalistInnen, ein Programm, das die Tageskämpfe der ArbeiterInnen mit der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse verknüpft, statt einem Katalog von Reformen ohne Bezug zum Endziel der Revolution.

Auf keinen dieser Grundsätze kann heute verzichtet werden.

Aber vor mehr als 50 Jahren ist die Vierte Internationale als revolutionäres Instrument zerstört worden. Nach dem 2. Weltkrieg ließ sie ihr unabhängiges Arbeiterprogramm fallen, passte ihre Politik an linke Sozialdemokraten und Stalinisten an, erklärte schließlich die ’Epoche der russischen Revolution’ für beendet und trachtete nach einer neuen Internationale  auf ausschließlich reformistischem Programm. In Brasilien trat sie der kapitalistischen Regierung Lulas bei und herrscht an der Seite der Bourgeoisie gegen die ArbeiterInnen und Bauern. In der jetzigen antikapitalistischen Bewegung nimmt das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale den äußersten Flügel der liberalen und reformistischen Teile der Bewegung  gegen revolutionäre Kritik in Schutz.

Der Hauptsplitter der ehemaligen Vierten Internationale, die Internationale Sozialistische Tendenz, leugnet nahezu jedes revolutionäre Prinzip der Internationale. Sie tönt in radikalen revolutionären Worten, weigert sich aber hartnäckig, die reformistischen Tendenzen in der Bewegung anzugreifen. Sie betont, dass die Unterlassung revolutionärer Kritik eine Vorbedingung für Aktionseinheit sei und schlägt daher ein hoffnungslos unbrauchbares ’Antikapitalistisches Manifest’ für die Bewegung vor. In Britannien kandidiert ihre führende Gruppe, die Socialist Workers Party, bei Wahlen auf einer reformistischen Plattform und tritt zur Europawahl 2004 gar in einer klassenübergreifenden Koalition an. In Simbabwe haben ihre Anhänger die MDC unterstützt, ein Parteigebilde aus ArbeiterInnen, KapitalistInnen und weißen Landbesitzern, statt eine unabhängige Klassenpolitik zu verfolgen.

Eine weitere Abspaltung der Vierten Internationale ist das Committee for a Workers’ International (CWI) (Komitee für eine Arbeiterinternationale, KAI). Auch diese Organisation will den Massen keine revolutionäre Alternative anbieten. Sie versucht, aus der Krise der Sozialdemokratie Kapital zu schlagen, indem sie den Aufbau neuer Arbeitermassenparteien verkündet, aber bewusst und ausdrücklich die Revolution als Zielsetzung ablehnt. An ihrer Stelle propagiert die CWI eine Politik, die Macht verfassungsmäßig zu übernehmen und nur dann mit der Bewaffnung der ArbeiterInnen zu drohen, wenn die KapitalistInnen es wagen sollten, gegen die ’gesetzmäßige’ Regierung vorzugehen.

Das ist die Politik des Austro-Marxismus, die in die verheerende Niederlage der Arbeitererhebung in Wien 1934 mündete. Die Arbeiterklasse kann auf die Revolution nicht durch eine Partei vorbereitet werden, die die Wahrheit verschweigt: dass die KapitalistInnen sich niemals friedlich ergeben werden, dass eine bewaffnete Auseinandersetzung unausweichlich ist, dass die ArbeiterInnen ihre eigenen Milizen aufstellen müssen, um den bürgerlichen Staat zu zerschlagen und gewaltsam die Macht zu ergreifen.

Diese Überreste der Vierten Internationale folgen einer Politik, die in der Geschichte der Bewegung als zentristisch bezeichnet wird. Diese Organisationen sind revolutionär in Worten, erweisen sich aber als unfähig, einen konsequent revolutionären Kurs, unabhängig von den bürokratischen Apparaten, vorzugeben. Sie befürworten und gründen politische Organisationen, die den Massen nur ein diplomatisches Abkommen zwischen revolutionären und opportunistischen Strömungen darbieten. Das kann nur eines erreichen: Verstummen der revolutionären Botschaft und Abschirmen der ReformistInnen vor revolutionärer Kritik.

Anstatt zu analysieren, was für die Arbeiterklasse notwendig ist, und dafür zu streiten, passen die zentristischen Fragmente der IV. Internationale ihre Politik jederzeit dem vorherrschendem Bewusstsein in der Arbeiterklasse an. Der Zentrismus verlässt sich auf den revolutionären ’Prozess’, die Krise, die Spontaneität der Massen, um die Aufgabe zu erfüllen, die Revolutionäre selbst erledigen sollten – den Ausweg aufzeigen, vor Fehlern warnen, falsche Freunde von heute als Feinde von morgen ausmachen.

Die Fünfte Internationale muss Kräfte aus der antikapitalistischen und Arbeiterbewegung vereinigen. Aber dabei darf es keine Zugeständnisse an den reformistischen Programme derer geben, die uns heute erneut die gescheiterten Methoden der zusammengebrochenen Internationalen auftischen wollen. Ein ’ausgehandeltes politisches Abkommen’ zwischen ihnen mag zwar die Einigkeit bürokratischer Führer fördern – für die Kampfeinheit der arbeitenden Massen ist sie schlechter als nutzlos.

Nur so kann auch die drängende Aufgabe der Weltarbeiterklasse gelöst werden: der Aufbau einer neuen, einer Fünften Internationale – einer Weltpartei der sozialistischen Revolution.




Kritik der Manifeste der antikapitalistischen Bewegung

Eine Erwiderung auf Monbiot, Albert & Callinicos

Von Richard Brenner, Jeremy Dewar und Sean Murray, Revolutionärer Marxismus 34, Mai 2004

Da sich unterschiedliche politische Strömungen in der antikapitalistischen Bewegung herauszuschälen beginnen, rezensieren Richard Brenner, Jeremy Dewar und Sean Murray die programmatischen Stellungnahmen dreier Schlüsselfiguren (auf dem Europäischen Sozialforum, Paris, November 2003):

„Das Zeitalter des gegenseitigen Einverständnisses – Ein Manifest für eine neue Weltordnung“ von George Monbiot

„Parecon – Leben nach dem Kapitalismus“ von Michael Albert

„Ein antikapitalistisches Manifest“ von Alex Callinicos.

Namen, Programme, Klassen

„…eine, äußerst mannigfaltige Schattierungen zulassende, Mischung aus den weniger auffälligen kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen der verschiedenen Sektenstifter,…“ Friedrich Engels, Anti-Dühring (MEW Band 20, Berlin 1962, S. 19)

Für einige Kommentatoren drückt die Unfähigkeit der Globalisierungsbewegung, die gegen Neoliberalismus und Krieg entstand, einen Namen für sich festzulegen, ihre Stärken aus – ihre Heterogenität, ihren Pluralismus‘ und ihre Fähigkeit, verschiedene Gruppen zu umfassen. Aber diese Unentschlossenheit – wie die Zuneigung der Bewegung zu losen Formen der Organisation und der Ablehnung demokratischer Entscheidungsfindung – maskiert in Wirklichkeit eine dramatische Schwäche. Es wird immer deutlicher, dass die Bewegung gespalten ist – in nicht nur unterschiedliche, sondern gegensätzliche Projekte, Ziele und Klasseninteressen.

Dies zeigt sich in der wachsenden Bevorzugung des Namens Globale Gerechtigkeitsbewegung statt Antikapitalistische Bewegung durch einflussreiche Persönlichkeiten. Während der letztere die oft angemerkte Schwäche hat, nur das zu sagen, wogegen man ist anstatt das, wofür man steht, „löst“ der erstere das Problem nur, indem er die wichtigste Frage offen lässt: Können die Ungerechtigkeiten der gegenwärtigen Welt innerhalb der Grenzen des Kapitalismus überwunden werden?

Die Kräfte, durch welche die Bewegung entstand, kamen von Straßenaktionen. Angespornt durch den Volksaufstand in Chiapas in der Mitte der 90er Jahre und relativ unbelastet durch den fesselnden Einfluss der sozialdemokratischen Bürokratie, begann ein breites Spektrum von aktivistischen Bewegungen, ihren Protest zu koordinieren.

Während der Demonstration in London am 18. Juni 1999 mündeten die Straßenfeste und Aktionen der britischen radikalen Umweltinitiative „Reclaim the Streets“ in einen Massenprotest gegen das kapitalistische System. Im November jenes Jahres zog in Seattle eine koordinierte Aktion von nie da gewesener Breite eine solche Unterstützung von Arbeiter-, Umwelt- Studenten- und internationalistischen und Nichtregierungsorganisationen an, dass diese die Absage des WTO (Welthandelsorganisations)-Gipfels erzwang.

In den Jahren 2000 – 2002 folgten Proteste in Prag, Nizza, Göteborg und Genua gegen die internationalen finanziellen Institutionen und politischen Konferenzen der globalen herrschenden Klasse. Diese Demonstranten nannten den Gegner beim Namen – das war die antikapitalistische Bewegung, eine Bewegung aus „einem Nein und vielen Jas“.

Nach Genua im Sommer 2002 schossen überall in Italien Sozialforen aus dem Boden. Trotz des globalen „Krieges gegen den Terror“ durch die USA nach dem 11. September, wuchs die Bewegung eher an, als dass sie kleiner wurde. Gipfel des Widerstandes auf dem Kontinent zogen Tausende von Aktivisten an. Das Europäische Sozialforum (ESF) in Florenz gab im November 2002 einen Aufruf für eine vereinte Aktion gegen den Irak-Krieg für den 15. Februar 03 heraus – ein Aufruf, der von 20 Millionen befolgt wurde: die größte weltweit koordinierte Aktion gegen den Imperialismus in der Geschichte! Als ein Mittel, um Aktionen zu koordinieren, ist die Bewegung ein unzweifelhafter Erfolg.

Jedoch machte sie in der Entwicklung einer überzeugenden Vision von einer alternativen Gesellschaft und einem realistischen Weg zur sozialen Veränderung keinen Fortschritt. Noch war sie dazu in der Lage, weil die neue Bewegung anders als frühere weltweite antikapitalistische Bewegungen wie die II. Internationale zwischen 1889 und 1914 oder die III. Internationale zwischen 1919 und 1924 keine demokratischen Strukturen hatte, in denen politische und programmatische Entscheidungsprozesse stattfinden konnten.

So ist die Rolle, Analysen und Ziele der neuen Bewegung auszudrücken, einzelnen Journalisten und Akademikern zugefallen. Viele dieser Stimmen waren schnell dabei, Zurückhaltung einzufordern. Unter dem Deckmantel, genau das anzubieten, was fehlte – nämlich ein klares Programm und ein Weg voran – wurde der gegen das System gerichtete Charakter der Bewegung selbst in Frage gestellt.

Dieses Jahr erschienen während der Vorbereitung des Weltsozialforums in Cancún und des ESF in Paris einige Manifeste. Jedes verdient eine Diskussion innerhalb der Bewegung – die Delegierten sollten darauf bestehen, dass dies in einem vollständig demokratischen Umfeld stattfindet. Jedoch bestätigt jedes dieser Programme, dass die Bewegung einen Prozess der internen Differenzierung durchmacht und dieser sich entlang der sozialen Klassenlinie vollzieht.

Von welchem historischen Klassenstandpunkt gehen die sich widerstreitenden Manifeste aus, welche Interessen fördern sie und welche sozialen Kräfte können sie realisieren? Wenn die Diskussionen in und um das ESF die widerstreitenden sozialen Klassen in der Bewegung, die Klassenbedeutung und das Wesentliche der verschiedenen Tendenzen offen legen, dann wird dies ein großer Schritt nach vorn im ideologischen Reifeprozess der Bewegung sein.

George Monbiot: Zustimmung zum Kapital

„ … andererseits die mannigfaltigsten sozialen Quacksalber, die mit allerhand Flickwerk, ohne jede Gefahr für Kapital und Profit die gesellschaftlichen Missstände aller Art zu beseitigen versprachen…Leute, die außerhalb der Arbeiterbewegung standen und eher Unterstützung bei den „gebildeten“ Klassen suchten.“

Engels, Vorwort zur englischen Ausgabe des Kommunistischen Manifest von 1888 (MEW Band 4, Berlin 1959, S. 580).

Ein Buch, für das auf dem ESF stark geworben wurde, ist „Das Zeitalter der Übereinstimmung – ein Manifest für eine neue Weltordnung“ vom britischen Journalisten George Monbiot. Er schimpft leidenschaftlich gegen die offenkundige Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Weltordnung – und trampelt auch auf einigen „Selbstverständlichkeiten“ der antikapitalistischen Bewegung herum.

„Wir haben uns erlaubt, uns vorzustellen, dass wir die konsolidierte Macht unserer Gegner mit einem Wirrwarr von sich widersprechenden Vorstellungen konfrontieren können. Während es einfach einen Konflikt zwischen der Geschlossenheit der Bewegung und der ihrer Vorschläge gibt und während die Verfolgung eines überzeugenden politischen Programms einige Teilnehmer ihr entfremden wird, ist es sicherlich auch wahr, dass, wenn wir einmal der existierenden Weltordnung eine tödliche Drohung präsentiert haben, wir Unterstützer in einem noch größeren Umfang anziehen werden, als wir bisher angezogen haben…

… Die Vorstellung, dass Macht von etwas wie Anti-Macht aufgelöst und ersetzt werden kann, hat einige Verbreitung unter den Anarchisten in der reichen Welt, wird aber als sagenhafter Unsinn von den meisten Kampagnenteilnehmern in der armen Welt angesehen; dort wird die Realität von Macht sehr stark erfahren. Nur weil wir nicht unsere Muskeln spielen lassen, heißt das nicht, dass andere Menschen ihre nicht spielen lassen. Macht tritt immer dort zutage, wo widerstrebende Interessen mit ungleichem Zugang zu Ressourcen – entweder materiellen, politischen oder psychologischen – aufeinander prallen…

… Die Frage ist nicht, wie wir die Welt von Macht befreien, sondern wie die Schwachen zuerst diese Macht gewinnen und diese dann zur Rechenschaft ziehen. Wir müssen die Macht der Globalisierung ausnutzen und indem wir ihre unumstößliche Entwicklung verfolgen, ihre Institutionen stürzen und diese mit den unseren ersetzen (1).“

Dieser Auszug fasst drei wichtige Punkte der Ausrichtung für die Bewegung heute zusammen: dass 1. ideologische Geschlossenheit eine Voraussetzung für Fortschritt ist, nicht eine Bedrohung des langfristigen Wachstums der Bewegung; dass 2. die Macht der Regierenden der gegenwärtigen Weltordnung nur gebrochen werden kann, wenn sie mit einer größeren Macht konfrontiert werden, die in materiellen sozialen Interessen, die mit denen der Herrschenden zusammenstoßen, verwurzelt ist; und dass 3. die Entwicklung einer weltweiten Wirtschaft und Kultur mit fundamentalen Aspekten des gegenwärtigen Systems in Widerspruch steht, was die Zerstörung der alten Welt und die Schaffung einer neuen notwendig und möglich macht, die der Mehrheit der Menschheit verpflichtet ist.

Alles wahr … aber hier endet die Weisheit von Monbiot auch schon. Das „überzeugende politische Programm“, das er vorschlägt, ist streng auf Reformen begrenzt. Auch wenn sie umgesetzt würden, beließen sie die Schlüsselinstrumente der Vorherrschaft in den Händen der kapitalistischen Klasse. Die politische Macht und Institutionen, die er anstrebt, sind nur Instrumente, um die Aktionen der US-amerikanischen und europäischen Kapitalisten unter Druck zu setzen und zu mäßigen. Die alternativen sozialen Kräfte, die er nutzbar machen will, sind eher die kapitalistischen Regierungen und die Herrscher der „Dritten Welt“ als die Volksmassen. Seine „unumstößliche Entwicklung der  Globalisierung“ führt nicht zu einer Gesellschaft, die frei von Kapitalismus und Ausbeutung ist, sondern zu einer, in der weltweite Unternehmen fortfahren, Ressourcen und Menschen auszubeuten und das Privateigentum intakt bleibt.

Kurz: Monbiot schlägt ein Programm für einen humaneren, gerechteren und nachhaltigeren Kapitalismus vor. In Klassenbegriffen gesprochen, ist das ein liberales bürgerliches Programm.

Seine vier Vorschläge sind: ein demokratisch gewähltes Weltparlament; eine demokratisierte UN-Vollversammlung mit der Machtbefugnis des Sicherheitsrates; eine internationale Zollunion, um Handelsdefizite auszuschließen und Schulden zu verhindern; und eine faire Handelsorganisation, um „ die Reichen zu beschränken“ und gleichzeitig die Armen zu emanzipieren.

Wenn man die „praktischen“ Details näher betrachtet, dann wird klar, dass es einfacher wäre, den Kapitalismus in seiner Gesamtheit zu stürzen, als eine einzige von Monbiots Forderungen umzusetzen.

Nehmen wir als erstes das Weltparlament. Jedes auch nur teilweise demokratische Forum in der Geschichte – vom Dritten Stand bis hin zur Pariser Kommune – ist eine Hervorbringung der unterdrückten Klasse gewesen, die einen Kampf gegen ihre Beherrscher geführt hat. Um eine weltweite Institution der repräsentativen Demokratie zu erreichen, die in der Lage ist, die Gesellschaft im Interesse der Mehrheit zu reorganisieren, muss unser Ausgangspunkt der Kampf der Armen in der Welt, der Arbeiterklasse, der Arbeitslosen und der Bauernschaft sein.

Im Laufe des Widerstandes müssen sie Organe ihrer eigenen Macht aufbauen, die nationalen kapitalistischen Staaten, welche sie niederhalten, stürzen und indem sie ihre soziale Revolution ausweiten, ihre neuen demokratischen Institutionen zusammenschließen, um die weltweite Produktion und Verteilung auf nachhaltige, gerechte und nicht ausbeutende Weise zu koordinieren. Das ist kein von einem großen Reformer entworfenes Schema, sondern Ausdruck wirklicher geschichtlicher Entwicklung.

Monbiot jedoch hat anscheinend eine bessere Idee. Jeder Erwachsene auf der Erde sollte eine Stimme für ein Parlament – sagen wir mal – mit 600 Vertretern haben („jeder mit einem Wahlkreis von 10 Millionen Menschen“, streicht er hilfsbereit heraus). Die Wahlkreise werden nationale Grenzen überschreiten. Die Mitglieder sollten keine Verbindung mit nationalen Regierungen haben, sagt er uns, aber die Nationalstaaten werden weiter existieren. Mit atemberaubender Naivität meint er, dass, „wenn die Vereinigten Staaten einem Mitglied des Jemen sagen würden, dass, wenn es nicht seine Politik ändern würde, würden sie die Hilfe, die sie seiner Landesregierung geben, streichen; dann könnte es antworten, dass die Entscheidungen, die es trifft, nichts mit der Regierung zu tun haben (2).“

Wie will Monbiot angesichts des Netzwerks von kapitalistischen Nationalstaaten – das er nicht zerschlagen will! – ein Parlament errichten? Ganz einfach. „Unsere erste Aufgabe besteht darin, dass wir Werbeschriften und Websites veröffentlichen, die diese Idee erklären.“ Die zweite Aufgabe, vielleicht zeitraubender und teurer, besteht darin „eine Befragung von soviel Menschen in der Welt wie möglich durch willkürlich ausgewählte Stichproben, so wie es das Budget, das wir einnehmen, es erlaubt, durchzuführen, um herauszufinden, ob unser Vorschlag eine Zustimmung innerhalb der Bevölkerung erhält oder nicht (3).“

Wenn nicht, „ sollten wir den Prozess der Entwicklung beenden“. Einen weniger überzeugenden Aufruf für einen Unterstützungsfond kann man sich kaum vorstellen.

Da er an diesem Thema Gefallen gefunden hat, fährt Monbiot fort, dass, wenn die meisten Menschen, die befragt wurden, dies begrüßen würden, dann wären wir in einer stärkeren Position, um Unterstützungsfonds zu sammeln und „eine Wahlkommission einzusetzen, die mit professionellen Menschen – mit einem strikt neutralen Mandat – ausgestattet ist.“ Aber wie die sechs Milliarden Menschen auf der Welt ihre Zustimmung zu der Auswahl (durch wen?) dieses „neutralen“ Teams von gelehrten Verfassungs- und demographischen  Experten ausdrücken wollen, bleibt unklar.

„Der Plan wird dann teuerer, komplexer und risikoreicher.“ Wie können wir die 5 Milliarden $ zusammenbringen, die die weltweiten allgemeinen Wahlen kosten werden, wie Monbiot schätzt? Ein kleiner Anteil, sagt er, könnte von einzelnen Personen und Wohlfahrtseinrichtungen erhoben werden. „Die einzigen Körperschaften, die genügend Fonds besitzen, um den Rest zu liefern, sind jedoch die Staaten, die internationalen Institutionen und Unternehmen und natürlich sollten wir vorsichtig sein, von ihnen Geld zu akzeptieren (4)“.

Eine Unterstützung durch Unternehmen ist – bemerkt er mit seinem diesmal seltsam gesunden Menschenverstand – „komplett ausgeschlossen“. Jedoch könnten vielleicht, stellt er sich stolz vor, einige „liberale Staaten“ oder „wohlgesonnene UN-Einrichtungen“ ein paar Millionen springen lassen. Schließlich  verlässt sich Monbiot auf vernünftigere und zuverlässigere Quellen: „eine weltweite Lotterie, die enorme Preise anbietet“, oder Spenden von Reservefonds einer internationalen Zollunion,die zugegebenermaßen nicht existiert, aber er versichert uns, diese sollte wirklich existieren, auch wenn seine Vorschläge für ihr Zustandekommen genauso utopisch sind wie die für das Weltparlament selbst.

Die antikapitalistische Bewegung, die Gewerkschaften, lokale Graswurzel-Initiativen, Jugendgruppen, Bauernbünde, NGOs, die sich auf den Staat und karitative Spenden verlassen, sollten ihre mühsam gesammelten Fonds nicht dafür abzweigen, dem Kampf gegen die Unternehmer und ihre Staaten nachzugehen, gegen Ungerechtigkeiten Kampagnen zu führen, Parteien zu bilden und zu Wahlen auf Plattformen des Widerstands gegen das Kapital anzutreten, unsere eigene rechtliche und physische Verteidigung gegen andauernde Polizeiattacken zu organisieren, sondern für eine hirnverbrannte Befragung als Übung für eine unmöglich zu organisierende weltweite allgemeine Wahl, die in und neben den existierenden repressiven Staatsstrukturen stattfinden soll. Was könnte dieses Parlament überhaupt tun? „Moralische Autorität“ gegenüber den Herrschenden der Welt ausüben.

Die größte Demonstration in der menschlichen Geschichte und die Verurteilung durch die Mehrheit der anderen Staaten hielten die USA und Britannien nicht davon ab, den Irak im Jahr 2003 anzugreifen. Eine allgemeine Zustimmung hinderte Bush nicht daran, den Vertrag von Kyoto bzgl. der globalen Erwärmung zu zerreißen. Von einem Weltparlament jedoch, das über keine Staatsgewalt und keine ökonomischen Druckmittel verfügt, wird erwartet, dass es jene zum Gehorsam zwingen wird.

Mit seinem zweiten Vorschlag einer reformierten UN-Vollversammlung, welche die Macht des Sicherheitsrates übernimmt, schweift Monbiot plötzlich von seiner utopischen Traumwelt ab und widmet sich der Frage, wie dem existierenden UN-Sicherheitsrat etwas entgegenhalten werden kann. Er schlägt ein demokratisches Sicherheitssystem vor, das „nicht nur von fünf selbsternannten Regierungen, sondern von der gesamten Generalversammlung kontrolliert wird“. Jede Stimme einer Nation soll gemäß ihrer Bevölkerung und „demokratischen Legitimation“ (durch welche Kriterien?) gewichtet werden. Aber er kann sich nicht um die Tatsache herumdrücken, dass die USA „mit sogar größerer Feindschaft auf diese Vorschläge reagieren wird als sie es gegenüber dem internationalen Strafgerichtshof getan hat“. Also was ist zu tun?

Seine erstaunliche Antwort? Weltweiter ökonomischer Krieg. Er schlägt vor, dass der Rest der Welt den Dollar fallen lassen und die Währungsreserven in Euro oder Yüan transferiert werden sollen. Im Handel soll auf Nicht-Dollar-Währungen bestanden werden. Um nicht missverstanden zu werden, behauptet er: „Der Rest der Welt hat, mit anderen Worten, die Mittel, um die US-Ökonomie zu ruinieren und dadurch ihren Status als globaler Hegemon zu gefährden. Dies könnte notwendig werden, wenn wir eine Weltordnung aufbauen sollen, die auf Fairness und Gerechtigkeit beruht (5).“

Wenn man die offensichtliche Tatsache weglässt, dass dies rasch zu einer globalen militärischen Konfrontation führen würde, auf die uns Monbiot allerdings nicht vorbereiten mag, existiert noch folgendes kleines Problem – nämlich der gegenwärtige Unwille der nationalen kapitalistischen Regierungen, diesem gefährlichen Kurs zu folgen. Jedoch wird an diesem Punkt erwartet, dass die Massen – bis eben auf den Status von Lotteriescheinkäufern oder von Wählern in 10 Millionen starken Wahlkreisen reduziert – die Szene betreten … natürlich verfassungskonform. Die Regime werden „diesen Mut nur finden, wenn ihre Wählerschaften  [nur Demokratien, bitte!] .. ihrer Pflicht nachkommen und die Möglichkeit eines neuen Weltkrieges verhindern (6).“

Monbiots andere Vorschläge – die internationale Zollunion und die faire Handelsorganisation – sind anderen Schuldenabmilderungs- und fairen Handelsreformen, die bereits in der antikapitalistischen Bewegung vorgetragen wurden, ähnlich. Wir haben diese woanders untersucht (7). Hier ist relevant, dass Monbiot der Überzeugung ist, dass diese in der gleichen Art und Weise wie das Weltparlament und der neue demokratische Sicherheitsrat herbeigeführt werden können: durch eine Kombination von moralischer Autorität und eines koordinierten Aufstands der kapitalistischen Regierungen der „Dritten Welt“. All dies soll unter friedlichem Druck der Massen stattfinden.

Die Mehrheit der Weltbevölkerung sind ArbeiterInnen in Industrie und Dienstleistungsgewerbe, Bauern oder arbeitslose Menschen. Wenn sie in einer genügenden Anzahl und Stärke mobilisiert werden können, um eine weltweite Wahl einzuberufen, geschweige denn, um die Mehrheit der nationalen Regierungen der Welt in eine ökonomische und deswegen wahrscheinlich militärische Konfrontation mit den USA zu zwingen, dann könnten sie für sich selbst eine Rolle in Anspruch nehmen, die weit über die einer Komparsenarmee oder Lobbygruppierung von Monbiot hinausgeht. Dann könnten sie ihre eigenen Interessen und Forderungen voranbringen.

Wenn das Volk des Nahen Ostens sich in einer Massenbewegung organisieren würde, stark genug, um den Präsidenten Mubarak oder das  Haus Saud dazu zu zwingen, mit den USA zu brechen und aufzuhören, als Gendarmen für das westliche Kapital zu handeln, könnten sie auch soweit gehen, diese reaktionären Regime herauszufordern und zu stürzen.

Was aus jeder Seite von „Das Zeitalter der Übereinstimmung“ heraussticht, ist etwas, was Monbiot selbst nicht aussprechen kann. Ja, die Entwicklungsländer wurden von den westlichen Mächten daran gehindert, einer „normalen“ kapitalistischen Entwicklung zu folgen. Ja, eine demokratische Revolution, um den Weg für diese Entwicklung zu öffnen, eine bürgerlich-demokratische Revolution ist eine dringende Notwendigkeit. Aber den Bitten von Monbiot zum Trotz: die brutale Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass die halbkoloniale Bourgeoisie diese nicht durchführen wird und sie auch nicht durchführen kann. Sie ist mit Tausenden Fäden an die herrschenden Klassen der fortgeschrittenen Mächte gebunden, sie ist in Bezug auf ihren persönlichen Reichtum und ihre Privilegien davon abhängig, wenigstens einen modus vivendi mit den USA und der EU aufrechtzuerhalten. Vor allem fürchtet sie die Mobilisierung ihrer eigenen Massen weit mehr als das Weiße Haus.

Aber es gibt einen Weg. Hunderte Millionen ArbeiterInnen, Bauern und Arbeitslose können an die Spitze der demokratischen Revolution treten und zu antikapitalistischen, sozialistischen Aufgaben fortschreiten. Das ist keine neue Erfindung – diese Konzeption ist als „permanente Revolution“ bekannt.

Wenn sie ihren Widerstand koordinieren, können die Millionen ihre eigenen demokratischen Räte bilden wie die Pariser Kommune oder die Sowjets in den frühen Jahren der Russischen Revolution. Sie können nicht nur darum kämpfen, die Handlungen der großen Unternehmen, die jeden Aspekt der Weltwirtschaft und des politischen Lebens dominieren, abzufedern; sie können die Kontrolle über ihre Ressourcen und die Macht erobern, indem sie diese in Gemeineigentum überführen. Sie können nationale kapitalistische Regierungen stürzen und ihre eigene demokratische Herrschaft errichten, die auf ihren eigenen Räten und ihrer eigenen Herrschaft beruhen. Sie können beginnen, Produktion und Verteilung demokratisch zu planen.

Indem man die Arbeiterklasse als Teil der globalen „Gerechtigkeitsbewegung“ in einer neuen weltweiten politischen Partei organisiert, kann die Arbeiterklasse an die Spitze dieser revolutionären Entwicklung gelangen – statt dass sie durch das unmögliche Projekt eines Weltparlamentes abgelenkt wird, könnte sie ihre Revolution verbreiten. Wenn man sie in einem Land beginnt und sie dann international ausdehnt, könnte ein globaler Produktionsplan das Chaos des kapitalistischen Marktes ersetzen – und dies unter der demokratischen Kontrolle der ProduzentInnen und KonsumentInnen selbst.

Monbiot sagt ausdrücklich, dass die ArbeiterInnen und Bauern, die im Kapitalismus ausgebeutet werden, nichts von dem tun sollen. Die globalen Unternehmen sollen in privater Hand bleiben. Sie sollten streng reguliert werden, dann wären sie „verantwortlich“. Wenn ihre Missstände korrigiert sind, wäre in seinen Augen an diesen Organisationen wirklich nichts verkehrt: „im Prinzip ist ein Unternehmen ein Mittel, um Waren und Dienstleistungen in Geld umzutauschen, ein Vehikel, das Reichtum zu und von der Bank trägt (8).“

Dies ist ein grober und gefährlicher Unsinn, eine Entschuldigung für den Kapitalismus. Diese Unternehmen sind nicht nur Vehikel, um Reichtum zu bewegen – sie beuten Millionen von arbeitenden Menschen aus. Obwohl Monbiot die Ideen, die von Marx im Kommunistischen Manifest, vor 150 Jahren niedergelegt wurden, abzulehnen versucht, ist es heute wahrer als jemals zuvor, dass die Profite der großen kapitalistischen Unternehmen  nicht – wie er es sich vorstellt – durch „Ausleihen von Geld für Zinsen“, was nur eine Beschreibung des Kreditsystems und des Leihkapitals ist, fundamental gesichert sind. Privatbesitz an Produktionsmitteln schafft das System der Lohnsklaverei, unter welchem die ArbeiterInnen mit dem Lohn nicht den Wert der Waren erhalten, die sie produzieren, sondern nur den Wert der Waren, die notwendig sind, um sie am Leben zu erhalten und um sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit zwingen zu können. Der Rest – der Mehrwert – wird vom Kapitalisten einbehalten, der mit anderen Privatbesitzern konkurrieren muss, indem er die Kosten der Produktion drückt und die Intensität der Arbeitsverausgabung erhöht. Dies ist heute die Quelle von aller Ungleichheit in der Welt, vom habgierigen und instabilen Charakter der gegenwärtigen Weltordnung aus Armut, Unterdrückung, Konkurrenz, Umweltzerstörung und Kriegstreiberei.

Aber Monbiots Verpflichtungdem kapitalistischen Systems gegenüber geht so tief, dass er die Handlungen der Regierenden der „Dritten Welt“ fördert. Dagegen steht er konkreten Schritten der arbeitenden Bevölkerung, die das kapitalistische Eigentum herausfordern und kontrollieren könnten, dermaßen feindlich gegenüber, dass er sogar gegen ein Verbotder Kinderarbeit opponiert! Ein Missstand, der immerhin bereits im 19. Jahrhundert von einer Kampagne für den gesetzlichen Schutz durch die Arbeiterklasse ausgemerzt wurde. Er sagt, ein Verbot „würden viele Familien, die so arm sind, dass sie keine andere Wahl hätten, als ihre Kinder zur Arbeit zu schicken, äußerst übel nehmen“. Das ist genau dasselbe Argument, das von korrupten PR-Beratern gebraucht wird, die Firmen wie Nike, Adidas und Gap geholfen haben, ihren Ruf in Bezug auf die Ausbeutung der Kinder zu verteidigen (9).

Dass die Arbeiterklasse Kinderarbeit verbieten muss, um so auch allgemein Lohnsenkungen zu stoppen, dass ein Verbot der Kinderarbeit die Kapitalisten zwingen würde, mehr Erwachsene zu höheren Löhnen einzustellen, dass ein Ende des wirtschaftlichen Missbrauches von Kindern deren Bildungsniveau erhöhen würde und damit auch die Arbeitsproduktivität in jeder existierenden Gesellschaft, dass dies eher den Lebensstandard erhöhte, als dies in den europäischen Ländern eingeführt wurde, dass es schlicht falsch ist, dass Privatfirmen Kinder als Sklaven in Fabriken treiben,um ihre Kindheit mit Schufterei zu verlieren – all das begreift Monbiot nicht.

Genauso wenig versteht er die Folgen, wenn man den fundamentalen Gegensatz von Kapital und Arbeit intakt lässt. Weil er nicht die Abschaffung dieses Antagonismus vorschlägt, muss sein System ein unsicheresGleichgewicht zwischen entgegengesetzten Kräften etablieren – regulierte, konkurrierende Kapitalblöcke, angeglicheneNationalstaaten, ausgedehnte Schlichtungssysteme zwischen den Klassen. Es wäre eine vonBürokratInnen und VerwalterInnen geprägte Welt – und sie wäre von Natur aus instabil. Um diesen künstlichen Waffenstillstandinnerhalb der kapitalistischen Konkurrenz, Kämpfe zwischen den Nationen und den Klassenkonflikt aufrechtzuerhalten, pflichtetMonbiot John Maynard Keynes‘ Vorschlag für eine Weltpolizei bei. Monbiots System würde nicht ein Zeitalter der Harmonie eröffnen, sondern ein globalisiertes Zeitalter des Zwangs.

Aber genug von Monbiots komplett hoffnungslosen Projekten und erbärmlichen Entschuldigungen für das Kapital. Eine Analyse der Klasseninteressen enthüllt,dass es nur einen wirklichen Grund dafür gibt, dass dieses absurd inadäquate Manifest überhaupt diskutiert wird, ganz zu schweigen davon, dass es ernsthaft in der Bewegung debattiert würde. Es ist ein bürgerliches Programm mit bürgerlichen Zielen. Es würde die antikapitalistische Bewegung auf eine hilflose und zusammenhanglosepressure group reduzieren.

Monbiot verwendet einige Seiten seines Buches darauf, Marx´ Kommunistisches Manifest anzugreifen. Vergeblich – schon vor 150 Jahren stand es weit über dem Niveau von Monbiot. Marx beschrieb darin, was er den konservativen oder bürgerlichen Sozialisten nannte: Leute wie Monbiot:

„Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.

Seinen entsprechenden Ausdruck erreicht der Bourgeoissozialismus erst da, wo er zur bloßen rednerischen Figur wird.

Freier Handel! im Interesse der arbeitenden Klasse; Schutzzölle! im Interesse der arbeitenden Klasse…das ist das letzte, das einzige ernstgemeinte Wort des Bourgeoissozialismus.

Ihr Sozialismus besteht eben in der Behauptung, daß die Bourgeois Bourgeois sind – im Interesse der arbeitenden Klasse (10).“

Aber geben wir Monbiot das letzte Wort. Er appelliert anuns: „Ich bitte Euch nur um eine Sache – lehnt diese Vorschläge nicht ab, bis Ihr bessere habt, die diese ersetzen (11).“ Deshalb wollen wir fortfahren, einige weitere Vorschläge zu untersuchen.

Albert: Zukunftsvision oder Neuigkeiten aus dem Nichts?

Für Antikapitalisten ist Michael Albert weit attraktiver als Monbiot. Ganz anders als der hat Albert nie antikapitalistische DemonstrantInnen in der bürgerlichen Presse wegen Gewalttätigkeit verurteilt, noch bevor  das Ereignis überhaupt stattgefunden hatte, wie es Monbiot im British Guardian vor Londons Maidemonstrationen 2002 tat. Darüber hinaus verteidigt Albert auch nicht den Kapitalismus; er will sich seiner vollständig entledigen und ihn durch ein anderes, faireres, gerechtes und leistungsfähigeres System ohne Privateigentum und Ausbeutung ersetzen. Er nennt dieses System Parecon – eine partizipatorische Ökonomie (Teilhaberwirtschaft).

Alberts Bemühen besteht darin, zu zeigen, dass es im Gegensatz zu den Behauptungen der Neoliberalen eine funktionierende Alternative zum Kapitalismus gibt. Zu einem großen Teil schöpft Parecons „Leben nach dem Kapitalismus“ aus marxistischem Denken und ähnelt ihm bezüglich der Frage, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft organisiert sein müsste.

Aber seine Arbeit hat zwei Defizite. Er erklärt nicht, wie eine solche Gesellschaft ins Leben gerufen werden könnte und deshalb notwendig auch durch die konkreten Umstände ihrer Entstehung aus dem Kapitalismus heraus geprägt würde. Er versucht, ein Modell nichtkapitalistischer Produktion und Verteilung zu schaffen, während er eine unverzichtbare Voraussetzung für ihren Erfolg meidet – demokratische Institutionen zentraler Wirtschaftsplanung.

Albert greift den Kapitalismus dafür an, „Armut, schlechte Gesundheit, verkürzte Lebenserwartung, eingeschränkte Lebensqualität und Umweltkollaps zu erzeugen“. Er schlägt vor, die imperialistischen Gremien IWF, Weltbank und WTO durch „eine internationale Vermögensagentur, eine Weltinvestitionshilfeagentur und eine Welthandelsagentur“ zu ersetzen, die daran arbeiten, die Grundwerte von Parecon zu erreichen: Gerechtigkeit, Solidarität, Diversifizierung, Selbstverwaltung und ökologisches Gleichgewicht. Aber anders als Monbiot erkennt Albert, dass der einfache Ersatz der globalen Institutionen der Imperialisten durch bessere zum Scheitern verdammt ist, solange Kapitalismus existiert.

Albert schlussfolgert korrekt, dass wir den Kapitalismus durch ein anderes Wirtschaftssystem ersetzen müssen, wenn wir dauerhafte Errungenschaften erzielen möchten. Während er nicht den Versuch unternimmt zu sagen, wie wir den Kapitalismus beseitigen können, behauptet er doch, dass „um den Kapitalismus hinter sich zu lassen, Parecon-orientierte Antigobalisierungsaktivisten eine institutionelle Vision anböten, die aus denselben“ inneren Werten „abgeleitet wäre (12).“

Seine Vision impliziert, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln – Firmen, Fabriken, Bergwerke und Bauernhöfe, wo der gesellschaftliche Reichtum hergestellt wird – abgeschafft ist. Statt dessen gehört das Produktivvermögen der Gesellschaft Allen gleich. Albert streicht zurecht heraus, dass dieses Privateigentum die Grundlage des Kapitalismus und für dessen massive Ungleichheit darstellt. Wenn wir es abschaffen, kann kein Individuum, keine Gruppe Macht, Reichtum oder Privilegien aus der Ausbeutung ableiten.

„Niemand verfügt über Reichtum, Einkommen oder wirtschaftlichen Einfluss im Unterschied zu dem, was jeder besitzt, mittels unterschiedlichen Zugangs zu Eigentum an Produktionsmitteln.“

Unter Parecon würde unsere Welt nicht mehr von Entscheidungen kontrolliert, die in Vorstandsbüros von Weltfirmen gefällt werden. Wir würden nicht länger damit auskommen müssen, korrupte und nichtrepräsentative Politiker in scheindemokratische Körperschaften zu wählen, die den Mehrheitswillen ignorieren und nur im Interesse der Reichen und Mächtigen regieren. Stattdessen hätten wir eine von demokratischen Räten verwaltete Welt. Arbeiterräte werden jeden Arbeitsplatz planmäßig lenken, „an dem jeder Arbeiter die gleichen umfassenden Beschlussrechte und Verantwortung hat wie jeder andere.“ Diese Räte gestalten und unterhalten den Arbeitsplatz, weisen Aufgaben und Pflichten allen, die dort arbeiten, gleich zu, entscheiden über auszuführende Arbeiten und notwendige Hilfsquellen für die Arbeitsstätte.

Der Markt wird nicht mehr blind über unsere Verbrauchsartikel für uns entscheiden. An seiner Stelle verfügten wir über KonsumentInnenräte, organisiert auf Ortsebene, die den Verbrauch festlegen und planen. Denn wenn „wir anerkennen, dass Verbrauchsaktivität wie die in der Produktion größtenteils gesellschaftlich ist“, müssen „wir darauf beharren …“, dass Entscheidungsfindungsprozesse über Konsumtion wie über Produktion partizipatorisch und gleichberechtigt sind (13).“

Auch die Art, wie wir arbeiten, wäre unter Parecon radikal verschieden von heute. Albert führt die Vorstellung eines „balancierten Berufskomplexes“ ein, bei dem jeder von uns Zeit damit zubrächte, eine ihn befähigende Arbeit zu verrichten, die jedem von uns eine „gleiche Chance zu Teilnahme an und Nutzen vom Treffen von Arbeitsplatzentscheidungen“ verliehe. Albert betrachtet dies als Methode, um die „fabrikmäßige Arbeitsteilung“ niederzureißen, wobei einige den ganzen Tag in der Fertigungslinie zubringen, während andere nur Entscheidungen treffen und die zukünftige Erzeugung planen.

Er betont, dass wir immer eine gewisse Arbeitsteilung brauchen (d.h. nicht alle können Arzt oder Atomphysiker sein), nichtsdestotrotz „solltest du eine gewisse übrige Zeit an erfreulicheren und dich befähigenden Aufgaben arbeiten, wenn du an einem besonders unangenehmen und abstumpfenden Unterfangen jeden Tag oder jede Woche eine Zeitlang wirkst.“ Bis wir die Notwendigkeit langweiliger, sich wiederholender und profaner Tätigkeit beseitigen können, soll unter Parecon jeder seinen fairen Anteil daran leisten müssen.

Im Kapitalismus ist unsere Bezahlung kein Abbild davon, wie gesellschaftlich notwendig oder wertvoll unsere Arbeit ist. Krankenpflegekräfte strampeln sich dabei ab, ihre Aufgabe zu erfüllen, während Berufszocker Millionen an der Börse verdienen. In einer von Parecons Prinzipien getragenen Welt würde die Arbeitsvergütung darauf beruhen, „wie viel Anstrengung oder Opfer wir bei unserer nützlichen Tätigkeit erbracht haben.“ Welche Sorte Arbeit für die Gesellschaft nützlicher und wertvoller wäre, würde demokratisch von Arbeiter- und Verbraucherräten bestimmt.

Die Sphären von Produktion und Konsumtion würden durch diese Räte koordiniert, die Planpreise festsetzen und sie miteinander mittels Verbesserungsbüros und Arbeitserleichterung-durch-Iteration (Wiederholung)-Komitees auf nationalem Niveau ausgehandelt. Beim Planen dieser Preise:

„müssen Arbeiterteilhaber die Vorteile aus weniger Arbeitsaufwand oder Nutzen weniger produktiver Techniken gegen den Verlust an Verbraucherwohlergehen abwägen. Verbrauchergenossen müssen gleichfalls die Vorzüge von Konsumnachfrage gegen die erforderlichen Opfer zu deren Herstellung gewichten.

Partizipatorische Produzenten müssen eine gerechte Arbeitsbürde von einer zu leichten oder zu schweren und Marxkritiker unterscheiden. Konsumteilhaber müssen ebenso vernünftige Verbrauchswünsche von übertriebenen oder übermoderaten unterscheiden.

Jeder muss die wahren sozialen Kosten und Nutzen dessen, was sie konsumieren oder produzieren kennen, einschließlich der quantifizierbaren und nicht messbaren Konsequenzen ihrer Bedürfnisse (14).“

So weit, so gut. Aber wir haben drei wesentliche Fragen. Könnte dieses Modell ohne zentrale Planinstanz funktionieren? Wenn nicht, würde eine solche notwendig undemokratisch werden und somit das Gleichheitsgebot und die Effektivität des Systems unterlaufen? Und: könnte eine Teilhaberwirtschaft ohne eine solche oberste Instanz überhaupt entstehen?

In wichtigen Zügen ähnelt Alberts Modell einem, das von Eugen Dühring vorgeschlagen worden ist, einem deutschen Reformanhänger und Marxkritikers des 19. Jahrhunderts. Dühring befürwortete ein Wirtschaftskommunenmodell, die Produktpreise festlegen würden und per Güteraustausch miteinander in Beziehung träten. Er schrieb: „Namentlich werden die einzelnen Wirtschaftskommunen innerhalb ihres eignen Rahmens den Kleinhandel durch völlig planmäßigen Vertrieb ersetzen (15).“

In einigen Einzelheiten unterschied sich sein System von Parecon. Es bildete Preise aus den Durchschnittsproduktionskosten, wohingegen das von Albert den Preisfestsetzungsgremien oder Verbesserungsinstitutionen gestattet, ebenso andere gesellschaftliche und Umweltkosten ins Kalkül einzubeziehen. Dühring behielt Geld aus Edelmetall bei, während Albert darauf besteht, dass sein Geld keine Barform trüge und allein als Verrechnungsmittel für Arbeitszeit und andere demokratische bestimmte soziale Werte existieren würde.

Die offensichtliche Schwäche im Dühringschen System lag darin, dass jedes Individuum angeblich mit seinem Geld anstellen können sollte, was ihm beliebte. Dies schuf für sie die Möglichkeit, Bargeld zu horten und dementsprechend des erneuten In-Kraft-Tretens von Kredit und Schulden. Noch wichtiger aber: eine Wirtschaftsgemeinde könnte Geldzahlungen von einer anderen annehmen, d.h. eine Kommune könnte Arbeitskraft ausbeuten und ihre Profite in Geldform zurück in die Ökonomie zirkulieren, ohne dass eine andere wüsste, woher dieses Geld stammte. Beides, Anreiz und Möglichkeit, Geld in Kapital zu verwandeln, wäre in Kraft und würde unweigerlich in Profiteurstum und letztlich Finanzkapital münden.

Albert behauptet, unter Parecon könne das nicht passieren. Zurecht hebt er hervor, Löhne könnten anteilig zur individuellen Verausgabung der Arbeitskraft gezahlt werden und dafür brauche es keinen Bargeldkreislauf; „Geld“anteile können gegen das Reservoir an Gütern und Dienstleistungen durch Kontoführung per Computer geltend gemacht werden (vermutlich ein kompliziertes Kreditkartensystem). Aber wie kann eine Kommune ohne Zentralplanung daran gehindert werden, Preise festzusetzen, die nicht fair die Sozialkosten widerspiegeln? Wie kann eine Gemeinde davon abgehalten werden, ihre höhere oder niedrigere Arbeitsproduktivität auszudrücken?

Auch Friedrich Engels bedachte das, als er auf Dührings Modell einging. Er beobachtete:

„Wenn das Metallgeld also schon im Verkehr der Wirtschaftskommune mit ihren Mitgliedern nicht als Geld fungiert, sondern als verkleidete Arbeitsmarke, so kommt es noch weniger zu seiner Geldfunktion im Austausch zwischen den verschiednen Wirtschaftskommunen. Hier ist, unter den Voraussetzungen des Herrn Dühring, das Metallgeld total überflüssig. In der Tat würde eine bloße Buchführung hinreichen, die den Austausch von Produkten gleicher Arbeit gegen Produkte gleicher Arbeit viel einfacher vollzieht, wenn sie mit dem natürlichen Maßstab der Arbeit – der Zeit, der Arbeitsstunde als Einheit – rechnet, als wenn sie die Arbeitsstunden erst in Geld übersetzt. Der Austausch ist in Wirklichkeit reiner Naturalaustausch; alle Mehrforderungen sind leicht und einfach ausgleichbar durch Anweisungen auf andre Kommunen. Wenn aber eine Kommune wirklich gegenüber andern Kommunen ein Defizit haben sollte, so kann alles ‚im Universum vorhandne Gold‘, und wenn es noch so sehr ‚von Natur Geld‘ sein sollte, dieser Kommune das Schicksal nicht ersparen, dies Defizit durch vermehrte eigne Arbeit zu ersetzen, falls sie nicht in Schuldenabhängigkeit von andern Kommunen geraten will (16).“

Logisch sticht dieser Einwand, ob nun die Gemeinde Bargeld gebraucht oder nicht. Selbst bei der Buchführung würden sich Wertunterschiede zwischen den Kommunen selbst bemerkbar machen.

Albert ist auf dieses Argument vorbereitet. Seine Antwort erschöpft sich nicht darin, Parecon verfüge über keinen Markt aufgrund seiner Mitgliederplanung und Planpreise, sondern dieser könne gar nicht entstehen.  Er schreibt: „Es kann darum noch nicht passieren, weil die Gesellschaft es schlicht nicht zulässt. Die Planprozedur wird die [Ausbeuter-]Firma nicht mit Betriebsmitteln beliefern und deren Erzeugnisse nicht annehmen (17).“

Woher weiß er das? Ohne Zentralbehörde könnte das jeder Produzenten- oder Verbraucherrat tun. Das System ausgehandelter Verhältnisse zwischen autonomen Einheiten würde das ermöglichen. Alberts Anteilseignerökonomie weist die Besonderheit auf, die erste Produktionsweise zu sein, die in eine Krise schlittert, bevor sie selbst existiert. Er hat darauf zwei Antworten. Eine ist absurd idealistisch, die andere verletzt die Maximen seines Systems.

Die erste besagt, Ausbeutung lohne sich nicht, weil sie mit sich bringe, sozialer Außenseiter zu werden. „Falls aber tatsächlich eine Schwarzmarktschieberin es fertig bringt, Leute bezahlen zu lassen … wie erklärt sie ihren daraus entspringenden Überfluss? Die jeden Konsumprotz begleitende soziale Ächtung, die Mogeln aufdecken würde … wäre ein sehr hoher Preis, der für ein Einkommen zu zahlen wäre, das über eine schon komfortable und sozial reiche Existenz hinaus geht, für die Parecon typisch sorgt (18).“

Lassen wir die Tatsache beiseite, dass in der ganzen Menschheitsgeschichte ein überdurchschnittliches Einkommen statt Ächtung eher Neid erzeugte. Das würde unter Parecon nicht eintreten, weil es den Leuten schon gut ginge. Mit einem Gedankensprung hat sich Albert aus den Niederungen des praktischen Problems befreit. Er übergeht das zentrale Problem, wie wir von einer Marktwirtschaft, in der es der Mehrheit nicht besonders komfortabel geht, zu einer vergesellschafteten Wirtschaft gelangen können, ohne dass der Markt Elemente demokratischer Planung schluckt, reintegriert, letztlich sich unterwirft und eine ausbeuterische Eigentümerklasse reproduziert.

Wenn die neue Gesellschaft entsteht, werden die Leute noch arm und ungleich sein. Natürlich ist die Gefahr eines wieder hochkommenden Marktes auf dieser Stufe am größten.

Alberts zweite Antwort auf das Problem ist, dass es der Planablauf „nicht erlauben wird.“ Und tatsächlich, wie sehr er auch immer die Planung als in vollständiger Übereinkunft und zwischen den verschiedenen ArbeiterInnen- und KonsumentInnenräten bzw. -zusammenschlüssen ausgehandelte Angelegenheit darzustellen versucht, ist er gezwungen, die Auffassung von Verbesserung-durch-Wiederholung-Körperschaften zu entwickeln, die indikative Preise zur Prüfung durch örtliche Gremien festsetzen und sie revidieren, sobald diese wiederum Vorschläge unterbreiten. „Überoptimistische und anders undurchführbare“ Vorschläge werden „zurechtgestutzt.“ Mittels des Prozesses aufeinander folgender Wiederholungen „rücken die Vorschläge enger an gegenseitige Durchführbarkeit heran“. Dadurch schafft die Vorgehensweise „gleichzeitig Gerechtigkeit und Effizienz.“

Das ist fein, wenn das System gut eingeführt ist und von allen verstanden wird, um an der Hebung des Lebensstandards zu arbeiten. Aber bevor wir wieder die Normen untersuchen können, wie diese Partizipationswirtschaft funktioniert, müssen wir etwas Unmittelbareres untersuchen: wie eine Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zu demokratischer Planwirtschaft sich diesem Prozess stellen mag.

Hier sieht das Bild plötzlich schon weniger rosig aus. Strittige Vorschläge aus den unzusammenhängenden Einheiten sind unausweichlich. Armut, Konflikte über Entwicklungserfordernisse, ein umfangreicher Privatsektor und zunehmender Schwarzmarkt, Sabotage durch die ehemaligen Kapitalisten und ihre Unterstützer, Intervention ausländischer kapitalistischer Mächte, Verknappungen infolge von Embargos, Abwägen der Erfordernisse an Rüstungsproduktion, Lebensmittelversorgung und Luxusgütern, Festlegung, wie das gesamtgesellschaftliche Mehrprodukt zugeteilt wird – all dies sind Fragen auf Leben und Tod, die eine wirkliche nachkapitalistische Gesellschaft durch „wiederholte Annäherungen zurechtstutzen“ muss. Vielleicht möchten einige Räte oder „Erleichterungsausschüsse“ nicht stets dem endgültigen „Wiederholungsgleichungsergebnis“ des Mehrheitsplans zustimmen. Was dann?

Hier kommt nun ins Spiel, warum der zentrale Plan unentbehrlich ist. Nicht, weil Marxisten Leute herumkommandieren möchten, sondern weil wir eine nachkapitalistische Gesellschaft nicht nur auf dem Papier, sondern in der realen Welt erschaffen wollen! Darum müssen wir unsere Anstrengungen auf die Aufgaben des Übergangs richten. Und hier, in Umschreibung des Woodie Guthrie-Zitats, mit dem Albert sein Buch einleitet “wissen die meisten in der antikapitalistischen Bewegung die Wahrheit, aber sie wollen nicht zugeben, dass sie sie kennen.“

Nur: den Aufbau der Gesellschaft, die Albert beschreibt, zu beginnen, bedeutet Enteignung des Privateigentums. Es gibt nur einen Weg, dies zu bewerkstelligen – die Arbeiterklasse muss es konfiszieren. Es gibt keine Chance, das ohne Zerbrechen der repressiven Staatsmaschine der Kapitalisten zu tun und koordinierte Gewalt anzuwenden, diese daran zu hindern, das wieder rückgängig zu machen. Das ist eine zentrale Autorität – der Staat; ob wir wollen oder nicht.

Wenn einzelne Unternehmen nicht Privateigentum sein sollen, müssen sie kollektiv angeeignet und kontrolliert werden. Um das umzusetzen, müssen sie unter dem Schutz derselben Gewalt stehen, die die früheren Besitzer enteignet hat. Das bedeutet Staatseigentum, ob man’s mag oder nicht.

Albert mag es nicht. Ohne diese Elemente ist seine aber Parecon einfach unmöglich, wird sie nie eintreten. Er erkennt das – zögernd -, weil er sich weigert zu umschreiben, wie seine Gesellschaft sich aus der alten herausschält.

Der Grund dafür ist eine tödliche Furcht davor, wohin Zentralplanung führen mag. Er glaubt, der Schrecken bürokratischer und gegen die ArbeiterInnen gerichteter Planung, wie sie von der elitären Kaste im ehemaligen Ostblock exerziert wurde, entspringt als direktes Resultat aus der zentralen Planwirtschaft und dass diese deshalb – koste es, was es wolle – vermieden werden müsse.

Wenn das stimmt, ist alles verloren. Eine demokratisch geplante Gesellschaft mit Gemeineigentum wie Parecon kann, wie wir gezeigt haben, ohne Zentralplanung nicht entworfen werden. Wenn aber zentrale Planung unvermeidlich in die Vorherrschaft einer neuen Elite, Unterdrückung, Ungleichheit, Unergiebigkeit und Stillstand mündet, wird sie schließlich ebenso zusammenbrechen wie der Stalinismus. Wenn zentrale Planwirtschaft unweigerlich zum Stalinismus führt, dann gibt es wirklich, wie Margaret Thatcher sagte, keine Alternative.

Die Geschichte ist jedoch kein Beleg für diese pessimistische Sichtweise. Das erste Land, in dem zentrale Planung angepackt wurde, war rückständig; die Mehrzahl seiner Bevölkerung war nicht in moderne kapitalistische Produktion einbezogen, sondern Bauern. Es wurde sofort zum Ziel verheerender ausländischer Invasionen und die Revolution vermochte es nicht, sich auf fortgeschrittenere Länder zu verbreiten. Zur Zeit, als die Fünf-Jahres-Pläne entworfen wurden, war die UdSSR schon von einer selbsternannten bürokratischen Kaste beherrscht, die sich selbst Privilegien zuschanzte und die Selbsttätigkeit der ArbeiterInnen mehr fürchtete als die kapitalistische Restauration. Die nachfolgenden „Kommandowirtschaften“ des Ostblocks wurden von stalinistischen Parteien direkt gemäß dem Moskauer Modell errichtet; jede Spur von Organisation der Arbeiterklasse und Demokratie wurde ausgelöscht, bevor (!) sie das kapitalistische Eigentum bürokratisch enteigneten.

Warum sollte die nächste soziale Revolution so enden? Nächstes Mal beginnen wir womöglich in einem entwickelteren Land oder haben größeren Erfolg bei der Ausbreitung der neuen Gesellschaftsverhältnisse, damit die Anstrengungen der Werktätigen mehrerer Länder zusammenfließen. Sicherlich müssten wir, um erfolgreich zu sein, eine von den stalinistischen Parteien getrennte und ihnen gegenüber unversöhnliche politische Partei geschaffen haben – weil die Stalinisten darauf bestehen, die Revolution auf ein bürgerlich demokratisches Stadium zu beschränken, und sich sträuben, zur sozialistischen Planwirtschaft vorwärts zu schreiten. Vor allem würden wir dafür eintreten, jeden zur Rechenschaft zu ziehen und zu kontrollieren, der vom Volk beauftragt ist, in der Verwaltung eines Zentralplans zu arbeiten.

Was sind diese Mittel? Albert beschreibt sie selbst. In seiner Kritik an der zentralen Planwirtschaft polemisiert er ausschließlich gegen das bürokratische Kommandosystem. MarxistInnen können vieles, was er sagt, gutheißen. Aber im Kapitel seines Buches, wo er Parecon von Zentralplanung abgrenzt, erläutert er mit bewundernswerter Klarheit exakt die Methoden,, die man anwenden muss, um jedes Planungssystem demokratisch zu kontrollieren, lokal und zentral.

Er legt dar, dass Planungs- und Verwaltungsrollen umlaufend gewechselt werden (rotieren) können. Selbst wenn Schlüsselbestandteile des Planablaufs von jemand erledigt werden müssten, der besonders für diese Aufgabe eingeteilt wurde; „würde das noch nicht bedeuten, es gäbe eine Klasse von Koordinatoren in der Wirtschaft, genauso wenig wie die Tatsache, dass es eine Geschäftsführungsfunktion in vielen Industrien der Parecon gibt, beinhaltet, es gäbe dort eine abgetrennte Koordinatorenklasse … Es ist nicht die Existenz wichtiger technischer oder konzeptioneller Aufgaben per se, die die Klassenspaltung hervorruft, sondern eher wie diese unter der Volksmasse aufgeteilt werden (19).“

Exakt! Aber warum soll dies nur für Aufgaben gelten, die sich mit lokalen Themen befassen, aber nicht für regionale oder (inter)nationale? Die Verhinderung von Bürokratie ist ein kritischer Auftrag beim Aufbau eines nachkapitalistischen Systems, aber die Mechanismen dafür können sowohl auf einen zentralen Plan wie auf eine Reihe integrierter und ausgehandelter Pläne vor Ort Anwendung finden. Wesentliche Prinzipien dabei sind: das Treffen demokratischer Entscheidungen; die Freiheit von Parteien, innerhalb der Arbeiterräte zu wirken und für Ergänzungen und Änderungen an Planungsschwerpunkten zu werben; Rotation von bürokratischen (Verwaltungs-) Aufgaben; kein Individuum soll mehr verdienen als den durchschnittlichen Facharbeiterlohn; Abwählbarkeit aller Personen aus jeder Position; öffentlicher Zugang zu allen Mitteln und Konsequenzen, die den Planentwurf ermöglichen; Dezentralisierung von soviel Planablauf wie möglich, was soviel demokratische Zentralisierung wie nötig gestattet.

So kann die Herrschaft über Personen wirklich zu einer Verwaltung von Sachen  zu werden beginnen, ohne dass die Mehrheit daran gehindert wäre, Schritte einzuleiten, um die Unterdrückung von Marktelementen und den Erfolg des Übergangs zu demokratischer Planwirtschaft sicherzustellen bzw. zum Sozialismus, wie wir sie fortan nennen werden.

Wenn Albert noch über einige immanente bürokratische Tendenzen beunruhigt sein sollte, täte er besser daran, seine Sorgen nicht nur auf demokratische Zentralplanung zu beziehen, sondern auch auf seine Verbesserungsausschüsse in der Parecon, geschweige denn die kryptozentralen „Verbesserung-durch-Wiederholung-Körperschaften.“

Das Problem mit Alberts Parecon-Schema rührt nicht vom Faktum her, dass er ein nicht perfektes Modell der Zukunftsgesellschaft gemalt hat, sondern daher, dass er überhaupt ein solches zu „malen“ versucht. Das ist ein fehlerhaftes Vorhaben, das niemals wissenschaftlichen Charakter haben kann, weil es nicht vom Realen ausgeht. Jedes bedeutende nachkapitalistische Projekt muss im Wirklichen begründet sein, d.h. es muss den Kapitalismus und die in ihm wohnenden Widersprüche und die Tendenzen, die über ihn hinaus weisen, als Ausgangspunkt nehmen.

Im Kampf gegen den Kapitalismus werden die arbeitenden Menschen zum Widerstand gezwungen, ihre eigenen Organisationsformen zu entwickeln. Mit Arbeiter- und Bauernräten bilden sich die Keime zukünftiger Verwaltungsorgane. Aber unter keinen Umständen, in keiner revolutionären Situation haben diese Organisationen auch nur begonnen, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem zu ersetzen außer dort, wo sie die politische Macht mit Gewalt erobert und einen neuen Staatstyp zur Unterdrückung des Bürgertums organisiert haben. Die Notwendigkeit eines Zentralplans erwächst daraus.

Das Experiment der russischen Revolution und deren Niederlage sowie die kompromittierten stalinistischen Parteien haben gewiss außerordentlichen Schaden, Ernüchterung und Verzweiflung innerhalb der Arbeiter- und antikapitalistischen Bewegung hinterlassen. Auf der Habenseite ist eine Bestimmtheit überall offensichtlich, ihre negativen Konsequenzen zu vermeiden. Im Soll haben sie AktivistInnen veranlasst, einer Vorbedingung fürs Voranschreiten zu einer nachkapitalistischen Ordnung den Rücken zuzukehren.

Aber die Alternative besteht eben nicht darin, dazu zurückzukehren, verklärte Utopien am Reißbrett zu entwerfen, Beschreibungen einer auf dem Papier perfekten Gesellschaft auzuklüngeln. Jede Zukunftsperspektive muss die „Drecksarbeit“ des Übergangs zum Sozialismus mitdenken.

In diesem Sinne ist Parecon keine Landkarte einer neuen Gesellschaft, sondern eine geistige Zustandsbeschreibung der radikalen Intelligenz eingangs des 21. Jahrhunderts, die immer noch von den Niederlagen des 20. traumatisiert ist.

Worin besteht der Klassencharakter an Alberts Vorschlag? Es gibt nur eine Klasse, die objektiv Grund hat, sowohl den zentralisierten Staatsapparat der Großkapitalisten als auch den zentralisierten Halbstaat der Arbeiter zu fürchten. Es ist das Kleinbürgertum, die Mittelklasse, die von den Großkonzernen enteignet worden ist und das auch von der Enteignung durchs Proletariat erschreckt wird. Mit dieser Aussage wollen wir Albert nicht beleidigen oder seine Absichten in Frage stellen, noch weniger seine Hingabe an den Kampf gegen den Kapitalismus. Es geht darum, die objektive Klassenbasis hinter seinem utopischen Vorschlag auszumachen – und sie zugunsten der Alternative der Arbeiterklasse abzulehnen.

Callinicos koordiniert den Konsens

Alex Callinicos, führendes Mitglied der britischen Socialist Workers Party (SWP) und Sekretär der Internationalen Sozialistischen Tendenz hat „An Anti-Capitalist Manifesto“ (Ein Antikapitalistisches Manifest) herausgegeben. Seine Vorstellungen über das Wesen des Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung und seine Perspektive für die Weiterentwicklung der Bewegung wird zweifellos von vielen antikapitalistischen und Anti-KriegsaktivistInnen gelesen werden.

Was ist also das Problem? Dass es kein konsequent proletarisches Programm ist! Das Manifest ist ein weiterer Schritt Callinicos´ Richtung Anpassung an Politik und Praxis der von ihm erhofften Verbündeten rechts von der SWP innerhalb der Bewegung. Es versucht, einen Kompromiss zwischen den derzeit in der Bewegung modischen Ideen und den Prinzipien des Kommunismus herzustellen. Würde sein Programm umgesetzt, führte es die Arbeiterklasse und die antikapitalistische Bewegung in die Katastrofe.

Zuerst ist hier festzuhalten, dass seine Organisation zwar die Vorstellung von demokratischer zentraler Planung unterstützt, sein Programm jedoch ein Modell einer postkapitalistischen Wirtschaft ohne einen solchen Mechanismus vorstellt. Er entwickelt den von Pat Devine vorgebrachten Gedanken einer „verhandelten Koordination“ zwischen lokalen und regionalen Planungseinheiten von Produktion und Distribution – mit deutlicher Ähnlichkeit zu Alberts Parecon.

Der Unterschied ist, dass Devines Modell scheinbar eine Lösung für die oben skizzierten Probleme gibt. Nach Callinicos ist Devine der Ansicht: „Grobe Wirtschaftsparameter – die Bereiche wie die makroökonomische Ressourcenverteilung zwischen individueller und kollektiver Konsumtion, Sozial- und Wirtschaftsinvestitionen, Energie- und Transportpolitik und Umweltprioritäten abdecken – werden auf nationaler Ebene von einer gewählten repräsentativen Versammlung auf Basis einer Reihe verschiedener von Experten entworfener Pläne entschieden (20).“

Gleichzeitig sagt Devine: „Ausgehandelte Koordinationsgremien würden ermöglichen, dass Wirtschaftsentscheidungen bewusst und unter Berücksichtigung der Gesamtsituation, aber ohne zentrales Verwaltungskommando koordiniert werden, doch auf einer ausreichend dezentralisierten Grundlage, auf der lokale Kenntnisse zum effektiven Einsatz gelangen (21).“

Um effektiv zu sein, sollte Wirtschaftsplanung natürlich auf möglichst dezentralisierter Ebene stattfinden. Doch Callinicos schweigt sich über die unmoderne Tatsache aus, dass die von ihm erwähnte gewählte Versammlung bei ihren Entschlüssen über „grobe Parameter“ demokratische Autorität ausüben und sich erforderlichenfalls über unpassende Elemente lokaler Planung hinwegsetzen würde. Das Schlüsselelement zu einer funktionierenden dezentralisierten Planung ist ein starkes zentrales Planungsgremium – obgleich eines unter breitester und striktester demokratischen Prüfung und Kontrolle.

Es ist durchaus möglich, dass Callinicos davon wirklich überzeugt ist. Dann sollte er es offen aussprechen – und nicht mit vagen Begriffen hantieren, die so gestaltet sind, dass sie im derzeitigen „staatsfeindlichen“ Diskurs unbemerkt durchschlüpfen. Warum? Um das zu erreichen, müssen Millionen dafür kämpfen. Sie davon zu überzeugen, erfordert eine Arbeiterpartei, die aktiv den Kampf gegen den vorherrschenden Gedanken, zentrale Planung führe automatisch zu Stalinismus, aufnimmt und ihm nicht durch Begriffsschöpfungen ausweicht.

Kern des Buches ist ein von Callinicos so benanntes „Übergangsprogramm“. Diese Bezeichnung stammt ursprünglich von Leo Trotzki, der auf dieser Grundlage 1938 ein Programm für die Vierte Internationale entwickelte. Wie wir sehen werden, folgt Callinicos Programm aber einer gänzlich anderen Methode als jener von Trotzki. Während Trotzki in seinen Forderungen gegenwärtige Kämpfe der Arbeiterklasse mit der Revolution, der Arbeitermacht über den Staat und einer Planwirtschaft verknüpfte, präsentiert Callinicos stattdessen eine Reihe miteinander nicht verbundener Reformen gemeinsam mit einer möglichst vagen Erklärung der Notwendigkeit einer Revolution – einer Erklärung, die jede Erwähnung der Kampfformen, der Organisationsmuster und der Formen von Massenaktionen vermeidet, die eine Revolution erst zur Wirklichkeit werden lassen.

Als Alibi führt Callinicos an, dass seine Forderungsliste nur eine richtungsweisende Funktion hat und „andere mit umfassenderen und phantasievolleren Programmen daherkommen könnten (22).“  Und weiter: „Trotz allem, diese Forderungen sind nicht bloß ein aus der Luft gegriffener Wunschzettel. Sie stellen Antworten auf die gegenwärtige Realität dar und wurden allesamt von bestehenden Bewegungen aufgestellt. Gleichzeitig liegt es in der Tendenz dieser Forderungen, die Logik des Kapitals zu untergraben … obwohl sie nicht notwendigerweise aus explizit antikapitalistischen Gründen formuliert worden sein mögen, beinhalten diese Forderungen eine implizit antikapitalistische Dynamik. Sie sind das, was Trotzki Übergangsforderungen nannte, Reformen, die aus der Wirklichkeit bestehender Kämpfe entstehen, deren Umsetzung jedoch im gegenwärtigen Kontext die kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen in Frage stellen würde (23).“

Nun denn, das ist nicht das, was Trotzki unter Übergangsforderungen verstand. Nach Jahrzehnten von Verleumdungen, mit denen seine Ideen seitens der Stalinisten überhäuft wurden, hätte man gehofft, dass zumindest Trotzkis Anhänger davon Abstand nehmen, seine Ideen noch  weiter entstellt zu unterbreiten. In seinem Programm von 1938 erklärte er Übergangsforderungen wie folgt und verdeutlicht, dass jede dieser Forderungen nur den Kapitalismus in Frage stellen wird, wenn sie als Teil eines Systems vorgebracht wird, das sie mit der Notwendigkeit einer Revolution verbindet:

„Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten „Minimal“-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte der Arbeiter und ihre sozialen Errungenschaften. Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d.h. revolutionären Perspektive. In dem Maße wie die alten „Minimal“-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen  – und dies geschieht auf Schritt und Tritt -, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte „Minimalprogramm“ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren (24).

Nun, untergraben die in Callinicos´ Programm aufgeführten Forderungen die Kapitallogik und schaffen sie in ihrer Gesamtheit eine Brücke von der heutigen Situation zur Revolution?

Er schlägt zum Beispiel die Unterstützung der Tobinsteuer vor, obwohl er keine Agentur vorweisen kann, die diese erheben oder durchsetzen könnte. Ja, er kritisiert sogar in einem Abschnitt des Buches diese mickrige 0,01%-Steuer auf internationale Tauschgeschäfte als „eine Methode zur Reform des Kapitalismus – und insbesondere der Rehabilitierung der nationalen Kapitalismen (25).“ Weiter hinten erklärt Callinicos, wie die französische Regierung von Lionel Jospin eine Änderung im November 2001 durchgedrückt hat, die die Tobinsteuer unterstützte, um sich „ein sozialistisches Image zu kultivieren“, während sie „in Wirklichkeit Staatsbetriebe im Wert von 240 Mrd. FF (36,4 Mrd. €) privatisierte, mehr als alle sechs vorangegangenen Regierungen zusammen.“ (S. 90) Wie also untergräbt diese Steuer die Kapitallogik?

In seiner Gesamtheit enthält Callinicos´ Programm von Übergangsforderungen: die Streichung der Schulden der „Dritten Welt“; die Einführung der Tobinsteuer; die Wiederherstellung der Kapitalkontrollen; ein allgemeines Grundeinkommen; die Verkürzung der Arbeitswoche; die Wiederverstaatlichung und Beendigung der Privatisierung; eine progressive Besteuerung; die Abschaffung der Einwanderungskontrollen; ein Programm zur Verteidigung der Umwelt; die Auflösung des militärisch-industriellen Komplexes; die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten.

Mit keinem Wort wird erwähnt, wie diese Forderungen durchgesetzt werden sollen – kein Wort darüber, wie die Auseinandersetzungen zur Umsetzung dieser Forderungen mit dem Kampf für die soziale Revolution verbunden werden können. Es ist völlig korrekt, Reformen zu unterstützen, die die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse unabhängig davon verbessern, ob sie für sich genommen die Bewegung zur Revolution hinführen. Doch die Vorstellung, dass solche Reformen ohne Einbindung in ein in sich verbundenes Forderungssystem irgendwie automatisch zum revolutionären Kampf hinüber wachsen können, ist völlig falsch und geradewegs gefährlich. Diese Vorstellung legitimiert die Idee, dass RevolutionärInnen lediglich für Reformen kämpfen müssten und die Geschichte oder „der Prozess“ das Übrige hinzufügten. Sie liefert eine Entschuldigung für systematischen Opportunismus.

In der Geschichte der marxistischen Bewegung waren Übergangsforderungen alles andere als ein Katalog solcher, miteinander nicht verbundener Reformen: Sie sind ein Mittel von RevolutionärInnen, eine Brücke zwischen den unmittelbaren dringlichen Bedürfnissen der ArbeiterInnen heute und dem Ziel der Arbeitermacht zu schlagen. Friedrich Engels äußerte sich schon 1847 über diese Methode:

„Alle Maßregeln zur Beschränkung der Konkurrenz, der Anhäufung großer Kapitalien in den Händen einzelner … sind als revolutionäre Maßregeln nicht nur möglich, sondern sogar nötig. Sie sind möglich, weil das ganze insurgierte Proletariat hinter ihnen steht und sie mit bewaffneter Hand aufrechterhält. Sie sind möglich, trotz aller von den Ökonomen gegen sie geltend gemachten Schwierigkeiten und Übelstände, weil eben diese Schwierigkeiten und Übelstände das Proletariat zwingen werden, immer weiter und weiter zu gehen bis zur gänzlichen Aufhebung des Privateigentums, um nicht auch das wieder zu verlieren, was es schon gewonnen hat. Sie sind möglich als Vorbereitungen, vorübergehende Zwischenstufen für die Abschaffung des Privateigentums, aber auch nicht anders (26).“

Hier wurde die gesamte Übergangsmethode erklärt. Ausgehend von den unmittelbaren Bedürfnissen der Arbeiterklasse sammeln solche Forderungen die ArbeiterInnen um die Durchsetzung von Maßnahmen, die im Laufe der Entwicklung die politische und wirtschaftliche bürgerliche Macht beeinträchtigen und die Selbstorganisation der ArbeiterInnen („mit bewaffneter Hand“) stärken. Da diese Maßnahmen die Fähigkeit der Kapitalisten zu Konkurrenzfähigkeit und Akkumulation behindern, werden die Arbeiterklasse und ihre Verbünden sich gezwungen sehen weiterzugehen, bis der Kapitalismus selbst gestürzt ist.

Doch Engels und nach ihm Trotzki betonten, dass diese Maßnahmen nur möglich sind, wenn sie mit der Machteroberung verbunden werden.

Nehmen wir z.B. das universelle Mindesteinkommen. Soll dieses auf einem vernünftigen Niveau durchgesetzt werden, muss es durch industriellen Kampf errungen werden. ArbeiterInnen müssen Streikkomitees aufbauen und eine Schlacht gegen ihre eigene Gewerkschaftsbürokratie führen, die eine solche Kampagne aufs Abstellgleis leiten will.

Um ausreichende Einkommensniveaus festzulegen, werden in den Arbeitervierteln Preiskontrollkomitees aufgebaut werden müssen, damit sie nicht von den Ökonomen und der Inflation getäuscht werden. Unternehmer können Bankrott anmelden und Arbeiter entlassen oder sogar die Betriebe schließen; dann müssen die ArbeiterInnen die Fabriken besetzen und die Öffnung der Geschäftsbücher fordern sowie sich für die Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle engagieren.

Wie die jüngsten Ereignisse in Argentinien zeigen, ist dies auch nur eine „vorübergehende Zwischenstufe“ und, „um nicht auch das wieder zu verlieren, was es schon gewonnen hat“, wird das Proletariat für eine Arbeiterregierung kämpfen müssen, die die gesamte Wirtschaft auf eine sozialistische Basis stellen kann.

Diese Überlegungen sind in Callinicos´ Manifest nicht enthalten. Ja, es läuft gerade auf das Gegenteil hinaus: „Die oben angeführten Forderungen werden an Staaten gerichtet, die entweder allein oder gemeinsam handeln. Darin spiegelt sich die Tatsache wider, dass trotz der Globalisierungswirkungen die Staaten weiterhin die wirksamsten Mechanismen in der aktuellen Verfassung weltweit darstellen, um Ressourcen für die Umsetzung kollektiv beschlossener Ziele zu mobilisieren (27).“

Hierin offenbaren sich die Grenzen von Callinicos´ Vision. Natürlich sollten wir Forderungen an den kapitalistischen Staat stellen, aber wir dürfen keine Illusionen in dessen Fähigkeit wecken, „Ressourcen für Umsetzung kollektiv beschlossener Ziele zu mobilisieren.“ Man kann sich nicht auf den kapitalistischen Staat verlassen, antikapitalistische Ziele durchzusetzen. Dieser kann nur vorübergehend gezwungen werden, Maßnahmen im Interesse der Arbeiter zuzugestehen – doch er wird bald versuchen, diese wieder einzukassieren. Dennoch stimmt es, dass eine Staatsmacht tatsächlich der „wirksamste Mechanismus“ ist, die Ziele der Arbeiterklasse zu erreichen; welche Form diese annehmen muss, das zu erwähnen, ringt sich Callinicos jedoch nicht durch: es muss ein proletarischer Halbstaat sein, der nur auf der zu Trümmern zerschlagenen repressiven Staatsmacht der Kapitalisten errichtet werden kann.

Die Weltarbeiterklasse wird eine demokratische und zentralisierte Planung aufbauen müssen, nicht nur eine einvernehmliche Koordination zwischen regionalen und lokalen Planungseinheiten oder klassenunspezifische „Staaten“, sondern eine Arbeiterregierung und einen Arbeiterstaat. Dies wäre eine Diktatur über die bisher herrschende Klasse: nicht nur, damit dem Kapitalismus die Chance einer Konterrevolution entzogen wird, sondern auch, um den Lebensstandard von sechs Milliarden Werktätigen zu heben, damit sie wirklich ihr eigenes Schicksal kontrollieren können.

Der schwächste Teil im Programm von Callinicos ist seine Beschreibung, wie das erreicht werden kann. Obwohl die Zeitung der SWP in ihrer Kolumne „Where we stand“ (Wofür wir eintreten) allwöchentlich zu Arbeiterräten, einer Arbeitermiliz und einer Revolution zur Zerschlagung des Staates aufruft, fordert das „Antikapitalistische Manifest“ nichts davon.

Jedes Übergangsprogramm, das heute diesen Namen verdient, würde an die vielversprechendsten, kämpferischen und potenziell revolutionären Aspekte der antikapitalistischen Bewegung anknüpfen und Forderungen entwickeln, die ihre weitere Entwicklung mit dem Kampf für eine Revolution verbinden. Nachdem sich die Massen in Genua in organisierter Selbstverteidigung versucht hatten, würde es wie Trotzkis Übergangsprogramm für proletarische Verteidigungskommandos werben, die mit der Aufgabe beginnen, die DemonstrantInnen und Streikenden gegen Polizeiangriffe zu verteidigen, sich jedoch weiterentwickeln können, um das Gewaltmonopol der Kapitalisten in Frage zu stellen.

Es würde auf die Sozialforen in Italien und die Volksversammlungen in Argentinien als Beispiele für das Wachstum von Volksdemokratie zeigen und für Räte der Arbeiter, Bauern und der städtischen Armut auf Delegiertenbasis zur Koordinierung des Kampfes auf breitest möglicher Grundlage und als alternative Machtbasis in der Gesellschaft aufrufen: die Keime einer zukünftigen Arbeiterrepublik. Und es würde für die Zerschlagung des staatlichen Repressionsapparates, seine gewaltsame Demontage durch die Arbeiter aufrufen; jenes Apparates, den die Kapitalisten gegen die antikapitalistische Bewegung und gleichermaßen gegen die Völker der „Dritten Welt“ einsetzen. Das, und nur das, ist eine soziale Revolution.

All dies fehlt diesem utopischen Programm, das die Kampferfordernisse für eine „verhandelte Koordination“ mit den reformistischen Intellektuellen der heutigen globalen Gerechtigkeitsbewegung eintauscht. Am revolutionärsten Höhepunkt seiner Analyse – seinem kühnsten Vorstoß – schreibt Callinicos:

„Doch letztere Option [eine Revolution] wäre nicht nur eine Revolution im Sinne einer Systemtransformation: sie könnte nur durch die Überwindung – gewaltsam falls nötig – des Widerstandes seitens des Kapitals und jener, die es hinter sich mobilisiert hat, erreicht werden (28). “

Falls nötig? Das kann doch nur bedeuten, „vielleicht wird es nicht nötig sein“. Susan George, George Monbiot, Luca Casarinis und Co. können erleichtert aufatmen, dass ihnen diese Katastrofe vielleicht erspart bleibt. Kann man ernsthaft von RevolutionärInnen erwarten, dass sie zu Gunsten dieser „Welterneuerer“  ihre Argumentation abschwächen und im Zeitalter des Krieges gegen den Terror, von Genua und dem Bombardement von Bagdad die Möglichkeit erwägen, Gewalt sei nicht von Nöten?

Das ist eine verächtliche Absage an den Marxismus, der von Kopf bis Fuß eine Kriegsdoktrin für den Kampf darstellt und dessen Begründer vor über 150 Jahren schrieben: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung (29).“

Für RevolutionärInnen stellt das Übergangsprogramm eine „Brücke” zwischen den heutigen Anforderungen der Kämpfe von Millionen und der Notwendigkeit einer Revolution dar. Alex Callinicos´ Manifest hingegen ist eine Brücke zu liberalen Ökonomen wie Susan George und Monbiot … eine Brücke, über welche die antikapitalistische Bewegung besser nicht gehen sollte …

Jene gesellschaftliche Klasse, die als Bindeglied zwischen den zwei Hauptklassen agieren will, die scharfen Kanten des Klassenkampfes zu glätten sucht und für sich selbst die Nische einer unersetzbaren Vermittlerin zwischen den großen sozialen Kräften zu gestalten anstrebt – diese Klasse ist das Kleinbürgertum. Letztlich spricht Callinicos die Ängste und Ziele eben dieser Klasse aus. Diese Methode ist der revolutionären kommunistischen Bewegung als Zentrismus bekannt: ein politisches Phänomen, das die Programme von Revolution und Reformismus miteinander zu versöhnen sucht.

Einige Schlussfolgerungen

Was muss nun ein konsequent antikapitalistisches Manifest heute umfassen?

Es sollte gegen das System stehen und sich nicht nur gegen auftretende Ungerechtigkeiten und gegen Unrecht in den heutigen Verteilungs- und Vertretungssystemen wenden, sondern auch gegen die ausbeuterischen Produktionsverhältnisse des Kapitals insgesamt.

Es würde Partei ergreifen und überall die Selbstorganisation und Massenaktionen der Arbeiterklasse, Bauernschaft und Jugend zu fördern suchen.

Den Völkern der „Dritten Welt“ stellen sich brennende demokratische Fragen, die ein solches Programm aktiv aufgreifen würde durch den Kampf für volle Rechte einschließlich der nationalen Unabhängigkeit und für die Beendigung von manipulierten Handelskonventionen und die Streichung der Schulden. Es würde davor warnen, dass die Kapitalisten der Entwicklungsländer diesen Kampf nicht mit voller Konsequenz führen werden, und darauf bestehen, dass die Arbeiterklasse im Bündnis mit der Bauernschaft an die Spitze dieser Auseinandersetzung gelangen und im Verlauf zu den eigenen sozialistischen Aufgaben voranschreiten muss.

Es würde die Vision einer Gesellschaft bestärken, die ihre Grundlage in repräsentativen Räten der ProduzentInnen und KonsumentInnen findet, und darlegen, wie diese entstehen können. Es würde als Ausgangspunkt nicht das Ideal, sondern die Realität haben. Zu Beginn steht daher nicht die Frage, wie solche Gremien am besten auf einem leeren Blatt Papier entworfen werden können, sondern das Auffinden bestehender Organisationen, die im Kampf geboren wurden – wie die Sozialforen in Italien, die Volksversammlungen in Argentinien – sowie die Überlegung, wie sie ausgeweitet, entwickelt und gestärkt werden können. Strukturen, die eine zukünftige Gesellschaft regieren werden, können sich nur formen, wenn sie schon heute als Massenorgane im Widerstand gegen das Kapital entstehen.

Es würde offen und nicht mit verschleierten Begriffen für die einzig gangbare Alternative zum Kapitalismus agitieren: für eine zentral geplante Wirtschaft auf der Grundlage von Gesellschaftseigentum. Es würde darauf bestehen, dass diese nur dann effizient und nachhaltig funktionieren kann, wenn der Planungsprozess demokratisch vor sich geht, und aufzeigen, wie sich diese Möglichkeit bereits in kapitalistischen Organisationsformen und im Widerstand der Klasse gegen das Kapital abzeichnet.

Ein solches Programm würde Forderungen zur Abdeckung der dringenden Bedürfnisse der heutigen Zeit aufstellen. Anstatt die Erwähnung solcher „Reformen“ zu umgehen oder sie als Allheilmittel zu verkaufen, würde es sie mit der Notwendigkeit eines revolutionären Umsturzes des kapitalistischen Systems verknüpfen und dabei die zentrale Voraussetzung für eine geplante und rationale Organisation der Gesellschaft immer herausstreichen: dass die bewaffneten Repressionskräfte der Kapitalisten zerbrochen werden müssen. Dies kann nur durch einen gewaltsamen Akt geschehen. Das Schicksal unserer Kultur hängt von dessen Ausgang ab – hier ist kein Platz für Unklarheit.

Daher kann das proletarische Programm keine Zugeständnisse an „moderne“ – in Klassenbegriffen: kleinbürgerliche – Gedanken machen, dass die antikapitalistische Bewegung die Fassung einer in sich geschlossenen politischen Alternative meiden, sich von demokratischen Entscheidungsfindungen fernhalten und dem Kampf um die Macht aus dem Weg gehen sollte. Denn gerade das Gegenteil tut Not. Ein konsequentes Manifest der Klasse würde nicht von der Frage ausgehen, wie die Einheit der Arbeiterorganisationen mit Akademikern und Journalisten der Mittelschichten gewahrt werden oder ein programmatischer Kompromiss zwischen diesen Kräften eingefädelt werden kann, sondern am Anfang die Frage stellen, wie die Einheit der ArbeiterInnen im Kampf für ihre eigene Macht organisiert werden kann.

Die einzig mögliche Schlussfolgerung ist, dass die Organisationen der Arbeiter, der Arbeitslosen, der armen Bauern und der Jugend sich in einer politischen Partei zusammenschließen müssen – einer neuen Weltpartei der sozialen Revolution – als lebendige Verkörperung dieses Programms, als Instrument zu seiner aktiven Umsetzung mittels Agitation und Organisierung. Das – und nicht eine Fortsetzung der Inkonsequenz, bürgerlicher Reformen, utopischer Schemata oder ausgehandelter Kompromisse – ist der einzige Weg nach vorn für die Bewegung.

Glücklicherweise ist die programmatische Diskussion in der globalen antikapitalistischen Bewegung nicht eine Dreiecksdiskussion zwischen Monbiots bürgerlichem Reformismus, Alberts kleinbürgerlichem Utopismus und Callinicos´ zentristischem Versuch, einen Kompromiss zwischen den ArbeiterInnen und der Mittelschichtsintelligenz auszuhandeln.

Dem ESF wird auch das kürzlich erschienene Programm der Liga für die Fünfte Internationale vorliegen, dessen Titel keinen Platz für fatale Unklarheiten lässt und durchgängig die Interessen einer Klasse, der Weltarbeiterklasse, zum Ausdruck bringt: Manifest für die Weltrevolution.

 

Fußnoten:

(1) George Monbiot, Das Zeitalter der Übereinstimmung – ein Manifest für eine neue Weltordnung (engl., eigene Übersetzung ins Deutsche) , London 2003, S. 14-15

(2) ebd., S. 88

(3) ebd., S. 98

(4) ebd., S. 91

(5) ebd., S. 136 – 137

(6) ebd., S. 137

(7) Liga für eine Revolutionäre Kommunistische Internationale, Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg, Berlin 2001

(8) Monbiot, a.a. O., S. 235

(9) ebd., S. 225

(10) Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Band 4, Berlin (Ost) 1959, S. 489

(11) Monbiot, a.a.O., S. 4

(12) Michael Albert, Parecon – Leben nach dem Kapitalismus (engl., eigene Übersetzung ins Deutsche), London 2003, S. 9

(13) ebd., S. 94

(14) ebd. S. 123

(15) Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring“), MEW Band 20, Berlin (Ost) 1962, S. 279

(16) ebd., S. 282 f.

(17) Michael Albert, Parecon – Leben nach dem Kapitalismu, S. 268

(18) ebd., S. 269

(19) ebd., S. 272

(20) Alex Callinicos, An Anti-Capitalist Manifesto (engl., eigene Übersetzung ins Deutsche), Cambridge 2003, S. 125.

(21) Zitiert nach Callinicos, a.a.O., S. 126

(22) ebd., S.139

(23) ebd., S.140

(24) Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen o.J., S. 6

(25) Callinicos, a.a.O., S.34

(26) Friedrich Engels, Die Kommunisten und Karl Heinzen, MEW Band 4, Berlin (Ost) 1959, S. 313

(27) Callinicos, a.a.O., S. 139

(28) ebd., S.141

(29) Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O., S. 493




Vier Jahre Bürgerblock

Kapitalismus und Klassenkampf in Österreich

Von Michael Pröbsting, Revolutionärer Marxismus 34, Mai 2004

2003 sah Österreich die bedeutendsten Klassenkämpfe seit 1950. Im Frühjahr gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen den Irak-Krieg zu protestieren. Unmittelbar danach organisierten die Gewerkschaften Massenproteste gegen die Pensionsreform, deren Höhepunkte zwei große Streiks  mit einer halben bzw. einer Million TeilnehmerInnen sowie eine Massendemonstration von 200.000 ArbeiterInnen. Im Herbst gab es mehrere Streiks des Bordpersonals der Fluglinie AUA sowie einen dreitägigen Streik der EisenbahnerInnen.

Ohne Zweifel ist Österreich – berühmt-berüchtigt für seine Stabilität und sozialpartnerschaftliche Friedhofsruhe – in eine Periode des Klassenkampfes eingetreten. Umso dringlicher ist es, diese Umbrüche vor dem Hintergrund der ökonomischen und politischen Veränderungen des österreichischen Kapitalismus zu analysieren.

In diesem Artikel beabsichtigen wir, einen Überblick über die wichtigsten Merkmale und Veränderungen in der Physiognomie des österreichischen Kapitalismus zu geben. Aus Platzgründen sind wir gezwungen, verschiedene Aspekte nur thesenartig und in konzentrierter Form dazulegen. Trotzdem hoffen wir damit, einen Beitrag für zum Verständnis der spezifischen Probleme des österreichischen Kapitalismus zu liefern. Ein Beitrag, der angesichts der äußerst bescheidenen Literatur auf diesem Gebiet seitens der Linken umso dringlicher ist (1).

Weltpolitischer Hintergrund

Ausgangspunkt einer Untersuchung des österreichischen Kapitalismus muss die Weltlage sein. Denn die politischen und ökonomischen Verhältnisse in Österreich – wie in jedem Nationalstaat – können vom marxistischen Standpunkt aus betrachtet nicht nur und nicht einmal in erster Linie aus den inneren Faktoren abgeleitet werden. Genau genommen sind die Weltwirtschaft und die Weltpolitik – die sich wiederum als Schmelztiegel aller nationalen Faktoren zu einer eigenständigen Totalität über diese erheben – die ausschlaggebenden Triebkräfte. Die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung des Weltkapitalismus trifft mit den lokalen Besonderheiten eines Landes zusammen und verschmilzt dann zur jeweils spezifischen nationalen Dynamik der politischen und ökonomischen Verhältnisse dieses Staates.

Von dieser methodologischen Prämisse ausgehend hat der ArbeiterInnenstandpunkt (ASt) – die österreichischen Sektion der Liga für die 5. Internationale (LFI) – immer das in der Linken verbreitete Vorurteil über den Ausnahmecharakter Österreichs und der „leider anderen österreichischen Mentalität“ abgelehnt. Wir beharrten darauf, dass sich die Klassenverhältnisse hierzulande verändern müssen und werden.

Wir haben in den letzten zwei Jahren in einer Reihe von Artikeln die Zuspitzung der ökonomischen und politischen Widersprüche des Weltkapitalismus dargelegt. Diese Entwicklung schlug um die Jahrhundertwende in eine neue Qualität um und eröffnete eine weltweit vor-revolutionäre Periode, die sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

Die Phase der relativen Dynamik des globalen Kapitalismus geht zu Ende und macht einer Tendenz zur Stagnation der Produktivkräfte Platz. Daraus resultiert eine verschärfte Konkurrenz zwischen den Kapitalien und den imperialistischen Großmächten.

Das führt zu einer neuen, verschärften Angriffen der herrschenden Klasse. Der krisenhafte Charakter des Kapitalismus zwingt sie zu einer brutalen Offensive sowohl gegen die ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Metropolen als auch gegen die unterdrückten Völker. Daher die verstärkte Aggressivität des Imperialismus – allen voran des US-Imperiums – gegenüber den halb-kolonialen Ländern. Wir sind in eine Phase zunehmender militärischer Konflikte eingetreten, v.a. zwischen Imperialismus und Halbkolonien. Aus dem gleichen Grund bläst die Bourgeoisie – gerade in Westeuropa – zum Generalangriff gegen alle historischen Errungenschaften der Nachkriegsperiode.

Gleichzeitig provozierte die permanente Offensive des Imperialismus und der kapitalistischen Globalisierung sowohl einen Aufschwung massiver Klassenkämpfe als auch die Entstehung einer massiven antikapitalistischen und Anti-Kriegsbewegung.

Stärkung des österreichischen Kapitals auf Kosten der Arbeiterklasse

Weltweit leidet das Kapital darunter, dass die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals – das Anwachsen des konstanten Kapitals (Maschinen, Rohstoffe etc., c) im Vergleich zum variablen (Löhne, v) – die Profitrate nach unten drückt (tendenzieller Fall der Profitrate), wobei sich die Profitrate (p) aus dem Verhältnis des aus der dem Arbeiter nicht-bezahlten Arbeitszeit (Mehrwert m) im Verhältnis zum eingesetzten Kapital bildet (p = m/c+v).

Dies ist unausweichliches Resultat der Kapitalakkumulation. Letztlich ist das Vorgehen der Unternehmer vom Interesse geleitet, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Möglichkeiten dafür bieten v.a. die Steigerung der Ausbeutung der ArbeiterInnen (z.B. Senkung der Lohnkosten, Verlängerung der Arbeitszeit) und die Verbilligung des konstanten Kapitals (billigere Technologien, Rohstoffe etc.). Besonders akut wird dieser Druck in Perioden der Stagnation oder gar Rezession, von der die Weltwirtschaft und daher auch Österreich gerade erfasst sind.

Die sich vertiefende Krise des Weltkapitalismus, die Globalisierung und die Herausbildung der Europäischen Union als ein imperialistischer Block haben einschneidende Konsequenzen für Österreich. Sie zwingen die herrschende Klasse zur Offensive gegen die eigene Arbeiterklasse.

Gegenwärtig befindet sich die österreichische Ökonomie – wie auch die europäische – in einer Stagnationsphase. Die letzten Jahre waren insgesamt im Vergleich zur Nachkriegsperiode vom geringsten Wirtschaftswachstum seit 1945 gekennzeichnet (BIP 2001: +0,7%, 2002: +1,0%, 2003: +0,8%; für 2004 werden +2,1% prognostiziert) (2). Im Jahr 2001 befand sich Österreich für ein Quartal in der Rezession. Der Ökonom Günther Chaloupek bemerkt zurecht: „Wir befinden uns in einem Zustand der Beinahe-Stagnation.“ (3)

Das zeigte sich besonders im starken Rückgang der Bruttoanlageinvestitionen 2001 (-2,2%) und 2002 (-4,8%), wobei hier vor allem die Ausrüstungsinvestitionen einbrachen und in beiden Jahren um 13 % zurückgingen. Parallel dazu stagnieren die Profitraten. Wenn wir als einen Annäherungswert die Kategorie der „Gewinnspanne“ aus der bürgerlichen Statistik nehmen, zeigt sich, dass diese 2002 nur um +0.5% wuchsen, 2003 erstmals seit 1993 sanken (-0.1%) und für 2004 und 2005 ein bescheidenes Wachstum von +0.4% bzw. +0.8% prognostiziert wird (4).

Die kurzfristigen Konjunkturaussichten hängen bei einer so stark vom Weltmarkt abhängigen Ökonomie wie der österreichischen naturgemäß von den internationalen Entwicklungen ab. Je nach Entwicklung der US- und der EU-Ökonomie wird Österreich entweder weiterhin stagnieren bzw. ein schwaches Wachstum erleben oder erneut in eine Rezession geraten.

Das Drücken der Lohnkosten ein zentrales Mittel des Kapitals, um die Profitrate zu erhöhen. In der Tat gelang es der österreichischen Bourgeoisie – dem internationalen Trend folgend – im letzten Jahrzehnt, ihre Position auf Kosten der Arbeiterklasse zu stärken und in den letzten Jahren eine massive Umverteilung von unten nach oben durchzusetzen. Die Lohnquote (der Anteil der Löhne am Volkseinkommen) fiel seit 1982 fast durchgehend. Die bereinigte Brutto-Lohnquote ging von 1982-2000 um 8% zurück und steht 2001 auf 72.5%. Die Netto-Lohnquote liegt noch deutlich tiefer (5). Entsprechend stiegen die Gewinne. Dies drückt sich auch in den Jahresabschlüssen in Industrie und Handel aus. Während in der Industrie die ordentlichen Personalaufwendungen 1997-2001 von 19.9% (im Verhältnis zur Betriebsleistung) auf 17.6% zurückgingen und im Handel von 11.4% auf 10.1% (trotz Beschäftigungswachstums!), stiegen die Profite und die Gewinnausschüttungen in der Industrie verdoppelten sich sogar (6). Angesichts der Stagnation der Weltwirtschaft und der verschärften Konkurrenz ist davon auszugehen, dass die Offensive des Kapitals in Richtung Lohnkürzungen unvermindert weitergehen wird.

Ebenso gelang dem Kapital die erfolgreiche Privatisierung öffentlicher Unternehmen. Auch hier liegt Österreich im internationalen Trend, v.a. der EU, in der sich in den 1990er Jahren die Hälfte aller Privatisierungen weltweit abspielte. Vergleicht man die Privatisierungsoffensive in Österreich mit anderen kleineren imperialistischen Ökonomien, so liegt Österreich im oberen Mittelfeld. Im Verhältnis zum BIP lagen die Privatisierungserlöse in Österreich 1998 bei 1.39%, in Portugal bei 4,05%, in Griechenland bei 3,26%, Dänemark 2,58% und Spanien 2,09% (7).

Nichtsdestotrotz existieren hier noch gewaltige Potentiale und das unter der Verwertungskrise leidende Kapital giert nach neuen Märkten. Daher stehen gewaltige Privatisierungen noch bevor bzw. wurden schon eingeleitet – z.B. Böhler-Uddeholm, VA Tech, Voestalpine, Bergbauholding, Telekom Austria, Post sowie viele Dienstleistungsbereiche. Die Industriellenvereinigung schätzte vor 4 Jahren das Privatisierungspotential auf umgerechnet 10.5 Mrd. €.

Als Resultat des Konzentrations- und Zentralisationsprozess des Kapitals bildete sich eine selbstbewusst agierende Großbourgeoisie heraus (z.B. Magna-Boss Stronach, Raiffeisen-Landesbank-OÖ-Chef „König Ludwig“ Scharinger, Prinzhorn). Im Zusammenhang mit der Privatisierungsoffensive werden auch die engen, cliquenhaften Verbindungen von Großkapital und Regierung immer offensichtlicher. Ein Paradebeispiel dafür ist die Affäre um die Homepage von Finanzminister Grasser, der sich diese durch eine Spende von 283.000 Euro (!) von der Industriellenvereinigung finanzieren ließ.

Damit hängt eine wichtige Veränderung in der österreichischen Klassengesellschaft zusammen: In der II. Republik herrschte das Finanzkapital jahrzehntelang durch die institutionelle Einbindung von städtischem Kleinbürgertum, Bauernschaft und Arbeiteraristokratie. Diese Klassenkonstellation bildete im wesentlichen die Grundlage des Systems der Sozialpartnerschaft.

Aufgrund der Krisenperiode des Kapitalismus seit den 1970er Jahren, der Globalisierung und den damit zusammenhängenden Veränderungen der Physiognomie der Klassen – Rückgang des Kleinbürgertums, Angriffe auf die oberen Arbeiterschichten – wurde diesem Block die Grundlage entzogen und das System der Sozialpartnerschaft zerfällt.

Österreich als Junior-Imperialismus

Die Globalisierung des Kapitalismus drückt auch Österreich ihren Stempel auf. Nicht nur in Form des Beitritts zur EU im Jahr 1994, sondern auch durch die wachsende Bedeutung von Auslandsinvestitionen. Die Verbindungen und Abhängigkeiten des österreichischen Kapitalismus von der Weltwirtschaft nahmen in den letzten 12 Jahren deutlich zu.

Diese Entwicklung ist höchst widersprüchlich und weist auf den spezifischen Charakter Österreichs als Junior-Imperialismus hin. Zusammengefasst verstärkte sich die Abhängigkeit und Unterordnung des österreichischen Kapitals gegenüber der EU im allgemeinen und dem deutschen Kapital im besonderen.

Gleichzeitig – und dies steht in einem dialektischen Zusammenhang damit, wie wir unten zeigen werden – konnte das österreichische Kapital seine imperialistische Rolle im halbkolonialen Osteuropa massiv ausbauen.

Folgende Zahlen zeigen deutlich die wachsende Integration der österreichischen Ökonomie in den Weltmarkt. Entsprachen die ausländischen Direktinvestitionen in Österreich 1990 noch 5.85% des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) und jener österreichischer Direktinvestitionen im Ausland 2.5% des BIP, so wuchsen diese Werte im Jahr 1995 auf 8.04% bzw. 4.8% des BIP und 2002 auf 19% bzw. 16.8%.

Wir erlauben uns an dieser Stelle eine kurze Anmerkung zum parasitären Charakter des Kapitals am Beispiel Österreichs. Auch wenn die Direktinvestitionen – also weitgehend produktive Investitionen – zunahmen, wird viel mehr Kapital rein spekulativ investiert; sowohl von österreichischen Kapitalisten im Ausland als auch von ausländischen in Österreich. So hatten die grenzüberschreitenden Vermögenswerte Österreichs zum Stichtag 31. Dezember 2001 einen Wert von 303.5 Mrd. Euro. Davon machten Direktinvestitionen 31.5 Mrd. Euro aus. Mit anderen Worten: Nur etwas mehr als 10% aller österreichischen Auslandinvestitionen sind produktiver Natur – der Rest spekulativ. Denn der größte Teil des Vermögensbestands entfiel auf Portfolioinvestitionen, die zum Jahresende 2001 einen Marktwert von 135.2 Mrd. Euro erreichten. Inländische Anleger erhöhten dabei ihren Bestand an Rentenwerten auf 92.2 Mrd. Euro, während sich der Besitz an Anteilspapieren um 9% auf 41,9 Mrd. Euro reduzierte. Das Auslandsvermögen der ÖsterreicherInnen in Form von Krediten, Einlagen und sonstigen Forderungen erreichte Ende 2001 einen Wert von 119.1 Mrd. Euro. Ähnlich verhält es sich mit ausländischen Investitionen in Österreich (8).

Das ausländische Kapital spielt eine immer stärkere Rolle in Österreich. Eine Übersicht über Direkt- und Letzteigentümer und zeigt, von wem die österreichischen Firmen letztendlich kontrolliert werden. Die zwei wichtigsten Eigentümerkategorien sind inländische Nichtbanken, die 37.2% der Beteiligungen besitzen, und ausländische Firmen. Ausländische Firmen halten 32.8% der Beteiligungen direkt, 35.6% als Letzteigentümer und stellen in 37.4% der untersuchten Firmen den größten Letztanteilseigner (9).

Ohne Zweifel konnte sich in den letzten 13 Jahren das ausländische Kapital gegenüber dem inländischen stärken. Die meisten Auslandsinvestitionen kommen aus der EU (2001: 73%) und dabei besonders vom mit Abstand wichtigsten Auslandsinvestor in Österreich – dem deutschen Kapital (43,5%). Damit konnte das deutsche Kapital seine Position in Österreich in den letzten 15 Jahren weiter ausbauen.

Gleichzeitig aber fand mit der Herausbildung eines halbkolonialen Hinterlandes in Ostmitteleuropa eine der wichtigsten Veränderungen für den österreichischen Kapitalismus in der Nachkriegsgeschichte statt. Hier konnte das österreichische Kapital die 1990er Jahre ausnützen, um seine Position zu stärken und teilweise eine führende Rolle einzunehmen. Heute sind österreichische Unternehmen in Slowenien der größte Auslandsinvestor, in der Slowakei belegen sie Platz 2 und in Tschechien und Ungarn Platz 3. Insgesamt stellt Osteuropa den zentralen Ort für Neuinvestitionen im Ausland dar.

Seit 1995 investierte das österreichische Kapital mehr in Osteuropa als in der EU! Insgesamt ist für Österreichs Unternehmen die Bedeutung Osteuropas für den Kapitalexport heute fast genauso groß wie die EU: 2001 lagen 38.2% des österreichischen, im Ausland investierten Gesamtkapitalstocks in der EU, aber bereits 35.7% in Osteuropa (10)! Ende 2001 arbeiteten 70 % der knapp 270.000 in österreichischen Unternehmen im Ausland Beschäftigten in Osteuropa (davon jeweils über 50.000 in Ungarn und in der Tschechischen Republik, 25.000 in der Slowakei und 20.000 in Polen). In der EU findet sich ein Fünftel, außerhalb Europas nur weniger als ein Zehntel der Beschäftigten (11).

Hier zeigt sich eine Ausnahmeposition Österreichs im Vergleich zu den imperialistischen Konkurrenten in der EU und weltweit. Für kein imperialistisches Land spielt das halb-koloniale Osteuropa eine so wichtige Rolle für den Kapitalexport wie für Österreich. Während Osteuropa, das Ziel nur von 2% aller weltweiten ausländischen Direktinvestitionen ist, strömen zwischen 2-5% aller Auslandsinvestitionen des deutschen, schweizerischen oder skandinavischen Kapitals in diese Region. Hingegen geht ein Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen in Österreich beheimateter Unternehmen nach Osteuropa (12)!

Der Grund dafür? Österreichs Unternehmen investieren v.a. in Branchen mit geringer Kapitalintensität und hoher Arbeitsintensität, also technologisch rückständigen Branchen, da das österreichische Kapital selber schwächer und rückständiger ist als die Konkurrenz in der EU. Für das österreichische Kapital liegt die Profitrate für Auslandsinvestitionen in Osteuropa deutlich höher als in Westeuropa oder den USA. So lag 1999 die Eigenkapitalrentabilität für österreichische Investitionen in Osteuropa bei 10.4%, jedoch nur bei 5.7% in Westeuropa oder Übersee (13).

Osteuropa spielt als Quelle eines imperialistischen Extraprofits also eine zentrale Rolle für das österreichische Kapital.

Spätestens an diesem Punkt müssen wir jedoch auf folgendes Phänomen hinweisen. Die massiven Auslandsinvestitionen in Osteuropa und die wachsende Stellung des deutschen Kapitals in Österreich sind nicht zwei voneinander unabhängige Prozesse, sondern stehen in engem Zusammenhang. Teilweise nützt das ausländische – v.a. das deutsche – Kapital Österreichs Position in Osteuropa. Nach einer Untersuchung der Österreichischen Nationalbank waren 1999 bei den österreichischen Auslandsinvestitionen insgesamt knapp 23% der aktiven Beteiligungen und 32% der im Ausland Beschäftigten ausländisch beeinflusst. Das ist jedoch nur der Durchschnittswert. Bei den Auslandsinvestitionen in der EU bzw. dem restlichen Europa betrug der Einfluss ausländischer Konzerne 18 bis 19% bei den Beteiligungen bzw. nur 16 bis 18% bei den Beschäftigten. Im Falle der österreichischen Auslandsinvestitionen in Osteuropa jedoch lag dieser Anteil bei 26% bei den Beteiligungen und 39% bei den Beschäftigten (14).

Mit dem EU-Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder 2004 könnte jedoch diese Position unter Druck kommen, da dadurch der Zugang zu den osteuropäischen Märkten für andere Kapitalien leichter wird. Eine solche Entwicklung hätte wiederum massive negative Folgen für das österreichische Kapital. Andererseits jedoch könnte das österreichische Kapital seine Rolle als Junior-Imperialismus nützen und sich durch verstärkte Unterordnung unter das deutsche Kapital Nischen in Osteuropa sichern.

Fazit: Österreich ist ein Junior-Imperialismus des großen deutschen Bruders in einer sich globalisierenden Welt. Sein Motto lautet: nach oben (Deutschland und EU) buckeln und nach unten (Osteuropa) treten. Um seine Position am Weltmarkt zu verteidigen, muss es sich angesichts des zunehmenden Konkurrenzkampfes und des weltweiten Konzentrations- und Zentralisationsprozess – bei Strafe des Untergangs – zunehmend dem EU- und insbesondere dem deutschen Kapital unterordnen.

Probleme und Schwächen des österreichischen Kapitals

Betrachtet man das österreichischen Kapital im internationalen Vergleich, zeigt sich, dass es innerhalb des imperialistischen Lagers nur eine untergeordnete Rolle am Weltmarkt spielt und nach wie vor deutlich schwächer ist als vergleichbare kleinere imperialistische Ökonomien.

Unter den von der US-Wirtschaftszeitschrift „Business Week“ jährlich aufgelisteten Global Top 1000 Konzernen befinden sich nur 2 österreichische Unternehmen (auf Platz 689 und 737), während Belgien 9, Dänemark 6, Finnland 5, Griechenland 7, Irland 4, Niederlande 19, Norwegen 5, Schweden und Schweiz je 17 Top-Konzerne stellen (15). Nur in einigen – auf dem Weltmarkt von seiner Kapitalmasse her aber unbedeutenden – Nischen gelingt es österreichischen Konzernen, eine führende Position einzunehmen. Damit einher geht die oben angeführte Zurückdrängung des österreichischen Kapitals am Binnenmarkt.

Österreichs Kapital gibt nach wie vor sehr wenig für neue Technologien sowie Forschung und Entwicklung aus. Bei den Ausgaben für Forschung & Entwicklung liegt Österreich innerhalb der OECD nur an 14. Stelle und hinter den meisten anderen kleineren imperialistischen Staaten. Nach wie vor ist Österreichs Industrie arbeitsintensiv und rückständig. Die höchsten Exportmarktanteile in die EU liegen in der Holz- und Papierindustrie sowie bei mineralischen Produkten.

Ein anderer Ausdruck der Rückständigkeit des Kapitals ist die niedrige Kapitalproduktivität, also das Verhältnis von eingesetztem Kapital und Output sowie die den technologischen Fortschritt ausdrückende Totale Faktorproduktivität. Ebenso spielen im internationalen Vergleich bei der Kapitalakkumulation in Österreich die Bauinvestitionen eine deutlich höhere Rolle als die Ausrüstungsinvestitionen (16).

All diese Faktoren führen dazu, dass das österreichische Kapital dem tendenziellen Fall der Profitrate und dem wachsenden Druck durch die internationale Konkurrenz nur durch immer schärfere Attacken auf die Arbeiterklasse und die wachsende Ausbeutung Osteuropas begegnen kann.

Zusammengefasst können wir die Resultate der Bemühungen des österreichischen Kapitals folgendermaßen charakterisieren: Die Bourgeoisie konnte ihre Position gegenüber der österreichischen Arbeiterklasse signifikant stärken, im internationalen Konkurrenzkampf gelangen ihr Fortschritte im Aufbau eines halbkolonialen Hinterlandes in Osteuropa; gegenüber den imperialistischen Konkurrenten gelangen ihr insgesamt jedoch keine Fortschritte bzw. fiel sie sogar zurück. Insgesamt ergibt sich daraus der verstärkte Junior-Charakter des österreichischen Imperialismus, der sich an Größere anhängen muss (v.a. Deutschland). Ebenso erklärt sich daraus die Entscheidung der österreichischen Bourgeoisie für eine besonders reaktionäre Regierungsform – die ÖVP/FPÖ-Koalition. Um ihre Position in einer Periode der Krise zu verteidigen, ist die österreichische Bourgeoisie zu noch schärferen Angriffen gegen die Arbeiterklasse gezwungen.

Eigener Weg oder kleiner Bruder Deutschlands?

Wir haben die enorme ökonomische Abhängigkeit Österreichs von der EU im allgemeinen und Deutschland im besonderen nachgewiesen. Gleichzeitig haben wir auch die wachsende Bedeutung Osteuropas für das heimische Kapital aufgezeigt. Was bedeutet dies nun für die politische Positionierung der österreichischen Bourgeoisie innerhalb der EU?

Innerhalb der herrschenden Klasse – insbesondere in der Großbourgeoisie – herrscht Einigkeit darin, dass sie ihr Überleben in einer Welt zunehmender Spannungen und Instabilität nur im Rahmen der EU abgesichert werden kann. Deswegen ist – unabhängig von allen rhetorischen Drohungen seitens mancher FPÖ-Politiker – ein Austritt aus der EU oder auch nur eine ernsthafte Obstruktion zentraler EU-Projekte undenkbar.

Dies bedeutet aber nicht, dass die österreichische Bourgeoisie keine spezifischen Interessen hätte. Beispiele dafür sind die Konflikte rund das AKW in Temelin, die Debatten um die Benes-Dekrete, das Mitspracherecht kleinerer Staaten in der neuen EU-Verfassung oder der Transit-Konflikt.

Insgesamt war die EU-Politik der ÖVP/FPÖ-Regierung seit ihrem Machtantritt im Februar 2000 von Rückschlägen und Schwierigkeiten geprägt. Zuerst einmal der so genannte diplomatische Boykott der EU-Staaten gegenüber Österreich. Diese Krise konnte zwar überwunden werden, aber wie die Niederlage im Transitkonflikt zeigt, gelang es der Regierung Schüssel auch danach nicht, effektives Lobbying zu betreiben und Einfluss in der EU zu gewinnen.

Unabhängig von solchen konjunkturellen Entwicklungen sind die strategischen Überlegungen über das „Mitteleuropa-Konzept“ bedeutsam. Manche Teile des außenpolitischen Establishments (z.B. der frühere ÖVP-Vorsitzende Erhard Busek) streben in Anlehnung an die Vergangenheit des Habsburger Reiches danach, um Österreich einen Block ostmitteleuropäischer Länder zu scharen. Damit erhoffen sie sich eine unabhängigere Rolle Österreichs. Diese Überlegungen werden mit der EU-Osterweiterung noch bedeutender.

Aus verschiedenen Gründen ist eine ernsthafte Umsetzung dieses „Mitteleuropa-Konzepts“ jedoch höchst unwahrscheinlich. Erstens unterminierte gerade die teilweise aggressive Außenpolitik der schwarz-blauen Regierung gegenüber osteuropäischen Nachbarstaaten wie der Tschechischen Republik und der reaktionäre Populismus der Regierungspartei FPÖ eine solche außenpolitische Annäherung.

Zweitens aber – und dies ist viel wichtiger – besitzt Österreich nicht das notwendige ökonomische und politische Gewicht, um einen solchen Block zu bilden. Das österreichische Kapital kann sich nicht aus der Umklammerung Deutschlands befreien. Dies trifft umso mehr zu, als wichtige österreichische Vorposten in Osteuropa wie z.B. die Bank Austria mittlerweile einen deutschen Eigentümer haben.

Angesichts der Verschärfung der inner-imperialistischen Konkurrenz und der Polarisierung auch innerhalb der EU (zwischen Deutschland-Frankreich einerseits und Ländern wie Italien, Britannien oder Spanien andererseits) wird Österreichs Spielraum immer geringer. Es ist daher wahrscheinlich, dass Österreich im Fall eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“, mit einem von Deutschland und Frankreich geführten „Kern“ geht.

Neutralität oder Militärbündnis?

Der Druck zur stärkeren Anbindung an die voranschreitende Integration der EU bzw. des deutsch-französischen Kerns drückt sich auch militärisch aus. Dies zeigt sich bei Österreich deutlicher als bei anderen EU-Staaten, da hierzulande seit dem Ende der Besatzung 1955 die Doktrin der außen- und militärpolitischen Neutralität gilt.

Natürlich existierte diese Neutralität niemals wirklich. Politisch und ökonomisch war Österreich immer an den imperialistischen Westen angebunden. Auch militärisch war Österreich nicht wirklich neutral. Dies zeigte sich bei den bereitwilligen Spionage- und Abhördiensten, die Österreich für die NATO leistete (z.B. Projekt Goldhaube, regelmäßige Weitergabe von Informationen durch den Heeresnachrichtendienst an die NATO-Stellen in München). Wie in anderen westeuropäischen Ländern existierte das Gladio-Projekt – ein von westlichen Geheimdiensten eingerichtetes Netz von Stützpunkten, geheimen Waffenlagern und verlässlichen Agenten gegen eine mögliche „kommunistische Machtübernahme“ – auch in Österreich.

Trotzdem beinhaltete die Neutralität zumindest, dass Österreich nicht einem Militärbündnis beitrat. Noch bedeutender war, dass sich in der Bevölkerung ein Bewusstsein breit machte, das mit der Neutralität die Hoffnung verband, nach den schrecklichen Erfahrungen der beiden Weltkriege nicht mehr in Kriege hineingezogen zu werden. Daher war und ist es für die herrschende Klasse nach wie vor schwierig, die Bevölkerung für die Teilnahme Österreich an einem militärischen Abenteuer des US-amerikanischen oder eines anderen Imperialismus zu begeistern.

Doch die voranschreitende EU-Integration, die Notwendigkeit militärischer Aufrüstung und einer eigenständigen EU-Militärpolitik zwingen die österreichische Bourgeoisie immer mehr, das aus der Periode des Kalten Krieges stammende „Dogma“ der Neutralität aufzugeben. Daher der Beitritt zur NATO-„Partnerschaft für den Frieden“ als erster Schritt; daher der Ankauf der teuren, NATO-kompatiblen Eurofighter, daher die (symbolische) Stationierung österreichischer Soldaten im Kosovo und in Afghanistan.

Alles weist darauf hin, dass Österreich in der kommenden Periode einem Militärbündnis beitreten wird. Dabei ist es möglich, dass dies nicht die NATO ist, sondern ein Militärbündnis der EU bzw. von Teilen der EU.

Ein solcher Beitritt wird für die österreichische Bourgeoisie zur Notwendigkeit, zum Preis, den sie für ein „Mitfahren“ im imperialistischen EU-Block zu zahlen hat. Österreich wird sich daher mit aller Wahrscheinlichkeit auch an künftigen Kriegseinsätzen der EU beteiligen.

Allerdings stößt dieser Schritt auf breite Ablehnung in der Bevölkerung und es wird daher nicht so leicht für die herrschende Klasse werden, dieses Projekt durchzudrücken.

Als marxistische RevolutionärInnen lehnen wir einen Beitritt Österreichs zu einem imperialistischen Militärbündnis ab, da dies militaristische Bestrebungen erleichtert. Wir stellen aber einem Beitritt nicht das rosige Bild der Neutralität entgegen.

Der österreichische Staat ist ein imperialistischer, der andere Länder ausplündert und dessen herrschende Klasse immer auch die Mittel zu Verteidigung ihrer imperialistischen Stellung verteidigen wird – auch ohne formelle Mitgliedschaft in NATO oder EU. Eine „wirkliche“ Neutralität Österreichs ist unter kapitalistischen Bedingungen einfach unmöglich.

Schwarz-blauer Generalangriff

Wir haben die Probleme der österreichischen Bourgeoisie unter den Bedingungen des krisenhaften globalen Kapitalismus skizziert. Aus ihnen ergibt sich der unausweichliche Zwang für die herrschende Klasse, die Ausbeutung der Arbeiterklasse drastisch zu erhöhen. Es ist dieser Zwang der kapitalistischen Notwendigkeiten, der sich jede Regierung, die sich auf die Grundlage bürgerlicher Eigentumsverhältnisse stellt, unterwerfen muss. Auch eine rot-grüne Regierung könnte keine wesentlich andere Politik verfolgen als die Regierung Schüssel (wie man eindrucksvoll in Deutschland sehen kann).

Die österreichische Bourgeoisie kam in den späten 1990ern zur Ansicht, dass eine schwarz-blaue Wenderegierung am ehesten geeignet ist, die notwendigen schweren Angriffe auf das Proletariat durchzusetzen. Trotz der massiven Schwächung der FPÖ bei den Nationalratswahlen vor einem Jahr und ihrer damit zusammenhängenden inneren Fragilität, befürwortete das Großkapital im Frühjahr 2003 eine Fortsetzung dieser Koalition.

Die jüngste Pensionsreform und die vollständige Privatisierung des Linzer Stahlkonzerns Voest zeigen, dass nun die wirklich schweren Angriffe auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung folgen. Das Ziel der herrschenden Klasse und ihrer Regierung ist eine massive Veränderung des Klassenverhältnisses zu ihren Gunsten und eine substantielle Schwächung der Arbeiterbewegung. Es handelt sich also sowohl um eine ökonomische Offensive zwecks Verbesserung der Verwertungsbedingungen für das Kapital als auch eine politische Offensive ähnliche wie jene Reagans and Thatchers in den 1980ern.

Die Pensionsreform war der erste erfolgreiche Großangriff von Schwarz-Blau II. Weitere werden und müssen – vom Gesichtspunkt des Kapitals – folgen. Hier sind v.a. zu nennen: „Harmonisierung“ der Pensionssysteme, Angriffe auf den Gesundheitssektor, Privatisierung der staatlichen Industrie, Ausgliederungen und Privatisierung im öffentlichen Dienstleistungsbereich (GATS).

Das österreichische Kapital braucht aufgrund der Überalterung der österreichischen Bevölkerung neue, junge und qualifizierte Arbeitskräfte. Bereits seit Jahrzehnten holt das Kapital immer mehr ImmigrantInnen nach Österreich. Machten diese 1965 nur 1.3% aller Lohnabhängigen aus, so stieg dieser Anteil kontinuierlich auf 4.6% (1970), 6.1% (1980), 7.4% (1990), 9.8% (1995) und schließlich 10.6% (2002) (16). Durch die EU-Osterweiterung wird die notwendige verstärkte Arbeitsimmigration erleichtert. Wir gehen also für den Zeitraum der kommenden 5-10 Jahre von einem Zuzug zehntausender Arbeitskräfte v.a. aus Osteuropa aus.

Natürlich verwendet die Bourgeoisie die wachsende Zahl von ArbeitsimmigrantInnen, um den Lohn zu drücken und „teure“ einheimische Arbeitskräfte (inkl. schon eingebürgerter ImmigrantInnen) durch billigere ausländische ArbeiterInnen zu ersetzen. Insofern stellt diese Entwicklung eine enorme Gefahr dar: die Bourgeoisie wird versuchen, den Rassismus zu schüren, dadurch die Klasse zu spalten und von den sozialen Widersprüchen abzulenken.

Doch gleichzeitig enthält die wachsende Immigration ein fortschrittliches Potential, denn sie sprengt die (gerade in Österreich starke) nationalstaatliche Borniertheit und schafft die objektiven Voraussetzungen für einen Internationalismus der Arbeiterklasse. Lenin stellte schon vor mehr als 90 Jahren fest:

„Es besteht kein Zweifel, daß nur äußerstes Elend die Menschen veranlaßt, die Heimat zu verlassen, und daß die Kapitalisten die eingewanderten Arbeiter in gewissenloser Weise ausbeuten. Doch nur Reaktionäre können von der fortschrittlichen Bedeutung dieser modernen Völkerwanderung die Augen verschließen. Eine Erlösung vom Joch des Kapitals ohne weitere Entwicklung des Kapitalismus, ohne den auf dieser Basis geführten Kapitalismus gibt es nicht und kann es nicht geben. Und gerade in diesen Kampf zieht der Kapitalismus die werktätigen Massen der ganzen Welt hinein, indem er die Muffigkeit und Zurückgebliebenheit des lokalen Lebens durchbricht, die nationalen Schranken und Vorurteile zerstört und Arbeiter aller Länder in den großen Fabriken und Gruben Amerikas, Deutschlands usw. miteinander verbindet.“ (17)

Historische Beispiele dafür sind die gemeinsamen Sitzstreiks von schwarzen und weißen Automobilarbeitern Mitte der 1930er Jahre in den USA oder auch die verstärkte Beteiligung türkischer Arbeiter in der deutschen IG Metall. Um eine dauerhafte Überwindung des Rassismus zu erreichen, ist letztlich der Aufbau einer multinationalen, revolutionären Arbeiterpartei notwendig, die den proletarischen Internationalismus in die Klasse trägt.

Die Verschärfung des Klassenkampfes bedingt für die herrschende Klasse auch verschiedene Änderungen auf der Ebene des Staatsapparates. Daher der Ausbau des Polizeistaates und allgemein der sozial-administrativen Kontrolle der Bevölkerung (z.B. Gesundheitschip). Dies wird über kurz oder lang auch zu einem verstärkten Vorgehen gegen Linke (wie auch andere Elemente wie z.B. IslamistInnen) führen.

In Zusammenhang mit den Veränderungen des österreichischen Kapitalismus muss auch die geplante Neuerstellung einer Verfassung durch den Österreich-Konvent gesehen werden. Hier wird die Großbourgeoisie versuchen, die Verfassung zu ihren Gunsten neu zu schreiben.

Das bürgerliche Lager

Trotz der Stärkung der Bourgeoisie in den letzten beiden Jahrzehnten ist das bürgerliche Lager keineswegs frei von inneren Widersprüchen. Der ÖVP ist insgesamt seit dem Höhepunkt ihrer Krise 1994/95 eine bemerkenswerte Konsolidierung gelungen. War sie früher von massiven internen Konflikten zwischen Bund und Ländern geprägt, ist sie nun zu einer einheitlichen Kraft unter Führung des Bonaparten Schüssel geworden. Dies drückt die Hegemonie der neoliberalen Großbourgeoisie innerhalb der Partei (Schüssel, Bartenstein, Raiffeisen-Konzern usw.) und die Unterordnung der ÖAAB-Hofräte in den Gewerkschaften und der Bauern aus.

Dies zeigt sich darin, dass die ÖVP-Führung oft die Interessen der Großbourgeoisie offensiver in der Öffentlichkeit vertritt als die Industriellenvereinigung (she. Pensionsreform). Natürlich schließt dies gewisse innerparteiliche Konflikte in Zukunft nicht aus. Aber erst massive Umbrüche – hervorgerufen entweder durch eine scharfe Wende in der Weltwirtschaft bzw. Weltlage oder durch Niederlagen gegen die Arbeiterbewegung – würden zu einer neuerlichen Führungskrise der Bourgeoisie und damit der ÖVP führen.

Die FPÖ hat ohne Zweifel ihre strategische Krise nach wie vor nicht überwunden. Sie kann sie auch nur überwinden, wenn sie entweder in Opposition geht und sich dort als rechts-populistische, rassistische, neoliberale, radikale Anti-Gewerkschaftspartei konsolidiert (wohl gegen eine Regierung mit SPÖ-Beteiligung) oder wenn sie treibende Kraft in einer Regierung wird, die unter dem Vorzeichen der radikalen Offensive gegen die Arbeiterbewegung und einer Art politischen Ausnahmezustandes steht (vergleichbar mit den USA nach dem 11. September). Beide Varianten sind durchaus denkbar, sind aber gegenwärtig nur unter einer Führung Haiders mit entsprechenden innerparteilichen Umbrüchen denkbar. Mit einem Kurs als Juniorpartner der ÖVP haben die Freiheitlichen keine Zukunft. Nicht auszuschließen wäre auch eine kalte Spaltung etwa in Form einer formellen Trennung der Kärntner FPÖ und die Bildung eines CDU/CSU-Modells mit der Rest-FPÖ.

Die Grünen haben ihren Charakter als besondere bürgerliche Partei bestätigt und konnten mit der Gewinnung des Bezirksvorsteherpostens im 7. Wiener Gemeindebezirk einen gewichtigen Erfolg erzielen. Während sie ganz offensichtlich politisch zu einer vollständig angepassten, bürgerlichen Kraft mutiert sind, verfügen sie nach wie vor über nur geringe Verankerung innerhalb der Bourgeoisie. Insofern stellen sie eine besondere bürgerliche Partei dar – ohne relevante organische Verbindungen mit der Bourgeoisie.

Daher war es auch nicht überraschend, dass die Regierungsverhandlungen mit der ÖVP scheiterten. Dennoch konnten sich die bürgerlichen Kräfte innerhalb der Partei stärken, was sich in der Annäherung an eine Koalition mit der ÖVP und deren Realisierung in Oberösterreich ausdrückt. Die Grünen werden sich wohl weiterhin als liberale, „humanistische“ Partei profilieren (she. ihren Erfolg bei den Hochschülerschaftswahlen 2003) und auf die nächsten Wahlen und eine Regierungsbeteiligung mit der SPÖ oder der ÖVP hoffen.

Die Möglichkeit von vorgezogenen Neuwahlen aufgrund einer Regierungskrise existiert. Es ist aber unwahrscheinlich, dass diese von der ÖVP ausgeht, denn sie könnte dabei nur verlieren (42% sind nicht leicht wiederholbar). Sie könnten nur das Resultat eines Führungswechsels in der FPÖ durch Haider sein, wenn dieser den Moment für gekommen sieht, die letzte Wahlniederlage wettzumachen.

Veränderungen in der Arbeiterklasse

Für die österreichische Arbeiterklasse bedeuteten die letzten Jahre Verarmung und verstärkte Ausbeutung. Die Reallöhne sanken (2001: -1%, 2002: -0.5%, Schätzung für 2003: -0.4%). Während die Beschäftigung in den letzten 10 Jahren insgesamt auf 3,2 Millionen anstieg, schnellte auch die Arbeitslosenrate auf 7% hinauf.

Lag die Zahl der Arbeitslosen 1985 noch bei 103.687, verdoppelte sie sich bis zum Jahr 2003 auf das Rekordniveau von 208.502 bzw. 248.174 (inkl. der aus der offiziellen Statistik „weggeschönten“ Arbeitslosen, die sich in einer Schulung befinden) (19). Der Grund dafür liegt darin, dass das Kapital immer mehr Arbeitskräfte zur Ausbeutung aufsaugt und durch die Verarmung auch immer mehr Menschen zwingt, sich am Arbeitsmarkt anzubieten, gleichzeitig jedoch auch immer mehr ArbeiterInnen zumindest vorübergehend aus einem Beschäftigungsverhältnis ausspuckt.

Allerdings gibt es auch innerhalb der Arbeiterklasse eine wachsende Differenzierung. Während die oberen Schichten in den letzten zwei Jahrzehnten ihre Einkommen steigern konnten, verarmen die unteren Schichten zunehmend (20). Eine Untersuchung zur Einkommensverteilung innerhalb der Lohnabhängigen im Jahre 1999 hält fest: „In diesem Jahr verdienten die einkommensschwächsten 20% der unselbständig Erwerbstätigen nicht einmal 3% des Gesamteinkommens. Hingegen bezogen die einkommensstärksten 20% beinahe die Hälfte des gesamten Einkommens.“ (21)

Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einer drastischen Zunahme der Teilzeitarbeit und prekärer Dienstleistungsverhältnisse. Zwischen 1980 und 1999 stieg der Anteil der Teilzeitbeschäftigten von 6.1% auf 13.3%. (22) Auch die Anzahl von geringfügig Beschäftigten – im Frühjahr 2003 waren es 211.000 (23) – und der Selbstständigen steigt. Eine Untersuchung im Bundesland Steiermark zeigt, dass der Anteil der Einzelunternehmen an den Unternehmensneugründungen deutlich zunimmt. Fielen 1993 noch 73.5% aller Neugründungen unter diese Kategorie, waren es 2001 bereits 85.1% (24).

Diese Entwicklung betrifft besonders Frauen. Während die letzten 2-3 Jahrzehnte von einem Wachstum der Frauenbeschäftigung (und einem Rückgang der Männerbeschäftigung) gekennzeichnet waren, hat der Anteil von Frauen besonders in den unteren Schichten der Arbeiterklasse zugenommen. Fast alle Teilzeitbeschäftigten sind Frauen. So hat sich der Anteil der teilzeitarbeitenden Frauen zwischen 1980 und 1999 von 15.5% auf 28.7% fast verdoppelt (25). Die einzige Ausnahme in dieser Entwicklung sind jene Frauen, die als Beamtinnen im öffentlichen Dienst eintraten und deren Löhne sich im Gleichklang mit denen ihrer männlichen Kollegen entwickelten. Außerdem sind von den drastischen Angriffen auf das Sozialsystem Frauen noch deutlich stärker betroffen als Männer. Verstärkte reaktionäre Vorstöße sind auch von den militanten AbtreibungsgegnerInnen möglich, auch wenn kurzfristig von staatlicher Seite her nicht mit einer Einschränkung des Rechts auf Abtreibung zu rechnen ist.

Die Zahl der arbeitslosen Frauen steigt. Besonders betroffen sind Wiedereinsteigerinnen und Ausländerinnen. Die Einführung des Kindergeldes hat die längere, über 2 Jahre dauernde Babypause attraktiver werden lassen, der Kündigungsschutz endet jedoch nach 2 Jahren und der Job ist dann zumeist längst vergeben. Die gestiegene Arbeitslosigkeit führt dazu, dass schlecht ausgebildete Frauen von besser qualifizierten Arbeitskräften verdrängt werden, was besonders Ausländerinnen trifft.

In den vergangenen Jahren gab es auch wichtige Veränderungen im Jugendbereich. Im Gegensatz zu den meisten kapitalistischen Staaten ist die Jugendarbeitslosigkeit in Österreich nach wie vor relativ gering. Dennoch darf nicht unterschätzt werden, dass für die proletarische Jugend die Suche nach einer Lehrstelle schwieriger geworden ist und sie teilweise durch schulische Maßnahmen aufgefangen wird. Bedeutsam ist auch der steigende Bildungsgrad: Heute besucht eine deutliche Mehrheit – zumindest in Wien – der 14- bis 18jährigen ein Gymnasium und 27.9% aller 18-21jährigen gehen auf die Universität oder eine Fachhochschule (in Wien: 38.1%).

Politisch muss als wichtigste Veränderung wohl die massive Politisierung von Teilen der Jugend – v.a. im Schülerbereich – angesehen werden. Sie spielten (nicht nur in Österreich!) eine gewisse Avantgarderolle in der Anti-Kriegsbewegung. Hingegen zeigten sich eine deutliche Demoralisierung und Anpassungsdruck auf den Hochschulen nach den Niederlagen bei den Studiengebühren. Diese Konstellation wird wohl auch im kommenden Jahr bestehen bleiben.

Insgesamt also schwächt die kapitalistische Krise die materielle Basis der Arbeiterklasse. Grob gesprochen verarmt die Klasse und wird in ihrer Konsistenz aufgeweicht. Während die Kernsektoren in der Industrie und dem Transportsektor durch Privatisierungen und Entlassungen geschwächt werden, nimmt das Gewicht der Randschichten – also der wenig geschützten ArbeiterInnen, der in oft kleinen Dienstleistungsbetrieben Beschäftigten usw. – zu.

Arbeiterbewegung vor neuen Herausforderungen

Wie bereits erwähnt, erlebte Österreich 2003 neben der Antikriegsbewegung erstmals seit drei Jahrzehnten Massenstreiks. Dies waren für Österreich ohne Zweifel historische Ereignisse. Hier muss man sich vor Augen halten, dass Österreich eine traurige Tradition der fast absoluten Klassenkampfruhe nach 1950 besitzt. Nach der Niederlage des Oktoberstreiks 1950 (26) kam es in Österreich durch das System der Sozialpartnerschaft – also der weitgehenden Einbindung der Arbeiterbürokratie in die politischen Herrschaftsmechanismen des bürgerlichen Staates – kaum noch zu Streiks. In allen internationalen Untersuchungen über Streiks liegt Österreich daher ganz am Ende. Zwischen 1975 und 1993 streikten Österreichs Lohnabhängige im Durchschnitt 1.7 Minuten – ein internationaler Minusrekord, der nur von der Schweiz unterboten wurde. Zwischen 1990 und 1998 entfielen auf je 1.000 unselbständig Beschäftigte 2 durch Streiks verlorene Arbeitstage – eine Bilanz, die nur von Japan unterboten wird.

Wir wollen an dieser Stelle nicht den Verlauf der Streiks und die Gründe ihrer Niederlage analysieren. Wir haben dies bereits an anderer Stelle getan (27). Vielmehr wollen wir hier die wichtigsten Konsequenzen und Lehren für die Arbeiterbewegung benennen.

Nicht nur die Antikriegsbewegung, auch der Widerstand gegen die Pensionsreform endete in einer Niederlage. So schwer diese Niederlage im materiellen Sinne auch ist – die Pensionen wurden massiv gekürzt – so stellt sie keine strategische Niederlage dar (28). Der Streik des Bordpersonals bei der Fluglinie AUA und der Arbeitskampf der Eisenbahner kurz danach im Herbst 2003 zeigen das.

Die Klassenkämpfe 2003 brachten äußerst wichtige Erfahrungen und politische Folgewirkungen. Besonders bedeutsam ist das Ende der Klassenkampfruhe, die wie ein Alp auf der österreichischen Arbeiterbewegung lastete. Ab nun sind Streiks und Massendemonstrationen kein Tabu mehr.

Die Ursache für die Niederlagen liegt vor allem am Verrat der reformistischen Bürokratie. Unter dem Druck der Basis musste die Bürokratie den Kampf beginnen, aber als dieser aufgrund mangelnder Kompromissbereitschaft der Bourgeoisie eine Radikalisierung der Kampfformen erforderte, knickte sie ein.

Dies weist auf ein grundlegendes Problem der Streiks und der Arbeiterbewegung im allgemeinen hin: die unangefochtene Vorherrschaft der reformistischen Bürokratie über die Arbeiterklasse. Oder in anderen Worten: die himmelschreiende Kluft zwischen der Schärfe der Klassengegensätze und der Notwendigkeit des konsequenten Klassenkampfes und dem Fehlen einer revolutionären Führung.

So wichtig die Massenstreiks auch waren, so muss man auch sehen, dass sie in höchst bürokratischer Weise durchgeführt wurden. Es kam de facto zu keinen authentischen Basisversammlungen, diese dienten vielmehr der Selbstdarstellung der gewerkschaftlichen FührerInnen. Die Bewegung dauerte auch zu kurz, als dass eine Bewegung an der Basis hätte entstehen können. Die Hegemonie der reformistischen Bürokratie um ÖGB-Chef Fritz Verzetnitsch konnte daher keineswegs in Frage gestellt werden.

Durch die Jahrzehnte sozialpartnerschaftlicher Friedhofsruhe besitzt das österreichische Proletariat – nicht einmal sein fortgeschrittener, kämpferischer Teil – keine Tradition der Organisierung an der Basis und der Opposition gegen die Gewerkschaftsspitze. Daraus resultiert auch eine oft passive Haltung der Basis gegenüber der Führung. Viele ArbeiterInnen sind oft empört über das Vorgehen der Spitzen, aber es fehlt ihnen an Selbstvertrauen und Organisation, um etwas dagegen zu unternehmen. Dieses strategische Problem existiert in vielen Länden, ist jedoch in Österreich aus historischen Gründen (Sozialpartnerschaft, Klassenkampfruhe usw.) stärker ausgeprägt als in vielen anderen Ländern.

Dennoch wäre es falsch, wichtige Veränderungen und „unterirdische“ Entwicklungslinien zu ignorieren. Die ununterbrochene Offensive des Kapitals auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse, die zunehmende ideologische Diskreditierung des Neoliberalismus und die internationalen Beispiele klassenkämpferischen Widerstandes machen die bisherige passive Politik der Gewerkschaftsbürokratie immer unhaltbarer. Bereits im Frühjahr zwang der ungeheure Druck der Basis die Verzetnitsch-Führung, Streiks zu organisieren. Dazu wird es wohl auch in Zukunft kommen.

Aber die verstärkten Klassenauseinandersetzungen führen auch zu ersten Ansätzen einer Differenzierung innerhalb der Bürokratie und der Herausbildung eines „links“-reformistischen, „kämpferischen“ Flügels wie z.B. Robert Hengster (Gewerkschaft für Handel-Transport-Verkehr – HTV) und die AUA-Betriebsräte, Robert Wurm und die Postbus-GewerkschafterInnen, in gewissen Sinn auch Sallmutter von der GPA oder Eisenbahner-Chef Haberzettel.

Dieser Flügel zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er für den bedingungslosen Klassenkampf gegen die Offensive des Kapitals eintritt. Aber während für Verzetnitsch und die Mehrheitsfraktion in der Bürokratie der Streik eigentlich nur ein unvorhersehbares (und höchst bedauernswertes) Notmittel darstellt, sieht dieser „kämpferische“ Flügel der Bürokratie die Notwendigkeit und „Normalität“ von Streiks, um dem Kapital zumindest zu gewissen Zugeständnissen zu zwingen.

Natürlich steht dieser Flügel auch nicht für Basisdemokratie, aber er sieht, dass es für die Durchführung von Streiks auf die Dauer nicht ausreicht, die Basis passiv zu halten. Sie verfolgen eine Strategie der bürokratisch kontrollierten, begrenzten Mobilisierung der Basis für Streiks und andere Formen des Kampfes, um in Verhandlungen mit dem Kapital ein besseres Ergebnis zu erzielen. Während also Verzetnitsch & Co. noch von einer Rückkehr zu den guten alten Zeiten der Sozialpartnerschaft träumen oder besser: phantasieren, versucht der „linke“ Flügel, die reformistische Politik den Bedingungen der neuen Periode – also des Endes der Sozialpartnerschaft und der Unausweichlichkeit zunehmender Klassenzusammenstöße – anzupassen.

Bilanz und Ausblick des Klassenkampfes

Dass eine solche kämpferische reformistische Politik nicht ausreicht, um die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen, zeigen alle internationalen Beispiele. Hierzu ist eine grundlegende Revolutionierung der Gewerkschaften notwendig, also eine konsequent klassenkämpferische Politik verbunden mit einer Strategie des revolutionären Sturzes des Systems der kapitalistischen Ausbeutung, der radikalen Demokratisierung der Gewerkschaft und der Beseitigung des bürokratischen Apparates. Der Aufbau einer Basisbewegung und die Bildung einer revolutionären, kommunistischen Gewerkschaftsfraktion sind Voraussetzungen dafür.

Die tatsächliche Entstehung einer Basisbewegung kann jedoch nur vor dem Hintergrund länger andauernder Konflikte stattfinden, in denen Teile der Basis bzw. der unteren Schichten der Bürokratie in Konflikt mit der Führung geraten. Solche werden stattfinden, auch wenn wir natürlich nicht sagen können, wie lange es noch dauert.

Um in den kommenden Klassenauseinandersetzungen in diese Richtung zu wirken, müssen marxistische RevolutionärInnen einerseits für die zum Sieg notwendigen, militanten Kampfmittel eintreten (Massenstreik, aktiver unbefristeter Generalstreik). Andererseits gilt es, Organisationsformen vorzuschlagen, die die Schlagkraft der Klasse sowie die Eigenständigkeit der Klasse gegenüber der Bürokratie erhöhen und eine  demokratische Kontrolle der AktivistInnen über ihren jeweiligen Kampf ermöglichen. Zentrale Mittel dafür sind Aktions- und Streikkomitees in den Betrieben und Ausbildungsstätten sowie Urabstimmungen über Verhandlungsergebnisse.

Abschließend eine Bemerkung zur Sozialdemokratie. Die SPÖ-Führung unter Alfred Gusenbauer verfolgt weiterhin ihren Kurs, verbale Opposition gegen Sozialabbau mit Vorschlägen für eine Modernisierung des österreichischen Kapitalismus zu verbinden. Allerdings hält sich die Nachfrage nach solchen Ratschlägen seitens der Bourgeoisie in Grenzen – ein Schicksal, dass dem Reformismus oft widerfährt.

Die SPÖ versucht (mit gewissem Erfolg), durch eine Stärkung der traditionellen Arbeitsteilung mit der Gewerkschaftsbürokratie, den Aufschwung der Klassenkämpfe zu nützen, ohne sich deswegen als Verhandlungspartnerin für die Großbourgeoisie zu diskreditieren. Sie überlässt den Abwehrkampf den Gewerkschaften und „unterstützt“ sie auf politischer Ebene (durch parlamentarische Initiativen, Volksbegehren etc.).

In diesen Rahmen gehören auch die Avancen an die FPÖ. Sie sind nicht als ein ernsthaftes Vorspiel für eine rot-blaue Koalition zu werten. Aufgrund der stärkeren Abgehobenheit der Partei von der Gewerkschaft spiegeln sich Klassenkämpfe einstweilen nur im geringen Ausmaß in der Partei wieder. Das kann sich ändern (Ansätze eines linken Flügels gibt es in der Jugendorganisation), steht aber nicht kurzfristig bevor. Ebenso wenig ist mit einem politischen Meinungsstreit innerhalb der Parteibürokratie zu rechnen (auch wenn es durchaus personelle Machtkämpfe geben kann). Insofern sind also in der nächsten Periode die Gewerkschaften als Fokus des Klassenkampfes wichtiger als die SPÖ.

In den kommenden Jahren stehen weitere schwere Angriffe aber auch massive Abwehrkämpfe bevor. Bei den Angriffen wird es sich dabei einerseits möglicherweise um neuerliche imperialistische Kriege handeln, andererseits kommen neue Angriffe auf zentrale Errungenschaften der Arbeiterklasse in den nächsten Jahren so sicher wie die Nacht nach dem Tag. Insbesondere die Privatisierung von traditionellen Bastionen der österreichischen Arbeiterbewegung (der Stahlkonzern Voest, Post, Telekom, Bundesbahn, der Werkzeugstahlerzeuger Böhler Uddeholm) sind bereits heute Brennpunkte des Klassenkampfes. Zusätzlich wird es weiterhin verallgemeinerte Angriffe auf das Pensions- und Gesundheitssystem sowie die Kollektivverträge geben.

Insgesamt haben die Massenproteste und Streiks 2003 gezeigt, dass die neue weltpolitische Periode auch in Österreich Einkehr hält und die Folgen der Nachkriegsordnung auch im Bewusstsein der Arbeiterklasse und der Jugend zertrümmert.

Wir stehen an einem Wendepunkt: Klassenkämpfe, wie sie auch in anderen Ländern in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, sind auch in Österreich in den nächsten Jahren wahrscheinlich. Sie werden sowohl zu einer härteren Vorgangsweise der herrschenden Klasse führen, als auch zu einer Radikalisierung der Arbeiterklasse und ihrer Avantgarde.

 

Fußnoten und Anmerkungen:

(1) Eine ausführlichere Untersuchung des österreichischen Kapitalismus nach dem II. Weltkrieg siehe: Michael Gatter: Gestärkt, aber nicht stark genug. Die Rezession erinnert den österreichischen Imperialismus an seine historischen Schwächen; Revolutionärer Marxismus Nr. 10, 1993

(2 ) Bank Austria: REPORT 4/2003, S. 20

(3) Günther Chaloupek: Ein Jahrzehnt der Stagnation?; Arbeit und Wirtschaft 5/2003, S. 18

(4) Gerhard Fenz, Martin Schneider und Martin Spitzer: Gesamtwirtschaftliche Prognose für Österreich 2003 bis 2005 vom Frühjahr 2003; Österreichische Nationalbank, 20. Mai 2003

(5) Markus Marterbauer, Ewald Walterskirchen: Lohnquote sinkt seit zwei Jahrzehnten;  Arbeit & Wirtschaft, Februar 2003

(6) Alfred Kraus: Von der Arbeit zum Kapital; Arbeit & Wirtschaft, Januar 2003

(7) Friedrich Schneider/Elisabeth Dreer: Privatisierung und Deregulierung in Österreich in den 90er Jahren: Stillstand oder Fortschritt?

(8) Patricia Fahrngruber: Internationale Vermögensposition Österreichs im Jahr 2001; Österreichische Nationalbank: Berichte und Studien 3/2002, S. 52f.

(9) Klaus Gugler: Corporate Governance, Investitionen und Wachstum; Österreichische Nationalbank: Berichte und Studien 1/2003, S. 219

(10) Österreichische Nationalbank: Internationale Verflechtung der österreichischen Wirtschaft weiter gestiegen, 21. Juli 2003, Tabelle 2.1

(11) Österreichische Nationalbank: Internationale Verflechtung der Österreichischen Wirtschaft weiter gestiegen; http://www2.oenb.at/oenb/zabil/direkt_jahreswechsel_2001_2002.htm

(12) Gertrude Tumpel-Gugerell (Vize-Gouverneurin der Österreichichen Nationalbank: World Investment Directory: Central and Eastern Europe 2003, Wien, 9. 4. 2003, http://www2.oenb.at/cgi/reden_p.pl?http://www2.oenb.at/presseaussendungen/

re030408.htm=http://www2.oenb.at/presseaussendungen/*

(13) Ebenda

(14) Rene Dellmour: Osterreichs Direktinvestitionen und die EU-Erweiterung; Österreichische Nationalbank, Berichte und Studien 2/2002, S. 224

(15) The Business Week Global 1000; Business Week, 14.7.2003, S. 48ff.

(16) Markus Marterbauer: Der Verlust des Wachstumsvorsprungs. Österreichs makroökonomische Entwicklung 1970 bis 2000; Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 4/2001

(17) Wirtschaftskammer Österreich: Statistisches Jahrbuch 2003, eigene Berechnungen.

(18) W. I. Lenin: Kapitalismus und Arbeiterimmigration; Lenin Werke, Band 19, S.447

(19) Wiener Zeitung: Arbeitsmarkt: Keine Entspannung, 3. 10. 2003

(20) Eine Autorin der Arbeiterkammer stellt dazu fest: „In den neunziger Jahren hingegen blieben die Löhne und Gehälter der unteren drei Dezile deutlich hinter der Durchschnittsentwicklung von 37% zurück. Währenddessen entwickelten sich die oberen zwei Dezile aufgrund des Anstiegs der Angestellten und Beamt/innengehälter überdurchschnittlich. Eine Verstärkung der Einkommensungleichheit in Österreich in den Neunzigern wird auch in anderen Studien festgestellt…“ (Christa Schlager: Löhne und Gehälter 1980-1999; Arbeiterkammer Wien: Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 3/2001, Wien 2001, S. 357) Siehe auch: Michael Mesch: Vertikale und intraindustrielle Lohnstreuung in Österreich 1980-94; Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 2/2003 sowie: Michael Mesch: Die Branchenlohnstruktur in Österreich 1980-94;  Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 3/2002

(21) Thomas Hirnschrodt/Thomas Höpfl: Reichtum und höhere Einkommen in Österreich; Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften: WISO Heft 4/2002, S. 185

(22) Christa Schlager: Löhne und Gehälter 1980-1999; Arbeiterkammer Wien: Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 3/2001, Wien 2001, S. 348

(23) Arbeit & Wirtschaft, April 2003, S. 13. Als geringfügig Beschäftigte gelten jene, deren Monatseinkommen nicht 309 Euro überschreitet. Sie zählen in den offiziellen bürgerlichen Statistiken nicht zu den unselbstständig Beschäftigten.

(24) Marcel Kirisits: Atypische Beschäftigung; Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 1/2003, S. 50

(25) Christa Schlager: Löhne und Gehälter 1980-1999; Arbeiterkammer Wien: Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 3/2001, Wien 2001, S. 349

(26) Im Oktober 1950 fand ein wilder Massenstreik gegen die Preissteigerungen statt. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie ging mit Prügelgarden gegen den Streik vor, der schließlich – v.a. aufgrund der Politik der Kommunistischen Partei – in einer Niederlage endete. Siehe dazu: ArbeiterInnenstandpunkt Nr. 30, November 1990.

(27) Siehe ArbeiterInnenstandpunkt Nr. 129 sowie diverse Artikel erschienen in unserer Internet-Publikation Red Newsletter. (www.arbeiterInnenstandpunkt.net)

(28) Unter einer „strategischen Niederlage“ verstehen wir eine Niederlage der Arbeiterklasse in einem solchen Ausmaß, dass dadurch für einen längeren Zeitraum hinweg das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zugunsten der Bourgeoisie verschoben wird. Die Arbeiterbewegung bzw. ihre Avantgardesektoren werden also durch diese Niederlage politisch und organisatorisch dermaßen geschwächt und zurückgeworfen, dass ihre Kampfkraft substantiell reduziert wird.