„Empire“: Jenseits des Imperialismus?

Eine Kritik an Negris und Hardts „Empire“

von Rodney Edvinsson und Keith Harvey, Revolutionärer Marxismus 33, Frühjahr 2003

Warum wird eine verschwommene Beschreibung von Ökonomie, Politik und Kultur der gegenwärtigen Ära des globalen Kapitalismus zum Kassenschlager? Obwohl Antonio Negri und Michael Hardt ‚Empire‘ eigentlich als postmodernistische Studie über internationale Beziehungen präsentieren, bietet das Buch eine umfassende, wenn auch obskure Darstellung der Wirtschaft, Politik und Kultur der gegenwärtigen Periode. Tatsächlich ist sein Horizont so umfassend, dass es, ironisch gesprochen, als postmodernistische ‚Meta-Erzählung‘ bezeichnet werden kann. Weil es die Ursprünge, die Entwicklung von und den Widerstand gegen ein System von Ausbeutung und Unterdrückung diskutiert, ist es natürlicherweise von Interesse für Marxisten. Dies umso mehr angesichts des unerwarteten Widerhalls innerhalb der antikapitalistischen Bewegung.

Angesichts dieser Popularität wäre es falsch, ein solches Buch zu ignorieren, da es eine ernste Attacke auf den revolutionären Marxismus darstellt. Obwohl es für seinen Begriff von Imperialismus Unterstützung in marxistischen Darlegungen sucht und mit marxistischer Politökonomie kokettiert, um die Entwicklung des modernen Kapitalismus zu erklären, stellt es einen Großangriff auf den historischen Materialismus dar. Es verspottet den dialektischen Materialismus und behandelt Hegel mit speziellem Hass, seine Erkenntnistheorie (Epistemologie) und Seinslehre (Ontologie) seien völlig subjektivistisch. Die Autoren entleeren die Arbeitswerttheorie ihres wissenschaftlichen Inhalts und ersetzen sie durch idealistischen Klimbim.

Im Unterschied zum Marxismus stützt es sich bezüglich des Wesens des bürgerlichen Staates auf bürgerliche Soziologie (besonders Weber) und bedient sich bei den französischen Strukturalisten und Postmodernisten der 1960er Jahre, um die Mechanismen sozialer Kontrolle im Kapitalismus zu erklären. Es widersetzt sich nicht nur der Identifizierung des produktiven Kerns der Arbeiterklasse als des Subjekts sozialer Veränderung und leugnet, dass die organisierte Arbeiterbewegung das Zentrum des Widerstandsprozesses sein sollte. Es verwirft darüber hinaus komplett den Klassenbegriff und bevorzugt stattdessen die amorphe „Menge“ („Multitude“).

Das Empire-Buch richtet sich gegen alle Konzepte von repräsentativer Führung im politischen Kampf (z.B. die Partei) und vertraut auf eine spontaneistische Entwicklung vom politischem Bewusstsein der durch den Kapitalismus Ausgebeuteten und Unterdrückten. Schließlich verkündet es trotz des Radikalismus seiner Analyse nur ein reformistisches Minimalprogramm – in bewusster Opposition zu einem revolutionären und auf den Aufstand ausgerichteten Modell des Widerstands gegen den Kapitalismus.

Das 21. Jahrhundert war diesem Buch nicht günstig gestimmt. Es wurde im Jahr 2000 veröffentlicht, kurz bevor das Kapern der US-Präsidentschaftswahlen durch George W. Bush es der Lobby von Öl und Rüstungsindustrie erlaubte, eine innen- und außenpolitische Richtung einzuschlagen, die die zentrale These des ‚Empire‘ gründlich zerrieben hat.

Eine neue Weltordnung

Negri und Hardt behaupten, dass die Epoche des Imperialismus in den 1970er und 1980er Jahren zu Ende gegangen war und durch die Ära des ‚Empire‘ ersetzt wurde. Das Empire ist charakterisiert durch viele Eigenschaften, aber wesentlich dafür ist das Ende eines globalen Kapitalismus, der durch blanke imperialistische Expansion unter dem Banner von nationalem Eigeninteresse gekennzeichnet ist (1). An seine Stelle tritt ein neues System, kontrolliert durch multilaterale Institutionen des globalen Regierens.

„Unsere grundlegende Hypothese ist deshalb, dass Souveränität eine neue Form angenommen hat, sie eine Reihe nationaler und supranationaler Organismen umfasst, die eine einzige Herrschaftslogik eint. Diese neue globale Form der Souveränität ist es, was wir Empire nennen“ (S.10).

Dies beinhaltet den „Niedergang der Souveränität von Nationalstaaten“, die der Eckfeiler des Imperialismus (besonders des europäischen) war, der „über fremde Territorien Herrschaft ausübte“ (S.10).

Imperialismus wird dadurch definiert, dass er „eigentlich die Souveränität europäischer Nationalstaaten über deren eigene Grenzen hinaus aus (dehnte)“ (S.10), während „das Empire kein territoriales Zentrum der Macht (etabliert), noch auf von vorneherein festgelegten Grenzziehungen und Schranken (beruht)“ (S.11).

Die neuen Formen und Bewegungsmomente imperialer Politik sind untermauert durch die „Verwirklichung des Weltmarktes“ und dadurch einer „neuen Stufe in der kapitalistischen Produktionsweise“, in der das Modell, gemäß dem Staaten der „Ersten“ Welt die „Dritte“ beherrschen, durch eine Welt ersetzt wird, in der die „Erste“ in der „Dritten“ zu finden sei und umgekehrt.

In der Ära des Empire nach dem Kalten Krieg könne es keine imperialistische Macht mehr geben, die die Hegemonie über andere ausübt.

„Viele siedeln die letzte Entscheidungsgewalt, die über die Globalisierungsprozesse und die neue Weltordnung herrscht, in den USA an. (…) Mit unserer grundlegenden Hypothese, wonach eine neue, imperiale Form der Souveränität entstanden ist, widersprechen wir gleichwohl (…). Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum eines imperialistischen Projekts, und tatsächlich ist heute kein Nationalstaat (dazu) in der Lage. Der Imperialismus ist vorbei. Keine Nation kann in dem Sinne die Weltführung beanspruchen, wie die modernen europäischen Nationen das taten“ (S.11-12). (2)

Sie fahren fort, „dass es wichtig wäre, festzustellen, wie das, was vormals Konflikte und Konkurrenz unterschiedlicher imperialistischer Mächte waren, in wesentlicher Hinsicht ersetzt wurde: durch eine Art einzige Macht, die alle überdeterminiert, ihnen eine gemeinsame Richtung und ein gemeinsames Recht gibt, das entschieden postkolonial und postimperialistisch ist. Das ist der Ausgangspunkt unserer Untersuchung: ein neues Rechtsverständnis oder vielmehr eine neue Art, wie Autorität auftritt, eine neue Weise, wie Normen und andere Zwangsmittel des Rechts geschaffen werden, um Vertragstreue zu garantieren und Konflikte zu lösen“ (S.25).

Dieses Buch wurde in der Periode nach dem Golfkrieg geschrieben und wurde beendet vor den Endstadien der Balkankriege der 1990er Jahre. Es ist stark von George Bushs Proklamation einer neuer Weltordnung von 1990 und dem ‚humanitären‘ ideologischen Touch von Clintons Intervention in Somalia beeinflusst.

Aber Negri und Hardt versuchen, diese Ideologien der US-Außenpolitik der frühen 1990er Jahre in einen viel größeren Rahmen zu setzen – den Ursprung und die Entwicklung der politischen und juristischen Konstitution der Vereinigten Staaten, angefangen mit der amerikanischen Revolution. So hoffen sie zu beweisen, dass die Ideologie der „Neuen Weltordnung“ zusammen mit den weitreichenden Veränderungen auf dem Weltmarkt seit den 1970ern eine logische Fortsetzung eines einzigartigen Konzepts von Politik, Demokratie und Staat ist, wie es in der nordamerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist, das die USA besonders geeignet macht, um den Übergang vom Imperialismus zum Empire voranzutreiben.

Negri und Hardt verwenden einen großen Teil von ‚Empire‘, um die Herkunft und Entwicklung des Begriffs der ‚Souveränität‘ im bürgerlichen (modernen) politischen Denken zurück zu verfolgen. Sie argumentieren, dass – angefangen von der Renaissance – zwei sich widersprechende Formen von Souveränität beobachtet werden können. Die erste sieht die Souveränität in einer transzendenten Macht, die den Frieden über einer Gesellschaft des Kampfes jeder gegen jeden sichert (Hobbes) oder die Ordnung als Resultat eines Sozialvertrags innerhalb der Zivilgesellschaft aufrecht erhält, auf dessen Grundlage Macht aufwärts delegiert wird (Rousseau).

Die zweite Tradition, die bei den französischen revolutionären Demokraten vor dem Thermidor zu finden ist und auf die Gründungsväter der USA nach der Niederlage jener überging, brach mit „der Tradition der modernen Souveränität“ und leitete Souveränität stattdessen aus der republikanischen Form von Demokratie her. In diesem Arrangement entsteht Ordnung nicht dadurch, dass das Volk Macht einem Souverän überträgt, sondern „aus einem Arrangement innerhalb der Menge, aus einer demokratischen Interaktion der miteinander vernetzten Mächte“. Dies wird verkörpert in einer Verfassung, die die Gewaltenteilung und ein System von Kontrolle und Ausgleich sicherstellt und „die Macht in den Händen der Menge belässt.“ (S.173). Daher residiert Souveränität nicht allzeit an einem Platz, sondern „wird ausgeübt innerhalb eines weiten Horizonts von Aktivitäten“.

„Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung feiert diese neue Vorstellung von Macht ganz unverhohlen. Die menschliche Emanzipation von jeglicher transzendenten Macht gründet auf der Macht der Menge, sich eigene politische Institutionen zu geben und eine Gesellschaft zu bilden“ (S.177).

Darüber hinaus ist diese US-gemäße Form von Souveränität expansiv, umfassend und offen, was sie unterscheidet „von anderen, rein expansionistischen und imperialistischen Formen der Expansion“, die ausschließend sind und andere Mächte, die ihnen gegenübertreten, zerstören. „Diese imperiale Expansion hat weder etwas mit Imperialismus zu tun noch mit denjenigen Staatsgebilden, die auf Eroberung, Plünderung, Völkermord, Kolonisierung und Sklaverei ausgerichtet sind. Im Gegensatz zu solchen Imperialismen geht es dem Empire darum, das Modell der Netzwerkmacht auszuweiten und zu festigen.“ (S. 178)

Schließlich ist der Friede im Kern der Expansion des Empire nicht ein Friede, der einer Gesellschaft des Kampfes jeder gegen jeden aufgezwungen wird, sondern ein Friede, der der Gesellschaft immanent ist.

Was diese Beschreibung sehr klar enthüllt, ist die Unfähigkeit ihrer Autoren, zu unterscheiden zwischen der emanzipatorischen Begrifflichkeit der liberalen amerikanischen Revolutionäre mit ihrer Betonung von Gleichheit der Menschen, universellen Rechten und individueller Freiheit einerseits und andererseits den praktischen Realitäten der Politik einer im Entstehen begriffenen und noch fragmentierten Bourgeoisie, die aber schon ihr Führungsrecht über die neu formierte Nation als die Repräsentantin des ‚Volkes‘ beansprucht. Kurz: sie haben keinen Begriff von Liberalismus als Ideologie.

Weit entfernt davon, dass die US-Verfassung ein Ausdruck einer zweiten und ‚horizontaleren‘ Konzeption von Souveränität ist als das der Gesellschaftsvertragstheoretiker, ist sie eine systematische Anwendung der auf Gesellschaftsvertrag fußenden Theorie von der eingeschränkten Regierung, wie sie von John Locke als Rechtfertigung der ‚Glorious Revolution‘ in England von 1688 konzipiert wurde. Wo jedoch Locke den Kompromiss zwischen Krone und Parlament theoretisieren musste, im wesentlichen ein Kompromiss zwischen der neuen herrschenden Klasse und dem immer noch bedeutenden sozialen Gewicht der alten herrschenden Klasse, mussten Jefferson und Co. mit den Spannungen zwischen der Notwendigkeit einer zentralen Gewalt und den unterschiedlichen internen sozialen Strukturen der verschiedenen Teilstaaten fertig werden. Die spezifische Neuerung der resultierenden Verfassung, ihr Föderalismus, war das Ergebnis.

Wenn wir die Unabhängigkeitserklärung (1776), die ursprünglichen Artikel der Konföderation, die Verfassung von 1787, die sie ersetzen, und die Menschenrechtsdeklaration (Bill of Rights) von 1789, die sie ergänzen, vergleichen, sehen wir notwendigerweise Unterschiede von Betonung und Schwerpunktsetzung zwischen egalitären Ansprüchen, lokaler Autonomie, Graden der Repräsentation und den Imperativen einer geeinten Zentralregierung. Indem ihnen nicht nur das Konzept von Ideologie, sondern auch der Dialektik fehlt, sehen Negri und Hardt hier zwei verschiedene Verfassungsmodelle statt eines Modells, das die Widersprüche der zeitgenössischen politischen und sozialen Strukturen verkörpert.

Der folgende Nachvollzug der Entwicklung dieser zwei angeblich verschiedenen Modelle durch Negri und Hardt ist ein Zeugnis ihres „Einfallsreichtums“ in der Interpretation der unangenehmen Realitäten der US-Geschichte. Ihre Methode ist es im Wesentlichen, allen Augenschein, der ihrer Charakterisierung des ‚horizontalen‘ und ‚einschließenden‘ Wesens der US-Verfassung widerspricht, einfach als Ausrutscher zu behandeln.

Allerdings sind die Autoren nicht ignorant gegenüber der wirklichen Geschichte von US-Völkermorden gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern, der hässlichen Geschichte der Sklaverei von Afro-AmerikanerInnen oder den blutigen Kriegen, die von US-Regierungen gegen andere Länder geführt wurden. Wie lässt sich dann diese Geschichte mit der ‚Idee‘ versöhnen?

Erstens mussten die UreinwohnerInnen Amerikas von der ursprünglichen Verfassung ausgeschlossen werden, weil sie nicht in das Verfassungskonzept absorbiert werden konnten, und eliminiert werden mussten, um den Raum zu öffnen; sie waren die „negative Begründung der Verfassung“ (S.182).

Während die Afro-AmerikanerInnen in die Verfassung eingeschlossen waren, wurden sie geringer bewertet als Weiße (wie an der Zahl von Schwarzen gesehen werden kann, die für gewählte Repräsentanten notwendig war gegenüber von Weißen). Dies erkennen Negri und Hardt als Widerspruch an, der „den ideologischen Anspruch auf offene Räume entwertet“, ganz zu schweigen von der „freien Zirkulation, Vermischung, und Gleichheit“ (S.183).

Die brutale staatliche Repression von Arbeiterklasse, der politischen Linken und der Gewerkschaften in der Periode zwischen 1890 und 1918 war ein weiteres Schließen des „offenen inklusiven Raums“ der Verfassung. (3)

Als Resultat dieses inneren Konfliktes mussten sich die USA am Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen zwei Orientierungen entscheiden. Entweder konnte sie den Weg in Richtung der völligen Übernahme des traditionellen Imperialismus nach europäischem Vorbild nehmen, wie dies Theodore Roosevelt vertrat, oder die Herangehensweise von Woodrow Wilson, dem Präsidenten während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, die das Buch beschreibt als „internationalistische Friedensideologie, um die konstitutionelle Vorstellung von der Netzwerkmacht weiter zu verbreiten“ (S.186).

Beide Präsidenten verstanden, dass der heftige Klassenkrieg und die Macht der großen US-Trusts eine interne Lösung für das Schrumpfen des demokratischen Bewegungsspielraums verhinderten, so dass „sich der amerikanische Progressismus nach außen hin verwirklichen musste“ (S.186).

Aber während Theodore Roosevelt „die Barbaren zivilisieren“ wollte, erstrebte Wilson eine neue Weltordnung auf der Grundlage der Ausdehnung des konstitutionellen US-Projekts, mit der „Vision eines Friedens als Ergebnis eines neuen weltweiten Mächtenetzwerks“ (S.187). Negri und Hardt erkennen, dass dies seinerzeit ein utopisches Projekt war.

Konfrontiert mit dem fortwährenden Widerspruch zwischen der realen Geschichte und ihrer Idealisierung der US-Verfassung und der Tatsache, dass die Regierungspolitik gegenüber den amerikanischen UreinwohnerInnen, den Schwarzen, das Eintreten für die Monroe-Doktrin und die US-Handlungen während des Krieges in Vietnam dazu führten, dass „Länder auf der ganzen Welt (…) mittels imperialistischen Techniken beherrscht und ausgebeutet“ (S.190) wurden, machen Negri und Hardt einen gewissen Rückzieher:

„Vielleicht sollte man das, was wir als Ausnahmen von der Entwicklung imperialer Souveränität dargestellt haben, zusammengenommen als ganz reale Tendenz auffassen, als Alternative innerhalb der amerikanischen Verfassungsgeschichte“ (S.188 f.).

Natürlich nur vielleicht! Denn unbeirrt fahren sie fort: „aus Sicht der USA (…) lässt sich der Vietnamkrieg als letzter Moment der imperialistischen Tendenz betrachten und damit als Übergangspunkt hin zu einem neuen Verfassungsregime. Der Weg des Imperialismus europäischer Art war nun ein für allemal versperrt, und fortan würden die USA wieder zu einer angemessenen imperialen Herrschaft zurückkehren und zugleich eine solche neu entwerfen müssen“ (S.190).

Und die Macht, die diesen Wandel hervorgerufen hat, findet sich angeblich im Widerstand der Völker sowohl in Vietnam als auch in den USA, die kräftig die „Prinzipien der konstitutionellen Macht“ bejaht hätten. Dieser Übergang aus den 1970ern eröffnet die vierte Phase der US-Verfassungsgeschichte: das „globale Projekt der Netzwerkmacht“ (S.191), das im Ende des Kalten Krieges und dem Golfkrieg gipfelte.

„Die wirkliche Bedeutung des Golfkriegs liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass die USA die einzige Macht waren, die für internationale Gerechtigkeit sorgen konnte, und zwar nicht aus eigenen nationalen Erwägungen heraus, sondern im Rahmen des globalen Rechts“ (S.192).

Woodrow Wilsons Zeit ist gekommen, wenn auch in der eigentümlichen Verkleidung als George Bush senior. Eine kritische Facette der Herrschaft des Empire war in die US-Außenpolitik der 1990er eingebettet.

„Die imperiale Ordnung lässt sich jedoch nicht durch die bloße Wirksamkeit rechtlicher Sanktion und die zu deren Durchsetzung erforderliche militärische Macht legitimieren. Dies bedarf vielmehr der Setzung internationaler Rechtsnormen, welche die Macht des hegemonialen Akteurs dauerhaft und legal begründen“ (S.192).

George Bush erbte eine Ehrfurcht gebietende Aufgabe: „Nach dem Ende des Kalten Krieges sollten die USA diesen komplexen Entstehungsprozess einer neuen internationalen Rechtsordnung sichern und ihr Rechtswirksamkeit verleihen. (…) Noch einmal sei betont, dass (die US)- Verfassung imperial und nicht imperialistisch ist: sie ist imperial, weil sie im Gegensatz zum Imperialismus, der stets darum bemüht ist, seine Macht linear auf geschlossene Räume auszuweiten und die unterworfenen Länder zu besetzen, zu zerstören und der eigenen Souveränität zu unterwerfen, auf dem Modell beruht, einen offenen Raum neu zu organisieren und unablässig auf unbegrenztem Raum vielfältige und singuläre Netzwerkbeziehungen neu zu schaffen“ (S.193 f.).

So wurde am „Ende der Geschichte“ die Schlacht zwischen der wesentlich offenen, grenzenlosen, einschließenden und globalen Konzeption von politischer Souveränität aus der US-Verfassung und der hässlichen, gewalttätigen, nationalen und imperialistischen Praxis der US-Regierungen schließlich vom Geist der amerikanischen Gründungsväter gewonnen!

So wenig diese Argumentation überzeugt, so liegt die tatsächliche Widerlegung von ‚Empire‘ nicht so sehr in der Geschichte der US-Außenpolitik als vielmehr in deren Gegenwart. Die humanitäre Rhetorik und der Rückgriff auf UNO-Legitimation für US-Aktionen waren sehr kurzlebig. Der Gebrauch von supranationalen Institutionen, um US-imperialistische Interessen zu betreiben, erwies sich in der Mitte der 90er Jahre als zu problematisch und beschränkend und wurde letztlich nach dem 11. September aufgegeben, als die USA zu einer ungeschminkt unilateralen, nationalen Grundlage für ihre Außenpolitik zurückkehrten.

Weit davon entfernt, dass nationalstaatlich basierte imperialistische Ansprüche auf die äußere Welt überflüssig geworden wären, kehrten sie umso heftiger zurück. Die USA suchen keine koloniale Wiederinbesitznahme (‚Nationsbildung‘ im Sprachgebrauch des Weißen Hauses), aber sie vermeidet alle Versuche der Etablierung einer globalen juristischen Gewalt oder von Institutionen, um ihre Handlungen zu legitimieren, jeden Begriff von ‚globalem Recht‘, der nach Negri und Hardt das Herz des imperialen Projekts sei.

In ihrem globalen ‚Krieg gegen den Terrorismus‘ verweigert das Weiße Haus tatsächlich die Anerkennung der Souveränität von Nationalstaaten – außer für sich selbst! Es überwindet nicht das Konzept der nationalstaatlichen Souveränität zugunsten einer Totalität von globalen Rechten, sondern reserviert sich einfach selbst das Entscheidungsrecht darüber, wie viel Souveränität welcher Staaten es als legitim anerkennt. Entsprechend erklärt es seine eigene Freiheit der Aktion, um in die Angelegenheiten aller anderen Staaten zu intervenieren mit der Begründung, seine eigenen ’nationalen‘ Interessen zu schützen.

Frances Fukuyama hat eine bessere Einschätzung der US-Verfassungsgeschichte als die Autoren von ‚Empire‘: „Die Amerikaner neigen dazu, keine andere Quelle von demokratischer Legitimität zu sehen als die des konstitutionellen demokratischen Nationalstaates“ (Los Angeles Times). Jede internationale Organisation kann in den Augen der USA nur dann Legitimität gewinnen, wenn die Machtbefugnisse nach oben hin verhandelt wurden und jederzeit einseitig annulliert werden können.

Wenn irgendwelche imperialistischen Mächte tatsächlich eine organische Tendenz dazu haben, Souveränität nach oben weg vom Nationalstaat zu delegieren, dann sind es die kontinentaleuropäischen. Ironischerweise sehen Negri und Hardt Europa als mit dem Kainsmal aggressiver Kolonisation auf der Stirn gebrandmarkt. Tatsächlich aber zwang die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges die herrschenden Klassen von Deutschland und Frankreich dazu, einen weiteren interimperialistischen Krieg zu vermeiden, der auf Grundlage „der ungezügelten Ausübung von nationaler Souveränität“ entstehen könnte. In diesem Sinn ist das paneuropäische Projekt dieser Nationalstaaten zu verstehen, das tatsächlich ein Versuch ist, den Nationalstaat auf eine regionale Ebene zu heben. Aber das führte die europäischen Mächte dazu, weitaus aktiver als die USA an die ‚internationale Gemeinschaft‘ zu appellieren, um diplomatische oder militärische Aktionen zu legitimieren und zu versuchen, einen internationalen juristischen Rahmen für deren Durchführung aufzubauen.

Negri und Hardt nehmen die US-Rhetorik von der ‚Neuen Weltordnung‘ beim Wort. Aber als die 1990er voranschritten, vergrößerte sich auch der Abstand zwischen der ökonomischen und politischen Macht der USA und der ihrer Rivalen. Mit der Zeit gab ihr dies das Vermögen, die Notwendigkeit von multilateralen Antworten auf die Probleme der Zeit nach dem Kalten Krieg beiseite zu fegen.

Immer öfter werden die Vereinten Nationen übergangen, sogar lächerlich gemacht und andere imperialistische Mächte eingeschüchtert oder ignoriert. Konflikte in Bezug auf Handels- und Umweltregulierungen haben sich vermehrt, nicht verringert. Auch wenn einige konfliktlösende Institutionen intakt bleiben (WTO), sind sie Schauplätze wachsender Antagonismen, während andere an den Rand gedrängt (z.B. UNO) oder neue abgelehnt werden (ICC, der internationale Strafgerichtshof).

Diese Entwicklungen sind insbesondere wichtig, als sie die zentrale Idee der Konstitution des Empire widerlegen, den Übergang „vom traditionellen internationalem Recht, das festgelegt wurde durch Vereinbarungen und Verträge, hin zur Definition und Konstitution einer neuen souveränen, supranationalen Weltmacht.“ (4)

Negri und Hardt glauben, dass die juristische Legitimation für diese imperiale Macht nicht einfach in den globalen multilateralen Institutionen wie den Vereinten Nationen liegen kann oder, wenn sie dies momentan tut, so ist dies nur Teil eines Übergangs zu einer neuen imperialen Ordnung des Rechts. Dies muss so sein, nachdem diese Organisationen selbst vertragsbasierte Mechanismen sind, die auf dem System des Nationalstaates beruhen. Dagegen wäre:

„Der Ursprung der imperialen Normativität (…) aus einem neuen Apparat entstanden, einem wirtschaftlich-industriell-kommunikativen Apparat – kurz: einem globalen biopolitischen Apparat“ (S.54).

Daher würden gesellschaftliche Produktion und juristische Legitimation nicht getrennte Dinge sein, die eine die Basis und das andere der Überbau, sondern beides wäre vermischt: Ökonomie und Politik in Kombination. In ‚Empire‘ ist nicht klar, wie die spezifischen ideologischen oder legalen Komponenten des imperialen Rechts aussehen werden. Aber klar ist, dass es in Richtung supranationale Ideologien geht. Nachdem der globale Kapitalismus ’nahtlos‘ zusammengefügt ist, die Unterschiede zwischen „Erster“ und „Dritter“ Welt hinfällig sind und der Nationalstaat bedeutungslos geworden ist, kann es keine Frage nach Legitimation für Gewalt oder Intervention durch Bezug auf partikulare, egoistische oder beschränkte Interessen mehr geben. Dies würde bedeuten, die Tatsache zu verkennen, dass es im Empire keine ‚externe‘ Welt mehr gibt, in die hinein sich eine andere Entität selbst projizieren kann.

Aber schon vor dem 11. September war klar, dass der US-Imperialismus immer mehr Abstand von einer Welt nahm, die auf multilateralen Verträgen basiert und einen globalen, quasi juristischen Rahmen für seine Handlungen und die anderer Staaten anzuerkennen sich weigerte. Schon beim Amtsantritt zog Bush die Unterstützung der Verträge von Kyoto zurück, die auf eine globale Regulierung von Emissionen abzielten. Seine Regierung fuhr fort, die Vereinten Nationen durch Verweigerung von Beitragszahlungen zu erpressen. Das Weiße Haus intrigierte erfolgreich, um den Vorsitzenden der internationalen Kommission für die Inspektion von Chemiewaffen aus dem Amt zu drängen.

Nach dem 11. September brach die Bush-Administration sogar noch entschiedener mit dem Multilateralismus. Eine neue Doktrin der ‚Prävention‘ wurde ausgerufen, die besagt, dass die USA sich das Recht nehmen, souveräne Staaten zu besetzen und ihre Regierungen zu stürzen, wenn sie sie als feindlich gegenüber US-Interessen ansehen.

Alle früheren größeren Interventionen durch US-Streitkräfte im Ausland waren noch gerechtfertigt worden als basierend auf dem Prinzip der ‚kollektiven Selbstverteidigung‘, z.B. durch regionale Organisationen wie die Südostasienpaktorganisation (SEATO) oder die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Die geplante Invasion im Irak stellt eine noch nie da gewesene Zurückweisung von internationalen legalen Konventionen dar, die solche amerikanischen Präsidenten wie Woodrow Wilson, Franklin Roosevelt und andere unterzeichnet hatten und die von Negri und Hardt als Beispiele für die Doktrin des Empire angeführt werden.

Während des Sommers 2002 erzeugte die Bush-Administration enormen Druck, um Dutzende von Regierungen dazu zu bringen, gegen Maßnahmen nach Artikel 98 zu opponieren, um zu verhindern, dass irgendwelche beschuldigten US-Bürger an den internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden könnten. Ein neues Gesetz, das American Servicemembers‘ Protection Act, ermächtigt zum Gebrauch von militärischer Gewalt, um Beschuldigte aus den USA oder von Verbündeten aus der Haft durch den Gerichtshof, der sich in Den Haag, in den Niederlanden, befindet, zu befreien!

Tatsächlich war diese Weigerung einer Hegemonialmacht, ihre Bürger dem Recht anderer Länder zu unterwerfen, auch ein Kennzeichen des römischen Imperiums und des britischen Empire. (5)

Kürzlich erklärten die USA, dass sie beabsichtigten, die Verhandlungen über den UNO-Plan, eine Konvention gegen Folter durchzusetzen, neu zu eröffnen. Internationale Beobachter sind O.K. im Irak oder in China, aber das Protokoll, das momentan diskutiert wird, könnte einer internationalen Kommission auch erlauben, US-Praktiken zu untersuchen. Auch US-Gefängnisse könnten dann einer internationalen Inspektion unterzogen werden.

Schließlich ist das Pentagon besorgt darüber, dass die Terrorismusverdächtigen, die ohne Gerichtsverfahren und Rechte auf dem Marinestützpunkt Guantanamo und in Afghanistan gefangen gehalten werden, durch eine internationale Menschenrechtskommission besucht werden könnten. Tom Berry bemerkte dazu: „Dieses Protokoll würde nicht nur unsere souveränen Rechte verletzen, Gefangene hart anzufassen oder zu foltern, sondern würde das Recht dazu auch für unser 50- Staaten-System einschränken. Wenn Amerika eine neue außenpolitische Initiative konzipiert, beruft man sich gewöhnlich auf die gottgegebenen US-geschützten Rechte von Freiheit und Freizügigkeit, aber niemandem, wie auch immer, wird es erlaubt sein, uns zur Rechenschaft zu ziehen“.

Berry hat kürzlich die Gesamtheit der Bush-Doktrinen treffend zusammengefasst in der Formel ‚Amerika zuerst‘. Dieses Credo ist zugleich isolationistisch und „internationalistisch“ in dem Sinn, dass die USA einerseits frei gehalten werden von verwickelten Verträgen und Verpflichtungen und andererseits, dass die Administration notwendigerweise ihren großen Prügel und die große Brieftasche im Ausland ausspielen muss, weil ihre nationalen Konzerninteressen weltumspannend sind.

„Amerika zuerst bedeutet die Ausübung von Macht uneingeschränkt von Gesetzen oder Normen. Amerika ist der selbst ermächtigte Exekutor, der ultimative Richter von gut und böse, der einsame Polizist. Als Supermacht gewährleisten wir nicht, dass Gesetze aufrechterhalten werden. Vielmehr stehen wir selbst über dem Gesetz.“ (6)

Unglücklicherweise für Negri und Hardt ist der Übergang zu einer Weltordnung auf der Grundlage von supranationalen Institutionen zum Stillstand gekommen bzw. hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die USA projizieren sich immer mehr in eine externe Welt, um ihre eigenen beschränkten Prioritäten und Interessen einer Welt aufzuzwingen, die sehr verschieden von ihr selbst ist. (7)

Wir sind unmittelbar Zeuge der Verallgemeinerung der besonderen Beziehung, die die USA in den letzten 150 Jahren mit Lateinamerika hatte. Seit Präsident Monroe erklärt hatte, dass die Region der ‚Hinterhof‘ der USA sei, fühlte sich Washington berechtigt, anderen imperialistischen Mächten jegliche Einflussnahme zu untersagen, die nationale Souveränität beiseite zu schieben durch Invasionen (z.B. Kuba, Nicaragua, Haiti, Grenada) gewählte Regierungen zu unterminieren oder zu stürzen – in Zusammenarbeit mit reaktionären einheimischen Kräften (z.B. Guatemala, Chile).

Heute meinen die USA, was gut für Lateinamerika ist, sei gut für den ganzen Planeten. Das Weiße Haus sieht keine Notwendigkeit, die Einflusssphären anderer imperialistischen Mächte oder die Souveränität anderer Nationen zu respektieren. Die vernünftige Erklärung dafür ist „nationales (d.h. Monopol-) Interesse“. Sahen sich die USA unmittelbar nach dem Kalten Krieg noch als ‚erste unter gleichen‘, sehen sie sich jetzt als etwas Besseres als der Rest.

Es ist die Methode von Negri und Hardt, die sie zu verstehen hindert, wie das Partikularinteresse eines einzelnen Nationalstaates sich für die ganze Welt verallgemeinern kann. Für sie wird der Nationalstaat irrelevant durch die „Vollendung des Weltmarktes“, während tatsächlich vor allem ein Nationalstaat vor allen anderen die treibende Kraft hinter dieser ‚Vollendung des Weltmarktes‘ war.

Mit Hilfe der Dialektik können wir verstehen, wie der Weltmarkt sowohl mehr ist als die Summe seiner einzelnen nationalstaatlichen Teile, wie er gleichzeitig eine Funktion von Konkurrenz und Konflikt zwischen Nationalstaaten sein kann, in der einige mehr prosperieren als andere.

Kurz gesagt: Negri und Hardt hätten die fruchtbare Methode der ungleichen und kombinierten Entwicklung verwenden sollen, um die gegenwärtigen internationalen Beziehungen zu studieren!

Imperialismus als Weltwirtschaft

Verfehlen es Negri und Hardt, die Existenz eines postimperialistischen Modells von globaler politischer Souveränität zu beweisen, was ist dann mit ihrem Versuch der Herleitung einer postimperialistischen politischen Ökonomie?

Hier übernehmen sie am meisten Bruchstücke des Marxismus, aber unglücklicherweise plündern sie die falsche marxistische Quelle – Rosa Luxemburg.

Sie stimmen der Marx`schen Theorie des Kapitalismus zu, weil sie richtigerweise den inneren Zusammenhang zwischen dem Kapital und der ihm innewohnenden Tendenz zur Ausdehnung und Überwindung von Grenzen betont. Sie argumentieren dann aber fälschlicherweise, dass Marx den Impuls zu dieser Expansion in der Unfähigkeit gesehen habe, den gesamten produzierten Mehrwert innerhalb des Kapitalkreislaufs selbst zu realisieren. Sie meinen, Marx ginge davon aus, dass die „einzig wirksame Lösung für das Kapital darin besteht, außerhalb des eigenen Bereichs zu suchen und nichtkapitalistische Märkte zu entdecken, auf denen Waren zu tauschen sind und deren Wert realisiert werden kann“ (S.236).

Ihrer Meinung nach lieferte Rosa Luxemburg den theoretischen Rahmen dafür in ihrer Theorie des Imperialismus. Luxemburg ging von einer Kritik an den Marx’schen Reproduktionsschemata im Band II von ‚Das Kapital‘ aus, von denen sie behauptete, dass sie die gefährliche Illusion begünstigten, dass ein stabiles gleichgewichtiges Wachstum in einer geschlossenen kapitalistischen Wirtschaft möglich wäre. Bemerkenswert an ihrer Präsentation von Luxemburg ist, dass Negri und Hardt nicht die Kritik dieser Theorie in Betracht ziehen, die durch Bucharin, Grossmann und viele andere seither geleistet wurde.

Man muss Rosa Luxemburg zugute halten, dass sie nach 1902 versuchte, die revisionistische Behauptung zurückzuweisen, Band II von Marxens Kapital würde beweisen, dass der Kapitalismus endlos zu reproduzieren fortfahren könnte, solange die richtigen Proportionen zwischen den verschiedenen Abteilungen der kapitalistischen Produktion beachtet würden; kurz, dass es keine inhärente Tendenz des Kapitalismus zum Zusammenbruch gäbe.

Sie beharrte darauf, dass der Kapitalismus zum Untergang verurteilt ist, dass der Imperialismus das letzte Stadium des Kapitalismus sei, aber um dies zu „beweisen“, ging sie davon aus, mit ihren revisionistischen Gegnern darin überein zu stimmen, dass Band II tatsächlich das bewiese, was diese behaupteten. Anders als sie schloss sie jedoch, dass Marxens Reproduktionsschemata falsch wären und lehnte sie deshalb als ‚blutleere Fiktionen‘ und ‚leblose Abstraktionen‘ ab, die von logischen Fehlern durchdrungen seien.

Sie begann ihre Kritik an Marx, indem sie sich dieselbe Frage stellte wie Marx selbst in Band II: Wie kann der gesamte produzierte Mehrwert realisiert werden; kurz, wo ist der Markt für die Waren, die diesen Gesamtmehrwert verkörpern, der akkumuliert wird und in die erweiterte Akkumulation eingeht?

Sie behauptete, dass es in Marxens Schemata, in denen nur Arbeiter und Kapitalisten vorkamen, keinen Markt für und keine Konsumenten derjenigen Waren geben könne, die den Teil des Mehrwerts verkörpern, der nicht für die individuelle Konsumtion der Kapitalistenklasse, sondern für Kapitalakkumulation vorgesehen ist (d.h. für die Beschäftigung von mehr Arbeitskraft und Maschinen im nächsten Zyklus der Produktion). Daher beschuldigte sie Marxens Schemata, eine ‚blutleere theoretische Fiktion‘ zu sein, da, wenn der Kapitalismus keinen Markt für seine erweiterte Reproduktion (die das Wesen des Kapitalismus ist) herstellen könne, es einen nichtkapitalistischen Markt geben müsse, was der Ursprung von Imperialismus und seiner Expansion sei.

Aber Luxemburg lag hier falsch. Marx entwarf seine Schemata, um die Möglichkeit zu demonstrieren, dass Kapitalisten und Arbeiter einen ausreichenden Markt für die Realisation des Gesamtmehrwerts liefern, einschließlich des Teils, der für die Akkumulation bestimmt ist. Die Antwort von Marx auf die Frage von Luxemburg war einfach: die Kapitalistenklasse stellt den Markt für die zusätzlichen Mittel von Produktion und Konsumtion direkt und indirekt selbst her, die in Abteilung I (Produktionsmittel) und Abteilung II (Konsumtionsmittel) produziert werden.

Die Unternehmer der Abteilung II brauchen und kaufen zusätzliche Produktionsmittel aus der Abteilung I, die Kapitalisten der Abteilung I nutzen das so erzielte zusätzliche Surplus teilweise, um mehr Arbeitskräfte zu kaufen. Die ArbeiterInnen geben ihre Löhne für zusätzlich in Abteilung II hergestellte Verbrauchsgüter aus.

Alles, was notwendig ist, damit dies funktioniert, ist, dass das korrekte Verhältnis zwischen dem Output von Abteilung I und II gewahrt wird. Luxemburg kannte die Antwort von Marx, aber lehnte sie ab, weil sie sagte, dass dies das Problem bloß in die Zukunft verschob und dadurch behauptete, dass der Kapitalismus unbegrenzt vorangehen könne. Sie verstand nicht Marxens dialektische Methode und was dabei die spezielle Rolle von Band II ist. Luxemburg und die Revisionisten verwechselten Marxens Schemata mit dem real existierenden Kapitalismus. Die Revisionisten hielten sie für eine korrekte Beschreibung, Luxemburg für eine leblose Fiktion, die die tatsächliche Entwicklung des Imperialismus nicht beschreiben könne.

Dagegen waren sie ein unverzichtbarer theoretischer Schritt in seiner Analyse zum konkreten Kapitalismus hin, ein Schritt, den Marx nie für eine genaue Darstellung des Kapitals in der Totalität seiner konkreten Bewegung gesehen hat. Er wollte die Möglichkeit von erweiterter Reproduktion unter allen konkreten Umständen demonstrieren, aber nicht ihre Unvermeidbarkeit.

Marx abstrahiert in seinen Schemata von all denjenigen konkreten Elementen, die zum unvermeidlichen Zusammenbruch der Akkumulation führen – besonders vom Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals und dem tendenziellen Fall der Profitrate, was er nicht vor Band III mit einbezog.

Tatsächlich war Luxemburgs eigene Erklärung für die Expansion des Kapitalismus in keiner Weise eine Antwort, wie Bucharin nachwies. Sie behauptete, dass die nichtkapitalistischen Produzenten erst ihre Güter an die Kapitalisten verkaufen müssten, um ihrerseits die Waren von ihnen kaufen zu können, die den für die Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwerts verkörpern; kurz, es muss Tausch zwischen Kapitalisten und Nichtkapitalisten vorliegen. Aber in diesem Fall ändert der nichtkapitalistische Charakter dieser ‚dritten Personen‘ nichts am Problem, da auf der Ebene der Zirkulationssphäre, auf der sich das Problem stellt, der kapitalistische oder nichtkapitalistische Charakter des Käufers irrelevant ist. Tatsächlich endet Luxemburg dabei, zuviel zu beweisen. Weil die Existenz eines nichtkapitalistischen Markts das Problem, das sich ihr stellte, nicht löste, musste ihre Schlussfolgerung sein, dass kapitalistische Akkumulation überhaupt nicht funktionieren kann!

Warum kramen Negri und Hardt eine im Marxismus längst diskreditierte Imperialismus-Theorie wieder hervor, um ihre Argumentation zu begründen? Nicht, weil sie ein Fünkchen logischer oder empirischer Konsistenz besäße, sondern in ihr eigenes Schema passt: dass der Imperialismus sich externalisiert, bis er alles erreichbare „Andere“ aufgesogen hat, indem er für sein Überleben die Verwandlung der nichtkapitalistischen Länder in kapitalistische betreiben muss. An diesem Punkt muss sich eine Metamorphose des Imperialismus in etwas anderes ereignen.

Für Luxemburg war dieses Andere entweder Sozialismus oder Barbarei, entweder eine fortschrittliche Überwindung der Widersprüche auf der Basis der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, oder ein Rückfall.

Für Negri und Hardt dagegen werden die Widersprüche der imperialistischen Stufe auf der Basis des Privateigentums überwunden und führen daher zu einer fortschrittlicheren, postimperialistischen Form des Kapitalismus.

„Gleichwohl muss man doch sagen, dass die Errichtung des Empire einen Schritt nach vorn markiert…Das Empire ist also in dem Sinne besser, in dem Marx darauf bestand, dass der Kapitalismus besser sei als die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen, die ihm vorausgingen…Entsprechend können wir heute sehen, wie das Empire die grausamen Regime moderner Macht wegwischt und sich dabei das Potenzial der Befreiung verstärkt“ (S.57). (8)

Folgerichtig lehnen Negri und Hardt die Verteidigung von Nationen ab, selbst wenn dies ein „Instrument der Verteidigung gegen die Beherrschung durch ausländisches und/oder globales Kapital“ (S.58) ist. Sie sehen die Verteidigung des ‚Lokalen‘ als bedeutungslos an, angesichts der Durchdringung des ‚Globalen‘, die diese Unterscheidung irrelevant macht. Offensichtlich sind sie auch in diesem Punkt ‚Luxemburgisten‘. Man kann dem Empire nur von innen widerstehen – mit einer Totalisierung des Widerstandes. Daher ist die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Staaten in einem qualitativen Sinn ausgelöscht worden. (9)

Die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Kapitale verschwinden ebenfalls. Eine wirklich globale Macht formiert sich, im Unterschied zum alten Imperialismus, der auf der Souveränität von Nationalstaaten beruht. Lenins Prinzip, dass Imperialismus zum Weltkrieg führt, der die Welt an den Rand der Barbarei bringt, gilt nicht mehr im Empire. Dieses könne eine friedlichere Beziehung zwischen den alten imperialistischen Mächten herstellen. Auch wenn Gewalt und kleinere Kriege eine fortgesetzte Rolle spielen, um die Unterdrückten der Herrschaft des Empire zu unterwerfen, so sind dies eher Polizeiaktionen als Kriege zwischen vergleichbar starken Mächten.

Dieses ganze Szenario beruht jedoch auf der falschen Ausgangstheorie von Luxemburg. Ohne diese haben unsere Theoretiker nichts, womit sie die innere Natur und Widersprüchlichkeit der imperialistischen Etappe des Kapitalismus ‚erklären‘ könnten; nichts, was auf eine postimperialistische Etappe des globalen Kapitalismus hinweisen könnte. Sie versäumen es, zu beweisen, dass der Kapitalismus über den Imperialismus hinausgehen muss, um zu überleben, weil sie mit Luxemburg bei einem Scheinproblem aussteigen. Wenigstens versuchte Luxemburg, die Zusammenbruchstheorie (letztes Stadium des Kapitalismus) gegen revisionistische Versuche zu beweisen, dass der Kapitalismus unendlich fortschreiten könnte, aufrecht zu erhalten. Negri und Hardt dagegen stimmen letztlich mit den Revisionisten darin überein, dass sich der Kapitalismus endlos reproduzieren könne.

Was für sie passiert, ist, dass das ‚Äußere‘ erobert wurde. Alles ist heute ‚innerhalb‘ des Kapitalismus. Der Kapitalismus löst die Widersprüche, die durch das Aufsaugen der Welt entstanden sind, durch Akkumulation auf einer intensiveren Ebene. Hier treffen sie (S. 237 f.) eine Unterscheidung zwischen formaler und realer Subsumtion der Arbeit, eine von Marx übernommene Begrifflichkeit. Die formelle Subsumtion der Arbeit besteht in quantitativer Ausdehnung von Arbeit, einem Prozess, der vor allem die Form der Ausdehnung der Grenzen des kapitalistischen Marktes annimmt, d.h. einer Form der extensiven Akkumulation. Reale Subsumtion dagegen resultiert aus einer Intensivierung der Kapitalakkumulation. Für Negri und Hardt macht es den Übergang von Imperialismus zu Empire aus, wenn die reale Subsumtion die dominierende Rolle zu spielen beginnt. Sie erläutern jedoch nicht genau, wie denn dies erklären kann, dass das Empire das überwinden kann, was nach ihnen die Krise des Imperialismus ausmacht – das Fehlen eines nichtkapitalistischen Sektors.

In Lenins Imperialismustheorie, seiner Definition in fünf Punkten, ist der nichtkapitalistische Sektor weder notwendige Voraussetzung von Kapitalismus noch von Imperialismus. Kapitalismus kann als geschlossenes System existieren. Imperialismus kann eine Beziehung zwischen Kapitalismus und einem nichtkapitalistischen Wirtschaftssystem sein, aber er kann sich auch manifestieren im Zusammenprall von einem stärkeren und einem schwächeren Kapitalismus. Imperialismus ist kein Weg, das Problem der Realisierung des Mehrwerts zu lösen, sondern neue Felder der Kapitalakkumulation zu finden, vor allem in der Form des Kapitalexports.

Kapital kann auf Kosten nichtkapitalistischer Organismen expandieren, aber auch auf Kosten anderer Kapitale oder durch deren Einverleibung; daher läuft die Tendenz zu Konzentration und Zentralisation parallel zum Prozess der Zerstörung der nichtkapitalistischen Formen. Imperialismus ist eine Kombination dieser beiden Phänomene. Ob dies mit Hilfe militärischer Eroberung erreicht wird oder ob es möglich ist, formal unabhängige Länder auszubeuten, was Lenin ‚Halbkolonien‘ nennt, hängt völlig von den Umständen und Mächtegleichgewichten ab.

Das Argument, dass der Kapitalismus zu einem Stadium der intensiveren Akkumulation übergegangen sei, weil er die ganze Welt erobert hat, ist ebenso anzweifelbar. Der Zusammenbruch des Stalinismus hat ein Drittel der Welt für eine weitere extensive Akkumulation geöffnet und viele kapitalistische Länder der „Dritten“ Welt dazu gezwungen, sich weiter für imperialistisches Kapital zu öffnen. Das ganze Niveau von Kapitalexport aus den imperialistischen Ländern in nichtimperialistische Gebiete hat sich in den 1990ern dramatisch erhöht, also gerade in dem Zeitraum, in dem angeblich das Empire geboren wurde. In diesem Sinne wäre es richtiger davon zu sprechen, dass die 1930er, 1950er oder 1960er Jahre Perioden geringerer extensiver Akkumulation waren als die 1990er!

Es gibt keine Notwendigkeit, dem von ‚Empire‘ empfohlenen Weg zu folgen, um die Veränderungen und Sprünge in der Entwicklung des Imperialismus der letzten 100 Jahre zu erklären. Die Schlussfolgerung von Negri und Hardt, dass der Imperialismus sich in das Empire verwandeln musste, das auf der Basis von multilateralen Agenturen einer ‚protoweltweiten Regierungsfähigkeit‘ herrscht und interimperialistische Widersprüche unterdrückt, fließt aus ihrer vereinfachenden Gleichsetzung von Imperialismus mit dem altmodischen europäischen Kolonialismus.

Wenn man ihre Analyse verwirft, so heißt dies nicht, dass keine wichtigen Veränderungen innerhalb des Imperialismus vor sich gegangen wären. Nach der Wirkung von zwei Weltkriegen und einer tiefen Depression in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden bestimmte Merkmale des Imperialismus sicherlich abgeschwächt. Es gab eine gewisse Verringerung der Hegemonie des Finanzkapitals gegenüber Industrie und Handel, zwischenimperialistische Rivalitäten ließen nach und es kam zu einer langen Boomphase. All dies war das Ergebnis gewaltiger Kämpfe und des Zwangs zur Veränderung, wenn das kapitalistische System überleben sollte. Während dieser Periode erlangte der US-Imperialismus offensichtlich eine Vormachtstellung gegenüber den niedergehenden europäischen Imperialismen. Er fand es aber trotzdem notwendig, seine Ziele durch den Aufbau globaler Agenturen zur Überwachung von Weltmarkt und Weltpolitik zu verfolgen: GATT, IWF, Weltbank, die UNO und ihre Unteragenturen. Wenn das Empire je nahe daran war, realisiert zu werden, dann war dies in der Periode zwischen 1945 und 1973.

Was wir seither unter dem Namen Globalisierung erleben, ist nicht der Übergang in eine postimperialistische Periode, sondern ein Sich wieder geltend machen zahlreicher wesentlicher Merkmale des Imperialismus, wie sie im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert erschienen waren, aber in der Periode nach dem 2. Weltkrieg ausgesetzt oder untergeordnet waren.

Globalisierung ist eine Phase innerhalb des Imperialismus und eine Intensivierung davon. Es ist die jüngste Phase der imperialistischen Epoche und reicht zurück in die 1980er, als die USA eine politische und ökonomische Offensive mit dem Ziel starteten, ihre Hegemonie über die „3. Welt“ und ihre imperialistischen Rivalen wiederherzustellen. Sie wurde charakterisiert durch eine Verbreiterung und Vertiefung der Dominanz des Finanzkapitals auf dem ganzen Planeten. Sie verbreiterte die imperialistische Herrschaft, indem nichtkapitalistische Regionen wie UdSSR, Osteuropa, China, die vorher ihrem Zugriff entzogen waren, durchlässig wurden und nach 1989 wieder einverleibt werden konnten.

Es war eine Vertiefung insofern, als die Beschränkungen für die Mobilität und die Formen des Finanzkapitals, wie sie aus der Periode zwischen 1928 und 1945 ererbt wurden, Schritt für Schritt und grundlegend verändert werden; die Hindernisse für Handel und Investitionen im Süden für die multinationalen Konzerne des Nordens wurden niedergerissen; bestehende internationale Wirtschaftsinstitutionen (IWF, Weltbank) wurden endgültig transformiert in reine Zwangsvollstreckungsagenturen, neue wurden gebildet (WTO), um die aggressiven Feldzüge der Multis für ihre Privateigentumsansprüche zu unterstützen; der Einfluss des Big Business auf Regierungen wurde enorm gestärkt; schließlich waren Aktienboom und Schuldenausdehnung die Achse von ‚Wohlstandsschöpfung‘ und der Motor einer fieberhaften Runde von Konzentration und Zentralisation des Kapitals.

Es ist eine legitime Frage, wie die neue Phase des Imperialismus am besten zu kennzeichnen sei. Eine Möglichkeit wäre, den ‚alten‘ Imperialismus, wie ihn Lenin beschrieben hatte, als einen auf Nationalstaaten basierten zu beschreiben, im Gegensatz zu einer neuen Phase eines ‚globalisierten Imperialismus‘. Natürlich ist dies, wie bei jedem Schlagwort, eine Verkürzung, da der Nationalstaat weiterhin eine zentrale Rolle spielt, und andererseits die Globalisierung kein neues Phänomen ist. Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass die alte Periode eher eine der Expansion des Nationalstaates war, während heute eher die Tendenz zum Entwachsen aus der nationalstaatlichen Form zu sehen ist, wie z.B. bei der Europäischen Union, ohne dass sich tatsächlich so etwas wie ein globaler Staat herausbilden würde. Die Schlüsselrolle, die hierbei der US-Imperialismus spielt, ist zum Teil gerade dadurch begründet, dass die USA selbst eine modernere Staatsformation waren, die nie auf ‚Nationalität‘ beruht hat, und deren historisches Wachstum über einen ganzen Kontinent nur mit episodischen Konflikten mit anderen, vorher existierenden Staaten verbunden war.

Die Phase des globalisierten Imperialismus kann durch folgende Merkmale charakterisiert werden, die teilweise eine Aktualisierung der 5-Punkte-Definition des Imperialismus durch Lenin sind:

• Vertiefung der Kapitalisierung und Industrialisierung der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens – gesellschaftliche Reproduktion, Zirkulation, Informationsverarbeitung, Reproduktion von menschlichem Leben und Fähigkeiten etc., vorangetrieben durch eine Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien (IT). Dies ist die sog. dritte industrielle Revolution, zu deren Auswirkungen auch ein signifikanter Anstieg weiblicher Beschäftigung, ergo eine Erosion patriarchaler Strukturen und eine Privatisierung des öffentlichen Sektors gehören. Der industrielle Sektor bleibt jedoch der Motor der Ökonomie, da der Kapitalismus nicht zu einer vollständigen Kapitalisierung der dem menschlichen Leben eigenen Produktivkräfte – Kenntnis und Geschick – fähig ist.

• Tendenz zu einer vertieften Globalisierung der Produktivkräfte und Verwischung von Grenzen. Diese ‚zweite Welle der Globalisierung‘ nach der ersten zu Beginn des Imperialismus wurde gesellschaftlich durch eine größere Deregulierung des Kapitalflusses und technologisch durch die IT-Revolution möglich, die es der globalen Ökonomie erlaubt, in Realzeit zu funktionieren, als eine de facto Produktionseinheit. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Öffnung der „3. Welt“ für das imperialistische Kapital sind Konsequenzen einer gescheiterten Strategie der Entwicklung ‚abgeschottet‘ von der Weltwirtschaft, was seinerseits dem Imperialismus ermöglichte, den Rest der Welt zu dominieren. Jedoch ist Globalisierung nur eine Tendenz. Eine vollständig globalisierte kapitalistische Ökonomie wird aufgrund der Widersprüche im Kapitalismus nie erreicht werden. Eine Konsequenz davon ist, dass parallel dazu eine Regionalisierung abläuft, die ihrerseits die Globalisierung zum Teil unterminiert.

• Bewegung weg vom Fordismus, wie er unter dem nationalstaatlich basierten Imperialismus vorherrschte, zu einer flexibleren Arbeitsorganisation, zur ‚lean production‘, und dazu, den Arbeitern sowohl mehr „Autonomie“ zu geben als auch ausgeklügeltere Formen der Kontrolle über sie zu entwickeln. Fordismus verschwindet nicht komplett, besonders in den neu industrialisierten Gebieten, aber mit der immer umfassenderen Automatisierung von Routinearbeit stirbt er langsam ab. Die Tendenz zu stets gesteigerter materieller Konzentration von produktivem Kapital im Großbetrieb kommt zum Stehen, ebenso wie die Dequalifizierung der ArbeiterInnen, zumindest in den entwickelten Teilen der Weltwirtschaft. Auslagerungen und eine größere Betonung spezialisierter Qualifikation sind zwei der Konsequenzen. Gleichzeitig stehen dem vertiefte Zentralisation des Kapitals auf globaler Ebene, eine Fusionsmanie, nachdem die IT-Technologie die Kontrolle über den Arbeitsprozess ermöglicht, wo immer er ausgeführt wird, und die Formung solcher globalen Einheiten kostengünstig durchführen lässt, in Nichts nach. Schließlich verwickelt sich dieser Prozess durch die Anarchie des Marktes in Widersprüche, die das Potenzial von Flexibilität und Verantwortungsdelegation an die Arbeitenden unterminieren. Die menschlichen Fähigkeiten lassen sich nicht vollständig kapitalisieren.

• Das Monopolkapital entwickelt sich weg von einer Phase, in der es vor allem auf die Monopolisierung nationaler Märkte gegründet war, zu einer, wo die Monopolstellung auf ganzen Kontinental-, ja sogar weltweiten Märkten, unverzichtbar wird. Die großen globalen Konzerne entkoppeln sich teilweise vom angestammten nationalen Markt, sind in der Lage, einen Staat gegen den anderen auszuspielen und unterminieren so die alte Form des keynesianischen ‚Staats-Monopol-Kapitalismus‘, zumindest periodisch, solange zwischenimperialistische Rivalitäten nicht eskalieren.

• Bankenkapital, Kapitalexport, Aktienmärkte, Versicherungen, Anleihemärkte, Pensionsfonds und andere Formen des Finanzkapitals der verschiedenen Nationalwirtschaften fusionieren in einem globalisierten Finanzmarkt, der die verschiedenen Formen und Ursprünge des Kapitals verwischt. Auch hier waren Deregulierung und IT-Technologie entscheidend. Ein solcher Finanzmarkt erlaubt die Mobilisierung von Kapital auf einer globalen Ebene und eine vertiefte Durchdringung der imperialisierten Welt durch imperialistisches Kapital. Gleichzeitig erhöhen diese Märkte die Instabilität der gesamten Weltwirtschaft und erzeugen das Gespenst eines globalisierten Finanz-GAUs.

• Schwächung des Nationalstaates, Tendenz zur Formierung von kontinentalen und globalen Organen zur Kontrolle der Weltmärkte, im Gegensatz zu alten Formen des Imperialismus, der vor allem auf der Ausdehnung von Nationalstaaten der herrschenden Mächte gegründet war. Zwischenimperialistische Rivalitäten dagegen werden auf eine höhere Ebene gehoben und unterminieren die Möglichkeit der Formierung eines globalen Staates. Sie verschieben sich von Konflikten zwischen Nationalstaaten zu solchen zwischen Kontinentalblöcken oder supranationalen Staatsgebilden. Aufgrund der vielfach gesteigerten Destruktivkräfte bedeutet ein moderner ‚globaler Krieg‘ im Gegensatz zu den zwei ‚Weltkriegen‘ die Bedrohung der Auslöschung der Menschheit als ganzer.

Die Beziehung von Negri und Hardt zur Postmoderne

‚Empire‘ ist ein Werk des Postmodernismus, aber eines, das sich auf den Marxismus bezieht, sobald die Autoren meinen, dass postmoderne Gedanken sich als ungenügend erweisen. In ihrer grundlegenden Behandlung der Frage der Macht in einer kapitalistischen Gesellschaft sind sie jedoch eindeutig Schüler von Foucault. Dessen Werk bezeichnet den Weg von der ‚Disziplinargesellschaft‘ in die ‚Kontrollgesellschaft‘. Erstere ist eine Gesellschaft, in der Herrschaft über Apparate ausgeübt wird, die Verhalten regeln. Dies schließt Institutionen wie Gefängnisse, Fabriken und Schulen ein.

Die ‚Kontrollgesellschaft‘ ist eine, in der die Mechanismen von Herrschaft immer demokratischer werden, aber ebenso in den Köpfen und Körpern der Beherrschten internalisiert sind. Kontrolle ist „immer stärker immanent und auf die Köpfe der Bürger verteilt“ (S.38) und beruht weniger oder gar nicht auf extern auferlegten Normen. „Machtausübung findet durch maschinische Systeme statt, die direkt auf die Köpfe wirken (Kommunikationssysteme, Informationsnetzwerke etc.), die Körper organisieren (Sozialsysteme, kontrollierte Aktivitäten etc.) und einen Zustand autonomer Entfremdung (vom Sinn des Lebens, vom Wunsch nach Kreativität) herbeiführen“ (S.38).

Das ist es, was Negri und Hardt unter der biopolitischen Natur von Macht verstehen. „Biomacht ist eine Form, die das soziale Leben von innen heraus Regeln unterwirft, es verfolgt, interpretiert, absorbiert und schließlich neu artikuliert. Die Macht über das Leben der Bevölkerung kann sich in den Maß etablieren, wie sie ein integraler und vitaler Bestandteil eines jeden individuellen Lebens wird, den die Individuen bereitwillig aufgreifen und mit ihrem Einverständnis versehen weitergeben“ (S.38 f.). (10) In der Kontrollgesellschaft sind alle wechselseitigen Beziehungen des Kapitalismus – wirtschaftlich, politisch, kulturell – vollständig realisiert und kombiniert. Daher ist die Zivilgesellschaft im Staat aufgesogen. Alle Zwischenformen der Verhandlung oder Vermittlung von Macht und Gewinnung von Legitimation (z.B. kontraktbasierte Regeln) sind zum Untergang verurteilt. „Die Legitimierung der internationalen Ordnung stellt sich nicht mehr durch Mediatisierung her, sondern muss unmittelbar durchgesetzt werden, inmitten der Vielfalt“ (S.40).

Negri und Hardt meinen jedoch, dass Foucault es nicht verstand, die Biomacht in der Produktion zu begründen. Während er versuchte, „Auffassungen des historischen Materialismus…hinter sich zu lassen, die das Problem der Macht auf der Ebene des Überbaus behandelten, von der realen Basis, von der Produktion getrennt“ (S.42), hatte Foucault ihrer Ansicht nach keinen Begriff davon, was das System als Ganzes antreibt; als Strukturalist betrachte er nicht die Dynamik im Systemganzen. Er verharre im ‚Diskurs‘ und sehe keine Notwendigkeit der Aufdeckung eines von der Erscheinung verschiedenen Wesens.

Negri und Hardt behaupten, dass spätere Postmodernisten wie Deleuze und Guattari in dieser Hinsicht Foucault auf eine Art verbesserten, die „materialistische Positionen erneuert und mit der Frage nach der Produktion des gesellschaftlichen Lebens fest verbunden ist“ (S.43). (11) Aber auch ihre Sicht von Produktion und sozialer Reproduktion ist immer noch ‚chaotisch, unbestimmt‘. Ein besseres Verständnis der Beziehung von Biomacht und gesellschaftlicher Produktion würden wir bekommen „mit Arbeiten einer Reihe zeitgenössischer marxistischer Autoren aus Italien, die die biopolitische Dimension als neues Moment der produktiven lebendigen Arbeit und ihrer Entwicklung in der Gesellschaft behandeln. Sie verwenden Begriffe wie ‚Massenintellektualität‘, ‚immaterielle Arbeit‘ und das Marx’sche Konzept des ‚allgemeinen Intellekts‘ „ (S.43).

Diese Autoren erkennen eine Tendenz, dass Arbeit immer mehr immateriell wird. „Die zentrale Rolle bei der Produktion des Mehrwerts, die früher der Arbeitskraft der Fabrikarbeiter, dem ‚Massenarbeiter‘, zukam, spielt heute überwiegend die intellektuelle, immaterielle und kommunikative Arbeit“ (S.43). Trotzdem bleiben für Negri und Hardt „wesentliche Verkürzungen“, weil in diesen Theorien die Begriffe auf einer abstrakten Ebene bleiben. „In diesen Arbeiten wird das Eingelassensein der Produktion in den biopolitischen Kontext fast ausschließlich als Problem der Sprache und der Kommunikation präsentiert“ (S.44).

Negris und Hardts Bestreben ist es, alle drei Aspekte der immateriellen Arbeit zu integrieren: „als kommunikative Arbeit in der industriellen Produktion, die neuerdings in Netzwerken der Information verknüpft ist; als interaktive Arbeit im Umgang mit Symbolen und bei der Lösung von Problemen; und als Arbeit bei der Produktion und Manipulation von Affekten“ (S.44).

Auf diesem Weg kommen Negri und Hardt bei ihrem Verständnis des globalisierten Kapitalismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als dem produktiven Herz der biopolitischen Welt an: „Die großen transnationalen Konzerne schaffen in gewisser, entscheidender Weise das grundlegende Geflecht von Verbindungen in der biopolitischen Welt“ (S.46). Dabei ist die Kommunikationsindustrie entscheidend, denn „Kommunikation ist nicht nur ein Ausdruck der Globalisierung, sondern organisiert deren Lauf“ (S.47). (12)

In dieser Weltsicht sind Macht und Legitimation der Weltordnung nicht ‚außerhalb‘ der Produktion angesiedelt. Sie entstehen nicht aufgrund von „vormals existierenden internationalen Vertragswerken, noch ersten, embryonal entwickelten supranationalen Organisationen…“ (S. 47 f.), sondern „zumindest teilweise aus der Kommunikationsindustrie, also der Transformation der neuen Produktionsweise in eine Maschine: ein Subjekt, das sein eigenes Bild der Autorität produziert“ (S.48). Diese Legitimation „beruht auf nichts außerhalb seiner selbst“ (S.48).

So weit kombinieren Negri und Hardt also eine postmodernistische Sicht der Macht mit einem ‚marxistischen‘ Versuch, diese in der Natur des modernen Kapitalismus zu begründen, statt die Analyse auf der Ebene von ‚Zeichen‘ und ‚Diskursen‘ über diese Zeichen zu belassen. Wir werden später sehen, wie erfolgreich ihr Versuch ist, die Natur des modernen Kapitalismus zu erklären. Hier sollten wir nur bemerken, dass sie in allen anderen Aspekten ihres Werks dem Marxismus und seiner Methode gegenüber feindlich eingestellt sind.

Sie reservieren einen besonderen Hass für die Dialektik und versuchen, den ‚Materialismus‘ davor zu ‚retten‘. (13)

Sie begrüßen den postmodernistischen „Angriff auf die Dialektik als der zentralen Logik von moderner Herrschaft, Ausschließung und Kommandierung sowohl durch ihre Verbannung der Vielzahl von Unterschieden durch Reduktion auf binäre Entgegensetzungen als auch ihre darauf folgende Subsumtion dieser Gegensätze in einer monistischen Einheit…Das postmodernistische Projekt muss nicht-dialektisch sein.“ (14) Die philosophische Hauptkritik des Postmodernismus am Marxismus ist dessen Eintreten für die Dialektik. Die Attacke auf die Dialektik wird auf zwei Ebenen geführt. Erstens gegen die Dialektik als Methode zum Verständnis einer Welt im Prozess ihrer Veränderung; zweitens gegen die Sicht, dass Dialektik eine innere Eigenschaft der objektiven Welt ist, außerhalb des Denkens. Wie sie sagen: „Wirklichkeit und Geschichte…sind nicht dialektisch, und keine noch so idealistischen rhetorischen Verrenkungen können sie der Dialektik anpassen“ (S.144).

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten die ‚Revisionisten‘, Marx von Hegel und dessen Dialektik zu säubern und an dessen Stelle Kant zu setzen. Negris und Hardts postmarxistisches Projekt versucht dasselbe mit Spinoza anstelle von Kant. Was in beiden Fällen bekämpft wird, ist der dialektische Begriff von notwendigen inneren Widersprüchen des Kapitalismus, die, wenn zugespitzt, dazu tendieren, das System von innen her zur Explosion zu bringen.

Spinoza ist vor allem wegen seiner pantheistischen Idee, dass Gott überall, ‚immanent‘ in der Welt ist, bekannt. Es gibt nur eine Substanz auf der Welt, Gott oder Natur sind nur verschiedene Attribute derselben Substanz. Dies kann als primitive Form des Materialismus gesehen werden, da es annimmt, dass die Natur durch sich selbst erklärt werden kann und nicht durch etwas Transzendentes, über ihr stehendes. Dies war natürlich in der Zeit, in der Spinoza lebte, eine revolutionäre Idee – im 17. Jahrhundert!

Was viele gegenwärtige Autoren, die vom Postmodernismus beeinflusst sind, an Spinoza anzieht, sind die Ideen von Immanenz und Unmittelbarkeit. In ihrer Lesart von Spinoza hat das Subjekt einen unmittelbaren Zugang zur objektiven Realität; tatsächlich sollte kein Unterschied gemacht werden zwischen Natur und Subjekt. Das Subjekt ist die Natur und umgekehrt. Daher kann das Subjekt auch kein ‚falsches Bewusstsein‘ seiner Bedingungen haben: Was du siehst, ist, was es gibt. Sie lehnen den Versuch ab, hinter die Erscheinung auf eine tiefere, zugrunde liegende Realität zu blicken, was diese Unmittelbarkeit zwischen Subjekt und Natur widerlegen würde. Materialistische Dialektik leugnet nicht, dass Ideen, Subjekte und die objektive Welt zur selben materiellen Realität gehören. Aber dies heißt nicht, dass es keine Unterschiede innerhalb dieser Welt, z.B. verschiedene Ebenen von Existenz und Priorität zwischen Subjekt und Objekt gibt.

Entsprechend der Dialektik hat das Subjekt die Möglichkeit zur Erkenntnis des Objekts. Sie steht damit im Gegensatz zu Kant, der es für sinnlos hielt, über das ‚Ding an sich‘ zu sprechen, da wir es nur erkennen können, so wie es uns erscheint.

Doch diese Zurückweisung Kants bedeutet nicht, dass das Subjekt einen unmittelbaren Zugang zum Objekt oder anderen Subjekten hat. Nur durch einen dialektischen Prozess der Vermittlung kann das Subjekt einem genauen Verständnis des Objekts näher und näher kommen, indem die erste Wahrnehmung gegen die Realität getestet wird, durch weitere Untersuchung ein entwickelterer Begriff der Wirklichkeit erreicht und wieder an der Realität getestet wird. Diese Herangehensweise wird in der Naturwissenschaft leicht verstanden, wo die Sinne künstlich erweitert werden und die Modelle in der Realität im Experiment getestet werden. Dieser Prozess der Approximation in der Erkenntnis des Objekts kann jedoch leicht auf andere Bereiche übertragen werden, ohne zu glauben, dass eine vollständige Erkenntnis, eine volle Übereinstimmung von Subjekt und Objekt je erreicht wird. Dies ist unmöglich in einer Welt, die durch beständige Veränderung gekennzeichnet ist. Ein Ding ist niemals sich selbst gleich, auch wenn wir so handeln müssen, als sei dies so.

Die von Spinoza inspirierten Postmodernisten dagegen beschuldigen die Dialektik, dass sie im Subjekt etwas der Natur transzendentes, nicht immanentes sehen, den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen. Während ein Neo-Kantianer sagt, dass wir nichts hinter der Erscheinung erkennen können, also kein „Ding an sich“, meint der Neo-Spinozist, dass die Realität die Erscheinung ist, dass das „Ding an sich“ dasselbe sei wie das „Ding für uns“. In beider Sicht wird ein wesentlicher Aspekt der Dialektik als bedeutungslos verworfen: die Anerkennung einer verborgenen ontologischen Tiefe in der Realität, einer widersprüchlichen Logik unterhalb der Oberfläche.

Wir können sehen, wohin dies bei Negri und Hardt politisch führt: sie sind zufrieden damit, eine zusammenhanglose Vielzahl von Prozessen zu betrachten, ohne irgend einen Zusammenhang darin aufzeigen zu können, der sie befähigen würde, eine allgemeine Strategie zur Veränderung der Welt zu formulieren. (15)

Eine andere Quelle der Konfusion, die aus dieser Beweihräucherung der Erscheinung herrührt, ist ihre Weigerung, klare Unterscheidungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wie auch zwischen ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau zu treffen. „Gesellschaftliche Produktion und Legitimation dürfen deshalb nicht als primär und sekundär, noch als Momente von Basis und Überbau angesehen werden. Sie stehen vielmehr in einem Verhältnis absoluter Parallelität und Vermischung, sie entsprechen einander in einer biopolitischen Gesellschaft“ (S.55).

Dieses Durcheinanderwürfeln von Basis und Überbau führt sie z.B. dazu, zu sagen: „Das Empire ist also in dem Sinn besser, in dem Marx darauf bestand, dass der Kapitalismus besser sei als die Gesellschaftsformationen und Produktionsweisen, die ihm vorausgingen“ (S.57). Auch wenn sie hier Marx anführen, um ihre Behauptung zu unterstützen, gibt es hier einen klaren Unterschied zu seiner Methode. Marx sah die kapitalistische Produktionsweise als progressiver als frühere, eben weil es eine neue Produktionsweise war. Er fand, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendig war, um die neuen Produktivkräfte der industriellen Produktion zu entwickeln, unabhängig von den grausamen Handlungen der entstehenden herrschenden Klasse oder des Staates, der der neuen Produktionsweise zur Entstehung verhalf.

Die neue Weltordnung, die sich in den 1990ern gebildet hat, ist keine neue Produktionsweise, sondern eine Fortsetzung der kapitalistischen. Eine Parallele könnte höchstens zur Analyse des Imperialismus gezogen werden, die Lenin und Luxemburg jedoch offensichtlich nicht als eine fortschrittlichere Gesellschaftsformation ansahen, auch wenn sie fortschrittliche Elemente in der Entwicklung der Produktivkräfte und der verstärkten Vergesellschaftung der Produktion sahen, die die Transformation in den Imperialismus begleiteten.

Der einzige Weg, hier Verwirrung und apologetisches Herangehen an den Kapitalismus zu vermeiden, ist, klar herauszuarbeiten, was progressiv und was reaktionär ist. Dies ist nur durch klare Unterscheidung zwischen den Entwicklungen auf der technologischen Ebene und den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen möglich – eben das, was Negri und Hardt leugnen.

Die Informationsrevolution

Hardt und Negri schreiben: „Es hat sich heute allgemein durchgesetzt, die Aufeinanderfolge ökonomischer Paradigmen seit dem Mittelalter in drei unterscheidbare Abschnitte zu unterteilen, von denen jeder durch die Dominanz eines Wirtschaftssektors geprägt ist: ein erstes Paradigma, in dem Landwirtschaft und die Gewinnung von Rohstoffen die Ökonomie beherrschten, ein zweites mit der Industrie und der Herstellung haltbarer Güter in herausragender Stellung, das gegenwärtige Paradigma, in dem das Anbieten von Dienstleistungen und der Umgang mit Information im Zentrum der ökonomischen Produktion stehen. Die dominante Position geht demnach vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor der Produktion über. Ökonomische Modernisierung bezeichnet den Übergang vom ersten zum zweiten Paradigma, von der Vorherrschaft der Landwirtschaft zur Dominanz der Industrie. Modernisierung heißt Industrialisierung. Den Übergang vom zweiten zum dritten Paradigma, von der Herrschaft der Industrie zur beherrschenden Stellung von Dienstleistungen und Information, kann man als Prozess ökonomischer Postmodernisierung oder besser Informatisierung bezeichnen“ (S.291). (16)

Für Hardt und Negri ist das Netzwerk – als neue organisatorische Form – das Herzstück der ‚Informatisierung‘. „Die erste räumliche, geografische Auswirkung des Übergangs von der industriellen zur informatisierten Ökonomie besteht in einer dramatischen Dezentralisierung der Produktion (…) Stückzahl und Effizienz stehen nicht mehr in direktem Verhältnis zueinander; tatsächlich wurde das Denken in großen Stückzahlen in vielen Fällen ein Hindernis (…) Informationstechnologien machen Entfernungen immer weniger entscheidend. Arbeiter in ein und demselben Produktionsprozess können von isolierten Orten aus wirkungsvoll kommunizieren und kooperieren, ohne Rücksicht auf die Entfernung. Die Kooperation der Arbeiten im Netzwerk bedarf keines territorialen oder physischen Zentrums (…) Die Dezentralisierung und globale Diffusion von Produktionsprozessen und Standorten, die die Postmodernisierung oder Informatisierung der Ökonomie kennzeichnen, sind von einer Zentralisierung der Kontrolle über die Produktion begleitet. Die zentrifugale Bewegung der Produktion gleicht ein zentripetaler Trend des Kommandos aus“ (S. 306 ff.)

Hierin gibt es sicherlich wahre Elemente, aber das Ende der industriellen Gesellschaft zu erklären, wäre bei weitem zu voreilig. Natürlich hat sich die Gesellschaft in bestimmten Aspekten über den „Industrialismus“ hinaus bewegt, aber es sollte doch zwischen dem ersten und letzten Monat der Schwangerschaft unterschieden werden. Es gibt tatsächlich viel Verwirrung darüber, was solche Begriffe wie ‚Dienstleistungsgesellschaft‘ oder ‚Wissensgesellschaft‘ bedeuten.

Für einige bedeutet ‚Dienstleistungsgesellschaft‘, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte im tertiären Sektor beschäftigt ist. Tatsächlich ist der Dienstleistungssektor in den letzten 30 Jahren beachtlich gewachsen. Dies jedoch hauptsächlich, da das Kapital in Gebiete expandiert ist, die bisher vor allem durch den bürgerlichen Staat, die patriarchale Familie oder kleinbürgerliche Betriebe organisiert wurden. Die Welle der Privatisierungen muss im Zusammenhang gesehen werden mit der Notwendigkeit für das Kapital, neue Gebiete für seine Akkumulation zu finden. (17)

Eine andere Erklärung für die Ausweitung des Dienstleistungssektors ist die Tendenz zum Outsourcing. Aufgaben, die früher innerhalb des Industriebetriebes integriert waren – Einkauf, Finanzverwaltung, Werbung, Datenverarbeitung, Reparaturen, Beratung, juristische Dienste, etc. – und die daher in die Beschäftigung des industriellen Sektors eingingen, werden nun in formell unabhängigen, als Dienstleistung klassifizierten Betrieben ausgeführt.

Großkonzerne bilden heute oft Finanzholdings, deren einzige Aufgabe es ist, das Eigentum an Hunderten von Beteiligungsfirmen zu verwalten – eine Aufgabe, die im Rahmen der ‚Finanzdienstleistungen‘ klassifiziert wird. Daher wurde der Sektor der ‚Geschäftsdienstleistungen‘ in den letzten Jahrzehnten enorm aufgeblasen; in den USA wuchs sein Anteil an der Gesamtbeschäftigung von einem Prozent 1960 auf sieben Prozent im Jahr 2000 und ist hier einer der am schnellsten wachsenden Bereiche. (18)

Außerdem beinhaltet der Begriff ‚Dienstleistungen‘ einen ziemlich unscharfen Bereich von Tätigkeiten. Es ist in gewisser Weise eine Art Rest-Kategorie, die alles umfasst, was nicht Agrikultur oder Industrie ist. Einige Länder, wie die USA, fassen Reparaturen, die Versorgung mit Gas, Strom und Wasser unter ‚Dienstleistungen‘, während diese anderswo als ‚Industrie‘ gelten. Auch sind Sektoren wie Groß- und Einzelhandel, Gebäudebereitstellung, Hoteldienste und Vermietung tatsächlich Ausdehnungen des industriellen Sektors, bearbeiten in bestimmten Bereichen physische Produkte, auch wenn es ebenso Elemente der Reproduktion sozialer Verhältnisse durch Übertragung von Eigentumsrechten darin gibt.

In den USA ist der Anteil des industriellen Sektors zusammen mit industriellen Dienstleistungen wie Handel, Finanzen, Versicherungen, Business Services, Transport und Kommunikation an der Gesamtbeschäftigung im Jahr 2000 derselbe im Jahr 1960, nämlich leicht über 60 %.

Wenn wir die Frauen mit in die Erwerbstätigenzahl einschließen, die im eigenen Haushalt arbeiten (hier grob kalkuliert als Zahl der männlichen Erwerbstätigen minus der Zahl der weiblichen; der Rest sind Hausfrauen), dann ist der Anteil des Sektors Industrie plus industrienahe Dienste tatsächlich in derselben Zeit von 45 % auf 55-60 % gestiegen. (19)

Auch der Versuch, den wachsenden Dienstleistungssektor als eine Konsequenz der Abwanderung von industrieller Produktion von der „Ersten“ in die „Dritte“ Welt zu erklären, ist in der Hauptsache unkorrekt. (20) Die Expansion des industriellen Sektors in Teilen der „Dritten“ Welt muss vielmehr vor allem durch deren Übergang von deren agrikulturellen Ökonomien zu industriellen erklärt werden. (21)

Auch wenn es richtig ist, dass sich die Arbeit in der Industrie geändert hat, mehr Betonung auf der Bearbeitung von Informationen liegt, muss andererseits gesehen werden, dass große Teile des ‚Dienstleistungssektors‘ tatsächlich eine Art Industrialisierungsprozess durchmachen. Viele Dienstleistungen werden heute mit Hilfe von fordistischen Prinzipien organisiert oder sogar vollständig automatisiert und durch Maschinen ersetzt, wie viele irritierte Kunden feststellen, wenn Firmen lieber wollen, dass Computer persönliche Berater ersetzen. Heute ist es der Dienstleistungssektor, der mehr wie der traditionelle industrielle Sektor aussieht. Auch die Methoden des Klassenkampfes und die gewerkschaftliche Organisierung aus dem industriellen Sektor ziehen in diesen Sektor ein.

Die dritte industrielle Revolution

Ungeachtet der relativen Größe des industriellen Sektors und wie man den ‚Dienstleistungssektor‘ definiert, behaupten Hardt und Negri, dass es der letztere sei, der die Wirtschaft vorantreibt, dass „jede ökonomische Tätigkeit heute dazu tendiert, von der Informationsökonomie beherrscht und von ihr qualitativ verändert zu werden“ (S.299).

Betrachtet man jedoch „informationelle Revolution“ und Globalisierung genauer, so wird klar, dass, obwohl diese Phänomene die Basis der Informationsverarbeitung verändert haben, nicht Information als solche die treibende Kraft ist, sondern die enorme technologische Entwicklung in der Computer- und Telekommunikationsindustrie. Daher ziehen es einige Wirtschaftsgeschichtler vor, von einer ‚Dritten Industriellen Revolution‘ zu sprechen statt von einer informationellen.

Die Ausdehnung von Handel und Kapitalexport betrifft vor allem den industriellen Sektor und finanzielle Operationen, während Dienstleistungen nicht im selben Umfang globalisiert werden. Die Ausnahme Transportsektor ist selbst ein stark industrialisierter Sektor. Die größten Monopole gibt es immer noch im industriellen Sektor. So wurden 1977 76% der Wertschöpfung durch US-Multis im industriellen Sektor erzielt, 1998 waren es immer noch 61%, während der Rest hauptsächlich auf den Bereich der industriellen Dienstleistungen entfällt.

Hardt und Negri sind auf festerem Boden, wenn sie behaupten, dass Wissen und Erziehung die moderne Ökonomie vorwärtstreiben. Viele bürgerliche Ökonomen haben dies erkannt und neue Modelle von Wirtschaftswachstum konstruiert, in denen Investitionen in Erziehung, sog. ‚Humankapital‘, und Wissen als genauso wichtig eingestuft werden wie in physisches Kapital. Dies spiegelt tatsächliche gesellschaftliche Veränderungen wider – Erziehung und Wissen spielen heute eine wichtigere Rolle als früher. Aber Erziehung, Wissen und Kommunikationstechnologie waren schon immer ein Schlüsselfaktor hinter der ökonomischen Entwicklung. Die gesamte Geschichte des Kapitalismus ist eine der wachsenden Bedeutung von Bildung und wissenschaftlicher Forschung, um die Akkumulation voranzubringen.

Nachdem im 19. Jahrhundert der Telegraf erfunden war, wurde viel darüber geschrieben, dass dies die Welt vereinen, Nationen einander näher bringen und damit Krieg unmöglich machen würde. Und war nicht die Erfindung der Schrift überhaupt eine Voraussetzung für die Herausbildung der ersten Klassengesellschaften und Staaten? War nicht Gutenbergs Druckpresse Grundlage aller weiteren ökonomischen Entwicklung? Wir erleben weder die erste Revolution auf dem Gebiet von Informationsverarbeitung und -vermittlung noch die erste Welle von übertriebenen Behauptungen, was dies für die Welt bedeuten würde.

In Wahrheit sind Bildung und Wissen der Industrie untergeordnet und nicht umgekehrt. Innerhalb der Universitäten werden deshalb auch die angewandten Wissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Jura mit den meisten Ressourcen bedacht, und deren Inhalt wird immer mehr den Bedürfnissen der großen Firmen untergeordnet.

Kommunismus im Mutterleib des Kapitalismus?

Negri und Hardt behaupten, dass die Entwicklung neuer Organisationsformen, der ‚Netzwerke‘, und die stärkere Betonung von Wissen und Information, eine teilweise Realisierung des Kommunismus darstellen:

„Der kooperative Aspekt der immateriellen Arbeit wird (…) nicht von außen aufgezwungen oder organisiert, wie es in früheren Formen von Arbeit der Fall war, sondern die Kooperation ist der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent (…) Indem sie ihre eigenen schöpferischen Energien ausdrückt, stellt die immaterielle Arbeit das Potenzial für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus bereit“ (S.305).

Es war Adam Smith, der als erster systematisch die Vorteile der Kooperation für den Kapitalismus untersucht hat. Durch die Teilung des Produktionsprozesses in eine Folge einfacher Tätigkeiten und die entsprechende Spezialisierung der Arbeiter hat die Kooperation die Arbeitsproduktivität dramatisch gesteigert. Diese Kooperation im kapitalistischen Arbeitsprozess intensiviert die Entfremdung der Arbeiter von ihrer Arbeit, zerstört ihre Beziehung zum Endprodukt genauso wie zum gesamten Arbeitsprozess.

Darauf beziehen sich die Autoren, wenn sie von einer Kooperation sprechen, die „von außen organisiert wird“. Wie ändert sich das mit der immateriellen Arbeit? Wie wird die Kooperation der Arbeit ‚vollständig immanent‘ zur Arbeitsaktivität, also nicht entfremdend?

Die Tatsache, dass der Kapitalismus heute gezwungen ist, in bestimmten, eingeschränkten Feldern den Arbeitern mehr Autonomie zu geben, um ihre intellektuellen Fähigkeiten besser ausbeuten zu können, heißt doch nicht, dass dies eine Art von ’spontanem und elementarem Kommunismus‘ wäre. Wenn sie die vollständige Kontrolle über die Maschinen, mit denen sie arbeiten, hätten, wenn sie das Tempo ihrer Arbeit selbst bestimmen und über das Endprodukt verfügen könnten, dann würden sie tatsächlich aufhören, Lohnabhängige zu sein – aber sie würden eine kleinbürgerliche Nische im Kapitalismus darstellen und nicht eine Form des Kommunismus.

Bestimmte Arbeiter, die qualifizierte ‚Arbeiteraristokratie‘, haben immer ein höheres Maß an Autonomie im kapitalistischem Arbeitsprozess genossen und dadurch ihre Position in der Aushandlung der Verkaufsbedingungen ihrer Arbeitskraft gestärkt und damit der vollständigen Unterwerfung unter die Tyrannei der Arbeitsdisziplin widerstehen können. Aber die Arbeiteraristokratie ist kleiner geworden, nachdem Maschinen die Abhängigkeit von Qualifikation, der Verkörperung von Produktionswissen und -erfahrung bestimmter Individuen, verringert haben. Softwareprogrammierung wird heute von qualifiziertem Personal ausgeführt, das schwankt zwischen Selbstständigkeit und Arbeiteraristokratie. Aber als Arbeitsprozess ist sie denselben Zwängen unterworfen wie alle anderen.

Sobald eine Krise ausbricht, verschwindet die Autonomie, die irgendwelche Arbeiter zeitweise genießen, sofort; die Beschäftigten werden gezwungen, entweder härter zu arbeiten oder sie werden ‚gesund geschrumpft‘. Tatsächlich können Autonomie und Dezentralisation wirksame Mittel sein, damit die Arbeiter ’sich selbst die Peitsche geben‘, um eine denkwürdige Bemerkung Rosa Luxemburgs zu verwenden, um wie Kapitalisten gegen sich selbst zu agieren und die Entscheidung, wo einzusparen sei, selbst zu übernehmen. Daran ist kein Kommunismus zu finden. Kommunismus ist kein isoliertes Phänomen, dass in den Poren der kapitalistischen Gesellschaft existieren könnte, sondern eine Produktionsweise, die sich nur global und nach einer Übergangsperiode entwickeln kann, in der es eine massive Expansion der Produktivkräfte gegeben hat.

Der Widerspruch von ‚menschlichem und wissensmäßigem Kapital‘

Es bestehen außerdem eindeutige Schwierigkeiten für den Kapitalismus beim Übergang von der Akkumulation ‚physischen Kapitals‘ zur Akkumulationsstufe des ‚menschlichen und wissensmäßigen Kapitals‘. Diese beiden Konzepte enthüllen wiederum innere Widersprüche:

• Im Kapitalismus wird die Kontrolle über die Arbeit durch den Besitz an physischen Produktionsmitteln und nicht durch das Eigentum an den arbeitenden Menschen ausgeübt. Was menschliches Kapital genannt wird, ist ähnlich einer erlernten Arbeitsweise leiblich untrennbar von dem Arbeitenden selbst, es ist Bestandteil der Arbeitskraft (d.h. der Fähigkeit zu arbeiten) und demzufolge gar kein Kapital. Der Kapitalist kauft die Nutzung dieser Arbeitskraft für einen bestimmten Zeitraum, nicht die Arbeitskraft selbst.

• Wissen und Sprache waren als Teil der kollektiven Arbeitskraft seit der Frühzeit der Menschheit immer wesentliche Produktivkräfte. Die Frage ist, ob sich heute etwas so grundlegend Neues ergeben hat, dass die Handhabung von Information nunmehr die beherrschende Produktivkraft darstellt. Offenkundig sind Tendenzen in diese Richtung wirksam, aber andererseits blockiert der Kapitalismus genau die volle Verwirklichung einer solchen Wirkweise. Wissen gehört zur kollektiven Arbeitskraft und unter den Bedingungen der freien Konkurrenz hat jeder Kapitalist Zugang dazu. Wissen ist seinem Wesen nach universell und sogar schwieriger in Besitz zu nehmen und zu kontrollieren als Einzelpersonen.

In der bürgerlichen Ökonomie bedeutet ‚Ausschließlichkeit‘ die Macht, die Anwendung einer gewünschten Nutzbarkeit zu verhindern, ‚Rivalität‘ bedeutet, dass die Konsumtion der Nutzbarkeit durch eine Person anderen Personen weniger überlässt und ‚Transparenz‘ stellt den Grad des freien Zugangs zu Information über die Folgen alternativen Marktverhaltens dar. Mikroökonomische Theorien besagen, dass die für den Kauf bzw. Verkauf auf dem Markt geeignetsten Waren genau die ausschließbaren, konkurrenzbehafteten und transparenten Güter sind.

Das Problem an der Information ist, dass sie nicht ausschließbar ist, denn es ist kaum möglich, Leuten den Zugang zur Information zu verbieten, wenn sie auf dem Markt verkauft worden ist. Sie ist auch ’nicht konkurrenzbedingt‘, zumal die Nutzung von Information durch eine Person in der Regel ihren Nutzwert auch für andere steigert, und sie ist ’nicht transparent‘ wegen der Unsicherheit und Vielschichtigkeit bei der Produktion und dem Verkauf von Information. Obwohl menschliche Fähigkeiten miteinander in Wettbewerb treten, können sie nicht von den Leuten getrennt werden, die sie verkörpern. Sie verkaufen lediglich die Nutzung dieser Fähigkeiten für einen bestimmten Zeitraum. Investitionen in die Ausbildung eines Angestellten können sich dann leicht als wertlos erweisen, wenn derjenige das Beschäftigungsverhältnis kündigt und – da die kapitalistischen Gesetze die Sklaverei verbieten – der Staat kann nicht einschreiten, um solche ‚Investitionen‘ zu schützen.

Der einzige Weg, Wissen und menschliche Fähigkeiten zu kapitalisieren, führt über ihre Verdinglichung, Entmenschlichung und Industrialisierung, aber das widerstrebt völlig dem Wesen dieser Erscheinungen.

Patentgesetze und langfristige Arbeitsverträge sind Teillösungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten. Aber Patente bedeuten eine Monopolstellung, und das ‚Wissenskapital‘ nimmt die Form des Monopolkapitals an, das andere Kapitalisten trifft, weil es sie von der freien Nutzung bedeutsamer Information ausschließt. Patentgesetze behindern die technologische Entwicklung. Markenartikel stellen einen teilweisen Versuch dar, die Hirne von Verbrauchern in Besitz zu nehmen, oder genauer, zu täuschen, aber auf diesen ‚Besitz‘ ist wenig Verlass, denn Verbraucher können ihren Geschmack ändern. Auch Marken sind eine monopolistische Erscheinung. Das Vorgehen des US-Staates gegen Microsoft, die Freie-Software-Bewegung und die Erfolge von Linux, beide unterstützt von vielen Firmen, zeigen [trotz des Teilsieges von Bill Gates; Red.] die Toleranz- und Realisationshemmschwelle solcher Monopolisierungsversuche von Kenntnissen im Kapitalismus.

Da der Kapitalismus auf freier Konkurrenz zwischen Kapital und frei verhandelbarer Arbeitskraft beruht, widerspricht die Monopolisierung von Wissen und menschlichem Leben der kapitalistischen Produktionsweise und kann deshalb nur teilweise durchgesetzt werden. Der Kapitalismus wird niemals zu einer surrealen Stufe gelangen, wo bspw. alle Sprachen privatisiert sind und jeder bei Gebrauch eines Wortes eine Gebühr an die ‚Eigentümer‘ dieser Wörter zu entrichten hat. Eine voll entfaltete Kapitalisierung von Wissen und menschlichen Fähigkeiten würde schließlich den Kapitalismus als eine besondere Produktionsweise verneinen und ihn in eine Art auf diktatorischer Sklaverei beruhende Klassengesellschaft verwandeln.

Das erklärt auch, warum Bildung und Wissenschaft im Allgemeinen (mit Ausnahmen wie USA) in den meisten kapitalistischen Ländern vom Staat organisiert werden. Andere Versorgungsleistungen wie Gesundheitswesen, Kindererziehung, Beförderungsmittel, Infrastruktur und gesellschaftliche Reproduktion werden in vielen Ländern vom Staat bereitgestellt, weil sie das menschliche Leben betreffen und kollektive Güter sind, die sie nicht sonderlich brauchbar für den Markt erscheinen lassen. Die Kapitalisten werden sich jedoch immer Tendenzen zu einem zu starken Staat widersetzen, wie die gesamte neoliberale Offensive in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts gezeigt hat. Der Nationalstaat kann stark in Ausbildung und Wissenschaft investieren und damit die Akkumulation von ‚menschlichem und wissensmäßigem‘ Kapital in kollektiver Form für seine nationale bürgerliche Klasse sichern, aber dieser Prozess wird heute durch die Globalisierung untergraben.

Damit haben wir ein Beispiel für folgende These, die Marx schon 1859 aufstellte:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ (22)

Im Kapitalismus bleibt die Produktion von Gegenständen entscheidend, gerade weil physische Waren sich besitzen und kontrollieren lassen. Natürlich ist auch die Kontrolle der Köpfe der Arbeiterklasse wichtig für den Kapitalismus, sowohl ideologisch, um die ausgebeutete Klasse in das System einzubinden, wie auch ökonomisch, um die Produktivität durch besser ausgebildete Arbeitskräfte steigern zu können. Aber hier müssen wir wieder darauf achten, was vor- und was nachrangig ist. Marxisten haben immer den ideologischen Klassenkampf betont, aber er ist dem ökonomischen und politischen Klassenkampf untergeordnet.

Der Kapitalismus kann nicht mit hauptsächlich ideologischen Mitteln besiegt werden. Solche Ideen führen zu zentristischen oder reformistischen Schlussfolgerungen, dass der Kapitalismus allmählich reformiert werden könne oder dass eine friedliche Revolution möglich sei. Der Kapitalismus ist in einer industriellen Logik befangen, und diese Logik bestimmt auch die Regeln des Kampfes gegen das System.

Wir haben uns diese Bedingungen nicht ausgesucht. Wer hätte nicht lieber eine friedliche Evolution zum Sozialismus, wenn das objektiv machbar wäre? Nur unter dem Kommunismus werden Wissen, Kommunikation, Sprache und Sinnlichkeit die Hauptarena der Konflikte bilden, weil erst dann die Konflikte nicht mehr an die materiellen Bedingungen der Menschen gekettet sind, sondern die materiellen Bedürfnisse aller befriedigt werden und somit die Auseinandersetzung um materielle Vorräte und die Notwendigkeit, ein menschliches Wesen einem anderen zu unterwerfen, wegfallen wird. Nur unter solchen Voraussetzungen können Auseinandersetzungen auf einer völlig vorurteilsfreien Ebene gelöst werden. Erst dann werden Wissen und Information zu den herrschenden und treibenden Produktivkräften der Gesellschaft.

Nur der Kommunismus kann die wahre Wissens- und Informationsgesellschaft zustande bringen, was Habermas einmal ‚kritisches Wissen‘ nannte, wo Zusammenarbeit und Kommunikation frei von Verzerrungen sind, die daraus erwachsen, dass Tatsachen einer Situation einigen oder allen Beteiligten verborgen bleiben.

Arbeit und der Charakter des Proletariats im Empire

Wie wir gesehen haben, herrscht im Empire die kooperative, gefühlsmäßige und immaterielle Arbeit vor. Die Grenzen zwischen Leben und Produktion lösen sich auf. Alle Arbeit beherrscht vom Kapital, gleichgültig ob in Tätigkeit oder nicht, ist gleich. Das ist das neue Proletariat.

„Die Klassenzusammensetzung des Proletariats hat sich gewandelt, und das müssen wir nachvollziehen. Wir verwenden einen weiten Begriff von Proletariat und fassen in dieser Kategorie all jene, deren Arbeitskraft direkt ausgebeutet wird und die in Produktion und Reproduktion kapitalistischen Normen unterworfen sind.“ (S.66)

Negri und Hardt zufolge war die produktive industrielle Arbeiterklasse nur ein Moment in der Evolution des Proletariats. Ihre Vorrangigkeit dauerte bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Wandlung erfolgte als Antwort auf die kapitalistischen Krisen der späten 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Als der lange Boom endete, zeigten die Unterdrückung der Massengewerkschaften und anderer Kämpfe nur bedingte Wirkung, und eine bloße Beibehaltung der alten tayloristischen und fordistischen Methoden der industriellen Massenproduktion hätte die Entwicklung der Produktivkräfte und die Dynamik der Arbeit nur erstickt. Es folgte also ein technologischer Wandel mit dem Ziel einer deutlichen Veränderung der Zusammensetzung des Proletariats.

Auf diese Argumentation stützen sie ihre Behauptung, dass heute die industrielle Arbeiterklasse „aus dem Blick verschwunden“ (S.66) ist. Das ist kompletter Unfug! Während der Anteil der Arbeiter an der Warenproduktion in den verflossenen 100 Jahren als Folge gestiegener Arbeitsproduktivität in diesem Bereich gesunken ist, blieb die Anzahl der Industriearbeiter auf der Welt gleich (23) oder ist sogar angestiegen. Außerdem hat sich der Anteil am gesamten Produktionsausstoß durch die Industriearbeiterschaft in den letzten 50 Jahren erhöht.

Hier ist noch mehr als der Umfang und die zentrale Bedeutung der Industriearbeiterklasse im Spiel. Der Schlüssel zu ihren Irrtümern über den Charakter der Arbeiterklasse im globalen Kapitalismus liegt in ihrem Verständnis des Charakters der Arbeit selbst. In ‚Empire‘ sagen sie:

„Im biopolitischen Kontext des Empire fallen die Produktion von Kapital und die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens immer stärker zusammen; es wird somit immer schwieriger, die Unterscheidungen zwischen produktiver, reproduktiver und unproduktiver Arbeit aufrechtzuerhalten. Arbeit – materielle oder immaterielle, geistige oder körperliche – produziert und reproduziert gesellschaftliches Leben und wird dabei vom Kapital ausgebeutet.“ (S.409)

Hier wird also Arbeit als praktische, zweckgebundene Aktivität innerhalb der Gesellschaft definiert, nichts anderes als das Marx’sche Konzept ‚allgemeiner Arbeit‘. Marx argumentiert, dass Arbeit in diesem Sinne den Kern unserer Menschlichkeit, unsere artspezifische Daseinsform innerhalb von Vorklassen- wie Klassengesellschaften darstellt. So verwendet verliert dieser Begriff jeglichen geschichtlichen Bezug, der eine Unterscheidung, wie sich eine solche ‚allgemeine Form der Arbeit‘ in den verschiedenen Gesellschaften der Menschheitsgeschichte niedergeschlagen hat, erst ermöglicht. Der Unterschied zwischen konkreter und abstrakter Arbeit verschwindet natürlich, damit aber auch jegliche begriffliche Bedeutung von Lohnarbeit und vom Kapital selbst.

Das muss so sein, denn Lohnarbeit und Kapital formen eine Einheit im Widerspruch: jeder Begriff wäre bedeutungslos ohne den anderen. Negri und Hardt sind bei ahistorisch abstrakten Aussagen gelandet und geben dies auf ihre Art auch zu: „Die Linien der Produktion und diejenigen der Repräsentation überschneiden und vermischen sich. In diesem Zusammenhang lösen sich auch die Unterscheidungen, welche die zentralen Kategorien der politischen Ökonomie bestimmen, allmählich auf. Produktion lässt sich nicht mehr von Reproduktion unterscheiden; die Produktivkräfte verschmelzen mit den Produktionsverhältnissen; fixes Kapital findet sich zunehmend innerhalb des zirkulierenden Kapitals, in den Köpfen, Körpern und in der Kooperation der Produktionssubjekte“ (S.392).

Kurz: die Grenzen zwischen variablem und konstantem Kapital lösen sich auf genau wie jene zwischen verschiedenen Arten der konkreten Arbeit.

Negri und Hardt fällt anscheinend gar nicht auf, dass Kapital nur als geronnene vorausgegangene Arbeit existieren kann, sich in der Geldform bewegt und benutzt wird, andere Arbeit in Gang zu setzen. ‚Kapital‘ beutet nicht ‚Arbeit im allgemeinen‘ aus, sondern nur Lohnarbeit. Konkret gesprochen kann Kapital nur Profit machen durch die Beschäftigung einer Person, die eine bestimmte Aufgabe erledigt.

Aber wenn es kein Kapital ohne Lohnarbeit geben kann, wie steht es dann um den Charakter der Gesellschaft des Empire? Negri/Hardt haben ihre Analyse in dem Glauben begonnen, dass durch die Offenlegung der Mechanismen des globalisierten Kapitals, das sich auf nichtmaterielle Arbeit stützt, ’nur‘ ein neues postfordistisches Akkumulationsmodell des Kapitals zu Tage tritt. Sie waren von dem Wunsch beseelt, dem Postmodernismus etwas Marxismus beizugeben, weil der Postmodernismus sich außerstande sah, Sprache und Kommunikation mit der Produktion zusammen zu bringen. Aber das Ergebnis ist völlig unzusammenhängend. Trotz allen Geschwätzes über einen Kampf gegen ‚die Vorherrschaft des Kapitals‘ und ihres Glaubens, dass sie das jüngste (End?) Stadium des globalen Kapitalismus analysieren, führt ihre Argumentation doch zu der Schlussfolgerung, dass es Kapital gar nicht gibt. Demzufolge stellt der Übergang vom imperialistischen Kapitalismus zum Empire eigentlich den Wandel zu einer Form von ‚bürokratischem Kollektivismus‘ dar.

Zu Anfang des Buches schreiben sie: „Die großen Industrie- und Finanzmächte produzieren entsprechend nicht nur Waren, sondern auch Subjektivitäten. Sie produzieren Agenzien innerhalb des biopolitisches Zusammenhangs: Bedürfnisse, soziale Verhältnisse, Körper und Intellekt – sie produzieren mithin Produzenten“ (S.47). Das kann nur bedeuten, dass es keine unabhängige Klasse von Lohnarbeitern gibt, die in freien Austausch mit den UnternehmerInnen treten; die ProduzentInnen sind dem Wesen nach Sklaven.

Solche Theorien, zuerst in der Zwischenkriegsperiode unter dem Einfluss des Faschismus und Stalinismus auf die Arbeiterklasse entwickelt, waren allgemein zutiefst pessimistisch und postulierten die Existenz einer Sklavenklasse, die gegen eine totalitäre Diktatur aufbegehrt. Hardt und Negri beschreiben eine gutartigere, optimistischere Gesellschaft, aber das ist letzten Endes zweitrangig. Die ‚Masse‘ mag aus glücklichen SklavInnen bestehen, aber gedanklich sind sie befangen in einer Welt der kooperativen Arbeit unter Vorherrschaft einer erdumspannend herrschenden Klasse. Diese Klasse leitet ihren Reichtum nicht aus der Auspressung von Mehrwert her. Die Verfasser sind sich darüber klar, dass es keinen Wertmaßstab im Empire geben kann.

Selbst wenn wir großzügig annehmen, dass die herrschende Klasse im Empire sich auf irgendeine Weise ein Mehrprodukt aneignet (wo beginnt es und wo endet die notwendige Arbeit, wenn es keinen Wertmesser gibt?), lässt das nur vermuten, dass eine (neuartige) Form von Klassengesellschaft besteht, aber keine kapitalistische.

Die Krise des Kapitalismus unter dem Empire

Hardts und Negris Theorie der kapitalistischen Krise unterscheidet sich vollständig von der marxistischen. Sie gründet sich nicht auf objektive, sondern ausschließlich subjektive Annahmen. Die Krise ist kein notwendiges Ergebnis der inneren Bewegungsgesetze des ökonomischen Systems unabhängig von den Handlungen der Unterdrückten, sondern es erscheint als eine Funktion von ‚Korruption‘.

Vom Marxismus kann behauptet werden, zwei grundlegende objektive Widersprüche innerhalb des Kapitalismus entdeckt zu haben. Zunächst zeigt der Kapitalismus eine Neigung zu schrankenloser Ausbreitung, abgeleitet aus seinem besessenen Drang zur Akkumulation. Aber die Welt ist nicht schrankenlos. Dieser Widerspruch beweist die Unmöglichkeit der ewigen Existenz des Kapitalismus. Der andere grundsätzliche Widerspruch ergibt sich aus seiner Neigung zur Vergesellschaftung der Produktion und seinem System der stets privaten Aneignung der Produktion. Dieser Widerspruch deutet auf die materielle Entwicklung einer höheren Produktionsweise im Schoß des Kapitalismus, d.h. den Kommunismus, hin.

Die expansionistische Tendenz erzeugt unweigerlich Widersprüche im System auf verschiedenen Ebenen. Der ständige Drang zur Akkumulation im Kapitalismus bedingt den Wertanstieg des Kapitalbestandes im Verhältnis zum zugesetzten Wert, was die Profitrate mindert, da der Profit sich aus dem zugesetzten Wert speist – der sog. tendenzielle Fall der Profitrate.

Der ständige Drang zur Ausweitung von Anlage und Produktion führt zu Krisen der Überakkumulation und Überproduktion. Diese Krisen werden gelöst durch eine massive Zerstörung von Kapital, sowohl in Gestalt von fixem Kapital wie auch von Lagerbeständen unverkaufter Waren, was wiederum eine neue Phase der Expansion einleitet, aber sehr langfristig kann das System auf einer solchen Grundlage nicht überleben.

Auf ähnliche Art schlägt sich die sozialisierende Tendenz in mehreren unterschiedlichen Widerspruchsformen innerhalb des Systems nieder. Marx bestreitet z.B. das Saysche Gesetz, das von einem stetigen Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage ausgeht. Says Sichtweise wird immer noch von neoliberalen Ökonomen befürwortet, die eine perfekte Konkurrenz annehmen und sagen, der Kapitalismus würde keine Krisensymptome entsprießen lassen, wenn man ihn seinem eigenen Wirken überließe. In Wirklichkeit aber halten sich Angebot und Nachfrage nicht die Waage, da der Verkäufer nicht notwendigerweise als Käufer auftritt, sondern bspw. Geld ansparen kann, statt es sofort auszugeben. Das ermöglicht Unterkonsumtion, die sich verschärfen kann, wenn die Kapitalisten dazu übergehen, Arbeiter zu entlassen und die Löhne zu drücken, denn auch die Arbeiter sind Verbraucher. Verschiedene Sektoren können im Verhältnis zu anderen ein unterschiedliches Wachstum aufweisen und so Engpässe bewirken. Das ist Folge dessen, dass der Kapitalismus ein irrationales und ungeplantes System auf komplexem Niveau ist.

Der Imperialismus versucht, einige der inneren Widersprüche des Kapitalismus zu umgehen, verlagert dabei aber die bestehenden Widersprüche nur auf eine höhere Ebene und erzeugt sie weltweit neu. Die Expansion des Finanzkapitals löst teilweise die Verwertungsprobleme, indem Kredite die Nachfrage ankurbeln können, auch wenn die gegenwärtigen Einkommen gleich bleiben oder gar sinken. Wie Marx sagte, gestattet das Kreditsystem die Abschaffung des Kapitalismus innerhalb der kapitalistischen Gesetze selbst. Aber dadurch schlagen die Produktionskrisen in Finanzkrisen um, wenn die Schuldner ihre Gläubiger nicht mehr bezahlen können.

Durch den Prozess von Verschmelzungen und Aufkäufen vermag die Großindustrie Lieferanten und Hersteller in einer Form von betriebseigener Planung miteinander zu verbinden und vermeidet damit einige Wesenszüge des anarchischen Kapitalismus. Der Export von Kapital wird angeheizt und erzeugt damit die Nachfrage nach Waren aus den Kapital exportierenden Ländern. Letzten Endes werden die Widersprüche aber nur verschoben, nicht aufgehoben! Die Anarchie der Marktverhältnisse zwischen den weniger großen privaten Monopolen verstärkt sich (z.B. bei den Computer- und Chipherstellern). Die Konkurrenz zwischen den bestehenden Oligopolen verschärft sich mit zerstörerischen Auswirkungen (bspw. im weltweiten Telekommunikationssektor nach 2000). All diese Zusammenstöße rühren aus dem Grundproblem einer wachsenden Überakkumulation von Kapital und überschüssigen Kapazitäten in den meisten Industriesparten her.

Diese rein ökonomischen Konflikte zwischen industriellen Sektoren lösen von Zeit zu Zeit auch Konflikte zwischen Staaten aus, zumal die hauptsächlichen multinationalen Konzerne in den jeweiligen Ländern erfolgreich für vorbeugende oder Vergeltungsmaßnahmen gegen die Konkurrenten aus anderen Ländern eintreten. Der Stahlkrieg zwischen Europa und den USA ist ein Beispiel. Das Bestreben der USA, Krieg gegen den Irak zu führen, ist großenteils ein Versuch des Großkapitals, die Ölvorräte zu kontrollieren oder die OPEC (Gemeinschaft Erdöl fördernder Länder) zu zerstören und damit den Bedarf an billigem Öl für die multinationalen Konzerne der USA zu sichern. Innerimperialistische Kriege stellen die höchste Form der Verschärfung all dieser Widersprüche dar.

Hardt und Negri erkennen diese Grundwidersprüche des Kapitalismus nicht, oder wo dies doch der Fall ist, glauben sie, dass sie unter dem Empire, „wo der Weltmarkt vollendet ist“, überwunden worden sind. Für sie hat das Empire den Kapitalismus in eine universalistische, sozialisierte und globalisierte Phase überführt und so die Gegensätze zwischen verschiedenen imperialistischen Staaten und Kapitalfraktionen aufgehoben. Die Kapitalakkumulation ist von extensiver auf eine intensive Form übergegangen, von formaler zu realer Subsumtion, von der Expansion in eine physische Welt zur Penetration einer virtuellen Realität, da das ‚Äußere‘ ‚internalisiert‘ wird, oder wie sie auf S. 266 schreiben: „Prozesse der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital stützen sich nicht länger auf ein Außen; sie bedeuten nicht die gleiche Art von Expansion.“

Warum dies gerade nicht „die gleiche Art von Expansion“ einschließt, geht aus ihrem Buch nicht hervor. Die Autoren haben keine Erklärung, welche inneren Schranken es oder ob es überhaupt innere Schwanken für die Ausdehnung von Kapital gibt.

Eine mögliche Lesart besteht darin, dass das Kapital unbeschränkte Möglichkeiten der Ausweitung von Akkumulation hat, weil eine Scheinwelt keine Grenzen kennt. Ein anderer Erklärungsversuch wäre, dass das neue Feld der Akkumulation und Ausbeutung, die abstrakte Kooperation zwischen Arbeitenden, nicht mehr quantifizierbar oder bewertbar ist, weil es „immer schwieriger“ wird, „an der Fiktion irgendeines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten“ (S.409).

Infolgedessen wirken die alten Widersprüche, die auf einem messbaren Verhältnis der Ausdehnung zu den Grenzen dieser Ausdehnung des Arbeitstages fußen, nicht mehr fort, da Negri und Hardt festlegen, dass Messbarkeit von Arbeitszeit und demzufolge Wert und Mehrwert verunmöglicht werden. (24) Anstelle eines Modells einer objektiven strukturellen Krise des Kapitalismus im imperialistischen Zeitalter setzen Negri und Hardt ein rein subjektivistisches. Sie schreiben: „Man könnte sogar davon sprechen, dass die Entwicklung des Empire und seiner globalen Netzwerke eine Antwort auf die verschiedenen Kämpfe gegen die modernen Machtmaschinen ist, insbesondere auf den Klassenkampf, angetrieben durch den Wunsch der Masse nach Befreiung. Die Menge hat das Empire ins Leben gerufen“ (S.57). „Globalisierungsprozesse existierten nicht oder kämen zum Stillstand, würden sie nicht fortwährend durch diese Explosionen der Menge behindert und vorangetrieben“ (S.72).

Sie stehen kritisch zu der Meinung, „die Krise der 1970er Jahre nur einfach als Moment eines objektiven und unabwendbaren Zyklen der Kapitalakkumulation“ aufzufassen, „statt als Ergebnis des proletarischen und antikapitalistischen Angriffs in den herrschenden und beherrschten Ländern gleichermaßen. Die Akkumulation dieser Kämpfe war der Antrieb der Krise, und sie bestimmten die Bedingungen und die Gestalt der kapitalistischen Restrukturierung“ (S.251).

Eine solche Theorie enthält weitreichende Folgerungen. Erstens ist der Kapitalismus nicht objektiv durch seine Widersprüche dem Untergang geweiht, und demzufolge kann die Notwendigkeit des Sozialismus nicht wissenschaftlich abgeleitet werden, sondern bleibt eine moralische Option, die aus einem bestimmten philosophischen Standpunkt erwächst. Zweitens verhält sie sich bestenfalls neutral im Hinblick auf die Frage: „Reform des bestehenden Unterdrückersystems oder Revolution zu dessen Sturz“ ? (26)

Die Theorie unterstellt, dass, wenn die Arbeiterklasse nicht kämpft, der Kapitalismus auch nicht in die Krise gerät. Wenn wir den Kapitalismus also sich selbst überlassen, neigt er dazu, seine Schwierigkeiten von selbst zu lösen. Sagen das nicht auch die Anhänger der neoliberalen Richtung? Wenn der Kampf dann eine Frage der Wahl ist, warum dann nicht die Möglichkeit wählen, nicht zu kämpfen? Zumindest könnten wir dann doch die Krisen vermeiden, die durch unseren Kampf entstehen. Das ist zwar nicht die Schlussfolgerung von Negri und Hardt, aber die Logik ihrer Ideen ist offen für solche Konsequenzen.

Wenn der Widerstand gegen den Kapitalismus sowohl die Krise in der imperialistischen Zeit und im Empire selbst hervorruft, dann ist die Krise im Empire laut Negri und Hardt allgegenwärtig (immanent). Die Krise ist natürlicher Bestandteil der Bestrebungen des Empire, sich selbst zu reproduzieren. Der Charakter des globalisierten Kapitalismus, der sich auf kooperative und immaterielle Arbeit stützt, auf Sprache und Kommunikation als innerem Kern des Kapitalismus, bedingt dies, weil die Masse ständig den Versuch des Empire angreift, die Kommunikation zu monopolisieren und die Masse zu spalten, damit es verhindert, dass diese ein kollektives, autonomes Subjekt wird. Solche Krisen brechen immer an allen Punkten des Systems aus.

Die Triebkraft der Krise ist die Fähigkeit der Masse, sich beständig zu reproduzieren, ihre Schöpferkraft und Selbständigkeit in einer Welt zu bewahren, worin Politik, Ökonomie und die Gesellschaft sich vermischen und nicht mehr trennbar sind. Negri und Hardt nennen diesen Vorgang ‚Generation‘. Dem wird ‚Korruption‘ gegenüber gestellt. Korruption trachtet danach, die Generation zu verneinen und aufzulösen und ist „Eckpfeiler und Schlüssel von Herrschaft“ (S.396). Ob in Aktionen der politischen Interessenverbände, Mafiabanden, aufstrebender gesellschaftlicher Gruppen oder Kirchen, Korruption steckt überall. Das klingt traditionell.

Aber Korruption ist mehr als das. Wenn sie schreiben, dass „Kapitalismus qua Definition ein Korruptionssystem ist“ (S.397), ist das nicht bloße dichterische Freiheit. Negri und Hardt meinen damit mehr. „Denn wenn der Kapitalismus sein Verhältnis es keinen Maßstab für Arbeit mehr gibt,“ dann „bleibt kein anderes Wesensmerkmal des Kapitalismus zum Wert verliert (und zwar als Maß individueller Ausbeutung wie als Norm des kollektiven Fortschritts), erscheint er ummittelbar als Korruption“ (S.397). Wenn Ausbeutung nicht mehr die Auspressung von Mehrwert bedeutet, sondern nur die Aneignung von kooperativer Arbeit der Masse, kann dadurch Korruption greifen, weil sie danach trachtet, die Masse aufzuteilen.

Macht und die Theorie des kapitalistischen Staates

Als Postmodernisten sehen Hardt und Negri nicht nur eine Machtstruktur, sondern behaupten, dass sich Macht überall findet und dass es eine Vielfalt von Machtstrukturen gäbe, ohne dass eine davon dominant wäre, oder wie es Ian Craib ausdrückt: „Die Welt ist als Kaleidoskop von Machtkämpfen zu sehen, die nie ausgeblendet werden können. Es kann nur der Widerstand angeregt werden, wo sich Macht offenbart.“ (27) Die Schaffung einer kollektiven Identität würde diese Komplexität innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppe ignorieren und am Ende zu Repression führen. Anstelle eines überlagernden -ismus, der die verschiedenen Kämpfe gegen den Kapitalismus eint, wollen die Poststrukturalisten eine Unzahl von -ismen setzen – Ökologismus, schwarzer Nationalismus, Feminismus, Immigrantismus, Veganismus, Drittweltismus, Homosexualismus usw. – jeweils eine Theorie und ein Programm, das sich mit einer Form von Unterdrückung beschäftigt und keine Verbindung hat mit anderen Repressionsformen.

Diese Zerfaserung von Macht und Widerstand ist verbunden mit dem angeblichen Emporkommen der Informationsgesellschaft, wo die Macht in den vielfältigen Strukturen von Sprachcodes liegt, die unser Denken bestimmen. In diesem Sinne Castell:

„Macht (…) ist nicht mehr in Institutionen (des Staates), Organisationen (der Konzerne) oder symbolischen Kontrolleuren (Medienkörperschaften, Kirchen) konzentriert (…) Die neue Macht steckt in den Informationscodes und in den Bildern von Repräsentation, um die die Gesellschaften ihre Institutionen organisieren und Leute ihr Leben einrichten und ihr Verhalten ausrichten. Der Sitz dieser Macht ist der Geist der Menschen…

Deshalb sind Identitäten so wichtig und letztlich so mächtig in dieser sich ständig verändernden Machtstruktur, weil sie Interessen, Werte und Projekte um Erfahrung herum formen (…)

Wer sind unter diesen Bedingungen nun die Subjekte des Informationszeitalters? (…) Soziale Bewegungen aus dem kommunalen Widerstand gegen Globalisierung, kapitalistische Erneuerung, organisatorische Netzwerke, unkontrolliertes Informationswesen und Patriarchalismus, und das sind zur Zeit Ökologisten, Feministinnen, religiöse Fundamentalisten, Nationalisten und Lokalpatrioten, sie sind die potenziellen Subjekte des Informationszeitalters.“ (28)

Hardts und Negris Konzept des Empire steht grundsätzlich in dieser Tradition des Postmodernismus und will Macht nicht als zentralisierte Kraft ansehen. Empire ist vielmehr ein Bündel von Machtstrukturen. Empire wird eine kollektive Subjektivität abgesprochen. Zusammengehalten wird Empire durch die ‚Logik‘ eines Informationsnetzwerks von Sprachcodes und nicht durch einen zentralisierten Staat.

Obwohl sie sich bemüßigt gefühlt haben, bei der Behandlung der Politökonomie des Empire auch auf Marx einzugehen, hat die Sicht von Hardt und Negri auf den kapitalistischen Staat vor dem Empire wenig mit Marxismus zu tun. Wie Max Weber sehen sie die Rolle des Staates als eines Disziplinierungsinstruments, das ‚von außen‘ auf die Gesellschaft einwirkt und ein Monopol auf die Ausübung legaler Gewalt hat. Dieser Staat ist national der Form nach und thront ‚über der Gesellschaft‘.

Die marxistische Staatstheorie lokalisiert die Absonderung einer ausgeprägten Verwaltungs- und Bürokratieschicht in der Bildung des Privateigentums und der Notwendigkeit einer öffentlichen Kraft, die über den widerstreitenden Klassen wacht, die aber danach trachtet, die Bedingungen für die Erzeugung von Mehrarbeit, also die Ausbeutung, zu sichern. Diese allgemeine Festlegung dient zu Herausarbeitung der Wesensmerkmale aller Klassenstaaten. Das kapitalistische System braucht ebenfalls einen Staat, um seine Interessen als ganzes zu verteidigen und den ‚kollektiven Willen des Kapitals‘ zu vereinheitlichen.

In der Geschichte hat jede Klassengesellschaft auch eine Entwicklung in Form und Inhalt des Klassenstaates durchlaufen. Die Trennung von Wirtschaft und Politik erreicht erst unter dem Kapitalismus ihren Höhepunkt. Hier erscheint der Staat als wahrhaft unabhängig von den engen Klasseninteressen der wirtschaftlich herrschenden Klasse, denn immerhin sind unter der kapitalistischen Demokratie alle BürgerInnen gleich und keine Stimme eines Wählers zählt formell mehr als die eines anderen. Auch die Zwangsmittel liegen nicht einfach in Händen der wirtschaftlich überlegenen Klasse, sondern werden durch besondere Einrichtungen wahrgenommen. Der Form nach erhebt sich der Staat über die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, dem Inhalt nach aber fungiert er, um die vertraglich geregelten Eigentumsverhältnisse festzuschreiben, v.a. die zwischen UnternehmerInnen und LohnabeiterInnen. Da diese Gesetze die Rahmenbedingungen gewährleisten, unter denen diese Verträge frei ausgehandelt werden, begünstigt der Staat selbstverständlich die Unternehmer in ihrer Zielsetzung, das letzte Quentchen an Arbeitskraft aus ihren Belegschaften herauszuquetschen. Kurz, es herrscht ein strukturelles Ungleichgewicht in den Grundlagen des Staates, der auf dem kapitalistischen Privateigentum beruht. Die Versuche, Druck auf diesen Staat auszuüben, damit er diese ‚Schieflage‘ begradigt, stellen in der Tat die politische Geschichte der Arbeiterbewegung dar.

Davon aber finden wir nichts im Empire. Mit Blick auf den ‚modernen Staat‘ tischen uns Negri und Hardt bürgerliche Soziologie auf, die Gesellschaft und Staat starr gegenüberstellt (der moderne Staat steht über der Gesellschaft und besitzt ein Monopol auf legitime Gewalt). Über den imperialen Staat äußern sie: „Die Postmodernisierung und der Übergang zum Empire führen zu einer wirklichen Konvergenz der Bereiche, die man üblicherweise als Basis und Überbau zu bezeichnen pflegte“ (S.391).

Scheinbar einander entgegengesetzt sind bürgerliche Soziologie und Postmodernismus wirklich in ihrem undialektischen Herangehen an Basis und Überbau vereint. Der Marxismus allerdings kann die formale Gegenüberstellung von Gewalt des Staates und Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft nicht hinnehmen. Der Marxismus erkennt im Staat die Fähigkeit, die Gewalt auch von nicht staatlichen Kräften der Zivilgesellschaft zu billigen, sofern sie die Ziele der herrschenden Klasse absichern. Hitler sanktionierte bspw. den faschistischen Werkschutz, um die deutsche Arbeiter in den 30er Jahren zu terrorisieren. Im heutigen Kolumbien arbeiten Todesschwadronen als Subunternehmer des Staates, um GewerkschafterInnen zu ermorden. Obgleich für MarxistInnen natürlich Staat und Gesellschaft klar abgegrenzt und unterschieden sind, gibt es aber keinen platten, nackten Gegensatz zwischen diesen, sondern sie durchdringen sich gegenseitig und wirken aufeinander ein.

Negris und Hardts Untersuchungsmethode ist vergleichsweise steril: entweder stehen Staat und Zivilgesellschaft in formalem Gegensatz zueinander, jeder mit seinen ausschließlichen Bereichen von Befugnissen und Herrschaft, oder die Unterscheidung ist wie im Empire bedeutungslos und nicht vorhanden. Wenn wir Negri und Hardt weiter in ihrer Auffassung vom imperialen Staat folgen, entdecken wir, dass sich für sie die Angleichung von Staat und Gesellschaft aus dem Sieg des Kapitals über den Staat ergibt. Denn während sich der moderne Staat „über die Gesellschaft und die Menge“ (S.334) erhebt, wirkt „das Kapital hingegen auf einem Immanenzfeld, durch Staffelungen und Netzwerke von Herrschaftsbeziehungen, ohne auf ein transzendentes Machtzentrum zu bauen“ (S.334).

„Durch die gesellschaftliche Entwicklung des Kapitals werden die Mechanismen der modernen Souveränität (…) Schritt für Schritt durch eine Axiomatik ersetzt: das heißt, eine Reihe von Gliederungen und Verhältnissen, die unmittelbar und gleich, auf unterschiedlichem Terrain, ohne Referenz auf vorgegebene festgeschriebene Definitionen oder Größen, Variablen und Koeffizienten determinieren und kombinieren“ (S.335).

Einfacher ausgedrückt: Geld löst die Kraft aller anderen politischen Fesseln und verlässt sich auf seine eigenen inneren Gesetze zur Reproduktion seiner hauptsächlichen Verhältnisse. Wenn dies für gesellschaftliche Verhältnisse in einem Land gilt, muss es ebenso international zutreffen.

„… und selbst die Beschränkungen des Nationalstaats beginnen in dem Moment in den Hintergrund zu treten, da das Kapital sich auf dem Weltmarkt realisiert.

Die Transzendenz moderner Souveränität tritt dergestalt mit der Immanenz des Kapitals in Konflikt. Historisch war das Kapital auf die Souveränität und die Unterstützung durch deren Rechts- und Machtstrukturen angewiesen, doch die gleichen Strukturen widersprechen, ihrem Prinzip nach, dem Wirken des Kapitals und behindern es in der Praxis, bis sie schließlich seine Entwicklung verhindern“ (S.336).

Wenn man den Autoren Glauben schenken will, muss das Kapital immer die Hindernisse überwinden, die ihm der Staat in den Weg stellt. Aber während in der vor dem Empire liegenden Ära des Kapitalismus die Zivilgesellschaft zwischen Kapital und Staat erfolgreich vermittelte, beginnt die Gesellschaft nun zu bröckeln. Gewerkschaften, Familie und Schulen befinden sich in einer Todeskrise und damit werden auch ihre Wirksamkeit und Unterschiedlichkeit zerstört. Somit fallen zivile Gesellschaft und Staat ineinander zusammen. (29)

Negri und Hardt kehren hier zunächst die wirkliche Geschichte der Beziehung von Kapital und Staat um. Der Staat war ein Werkzeug, um die Zerstörung der feudalen Fesseln zu bewerkstelligen und ein Heer von ‚freien‘ Arbeitskräften zu schaffen, die durch das Kapital ausgebeutet werden konnten. Dies geschah dadurch, dass die Bauern der Möglichkeit beraubt wurden, ihren Unterhalt auf dem Land zu schaffen, durch Verabschiedung von Gesetzen gegen Nichtsesshaftigkeit und viele andere Maßnahmen, um das Proletariat in die Fabriken zu pferchen. In der Entwicklung des Kapitalismus wurden auch Gesetze beschlossen, die die Bildung von ‚Arbeitsverbünden‘, also Gewerkschaften, erschwerten, so dass die Arbeiter die Bedingungen für den Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht verbessern konnten.

Im Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz, als die Arbeiterklasse an Stärke gewann und das allgemeine Wahlrecht einer Kapitalistenklasse nach der anderen aufgezwungen wurde, schwollen die Bürokratie und das Militärwesen des kapitalistischen Staates ungeheuer an, während die wahre Macht von den Parlamenten auf die vollziehende Gewalt überging; alles geschah, um das Kapital vor den Forderungen der Arbeiterklasse zu schützen.

Der Gedanke, dass der Staat ‚dem Wesen nach‘ immer danach gestrebt hätte, das Kapital an der Entfaltung zu hindern, ehe das Kapital sich dann selbst unter dem Empire befreit, ist lächerlich. Wer hat denn die Schranken für die Bewegungsfreiheit des imperialistischen Kapitals in den vergangenen 90er Jahren niedergerissen? Niemand anders als die Nationalstaaten von Europa und die USA durch Drohung und Bestechung! Wer unterdrückt die Massenbewegungen gegen das weltweit handelnde Kapital? Niemand anders als der Staat der Kapitalisten!

Negri und Hardt glauben, dass an die Stelle des Unterdrückerstaates, der kapitalistischen Zwang auf die Massen ausübt, eine Art innerer Selbstzwang rückt: „Disziplin ist nicht äußere Stimme, die über uns stehend uns unser Handeln diktiert, uns überwölbt, wie Hobbes sagen würde, sondern Disziplin ist eher eine Art innerer Antrieb, der von unserem Willen ununterscheidbar, unserer Subjektivität immanent und ihr also untrennbar verbunden ist“ (S.338). Das Gefängnis beherrscht also nicht die Insassen, sondern bedeutet eigentlich einen Raum, innerhalb dessen sich die Insassen selbst disziplinieren (S.339). In der Tat sind Betriebs, Schul- und Gefängnisdisziplin verwoben in einer „hybriden Produktion von Subjektivität“ (S.339).

Die unterschiedlichen Rollen der Mutter, des Arbeiters und des Schülers werden aufgebrochen und miteinander vermischt, denn sie wurden ein Hindernis „für die weitere Entwicklung von Mobilität und Flexibilität“ (S.340). Auch in diesem Beispiel steckt wenig mehr als ein postmodernes philosophisches Vorurteil, das die gesellschaftlichen Strukturen im Kopf aufzulösen versucht, während sie aber weiterwirken auf gesellschaftlicher Ebene. Im Gegenteil: diese sozialen Identitäten bleiben, auch wenn sie sich im Lauf der Zeit fortentwickeln. Selbstredend können sich die verschiedenen ‚Rollen‘ in einer Person paaren, sie sind nicht so gegenseitig ausgeschlossen wie sie es einmal waren. Eine Mutter, die in einem Callcenter Teilzeitarbeit verrichtet und nebenher für einen Hochschulabschluss studiert, ist demnach Mutter, Arbeiterin und Studentin zugleich. Das heißt nicht, dass diese Unterschiede damit ausgelöscht sind, sondern vielmehr, dass der Einzelne ein Leben lebt, in dem vielfältige statt ‚hybride Identitäten‘ vorkommen können, die möglicherweise jedoch schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Wiederum zeigt sich, dass die Schreiber Gegensätze nur gegenüber stellen oder in ihren Köpfen auflösen können, während das wirkliche Leben sie in einer Auseinandersetzung verbindet und weiter treibt.

Wenn der Staat sein übernatürliches Wesen nach innen verloren hat, vervollständigt das für Negri und Hardt den „Niedergang der Nationalstaaten (…), die durch Grenzen die Aufteilung der globalen Herrschaft markieren und organisieren“ (S.341). Multinationale Unternehmen „arbeiten daran, aus Nationalstaaten bloße Instrumente zu machen, die die Waren-, Gelder- und Bevölkerungsströme überwachen, die sie selbst in Bewegung gesetzt haben“ (S.46). Der Niedergang der Nationalstaaten sei „strukturell und irreversibel“ (S.345).

„Der tatsächliche Niedergang dieser Struktur kann am Entwicklungsgang einer ganzen Reihe von globalen juridisch-ökonomischer Körperschaften verfolgt werden, also etwas an dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), der Welthandelsorganisation (WTO), der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Globalisierung der Produktion und Zirkulation und ihr Rückhalt durch dieses supranationale Rechtsgerüst tritt an die Stelle nationaler juristischer Strukturen“ (S.345).

Das ist eine wirklich bemerkenswerte Behauptung! In den genannten Körperschaften handeln unabhängige Nationalstaaten ihre unterschiedlichen Interessen mit unterschiedlichem Erfolgsgrad je nach ihrer relativen nationalen Macht aus. Die aufkommenden Spuren von staatenübergreifender Bürokratie (z.B. die Schlichtungsausschüsse bei der WTO oder der Europäischen Kommission) bleiben schwach.

Negri und Hardt liegen falsch in ihrer Sicht der Nationalstaaten als passive Opfer des Prozesses einer wirtschaftlichen Globalisierung durch das Kapital der multinationalen Konzerne. Sie waren die ersten Auslöser davon. Schon in den 70er Jahren waren sich die Regierungen der USA und Britanniens im Bündnis mit den Hauptbereichen von Finanz und Industrie einig, dass ihren nationalen Interessen am besten damit gedient wäre, wenn sie alle anderen Länder dazu zwingen könnten, ihnen ihre Finanzmärkte zu öffnen. Sie waren ‚Marktführer‘ bei den meisten Finanzleistungen und gedachten, aus ihren Konkurrenzvorteilen erheblichen Profit zu schlagen. Sie waren die Vorreiter und zwangen alle anderen Märkte, ihrem Beispiel zu folgen oder noch mehr Marktanteile bei diesen Finanzleistungen zu verlieren.

Außerdem verkennen Negri und Hardt das Ausmaß von Regierungsmaßnahmen während der letzten 10 Jahre, um die negativen Auswirkungen der zügellosen Kapitalbewegungen einzudämmen. Nationale Regierungen griffen natürlich ein, um die Folgeschäden der Kapitalbewegungen zu lenken und zu begrenzen. Als Antwort auf den 500 Mrd. $ Verlust der Banken in Japan nach dem Zusammenbruch des Vermögensmarkts 1989 hat die japanische Regierung sofort der Deregulierung ihrer eigenen Finanzmärkte entgegengewirkt und gedrosselt. (30)

Anfang der 90er Jahre griff die US-Regierung ein, als die Spar- und Darlehenskrise im Anschluss an die Rezession von 1989 einsetzte. Als 1992 der Europäische Währungsverbund (ERM) zusammenbrach, führten Portugal, Spanien und Irland kurzerhand Kapitalhandelskontrollen ein, um ihre Währungen zu schützen. 1994 griff die US-Regierung stark ein, um zur Hauptsache Schatzbriefinhaber aus den USA vor dem Verlust von 50 Mrd. $ zu bewahren, die durch den Zusammenbruch des mexikanischen Peso entstanden waren.

Der erfolgreiche Anlauf für die einheitliche europäische Währung 1999-2002 ist auch ein Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen von kleineren EU-Staaten, die plötzlichen ökonomischen Auswirkungen des vereinheitlichten Marktes auf Finanzleistungen fernzuhalten, ein Schachzug, der wie beabsichtigt v.a. dem britischen und deutschen Finanzkapital zugute kam. Diese Öffnung wurde nur unter der Bedingung gestattet, dass den kleineren Staaten Kontrollbefugnisse über die Finanzpolitik der einheitlichen, föderalen europäischen Bank (EZB) zugebilligt wurden. Hier hat der ‚Nationalstaat‘ die Form eines alleuropäischen ‚Staates‘ angenommen, aber der Mechanismus der grenzübergreifenden Kontrollen ist nicht frei vom entscheidenden Einfluss einzelner Nationalstaaten; für sie ist das nur ein Werkzeug.

Das verweist auf einen weißen Fleck in der ‚Empire‘-Erklärung. Negri und Hardt übergehen die Tatsache, dass der wirkliche Widerspruch zwischen Nationalstaat und globalem Kapital jetzt und für absehbare Zeit Regionalisierung der internationalen Ökonomie und übernationale politische Entwicklungen schafft.

Ihre Auffassung vom ‚überflüssigen‘ Nationalstaat unterschätzt ferner die Tatsache, dass die multinationalen Konzerne mit weltweitem Wirkungsfeld ein Rechtssystem an ihrem Stammsitz brauchen, das ihre Interessen verteidigen kann. Wir brauchen uns dazu nur die Regulierung des Internetgeschäfts anzuschauen. Es gibt wenig mehr echte Weltunternehmen als in den Bereichen Computertechnik, Pharmazie, Musikindustrie und Internet. Aber die Abhängigkeit der Großkonzerne von ‚ihrem‘ Staat schimmert durch, wenn ihre Ansprüche in der Weltwirtschaft gegenüber den Konkurrenten durchgesetzt werden sollen.

Im Februar 2001 wurde in den USA vom Berufungsgericht ein früheres Urteil gegen die Musiktauschbörse Napster bestätigt, wonach dieses daran gehindert worden war, ihren Nutzern weiterhin das illegale Herunterladen von Musikstücken auf PC zu ermöglichen und damit gegen geistige Urheberrechte zu verstoßen. Im selben Monat verteidigten Glaxo, Smith & Kline erfolgreich ihr Patent auf ein Aids-Bekämpfungsmittel gegen Versuche aus Brasilien, dieses Mittel als Nachahmerpräparat billiger herzustellen. Im Jahr 2000 wurde das Unternehmen Yahoo durch Beschluss französischer Gerichte zum Rückzieher gezwungen, pornografische Webseiten über französische Internetprovider unzugänglich zu machen.

Verständlicherweise dauert es einige Zeit, ehe sich die Gesetzeslage auf diese neuen Entwicklungen im Weltkapitalismus einstellen und die Konkurrenz zwischen verschiedenen Kapitalsektoren regeln kann. Aber die großen multinationalen Konzerne sind in den mächtigsten Nationalstaaten verwurzelt, und diese verfügen über ein ganzes Arsenal von Handelssanktionen und diplomatischen Manövern, um den Einklang mit ihren Interessen sicher zu stellen.

Die augenfälligste Art, wie der Nationalstaat im Sinne des nationalen Kapitals handelt, offenbart sich in der Kontrolle über die Arbeit. Darunter fallen z.B. Gesetze zu arbeitsrechtlichen Regelungen oder zum Wirkungskreis von Gewerkschaften. Ob in brutalen Überfällen auf Streikende, in der Einkerkerung von Gewerkschaftsführern wie in Nigeria oder in den einschneidenden gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen Britanniens – der Staat ist überall noch eine lebenswichtige Einrichtung für das Kapital.

Drittens legen Negri und Hardt nicht genügend Gewicht auf die Rolle der Nationalstaaten bei der Vergabe von Aufträgen an die Großkonzerne, um deren Profite hoch zu halten. Der außergewöhnliche Anstieg von Aufträgen an die US-Rüstungsindustrie in den 90er Jahren ist das schlagkräftigste Beispiel hierfür.

Die politische Funktion (‚Administration‘) der imperialistischen Staaten besteht den Autoren zufolge darin, die Masse zu segmentieren und zu teilen. Das galt allerdings auch für alle Klassengesellschaften vor dem Empire. Damals wurde diese Aufgabe durch lineare Integration von Konflikten und unterstützt durch einen kohärenten Repressionsapparat bewältigt. Im Empire tendiert das Management politischer Ziele dazu, getrennt von demjenigen der Repression zu verlaufen, während der moderne Staat sie zu koordinieren versucht und die ganze Operation entlang einer Kette von Prinzipien rationalisieren will, die auf der Universalität und Gleichheit seiner Aktionen basiert.

Da die Administration nicht für die politischen Ziele des Staates agiert, wird sie in ihren Verhandlungen autonom gegenüber Arbeiter- und Unternehmergruppen. Sie trachtet nicht danach, sie zu integrieren, sondern sie zu differenzieren. Der Staat verhält sich aus diesem Grund separat zu den verschiedenen sozialen Gruppen. Er behandelt sie alle direkt und separat. Negri und Hardt fragen, wie in diesem Fall der Staat funktionieren kann. Die Antwort lautet: „Die vereinheitlichende Grundlage wie der oberste Wert imperialer Regierung ist ihrer lokale Wirksamkeit“ (S.350).

Mit diesem Konzept vergleichen Negri und Hardt den imperialen Staat mit den Feudalherren oder der Mafia. Beide würden zeigen, dass „die Selbständigkeit lokaler Regierungskörperschaften nicht im Widerspruch zur imperialen Regierung“ (S.351) stehen.

„Lokale Autonomie ist die grundlegende Bedingung, die conditio sine qua non in der Entwicklung des imperialen Regimes“ (S.351).

Dann sagen sie jedoch, dies könne „keine Sicherheit vor möglichen Gefahren, etwa riots, Aufständen, oder Revolten bieten, nicht einmal vor ganz normalen Konflikten zwischen unterschiedlichen lokalen Fraktionen“ (S.351). An dieser Stelle tritt Kommando oder Repression in Kraft. Das Empire braucht die Garantie eines Oberkommandos wie alle anderen Staaten, aber es bezieht sie nicht aus der Notwendigkeit, eine Krieg führende Gesellschaft zu befrieden oder aus der Notwendigkeit, Verträge durchzusetzen.

„Das imperiale Kommando wird nicht mehr durch die Disziplinarmechanismen des modernen Staates ausgeübt, sondern folgt den Modalitäten biopolitischer Kontrolle“ (S.352).

Es gibt kein ‚Volk‘ mehr, dessen Macht auf eine souveräne Körperschaft übertragen werden kann, die dann über das Volk herrscht. Stattdessen wandelt sich die ‚Menge‘ ständig; sie kann nicht vom Staat von oben beherrscht werden, sondern nur intern, wo sie in Produktion, Kultur und Kommunikation operiert. Das imperiale Kommando muss die Zusammenkunft dieser Masse in Autonomie unterbinden, sie aber nicht zerstören; es muss ein generelles Gleichgewicht des Systems garantieren. Wie geht das vor sich? „Das imperiale Kommando besitzt drei globale und unumschränkte Instrumente: die Atombombe, das Geld und den Äther“ (S.353).

Nuklearwaffen negieren die Idee, dass der souveräne Staat ein Monopol auf legitime physische Gewalt hat, schreiben Negri und Hardt. Die Konzentration auf diese Waffen in wenigen Händen nimmt dem Staat die Fähigkeit, Entscheidungen über Krieg oder Frieden zu treffen und macht den Krieg zwischen Staaten „immer weniger denkbar“. Jeder Krieg wird auf einen begrenzten Konflikt reduziert, Bürgerkrieg, schmutziger Krieg, ‚eine Polizeioperation‘.

Das ist eine abwegige Verallgemeinerung. Zuerst einmal sind diese Waffen genau ‚territorialisiert‘ und werden eifersüchtig durch die jeweiligen Nationalstaaten bewacht. Die sie besitzen, sitzen am längeren Hebel gegenüber denen, die sie nicht haben. Wo sich eine Auseinandersetzung zwischen Staaten anbahnt, kann die Verfügungsgewalt über Atomwaffen entweder das Ausmaß des militärischen Konflikts aus Angst vor den Auswirkungen begrenzen (z.B. bei Indien gegen Pakistan) oder Stellvertreterkonflikte entstehen lassen, die zwischen Staaten ausgetragen werden, die Verbündete einer Atommacht sind (wie im Kalten Krieg).

Das Vorhandensein von Atomwaffen macht Kriege zwischen Staaten eindeutig nicht ‚immer weniger denkbar‘, wie sich im Lauf der 90er Jahre herausgestellt hat; vielmehr hat das erdrückende Übergewicht in allen Waffengattungen zur Massenvernichtung die USA sicher gemacht, dass sie ungestraft gegen andere Staaten Krieg führen können.

Der zweite Weg, auf dem das imperiale Kommando wirkt, soll über die „Auflösung nationaler und/oder regionaler Regimes monetärer Regulierung“ (S.354) führen. Negri und Hardt meinen, dass „nationalstaatliche Geldstrukturen Kennzeichen von Souveränität einbüssen“ (S.354) und das Finanzkapital sie beherrsche. Dies ist wiederum eine Einsicht, die bis zum Bruchpunkt ausgedehnt wird. Niemand bezweifelt die Macht der Finanzmärkte, die nationale Währungen entwerten können. Britannien wurde 1992 aus dem ERM durch die vereinten Anstrengungen der Spekulanten hinausgedrängt, die die Devisenvorräte des Landes angezapft hatten. Die finanziellen Zusammenbrüche von Mexiko 1994, Ostasien 1997 und Argentinien 2001 waren alle den Spekulationen der Finanzmärkte geschuldet, die die festgesetzten Wechselkurse der nationalen Währungen zum US-Dollar für überbewertet hielten.

Es gibt aber solche und andere nationale Währungen. Es ist zwar richtig, dass es keine neue allgemeine Währung gibt, aber wir haben nicht nur Geld im Allgemeinen, das „weder einen festen Ort noch einen transzendenten Status“ (S.354) besitzt. Das lässt die herausragende Rolle außer Acht, die der US-Dollar in der Welt spielt. Über die Hälfte aller Dollars ist außerhalb der USA in Umlauf. Internationale Finanzleute leihen und verleihen in der US-Währung, und der internationale Handel nutzt den Dollar selbst dort, wo keine US-Amerikaner beteiligt sind. Wie die Zeitschrift ‚The Economist‘ es ausdrückt, hat „kein Wert seit dem Gold sich einer solch weit verbreiteten Gültigkeit als Tauschmittel und Wertanlage erfreut.“ (31) Heute ist der Dollar zum Standard geworden. Er sichert den internationalen Geldverkehr und den Welthandel, solange die US-Preise stabil bleiben und andere Länder bereit sind, die negative Außenbilanz der USA mitzutragen. (32)

Die letzte Komponente des imperialen Kommandos ist ‚Äther‘. Für Negri und Hardt löst sich das Management der Bildung, Kommunikation und Kultur durch Nationalstaaten unter dem Empire auf. Souveränität wird der Kommunikation untergeordnet, die weder fassbar noch verortbar ist. „Die Kommunikation ist die Form kapitalistischer Produktion, in der es dem Kapital gelang, die Gesellschaft insgesamt und global seinem Regime anzupassen und alle anderen Wege abzuschneiden“ (S.355).

Sie fahren fort: „Möglicherweise kann man dem Gewaltmonopol und der Geldregulierung in mancher Hinsicht Territorien zuschreiben, bei der Kommunikation geht das nicht. Die Kommunikation ist das zentrale Moment, auf dem die Produktionsverhältnisse gründen, sie dirigiert die kapitalistische Entwicklung und transformiert selbst die Produktivkräfte“ (S.355).

Hier unterschätzen die Autoren als erstes die Fähigkeit der Nationalstaaten zur Kontrolle und Territorialisierung von Kommunikation (z.B. durch nationale Telekommunikationsanbieter, national begrenzte Entwicklung des Fernsehsystems, beschränkt durch Bandbreiten, Sendesysteme und natürlich durch Gebührenauflagen für kontrollierten Zugang zum Internet durch Unternehmen und Regierungen).

Zweitens ist die Zahl der Nutzer in der Welt mit Zugang zu Massenkommunikationssystemen sehr gering. Mittlerweile haben sich die Nationalstaaten unbeschränkten Zugriff auf die Daten (als Bilddaten oder in anderer Form) ihrer Bürger verschafft; zu diesen Informationen ist den Massen der Zutritt verwehrt. Drittens stellen sie nicht in Rechnung, dass Konzentration, Zentralisation und Kommerzialisierung der Information zeitlich und räumlich durch politisches Diktat und Geld gebunden sind.

Zusammengefasst verträgt sich Negris und Hardts Sicht vom Staat an keinem einzigen Punkt mit der beobachtbaren Wirklichkeit. Sie sehen ihn essentiell als Hindernis für die Entwicklung des Kapitals statt als Förderer von dessen Vorherrschaft. Für sie liegt das Wesen des Staates in der Kontrolle von Differenzen, nicht in der Repression. Die erstgenannte Aufgabe ist die politische Rolle des Staates (‚imperiale Administration‘), die autonom von der repressiven Funktion (‚imperial command‘) existiert. Mittlerweile lokalisieren sie die repressive Funktion nicht im nationalen Staatsapparat (da der Nationalstaat machtlos ist), sondern im globalen Effekt von Geld, Kommunikation und Nuklearwaffen auf die ‚Menge‘, damit diese sich mit der Herrschaft des Kapitals arrangiert.

Der Staat zentralisiert also nicht die Interessen und Aufgaben der herrschenden Klasse (d.h. als Exekutivkomitee), sondern zersplittert und löst sich auf unter dem Druck der unkontrollierbaren globalen Kräfte, die sich über seine repressive Macht hinwegsetzen und seine politische Kohärenz fragmentieren.

Widerstand gegen das Empire oder „die ununterdrückbare Leichtigkeit und Freude, Kommunist zu sein“

Der ultimative Test für jede politische Analyse besteht in ihrer Fähigkeit, ein Programm zu schaffen, das benutzt werden kann, um ihre Ziele und Prinzipien zu verwirklichen. Wie voraussagbar, steht in ‚Empires‘ letztem Abschnitt, der die heutigen Kämpfe und den Weg nach vorn behandelt, die Überheblichkeit ihres Anspruchs auf theoretischen Radikalismus in scharfem Kontrast zur simplen Banalität ihrer Vorschläge.

Laut ‚Empire‘ sind die Kämpfe des modernen Proletariats sehr verschieden von denen, die von 1968 bis zum Fall der Berliner Mauer reichten, „einem internationalen Kampfzyklus, die auf der Ausbreitung und Übersetzung gemeinsamer Ziele in der Revolte der lebendigen Arbeit beruhte“ (S.67).

Laut Negri und Hardt ist an deren Stelle eine neue Kampfbereitschaft entstanden; Beispiele in den 1990er Jahren beinhalten Los Angeles (1992), Chiapas (1994), Frankreich (1995) und Südkorea (1996). Diese Kämpfe würden sich jedoch grundlegend von früheren unterscheiden.

„Jeder dieser Kämpfe hatte Besonderheiten und basierte auf unmittelbaren regionalen Gegebenheiten, so dass aus ihnen auf keinen Fall ein globaler Zusammenhang, eine Kette von Kämpfen werden konnte. Keines dieser Ereignisse löste einen Kampfzyklus aus, weil die darin zum Ausdruck kommenden Wünsche und Bedürfnisse sich nicht in unterschiedliche Kontexte übersetzen ließen. Mit anderen Worten: Die (potenziellen) Revolutionäre in anderen Teilen der Welt hörten die Ereignisse in Peking, Nablus, Los Angeles, Chiapas, Paris oder Seoul nicht, konnten sie nicht unmittelbar als ihre eigenen Kämpfe erkennen“ (S.67).

Aber warum? Diese merkwürdige Behauptung fließt aus dem Standpunkt der Autoren, dass der moderne Kapitalismus, der nicht auf Industrieproduktion fußt, sondern auf immaterieller Arbeit, seinen zyklischen Charakter eingebüßt hat, der auf intern erzeugten Akkumulations- und Überproduktionskrisen beruht. Die objektive Begründung für proletarischen Internationalismus ist verschwunden, weil er in der Existenz von in Nationalstaaten fußenden Arbeiterbewegungen wurzelte. Heutige Kämpfe verbreiten sich wie schlechter Wein.

Aber nicht alles ist verloren! Was diese Auseinandersetzungen an Kommunizierbarkeit eingebüßt haben, gewinnen sie an Intensität, weil sie – die scheinbar isoliert und unverknüpft sind – gezwungen sind, „in einer vertikalen Bewegung sofort die globale Ebene zu berühren“ (S.68). Obwohl der Übelstand der Bauern in Chiapas von einer Geschichte des örtlichen Ausschlusses aus Staat und Gesellschaft Mexikos seinen Ausgang nimmt, stehen sie tatsächlich z.B. unmittelbar mit dem Charakter und der Funktionsweise der NAFTA in Verbindung (S.55). Zudem sind alle erwähnten Kämpfe „gleichzeitig wirtschaftlich, politisch und kulturell“ (d.h. biopolitisch).

Wieder besteht die beste Widerlegung dieser Ansicht der Auseinandersetzungen nach dem Kalten Krieg in jüngsten Entwicklungen in der wirklichen Welt. Es gibt keine Erwähnung oder einen Hinweis auf die Antiglobalisierungs- oder antikapitalistische Bewegung in ‚Empire‘. Das Buch war zweifellos zum Druck gebracht worden, kurz bevor die folgenschweren Ereignisse in Seattle am Ende des 20. Jahrhunderts das Auftauchen dieser globalen Bewegung in das Gedächtnis aller fortschrittlichen Menschen einprägten.

Obwohl in Keimform in verschiedenen Auseinandersetzungen seit Mitte der 1990er gegenwärtig, wurde die antikapitalistische Bewegung in den Demonstrationen gegen das Ministertreffen zu Seattle volljährig und kündigte die Entstehung einer neuen ‚Subjektivität‘ an – einer bewussten, weltweit organisierten Widerstandsbewegung gegen globales Kapital, seine Regierungen und multilateralen Agenturen.

In Anbetracht der Bezugnahme des Buchs auf Chiapas führt ironischerweise eine ganze Reihe der antikapitalistischen Bewegung ihre Wurzeln auf die ersten internationalen Massenversammlungen zurück, die von der EZLN in Mexiko organisiert wurden, um eine internationale, von den Zapatistas inspirierte Widerstandsbewegung zu koordinieren. (33) Diese Tatsache allein straft die Behauptung Negris und Hardts Lügen, das Haupthindernis dieser postmodernen Kämpfe sei „das Fehlen eines erkennbaren gemeinsamen Gegners, gegen den sich die Kämpfe richten“ (S.70).

Die antikapitalistische Bewegung ist auf der Erkenntnis ‚gegründet‘, dass, was die landlosen Bauern von Chiapas, die Arbeiter des französischen Öffentlichen Dienstes und die Südkoreas, die gegen die Sparkonzepte des IWF zu Felde ziehen, gemein haben, ein Kampf gegen das verwobene Netz der Großkonzerne und ihrer Wächter in IWF, Weltbank und WTO wie auch einer Myriade an untergeordneten Pakten und Agenturen ist.

Mehr noch: in dem Maße, wie die Bewegung reift, subjektiv revolutionärer wird, sehen viele den Zusammenhang zwischen Konzernglobalisierung und der neuen Welle imperialistischer Militarisierung und Aggression sowie dem Kampf der PalästinenserInnen gegen zionistische Unterdrückung. (34)

Aber wenn Negri und Hardt den Grad unterschätzen, in dem aktuell Kämpfe miteinander verflochten sind, überschätzen sie auch den, bis zu dem jeder für sich eine ‚unmittelbare‘ und direkte Herausforderung für ‚das virtuelle Zentrum des Empire’ präsentiert. Das folgt natürlich aus ihrem falschen Glauben, dass in der Welt des Empire keine Moderation von Auseinandersetzungen existiert; lokale, wirtschaftliche Missstände und weltweite politische Belange sind unmittelbar kombiniert und es gibt keine Gesellschaftsmechanismen, die bewirken können, den Widerstand zu zerstreuen – schließlich hat die Gewerkschaftsbürokratie an Kraft verloren und Parteien sind verfallen. Von daher führt der philosophische Standpunkt der ‚Unmittelbarkeit‘ zur Anbetung der Spontaneität und willkürlicher Blindheit vor den wirklichen sozialen Apparaten, die Gegenwehr blockieren, entgleisen lassen und ersticken.

Die Bilanz der antikapitalistischen Bewegung widerlegt ‚Empires‘ Aussagen völlig. Sie unterstreicht nur, wie steril seine Unterscheidung zwischen ‚horizontalen‘ und ‚vertikalen‘ Kämpfen ist und erweist seine Todesanzeige für den ‚proletarischen Internationalismus‘ als verfehlt. Fakt ist, dass die Auswirkung der weltweiten kapitalistischen Krisen auf verschiedene Nationalstaaten erste Antriebskraft für Auseinandersetzungen der Arbeiterklasse und Bauern sind und diese durch ein Netzwerk von Gewerkschaften, Parteien und antikapitalistischen Gruppen zusammengehalten werden.

Ein weiterer, noch reaktionärerer Irrtum, dem das Buch verfällt, ist seine Gegnerschaft gegen „falsche und schädliche“ Widerstandsstrategien, die gegen die Resultate der weltweiten Kapitalbewegungen im Namen der Bewahrung des Lokalen, Regionalen oder Nationalen anzugehen sucht. Es argumentiert, das Örtliche sei umgrenzt, partikularistisch und rückständig und das Globale führe nicht immer zum Aufpfropfen von Einförmigkeit und Ausradieren von Unterschieden. Dies zeigt nur zu klar, wie ihre Methode sie verblendet gegen das, was Sache ist.

Sind die Anstrengungen der kolumbianischen Gemeinden gegen die Vorgehensweise des Ölmultis BP nicht fortschrittlich? Sie bekämpfen die Zerstörung ihres Landes und die Beraubung ihrer Umwelt. Sie mögen auch Arbeit in den Anlagen suchen, aber mit gewerkschaftlichen Rechten und anständiger Bezahlung. Es mag stimmen, dass ihre schlimmsten Feinde die örtlichen und nationalen Agenten der kolumbianischen Regierung und ihre besten Verbündeten die ArbeiterInnen in der ausländischen Petroleumindustrie sind, aber das stellt nicht notwendigerweise einen Gegensatz zwischen lokalen und internationalen Kämpfen dar. „Globalisierung von unten“ (d.h. ein Geflecht international gesteuerten Aufbegehrens gegen das weltweite Kapital) und Verteidigung von Rechten vor Ort, selbst in dem Umfang, das Vorgehen des globalen Kapitals an den Örtlichkeiten abhängig von der Anerkennung demokratischer und gewerkschaftlicher Rechte und eingeborener Kulturen zu machen, schließen einander nicht aus. Nur vorurteilsbehaftete PostmodernistInnen wie Negri und Hardt können in der Existenz von Nationalstaaten und Identifizierung mit der Heimat vor Ort ein reaktionäres Hindernis für den Fortschritt entdecken, weil sie ‚Grenzen‘ festlegen.

Die letzten Buchkapitel befassen sich damit, wie das Empire gezwungen werden kann, einer anderen Gesellschaft Vorfahrt zu gewähren. Weil politische Konflikte einander ohne Vermittlungsleistung konfrontieren, verfügt das Empire über größeres Revolutionspotential; die Menge steht in direktem Gegensatz zu ihm. Aber was macht diese Menge aus? Sie ist eine Eigenheit, nicht die Summe aller Bestandteile; sie entsteht infolge kooperativer, unmittelbarer, autonom produzierender Arbeit. (35) Die vielfältige Masse wird zunächst von Arbeitswanderung geprägt. „Mittels Zirkulation macht sich die Menge den Raum wieder zu eigen und konstituiert sich als handelndes Subjekt“ (S.404). (36)

Diese Bewegung ist aber noch keine politische Organisation. Während das Empire Massenmigration braucht, muss es die Wanderarbeiter zu hindern versuchen, politische Legitimation zu erlangen; so kriminalisiert es sie und trachtet, sie zu isolieren. Nationalismus kann gegen sie eingesetzt werden; Unterdrückung ist im Schwange. „Das Handeln der Menge wird zuallererst dann politisch, wenn es sich unmittelbar und in angemessenem Bewusstsein gegen die zentralen Unterdrückungsaktionen des Empire richtet“ (S.406).

Während die Autoren darauf bestehen, dass man noch nicht sagen könne, welche konkreten Praktiken dies beinhalten werde, glauben sie doch, über ein grobes politisches Programm zu verfügen, das die Herausforderung des Empire zusammenfasst.

Das Buch endet mit der Anregung dreier Forderungen, die vermutlich gegenwärtige Konflikte verknüpfen und den Kapitalismus konfrontieren sollen. Es sind Forderungen, die entworfen wurden, um die Fähigkeit des Empire in Frage zu stellen, die Menge zu segmentieren. Deshalb das Bedürfnis auf das Recht Aller zu wandern und nicht räumlich getrennt zu werden; oder das jeder Person auf gemeinsamen Lohn und von daher die Weigerung, entlang wirtschaftlicher Linien gespalten zu werden; und schließlich das Recht der uneinheitlichen Masse auf gemeinsame Kontrolle über Produktion/Kommunikation und ihre Zusammenarbeit nicht vom Kapital gezügelt und für es in Kraft gesetzt zu sehen. (37)

Die erste Forderung lautet darum „Recht auf eine Weltbürgerschaft“, „dass allen Arbeitern die vollen staatsbürgerlichen Rechte gewährt werden“, und die „auf dem grundlegenden modernen Verfassungsprinzip, das Recht und Arbeit miteinander verbindet“ (S.407) beruht. Noch genauer erweist sie sich als Forderung der Menge, dass „jeder Staat die Migrationen, die für das Kapital nötig sind, rechtlich anerkennt“ (S.407). So erweist sich diese „Weltbürgerschaft“ als – die Forderung nach nationalem Staatsbürgertum.

Die Autoren scheinen die Ironie zu ignorieren. Dass die Postmoderne lediglich in der Lage sein soll, eine ‚modernistische‘ Variante einer Losung der bürgerlichen Revolution auszubrüten, eine Erweiterung des Staatsbürgerkonzepts, ist sicher sehr destruktiv für ihre Sache. Dass sie gezwungen sein sollten, Forderungen an den Nationalstaat zu richten, den sie 400 Seiten lang für vom Empire und dem Weltmarkt überflüssig gemacht bewiesen haben, fordert Gelächter geradezu heraus.

Sie argumentieren aber, dass ‚volles‘ weltweites Bürgerrecht nur bedeutsam ist, wenn Individuen das Recht erlangen, ganz wie sie wollen zu bleiben oder sich an eine andere Stelle zu begeben. Aber dies bedeutet keinen Weltstaat oder setzt ihn voraus; es ist tatsächlich nicht mehr als die traditionelle Parole moderner marxistischer RevolutionärInnen – eine Beendigung der Einwanderungskontrollen in jedem Staat – und eine, das muss gesagt werden, die die immer noch von der Existenz des Nationalstaats ausgeht.

Ihre zweite Forderung ist „das Recht auf einen sozialen Lohn“. Das wird mit Verweis auf das postmoderne Konzept von Zeit gerechtfertigt, demzufolge es keine objektive Zeitmessung in der postmodernen Welt gebe – ein ‚Vor‘ und ein ‚Nach‘. Zeit ist das Eigentum der kollektiven Erfahrung der differenzierten Menge. Vergangenheit und Zukunft sind in eine ewige Gegenwart hinein aufgelöst worden, die in der Erfahrung der Menge besteht. Folglich gibt es keinen Arbeitszeitmaßstab, noch sind die Unterschiede zwischen Arbeitstypen aussagekräftig (innerhalb oder außerhalb der Fabrik, produktiv oder unproduktiv). Alles was bleibt, ist eine gemeinsame Zusammenarbeit unter der Vorherrschaft des Empire.

„In dem Maße, in dem die Arbeit die Fabrikgebäude verlässt, wird es immer schwieriger, an der Fiktion irgendeines Maßes für den Arbeitstag fest zu halten und somit, die Produktionszeit von der Reproduktionszeit bzw. die Arbeitszeit von der Freizeit zu trennen. Auf dem Feld biopolitischer Produktion gibt es keine Stechuhren; das Proletariat produziert in seiner gesamten Gemeinsamkeit überall den ganzen Tag lang“ (S.409).

Auf dieser Grundlage erhebt sich der Ruf „nach einem sozialen Lohn und nach einem garantierten Einkommen für alle“.

Die mögliche Kette reaktionärer Schlussfolgerungen, die aus dieser absurden Sophisterei abgeleitet werden kann, ist so grenzenlos wie die mutmaßliche Verfassung des Empire. Kein Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit? Nun, ein paar Überstunden in der Fabrik oder im Schacht sind dann eine feine Sache? Keine Unterschiede zwischen irgendwelchen Arten konkreter Arbeit? Gleicher Lohn für Alle – aber wer soll in der existierenden Welt über dessen Höhe entscheiden? Wie wird sie berechnet, wenn es keinen Wertmaßstab gibt? Bedeutet das Lohneinbußen für FacharbeiterInnen? Trifft das auf parasitäre Aktionäre wie auf jeden anderen zu? Das wäre alles lächerlich, ginge es nicht um die Tatsache, dass die Leute etwas zu essen haben müssen.

Das bringt uns zur nächsten Forderung – dem „Recht auf Wiederaneignung“. (38) Das bedeutet „freien Zugang zu und Kontrolle über“ die Produktionsmittel. (39) Es ist „autonome Eigenproduktion“ (S.413). Negri und Hardt sagen uns nicht, wie diese Autonomie von denen, die gegenwärtig die Produktionsmittel kontrollieren und besitzen, erreicht und dann vor Angriffen verteidigt werden soll. Sie sind sich der Existenz der Unterdrückungskräfte und über deren Ruf im Klaren, schweigen aber dazu, wie die Menge Stellung zu ihnen beziehen, geschweige denn sie besiegen soll.

Später erzählen sie uns: „Die Produktionsweise der Menge eignet sich den Reichtum des Kapitals wieder an“. In der Moderne war Privateigentum oftmals über Arbeit legitimiert, aber diese Gleichung wird, wenn sie denn überhaupt jemals stimmte, heute allmählich völlig annulliert (S.417). Bedeutet dies, Enteignung vorzuschlagen? Denn Kontrolle über den Produktionsprozess „annulliert“ nicht aus sich selbst heraus „den Eigentumstitel“. Dafür wird eine alternative Macht gebraucht – ein Staat -, der den existierenden Staat, der das Recht auf Privateigentum an den Produktionsmitteln anerkennt und erzwingt, gewaltsam umstürzen kann. Am Ende des Buchs beobachten die Autoren: „Gewiss muss ein Augenblick kommen, an dem Wiederaneignung und Selbstorganisation eine Schwelle erreichen und zu einem realen Ereignis werden“ (S.417) und „An diesem Punkt hört die moderne Republik auf zu existieren und das postmoderne posse (ital.: Können, Vermögen; d. Red.) hebt sich“ (S.417). Sie können uns aber nicht weismachen, wie dies „reale Ereignis“ aussehen wird oder wie das in einer „nahtlosen Welt“, in der Zivilgesellschaft und Staat schon miteinander verquickt sind, überhaupt passieren kann.

Am Ende kann keine dieser Forderungen das kapitalistische System in Frage stellen. Marxisten unterstützen das Recht auf Bewegungsfreiheit der lebendigen Arbeit und auf Einbürgerung, aber keines sprengt die Grundlagen des Kapitalismus; tatsächlich finden beide Unterstützer bei Teilen der Kapitalistenklasse. (40) Nur das Recht auf Produktionskontrolle stellt einen lebenswichtigen Aspekt von Kapitalismus in Frage und selbst dies wird unzureichend aufgestellt.

Schließlich reflektieren Negri und Hardt, wie die Masse ein gemeinsames Bewusstsein entwickelt, so dass diese sich über ihren Auftrag der Vernichtung des Empire klar wird. An einem Punkt stellen sie die Frage so:

„Wie kann produktive Arbeit, zerstreut in mannigfaltigen Netzwerken, einen Mittelpunkt finden? Wie kann die materielle und immaterielle Produktion der Hirne und Körper der Menge vernünftig werden und eine Richtung nehmen, genauer wie kann das Bemühen, die Distanz zwischen der sich zum Subjekt organisierenden Menge und der Konstitution eines demokratischen politischen Dispositives zu überbrücken, seinen Fürsten finden?“ (S.78) Ihre Antwort: „Die Form, in der das Politische heute seinen Ausdruck finden kann, ist jedoch überhaupt nicht klar“ (S.78).

Offensichtlich unbeeindruckt von der Unfruchtbarkeit ihrer ganzen Analyse sind sie nichtsdestotrotz einer Sache sicher – welche Form diese Subjektivität nicht annehmen darf:

„Dieses Werden kann sich einzig und allein in der Erfahrung und im Experimentieren der Menge zeigen. Damit hat sich die Macht der Dialektik, nach der sich das Kollektiv eher durch Vermittlung denn durch Konstitution herausbildet, endgültig aufgelöst“ (S.412). Kurz, es kann keine politische Partei der buntscheckigen Menge oder innerhalb ihrer geben, die sie oder Schichten von ihr (z.B. Avantgarden) repräsentiert.

Anstelle von Räten, Parteien und Massengewerkschaften der Arbeiterklasse zu verschiedenen Zeitabschnitten im Kapitalismus haben wir das ‚posse‘. „Posse bildet den Standpunkt, von dem aus wir die Menge als singuläre Subjektivität am besten erfassen können: posse konstituiert ihre Produktionsweise und ihr Sein“ (S.415). Sie fahren fort: „…die neue Militanz wiederholt nicht einfach die Organisationsformeln der alten revolutionären Arbeiterklasse. Heute kann der Militante nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, repräsentativ zu handeln, nicht einmal mehr für die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse der Ausgebeuteten. Revolutionäre politische Militanz muss heute im Gegenteil das wiederentdecken, was schon seit jeher die ihre eigene Form war: nicht repräsentative, sondern konstituierende Tätigkeit“ (S.419).

Heute gibt es kein Außen, nur ein Innen: die Welt „kennt nur ein Innen, eine lebendig und unvermeidliche Beteiligung an den gesellschaftlichen Strukturen, die sich nicht mehr transzendieren lassen“ (S.419/420).

Vielmehr: „Das einzige Ereignis, auf das wir noch immer warten, ist dasjenige der Errichtung oder genauer: der revolutionären Erhebung einer mächtigen Organisation. (…) und somit warten wir nur noch darauf, dass die politische Entwicklung des posse zur Reife gelangt. Feste Modelle haben wir für dieses Ereignis nicht zu bieten. Erst die Menge wird im praktischen Experiment diese Modelle bereitstellen und darüber bestimmen, wann und wie das Mögliche Wirklichkeit wird“ (S.418).

Wenigstens an diesem Punkt sind sie konsequent. Die ganze Stoßrichtung ihres Buchs besteht exakt darin, aufzuweisen, dass es keine Generalstrategie geben kann, innerhalb derer der Kampf gelenkt werden könne. Das würde bedeuten, sich selbst über die Massen zu ‚erheben‘, sie folglich im Grunde genommen zu unterdrücken und zu übersehen, den Kampf auf einem innewohnenden Niveau innerhalb der Massen selbst steuern zu müssen.

Widerspruchsfreiheit ist in diesem Fall aber keine Tugend, da Negri und Hardt uns mit nichts als Spontaneismus und Abenteurertum zurücklassen. Im modernen globalisierten Kapitalismus ist die Arbeiterschaft im Gegensatz zur Annahme der Autoren entlang nationalen, politischen, ethnischen und anderen Linien gespalten. Diese ‚Riefelung‘ ist mit dem ‚Abschluss des Weltmarktes‘ nicht verschwunden. Der Zweck einer internationalen Partei der Revolution besteht darin, ein wissenschaftliches Programm zu entwickeln, dass die wirklichen Interessen der Gesamtklasse verkörpert, das kollektive Gedächtnis der Klasse darstellt und Lehren aus ihren Kämpfen zieht. Sie systematisiert dies in einer Aktionsanleitung für die Erringung der Staatsmacht. Es ist eine große Verleumdung von Anarchisten und anderen, zu behaupten, eine revolutionäre Partei stelle sich gegen die Arbeiterklasse, sie sei ein ‚Äußeres‘. Parteien werden aus der Arbeiterschaft gebildet, ihre Kader sind Teil von ihr und leben unter ihr.

Wieder entdecken Negri und Hardt nur einzelne Übereinstimmungen oder formale Gegensätze und Hass auf Schranken, die inhärent unterdrückerisch sind. Sie können nicht in Betracht ziehen, wie Mitglieder einer revolutionären Partei zu ein und derselben Zeit sowohl Teil der Arbeiterviertel, in denen sie leben, wie Repräsentanten ihrer revolutionären Minderheit sind. Sie können nicht erkennen, wie eine Partei schöpferisch zu laufenden Kämpfen beitragen und doch gleichzeitig die Lehren der Vergangenheit verinnerlichen wie die Hauptwegweiser in eine revolutionäre Zukunft aufstellen kann.

MarxistInnen sind über Schranken zwischen Avantgarde und Masse nicht erschrocken, weil sie ungleich den Postmodernisten nichts als fixiert, unabänderlich begreifen. Aus diesem Grund sehen sie sich auch nicht als repressiv. Es gibt eine Demarkationslinie zwischen Vorhut und Massen, aber eine schöpferischer Spannung. Alles, was Negri und Hardt im Gegensatz zu bieten haben, ist platte, stromlinienförmige Unmittelbarkeit.

 

Anmerkungen und Fußnoten

(1) „Entsprechend können wir heute sehen, wie das Empire die grausamen Regime moderner Macht wegwischt“ (S.57).

(2) „…sollten wir aber gleich zu Beginn ausschließen…(die Auffassung) die Ordnung sei das Diktat einer einzelnen Macht und folge jenseits globaler Kräfteverhältnisse einer einzigen zentralen Rationalität, welche die verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsphasen gemäß ihrem bewussten und alles überschauenden Plan lenkt…“ (S.19).

(3) Auch von der Zwischenkriegszeit 1918-38 gilt, „dass sie (die USA) vielmehr zu Hause wie in der Ferne unmittelbar imperialistische Projekte verfolgten“ (S.188).

(4) Dieser juristische Begriff von Empire umfasst „den gesamten Raum dessen, was es als Zivilisation betrachtet“ und präsentiert diesen Begriff als andauernd und ewig. Der Einsatz militärischer Gewalt, um imperiale Rechte durchzusetzen, wird ebenfalls durch eine ganze Reihe neuer Charakteristika gekennzeichnet. Diese werden durch Negri und Hardt im Begriff „Interventionen“ zusammengefasst. Doch diese Interventionen sind nicht solche „in rechtlich unabhängige Territorien, sondern es sind Maßnahmen einer herrschenden Ordnung der Produktion und Kommunikation innerhalb einer vereinheitlichten Welt“ (S.49).

(5) „So wie in den alten Tagen der Römer sich nicht unwürdig behandeln ließ, wenn er sagen konnte Civis Romanum sum, so soll sich jeder britische Bürger, in welchem Land er auch sei, sicher fühlen, dass das wachsame Auge und der starke Arm Englands ihn gegen jede Ungerechtigkeit und falsche Behandlung schützen wird“ (Lord Palmerston, Juni 1850).

(6) Tom Berry ist ein führender Vertreter des ‚Interhemispheric Resource Center (IRC)‘ und Co-Direktor von ‚Foreign Policy in Focus‘.

(7) Die Autoren sind sich bewusst, dass in der Zeit nach dem Kalten Krieg „Militärinterventionen immer seltener auf Entscheidungen innerhalb der alten internationalen Ordnung oder sogar von UNO-Strukturen zurückzuführen sind. Häufiger werden sie einseitig von den USA diktiert, die sich den ersten Einsatz vorbehalten und in der Folge ihre Verbündeten um Mitwirkung in einem Prozess bitten, der dem aktuellen Feind … entgegentreten soll“ (S.51).

(8) Ironischerweise kontrastiert ihr Lob für die „gesunde und klare Abneigung gegenüber dem Pfäffischen und den starren Hierarchien, die der kapitalistischen Gesellschaft vorausgingen“ mit ihrer späteren Denunzierung des Marx’schen ‚Eurozentrismus‘ in seinen Schriften zu Indien!

(9) Die Autoren behaupten, dass „Zentrum und Peripherie, Norden und Süden nicht länger eine internationale Ordnung bilden“ und dass die globalen Ungleichheiten zwischen Ländern „nicht mehr grundsätzlicher Art, sondern solche der Quantität“ seien (S.345 f.). Dies hat wesentliche Auswirkungen für die Frage der antiimperialistischen Strategie. Oder wie es Juan Chingo und Gustavo Dunga in ihrer Rezension des Buches darlegen: „Negris und Hardts positivistische Operation, zusammen mit ihrer Ablehnung der Dialektik, verwischt die tatsächliche Struktur des Weltsystems und der daraus fließenden Widersprüche, d.h. die verschiedenen Hierarchien von Ländern innerhalb der kapitalistischen Welt sowohl im Zentrum wie in der Peripherie, dem Kampf um Hegemonie zwischen rivalisierenden Mächten im Zentrum, die weltweite Scheidung zwischen unterdrückenden und unterdrückten Ländern und die Verwobenheit der Arbeiterkämpfe und derer der nichtbürgerlichen Klassen in letzteren mit denen der Massen in den imperialistischen Kernländern“.

(10) Macht „durchdringt das Bewusstsein und den Körper der Individuen“ (S.39).

(11) „Maschinen produzieren. Das permanente Funktionieren sozialer Maschinen, ihre verschiedenen Apparate und Funktionszusammenhänge produzieren, gemeinsam mit den Subjekten und Objekten, die sie konstituieren, die Welt“ (S.43).

(12) „Sprache, indem sie kommuniziert, produziert Waren und vor allem Subjektivitäten, setzt sie in Beziehung, gibt ihnen Ordnung“ (S.47).

(13) Dies hat eine lange Tradition in Italien. Lucio Colletti versuchte in den 1960ern und 1970ern, den Marxismus von seinen Hegelianischen ‚Vulgaritäten‘ zu ‚retten‘, und argumentierte wie Negri für eine Rückkehr zu Spinoza.

(14) Als Teil ihres Angriffs auf die Dialektik versuchen die Autoren bewusst, die Kategorien durcheinander zu bringen. Sie verstehen das Buch auch als postmodernistische Analyse im Feld der internationalen Beziehungen. Während ‚moderne‘ Theorien die Macht von Nationalstaaten, staatlich legitimierte Gewalt, territoriale Integrität etc. betonen würden, verweigert der Postmodernismus den Fokus auf Grenzen, weil dies Macht und Unterdrückung unterstützen oder legitimieren würde.

(15) Sie leugnen sogar explizit, dass Strategie und Taktik in einer postmodernen Welt noch Sinn machen (siehe S.70 f.).

(16) Eine ähnliche Idee wird durch Castells vertreten, dem Cheftheoretiker derjenigen, die uns im ‚Informationszeitalter‘ wähnen. Er behauptet dass die ’neue Ökonomie‘ auf drei Säulen beruhe: (i) Information anstelle von Industrie, (ii) Globalisierung anstelle von Inter-Nationalisierung, (iii) einer organisatorischen Form basierend auf Netzwerken anstelle des Fließbands des Fordismus. Castells erklärt den Zusammenhang von Globalisierung und Informationstechnologie folgendermaßen:

„Eine Weltwirtschaft – d.h. eine Ökonomie, in der Kapital rund um den Globus akkumuliert wird – gibt es im Westen mindestens seit dem sechzehnten Jahrhundert, wie uns Braudel und Wallerstein gelehrt haben. Eine globale Ökonomie ist etwas anderes: es ist eine Ökonomie mit der Fähigkeit als Einheit in Realzeit, oder in gesetzter Zeit, auf planetarischer Ebene zu arbeiten. Während Kapitalismus durch seine ununterbrochene Expansion, sein dauerndes Überwinden von Grenzen in Raum und Zeit gekennzeichnet ist, tritt erst am Ende des 20. Jahrhunderts so etwas wie eine wirklich globale Ökonomie auf, auf der Grundlage einer Infrastruktur von Informations- und Kommunikationstechnologien und mit der entscheidenden Hilfe einer Politik der Deregulierung und Liberalisierung, wie sie von Regierungen und internationalen Institutionen durchgeführt wird… Aber nicht alles ist global in der Wirtschaft: tatsächlich wird ein Großteil der Produktion, der Beschäftigung, der Firmen lokal und regional bleiben… Aber wir können von einer globalen Ökonomie sprechen, weil die Ökonomien rund um den Globus von der Performance ihres globalisierten Kerns abhängen. Dieser globalisierte Kern umfasst Finanzmärkte, internationalen Handel, transnationale Produktion und bis zu einem gewissen Grad, Wissenschaft und Technologie und spezialisierte Arbeit“ (M. Castells, ‚The Rise of the Network Society‘, 2. Auflage, Blackwell Publishers, 2000, S.101; aus dem englischen Original übersetzt, Red.).

(17) Ein Großteil des Beschäftigungsanstiegs im Servicesektor kann erklärt werden aus der steigenden Beteiligung von Frauen an den Belegschaften. Früher im Haushalt ausgeführte Aufgaben werden heute oft als Geschäft betrieben. Die amtlichen, geschlechtsblinden Statistiken jedoch nehmen keine Notiz von der Hausarbeit; sie registrieren nur die Aktivität im Marktbereich. So neigen diese Statistiken zu einer Überschätzung des Wachstums der Dienstleistungsbranchen.

Während in den USA die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich von 58 % 1960 auf 76 % 2000 angestiegen ist und der Industriesektor von 35 % auf 22 % abnahm, stieg der Anteil von Frauen an der Erwerbstätigenbevölkerung im gleichen Zeitraum von 32 % auf 47 %, was das Gros an Zuwachs im Dienstleistungsgewerbe erklärt.

(18) In den USA ist der Anteil von Handel, Finanzen und Versicherungen an der Gesamtbeschäftigung ähnlich von 22 % im Jahr 1960 auf 32 % im Jahr 2000 angestiegen.

(19) In Schweden ist eine Untersuchung des Unternehmerverbandes zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen, nämlich dass sich der Anteil der Industrie am BIP von ca. 50 % zwischen Ende der 1960er Jahre und 1990 nicht verändert hat, wenn der Bereich der industriellen Dienstleistungen miteinbezogen wird. Dies wird erörtert bei L. Magnusson, ‚Den tredje industriella revolutionen‘, 2000, S.26).

(20) Wäre dies der Fall, würden Exporte industrieller Produkte aus der „Dritten“ in die „Erste“ Welt tendenziell die andere Richtung übersteigen, was bei weitem nicht zutrifft, obwohl der Industriegüteranteil an allen Ausfuhrprodukten aus der „Dritten“ Welt gestiegen ist.

(21) In Bezug auf die USA hat die Behauptung allerdings Relevanz, da sie fast doppelt soviel Waren einführt wie ausführt, während sie noch bis in die 1970er hinein Nettoexporteur war. Im Jahr 2000 machte das Handelsbilanzdefizit 5 % ihres BIP aus, was heißt, dass 6-7 Mill. Menschen außerhalb der USA dafür arbeiteten, dieses Land mit Industriegütern zu versorgen. Dies ist eher ein Anzeichen für die Tendenz zur Ausbreitung des Coupon-Schneidens in der vorherrschenden imperialistischen Macht. Dies erklärt auch z.T., warum Länder wie Japan und die BRD mit Handelsüberschüssen einen weitaus größeren industriellen Sektor als die USA aufweisen.

(22) Vorwort zur ‚Kritik der politischen Ökonomie‘, MEW 13, S. 9

(23) Vgl. Charlie Post: „Empire and Revolution“, in International Viewpoint, Juni 2002, S.32. Laut Weltbank gab es 1997 weltweit 2,8 Mrd. Lohnabhängige, davon 550 Mill. in der Industrie.

(24) Hier besteht eine klare Analogie zwischen Hardts und Negris Anschauung vom Übergang des Imperialismus zum Empire einerseits und Bernsteins Haltung zum Übergang vom Konkurrenzkapitalismus zum Imperialismus vor 100 Jahren. Bernstein dachte, dass die dominanten Tendenzen im Kapitalismus – Monopolisierung, Dominanz des Finanzkapitals und imperialistischer Expansionismus – schließlich zur Fähigkeit des Staates, Krisen zu regulieren und vorzubeugen, führen würden.

(25) Sie behaupten sogar, dass die „kapitalistische Krise nicht eine Funktion der Kapitaldynamik selbst“ ist, „ihre Ursache ist unmittelbar der proletarische Kampf“ (S.272).

(26) Dies geht auch klar aus folgendem Interview mit Hardt hervor: „Die Unterscheidung Reform – Revolution ist nicht sehr nützlich, vielleicht gebrauchen wir deswegen das Wort (Revolution) nicht. Eine Befreiung muß gleichzeitig einen revolutionären Prozess beinhalten, aber es ist nicht möglich, vorherzusagen, wie ein solcher aussehen wird, etwas, das nur im Nachhinein verständlich sein wird.“

(27) Craib, I.: „Modern Social Theory“, 2. Auflage, Harvester Wheatsheaf, S.183.

(28) Castells: „The Power of Identity“, Blackwell Publishers, S.359-362. Castells schreibt außerdem „Die Arbeiterbewegung scheint z.B. historisch überlebt zu sein…sie scheint nicht fähig von sich und aus sich heraus eine Übereinstimmung mit einem Projekt zu erzeugen, das in der Lage ist, soziale Kontrolle zu rekonstruieren und soziale Institutionen im Informationszeitalter wiederaufzubauen. Arbeitermilitante werden zweifellos Teil einer neuen transformatorischen sozialen Dynamik sein. Aber ich bin mir weniger sicher, dass die Gewerkschaften dies sein werden.

Politische Parteien haben auch ihr Potenzial als autonome Agenten der sozialen Veränderung erschöpft, sind befangen in der Logik der Informationspolitik und ihrem Hauptfundament, den Institutionen des Nationalstaates, und haben viel von ihrer Relevanz eingebüßt…“

(29) „Eine Marx’sche Staatstheorie lässt sich demnach erst schreiben, wenn alle gesetzten Schranken überwunden sind und Staat und Kapital tatsächlich zusammenfallen“ (S.248).

(30) In dieser Hinsicht beweist Joyce Kolko mehr Realitätssinn als die Globalisierer, indem sie schreibt: „Zum einen ziehen sich Staaten aus der direkten Beteiligung an der Ökonomie zurück, zugleich aber zeigen sie mehr Engagement. Sie halten sich in Bereitschaft, um die größten Konzerne aus drohender Finanzkrise zu retten. Die Umstrukturierungspläne des IWF, die Politik der massiven Einmischung in die Ökonomien der gering entwickelten Länder (LDCs) haben nur das Chaos und das Elend in diesen Ländern gefördert.“

(31) ‚The Economist‘, 14. September 2002.

(32) Auch der Euro dient als Regionalwährung eines entstehenden alleuropäischen Staates, und sein Erfolg ist ein weiterer Baustein für Europa auf dem Weg zu einem erweiterten Nationalstaat.

(33) Siehe den Abschnitt zu Peoples Global Action in Globalisierung, Antikapitalismus und Krieg, S.34 ff., Verlag global red, Berlin 2001.

(34) Dies kann man an der persönlichen und politischen Überschneidung und gegenseitigen Befruchtung zwischen Teilen der Bewegung sehen; viele Menschen in der Internationalen Solidaritätsbewegung für Palästina (ISM) sind aktiv in den größeren antikapitalistischen Mobilisierungen der letzten Jahre von Prag bis Genua.

(35) Sie schreiben: Die Menge hat sich durch die Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts hindurch entwickelt. „Jede der Revolutionen des 20. Jahrhunderts hat, ungeachtet aller Niederlagen, die Verhältnisse im Klassenkonflikt vorwärts getrieben und verändert, indem sie die Bedingungen für eine neue politische Subjektivität schuf“ (S.401). Nur durch Behandlung dieser Subjekthaftigkeit als außerhalb von Zeit und Raum angesiedelt können Negri und Hardt zu dieser absurden Schlussfolgerung gelangen. Das gegenwärtige Schicksal der Arbeiterbewegungen (Tod, Exil, Repression) ist für Negri und Hardt nicht in der Lage, diese Subjektivität umzukehren. Für Marxisten kann das Ausmaß an Klassenbewusstsein (Subjektivität) wesentlich an Wachstum und Mitgliedschaft von Organisationen des Kampfs und der Selbstbefreiung ermessen werden – wie auch an deren Fehlen, Bürokratisierung und Zerstörung. Nur für Idealisten kann das Voranschreiten politischer Subjektivität durch die Tatsache der Streitgefechte und das Anschwellen kooperativer Arbeit garantiert sein. Ihre Position erreicht den Gipfel an Absurdität, wenn sie argumentieren, dass die ‚Schwäche‘ des US-Proletariats, gemessen an schwachen Gewerkschaften und politischen Parteien, eine Fata Morgana sei. „Gegen die verbreitete Ansicht, wonach das Proletariat in den USA schwach ist, weil es im Vergleich zu Europa und anderswo weniger in Partei und Gewerkschaft organisiert ist, sollten wir es vielleicht gerade aus diesen Gründen als stark ansehen“ (S.279). Es ist die widerspenstige Natur der amerikanischen Arbeiter, besonders derjenigen, die „sich aktiv die Arbeit verweigerten“ (S.278), die die wirkliche Gefahr für den US-Kapitalismus darstellt!

(36) „Reisepässe und andere Dokumente werden unsere Bewegungen über Grenzen hinweg immer weniger regulieren können“ (S.404).

(37) Sie schließen darunter auch Form des nicht auf direkter Opposition beruhenden Kampfs ein, also eine Art Bemühen durch Verweigerung – Ablehnung von Macht und Gehorsam, nicht nur von Arbeit und Autorität. Sie nennen das „Exodus“.

(38) Wie die anderen auch ist sie mit dem Ausdruck Anerkennung eines ‚Rechts‘ gestellt. Aber wer garantiert dieses Recht und erkennt es an? Wie die ‚philosophische‘ Ablehnung der Realität des Nationalstaats nichts wert ist, wenn es zur Forderung nach Bürgerrecht kommt, so ergeht es auch dem früheren Beharren darauf, der Staat habe sich in die Zivilgesellschaft aufgelöst; es wird gleichfalls aufgegeben, um vom Staat inmitten aus der Zivilgesellschaft heraus etwas zu verlangen.

(39) „Sozialisten und Kommunisten haben immer wieder gefordert, das Proletariat müsse freien Zugang zu und Kontrolle über die für die Produktion verwendeten Maschinen und Materialien haben. Im Kontext immaterieller und biopolitischer Erzeugung erscheint diese traditionelle Losung jedoch in neuer Form. … In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben – denn dies sind einige der wichtigsten biopolitischen Produktionsmittel. … Das Recht auf Wiederaneignung ist somit in Wahrheit das Recht der Menge auf Selbstkontrolle und autonome Eigenproduktion“ (S.413).

(40) Cisco Systems, Oracle und Konsorten im Silicon Valley haben auf den US-Kongress jahrelang Druck ausgeübt, die Einwanderungskontrollen für die USA zu lockern, um ihren Mangel an qualifizierter Arbeitskraft zu überwinden.




Der deutsche Imperialismus heute

von Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 33, Frühjahr 2003

Die kapitalistische Wiedervereinigung 1990 markiert einen strategischen Sieg der deutschen Bourgeoisie. Ohne diesen Triumph der herrschenden Klasse stünde das Vorhaben, Deutschland wieder zu einer imperialistischen Weltmacht zu machen, die es mit den USA aufnehmen kann, noch heute in den Kinderschuhen. Es wäre ein Wunschtraum von chauvinistischen Sonntagsrednern, dessen Erfüllung in weiter Ferne läge.

Doch aufgrund dieses geschichtlichen Wendepunktes ist die Großmacht Deutschland ein reales Ziel nationalistischer und imperialistischer Strategen, ein im Hier und Jetzt zielstrebig verfolgtes politisches, wirtschaftliches und militärisches Projekt.

Der deutsche Imperialismus war schon lange vor der Wiedervereinigung zur ökonomisch stärksten imperialistischen Macht Westeuropas aufgestiegen. Er war Frankreich und Britannien wirtschaftlich zwar voraus, militärisch jedoch eindeutig schwächer als diese Konkurrenten. Der westdeutsche Imperialismus war ein schlafender Riese, dessen weltweites Agieren nach 1945 politisch und rechtlich eingeschränkt war.

Franz Josef Strauß´ Einschätzung der EU – ökonomisch ein Riese, politisch ein Haufen zerstrittener Zwerge und militärisch ein Armeemuseum – traf auch, ja besonders auf den deutschen Imperialismus selbst zu.

Die deutsche Wiedervereinigung vergrößerte nicht nur das Territorium, sondern verhalf dazu, die Fesseln der Nachkriegsordnung weitgehend abzustreifen. Dieses Vorhaben wurde im Gefolge des Vier plus Zwei Abkommens im letzten Jahrzehnt im Wesentlichen gelöst – ohne ernsthaften internationalen Protest anderer Imperialisten oder Russlands.

Die Todeskrise der DDR verlief im Zeitraffer (1). Die Dynamik der Massenbewegung hatte im Sommer 1989 alle Klassen und Schichten in beiden deutschen Staaten überrascht. Die politisch-revolutionäre Krise in der DDR 1989 wurde auch vom deutschen Imperialismus rasch als Chance erkannt. Der Satz, dass auf jede halbe Revolution eine ganze Konterrevolution folgt, bestätigte sich wieder einmal.

Aber warum konnte der westdeutsche Imperialismus die Massenbewegung in der DDR für sich nutzen, obwohl diese ursprünglich als Reformbewegung aufgetreten war und keineswegs die Einführung einer kapitalistischen Wirtschaft zum Ziel hatte?

Besser und rascher als die Massen selbst und auch deutlicher als die Führungen von SPD, Gewerkschaften und SED erkannten die Imperialisten, dass die Bewegung gegen die DDR-Bürokratie zwar unter dem Banner einer Demokratisierung der Verhältnisse auftrat, in Wirklichkeit aber die Machtfrage aufwarf. Wer sollte herrschen? Die DDR-Bürokraten oder die Arbeiterklasse? Die Frage des revolutionären Sturzes des Regimes und seine Ersetzung durch die politischen Machtorgane der Arbeiterklasse war objektiv aufgeworfen (und damit die Frage der Kontrolle über die Produktionsmittel und auch die Frage der Ausdehnung auf Westdeutschland).

Aber die Arbeiterklasse hatte den Weg des revolutionären Aufbegehrens, des Sturzes der SED-Bürokratie nur instinktiv und wesentlich unbewusst beschritten. Sie hatte keinen Plan, keine Vorstellung vom Ziel ihrer Bewegung. Ihr war klar, was sie nicht wollte – eine Fortführung der bürokratischen Planung und der Herrschaft der Bürokraten. Sie war sich bewusst, dass diese nicht nur die Entfaltung der Selbsttätigkeit der Massen blockierte, sondern dass die Planung auf bürokratischer Grundlage zum Scheitern verurteilt war.

Die Krise der DDR war auf dem Boden der Krise der bürokratischen Planung im gesamten Ostblock gewachsen, war Teil einer internationalen Krise der Herrschaft der Stalinisten.

Aufgrund des gering entwickelten und von der bürokratischen Diktatur 40 Jahre lang zerstörten Klassenbewusstseins, der Beschränkung der Bewegung auf die DDR und des Fehlens einer proletarisch-revolutionären Führung, die die embryonale anti-bürokratische politische Revolution gegen Stalinismus und Kapitalismus zugleich hätte richten können, konnte die deutsche Bourgeoisie die Bewegung demobilisieren. Diese Aufgabe wurde ihr durch die kräftige Mithilfe von SPD, SED-PDS und Gewerkschaftsbürokratie enorm erleichtert. So konnte die Krise rasch in Form einer demokratischen Konterrevolution zu Gunsten des (west)deutschen Kapitals entscheiden werden.

Nach anfänglichem Zögern ob der Instabilität der Lage in der DDR, insbesondere nachdem die Bundesbank ihre – für sich genommen durchaus rationalen – monetären Einwände gegen die Wiedervereinigung nicht geltend machen konnte, schwenke die Kapitalistenklasse auf die Linie der raschen Wiedervereinigung um, zu deren Führer sich Kohl 1990 machte. Die Kohlregierung verfolgte hier die längerfristigen strategischen Ziele des deutschen Imperialismus.

Gerade jener Kanzler, der den deutschen Spießbürger, die kurzsichtigste und bornierteste aller Bevölkerungsgruppen verkörperte, bewies in dieser Phase weltgeschichtlichen konterrevolutionären Weitblick.

Insgesamt machte der deutsche Imperialismus mit der Wiedervereinigung einen Sprung in eine „höhere“ Liga imperialistischer Mächte.

Das Vier plus Zwei-Abkommen zwischen den USA, Britannien, Frankreich und der Sowjetunion einerseits und BRD und DDR andererseits sanktionierte die kapitalistische Wiedervereinigung und die Aufhebung der meisten Restriktionen der politischen und militärischen Handlungsfähigkeit des deutschen Imperialismus.

Der Sonderstatus Berlins wurde aufgehoben und die alliierten Truppen aus Deutschland abgezogen. Heute befinden sich ausländische Truppen nur noch im Rahmen des NATO-Bündnisses in der BRD – gerade so, wie sich deutsche Einheiten in diesem Kontext in anderen Ländern aufhalten.

Auf dieser Grundlage war es nur ein kleiner Schritt, das Operationsfeld der Bundeswehr durch eine Erweiterung des NATO-Mandates, UN-Interventionen und neuerdings im Zuge des „Krieges gegen den Terror“ rechtlich auszudehnen. Einzig das Verbot von Nuklearwaffen schränkt die BRD im Vergleich zu anderen imperialistischen Mächten noch immer substantiell ein.

Ökonomisch betrachtet waren die Folgen der kapitalistischen Wiedervereinigung zwiespältiger. Sie vergrößerte zwar den deutschen Markt und die Basis der Großkapitale und führte in den ersten Jahren zu einer Sonderkonjunktur der deutschen Wirtschaft. Gleichzeitig trug sie jedoch mit zu einem Anwachsen der Staatsverschuldung und zu wachsender Instabilität im Inneren bei. Der Beutezug des westdeutschen Großkapitals im Osten verschärfte diese Situation.

Die ostdeutsche Arbeiterklasse wurde mit der kapitalistischen Wiedervereinigung schwer geschlagen. Politisch desorientiert, folgten ein drastischer Kahlschlag und die Schaffung einer riesigen industriellen Reservearmee. Rund zwei Drittel aller industriellen Arbeitsplätze gingen binnen zwei, drei Jahren verloren.

Die Kosten der Wiedervereinigung wälzten die Kapitalistenklasse und die Kohl-Regierung so gut es ging auf die Lohnabhängigen, insbesondere auf die westdeutsche Arbeiterklasse ab, z.B. in Form des Solidarzuschlags. Aber die imperialistische Bourgeoisie konnte den historischen Sieg nicht zu einer strategischen Niederlage der westdeutschen Arbeiterklasse ummünzen.

Trotz der bürgerlichen Politik der SPD, der Angepasstheit des Gewerkschaftsapparates und der zahmen PDS-Opposition ist der entscheidende Schlag bis heute nicht gelungen. Wie wir sehen werden, liegt hier das Haupthemmnis für eine weitere Stärkung des deutschen Imperialismus im Weltmaßstab.

Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der deutschen Bourgeoisie, von einer wirtschaftlichen Großmacht wieder zu einer imperialistischen Führungsmacht zu werden, sind jedoch nicht allein durch den Blick auf Deutschland zu ermessen.

Es gehört vielmehr dazu, den Blick auch auf wesentliche Aspekte des Gesamtsystems des Imperialismus zu richten. Nur so können Erfolg oder Misserfolg der deutschen Bourgeoisie bewertet werden.

Ferner gilt es, nicht nur die ökonomische Seite, sondern auch die politische und militärische zu betrachten, eben weil das imperialistische System selbst eine kombinierte politische und ökonomische Form (und nicht nur eine ökonomische) ist.

Lenins Imperialismustheorie

Im Folgenden stützen wir uns wesentlich auf die Tradition der Leninschen Imperialismustheorie. Auch wenn es nicht Thema und Aufgabe dieses Beitrages ist, eine umfassende Darstellung dieser Theorie zu geben (2), wollen wir angesichts der Debatten in der deutschen und internationalen Linken einige wesentliche Aspekte zusammenfassen.

In seinen Arbeiten, besonders in der Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (3) versucht Lenin, die inneren Widersprüche dieser Epoche des Kapitalismus aus der Entwicklungslogik der kapitalistischen Produktionsweise selbst herzuleiten.

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert macht er eine qualitative Entwicklung innerhalb des Kapitalismus fest: die Entwicklung des Monopolkapitalismus.

Der Begriff „Monopol“ wird bei Lenin nicht im engen Wortsinn als vollständige Beherrschung eines Industriezweiges (z.B. Salzmonopol) betrachtet, sondern als die Dominanz durch wenige führende Kapitalgruppen verstanden, die aufgrund der Tendenz zur Zentralisation und Konzentration des Kapitals erwachsen. (4)

Monopolisierung beschränkt sich dabei notwendigerweise nicht auf die Industrie oder einen bestimmten Zweig der Wirtschaft, sondern umfasst insbesondere auch den Banken- und Kreditsektor.

Die imperialistische Epoche wird bei Lenin als wichtiges Stadium der „Neukombination“ der verschiedenen Kapitalformen begriffen. Industrie- und Bankkapital verschmelzen zu dem, was Lenin in Anschluss an Hilferding Finanzkapital nennt.

Das „Finanzkapital“ wird bei Lenin (und den meisten marxistischen Theoretikern) anders verstanden als heute üblich. Der Mainstream der Anti-Globalisierungsbewegung und viele Wirtschaftsjournalisten verstehen „Finanzkapital“ eigentlich als Kredit, „Spekulation“, Aktien- und Finanzmärkte usw., also als Kapital in Geldform. Lenin hingegen:

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzen oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“ (5)

Allerdings sieht Lenin dabei zu Recht eine dominierende Rolle des Bankenkapitals in diesem Verhältnis. Das ergibt sich logisch daraus, dass letzteres zumeist Kapital in Geldform ist. Als solches ist es im Unterschied zum in Maschinen, Rohstoffen usw. vergegenständlichten industriellen Kapital an keine bestimmte stoffliche Grundlage gebunden.

Ebenso korrekt erkennt er, dass mit der Vorherrschaft des Finanzkapitals dem Export von Kapital gegenüber dem Warenexport eine immer größere Rolle zukommen muss (wiewohl letzterer selbst im Gefolge des Kapitalexportes zunimmt).

Die Entwicklung zum Finanzkapital begreift Lenin als eine nicht rückgängig zu machende notwendige Entwicklungsstufe des Kapitals. Die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise sind dabei nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: sie wirken gewissermaßen auf „höherer“ Stufenleiter fort.

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausmaße erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht’ besitzen.“ (6)

Folgerichtig lehnt Lenin die kleinbürgerliche Kritik am Finanzkapital und am Imperialismus ab, weist jeden Versuch, den Kapitalismus kleiner und mittlerer Produzenten wieder herzustellen als reaktionär und utopisch zurück (z.B. die Anti-Trust-Bewegung …).

Lenins Theorie wäre unvollständig und unverständlich, wenn wir nicht einen anderen Aspekt der Entwicklung des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts in Betracht ziehen würden: Die Welt ist unter den kapitalistischen Monopolen und Großmächten aufgeteilt.

Das heißt nicht, dass damit jegliche vorkapitalistische Produktionsweise schon verschwunden wäre. Allerdings sind diese Überreste mehr und mehr in den kapitalistischen Weltmarkt integriert, untergeordnet, werden durch moderne Klassenverhältnisse ersetzt, aber – auch diese Paradoxie ist nicht neu, gar noch konserviert – unter der Fuchtel des Kapitals.

Das bedeutet auch, dass die „zu spät gekommenen“ kapitalistischen Länder nicht den Weg der „fortgeschrittenen“ einfach nachvollziehen können. Sie sind von Beginn an als imperialisierte – ob in kolonialer oder in formell unabhängiger, halb-kolonialer politischer Form – in den Weltmarkt integriert.

Für Lenin ist „Imperialismus“ eine ökonomische, politische und historische Gesamtheit. Imperialistische Politik ist Resultat der verschärften Konkurrenz zwischen den Mächten und Großkapitalen, ist selbst politische Folge der Vorherrschaft des Finanzkapitals über alle anderen Kapitalformen. Lenin lehnt es daher kategorisch ab, „Imperialismus“ als eine besondere, „schlechte“ oder „aggressive“ Politik zu definieren. Eine nicht-imperialistische Politik der kapitalistischen Großmächte ist schlichtweg unmöglich.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals bedarf immer der staatlichen Absicherung dieser Herrschaft gegen die Arbeiterklasse, aufbegehrende Kolonien oder halb-koloniale Staaten („Schurkenstaaten“, wie man heute sagen würde). Insbesondere tendiert sie immer wieder zum Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den verschiedenen Gruppen des Finanzkapitals und den imperialistischen Mächten – zum imperialistischen Krieg.

Daraus ergibt sich auch eine Reihe von Schlussfolgerungen für die Revolutionsperspektive: Kampf gegen den Imperialismus, gegen das Monopol – aber nicht, um „vor-monopolistische“ Zustände wieder herzustellen, nicht um das „gute, schaffende“ Kapital gegen das „schlechte, raffende“ in Schutz zu nehmen. Die Perspektive ist vielmehr die: Enteignung der Enteigner, Reorganisierung der Produktion auf großer Stufenleiter unter Leitung des Proletariats und im Weltmaßstab!

Wenn Lenin vom Imperialismus als einem „sterbenden, verfaulenden“ Kapitalismus spricht, betont er damit vor allem, dass der Imperialismus in seiner Gesamtheit ein Entwicklungsstadium darstellt, in dem die kapitalistische Produktionsweise reaktionär geworden ist. Es ist eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, daher auch eine Epoche massiver sozialer Erschütterungen, von Krieg, Konterrevolution und Revolution.

Lenins Analyse und die daraus folgende Revolutionsperspektive hat dazu beigetragen, der internationalen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg und in den darauf folgenden Jahren, eine klare, revolutionäre und internationalistische politische Perspektive zu geben: keine Unterordnung des Klassenkampfes des Proletariats unter die Ziele der eigenen Bourgeoisie, der „eigenen“ Zivilisation, des „eigenen“ Vaterlandes; statt dessen revolutionärer Defätismus, statt dessen Umwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg, des internationalen Völkergemetzels in die internationale Revolution.

Allerdings hat die Leninsche Theorie einige Schwächen, die in der Rezeptionsgeschichte zu fatalen Problemen, was jedoch weniger Lenin als seinen „Schülern“ oder besser, politischen und wissenschaftlichen, Leichenschändern angelastet werden muss.

An vielen Stellen tendiert Lenin dazu, bestimmte historisch gewachsene Formen des Finanzkapitals zur generellen Entwicklungstendenz zu stilisieren. Zu Unrecht, wie wir heute wissen, sieht er im deutschen Imperialismus, der dort vorherrschenden, spezifischen Bindung von Industrie-, Bankenkapital und Staat, das Modell für die anderen imperialistischen Länder.

Ebenso muss seine Prognose als widerlegt betrachtet werden, dass die Beherrschung der nicht-imperialistischen Länder und Gebiete mehr und mehr zum Kolonialismus drängt. Auch hier wird eine spezifische, zeitweilige Tendenz des Imperialismus am Beginn des 20. Jahrhunderts fälschlich zum Wesen der Sache gemacht.

Solche Schwächen sind jedoch bei jeder Theorie, die immer auch Kind ihrer Zeit ist, unvermeidlich.

Schwerer wiegt, dass Lenins Theorie zwar an Marx und Engels anknüpft, der Begriff Imperialismus aber nicht stringent aus den Kategorien der Kapitalanalyse entwickelt, „abgeleitet“ wird. Das zeigt sich am Krisenbegriff in Lenins „Imperialismus“, wie auch daran, dass das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate nirgendwo systematisch eingearbeitet wurde.

Schließlich muss noch eine wesentliche Errungenschaft der Leninschen Theorie angeführt werden, die zum Verständnis der Politik des Imperialismus von großer Bedeutung ist.

Eine wichtige Triebfeder für die Entwicklung der Theorie bestand gerade für Lenin darin, eine materialistische Erklärung für den historischen Verrat der Sozialdemokratie zu Beginn des Ersten Weltkriegs zu liefern.

Lenin sucht die Antwort darin in der Entwicklung der Arbeiterklasse in der imperialistischen Epoche selbst. Die Aneignung von Extraprofiten aus der kolonialen oder halb-kolonialen Ausbeutung der vom Imperialismus beherrschten Länder sowie die zumindest zeitweilige Etablierung von Monopolpreisen und -profiten sind die Grundlage für die Schaffung einer relativ privilegierten Schicht innerhalb der Arbeiterschaft: der „Arbeiteraristokratie“. Sie ist, wie Lenin pointiert, aber durchaus korrekt zeigt, eine zentrale soziale Stütze der imperialistischen Weltordnung. (7)

Jede Betrachtung des Imperialismus – auch des deutschen – ist daher vollkommen unvollständig, wenn nicht auch die innere Differenzierung der Arbeiterklasse betrachtet wird. Erst so erklärt sich, warum „Standortpolitik“, nationaler Schulterschluss usw. immer wieder von reformistischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokratie gesucht werden.

In allen imperialistischen Ländern bildete sich am Ende des 19. bzw. am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Monopol- und Finanzkapital heraus, das allerdings unterschiedliche Formen insbesondere in Deutschland und den USA annahm. Am Beginn der imperialistischen Epoche war der Weltmarkt durch das Kolonialsystem fragmentiert. Der Kolonialmarkt des britischen Empire war i.w. ein innerer Markt für die britischen Kapitale, der französische für französische usw. Zu spät gekommene Kolonialmächte versuchten, dies entweder durch den Drang zur Neuaufteilung (Deutsches Reich, Japan), durch inneren Kolonialismus (Habsburger Reich, Russland) oder die Schaffung halb-kolonialer Einflusssphären (USA) wettzumachen.

Nachkriegsordnung

Nach 1945 beruhte das imperialistische Weltsystem ganz wesentlich auf halb-kolonialer Beherrschung der Welt und auf einer in der Geschichte des Kapitalismus einzigartigen Hegemonie einer Macht: den USA. Deren Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten wurde durch die Konfrontation mit der Sowjetunion politisch und militärisch zusätzlich gestärkt.

Die Phase nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1960er Jahre erlaubte eine gleichzeitiges Expandieren des US-Kapitals und seiner heute wichtigsten imperialistischen Rivalen in Westeuropa und Japan, ohne dass es zu größeren Konflikten kommen musste.

Seit Beginn der 1970er Jahren wurde die Vorherrschaft der USA auf ökonomischem Gebiet zunehmend unterhöhlt. Auch politisch-militärisch geriet der US-Imperialismus in die Defensive. Die Niederlage im Vietnam-Krieg zeigt, dass auch die stärkste kapitalistische Macht der Erde nicht unbesiegbar ist.

Bis Ende der 1980er Jahre schienen der japanische und der deutsche Imperialismus wirtschaftlich unaufhörlich näher zu rücken. Diese „Modelle“ der Kapitalismus standen hoch im Kurs als scheinbar immer stärker werdende Herausforderer des Hegemons USA – freilich ohne diese Vormachtstellung schon durchbrechen zu können.

Der Zusammenbruch des Stalinismus und die Restauration des Kapitalismus stärkten jedoch zu Beginn der 1990er Jahre vor allem den US-Imperialismus. Anders als die meisten marxistischen AutorInnen (darunter auch wir) erwartet hatten, führten die 1990er Jahre nicht zu einem weiteren Zurückfallen der US-Ökonomie gegenüber Japan und Europa.

Die US-Wirtschaft boomte in den 1990er Jahren, insbesondere in der zweiten Hälfte. Die europäische wuchs zwar, aber in viel geringerem Tempo. Eindeutiger Verlierer der 1990er Jahre ist der japanische Imperialismus. Er befindet sich seit einem Jahrzehnt in einer strukturellen Krise. Konjunkturprogramme, die mehrere hundert Mrd. Dollar verschlangen, haben die Wirtschaft nicht wieder belebt. Sie haben nur dazu geführt, dass die Staatsverschuldung des japanischen Imperialismus in einem Jahrzehnt auf astronomische Höhen stieg und der Staat – noch Ende der 1980er Jahre praktisch schuldenfrei! – zu einem der höchst verschuldeten der Welt wurde.

Während die USA mit NAFTA eine Freihandelszone unter ihrer unbestrittenen Kontrolle schufen, die Europäische Union zu einem einheitlichen Markt und einer Währungszone wurde, kann von einem „japanischen Block“ bis heute keine Rede sein – und es ist durchaus zweifelhaft, ob ein solcher je entstehen wird.

Die USA sind nach dem Zusammenbruch des Stalinismus die hegemoniale imperialistische Weltmacht, die ihre Vormachtstellung in diesem Jahrzehnt behaupten, ja teilweise ausbauen konnte. Im Rahmen der „Allianz gegen den Terrorismus“ versuchen sie, diese Rolle noch zu verstärken.

Die Stärkung des US-Imperialismus in den 1990er Jahren hat jedoch zu keiner Wiederherstellung der US-Hegemonie geführt, die mit jener nach dem Zweiten Weltkrieg gleichgesetzt werden könnte.

Die Schaffung einer vergleichbaren Vormachtstellung ist – bei aller Stärke der US-Wirtschaft – unmöglich. Das relative Gewicht der USA in der kapitalistischen Weltwirtschaft ist trotz der 1990er Jahre weit unter dem Niveau nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine solche Dominanz wie in der Periode 1948 bis 1973 ist auf „friedlichem“ Weg nicht wieder herstellbar.

Der entscheidende Grund dafür liegt in der Entwicklung der Kapitalakkumulation selbst. Seit dem Ende des langen Booms und der Weltwirtschaftskrise 1973/74 befindet sich die kapitalistische Weltwirtschaft in einer Phase struktureller Überakkumulation. Ohne die Vernichtung großer Mengen „überschüssigen“ Kapitals ist eine neue Phase des weltweiten Aufschwungs in allen drei imperialistischen Zentren (Triaden) nicht möglich.

Globalisierung

Die Niederlagen der Arbeiterklassen in den USA und Britannien in den 1980er Jahren und die Restauration des Kapitalismus haben Anfang der 1990er Jahre nicht nur in der BRD die Kapitalistenklasse in die Offensive gebracht.

Gestützt auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der herrschenden Klasse aufgrund realer materieller Erfolge sowie einer beginnenden Restrukturierung des Kapitals erleben wir seit Beginn der 1990er Jahren eine neue Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche, welche gemeinhin „Globalisierung“ genannt wird.

In den 70er Jahren hatten die imperialistischen Länder versucht, dem Problem der Überakkumulation durch keynesianische Wirtschaftspolitik Herr zu werden. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre war dieses Mittel erschöpft. Statt einer Lösung kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung des Problems in Form des weltweiten Schuldenproblems. Daher änderte sich auch die politische Strategie in allen großen kapitalistischen Ländern, wobei die USA unter Reagan und Britannien unter Thatcher eine Vorreiterrolle spielten.

Auf vielfältige Weise versuchte das Kapital, seine Verwertungsbedingungen wesentlich zu verbessern.

Durch den Zusammenbruch des Stalinismus, den Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg erhielten diese Strategien auf dem Feld der internationalen Beziehungen einen enormen zusätzlichen Schub.

Was waren die entscheidenden Entwicklungen?

Erstens wurden Schranken des internationalen Handels, vor allem des Kapitalverkehrs seit den 1980er Jahren und besonders zu Beginn der 1990er in rasender Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt. Auch wenn diese Internationalisierung notwendigerweise selektiv vor sich ging, auf die imperialistischen Länder und einige Halbkolonien konzentriert war, so hatte diese Ausdehnung des Welthandels insgesamt eine stützende Funktion für die kapitalistische Weltwirtschaft.

Wichtiger als die Ausdehnung des Handels waren und sind jedoch die Ausdehnung von Direktinvestitionen und der Spekulation.

Diese sind selbst Ausdruck verschärfter Konkurrenz, stärkerer Dominanz des Banken- und Fondskapitals. Schließlich spekulieren die großen Banken und Konzerne nicht, weil sie die Spekulation an sich der Profitmacherei in der Produktion vorzögen. Vielmehr ist die „Flucht“ in Aktienmärkte, Währungsspekulation, Termingeschäfte usw. selbst ein Ausdruck zu geringer Profiterwartungen in der Industrie.

Die verschärfte Konkurrenz führt gleichzeitig zu immer größerer Zentralisation. Investiert wird nur zum geringen Teil in die Erweiterung bestehender Anlagen. Viel wichtiger sind die Fusion, die Übernahme, die Ballung des Kapitals in einer Hand oder Rationalisierungsinvestitionen, die rasche Einführung neuester Technik.

So können sich die größten Konzerne die entsprechenden Konkurrenzvorteile, Präsenz auf allen Märkten sowie Monopolpreise und Extraprofite aus kurzfristigen technologischen Vorsprüngen, sichern.

Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass die großen multinationalen Konzerne nicht mehr wie noch Anfang der 1980er Jahre Diversifikation (also die Präsenz auf möglichst vielen Geschäftsfeldern) anstreben, sondern die Konzentration auf bestimmte Sparten, in denen die Weltmarktführerschaft oder zumindest Position zwei oder drei anvisiert oder verteidigt werden soll (8).

Insgesamt führte das zu einer enormen Zentralisation des Kapitals (weniger der Konzentration), die selbst wiederum nur durch eine riesige Ausdehnung des Kredites und der Aktienmärkte möglich ist, um das für die „Übernahmeschlacht“ notwendige Kapital bereitstellen zu können. Die stärker gewordene Dominanz der größten multinationalen Konzerne lässt sich an allen Indikatoren der Weltwirtschaft ablesen.

Alle großen, die Weltwirtschaft (und in letzter Instanz die Welt) beherrschenden Konzerne beanspruchen den Weltmarkt als ihr Operationsfeld. Anders als noch vor 20 oder 30 Jahren können sie sich aufgrund ihrer Größe nicht auf eine Region beschränken. Sie müssen wirklich „global“ agieren – oder sie werden früher oder später nicht mehr agieren, jedenfalls nicht unter den Top 100 oder Top 500 der Welt des Monopolkapitals.

Hier können wir tatsächlich von einer neuen, qualitativen Entwicklung innerhalb der imperialistischen Epoche sprechen, die aus dem quantitativen Anwachsen der großen Kapitale entsteht.

Der Heißhunger nach Profit treibt – gestützt auf nationale und internationale Organisationen – das Kapital in Sphären, die über Jahrzehnte staatlich oder halb-staatlich organisiert waren.

Die kapitalistische Globalisierung wäre jedoch ohne Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und ohne technische und arbeitsorganisatorische Basis nicht möglich gewesen.

Die Mischung aus technischen Innovationen, die Reorganisation von Arbeitsabläufen und des Arbeitsprozesses sowie die Schaffung internationaler Produktionsketten ermöglichten die Reduktion der Kosten für Lagerhaltung und die Verkürzung der Umlaufzeit. Die Restrukturierung der Arbeitsorganisation und die Zentralisation im internationalen Maßstab führten in einigen Branchen auch zur Herausbildung einer internationalen Profitrate (Autoindustrie).

Zusammen mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutungsrate (aufgrund der Niederlagen der Arbeiterbewegung) konnte so in einigen Ländern – insbesondere in den USA – in den 1990er Jahren zeitweilig die industrielle Profitrate wieder in die Höhe getrieben werden.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie viel davon auf eine Revolutionierung der Technik und der Arbeitsorganisation, wie viel auf die Kürzung der Löhne, die Intensivierung der Arbeit und die Flexibilisierung zurückzuführen ist. Wichtig ist vielmehr, dass sich das US-amerikanische Modell nicht weltweit ausdehnen ließ und lässt, weil es die grundlegenderen Probleme der Überakkumulation des Kapitals nicht lösen konnte und kann.

Modernes Finanzkapital

Die eigentliche Triebkraft der kapitalistischen Globalisierung ist also das imperialistische Finanzkapital. Das Monopolkapital – jedenfalls sein stärkster und konkurrenzfähigster Teil – tritt als multi-nationaler oder transnationaler Konzern auf. Sie sind die eigentlichen Herrscher des globalen Kapitalismus.

Multi-national oder transnational hat hier nichts mit einer Entbindung der nationalstaatlichen „Verankerung“ bestimmter Kapitale zu tun. Es bedeutet nur, dass wir es mit einem wichtigen Wandel des wirtschaftlichen Operationsgebietes des Großkapitals zu tun haben.

Das Finanzkapital macht jedoch gleichzeitig einen wichtigen Formwandel durch. Wir erleben eine Neuorganisation des Verhältnisses von Geldkapital und produktivem Kapital. Es ist dabei keineswegs so, dass die „Spekulanten“ und „Finanzhäuser“ dem produktiven Kapital entgegengestellt wären. Wir haben es vielmehr mit einer anderen Form der Verschmelzung von Industrie- und Geldkapital zu tun.

In der Geschichte des Imperialismus erwies sich die deutsche Form einer engen, direkten Verschmelzung (z.B. unmittelbarer Besitz der Unternehmen durch Banken und vice versa) als weniger konkurrenzfähig als die US-amerikanische. Die Überlegenheit ist nicht konjunkturell begründet, sondern darin, dass sie das Kapital stärker von bestimmten stofflichen Schranken befreit, nämlich den konkreten Produktionsmitteln, in denen das industrielle Kapital vergegenständlicht ist.

Eine gänzliche Befreiung des Kapitals aus dem inneren Widerspruch zwischen einer bestimmten stofflichen (und damit die Expansion des Kapitals begrenzenden) Form und dem schrankenlosen Trieb zur ständigen Selbstverwertung ist selbstverständlich unmöglich.

Heute erleben wir in der BRD (und anderen westeuropäischen Ländern) eine Verschiebung zu dieser Form; ein notwendiger Schritt, wenn die USA als imperialistische Führungsmacht ernsthaft gefährdet werden soll.

Wir müssen jedoch genauer bestimmen, worin die „Rückständigkeit“ des deutschen (und auch des europäischen) Finanzkapitals besteht. Die Hauptfaktoren laufen dabei auf drei Phänomene hinaus.

Erstens hat das US-Kapital in vielen Bereichen einen viel größeren Zentralisationsgrad im eigenen Block, während Europa noch weitgehend unter national verwurzelten Monopolen aufgeteilt ist. Die Tatsache, dass die EU eben kein Nationalstaat ist, dass es kaum „europäisches“ Kapital gibt, schlägt sich hier nieder.

Zweitens beruht der Vorsprung des US-Kapitals darin, dass es viel größere Kapitalmassen über Fonds (Banken, Versicherungen, sog. institutionelle Anleger) mobilisieren kann, dass es einen weiteren Streubesitz von Aktieneinlagen von ArbeiterInnen und der Mittelschichten mobilisieren und als Kapital auftreten lassen kann.

Das verdeutlicht auch ein Vergleich der Eigentümerstrukturen in den USA und in der BRD, wie die Tabelle (9) belegt.

Auffällig sind dabei folgende Unterschiede: der hohe Anteil von Pensionsfonds unter den US-Eigentümern und deren geringe Rolle unter den deutschen Kapitalen. Die Rolle der Rentenfonds übernehmen hier die Banken und Versicherungen (und der Staat).

Außerdem geht aus der Statistik die Bedeutung der Banken als Eigentümer deutscher Großkonzerne nur unzureichend hervor. Die meisten großen Industrie- und Handelskonzerne in Deutschland sind eng mit einer Großbank, ihrer „Hausbank“ verbunden, die über Jahrzehnte mit dem Gedeih ihrer Unternehmen eng verknüpft war und diese auch in schweren Zeiten „verteidigten“. Wie im Fall Mannesmann/Vodafone zu sehen, beginnen die deutschen Großbanken von dieser Politik abzurücken.

 

Struktur des Eigentums an den öffentlich notierten Unternehmen in den USA, Japan und der BRD

Eigentümergruppen USA Japan BRD
A B
Banken 0,3 25,2 8,9 10,3
Versicherungen 5,2 17,3 10,6 12,4
Pensionsfonds 24,8 3,6
Staat (?) 0,6 6,8 4,3
Zwischensumme 30,3 47,3 26,2 27,0
Investmentgesellschaften 9,5 3,6 7,6
Andere Unternehmen 25,1 39,2 42,1
Private Haushalte 53,5 23,1 16,8 14,6
Ausländisches Eigentum 6,7 4,2 17,7 8,7

 

(Angaben für USA, Japan und BRD (A) nach: Doremus u.a., The Myth of Global Corporation, S. 52. Angaben für BRD (B) nach: Deutsche Bundebank, Monatsberichte 7/1997, zitiert nach: Winni Wolf, Fusionsfieber, S. 192)

 

Weiter: der geringe Besitz durch andere Unternehmen in der USA (diese Verknüpfung entsteht eben über Fonds etc.), gleichzeitig der hohe Besitzanteil von privaten Haushalten in den USA und der geringe in der BRD, wobei der US-Besitz wieder über Fonds verwaltet wird.

Drittens beruht die Überlegenheit des US-Kapitals auf den Niederlagen der Arbeiterklasse in den 1980er Jahren. Die viel gepriesene „Flexibilität“ der US-Arbeiterklasse, das System des „hire and fire“ ist nur die Kehrseite der insgesamt größeren Mobilität des Kapitals – nicht nur in der Sphäre der Anlagen, Spekulationen usw., sondern auch hinsichtlich des Transfers von einer Branche zur anderen.

So konnte z.B. der Elektronikkonzern Lucent in der letzten Krise innerhalb weniger Wochen 50% der Belegschaft auf die Straße setzen, Werke schließen und so auf dem Rücken der Beschäftigen rasch auf die Krise reagieren.

Weltimperialismus

Die globale Struktur des Monopolkapitals erfordert weiter eine, natürlich immer auch selektive, open door policy bei gleichzeitigem Schutz des „Heimatblocks“. Sie erfordert internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank bzw. ihre regionalen Entsprechungen (z.B. Europäische Entwicklungsbank).

Sie erfordert von den imperialistischen Mächten, global interventionsfähig zu sein, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und militärisch, um eigene Interessensphären gegen die Massen der Halb-Kolonien oder missliebige Regime, aber auch gegen imperialistische Konkurrenten absichern zu können.

Politisch wird der Weltimperialismus durch folgende Faktoren geprägt:

• politische, militärische und ökonomische Vorherrschaft des US-Imperialismus;

• Institutionen wie IWF, Weltbank, WHO, G 7/8 agieren als ideelle Gesamtimperialisten;

• massive Verelendung der Halb-Kolonien, stärkere direkte imperialistische Kontrolle;

• Suche nach neuen, der „Globalisierung“ adäquaten Formen politischer, diplomatischer und militärischer imperialistischer Herrschaft, was zu einer Wiederkehr der Kanonenbootpolitik (in einigen Aspekten ähnlich jener am Beginn der imperialistischen Epoche) führt.

Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Ländern sind keineswegs verschwunden – und sie werden auch nicht verschwinden. Aber aktuell werden diese Gegensätze unter dem Mantel der US-Hegemonie ausgetragen.

Alle potentiellen Rivalen der USA achten darauf, den Gegner nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt herauszufordern. Vielmehr müssen unter dem Deckmantel der Kooperation eigene Positionen gegen die USA gehalten oder neue erobert werden. Das geht umso leichter, als es immer auch ein reales Element gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte gegenüber den Massen und den Halb-Kolonien gibt.

Jede Kritik am Kapitalismus/Imperialismus, die das „gute“ industrielle Kapital dem „schlechten“ Geldkapital, dem „aggressiven“ den „friedfertigen“ Imperialismus entgegenstellt, ist notwendig reaktionär. Diese kleinbürgerliche Kritik stützt objektiv das Ausbeutungssystem des Kapitalismus, indem sie (bewusst oder unbewusst) Partei für eine bestimmte Kapitalgruppe bzw. Macht oder, nicht minder reaktionär, für die kleinen Warenproduzenten ergreift.

Die Herausbildung transnationaler Monopole führt keineswegs zu einem „Ultra-Imperialismus“ oder zu einer kollektiven imperialen Friedensordnung. Sie verringert auch nicht die Rolle des bürgerlichen Staates als Sicherer und Garant der nationalstaatlich verwurzelten Monopole.

Aber sie treibt den Widerspruch zunehmend internationaler Produktion und internationalisierten Austauschs einerseits und nationalstaatlicher oder blockmäßiger Verwurzelung des Kapitals andererseits auf die Spitze. Die Blockbildung, (oft missverständlich als „Regionalisierung“ bezeichnet) ist die aktuelle Form der Internationalisierung des Kapitals.

Sie treibt den Widerspruch zunehmend gesellschaftlicher Produktion und der privaten Aneignung ihrer Produkte auf neue, ungeheuere Höhen. Dieses System ist überreif für die sozialistische Weltrevolution!

Die neue Zusammensetzung des Kapitals erfordert auch eine neue Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Damit Kapital rascher die Wandlung von einer Form in die andere vollziehen kann, Stockungen im Produktionsprozess vermieden werden, muss auch sich auch das variable Kapital uneingeschränkt bewegen können. Alle kollektiven Sicherungsrechte der Arbeiterklasse, die die möglichst unbeschränkte Flexibilität der Arbeitskraft einschränken, stehen daher notwendigerweise auf der Abschussliste der Kapitalistenklasse.

Der Vorsprung der USA, die Vorherrschaft des am meisten entwickelten Kapitals, d.h. einer Form des Kapitals, die mehr seinem Begriff entspricht als in anderen Ländern, ist ohne die Niederlagen der US-Arbeiterklasse in den 1980er Jahren nicht denkbar.

Wandel der Arbeiterklasse

Die letzten Jahrzehnte sahen einen starken Wandel der Arbeiterklasse als Resultat der Restrukturierung des Kapitals und der Angriffe der herrschenden Klasse. Worin bestehen ihre wichtigsten Elemente?

• Anwachsen der Klasse in einigen imperialistischen Ländern und wichtigen, fortgeschrittenen Halbkolonien;

• Schrumpfen der produktiven Arbeit, Ausdehnung der unproduktiven Arbeit;

• Proletarisierung lohnabhängiger Mittelschichten aus ehemaligen „höheren“ Berufen (Ingenieure) oder dem Staatsdienst (z.B. Lehrer);

• Schaffung einer viel größeren Masse nicht- oder unterbeschäftigter Proletarier, prekär Beschäftigter und „working poor“;

• Verringerung und Schwächung des Proletariats in dramatischem Ausmaß in Osteuropa, Russland und vielen Halbkolonien;

• Schwächung und tendenzielle Auflösung der tradierten Arbeiteraristokratie im industriellen Sektor bei gleichzeitiger Schaffung einer neuen Arbeiteraristokratie (oft aus ehemaligen lohnabhängigen Mittelschichten);

• Schaffung eines zunehmend international kooperierenden Proletariats in den großen Monopolen (im Sinne der realen Kooperation in international integrierten Produktionsprozessen), Teile davon sind gleichzeitig Kernschichten der Arbeiteraristokratie in verschiedenen Ländern.

Es ist kein Zufall, dass wir es mit den stärksten, erwachenden Arbeiterbewegungen in den sog. „Schwellenländern“, also relativ entwickelten Halbkolonien in Ostasien und Lateinamerika zu tun haben. China wird in dieser Hinsicht von strategischer Bedeutung für das Weltproletariat werden. In Kontinentaleuropa und zumal in (West)Deutschland haben wir es damit zu tun, dass die Arbeiterklasse zwar in ihrer Kampfkraft geschwächt, jedoch nicht strategisch geschlagen wurde.

Diese Veränderungen haben auch die historisch gewachsenen Organisationen des Proletariats, insbesondere die Gewerkschaften, die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien massiv verändert. Die Gewerkschaften sind i.w. Organisationen der traditionellen Arbeiteraristokratie. Ihr Überleben hängt davon ab, ob und wie sie neuen proletarisierten Schichten, insbesondere aber den nicht-arbeiteraristokratischen Teilen der Klasse eine Perspektive bieten können. Die Behandlung der stalinistischen Parteien lassen wir hier außen vor (sie ist aber für die Betrachtung vieler halb-kolonialer Länder von großer Bedeutung).

Die Sozialdemokratischen Parteien haben in den letzten Jahrzehnten einen Wandel hin zu neu entstehenden arbeiteraristokratischen Schichten und lohnabhängigen Mittelschichten gemacht. Ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist diesen Schritt mitgegangen, ein Teil hat sich auf die „Kernschichten“ konzentriert. Für die nichtorganisierten Teile des Proletariats (und dabei geht es keineswegs nur um abfällig als „Randschichten“ bezeichnete Sektoren) haben alle Flügel der Arbeiterbürokratie immer weniger zu bieten.

Die Hinwendung des Reformismus zur neuen Arbeiteraristokratie und den neuen Mittelschichten hat sich politisch-programmatisch in der Neuen Mitte (oder im „Dritten Weg“) manifestiert. Sie drückt auch einen stärkeren Einfluss der Mittelschichten (und über diese der Bourgeoisie) auf die bürgerlichen Arbeiterparteien, aber auch auf die Gewerkschaften aus.

Für die gegenwärtigen Erfordernisse des Imperialismus ist diese Ideologie gerade in Ländern, wo die Arbeiterklasse noch über (potentiell) mächtige Organisationen verfügt, sehr gut geeignet, die „humanitäre“ Intervention und verstärkte Kontrolle der Welt durch die imperialistischen Mächte und ihre Institutionen (NATO, UN) zu rechtfertigen. Es ist kein Zufall, dass in diesem System auch sog. „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs), also reformistische und kleinbürgerliche Pressure-groups, ein höheres Gewicht erhielten, da sie zur „linken“ Flankendeckung imperialistischer Interventionen und zur Integration der Mittelschichten und der Arbeiteraristokratie notwendig sind.

Hinzu kommt, dass diese Schichten in der BRD das Projekt EU unterstützen. Insofern wird für die nächste Zukunft jede deutsche bürgerliche Regierung Programmelemente der „Neuen Mitte“ beinhalten und versuchen, ihre imperialistische Politik durch die Mittelschichten abzustützen – auch wenn dabei die Partei, die sich ausschließlich auf die Mittelschichten stützt, die Grünen, vor die Hunde gehen sollte.

Die Politik Schröders bringt die Interessen des deutschen Imperialismus zum Ausdruck. Sie stützt sich sozial auf die Arbeiteraristokratie und die lohnabhängigen Mittelschichten. Ihr Heil sucht sie im politischen Bündnis mit dem Großkapital. Sie ist oder war zumindest für zentrale Angriffe des deutschen Kapitals in einer bestimmten Phase hervorragend geeignet – aber sie muss mit dem Problem jeder bürgerlichen Arbeiterpartei leben: ihre Angriffe unterminieren ihre soziale Basis.

Wandel der halb-kolonialen Welt

Die gegenwärtige Phase des Imperialismus führt zu einer noch stärkeren Integration der Halb-Kolonien in das imperialistische System. Ihr wirtschaftlicher Handlungsspielraum, ihre „Unabhängigkeit“ werden noch weiter eingeschränkt – aufgrund der stärkeren Mobilität des Kapitals, verstärkter Schuldenlast, massiver Privatisierung an imperialistische Kapitale sowie der Tendenz zur praktischen Aufgabe nationaler Währungen und deren Ersetzung durch den Dollar oder den EURO.

Gleichzeitig ist die Instabilität in den Halb-Kolonien gewachsen, weil die imperialistische Politik immer wieder auch die Mittelklassen und -schichten in den Ruin zu treiben droht und treibt – siehe Argentinien und die Türkei. Dies hat in einer Reihe von Halbkolonien und im schwachen süd-afrikanischen Imperialismus zu massivem Widerstand und einem Aufschwung der Arbeiterbewegung geführt. Dort finden sich auch neuralgische Punkte für den Aufschwung der Weltarbeiterklasse, für die Verbindung der Arbeiterbewegung mit der anti-kapitalistischen Bewegung.

In diesen Ländern ist aktuell und in den kommenden Jahren mit vorrevolutionären und revolutionären Krisen zu rechnen. Hier finden sich große, politisch fortgeschrittene Avantgardeschichten des Weltproletariats, was sich in größeren (links)reformistischen (Indonesien, Südafrika, Brasilien, Indien, Süd-Korea, Argentinien) Parteien zeigt oder gar einer starken zentristischen Linken (Argentinien).

Insbesondere in Lateinamerika haben wir es nicht nur mit einer Krise des Kapitalismus, sondern auch mit einem Aufschwung der Arbeiterklasse und der Abwehrkämpfe anderer, nicht ausbeutender Klassen und Schichten zu tun.

In anderen halb-kolonialen Ländern sehen wir den Widerstand kleinbürgerlicher, pauperisierter Massen (Palästina), teilweise mit dem reaktionärer Regime, die temporär mit dem Imperialismus in Konflikt kommen oder sich als Statthalter überlebt haben. In jedem Fall steigt für die imperialistischen Mächte die Notwendigkeit zur direkten politischen, diplomatischen und letztlich militärischen Intervention.

Das liegt nicht nur, oder nicht einmal in erster Linie an einem Wandel der halb-kolonialen Länder und ihres Verhältnisses zum imperialistischen Weltsystem, sondern mindestens ebenso an einer zunehmenden, wenn auch in erster Linie „unterschwellig“ ausgetragenen imperialistischen Konkurrenz.

Es ist kein Wunder, dass in diesem Kontext vor allem die Länder Ostasiens, des Nahen und Mittleren Ostens zentral sind. Das hängt nicht zuletzt mit der Sicht der imperialistischen Länder und ihrer Strategen auf bestimmte Erdteile zusammen.

Der „eurasiatische Raum“ – wie er von US-Strategen bezeichnet wird – gilt als Schlüssel zur Weltbeherrschung. Das macht vom Standpunkt des US-Imperialismus (und damit immer auch für seine potentiellen Herausforderer) Sinn: dort formieren sich zwei imperialistische Blöcke (EU, um Japan); dort befinden sich mit Russland und China zwei politisch und militärisch mächtige ehemalige degenerierte Arbeiterstaaten, die im imperialistischen System zumindest die Rolle einer führenden Regionalmacht spielen wollen. Dort befindet sich ein großer Teil zentraler Rohstoffvorkommen der Welt.

Die Instabilität der Region wird – aus Sicht imperialistischer Strategen – zusätzlich durch die beiden „Schurkenstaaten“ Iran und Irak sowie durch die verfeindeten Nuklearmächte Indien und Pakistan genährt.

Zbigniew Brezinski, Sicherheitsberater mehrer US-Präsidenten und derzeit Berater des Ölmultis BP Amoco stellt das in seinem Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ wie folgt dar: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“ (10)

Schon 1992 formulierte das Pentagon in einem strategischen Papier (Defense Planning Guidance) den sog. „No Rivals-Plan“. Einige Zitate daraus:

„Wir müssen versuchen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Solche Regionen sind Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der früheren Sowjetunion und Südwestasien.“ (11)

Die US-Strategie unterscheidet zwischen vermeintlichen und wirklichen Herausfordern. China und Russland gelten als mögliche Konkurrenten und als besonders gefährlich, weil sie auch eine Systemalternative zur westlichen „Wertgemeinschaft“ verkörpern könnten. Aus diesem Grund taucht auch der islamische Fundamentalismus auf als Bedrohung auf.

Das wirtschaftliche und militärische Potential zur „globalen Herausforderung“ wird ihm zwar nicht zugetraut, weshalb sich Länder wie Iran oder Libyen eben nicht als potentielle „global rivals“, sondern als „Schurkenstaaten“ in der Pentagon-Typologie wieder finden.

Es ist daher kein Wunder, dass Ländern wie der Ukraine oder Usbekistan eine wichtige Rolle für die USA zukommt. Sie sollen zu abhängigen Verbündeten in neuralgischen Krisenregionen werden. Im Krieg gegen Afghanistan konnte diese Strategie gerade gegenüber einem wenig widerstandsfähigen Russland auch weiter vorangetrieben werden. Gleichzeitig wurden gerade im Streit um die zukünftige „Friedensordnung“ wichtige Differenzen zwischen den imperialistischen Ländern sichtbar (12).

Gegenüber dem ökonomisch potenteren europäischen Imperialismus verfolgen die USA eine andere strategische Linie. China und Russland müssen zu fest ins imperialistische Gefüge eingebundene Halb-Kolonien zurechtgerückt werden. Die EU bzw. die führenden Mitgliedsländer sind aber schon imperialistische Konkurrenten.

Daher zielt die US-Strategie gegenüber Europa auch mehr auf Kooperation, Partnerschaft und die Eingrenzung des Rivalen durch Umarmung, denn durch allzu offene Konfrontation. Allerdings ist diese Linie keineswegs eindeutig. Die USA loben zwar ihre „treuen“ Verbündeten – machen aber auch klar, dass sie letztlich ihre Politik, wenn notwendig auch ohne Zustimmung von Berlin, Paris oder auch London umsetzen. Ganz deutlich wurde das bei Bushs Rede zur Nahostpolitik, wo er „die Europäer“ damit brüskierte, Arafat zur persona non grata zu erklären, während die EU und Russland in ihm noch immer den „legitimen“ Vertreter des palästinensischen Volkes sehen.

Umgekehrt verfolgen die europäischen Imperialisten, allen voran die BRD, ihre eigenen imperialistischen Interessen ebenfalls als Partner und „treueste Verbündete“ der USA.

Hinter den Kulissen und bisweilen auch davor, zeigen sich jedoch deutliche Risse und die Verfolgung ihrer jeweils eigenen imperialistischen Interessen: Balkan, Russland-Politik, Afghanistan-Krieg, Palästina, Irak.

Die hegemoniale Rolle des US-Imperialismus erfordert auch, dass jeder wirkliche zukünftige Rivale – und diese Rolle strebt der BRD-Imperialismus als EU-Führungsmacht ganz eindeutig an – den geostrategisch entscheidenden Regionen mehr und mehr Aufmerksamkeit schenken muss. Das versucht die BRD auch – siehe Afghanistan-Konferenz, Palästina-Vermittlung, Iran-Connection.

Nach dem 11. September

Wir befinden uns in der ersten internationalen Rezession dieser Entwicklungsperiode. Ihre weitere Dauer, Tiefe oder ihr Ende sind ungewiss und auch nicht zentraler Gesichtspunkt unserer Erörterungen. Wir können aber davon ausgehen, dass die nächsten Jahre von einem geringen Wachstum der Weltwirtschaft insgesamt, ja einer Tendenz zur Stagnation gekennzeichnet sein werden.

Schon in den 1990er Jahren war eine Verallgemeinerung des US-Aufschwungs auf andere imperialistische Zentren nicht möglich – nicht zuletzt, weil der Zufluss von Kapital aus anderen führenden kapitalistischen Ländern auf die US-Märkte selbst ein wichtiger Faktor des dortigen Aufschwungs war. Einen ähnlichen Aufschwung, der die Rolle einer weltweiten Konjunkturlokomotive spielen könnte, werden wir in den nächsten Jahren sicher nicht erleben.

Aktuell versucht der US-Imperialismus, eine imperialistische Ordnung unter seiner Regie unter dem Banner des Kampfes gegen den Terrorismus durchzusetzen, gegen die Halb-Kolonien, gegen China und Russland, v.a. aber auch gegen potentielle imperialistische Konkurrenten.

Das ist keineswegs nur ein Zeichen der Stärke oder gar der „Allmacht“ der USA. Es ist vielmehr auch ein politisch-militärischer Schachzug, um die Entfaltung von „global rivals“ zu verhindern.

Die Schaffung bürgerlicher Staaten und schließlich die Restauration des Kapitalismus in Russland und China haben dem Welt-Imperialismus eine gewisse Atempause verschafft und insbesondere der führenden imperialistischen Macht, den USA, zu einer deutlichen Stärkung verholfen.

Die Integration des russischen und chinesischen Kapitalismus als Halb-Kolonien und strategische Niederlagen der Arbeiterbewegung in den imperialistischen Metropolen (insbesondere im EU-Raum) und in einigen zentralen Schwellenländern (Lateinamerika, Ostasien) könnten in Verbindung mit einer US-Hegemonie im Weltmaßstab die Vorbedingungen für eine vorübergehende Expansionsphase schaffen. Eine solche „Lösung“ wäre jedoch nur temporär.

In jedem Fall ginge sie mit einer Verschärfung der Konkurrenz der imperialistischen Blöcke, insbesondere zwischen den USA und der EU einher. Diese wird zwar mehr oder weniger verdeckt ausgetragen – nicht zuletzt aufgrund des aktuellen Kräfteverhältnisses, das den USA wirtschaftlich, v.a. aber politisch und militärisch ein großes Übergewicht verleiht.

Der deutsche (und europäische) Imperialismus muss sich vor allem auf politischer und militärischer Ebene erst die Mittel zur erfolgreichen Konkurrenz mit den USA schaffen.

Für den deutschen Imperialismus ergeben sich wichtige Hindernisse und Probleme, zu den USA als führender Weltmacht aufzuschließen:

• Wirtschaftliche Unterlegenheit und verhältnismäßig kleiner Binnenmarkt;

• schwächerer und rückständigerer Finanzsektor, noch notwendiger Formwandel des Monopolkapitals;

• fehlende traditionelle koloniale oder halb-koloniale Sphäre (im Gegensatz nicht nur zu den USA, sondern auch zu Britannien und Frankreich);

• Fehlen einer militärischen Interventionsmacht, Fehlen von Nuklearwaffen;

• Fehlen eines inneren interventionistischen imperialistischen Konsens´, der über polizeiliche Missionen hinausgeht;

• relative Stärke der reformistischen Arbeiterbewegung, besonders der Gewerkschaften.

EU-Orientierung des deutschen Kapitals

Die BRD-Ökonomie ist für sich genommen zu klein, um auf Sicht dem US-Imperialismus beikommen zu können. Der Aufbau einer kapitalistischen europäischen Union unter Führung des deutschen Imperialismus ist daher das zentrale Projekt, um Deutschland auf „gleiche Augenhöhe“ mit den USA zu bringen.

Die Weltmachtambitionen Deutschlands würden natürlich auch im Falle eines Scheiterns der EU, eines Zerbrechens in der EURO-Zone verfolgt werden. Aber das würde einen herben Rückschlag bedeuten, strategische Neuorientierung erfordern und wahrscheinlich zu einem noch aggressiveren Kurs des deutschen Imperialismus führen.

Im Moment setzt die deutsche Bourgeoisie ganz klar auf die EU. Doch anders als der „US-amerikanische Block“ hat die EU einige Nachteile. In Nordamerika und im NAFTA-Raum ist die USA unbestrittener Hegemon. Die EU ist hingegen ein Staatenbündnis und Wirtschaftraum, die eine Reihe imperialistischer Mächte umfasst. Während die BRD unbestritten die erste Wirtschaftsmacht ist, so ist sie auf militärischem und teilweise auch politischem Gebiet hinter Frankreich und Britannien zurück.

Die deutsche Bourgeoisie geht davon aus, dass die Überlegenheit des deutschen Kapitals in Europa ihr eine Vormachtstellung sichert. Sich nur darauf zu verlassen, ist jedoch gefährlich – weniger, weil europäische Konkurrenten den Vorsprung einholen könnten, wohl aber, weil die USA über genügend ökonomische und politische Hebel verfügen, den Blockbildungsprozess zu bremsen.

Das EU-Projekt ist außerdem kein rein deutsches. Es fußt auch auf der Einsicht anderer imperialistischer Bourgeoisien – besonders der französischen -, dass sie auf sich allein gestellt keinen gleichwertigen Status zu den USA erlangen können. Aber das Zweckbündnis der europäischen Imperialismen ist bei weitem nicht friktionsfrei.

Erstens ist es letztlich nur realisierbar bei Anerkennung einer deutschen Führungsrolle (wenn auch einer eingeschränkten) und damit einem Zurückstellen eigener Ansprüche. Zweitens müssen sich die kleineren imperialistischen Länder und die wenigen Halbkolonien in der EU mit einer untergeordneten Rolle zufrieden geben. Sie werden über kurz oder lang große Teile ihrer staatlichen Souveränität an die EU – und damit an die großen imperialistischen Länder, allen voran Deutschland, abgeben müssen.

In allen wichtigen EU-Ländern außer Britannien sind die dominierenden Kapitalfraktionen für die EU – und zwar aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Ein von Deutschland in einer Art Partnerschaft mit Frankreich (und eventuell England) geführtes kapitalistisches Europa ist für viele Bourgeoisien einfach ein kleineres Übel gegenüber der Gefahr am Weltmarkt und in der Aufteilung der Welt noch mehr von den USA oder von Japan abgehängt zu werden.

Aber gerade weil eine „Vertiefung“ eines imperialistischen Blocks die Länder Europas immer dichter zusammen führt, gerade weil mehr und mehr nationale Bourgeoisien damit rechnen, darin aufzugehen, werden die Spannungen zwischen den verschiedenen kapitalistischen Staaten zunehmen. Für viele Regierungen ist jetzt die vielleicht letzte Chance, durch „hartes Verhandeln“ bis hin zur „Erpressung“, dem Drohen mit Blockadehaltungen usw. noch möglichst viel für die eigenen Kapitalisten oder auch Teile des Kleinbürgertums rauszuholen.

In diesem Zusammenhang sind auch die Schwäche der europäischen Finanzmärkte und eine Schwäche der Kapitalstruktur ein drängendes Problem für alle imperialistischen Länder Europas – insbesondere für die BRD. Es ist daher kein Wunder, dass gerade dieser Ebene von den Regierungen und Kommissionen der EU in den letzten Jahren besonderes Augenmerk geschenkt wurde (und weiter wird) mit dem Ziel, ein schlagkräftiges europäisches Monopolkapital auf die Beine zu stellen, dass auf allen Gebieten den US-Multis Konkurrenz machen kann. Ebenso wird es in der EU zu einer Förderung des Zentralisationsprozesses des Kapitals – sofern dieser nicht ohnedies durch die Krise vorangetrieben wird – kommen.

Dass sich das europäische, insbesondere das deutsche Kapital mit Direktinvestitionen in den anderen Triadenblöcken hervortut, also dort den Kampf um die Märkte aufnimmt, steht nicht im Gegensatz zur Notwendigkeit weiterer EU-Integration, sondern erfordert diese gewissermaßen. Es gibt bisher jedoch sehr wenig Anzeichen für die Herausbildung eines pan-europäischen Monopolkapitals. Im Grunde sind die meisten noch immer nationalstaatlich verwachsen und werden es wohl auch auf einige Zeit bleiben.

Ein Blick auf einige Zahlen verdeutlicht das. Es gibt kaum „europäische Konzerne“. Die wenigen Ausnahmen wie Royal Dutch/Shell sind bezeichnenderweise auch nicht erst vor kurzem entstanden, sondern in einen viel früheren Phase der kapitalistischen Entwicklung.

Die enorme Zunahme der Konzentration von Kapital in der EU und weltweit in den letzten 10, 15 Jahren geht vor allem auf Fusionen und Übernahmen in nationalstaatlichem Rahmen oder die Übernahme ausländischer Konzerne, bei denen die Kontrolle unzweideutig in einem imperialistischen Land verbleibt zurück (z.B. DaimlerChrysler oder Deutsche Bank-Bankers Trust).

Von den 200 größten Konzernen der Welt hatten 1999 immerhin 67 (33,5 Prozent) ihren Sitz im EU-Raum (77 oder 38,5% im NAFTA-Raum, d.h. v.a. in den USA, 44 oder 22% in Japan; auf den „Rest der Welt“ entfielen gerade 12 oder 6%!). Vergleicht man den Umsatz der Konzerne, ergibt sich ein ähnliches Bild. 34% in der EU, 40% NAFTA, 27% Japan, 4,8% in anderen Ländern (13).

Schon ein solch nüchterner Blick auf die Verteilung der großen Industriekapitale relativiert auf wirtschaftlichem Gebiet alles Gerede vom raschen „Aufstieg“ halb-kolonialer Länder (Tigerstaaten, Russland, China). Aufgrund der baldigen Ausweitung der EU können wir noch dazu von einer weiteren Stärkung des EU Anteils ausgehen.

Ein Blick auf den Bankensektor untermauert das. Die zwanzig größten Banken der Welt befinden sich mit zwei Ausnahmen – die Schweizer UBS und Crédit Suisse – in den führenden Triadenländern. 1999 waren sie – gemessen an der Bilanzsumme – wie folgt verteilt: Japan und Deutschland je 5, Frankreich 3, USA und Schweiz je 2, Großbritannien, Belgien, Niederlande je eine.

Zweifellos hat sich das durch den anhaltenden Zentralisationsprozess inzwischen etwas verschoben. So scheinen in dieser Statistik die Fusion von Dresdner Bank und Commerzbank noch nicht auf, so fehlt die Übernahme der Bank Austria (=Aktiva im Wert vom 120 Mrd. Dollar) durch die Hypovereinsbank.

Gleichzeitig darf die geringe Präsenz des US-Sektors nicht täuschen. Betrachten wir bestimmte Sparten des Bankgeschäftes – insbesondere das für die „Fusionitis“ so wichtige Investment Banking – so zeigt sich dort eine eindeutige Führerschaft der USA.

Für die Bewertung der Stärke der EU auf wirtschaftlichem Gebiet und die dortige Stärke des BRD Kapitals sind zwei Fragen von größter Bedeutung. Erstens: Gibt es ein europäisches Kapital, das nicht in einem Staat „hauptverankert“ ist, in großem Ausmaß? Zweitens: Wie verteilen sich die Großkonzerne über die EU und welche Länder haben hier in den letzten Jahren zugelegt oder verloren?

Dazu wollen wir einen Blick auf die 100 größten Konzerne in der EU werfen. In folgender Tabelle (14) lässt sich der Trend deutlich feststellen.

 

„Nationale Zugehörigkeit“der 100 größten Unternehmen in Westeuropa 1990-1999

1990 1999
Land

BRD
Frankreich
GB
Italien
Niederlande
Schweiz
Schweden
Spanien
Norwegen
Belgien
Finnland
Österreich

Summe

Zahl der
Konzerne29
23
21
8
6
5
4
2
2
1
1
1

103

Addierter
Mrd. DM958
655
643
353
213
157
79
51
35
28
20
27

3219

Umsatz
v.H.29,8
20,3
20,0
11,0
6,6
4,9
2,5
1,6
1,1
0,8
0,8
0,8

100

Zahl der
Konzerne30
26
20
7
5
5
3
3
2
1
1

103

Addierter
Mrd. DM1870
1216
880
372
296
314
118
120
58
28
40

5312

Umsatz
v.H.35,2
22,9
16,6
7,0
5,6
5,9
2,2
2,3
1,1
0,5
0,7

100

 

(Drei bi-nationale Konzerne wie RoyalDutch Shell wurden doppelt gezählt und daher z.B. GB und NL zugeordnet; Quelle: Winni Wolf: Fusionsfieber.)

 

Von den 100 größten Konzernen in Westeuropa kommen nur sieben nicht aus dem EU-Raum (fünf Schweizer und zwei norwegische Unternehmen).

An einem Vergleich der Bilanzsummenentwicklung aller Konzerne innerhalb einer Dekade lässt sich leicht die Zentralisation des Kapitals verdeutlichen. Von 3219 Mrd. DM 1990 stieg sie auf 5312 Mrd. DM – also um 65%, rund doppelt so stark, wie das westeuropäische Bruttoinlandsprodukt zunahm.

Für uns besonders interessant ist die Verteilung der Großkonzerne. 1990 hatten 29 ihren Sitz in der BRD. Insgesamt kamen sie auf einen Umsatz von 958 Mrd. DM. Das entspricht 29,8% des Gesamtumsatzes der Top-100-Konzerne. 1999 nahm die Zahl nur unwesentlich – um einen – zu. Der Gesamtumsatz betrug 1870 Mrd. DM oder 35,2% der Top 100. Der Anteil des deutschen Kapitals nahm also um über 5% zu.

Neben dem deutschen Kapital konnte das französische seine Stellung stärken. Von 23 Konzernen stieg die Zahl auf 26, der Anteil am Gesamtumsatz stieg von 20,3 auf 22,9%.

Mehr als die Hälfte aller großen EU-Konzerne haben ihren Sitz in einem der beiden Länder (56 von 100), die gemeinsam 58,1 Prozent des Umsatzes bestreiten – Tendenz steigend.

Verloren haben im Zentralisationsprozess vor allem Britannien und Italien. Auch wenn die Anzahl der Großkonzerne unter den Top 100 nur um je einen zurückging, so sank der Anteil am Umsatz viel deutlicher: Britannien minus 3,4% (von 20 auf 16,6), Italien minus 4 % (von 11 auf 7).

Außer Frankreich und Deutschland konnten nur die Schweiz und Spanien ihren Anteil am Gesamtumsatz vergrößern (plus 1 bzw. plus 0,7 Prozent).

Vergleicht man den Zentralisations- und Konzentrationsprozess der großen Kapitale im Industrie- und Dienstleistungssektor noch einmal zwischen den Gewinnern Deutschland und Frankreich, so lässt sich daraus nur ein Schluss ziehen: der Zentralisationsprozess schreitet in Deutschland viel rascher voran.

1990 kamen die 12 größten deutschen Industriekonzerne auf einen Gesamtumsatz von 545 Mrd. DM, die zwölf größten französischen auf 383 Mrd. DM. 1999 war der Gesamtumsatz der zwölf größten deutschen auf 530 Mrd. EURO, der der französischen auf 267 Mrd. EURO gestiegen. Setzen wir die Gesamtsumme der französischen Konzerne gleich 100, so betrug der Gesamtumsatz der deutschen 1990 142% des französischen, 1999 aber 199% des französischen.

Ein ähnliches, wenn auch abgeschwächteres Bild ergibt sich, wenn wir die Dienstleistungsunternehmen einbeziehen.

Gegenüber seinen europäischen Konkurrenten hat sich das deutsche Kapital zweifellos gestärkt. Es hat den Unterbau für eine, wenn nicht die dominierende Rolle in der EU (gemeinsam mit dem französischen Kapital) eindeutig vergrößert.

In Hinblick auf Stärke und Stellung des deutschen Kapitals sind jedoch noch zwei wesentliche Anmerkungen zu machen, die es gegenüber anderen EU-Konkurrenten weiter begünstigen werden.

Die EU hat zwar kein europäisches Kapital, aber einen beachtlichen europäischen Markt hervorgebracht, der auch Hauptabsatzgebiet der EU-Staaten ist.

Der „Exportweltmeister“ BRD ist nicht nur der größte Exporteur in andere EU-Länder (Intra-EU-Handel). Er ist mit noch viel deutlicherem Abstand der größte Exporteur aus der EU hinaus. Die Gründe dafür sind folgende:

Erstens geht ein gigantischer Teil am Export nach Mittel- und Osteuropa (Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn). Hier hat das deutsche Kapital die EU-Konkurrenz schon lange „abgehängt“ und hat andere, ursprünglich recht gut platzierte Nationen (z.B. Österreich) verdrängt oder dessen Konzerne aufgekauft.

Zweitens ist das deutsche Kapital auf alle Weltmärkte, auf alle Triaden bezogen, insbesondere auch auf den US-Markt.

Drittens hat die internationale Ausdehnung der großen Multis (Übernahmen, Firmengründen usw.) deutsche Konzerne in anderen imperialistischen Zentren oder in Halbkolonien dazu geführt, dass der Handel innerhalb der multinationalen Konzerne deutlich angewachsen ist.

So ist eine großer Teil des Handels mit Ländern wie Südafrika und Brasilien – dem strategischen Stützpunkt des deutschen Kapitals in Lateinamerika – konzerninterner Handel. Die positive Handelsbilanz Deutschlands mit diesen Ländern ist nicht zuletzt auf Gewinntransfers in den Großkonzernen zurückzuführen.

Das deutsche Kapital hat in den letzten zehn Jahren beachtliche Übernahmen in anderen Triadenblöcken tätigen können, wobei allerdings auch wichtige „Traditionsunternehmen“ wie Mannesmann von Konzernen aus anderen imperialistischen Ländern geschluckt wurden. Insgesamt verdeutlichen die Übernahmen erstens schärfere Konkurrenz, zweitens eine gestärkte Position des deutschen Kapitals am Weltmarkt.

Überhaupt hat der Kapitalexport – und eine wichtige Form davon ist zweifellos der Aufkauf oder die Investition in anderen Ländern – in den letzten Jahren dramatisch an Bedeutung gewonnen.

So erbringen laut Bundesbank die 29.000 ausländischen Unternehmen „unter deutschem Einfluss“, also Tochterfirmen deutscher Muttergesellschaften, eine Jahresumsatz von 1.078 Mrd. Euro (15). Das entspricht etwa dem doppelten Umfang des deutschen Exports.

Dieser Schub entspricht dem internationalen Trend. Von 1990 bis 2000 haben sich die Auslandsdirektinvestitionen weltweit versechsfacht, während das Welt-BIP gerade um ein Viertel gewachsen ist und der Welthandel „nur“ um 85% zunahm. Spitzenreiter sind hier, auch vom Anteil her betrachtet, die USA. Die deutschen Direktinvestitionen vervierfachten sich immerhin im Laufe eines Jahrzehnts.

Das wird noch durch die Tatsache unterstrichen, dass das deutsche Kapital – und auf diesem Gebiet ist ihm in Europa nur das britische einigermaßen gleichwertig – eine wirklich globale Ausrichtung hat. Es kämpft um Einfluss und eine bedeutende, wenn nicht dominierende Rolle auf allen drei Triadenmärkten. Das wurde nach der Asienkrise, als deutsche Konzerne die Schwäche Japans und der Tigerstaaten zu massiven Aufkäufen nutzten (allerdings immer auch auf US-Konkurrenten stießen), das zeigt sich an der Expansion des China-Geschäftes, das zeigt sich an strategischen Investitionen z.B. im Iran (gemeinsam mit Frankreich, gegen die USA).

Aus geringeren Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft kann also keinesfalls auf eine geringere Bedeutung des deutschen Kapitals in der Weltmarktkonkurrenz und schon gar nicht in der EU geschlossen werden.

Die Einführung des EURO und die weitere wirtschaftliche Integration des kapitalistischen Europas stellen eine zusätzliche Stärkung und Potenz der deutschen (wie auch anderer europäischer) Kapitale dar.

Schon heute ist der EURO eine Konkurrenzwährung zum Dollar, wie es keine andere seit dem Zweiten Weltkrieg auch nur annähernd war. Noch immer ist der Dollar die internationale Reservewährung der Welt (69% aller Währungsreserven waren 1998 in Dollar angelegt, 24% in EURO). Als Handelswährung und Anlagewährung sieht die Bilanz aber schon anders aus: 48% des Welthandels wurden 1997 in Dollar, 34% in EURO getätigt. 40% aller Anlagen in Dollar, 34% in EURO (16).

Während für die nächste Zukunft das Verhältnis zum französischen Imperialismus durch eine gemeinsame Stoßrichtung gekennzeichnet ist, durch eine institutionalisierte deutsch-französische Kooperation und das gemeinsame Interesse, die Schaffung eines europäischen imperialistischen Blocks voranzutreiben, so nimmt der britische Imperialismus eine zwiespältige Rolle ein. Die britische Bourgeoisie schwankt für oder gegen den EURO, für oder gegen den europäischen Block (oder die USA). Früher oder später muss sie sich jedoch entscheiden.

Mit der Schaffung eines europäischen imperialistischen Blocks geht gleichzeitig eine Orientierung auf Osteuropa einher, das zum Teil oder Vorhof der EU und v.a. des deutschen Imperialismus werden soll. Es soll eine Funktion ähnlich der Lateinamerikas für die USA erfüllen und wird als quasi-natürliche Einflusssphäre beansprucht. Die Erfahrung des letzten Jahrzehnts (insbesondere die Kriege auf dem Balkan) lehrte die deutschen Imperialisten jedoch, dass die „eigenen“ Gebiete keineswegs so sicher sind, ja dass die USA noch immer in der europäischen Politik eine dominierende Rolle spielen.

Von strategischer Wichtigkeit ist in diesem Kontext die Politik gegenüber Russland. Russland lockt ökonomisch als deutsche (oder europäische) Halb-Kolonie, wenn auch aufgrund seiner militärischen Stärke als eine besonders (und tatsächlich außergewöhnliche) starke. Enge Kooperation mit dem bürgerlichen Russland ist eine Kontinuität der deutschen Außenpolitik bei Kohl wie bei Schröder/Fischer.

Aber die Politik der Bush-Regierung seit dem 11. September, die Wiederannäherung an Russland hat den deutschen Imperialisten gezeigt, dass die USA verhindern wollen, Russland in die Hände der EU zu treiben. Überhaupt ist die Politik der Regierung Bush für die Imperialisten in anderen Ländern seit dem 11. September gefährlicher geworden. Als Bush gewählt worden war, war seine Regierung schwach, der Präsident ein Wahlbetrüger, seine Außenpolitik unklar. Das nährte bei den deutschen Imperialisten die Hoffnung, es mit einem eher leichten Gegner zu tun zu haben, mit einem, der „den Europäern“ freie Hand am Balkan gestatte und Russland keine Alternative, denn das Anschmieren an Westeuropa ließe. In den letzten Monaten ist diese Hoffnung sicher verfolgen.

Einmal mehr zeigt sich, dass die imperialistischen Konkurrenten nicht schlafen. Die BRD hat in den letzten zehn Jahren zweifellos deutlicher als zuvor ihre imperialistischen Interessen artikuliert und vertreten, meist im Gewande des „Friedenstifters“, des „Vermittlers“, der „Annäherung durch Handel“. Sie hat dabei auch eine eigene imperialistische Diplomatie aufgebaut, insbesondere in der Ära Fischer. Aber auch hier herrscht oft Kontinuität, z.B. bei der die Iranpolitik Kohls und Kinkels, die von Fischer fortgesetzt wird, was dem deutschen Kapitals neben dem französischen eine unumstrittene Spitzenposition in dieser geostrategisch wichtigen Halb-Kolonie verschafft hat.

Militärmuseum EU?

Der deutsche Imperialismus hat nach vor den Nachteil, militärisch schwachbrüstig zu sein. Globale Interventionsfähigkeit in nennenswertem Maß hat die Bundeswehr nicht. Es fehlt insbesondere an einer schlagkräftigen Marine, an Flugzeugträgern usw.

Nach 1990 proklamierte der deutsche Imperialismus seine militärischen Ambitionen sehr rasch und unverblümt.

Das „Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte der Bundeswehr und der Wirtschaft“, im September 1991 von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundeswehrführung gemeinsam organisiert, gab hier eine deutliche Marschroute vor. Die Militärs spielten hier eine Vordenkerrolle wie seit 1945 nicht mehr.

Schon bei der Übernahme der Nationalen Volksarmee am 3. Oktober 1990 stellten die Generäle klar, in welche Tradition sich die „vereinigte“ Armee zu stellen habe. Der damalige Generalmajor Werner von Scheven und Vize-Chef der Bundeswehr Ost gab in den „Informationen an die Truppe“ im September 1990 zu Protokoll, dass man nicht „hinter den Leistungen der Wehrmacht zurückstehen“ werde.

Eine Schlüsselrolle spielte im folgenden Klaus Naumann, der 1991 zum Generalinspekteur der Bundeswehr und später zum NATO-Oberkommandieren berufen wurde (in den höchsten Rang, den je ein nicht-US-amerikanischer Militär in der NATO innehatte).

Er eröffnete 1991 und 1992 eine politische Kampagne zur Änderung der Verteidigungsdoktrin, die sich damals auch gegen den Außenminister Genscher richtete. Schon damals war für ihn klar, dass ungeachtet der „noch vorzunehmenden politischen Klarstellungen“ (Änderung des Grundgesetzes!) die Bundeswehr „für kollektive Einsätze außerhalb des Bundesgebietes zur Verfügung“ stehen müsse, „soweit es deutsche Interessen gebieten“.

Naumann selbst war und ist Mitglied der „Glausewitz-Gesellschaft“, einer Vereinigung entscheidender Militärs, Politiker und Wirtschaftsvertreter. Seit Beginn der 1990er Jahre gibt es kaum eine strategisch wichtige militärpolitische Einscheidung, die von ihr nicht vorbereitet oder gefördert worden wäre. Sie reiht sich damit in ein Geflecht einiger weniger Stiftungen und Gesellschaften (wie z.B. auch der Quandt-Stiftung) ein, die strategische Linien des deutschen Imperialismus vorbereiten.

In seinem Beitrag am Fürstenfeldbrucker Symposium hatte auch Ruppert Scholz (CDU), oft als „graue militärpolitische Eminenz“ bezeichnet, klar skizziert, wohin der Hase laufen soll. Darin vertrat er folgende Thesen:

1. Deutschland muss wieder „normal“ werden und als stärkste Macht Europas eine Führungsrolle – partnership in leadership – spielen;

2. es muss Militäraktionen der UNO unterstützen und daran teilnehmen;

3. der NATO-Vertrag muss geändert werden, so dass auch außerhalb des Mandatsgebietes „legal“ eingegriffen werden kann; Ähnliches muss für die WEU gelten.

4. eine Grundgesetzänderung sei dazu nicht notwendig;

5. Sicherheitsrat für Europa statt Weltsicherheitsrat, die politische Union muss auch militärisch und sicherheitspolitisch „vertieft“ werden;

6. Aufbau von gut ausgerüsteten Sondereingreiftruppen und Spezialkräften zur Intervention in Krisengebieten;

7. Einsätze von NATO, WEU und UNO auch gegen den Willen der betroffenen Staaten;

8. Als sicherheitspolitische „Gefährdungsszenarien“ gelten: Bedrohung westlicher Werte, strategischer Rohstoffe und Flüchtlingsmassen;

9. Umstrukturierung der Bundeswehr durch „Kaderung“ (Verkleinerung, Schaffung kleinerer, flexiblerer Einheiten) und Auslagerung von Instandhaltungskosten;

10. Staatliche Planung für Rüstungsvorhaben, Forschung und Entwicklung in diesem Sektor;

11. Akzeptanz für Rüstung und Einsatz der Truppe beim Steuerzahler herstellen, „Waffenbereitschaft“ der Bürger verstärken;

12. „Entsorgung“ der Vergangenheit: „Auschwitz und Holocaust“ dürften nicht länger gegen „die Deutschen“ instrumentalisiert, stattdessen sollen Nation und Vaterland gestärkt werden;

13. Einführung allgemeiner militärischer und ziviler Dienstpflicht für Männer und Frauen.

Viele dieser Vorhaben sind heute Realität geworden, andere – insbesondere alle, die Geld kosten – stecken noch in Kinderschuhen.

Die von Naumann und der „Glausewitz-Gesellschaft“ maßgeblich vorbereiteten und von Scholz forcierten „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) passierten am 26. November 1992 das Bundeskabinett.

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland die „nationalen Interessen“ anstelle der NATO-Bündnispflicht und der Unterordnung unter die USA ins Zentrum der Militärdoktrin gerückt. Als zentrale Ziele der Bundeswehr werden in den VPR definiert:

„Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen könnten.“ und „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Wirtschaftsordnung.“

Natürlich verfolgte der deutsche Imperialismus auch vor 1992 seine eigenen Interessen. Aber die VPR beließen es ja auch nicht nur bei einer offensiveren Darstellung der eigenen Ziele.

Ein alle Teilstreitkräfte umfassendes „Einsatzkommando“ mit Sitz in Potsdam wurde in den 1990er Jahren installiert – ein neu entstandener de-facto-Generalstab, der Deutschland durch das Potsdamer Abkommen eigentlich verboten ist.

Auch die „verfassungsrechtlichen Klarstellungen“ wurden schließlich vorgenommen – nicht vom Parlament, das die VPR nie debattiert hat – sondern vom Bundesverfassungsgericht. Letzteres ermächtigt die Militärs mit einfacher Regierungsmehrheit im Bundestag Kriegseinsätze durchzuführen. So funktioniert bürgerliche Demokratie. Alle wichtigen Entscheidungen werden eben nicht dem Volk – und im Zweifelsfall auch nicht den „Volksvertretern“ überlassen.

Die größeren Ambitionen, der angestrebte, erweiterte Handlungsspielraum müssen freilich auch mit gestiegener militärischer und politischer Macht untermauert werden. Hier sieht die Bilanz der deutschen Militaristen nicht so rosig aus.

Die WEU (Westeuropäische Union) soll nach dem Willen deutscher und französischer Militärs zum „militärischen Arm“ der EU ausgebaut werden.

„Im sogenannten Tindemans-Bericht an das Europäische Parlament aus dem Jahre 1996 wird der Weltmachtanspruch der Europäischen Union deutlich und offen angemeldet mit dem ‚Hinweis’, dass die Europäische Union, die führende Handelsmacht der Welt, (…) ‘sich nicht mehr mit zweitrangigen Verantwortlichkeiten in internationalen Fragen begnügen kann’ (…). Gleichzeitig wurde der ‚Hinweis’ gegeben, dass die ‚Europäische Union ohne eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht in der Lage ist, auf diplomatischem Wege und zugleich unter Anwendung von militärischem Druck, eine wirksame Außenpolitik zu betreiben.“ (17)

Aber der Militärkörper der EU blieb bis heute im wesentlichen ein Skelett, seine militärische Schlagkraft ist nicht ausreichend, auch wenn sich die EU-Militärstrategien bemühen, die „Lehren“ des Balkankrieges zu ziehen.

So vereinbarten Chirac und Schröder beim 73. deutsch-französischen Treffen 1999, das Eurokorps auf eine Eingreiftruppe von 50.000 Mann zu erhöhen.

Seit dem ersten Mai 1999 ist der Amsterdamer Vertrag in Kraft, der die Grundlagen für eine „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU legt. Javier Solana wurde dadurch gewissermaßen zum „Außenminister“ der EU.

Beim EU-Gipfel in Köln 1999 wurde der Grundstein zu einer Europäischen Militärunion gelegt. Schließlich soll eine „Europäische Rüstungsagentur“ geschaffen werden, um auf diesem Gebiet gegenüber den USA nicht noch mehr Boden zu verlieren.

Im Moment sind jedoch die USA in der Vorhand. Sie haben vor und nach dem 11. September ein massives Aufrüstungsprogramm gestartet. Schon 1999 hatten die USA eine Erhöhung des Haushalts von Militär und Rüstung um 112 Mrd. US-Dollar, verteilt auf sechs Jahre, beschlossen. Sie haben die NATO viel rascher und nachhaltiger unterminiert als die „europäischen Partner“, deren EU-Projekte nicht recht vom Fleck kommen. Sie haben in den letzten Jahren einen Zentralisationsprozess im Rüstungssektor forciert, der die EU-Konzerne massiv unter Druck setzt.

Schon ein Vergleich der Rüstungsausgaben im Jahr 1999 – also noch vor der jüngsten Aufrüstungsrunde – zwischen USA, Frankreich, BRD und Britannien verdeutlicht das Problem.

Die USA gaben damals jährlich 252,4 Mrd. US Dollar oder 3,1 % des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung aus. Frankreich, die BRD und Großbritannien gemeinsam nur 85,2 Milliarden (Frankreich: 28,4 oder 2,7% des BIP, Britannien 33,3 oder 2,6 und Deutschland 23,8 oder 1,4 %). Insgesamt betragen die Rüstungsausgaben der EU rund zwei Drittel der US-amerikanischen.

Viel deutlicher ist die Lücke hinsichtlich bei der Entwicklung neuer Waffensysteme. 1999 gaben die USA 37 Mrd. US Dollar dafür aus, die EU-Länder gerade 8 Mrd.

Hinzu kommt, dass die Ausgaben der USA in eine Armee fließen, während von einer mit der US-Army vergleichbaren europäischen Armee heute keine Rede sein kann.

Ein ähnliches Problem begegnet den deutschen und europäischen Imperialisten auf dem Gebiet der Rüstungskonzerne.

Seit 1993 fusionierten die damals 21 größten US-Rüstungskonzerne zu fünf schlagkräftigen Waffentrusts. Diese Zentralisierung kam auch aufgrund des bewussten Drucks der US-Regierung zustande.

Die größten europäischen Konzerne sind demgegenüber nationalstaatlich verankerte Konzerne der wichtigsten Militärmächte: BritishAerospace/Marconi (Britannien), Aerospatiale-Matra (Frankreich) und Dasa (Deutschland).

Selbst der auf den Weg gebrachte europäische Rüstungskonzern EADS – der bislang weitestgehende Versuch, ein supranationales Unternehmen zu schaffen – ist noch von divergierenden nationalstaatlichen Interessen geprägt. EADS befindet sich im Wesentlichen in deutschem, französischem und spanischem Besitz. Aber schon ein Blick auf die Besitzer verdeutlicht das Problem. Auf deutscher Seite gibt es i.w. nur einen Großeigner (und damit den größten überhaupt): DaimlerChrysler. Auf spanischer Seite das gleiche Bild: der spanische Staat ist Haupteigner. Auf französischer Seite schließlich gibt es eine Kombination aus Staat und privatem Eigner (der Rüstungskonzern Lagadère).

Die tieferen Ursachen der militärischen Schwierigkeiten der EU führen uns – vom Standpunkt deutschen Kapitalisten und ihrer Ideologen betrachtet – zu denselben Problemen wie bei den wirtschaftlichen Fragen:

Die Vorherrschaft in Europa selbst muss geklärt werden. Europäisches Kapital muss geschaffen werden, auch ein europäischer Staat oder Halb-Staat. Aber unter wessen Vorherrschaft? Diese Frage trachten die deutschen Imperialisten in Kooperation mit den französischen zu lösen und sie vertrauen dabei auf ihre überlegene Kapitalmacht.

Auf politischem und militärischem Gebiet ist das noch viel schwerer. Hier gibt es keine eindeutige deutsche Überlegenheit. Daher können sich die deutschen Imperialisten auch nicht einfach auf die Bildung einer EU-Armee verlassen.

Erstens, weil sie sich damit von anderen Imperialisten sehr abhängig machen – und das unterminiert natürlich die Führungsrolle in Europa und stärkt die „Partner“. Zweitens ist das EU-Projekt zwar zentral, aber keineswegs irreversibel vorangeschritten. Daher wird die nächste Regierung versuchen, ein massives Aufrüstungsprogramm umzusetzen und eine Kriseninterventionstruppe mit mehreren 10.000 Mann aufzubauen.

Kalkulationen der Bundeswehr gehen davon aus, dass eine Verdopplung des deutschen Wehretats bei gleichzeitiger Bundeswehrreform (Verringerung der Anzahl der Soldaten, v.a. der Wehrpflichtigen, Umstellung auf flexibleres Kommando) und ähnliche Schritte der europäischen Verbündeten notwendig sind, um im nächsten Jahrzehnt technologisch zu den USA aufzuschließen oder die „Lücke“ zumindest zu verringern. Scharping hat hier Vorarbeit geleistet – siehe z.B. Airbus 400, aber das alles ist für die Bedürfnisse des deutschen Imperialismus noch zu wenig. Daher die Rufe nach mehr „Durchsetzungsfähigkeit“ und zur „Schließung der klaffenden Lücke“.

Bis dahin muss jedoch der Einfluss des deutschen und europäischen Imperialismus gegenüber dem „US-Partner“ abgesichert werden.

Die altehrwürdige UNO dient den USA bestenfalls noch als Übungsfeld dafür, ob und bis zu welchem Grad es gelingt, die „Weltgemeinschaft“ für die eigene Sache zu mobilisieren. Auch für die europäischen Imperialisten wird die UNO mehr zum Spielball und immer weniger zum Instrument der Durchsetzung ihrer Interessen.

Auch die deutschen Imperialisten weinen der UNO keine Träne nach. Für den deutschen Imperialismus wirft sie nur ein zusätzliches Problem auf. Die BRD ist kein permanentes Mitglied im Sicherheitsrat, sie ist im UN-Rahmen gegenüber den USA, aber auch Frankreich, England, China und Russland benachteiligt. Die noch Anfang der 1990er Jahre forcierten Pläne, Deutschland zum ständigen Mitglied des Sicherheitsrats zu machen, haben heute untergeordneten Charakter, weil die UNO ohnedies eine Auslaufmodell ist.

Auf die UNO und andere imperialistische Institutionen der Nachkriegsordnung setzen im Grunde nur noch die halb-kolonialen bürgerlichen Regime der „Dritten Welt“, die so versuchen, ihren Interessen mehr schlecht als recht Geltung zu verschaffen.

Daher werden auch die wohlmeinenden Ratschläge linker Reformisten, doch wieder die UNO zu stärken, vom deutschen Imperialismus und den USA ignoriert. Solche Tipps für eine „humanere“ kapitalistische Weltherrschaft waren vielleicht vor 20 Jahren gefragt, heute sind sie nicht mehr zeitgemäß.

Heute ist der US-Unilaterialismus das größere Problem. An seiner Stelle wollen Deutschland und die anderen europäischen Imperialisten einen exklusiven Club der Großmächte, Institutionen wie die G 7/G 8 forcieren, um so die Macht der USA zu beschränken. Am besten – so einige Kommentatoren im Umfeld des Bush-Besuchs vom Mai 2002 – wäre eine G2 aus EU und USA.

Die zweite Schwierigkeit, vor der alle kontinentaleuropäischen Imperialisten stehen, heißt Arbeiterklasse, genauer: deren Errungenschaften.

Klassenkampf nach innen

Die wichtigere weltpolitische Rolle, die größeren Ambitionen des deutschen Imperialismus und die Stärkung des deutschen Kapitals erfordern zugleich eine Veränderung des Kräfteverhältnisses nach Innen. Dieses Erfordernis ergibt sich aber auch aus der Stärke des US-amerikanischen Imperialismus, der Überakkumulationskrise und der verschärften internationalen Konkurrenz.

Erstens heißt das, die Arbeiterbewegung strategisch zu schwächen. An diesem Vorhaben war die Kohlregierung gescheitert. Ihr war es nicht gelungen, die Errungenschaften der westdeutschen Arbeiterklasse zu zerstören, die Stellung der Arbeiterbewegung qualitativ zu schwächen, auch wenn sie ausgehöhlt wurden. Diese Aufgabe erfüllte die Regierung Schröder/Fischer bis in der letzten Regierungsperiode mit einigem Erfolg und einer korporatistischen Taktik (Bündnis für Arbeit).

Aber sie hat diese Aufgabe noch nicht zu Ende geführt, ja auch der Korporatismus erweist sich mehr und mehr als Sackgasse. Die entscheidenden Auseinandersetzungen liegen noch vor uns.

Das erkannten auch die deutschen Unternehmer. Im Vorfeld der letzten Sitzung des Bündnis für Arbeit (Anfang 2002) haben sie einen „Vorschlag“ vom Feinsten veröffentlicht, der ihre Forderungen an diese und jede andere Bundesregierung zum Ausdruck bringt. Um nur drei Bereiche zu nennen:

• „angemessene“ Tarifbeschlüsse: hier schwebt den Kapitalisten eine Marge von 0,9 bis 1,8% vor;

• Flexibilisierung des Arbeitsmarktes: Schaffung eines Niedriglohnsektors bis 600 EURO bei gleichzeitig verstärktem Druck auf Arbeitslose, jeden Job anzunehmen, Ausdehnung der Leiharbeit, Aufhebung des Kündigungsschutzes;

• Zerschlagung der Krankenversicherung, weitere Privatisierung.

Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Kapitalistenklasse auf Stoiber und sein „Kompetenzteam“ setzte. Von ihnen wurde Rückendeckung für einen entscheidenden Schlag gegen die ArbeiterInnen erwartet. Aber bekanntlich ist es anders gekommen. Gestützt auf die Gewerkschaften konnte die SPD gerade noch den Sieg Stoibers verhindern.

Anders als vor vier Jahren ging die deutsche Bourgeoisie jedoch gleich dazu über, durch die rot-grüne Regierung massive Angriffe auf die Arbeiterklasse zu lancieren – sie es über den Druck der Unternehmer(verbände) oder über die CDU/CSU.

Zweitens heißt es auch, jede Widerstandsbewegung, sei es die anti-kapitalistische Bewegung, sei es die Mobilisierungen der Flüchtlinge und ImmigrantInnen niederzuhalten – entweder durch Repression oder Integration.

Unvermeidlich gehen beide Ziele mit einem dramatischen Abbau demokratischer Rechte, Einführung zusätzlicher Überwachung, Aufrüstung der Polizei und Geheimdienste, verstärkte europäische und weltweite Kooperation, Tendenz zum Autoritarismus einher.

Insbesondere aber ist die Neubegründung eines deutschen Nationalismus, der militärische Interventionen legitimiert, massenwirksam ist und mit einem „pan-europäischen Quasi-Nationalismus“ vereinbart werden kann, notwendig. Es muss eine Massenbasis in der Gesellschaft (unter den Intellektuellen, im Kleinbürgertum, in den Mittelschichten, aber auch in den wenig bewussten Teilen der Arbeiterklasse) für die Identifikation mit dem deutschen Imperialismus geschaffen werden. In dieser Hinsicht ist das „Menschenrechtsargument“, die „humanitäre“ Außenpolitik günstig und nützlich.

Darüber hinaus lassen deutsche Politiker auch „Testballons“ für eine von den USA deutlicher geschiedene Außenpolitik steigen. Die Möllemann-Affäre signalisierte auch, dass der deutsche Imperialismus in der Nahostpolitik eine andere Option als die Treue zu den USA und ihrem Verbündeten Israel entwickeln kann. Gegenwärtig ist aber die Unterstützung Israels weiter ein Fixpunkt deutscher Außenpolitik.

Die Unternehmer haben jedoch ein Problem. Die aggressivere Politik gegenüber der deutschen Arbeiterklasse, die Angriffe auf soziale und demokratische Errungenschaften unterminieren auch eine zentrale sozial Stütze des Imperialismus: den sozialdemokratischen Reformismus.

SPD, PDS und die Gewerkschaftsführungen stützen sich sozial auf die Arbeiterklasse, vor allem ihre relativ besser gestellten, arbeiteraristokratischen Teile, sowie auf die neuen, lohnabhängigen Mittelschichten.

Die Politik Schröders – die „Neue Mitte“ – aber auch der Modernisierungskurs der Gewerkschaftsführungen bringen das zum Ausdruck. Die linken Reformisten sind deutlich geschwächt und haben, wo sie in die Regierungsverantwortung gezwungen werden, wenig mehr als „Mitmachen“ zu bieten (PDS in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern).

Aber in den letzten Jahren hat sich verstärkt eine Ablösungsbewegung von den reformistischen Führungen – nicht vom Reformismus als Ideologie – bemerkbar gemacht. Zum Teil füllt die PDS diese Rolle aus, zum Teil linke GewerkschafterInnen. Hintergrund dieser Entwicklung ist jedoch der Kampf der ArbeiterInnen – Hunderttausende, die in den Tarifrunden 2002 streikten, Zehntausende, die gegen den Afghanistan-Krieg auf die Straße gingen.

Die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse gegen Angriffe auf ihre Lebensbedingungen ist deutlich spürbar. Ebenso eine größere Offenheit für revolutionäre Ideen.

Diese Kampfbereitschaft, diese Offenheit müssen RevolutionärInnen aufgreifen – nicht, um in einem utopischen, „besseren“ Reformismus a la attac oder kleinbürgerlichem Sektiertum wie die stecken zu bleiben – sondern, um den Weg zum Kampf gegen das gesamte kapitalistische System zu weisen.

Der deutsche Imperialismus ist – wie das gesamte imperialistische System – eine tödliche Bedrohung für die Menschheit. Aber es gibt eine Klasse, eine gesellschaftliche Kraft, die ihn in die Knie zwingen wird – die internationale Arbeiterklasse.

Anmerkungen und Fußnoten:

(1) Die tieferen Gründe für den Zusammenbruch der DDR haben wir noch einmal 1999 in „Revolutionärer Marxismus“ Nr. 29 herausgearbeitet. Siehe dazu: Bruno Tesch/Martin Suchanek, „Entstehung und Untergang der DDR“ sowie Hannes Hohn, „Planungsmangel und Mangelplanung“

(2) Für eine umfassender Darstellung der Position der LRKI zur Leninschen Imperialismustheorie siehe: Keith Hassell, Revolutionary Theory and imperialism, in: Permanent Revolution 8, S. 22-74, London 1989

(3) Lenin, Werke 22, S. 189-309

(4) Konzentration und Zentralisation des Kapitals bezeichnen zwei verschiedene, wenn auch im umgangssprachlichen Verständnis oft gleichgesetzte oder vermischte Kategorien der Marxistischen Theorie.

Unter Konzentration des Kapitals versteht Marx die ausschließlich auf der Akkumulation beruhende Ausdehnung des Kapitals. Die einzelnen Kapitale wachsen also gemäß ihrem Anteil am gesellschaftlichen Gesamtkapital. Im Konzentrationsprozess ist die Expansionsmöglichkeit des Kapitals begrenzt durch das Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums. Das Wachstum des Gesamtkapitals (und damit der Ausdehnung des Kommandos über die Arbeit) geht einher mit der fortgesetzten, wenn nicht zunehmenden Zersplitterung der Einzelkapitale.

Die Zentralisation ist die Zusammenfassung bereits gebildeter Kapitale unter einem Eigentümer. Während die Konzentration Zunahme des Gesamtkapitals bedeutet, bezeichnet Zentralisation eine veränderte Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

So kann z.B. die Konzentration des Kapitals abnehmen und gleichzeitig die Zentralisation steigen. Die wichtigsten Hebel der Zentralisation des Kapitals sind Konkurrenz und Kredit.

(5) Lenin, Ebenda, S. 230

(6) Lenin, Werke, S. 242

(7) Zum Verhältnis siehe auch RM 31 „Marxismus und Gewerkschaften“

(8) Ein Beispiel dafür ist die Veränderung der Konzernstrategie von Daimler. In den 80er Jahren wurde versucht, durch die Übernahme von AEG einen „Mischkonzern“ in verschiedensten Branchen zu etablieren. In den 90er Jahren wurde diese Strategie weitgehend umgekehrt. Die Konzentration auf das „Kerngeschäft“ war nun zentral. Neben der Automobilsparte verblieb nur die Rüstungsindustrie als zweiter Kernbereich.

Was eine Branche ausmacht, ist selbst stetigen Veränderungen unterworfen. So versuchen z.B. die weltweit führenden Telekommunikationskonzerne einen „integrierten Service“ für eine ganze „Kommunikationsbranche“ anzubieten. Etliche Mobilfunkanbieter z.B. sind kaum noch konkurrenzfähig, da ihre Größe zu gering ist und da sie zu sehr von den Schwankungen eines Marktsegmentes abhängig sind.

(9) Winni Wolf, Fusionsfieber, S. 192

(10) Zbigniew Brezinski, Die einzige Weltmacht, S. 57

(11) Zitiert nach isw report 40, S. 22

(12) Die Bonner Konferenz: Vom imperialistischen Krieg zum imperialistischen Frieden, Infomail der Gruppe Arbeitermacht Nr. 45, 5. Dezember 2001

(13) Diese Angaben sind dem Buch von W. Wolf entnommen.

(14) aus W. Wolf, Fusionitis, S. 152

(15) Bundesbank-Monatsberichte, April 2001, S. 68f

(16) Wirtschaftswoche, 30.4.98

(17) Uli Cremer, Neue Nato – neue Kriege? Hamburg 1998, S. 61 f




Die „Kritik der Arbeit“ und das Rätsel der Systemüberwindung

Zu Theorie und Praxis der „Krisis“-Strömung

von Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 33, Frühjahr 2003

Robert Kurz, die Galionsfigur der „Krisis“-Gruppe, wurde Anfang der 90er-Jahre einer breiteren deutschen Öffentlichkeit bekannt. Er war ein ehemaliges Führungsmitglied der MLPD bzw. ihrer Vorläufer und reiht sich ein unter andere vormalige „Führern der ML-Bewegung“, die mit einer vehement vorgetragenen „Abkehr vom Proletariat“ und einer „grundlegenden Abrechnung“ mit dem von ihm so genannten „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ ein wohlwollendes Echo in den bürgerlichen Medien fanden. Weniger beachtet blieb, dass diese Wende bei Kurz in eigentümlicher Weise mit der Perspektive der Krisenhaftigkeit und unmittelbaren Überwindbarkeit des Kapitalismus verbunden blieb.

Diese Doppelseitigkeit entstand aus den Selbstverständigungsversuchen im Ex-K-Gruppen-Milieu. Einerseits wollte man zu einer grundlegenden Kritik des bisher selbst betriebenen „marxistisch-leninistischen“ Politik-Modells kommen. Andererseits sollte die methodische Schärfe einer fundamentalen Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus – oder dem, was man dafür hielt – gerettet werden.

Die „Krisis“-Gruppe (1) entdeckte dabei als Dreh- und Angelpunkt einer erneuerten Systemüberwindungsperspektive ein neues Wundermittel: die sogenannte „fundamentale Wertkritik“. Dies insbesondere in der Form der Entlarvung der zeitgenössischen Vergötzung von abstrakter, entfremdeter Arbeit als irrationaler Sinnstiftung. Das „Manifest gegen die Arbeit“ war sicherlich ihr durchschlagendster „Propagandaerfolg“.

Der Ansatz der Enthüllung ideologischer Verblendungszusammenhänge in ihrem notwendigen Ableitungszusammenhängen mit der zugrundeliegenden immer totalitärer werdenden Warenproduktion wurde als „fundamentale Wertkritik“ zum Ausgangspunkt verschiedener Strömungen, die sich zumindest durch starke publizistische Aktivität auszeichnen.

Neben der Zeitschrift „Krisis“ verstehen sich auch „bahamas“ oder die Freiburger „Initiative Sozialistisches Forum“ („Ca ira“-Verlag) als neuartige „Wertkritiker“. Einem „breiteren“ Publikum wurden diese Strömungen über ihren Einfluss in „konkret“, „jungle world“ oder „Weg und Ziel“, aber auch durch ihre Aktivitäten in internet-Foren wie „open theory“ bekannt. Speziell die Entlarvung des unmittelbaren Zusammenhangs von undurchschauter, unreflektierter Verstrickung in die Welt der Warenförmigkeit mit solchen Erscheinungen wie Rassismus, Anti-Semitismus, zu kurz greifendem Anti-Kapitalismus oder Anti-Imperialismus wurde zum Ausgangspunkt von kritischen Totalabrechnungen.

Nicht zuletzt wurde die anti-deutsche Strömung aus dieser Fundamental-Opposition gegen das falsche „Normalbewusstsein“ und seinen spiegelbildlichen Pseudo-Anti-Kapitalismus („ehrliche deutsche Arbeit“ gegen „jüdische Geldmacherei“, etc.) geboren. Aus der „Nie wieder Deutschland“-Bewegung der DDR-Anschluss-Jahre geboren, fand die wertkritische Fundamental-Opposition in dieser „Bewegung“ eine Basis für ihren sektenhaften „Anti-Populismus“. So bemerkte einer ihrer Propheten, Justus Wertmüller, dass es den 90ern für einige Jahre so schien, „als hätte der anti-deutsche Aufbruch den ideologischen Müll von zwanzig westdeutschen Bewegungsjahren so durcheinander gewirbelt, dass endlich eine kommunistische Kritik der Gesellschaft möglich würde“ (2).

Tatsächlich wurde die Verarbeitung der in der K-Gruppen-Vergangenheit begangenen opportunistischen und populistischen Abenteuer zur besessenen Schmähung des einst für diese Umwerbung ach so tauben Liebesobjekts. Der „deutsche Arbeiter“ wird in allen nur möglichen Formen des Bösen entdeckt, die den Weg zum „wahren Kommunismus“ verbauen, um schließlich bei „Arbeit macht frei“ zu enden.

Auch wenn die „Krisis“-Strömung im Verbund mit Moishe Postone (3) für viele zu den Cheftheoretikern für Wertkritik, Rassismus-Ableitung und Entlarvung der „Traditions-Linken“ wurde, so standen sie besagter anti-deutschen Strömung doch von Anfang an fern gegenüber. Dies hat nicht nur mit ihrer anderen Analyse der nationalen Frage zu tun oder mit ihrer Ablehnung von Bewegungsformen, wie sie sich auch wieder bei der anti-deutschen Linken zeigen würden. Es hat vor allem mit ihrer Analyse der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus und den sich darin angeblich auftuenden systemüberwindenden Tendenzen in der fundamentalen Krise der Arbeitsgesellschaft zu tun.

Im Unterschied zur allgemeinen Faschismus/Anti-Semitismus-Paranoia der „Anti-Deutschen“ herrscht daher bei der „Krisis“ der Optimismus vor, der an allen möglichen Stellen Ansätze zur Überwindung der entfremdeten Arbeit entdeckt. Von den „Anti-Deutschen“ daher als neo-populistische Renegaten gehasst, wird dieser Ansatz von vielen Links-Intellektuellen als „interessanter“ Neuanfang jenseits von „Arbeiterbewegungs-Linker“ und sektiererischer bloßer Entlarvungs-Kritik gesehen. Er bietet die Möglichkeit, generelle Kritik an der Warengesellschaft und ihrer Arbeitsform mit unkomplizierter praktischer Handwerkelei zu verbinden, ohne dies mit einer „umfassenden politischen Bewegung“ verbinden zu müssen. Die „persönlichen kleinen Schritte“ – z.B. Hervorbringung und Verteilung „freier Software“ (4) – werden zu Akten einer sozusagen molekular vor sich gehenden Ablösung des historisch überholten Prinzips der Organisation gesellschaftlicher Reproduktion durch das Kapital/Lohnarbeitsverhältnis.

Der Versuch, die Ursache der gegenwärtigen Krisenperiode des Kapitalismus durch eine historisch neuartige Veränderung in den zugrundeliegenden Wertform/Wertsubstanz-Verhältnissen (in der „Krise der Arbeit“) zu suchen, ist auch für uns ein Motiv für die kritische Auseinandersetzung mit der „Krisis“-Theorie in diesem Artikel. Während sich „marxistische Krisentheorie“ sonst gern in abgeleiteten Phänomenen und Konjunktur-Analysen verirrt, werden bei Kurz und Co. die sich zuspitzenden Widersinnigkeiten des „sich selbstverwertenden Werts“ unmittelbar mit dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des darauf basierenden Reproduktionszusammenhangs verknüpft.

Der gegenwärtig vor sich gehende Zusammenbruch des Kapitalismus würde die alte Form der Arbeit und des darauf aufbauenden gesellschaftlichen Zusammenhangs mit sich ins Grab reißen und so bei Strafe der Barbarei die Menschheit zu einer völlig neuen Form des Zusammenlebens „ohne Arbeitszwang“ befähigen. Bei aller Kritik an diesem Ansatz, der in diesem Artikel entwickelt wird, ist nicht zu leugnen, dass durch diese Herangehensweise zumindest einige neue Fragen in bezug auf den historisch-spezifischen Charakter der gegenwärtigen Krise aufgeworfen werden, die es lohnt, näher betrachtet zu werden.

Schließlich gibt es einen weiteren Grund, sich mit der „fundamentalen Wertkritik“ auseinander zu setzen, der speziell mit der deutschen Linken zu tun hat. Im Gegensatz zu anderen Ländern hatte es die „globalisierungs-kritische“ Bewegung der letzten Jahre in Deutschland besonders schwer. Dies hängt natürlich vor allem mit der noch größeren Ferne der deutschen radikalen Linken von der Arbeiterbewegung zusammen, die – wie bereits geschildert – dieser Ferne auch noch höhere theoretische Weihen verleiht.

Es hängt aber auch damit zusammen, dass der „Populismus“ eines Bouvé oder einer Naomi Klein, vom Neoreformismus von attac ganz zu schweigen, in der deutschen Linken auf ein besonders ungnädiges Terrain trifft. Es ist kein Wunder, dass die in anderen Ländern zumindest „produktiv“ kritisierten Bestseller der Bewegung, wie „No Logo“ oder „Empire“ in den Zentralorganen der „deutschen kritischen Kritik“ als halb-faschistische, reaktionäre Machwerke in der Luft zerrissen werden.

Zudem ist ein Teil der radikalen deutschen Linken seit Jahren zumindest soweit von den Methoden der „fundamentalen Wertkritik“ geprägt, dass er auf die „naive“, „unreflektierte“ Kapitalismuskritik der neuen Bewegung nur mit Häme reagieren kann. So richtig eine marxistische Kritik der falschen Ansätze von „No Logo“ oder „Empire“ ist, so wenig führt dies aus der Sackgasse der „kritischen Kritik“ und ihrer sektiererischen oder utopistischen Selbstbespiegelungen. Für diese ist ein reales Problem „gelöst“, sobald es begrifflich erfasst und kategorisiert ist – in Wirklichkeit ist es damit aber nur gedanklich „entsorgt“.

Daher ist dieser Artikel auch ein Versuch, die Beschränktheit des „wertkritischen Ansatzes“ für das Verständnis der gegenwärtigen Weltmarkt-Bewegung des Kapitals aufzuzeigen. Auch wenn er die Kritik am „Globalisierungs“-Fetisch mitunter richtig erfasst, so wird damit noch lange keine korrekte Analyse der gegenwärtigen Etappe der Entwicklung des Welt-Kapitalismus geliefert. Gerade die Kurzsche These von der Auflösung der Nationalstaatlichkeit und dem Ende der imperialistischen Nationen, zeigt, wie stark auch „hoch reflektierte Theorie“ ganz banalen Oberflächenerscheinungen aufsitzen kann.

Das Unverständnis der neuen Formen, in denen „nationale Frage“ und „Imperialismus“ heute zugespitzter denn je als Problemstellungen auftreten, zeigt die gemeinsame Schwäche von „globalisierungs-kritischem“ Mainstream und wertkritischer Kritik. Der Mangel an Entwicklung von Krisen- und Imperialismustheorie führt im Zusammenhang mit der fundamentalen Verkennung der Klassenfrage unweigerlich dazu, dass auf die entscheidenden politischen Fragen von Krieg und Frieden wie auch zur Überwindung imperialistischer Unterdrückungsverhältnisse weder von Wertkritik noch von Globalisierungskritik eine Antwort gegeben werden kann. Daher ist dieser Artikel schließlich auch ein Versuch, gegen Robert Kurz den Zusammenhang von historisch-spezifischer Krisenperiode, Imperialismus und proletarischer Weltrevolution zu verteidigen.

Zum Begriff „Traditions-Marxismus“

Die „Krisis“-Gruppe trifft einen bestimmten Nerv des Zeitgeistes besonders durch ihre Pose des „absolute beginners“: „Während die Wertkritik davon ausgehen muss, dass ein neues Emanzipationsdenken sich seine eigene Basis erst noch neu zu schaffen hat, finden die Restbestände des landläufigen Linksradikalismus ihre konstitutive Grundlage im identifikatorischen Bezug auf die heute gegenstandslos gewordenen Kämpfe einer vergangenen Epoche. Sie leben von der Weigerung, deren Ende zur Kenntnis zu nehmen“ (5).

Hierbei werden alle Strömungen des „Traditions-Marxismus“ einfach in einen Sack gepackt, schlichtweg alle Strömungen seien angeblich nicht zur grundlegenden Einsicht in das tatsächliche Aufhebungsproblem der entfremdeten Arbeit fähig gewesen. Die kapitalistische Gesellschaft sei vielmehr noch auf einem Stand gewesen, wo auch der „Revolutionarismus“ tatsächlich seine Wirkung nur als radikale Durchsetzung der Wertförmigkeit entfalten konnte. Daher wird die „Sowjetunion“ von der „Krisis“ als staatskapitalistische „Modernisierungsdiktatur“ angesehen.

Erst heute wäre die Periode gekommen, in der die materiellen Voraussetzungen für eine wirkliche Emanzipation von der Arbeit gekommen sei. Durch ihre, für eine andere Epoche gültigen politischen Konzepte, wären die Konzepte der verschiedenen „traditions-marxistischen“ Strömungen, mitsamt der somit angeblich überholten Unterscheidung von „Reform“ und „Revolution“, nicht mehr brauchbar. Während sich die Publikationen der K-Gruppen, aus denen die Wertkritiker hervortraten, dadurch auszeichneten, dass sie zu allem möglichen politischen Problemen mehr oder weniger unleserliche Zusammenstellungen von Marx-Lenin-Zitaten verfertigten, treten die Wertkritiker nunmehr als Marx-Neuformulierer auf, die „frei“ sind von jeglicher Geschichte des Marxismus. Mit Versatzstücken von Marxscher Wert- und Entfremdungstheorie, sowie der Grundannahme einer völlig neuartigen Krisenepoche, wird versucht, eine positive Gesellschaftstheorie zu entwickeln, die sich von allen „Marxismen“ der Vergangenheit (von Leninismus bis „Kritischer Theorie“) auf Distanz hält.

Dabei wird dann natürlich auch auf den „Traditions-Marxismus“ ein grober Klotz gesetzt. Dieser habe angeblich einer modernistischen Fortschrittsideologie gefrönt und völlig naiv die Fortentwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus als Vorleistung für einen notwendigen Umschlag hin zum Sozialismus gesehen. Ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus wäre dann die Errichtung des Sozialismus nur noch eine Frage des politischen Kampfes um die Macht, da die verrottende Herrschaft der Bourgeoisie im Verhältnis zur Entwicklungsstufe der Produktivkräfte immer reaktionärer würde.

Tatsächlich gab es Ansätze zu einem solchen Geschichtsdeterminismus sowohl in der Zweiten Internationale als auch im Stalinismus. Allerdings war selbst ein Karl Kautsky, bei dem sich Anklänge an eine solche Darstellung finden, weitaus differenzierter, was die Notwendigkeit emanzipatorischen Bewusstseins für die wirtschaftliche und politische Machtübernahme des Proletariats betrifft. Wesentlicher ist jedoch, dass es eine lange Tradition im „Traditions-Marxismus“ gibt, die eben diesen „deterministischen Tendenzen“ entschieden Widerstand geleistet hatte.

So war der Versuch, die neuen Erscheinungsformen des Kapitalismus nach der Wende zum 20. Jahrhundert mit dem „Imperialismus“-Konzept zu begreifen aufs engste verknüpft mit dem Kampf um eine Revolutionskonzeption, die dem mechanischen Determinismus der sogenannten „Polit-Ökonomie“ der „marxistischen Orthodoxie“ (Kautsky, Hilferding) diametral entgegengesetzt war.

Während Kautsky und Hilferding eine quasi vernünftige, „naturwüchsige“ Tendenz zur Herstellung eines „Welt-Superstaates“ im Verein mit einem „Welt-Kartell“ als Vorstufe zu einer sozialistischen Weltgesellschaft zu erkennen glaubten, der sich „irrationale“, reaktionäre Kräfte entgegenstellten, sah die revolutionäre Linke den militaristisch-nationalistischen Irrsinn des Ersten Weltkriegs nicht als „irrationalen Ausrutscher“, sondern als notwendiges Resultat der Stufe der Entwicklung des Kapitalverhältnisses – ein Unterschied, der klar die Alternative zwischen Reform und Revolution aufzeigte. Während Kautsky folgert: „Diese Ausdehnungsbestrebungen (des Kapitals) werden am besten nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern durch friedliche Demokratie gefördert“ (6),

hört sich das bei Rosa Luxemburg so an: „Je gewalttätiger das Kapital vermittels des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nicht-kapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche, selbstgeschaffene Grenze gestoßen ist“ (7).

Der Ausgangspunkt der marxistischen Linken um die Wende zum 20. Jahrhundert war gerade, dass die Entwicklung des Kapitalismus nicht bruchlos zum Sozialismus führt, sondern vor allem zu einer fürchterlichen Verschärfung der Krisenhaftigkeit und der Zusammenbruchstendenzen. In diesem Krisenbegriff treffen sich grundlegende Kritik an einer warenförmig organisierten Gesellschaftlichkeit und das Aufzeigen des historischen Punktes der Möglichkeit/Notwendigkeit eines radikalen Bruchs, der tiefgreifender ist, als die bloße „Verstaatlichung“ des bestehenden Produktionsprozesses.

Schon um die letzte Jahrhundertwende hielten die „jungen Kritiker“ Parvus, Trotzki, Luxemburg u.a. der „Orthodoxie“ gerade ihr mangelndes Krisen-Verständnis entgegen. Für den radikalen Flügel in der Zweiten Internationale war klar, dass die fieberhafte Entwicklung des Kapitalismus seit 1890 nicht die Grundlage für einen „friedlichen Übergang“, sondern für eine schreckliche Krise, mitsamt ihren politischen Folgen legen würde.

Parvus und Trotzki gingen in ihrer Einschätzung von der Konzeption „langer Wellen“ in der kapitalistischen Entwicklung aus, in der Perioden der Stagnation ruckartig von „Sturm- und Drangperioden“ abgelöst würden, die wiederum in eine heftige Krisenperiode münden würden. Als Trotzki auf dem 3. Kominternkongress die weltwirtschaftliche Lage Anfang der 20er-Jahre als „Krisen-Periode“ kennzeichnete, in der die Krisenphänomene das primäre und zeitweilige Aufschwünge das sekundäre wären, gestand er jedoch die Möglichkeit zu, dass durch bestimmte, außergewöhnliche Strukturbereinigungen auch wieder eine primäre Aufschwung-Periode zustande kommen könne.

Diese Auffassung hat sich offenbar nach dem Zweiten Weltkrieg bewahrheitet. Während die „stalinistische Orthodoxie“ im Gefolge Eugen Vargas an der „ständigen Vertiefung der Krise“ des „staats-monopolistischen“ Kapitalismus genauso festhielt, wie einige „orthodoxe Trotzkisten“ an der „Stagnation der Produktivkräfte seit 1914“, extrapolierten Ernest Mandel und andere marxistische Ökonomen aus den genannten Ansatzpunkten eine „Theorie der langen Wellen“: die Vorstellung, dass der Kapitalismus nicht nur die kurzfristige Periodizität der Konjunkturzyklen aufweist, sondern auch eine langfristigere, periodische Abfolge von Aufschwungs- und Krisenperioden, in denen es insgesamt zwar eine Abwärtstendenz gibt, in der aber bestimmte „exogene Faktoren“ (Kriege, spezielle Erfindungen, strategische Niederlagen der Arbeiterklasse…) auch immer wieder längerfristige Aufschwungswellen hervorrufen könnten (8).

Die Geschichte der „Krisentheorie“ und der darauf aufbauenden Ableitungen von bestimmten „Epochen“ und „Zusammenbruchstendenzen“ im Kapitalismus hat in der marxistischen Tradition eine lange Geschichte. Sich davon frei zu machen, indem man diese Geschichte in plumper Weise auf eine Traditionslinie reduziert, um dann doch eine bestimmte, letztlich gar nicht so neue, Krisentheorie zu vertreten, ist eigentlich ein ziemlich plumper Trick.

Statt an die krisentheoretische Diskussion in ihren richtigen wie falschen Tendenzen anzuknüpfen und daran weiter zu arbeiten, wird eine völlige Geschichtslosigkeit des eigenen Ansatzes simuliert. Damit kann man sich nicht nur zeitgeistig frei von der „alt-linken Beschmutzung“ halten, man erspart sich auch die Gegenüberstellung des eigenen krisentheoretischen Ansatzes mit anderen, die sich ebenfalls aus der Tradition der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ableiten.

I. Zusammenfassende Darstellung der Krisentheorie von Kurz

Krisentheorie als Ausgangspunkt

Robert Kurz geht richtig davon aus, dass Marx den Kapitalismus als historisch beschränkte, an widersprüchliche Bedingungen geknüpfte Entwicklungsformation beschrieben hat: „Das logische und analytische Bezugsfeld ist daher der entwicklungstheoretisch extrapolierte, im Lichte seiner zukünftigen Krisenreife dargestellte Kapitalismus“ (9). D.h. der Kapitalismus muss von den ihm inne wohnenden Tendenzen zum Zusammenbruch her verstanden werden, oder er wird in seiner Dynamik gar nicht verstanden. Krise ist nicht Ausrutscher oder Element der „Degeneration“ – im Gegenteil: je reiner und unmittelbarer der Kapitalismus sich entfaltet, desto grundlegender und unvermeidlicher seine Krisenhaftigkeit.

„Krise“ bezeichnet dabei nicht einfach ein zeitweiliges Stocken des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses auf warenförmiger Ebene. Sie bezeichnet das Offenbarwerden der Folgen, die die Verkehrungen der Wirklichkeit in einer als verallgemeinerte Warenproduktion gesteuerten Gesellschaft für diese letztlich zeitigen. Da Verwertung des Werts, Aneignung abstrakter Arbeit, etc. zum Selbstweck geworden, dem konkrete Arbeit und Bedürfnisse untergeordnet sind, verelendet in der Krise die Gesellschaft gerade bei und an gleichzeitig überreichlich vorhandenen materiellen und personellen Mitteln zur Reichtumsproduktion.

Marx‘ ökonomische Analysen werden daher richtig wesentlich als „Kritik“, als Aufzeigen der letztendlichen Widersinnigkeit und Beschränktheit der bürgerlichen politischen Ökonomie aufgefasst. Also nicht als Beschreibung eines harmonischen Herüberwachsens der „kapitalistischen Moderne“ in eine befreite Gesellschaft, sondern der Herausarbeitung des notwendigen Bruchs mit den fundamentalen Grundlagen dieses Systems. Also auch der Unmöglichkeit, mit irgendwelchen Oberflächenkorrekturen und seichten Analysen den grundlegenden Bedrohungen, die dieses System hervorbringt, begegnen zu können.

Endkrise

Einer Vorstellung eines ewigen Auf- und Ab der Kapitalismusentwicklung ist die Krisen-Konzeption der „Krisis“ klar entgegengesetzt: aus der Untergrabung seiner eigenen Wertsubstanz, der lebendigen Arbeit und der Natur, wird die Geschichte des Kapitalismus als notwendige Bewegung auf eine Endkrise, auf die Unmöglichkeit der Fortsetzung der Kapitalakkumulation hin verstanden:

„Marx sah als abstrakte Möglichkeit (und in den ‚Grundrissen‘ als logischen Endpunkt) eine ausweglose Konstellation voraus, in der die kompensierende Expansionsbewegung nicht mehr in Gang kommen kann, die absolute Profitmasse ins Bodenlose fällt und die Mehrheit der Bevölkerung ‚außer Kurs gesetzt wird‘, weil die zugrunde liegende Produktion von ‚Wertsubstanz‘ durch den erreichten Grad der Verwissenschaftlichung (und damit der Substitution von Arbeitskraft durch technische Aggregate) nicht mehr in einem gesellschaftlich nennenswerten Ausmaß möglich ist.

Der Verfall der Wertsubstanz wird dann endgültig und irreversibel aus einem relativen (Fall der Profitrate) in einen absoluten (Fall der Profitmasse) Status überführt; sichtbar an der massenhaften Stillegung der Produktion und einer dauerhaften Massenarbeitslosigkeit. Unter Beibehaltung der kapitalistischen Formbeziehungen von allgemeinem Warentausch, Arbeitsmarkt und ‚Geldverdienen‘ würde dann die absurde Situation entstehen, dass die Gesellschaft verelendet, obwohl alle materiellen Faktoren der Reichtumsproduktion in einem sogar überreichlichen Ausmaß zur Verfügung stehen.

Genau in diese Absurdität führt die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik heute mit Riesenschritten real hinein. Was Marx nur als abstrakte, in weiter Ferne liegende ‚Endlogik‘ in dürren Worten erfasste, erscheint in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die neuen Potentiale der Rationalisierung und Automatisierung, die nach einer langen Inkubationszeit (die ersten Debatten in dieser Hinsicht fanden schon in den 50er und 60er Jahren statt) zu greifen beginnen, obwohl sie noch lange nicht ausgeschöpft sind. Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit (andere einschlägige Phänomene sind Billiglohn, Sozialhilfe, Müllhaldenproduktion und verwandte Elendsformen) zeigt an, dass die kompensierende historische Expansionsbewegung des Kapitals zum Stillstand kommt.“ (10)

Kurz sieht die Auswirkungen dieser „Endkrise“ nur kurzfristig durch Ausdehnung des Kreditgeldes, durch Aufblähung von „fiktivem Kapital“ aufgehalten. Einen Ausweg für eine neuerliche Aufschwungsperiode sieht er nicht. Im Umkehrschluss wird damit auch für die Krisis-Gruppe klar, dass 1917 eine solche „Endkrise“ noch nicht gegeben war (11), vielmehr noch entscheidende Durchsetzungsbewegungen der Wertform ausstanden (Fordismus, nachholende Entwicklung, Internationalisierung…).

Ursprung der Krise

Was sind nun für die „Krisis“-Gruppe die untrüglichen Elemente dafür, dass wir nunmehr in einer Krisenperiode angelangt sind, in der eine Überwindung der Kapitalform der einzige Ausweg aus der Krise ist?

„Krisis“ nimmt die Redeweise von der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, „der die Arbeit ausgeht“, wie sie seit etwa 20 Jahren in verschiedenen Zusammenhängen besprochen wird, durchaus ernst. An dieser gängigen Diskussion (z.B. „Grundeinkommen ohne Arbeit“) wird jedoch entlarvt, dass der Zusammenhang des Phänomens der Zurückdrängung produktiver Arbeit mit der Infragestellung der Grundlagen einer über Geld und Warenform regulierten Ökonomie nicht gesehen wird. Ernstgenommen bedeutet „‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ nicht weniger als den sukzessiven Zusammenbruch des warengesellschaftlichen Fundaments und der über Lohnarbeit und Geld vermittelten Reproduktion in ihrer Gesamtheit“ (12).

„Wenn nämlich der Arbeitsgesellschaft tatsächlich die (rentable) Arbeit ausgeht und die wertproduktive Basis der warenproduzierenden Gesellschaft wegbricht, dann betrifft diese Entwicklung nicht nur ein ‚herausgefallenes Drittel‘ der Bevölkerung, das so oder so alimentiert werden könnte. Dieser Prozess mündet vielmehr in eine neuartige Form von Verwertungskrise, die das Wirtschaftsleben insgesamt erschüttert und sowohl das gewohnte gesellschaftliche Bezugssystem als auch die staatlich vermittelten Mechanismen der Redistribution zerstört“ (13).

Die Erosion der produktiven Arbeit ist nicht einfach ein wiederholt zu beobachtender „Strukturwandel“ im Kapitalismus, sondern untergräbt die Basis des Systems selbst. Denn in welchen Formen auch immer Kapital und Geld die gesellschaftliche Reproduktion organisieren – um bewusst die fetischisierende Sprache zu benutzen -, so können sie dies nur auf der Grundlage der Verselbständigung der „abstrakten Arbeit“ als ihrer Substanz tun. Die Verausgabung von gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit an sich, losgelöst von jedem Zweck der eigenen konkreten Bedürfnisbefriedigung, die Verdinglichung konkreter menschlicher Lebensäußerung (als Arbeit) in der Ware, deren einziger Sinn der als eines Wertträgers ist, ist die unabänderliche Grundlage für den sich selbstverwertenden Wert, also das Kapital, das als „automatisches Subjekt“ sich von allen Intentionen und individuellen Zwecksetzungen freigemacht hat, zur „Diktatur der Sachen“ geworden ist. Der Wert in seinen monetären Formen mag sich zeitweise von dieser Basis lösen – etwa in staatlichen Alimentierungen auf der Grundlage von Staatsverschuldung, durch außergewöhnliche Einnahmen über Aktien-, Optionsgeschäfte usw., dann aber immer auf Kosten anderer (oder zukünftiger) Warensubjekte, also nicht als Lösung des gesamtgesellschaftlichen Problems.

Die Grundlage für die Selbst-Untergrabung der Wertsubstanz sieht Robert Kurz in der von Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeit des „tendenziellen Falls der Profitrate“. Der über Konkurrenz vermittelte Zwang zur beständigen Selbstausweitung des Werts erzwingt seinerseits die beständige Steigerung der Produktivität, die auf Dauer wieder nur durch die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch „wissenschaftlich-technische Agenzien“ (Marx) erzielt werden kann. Da auf diese Weise in der einzelnen Ware zwangsläufig immer weniger Wert verkörpert ist, kann das Kapital nicht existieren ohne beständige Ausweitung der Produktion.

„Es galt also, die Welt mit Waren zuzuschütten und die Menschen darauf zu konditionieren, ihr Leben in der Form einer unaufhörlichen Warenproduktion und eines ständig gesteigerten Warenkonsums zu organisieren“ (14).

Immer mehr Lebensbereiche in immer mehr Regionen werden erfasst vom Zwang der warenförmigen Organisation – nichts geht mehr ohne „Bereitstellung von Kapital“ und ohne dass jegliche Tätigkeit als Lohnarbeit organisiert wird.

Gerade auch in dieser expandierenden Ausgleichsbewegung kommt der kapitalistische Selbstwiderspruch zum Ausdruck – der Untergrabung der eigenen Wertsubstanz. Wenn sich der relative Anteil der bloß reproduzierten und keine zusätzliche Surplus-Wertsubstanz schöpfenden toten Materialbestandteile am eingesetzten Gesamtkapital ständig vergrößert, während der relative Anteil der allein Surplus-Wertsubstanz setzenden Arbeitskraft sich entsprechend vermindert, so muss notwendigerweise auch der Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital immer kleiner werden.

Mit anderen Worten: Um denselben Profit erzielen zu können, sind immer größere Vorauskosten erforderlich. Wie die Verminderung der Wertsubstanz an der einzelnen Ware dadurch kompensiert und überkompensiert wird, dass sich die Produktion zusätzlicher Waren schneller ausdehnt und also trotzdem insgesamt mehr Wertsubstanz „erzeugt“ wird, ebenso wird durch denselben Prozess der Fall der Profitrate dadurch kompensiert und überkompensiert, dass insgesamt mehr Geldkapital eingesetzt wird, als sich die Profitrate des einzelnen, jeweiligen Geldkapitals vermindert. Die (relative) Profitrate kann also fallen, während die (absolute) Profitmasse trotzdem steigt.

Daher, so Kurz, charakterisiert auch nicht der „Fall der Profitrate“ die absolute Schranke der kapitalistischen Produktion. Er charakterisiert nur die langfristige Tendenz, in der sich die immer universeller werdende Durchsetzung der Wertform gleichzeitig als Untergrabung ihrer eigenen Substanz darstellt. Selbst die „entgegenwirkenden Ursachen“ zum Fall der Profitrate, sind letztlich nur Elemente zur Beschleunigung dieses Prozesses. Dies trifft nicht nur auf die Expansion des Weltmarktes zu, sondern natürlich zentral auch auf die „Verbilligung des konstanten Kapitals“. Denn wenn auch die Entwertung des Produktivkapitals für einen neuen Produktionszyklus zu günstigeren Profitbedingungen führt, so bedeutet es selbst wiederum eine weitere Wertverminderung der dabei produzierten Ware – also setzt nur wieder den Startpunkt für eine neuerliche Kompensationsbewegung.

Mit der mikroelektronischen Verbilligung immer umfassender werdender Automatisierung, so Robert Kurz, hat nun eine neue Stufe der Reduktion der Wertbasis eingesetzt, deren kompensatorische Wirkung heute schon längst in eine rasante Untergrabung der Verwertungsbedingungen von Kapital gemündet ist – und es sei weit und breit kein neuer Kompensations-Startpunkt in Sicht.

Jedoch ist die Krise unvermeidlich, wenn die Entwertungsprozesse nicht mehr durch entsprechende Kompensationsbewegungen aufgefangen werden können, wenn also nicht nur die Profitrate fällt, sondern auch die Profitmasse. An einem gewissen Punkt der Entwicklung lässt sich die gewaltige akkumulierte Basis der Warenproduktion nicht mehr profitabel verwerten, das Kapital ist von struktureller Überakkumulation betroffen. Eine Zeitlang wird dies verschleiert durch die Expansion des Kredits, die die Expansionsbewegung „auf Pump“ weiterführen lässt. Sobald jedoch die Kette der Zahlungsverpflichtungen an ihren schwachen Gliedern reißt, erscheint die zugrundeliegende Krise an der monetären Oberfläche als „Finanzkrise“, „Mangel an Geld“ bei gleichzeitigem Überfluss an Kapital!

Durchsetzungsgeschichte der „Wertorientierung“

Auch wenn wir mit der Krisis-Gruppe übereinstimmen, dass sich das Welt-Kapital seit Mitte der 70er-Jahre in einer Periode struktureller Überakkumulation befindet – was ist nun der Unterschied zu vergleichbaren historischen Perioden: etwa den 1870/80er-Jahren oder der Periode von 1910-1948?

Für die Krisis-Gruppe sind die letzten etwa 150 Jahre der Kulminationspunkt der Durchsetzungsgeschichte der Wertform.

„Die mehrhundertjährige Entwicklung des Wertverhältnisses umfasst also Phasen mit höchst unterschiedlichen Determinierungsgraden. Die ‚Spitzenwerte‘ in dieser Hinsicht wurden erst in diesem Jahrhundert auf hoher Entwicklungs- und Integrationsstufe des Systems erreicht, insbesondere im kurzen Sommer der fordistischen Binnenformation. Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein und teilweise darüber hinaus bestimmten hingegen noch zur warengesellschaftlichen Logik querliegende vorkapitalistische Momente das Geschehen mit. Heute wiederum schrumpft die Binnenlogik der Warengesellschaft zur Niedergangslogik (…)“ (15).

Der Krisen-Auffassung von Krisis liegt also eine bestimmte historische Perspektive der Entwicklungsgeschichte der verallgemeinerten Warenproduktion zugrunde: Während bisher noch alle Krisen des Kapitalismus überwunden werden konnten, weil es noch weite Regionen und Bereiche für eine bisher nicht erschlossene Expansionsbewegung gab, so gibt es nun keine Rettung mehr.

„Wenn die globalisierte Konkurrenz immer mehr industrielle Produktion ‚unrentabel‘ macht und immer mehr Regionen ökonomisch veröden, dann minimalisiert das Welt-Kapital seinen eigenen Aktionsradius. Auf einer zu kleinen, über die ganze Welt verstreuten Basis kann das Kapital auf Dauer nicht mehr akkumulieren, ebenso wenig wie man auf einem Bierdeckel Samba tanzen kann“ (16).

Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht überraschend, dass z.B. Ernst Lohoff positiv auf Rosa Luxemburgs Krisentheorie Bezug nimmt, die ja bekanntlich an den Grenzen territorialer Expansion den Wendepunkt in Richtung Zusammenbruchskrise des Kapitalismus festgemacht hatte.

Diese historische Perspektive, in der alle bisherigen Krisen im Gegensatz zu heute nur Elemente zum Durchbrechen von Schranken auf dem Weg zur totalen Herrschaft der Wertform waren, während es heute nichts mehr zu durchbrechen gäbe, passt natürlich zusammen mit der Kritik am „Arbeiterbewegungs-Marxismus“ – einem der bekanntesten Elemente der Krisis-Theorie. Denn wenn 1870, 1917 etc. die Aufhebung der Wertform letztlich noch nicht auf der Tagesordnung stand, ja wenn der Versuch, in diesen Perioden eine gesellschaftlich wirksame Bewegung in Gang zu setzten, letztlich keine materielle Grundlage hatte, musste eine solche Bewegung laut Krisis zwangsläufig von der totalitären Vereinnahmungsdynamik des „automatischen Subjekts“ integriert werden: aus der systemkritischen Arbeiterbewegung wurde ein wesentlicher Hebel zur globalen Durchsetzung von Lohnarbeitsform und seiner staatlichen Regulierung.

„Nachdem die Wertlogik zu einer allgegenwärtigen und unwiderstehlichen Gewalt aufgestiegen war, sich aber noch nicht selber innerlich erschöpft hatte, musste sie zwangsläufig von einer bestimmten Entwicklungsstufe an auch die gesellschaftskritische Opposition in ihren Bann schlagen und zu ihrem eigenen Vehikel machen. Dementsprechend blieben seit (ungefähr) 1850 bis heute sämtliche konkurrierenden gesellschaftlichen Konzepte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit im warengesellschaftlichen Horizont gefangen. Wann immer in dieser Epoche soziale und politische Bewegungen geschichtsmächtig wurden, wurden sie dies als Moment in der weiteren Durchsetzung des warenproduzierenden Systems selbst“ (17).

Diese Funktion erfülle die Arbeiterbewegung einerseits über die gewerkschaftliche Durchsetzung des Lohn- und Arbeits(platz)fetischs: Die Zurichtung auf entfremdete, abstrakte Arbeit als „Lebenserfüllung“ wird an Stelle einer ursprünglich vorhandenen Rebellion gegen diese menschliche Verstümmelung durchgesetzt (insofern gibt es bei „Krisis“ einen positiven historischen Bezug auf die „Maschinenstürmer“-Bewegung). Gewerkschaften verteidigen die „ordentliche Lohnarbeit“ des Massenarbeiters als gleichzeitige Basis für den Massenkonsum der Warengesellschaft.

Zweitens betrieb die klassische Arbeiterbewegung die Ausrichtung auf den „Politizismus“ der Oppositionsbewegungen. Ob in der Form der Ausrichtung auf die „Machtfrage“ oder der „Reform“ über den Staat – statt die Selbstorganisation der Produzenten gegenüber der „Diktatur der Sachen“ voranzutreiben, wurde die Unterordnung unter den Kampf um politische Ziele verlangt. Dabei sei der Staat neben dem Geld die zweite (abgeleitete) universalistische Form, die den Prinzipien der abstrakten Arbeit zum Durchbruch verhelfe. Er sorgt für die „gleichen und freien“ formalen Rahmenbedingungen zwischen den kapitalistischen Agenturen und damit die reibungslose Durchsetzung der Wertgesetzlichkeit. Die sozialdemokratische Ausrichtung auf den sozialstaatlichen Interventionsstaat sei genauso wie die gewerkschaftliche Durchsetzung des „Normalarbeitsverhältnisses“ konstitutiv für die fordische Aufschwungperiode des Kapitals gewesen. Andererseits seien die „staatssozialistischen Entwicklungsdiktaturen“ von Sowjetunion bis Kuba entscheidend für das Vorantreiben der globalen Industrialisierung, letztlich auch im Interesse des Weltkapitals, gewesen.

Postpolitik als Chance in der Krise

Damit wird laut „Krisis“ der „Traditions-, Arbeiterbewegungs-, Klassenkampf-Marxismus“ zu einem Haupthindernis für eine der System-Krise angemessene Oppositionsbewegung, da er Opposition wiederum an fetischisierende Formen der Warenökonomie zurückbindet, an „Arbeitsfetisch“ und Politizismus. Was ist aber dann für Krisis der Ansatzpunkt für Systemüberwindung in der Krise?

Da es für „Krisis“ aktuell keine Bewegung gibt, die tatsächlich das Potential einer Systemalternative repräsentiert, werden in ihrer Zeitschrift seit nunmehr fast 7 Jahren verschiedenste „Ansätze“ für ihre vielgerühmte „Postpolitik“ hin- und hergewälzt. Ein relativ klares Dokument zu diesem Versuch einer „Praxiswende“ findet sich in Ernst Lohoffs „Krise der Befreiung – Befreiung in der Krise“:

„An Stelle des bisherigen politischen Kampfes um die Regulation der Arbeits- und Warengesellschaft tritt der postpolitische Kampf um materielle gesellschaftliche Ressourcen“ (18).

D.h. statt alle Konflikte auf die „abstrakte Ebene“ des Kampfes um Forderungen zu bringen, die in Kategorien der Warengesellschaft formuliert sind (Lohn, Steuern, Transferleistungen …), soll es auf dem Stand der erreichten Vergesellschaftung um konkrete Fragen der Selbstorganisation jenseits dieser Kategorien gehen. Hierzu werden vor allem zwei konkrete Ansatzpunkte genannt:

Einerseits manifestiert sich die Systemkrise auch als ökologische Krise: eine neue Expansionswelle ist schon aufgrund der notwendigerweise damit verbundenen ökologischen Folgewirkungen undenkbar geworden bzw. hätte barbarische Folgen.

„Die ökologische Schranke, die einmal eine allgemeine Drohung am Zukunftshorizont war, konkretisiert sich zu einer Vielzahl mess- und spürbarer Fakten. (…) Während einst die Risikopotentiale der Großindustrie zum Auslöser grüngestrickter Kritik wurden, hat sich längst der Normalbetrieb der Megamaschine als das Hauptproblem in den Vordergrund geschoben. Mit dieser Schwerpunktverschiebung drängt die Umweltfrage aber klarer zu einer umfassenden Gesellschaftskritik“ (19).

Ökoreformismus und Lösungsmöglichkeiten über staatliche Regulierung von „Verbraucherschutz“, „Grenzwerten“, etc. würden durch immer gesteigerte Betriebsunfälle der Megamaschine von selbst entlarvt. Stattdessen bestünde die Chance, die Kritik an der Unmöglichkeit des Ökokapitalismus mit der Verbreitung der Erkenntnis zu verbinden, dass nur eine selbstorganisierte, bewusst gestaltete Lebensweise, nicht aber die Zufälligkeiten der scheinbar sachlichen Marktzwänge die ökologische Mega-Katastrophe verhindern kann. Als konkretes Beispiel wird von Lohoff die „Kritik des Automobilismus“ betrieben. Mit der Kritik an der „heiligen Kuh des vom Verbrennungsmotor abhängigen Individualverkehrs“ würde nicht nur ein Schlüsselbereich des Fordismus angegriffen, sondern auch an den Grundfesten der gegenwärtigen Warengesellschaft gerüttelt.

„Die Autofahrerei ist nicht allein die einer durchmonadisierten Gesellschaft am meisten entsprechende Transportweise, sie gehört zur psychostrukturellen Reproduktion des Warensubjekts. Wer das Auto kritisiert, kritisiert den herrschenden Sozialcharakter. Die Frage nach dem Sinn des Autos impliziert darüber hinaus eine Kritik am allgemeinen Mobilitätsbedürfnis. Dieses verweist jedoch wiederum auf die herrschende Zersiedlungsweise, wie sie die der Warengesellschaft inhärente funktionale Trennung der Sonderbereiche ‚Freizeit‘, ‚Arbeit‘ und ‚Wohnen‘ diktiert“ (20).

Konkreter wird Lohoff beim zweiten Ansatzpunkt, der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, die sich vor allem in Massenarbeitslosigkeit ausdrückt. Die logische Antwort auf die Verknappung der Lohnarbeit sieht auch Krisis in der drastischen Verkürzung der Arbeitszeit. Allerdings kritisiert Lohoff aufs heftigste die gewerkschaftliche Illusion, mit der „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich“ würde getreu dem keynesianischen Nachfrageprinzip der kapitalistischen Krise entgegengewirkt. Trotzdem erkennt natürlich auch Lohoff, dass eine Lohnreduktion im Gefolge von Arbeitszeitverkürzung auch in den westlichen Zentren für einen Großteil der Betroffenen das Leben fast „unbezahlbar“ machen würde.

Die Antwort für ihn ist daher, dass eben daran angesetzt werden müsse, dass diese für das Leben der Lohnabhängigen wesentlichen (und nicht mehr bezahlbaren) Bereiche eben aus der Warenförmigkeit entfernt werden müssen. Als zentralen Punkt nennt Lohoff dabei die Kosten für das Wohnen, aber auch sonstige kommunale Kosten, vom öffentlichen Transport bis zur Gesundheitsversorgung. „Was unbezahlbar wird, wird nicht bezahlt, aber auch nicht geräumt“:

„Da Wohnraum ein Gut ist, dessen Reproduktionszyklus relativ lange währt, macht es gerade auf diesem speziellen Gebiet keine sonderlichen Schwierigkeiten, mit relativ simplen Mitteln und einer noch embryonalen Selbstorganisation auf Block- und Stadtteilebene die vorhandene gesellschaftliche in eigener Regie zu sichern. Arbeitsloses handwerklerisches Know-how jedenfalls steht massenhaft zur Verfügung, und die notwendigen materiellen Ressourcen lassen sich durch partiell vielleicht noch monetäre, aber weit unter dem Mietniveau liegende (Selbst)abschöpfung und eventuell zu erkämpfende staatlich-kommunale Zuflüsse sicherstellen“ (21).

Natürlich liegt nahe, dass es hier um ein Aufwärmen einer kapitalismus-kritisch angehauchten Ökologie-, Bürgerinitiativ-, Hausbesetzer-Bewegung geht. Tatsächlich sieht Lohoff jedoch die Gefahr einer neuerlichen Vereinnahmung von Systemopposition für die Zwecke der Systemstabilisation nicht so groß:

„Wenn wir unsere eigenen krisentheoretischen Überlegungen ernst nehmen, dann springt ins Auge, wie wenig derartige Mechanismen heute noch einmal in gleicher Weise greifen können. Keiner der grundlegenden Konflikte, die heute in dieser Gesellschaft aufbrechen, lässt sich letztlich innerhalb der Systemlogik befrieden. Damit stehen aber auch zunächst einmal sehr beschränkte Ansätze gesellschaftlicher Selbstorganisation in einem gegenüber dem klassischen Muster von Opposition gründlich veränderten Kontext. Die Krise des Staates impliziert auch die Dauerkrise des Reformismus“ (22).

Die Gefahr drohe vielmehr von den aus der Systemkrise geborenen anti-universalistischen Tendenzen. D.h. einerseits in der barbarischer werdenden Politik, die immer mehr die Interessen der minoritären Reichtumsinseln schützt und brachial verteidigt. Andererseits in perspektivloser Fundamentalopposition, die dasselbe Gewaltpotential auf nicht-staatlicher Ebene freisetzt.

Die Auflösung der Nationalstaaten

Dies verweist auf die Analyse der (Welt-)Politik in Zeiten der „Endkrise“: Mit der Zusammenbruchstendenz des Kapitals kämen wir nach Robert Kurz auch ans „Ende des Nationalstaats“ und des nationalstaatlichen Imperialismus:

Die Dominanz des Weltmarktes über die nationalen kapitalistischen Ökonomien, die mit der Durchsetzung des Kapitalismus immer schon gegeben ist, führe in der Krisenperiode des Kapitals zur Auflösung der besonderen Rolle nationaler Räume. Das blitzschnell von Kontinent zu Kontinent fließende Kapital verlöre jede nationalstaatliche Bindung, um ja noch einen Zipfel von Extra-Rentabilität zu erhaschen.

„Die ‚Zonen der Rentabilität‘ aber, die sich fast täglich verändern, sind wie ein Hautausschlag über den Globus verteilt, und selbst die mächtigsten Staaten können über diese zerstreute Ökonomie keine Kontrolle mehr ausüben. Auf diese Weise werden die Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern langsam aber sicher eingeebnet, freilich ganz und gar nicht im Sinne der allgemeinen Wohlfahrt. Überall setzt sich die Orientierung auf den Export durch, d.h. die direkte Integration in den entfesselten Weltmarkt, während gleichzeitig immer weniger Menschen marktwirtschaftlich integriert werden können“ (23).

Im Krisis-Jargon wird von der Ablösung der fordischen Periode durch den „archipelisierten Kapitalismus“ gesprochen, der in einem Meer von Zerstörung und Massenelend sein Geschäft der Verwertung weiterzutreiben versucht, ohne die Bedingungen dafür auf neuer Stufenleiter wiederherstellen zu können. Inseln des Reichtums und Müßiggangs und von „Arbeitshöllen“ existieren neben einer immer größer werdenden Masse von disfunktional gewordenen gesellschaftlichen und regionalen Verelendungsgebieten. Gleichzeitig untergräbt das überakkumulierte, globalisierte Kapital die Grundlagen von Staatlichkeit auch durch Entzug seiner materiellen Grundlagen. „Standortwettbewerb“ und Hunger nach einst staatlich organisierten Verwertungsmöglichkeiten entziehen dem „ideellen Gesamtkapitalisten“ immer mehr jegliche Handlungsspielräume. Dabei ist diese Bewegung durchaus irrational, wie das Gesamtsystem des krisenhaften Kapitalismus, da gerade das sich verstärkt globalisierende Kapital auf eine im umfassenderen Maße funktionierende Infrastruktur (Kommunikation, Verkehr, Bildung, Gesundheitsfürsorge, etc.) angewiesen wäre. Ebenso wird die Masse der völlig aus dem System – selbst der staatlichen Fürsorge und Kontrolle – herausgeworfenen Pauper zu einer krisenhaften Bedrohung für das Gesamtsystem.

Neben den geordneten kapitalistischen „Inseln“ entstehen also immer größere „Meere“ barbarischer Auflösung von Gesellschaftlichkeit, gegen die sich das System mit immer fürchterlichen Schutzwällen und Gewaltmitteln verteidigen muss:

„Überall beginnt die Mafia, Attribute der staatlichen Souveränität zu usurpieren. Verwilderte ehemalige Entwicklungs-Diktaturen, z.B. das Regime von Saddam Hussein, werden unberechenbar. Der religiöse Fundamentalismus überschwemmt die Welt mit Terror. In immer mehr Ländern gibt es perspektivlose militante Bewegungen, die ’nationalistisch‘ genannt werden, in Wirklichkeit aber ‚ethnizistisch‘ und meistens separatistisch sind. Im Gegensatz zu den alten bürgerlichen Nationalbewegungen vom 18. Jahrhundert bis zum ‚Befreiungsnationalismus‘ der Dritten Welt geht es dabei nicht mehr um die Integration, sondern im Gegenteil um die Desintegration von Nationen bzw. Nationalökonomien. Die Globalisierung einer ‚Ökonomie der Minderheit‘ führt direkt in den ‚Welt-Bürgerkrieg‘, in jedem Land und in jeder Stadt“ (24).

In diesem „Mad Max“-Szenario geht natürlich auch der Imperialismus mit unter: Einerseits bricht auch in den westlichen Zentren der Staat angesichts des globalisierten Krisenkapitalismus zusammen und es entwickeln sich dort, wie in allen anderen Gebieten die Elendszonen. Andererseits könne sich kein Staat mehr nationale Einflusszonen leisten:

„Was sollen sie mit riesigen Gebieten der Armut anfangen, deren Menschen sie nicht mehr verwenden können? Jede nationale ‚Einflusszone‘ ist nur noch ein unproduktiver Kostenfresser“ (25).

Der extrem bewegliche Körper der Rentabilitätszonen kann von keiner nationalstaatlichen Struktur mehr kontrolliert werden. Stattdessen muss das globale Kapital immer mehr Sicherheitsausgaben, immer mehr „Weltpolizei“ hervorbringen, um gegen die globalen Verlierer die Geschäftsbedingungen für die Inseln des Reichtums und der Produktivität zu sichern.

Endzeit-Szenarien und 11.September

Konsequenterweise wurden der 11.September und der darauf folgende „Kreuzzug gegen die Schurken“ als Zuspitzung dieses immer irrationaleren Kreislaufes gesehen:

„Die Ökonomie des Terrors entspricht spiegelbildlich dem Terror der Ökonomie. So erweist sich der Selbstmord-Attentäter als die logische Fortsetzung des einsamen Individuums in der universellen Konkurrenz unter den Bedingungen der Aussichtslosigkeit. Was hier zum Vorschein kommt, ist der Todestrieb des kapitalistischen Subjekts. Dass dieser Todestrieb dem westlichen Bewusstsein selbst inhärent ist und nicht nur durch die soziale, sondern auch durch die geistige Trostlosigkeit des totalitären Marktsystems ausgelöst wird, beweisen die periodischen Amokläufe von Mittelstandskindern in den Schulen der USA und das Attentat von Oklahoma, das bekanntlich ein authentisches Produkt des inneren Wahnsinns der USA war. Der auf ökonomische Funktionen reduzierte Mensch wird ebenso verrückt wie der Mensch, den der Verwertungsprozess als ‚überflüssige Existenz‘ ausspuckt. Die instrumentelle Vernunft entlässt ihre Kinder“ (26).

Der „Kreuzzug für die Zivilisation“ wird folglich nicht als imperialistischer Krieg, sondern als Teil des dem globalen Krisenkapitalismus inhärenten Bürgerkriegs gesehen. In ihm stehen sich die beiden Elemente des Systemirrationalismus gegenüber: das gewaltsame, fundamentalistische Festklammern an die „Alternativlosigkeit des Marktes“, für das jeder Zweifel an diesem Glaubensbekenntnis das „Böse schlechthin“ ist, gegenüber der fundamentalistischen Ablehnung jeglicher universalistisch-globaler Vergesellschaftung.

Folglich kann für keine Seite Partei ergriffen, sondern nur beide erbittert bekämpft werden. Den vom Kapitalismus verstoßenen und von der „Weltpolizei“ Bedrängten wird von Krisis letztlich die klassisch ökonomistische Antwort auf imperiale Repression gegeben: ähnlich wie in Argentinien heute soll der monetäre Zusammenbruch als Chance zur gesellschaftlichen Selbstorganisation jenseits der Warenökonomie begriffen werden. Oder noch abstrakter: „Es gibt nur einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie.“ (27)

Wirkungsgeschichte und anti-deutsche Kritik

Das Auftreten der „Krisis“-Gruppe und ihrer vielfältigen Ableger hat in der deutschen Linken zu noch verschärfterer theoretischer Differenzierung und Verwirrung geführt. Dass sich einstige ML-Cheftheoretiker zu Kritikern des „Klassenkampf-Marxismus“ gewandelt haben, hat an sich schon für entsprechende Aufmerksamkeit – auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit – geführt. Andererseits sorgte dieses Aufsehen zusammen mit einer sicherlich vorhandenen intellektuell-schriftstellerischen Potenz zu einer Reihe von Popularisierungs-Erfolgen, etwa mit dem „Manifest gegen die Arbeit“ oder dem „Schwarzbuch des Kapitalismus“.

Gleichzeitig kommt das Konzept der „Post-Politik“ der Befindlichkeit vieler „linker Aktivisten“ entgegen, die von Organisationen und „übergreifender Politik“ enttäuscht sind. Statt sich um politische Institutionen, Umverteilungsprojekte, Machtfragen (und -kämpfe) oder andere systemimmanente Zwänge der Geld/Warenökonomie zu kümmern, erteilt „Krisis“ der kommunalen Handwerkelei und der Ablehnung politischer Organisation höhere theoretische Weihen und stellt sich schützend gegen die „Vereinnahmung“, d.h. gegen die Politisierung solcher Kämpfe.

Es ist daher auch kein Wunder, dass Krisis-Versatzstücke selbst in der Gewerkschaftslinken auf fruchtbaren Boden treffen, trotz der verächtlichen Rolle, die Gewerkschaftliches in den „Krisis“-Publikationen spielt. Dies liegt natürlich einerseits an der gelungenen Provokation gegenüber dem „Arbeitsplatz/Standort-Fetisch“, die mit der scharfen Kritik an der Huldigung der „abstrakten Arbeit“ natürlich auch ein Kernstück der Ideologie der Gewerkschaftsapparate trifft.

Dass der Kampf gegen Entlassungen nicht einfach ein Kampf um den Erhalt entfremdeter Arbeit, sondern weitergehend in einen Kampf um die Kontrolle über die produktive Basis dieser Gesellschaft und von deren Selbstorganisation umgewandelt werden könnte, ist nicht nur für „Krisis“ eine „arbeits-fetischistische Illusion“. Auch ein Teil der Gewerkschaftslinken glaubt nicht mehr an eine solche Transformierbarkeit „traditioneller Klassenkonflikte“. Aufspüren neuer Formen des „Gewerkschaftens“ jenseits der „Apparate“, Konzentration auf kommunale Vernetzungs-Projekte und kleine Selbst-Verständigungsgruppen, etc. das passt andererseits zur Selbstgenügsamkeit der Post-Politik: Hier gilt der Kampf um Machtpositionen in der Gewerkschaft ebenso illusorisch, wie der Versuch, irgendwelche der „klassischen“ Kämpfe zu politisieren oder weiter zu treiben. Auf diese Weise gehört eine gewisse „Krisis“-Folklore zu den inzwischen gängigen Immunisierungsstrategien oppositioneller GewerkschafterInnen gegenüber jeder konsequenten und weitergehenderen Kampfperspektive.

Andererseits macht es uns Krisis dabei nicht leicht. Schon Ebermann/Trampert haben in ihrer populär gewordenen Kritik der „Verwandlung linker Theorie in Esoterik“ (28) aufgezeigt, welche eigenartigen Subjekte und Prozesse der „neuartigen Systemtransformation“ bei Robert Kurz inzwischen die Bühne betreten haben. Insbesondere die Hochstilisierung des VW-Modells (28/40-Stundenkorridor) zu einer „Reform gegen die Logik der warenproduzierenden Arbeitsgesellschaft“ (29) war wohl ein ziemlich schlecht informierter „Kurz-Schluss“. In seiner Euphorie, dass die Endkrise des Kapitalismus auch die Spitzenfunktionäre der „gesellschaftlichen Großinstitutionen“ immer mehr zur „Einsicht“ treiben würde, sieht Robert Kurz sich wohl schon in einer breiten Einheitsfront mit Piech und Co:

„Über die Brisanz der Krise wissen bürgerliche Spitzenpolitiker, Manager, Banker und Sparkassendirektoren besser Bescheid als sämtliche Restlinken zusammengenommen“ (30).

Allerdings wissen sie offenbar über ihre Krisenbewältigungsmethoden auch besser Bescheid. Die flexible Anpassung der bezahlten Arbeitszeit an die immer unsteter werdende Akkumulationsbewegung des Kapitals, stellt keineswegs Freisetzung von Zeit für „selbstorganisierte Tätigkeit“ dar, sondern strukturiert die (Lebens-)arbeitszeit nur noch unfreier.

Die Kritik von Ebermann/Trampert wendet sich aber nicht einfach gegen die Kurzsche Verharmlosung/Verkennung der nicht so „neuartigen“ und „systemtransformierenden“ Funktionen „unserer Spitzenfunktionäre“. Sie erkennen in dieser Einbeziehung der deutschen „Eliten“ in eine anti-kapitalistische Perspektive vielmehr eine Hinwendung zur „Volksgemeinschaft“ und zur Verharmlosung der ihrer Meinung nach besonderen Bösartigkeit gerade der deutschen Führungskräfte in Staat und Wirtschaft.

Hier wird schon klar, welcher Teil der deutschen Rest-Linken sich in besonderer Weise durch die Krisentheorie von Krisis und deren praktische Wendung abgestoßen und provoziert fühlen musste: Konsequent fortgeführt, muss die „Auflösung der Nationalstaatlichkeit“ und der Bedeutungsverlust von Politik in der Zerfallsperiode der Warengesellschaft auch dazu führen, dass letztlich auch der „deutsche Imperialismus“ keine Perspektive mehr hat – und auf jeden Fall nicht das Hauptthema für die neue „Post-Politik“ ist.

Insofern stellt sich für Robert Kurz die „anti-nationale“ Linke als letzte Form des „politizistischen Simmulationstheaters“ dar, das einen identitätsstiftenden Hauptfeind als Ersatz für tatsächlich systemverändernde Praxis braucht. In für die „Anti-Nationalen“ provozierender Manier kann Kurz keine besondere „deutsche Gefahr“ sehen bzw. hält die historischen Bedingungen für die Wiederholung der „deutschen Barbarei“ so für nicht mehr gegeben: wenn der deutsche Faschismus nur ein spezifisches Moment der Durchsetzung des warenfetischistischen Modernisierungsprozesses in Deutschland war, so bestehe heute eine völlig andere historische Bedingung (Zusammenbruchskrise). Wer den Faschismus von dieser ökonomischen Basis ablöse, verschaffe sich dadurch „die Möglichkeit (…), großspurig gegen das Geschichtsphantom ‚Deutschland‘ anzutreten… Damit wird eine spezifische historische Konstellation, die niemals wiederkehren kann, geradezu geschichtsphilosophisch verallgemeinert und legitimatorisch zurechtgebogen“ (31).

Entsetzt reagierte die „anti-deutsche“ Fraktion mit Vorwürfen. Kurz reihe sich ein in den mainstream der herrschenden „Entlastung der deutschen Geschichte“ und würde wohl bald in der „Jungen Freiheit“ schreiben (32). In den Krisis-Versuchen der Anknüpfung an breitere gesellschaftliche Fragestellung wurde dementsprechend ein populistisches Anbiedern an den „deutschen Normalbürger“ und dessen öko-faschistische Tendenzen erkannt (33). Bei Ebermann/Trampert wurde schon die inzwischen allseits bekannte Allzweck-Waffe der Anti-Deutschen auch gegen Robert Kurz gewendet, also „nachgewiesen“, dass seine Kapitalismuskritik „in Wirklichkeit“ eine versteckte Form von „Antisemitismus“ sein muss: Klar bei jemandem, der Ausdrücke wie „gieriger Systemprozess des Geldes“ verwendet (34)!

Tatsächlich scheinen sich hier zwei unversöhnliche Pole gegenüberzustehen: Einerseits Krisis, die aus der Ausgangsposition von der unüberwindbaren Systemkrise die Möglichkeit begründen, dass aus „unpolitischen Selbstorganisationsprozessen“ ein fortschrittlicher Ansatz werden könnte; andererseits die „Anti-Nationalen“, die aus der gegenteiligen Annahme von enormer Stärke von Kapital und nationalem Staatsapparat jede praktische systemoppositionelle Bewegung, die nicht zum „vollständig kritischen Bewusstsein“ gelangt ist, im Völkisch-Reaktionären enden sieht, sofern sie massenwirksam wird.

Wie weit sich dieser Gegensatz im „linksradikalen Kuriositätenkabinett“ schon (und besonders nach dem 11.September) zugespitzt hat, zeigt folgende Zusammenfassung aus dem jüngsten Krisis-Editorial:

„Die aktuellen Radikalismuswettbewerbe funktionieren als Ranking der Rabiaten. Wer sich barbarischer aufführt, hat Recht. Wer etwa Scharon Nachgiebigkeit gegenüber dem ‚palästinensischen Vernichtungskollektiv‘ unterstellt (außerdem will dieser wohl windelweiche Opportunist auch noch einen mickrigen Palästinenserstaat dulden) oder Bush mangelnde Entschlossenheit gegenüber dem Terrorismus vorwirft, der ist schon wer in dieser Szene. It’s a hit. Um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, müssen die Hardcore-Antideutschen die Gangart permanent verschärfen, bis hin zum selbst provozierten Übergriff auf die eigene Truppe, der dann als wahrhaft schlagender Beweis der eigenen Bedrohung dienen soll. (…) Ihr Geschäft ist die Denunziation. Da laufen die Antideutschen zur Höchstform auf, weil es ihre Äußerungsform ist. Da sind sie deutsch wie tüchtig. Wertarbeiter sondergleichen. Wie etwa jener berüchtigte Justus Wertmüller, den man einen Diffamator ersten Ranges nennen könnte. Sozusagen eine halbautomatische Pumpgun pathischer Projektion. Wer abweicht, und sei’s auch nur eine Nuance, wird erschossen. Denn immer geht es ums Ganze. Wertmüller erspäht Nazis auf den ersten Blick, zumindest im Nachhinein weiß er nun, dass auf Krisis-Seminaren‘ die neofaschistischen Öko-Rauschebärte von der ‚Silvio-Gesell-Fangemeinde‘ sich herumtreiben. Wahrlich, man sieht es diesen Krisis-Leuten direkt an. Robert Kurz darf in der bahamotischen Hirntragödie bereits als Oswald Spengler auftreten. So jauchzt und jodelt der Antideutsche: Dass wir inzwischen wie (oder gar: als?) Faschisten zu bekämpfen sind, wissen wir seit der Dritten Kommandoerklärung der Bahamas, jener mit dem alles sagenden Titel ‚Zur Verteidigung der Zivilisation‘: ‚Wenn allerdings Antikapitalismus von den Nürnbergerischen und anderen islamisch-deutschen Gemeinschaftswerken nicht mehr unterscheidbar ist, wenn er nicht mehr die Aufhebung der kapitalistischen Vergesellschaftung auf ihrem höchsten Niveau einfordert und blind ist für die Gefahren eines Antikapitalismus, der nur noch den vorzivilisatorischen egalitären Schrecken bereithält, dann muss man ihn bekämpfen wie jede andere faschistische Gefahr auch‘ (bahamas 37)“ (35).

„Kritische Theorie“ als Ausgangspunkt

Bei aller hier dargestellten Zugespitztheit der Polemik zwischen dem Krisis- und bahamas-Pol, so ist ihnen an sich der Ausgangspunkt gemeinsam. Für beide ist die „Kritik der instrumentellen Vernunft“, wie sie von der „kritischen Theorie“ (vor allem Theodor Adornos) entwickelt wurde, letztlich die Achse der Kapitalismuskritik. Die Wende, die dadurch der Arbeits- und Wertbegriff der Marxschen Werttheorie erhält, erlaubt es, diese als „Wertkritik“ völlig von jedem Zusammenhang mit systemimmanenten Aufhebungsbewegungen zu trennen, und „Arbeiterklasse“ oder „Klassenkampf“ aus dem Kern des Marxismus selbst zu „säubern“.

Denn frei nach Adorno zählt das Reich der „abstrakten“, ent-subjektivierten Arbeits-Hölle schon längst zum Bereich der „absoluten Negativität“ – also eines Bereiches, wo „jegliche Behauptung von Positivität“, vom „Versuch des Herauspressens eines noch so ausgelaugten höheren Sinns“ (36) (also auch irgendeiner historischen Perspektive, die sich aus dem jetzigen noch entwickeln könnte) nur noch Schönreden und ideologische Befestigung dieser Hölle sei. Die Herrschaft der „Verdinglichung“ und der Zersetzung jeglicher freier Subjektivität bis hin ins intimste Denken durch die Durchsetzung des „automatischen Subjekts“ ist so totalitär geworden, dass es für eine Aufhebung aus den immanenten Widersprüchen des Kapitalismus heraus, laut Adorno, „zu spät“ sei. Daher braucht es für eine neuerliche Aufhebungsbewegung wiederum einer philosophischen Aufklärungsbewegung, die durch fundamentale Kritik die Vernebelungen und Mystifizierungen des warenfetischistischen Bewusstseins bekämpft:

„Im Prozess von Entmythologisierung muss Positivität negiert werden bis in die instrumentelle Vernunft hinein, welche Entmythologisierung besorgt“ (36).

„bahamas“ nimmt für sich in Anspruch, dieses Programm der Entmythologisierung und der Entlarvung der negativen Dialektik falscher Anti-Kapitalismen konsequent fort zu führen – offenbar bis zur typisch deutsch-intellektuellen Konsequenz der wahnhaften Selbstzerfleischung. Gerade da „Krisis“ eine Wende zum „Positiven“, zu einer Praxis jenseits der wertkritischen Kritik nimmt, wird dies von „bahamas“ als besonders hinterhältiger „Verrat“ dargestellt (siehe „Weltgeist“). Der Trick von Krisis besteht darin, den „wertkritischen Ansatz“ mit einer (Zusammenbruchs-)Krisentheorie des Kapitalismus zu verbinden. Hierdurch waren die bisherigen „Aufhebungsversuche“ nicht wie bei Adorno „zu spät“, sondern gerade umgekehrt: „zu früh“.

Sie mussten zu Elementen der Durchsetzungsgeschichte der Wertform werden, wenn sie überhaupt Wirksamkeit erlangten. Andererseits eröffnet der kapitalistische Zusammenbruch Nischen der nicht-wertförmigen Selbstorganisation, die das System qua Krise gar nicht mehr vereinnahmen kann. So lässt sich rabiate Ideologiekritik, Entlarvung „arbeiterbewegungs-marxistischer“ Hinterwäldler etc. bequem vereinbaren mit theoretisch-hochstilisierter, handwerklerischer „Post-Politik“. So schafft man es in Talkshows, Feuilletons, angesehene Verlage, vielleicht auch in Beratungs- oder Kommunal-Gremien, und kann sich gleichzeitig als fundamentaler System-Kritiker gerieren.

II. Kritik: Wertkritische Krisentheorie versus Imperialismustheorie

Arbeits-Fetisch?

Nach Robert Kurz gibt es bei Marx „zwei Lesarten“ der Arbeit: Eine ist die bereits ausgeführte „negative Vergesellschaftung“ der Herrschaft der „toten, vergegenständlichten Arbeit“ über die lebendige, die Verselbständigung der abstrakten Arbeit zum Selbstzweck, der das gesellschaftliche Ganze formt, statt umgekehrt.

Dem stehe aber bei Marx „überraschenderweise“ eine „positive Substanz“ der Arbeit gegenüber – was sich Kurz nur als Übernahme bürgerlich-modernistischer Fortschrittsmythologie erklären kann: „Arbeit“ werde hier als tatsächliche Substanz des ökonomischen Werts dargestellt: „die Redeweise vom Mehrwert als der Form einer ‚unbezahlten Mehrarbeit‘ und die dadurch strukturell bestimmte ‚Ausbeutung‘ der Arbeiter durch den Kapitalisten legt es nahe, irgendwie den ‚vollen Wert‘ für die ‚Arbeiterklasse‘ zu reklamieren. Damit aber sind Wert und ‚Arbeit‘ als Form- und Substanzkategorien der kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig zu ontologischen, überhistorischen Existenzbedingungen positiviert“ (37).

Seit Adorno gilt der „Ontologie“-Vorwurf als so etwas wie der Bannstrahl der „kritischen Theorie“, werde doch durch Ontologie versucht, einen objektiven, nicht-kritisierbaren Rahmen für Theorie aufzustellen.

Tatsächlich geht es hier um einen Knackpunkt des Marxschen Materialismus und der Rolle der Werttheorie darin: der Bedeutung des Unterschieds von Wertform und Wertsubstanz. So schrieb Marx in einem bekannten Brief, in Reaktion auf Rezensionen des „Kapitals“:

„Das Geschwätz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft. Dass jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, dass die den verschiedenen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedene und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Dass diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte“ (38).

So grundlegend einfach der hier dargestellte Zusammenhang von gesellschaftlicher Arbeit, gesellschaftlichen Bedürfnissen und der Entwicklung vermittelnder Formen auch ist, so groß ist offenbar die darin steckende Zumutung für die „kritischen Kritiker“. Dass der „Wert“ erst in der kapitalistischen Gesellschaft in selbständiger Form erscheint, ändert nichts daran, dass sich jeder Gesellschaft das im „Wert“ ausgedrückte Problem stellt – die explizite, quantitative Form, in der es im Kapitalismus als Alltagsproblem erscheint, ist gegenüber allen vorhergehenden Gesellschaftsformationen ein historischer Fortschritt, trotz aller negativen Folgen der Verselbständigung eben dieser Form.

Zur Herleitung der „abstrakten Arbeit“

Georg Lukacs kommt das Verdienst zu, in der „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ (39) die offenbar nicht mehr gegebene Selbstverständlichkeit des „gesellschaftlichen Substanzcharakters“ der Arbeit auf materialistisch-dialektischer Grundlage rekonstruiert zu haben. Ohne einen reduktionistischen Ableitungszusammenhang herzustellen, wird dabei „Arbeit“ zum Modell der Herausbildung von gesellschaftlichem Sein auf einer bestimmten Stufe der Herausbildung der Menschheit. In der Arbeit als „zweckgerichteter Tätigkeit“ in einer „kausal bestimmten Umgebung“ finden sich die Kernelemente der Subjektbildung und ihrer dialektischen Entwicklungsgeschichte.

Wie Marx zum Arbeitsprozess ausführt, unterscheidet sich der Bau eines Hauses durch einen menschlichen Baumeister von dem „Bau“ des Bienenstocks dadurch, dass das Haus sozusagen zuerst schon „im Kopf“ des Baumeisters vorhanden ist. Dass also die Zwecksetzung, das Wissen über die notwendigen Arbeitsschritte, die Erkenntnisse über die Kausalzusammenhänge, wie über die eigenen Fähigkeiten, der Werkzeugbenutzung, etc. in allgemein-abstrakter Form vorhanden und kommunizierbar sind, bevor sie in kooperativer Form in materielle, plan- und zweckmäßige Tätigkeit umgesetzt werden.

Mit den Zusammenhängen von gesellschaftlichen Zweck-/Willenssetzungen, den Erkenntnisprozessen zu deren Umsetzung, der materiellen Wirkung im Rahmen der mehr oder weniger durchschauten Zusammenhänge der Wirklichkeit, wird eben ein Entwicklungsprozess ausgelöst, in dem „objektive“, „materielle“, „naturbestimmte“ etc. Bedingungen mit der „Befreiung“ von solchen Bedingungen verwoben sind, ebenso wie diese „Befreiungen“ selbst wieder zu Zwängen und Bedingungen werden.

Im Prozess der „Entfremdung“ ist die Unweigerlichkeit angesprochen, mit der zweckgerichtetes Handeln, das auf einem eingeschränkten Verständnis der Realität und des Eingreifens in sie beruht („instrumentelle Vernunft“), zu Verhältnissen führt, in denen die selbstgeschaffenen Verhältnisse ihre Schöpfer beherrschen.

Daher ist Gesellschaftlichkeit völlig ohne Entfremdung und Verdinglichung ohnehin philosophische Utopie – es geht nur um das Ausmaß und die Beherrschung ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedrohlichkeit, was je nach historischen Bedingungen der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeit zu beurteilen ist. Denn es sind eben spezifische materielle und darauf aufbauende gesellschaftliche Potenzen (Produktivkräfte), die die Basis für mehr oder weniger bewusste, befreite gesellschaftliche Subjektivität bilden.

Auch eine Gesellschaft „selbstorganisierter, freier Assoziation“ steht vor dem Problem, ihre Möglichkeiten an freier und schöpferischer Entfaltung auf der Basis der erreichten Vergesellschaftung und Produktivkräfte nur realisieren zu können, wenn sie die vorhandenen Arbeitspotenzen effektiv und bewusst in entsprechenden Proportionen einsetzt. Ansonsten wird sich wie im Kapitalismus, in dem sich Wirtschaftlichkeit immer erst im Nachhinein „am Markt“ herausstellt, diese als „sachlicher“ Zwang der Ökonomie wieder herstellen.

Die Verleugnung des zentralen Problems der Arbeits-Ökonomie durch die „radikale Wertkritik“ ist daher nicht bloß idealistischer Humbug. Durch utopisch-philosophische Konstruktionen von „arbeitsfreier Gesellschaftlichkeit“ wird den materiell-historisch tatsächlich begründbaren Aufhebungen entfremdeter Arbeit die reale Grundlage entzogen.

Das Gefasel von „unmittelbarer Gesellschaftlichkeit“ selbstorganisierter und „befreiter Tätigkeit“ verleugnet schlicht das Grundproblem: die Begrenztheit unseres Wissens und unserer materiellen Ressourcen setzen uns immer Grenzen der „Notwendigkeit“ mit denen wir rechnen, die wir „ökonomisieren“ müssen, auch wenn sie jeweils konkret „irgendwann“ in der Zukunft überwunden werden können. Tätigkeiten, die in diesem Sinn gesellschaftlich notwendig sind, die – ob wir es wollen oder nicht – getan werden müssen („weil wir sonst alle verhungern würden“), werden immer schlichtweg „Arbeit“ genannt werden.

Insofern ist es auch falsch, wenn die „Wertkritik“ behauptet, erst mit dem Kapitalismus würde die „abstrakte Arbeit“, der Begriff von „Arbeit“ ohne jeglichen Bezug zu einer konkreten Tätigkeit, also „Arbeit an sich“ („Arbeit sans phrase“ wie es Marx in den „Grundrissen“ anspricht) auftreten. Es ist kein Wunder, dass schon die antiken Sprachen klare Unterscheidungen von „Arbeit“ im Sinn von „Mühe“/“Fron“/“laborare“ kannten, gegenüber Begriffen von positiv besetzter „konkreter Tätigkeit“/“Werken“/“operare“.

Sobald die Entwicklung der Produktivkräfte und des Mehrprodukts Formen der Befreiung vom alltäglichen Kampf ums unmittelbare Überleben hervorbrachten (wenn auch nur für einen Teil der Gesellschaft), trat das Problem der Ökonomisierung der „notwendigen Plackerei“ und der „Ersparnis von Arbeit“ beständig ins Bewusstsein. Den herrschenden Klassen war immer schon die „konkrete Tätigkeit“ der „werktätigen Bevölkerung“ egal, nicht aber dass deren „Arbeit“ effektiv für sie eingesetzt wird. Insofern ist die Geschichte der Klassengesellschaften immer auch eine Geschichte der Entwicklung von Kontrolle und Herrschaft über abstrakte, von den konkreten Fähigkeiten, Bedürfnissen, Vorlieben etc. der Tätigen losgelöste Arbeit. Die „abstrakte Arbeit“ ist keineswegs ein Produkt der „irren“ Verselbständigung des Werts und der „verrückten“ Fixierung auf die Anhäufung von vergegenständlichter abstrakter Arbeit in Wertform. Vielmehr ist umgekehrt die Entwicklung einer bestimmten Form von (Klassen-)Herrschaft über die „Arbeit“ auf einer bestimmten Stufe ihrer materiellen Entwicklung die Voraussetzung für ihre Verwandlung in „Wert“.

Herrschaft über „abstrakte Arbeit“ im Kapitalismus

Es gibt also keine „zwei Lesarten“ von Wert und Arbeit bei Marx, sondern die Wertform (Erscheinungsform des Werts) nimmt im Kapitalismus eine besondere Entwicklung gegenüber der Wertsubstanz, eben was Marx „Verselbständigung der Wertform“ nennt. Einerseits erscheint aller gesellschaftlicher Reichtum nur noch als „ungeheure Warenansammlung“, alle gesellschaftliche Reproduktion wird vermittelt über das Medium des Tausches, der „Warenform“, bis zur verselbständigten Gestalt, dem Geld. Andererseits bleibt diese Vermittlungsform gekoppelt an das Problem der Arbeits-Ökonomie: letztlich stellt sich am Markt heraus, ob die für die Warenproduktion verausgabte gesellschaftliche Arbeitskraft effektiv eingesetzt wurde, der Wert erscheint in der Preisbewegung.

Wert ist dabei nicht wie bei Kurz oder noch deutlicher bei Postone unvermittelt aus der „abstrakten Arbeit“ an sich abgeleitet. Es ist diese Ableitung vielmehr an eine spezifisch-historische Form der Herrschaft und Kontrolle über Arbeit gebunden. Die universelle Anwendbarkeit der Warenform ist eben erst mit der besonderen Form des kapitalistischen Produktionsprozesses gegeben. Kurz verfehlt die Wertbestimmung, wenn er Wert als abstrakte Eigenschaft und nicht als historische Form gesellschaftlicher Arbeit fasst.

Nur mit Entwicklung einer historisch spezifischen Produktionsweise stellt sich die in der gesellschaftlichen Aneignung der Natur verausgabte Arbeit als Wert von Dingen dar. Weil der gesellschaftliche Charakter der Arbeit nicht mehr naturwüchsig gegeben noch schon bewusst hergestellt ist, stellt sich ihre Gesellschaftlichkeit her über den gesellschaftlichen Verkehr der Sachen.

Die „Versachlichung“ des Ökonomisierungs-Problems, die verallgemeinerte Abstraktheit einer bestimmten Form von Kosten/Nutzenrechnung, wie sie auf der Stufe der warenförmigen Vergesellschaftung erreicht wird, ist also gleichzeitig verwoben mit einem Indirekt-Werden von Herrschaft über fremde Arbeit. In „versachlichter“, abstrakter Wertform wird über die konkrete Arbeit des Warenproduzenten gerichtet. Die Kontrolle der besitzenden Klassen über die von ihnen bewegte Arbeit erscheint an der Oberfläche der Gesellschaft als die Herrschaft von objektiven, „naturhaften“ Gewalten der „Markt-“ und „Kapitalbewegungen“. Doch dieses in die Wertbestimmung verwobene Indirekt-Werden von Herrschaft der entwickelten Wertform (des Kapitals) wäre nicht möglich, wenn sich die Aneignung des Werts nicht auch in einer unmittelbaren und direkten Herrschaft und Kontrolle über den kapitalistisch organisierten Produktionsprozess vollziehen würde.

Erst in diesem wird die „Gleichheit der Arbeiten“ bis ins Extrem der Kontrolle über jeden Handgriff vorangetrieben – nur damit ist gewährleistet, dass ein einmal erzieltes Produktionsergebnis auch immer wieder erzielt wird. „Gleichheit der Arbeit“ wird zur Reduktion der Arbeit auf Zusammensetzung aus „einfacher gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit“ – etwas, was kein gedanklicher „Abstraktionsprozess“ ist, sondern hinter dem ein riesiger alltäglicher Kontroll- und Klassifizierungsapparat steht. Von der Arbeitsplatzbeschreibung, -organisation, Arbeitszeitrechnung bis zur Eingruppierung werden die Arbeit und ihr menschliches Ausführungsorgan bis ins kleinste klassifiziert und zugeordnet.

Andererseits wird durch die spezifische Klassengrundlage der bürgerlichen Herrschaft, den Zwang für den/die LohnarbeiterIn, die Arbeitskraft als Ware anzubieten, um an die im kapitalistischen Produktionsprozess produzierten lebensnotwendigen Konsumgüter heranzukommen, diese Klassifizierung bis in die „Privatsphäre“ vorangetrieben: Die Lohnabhängigen werden nicht nur im Arbeitsprozess normiert, sondern entsprechend ihrer Einstufung auch als Konsumenten standardisiert und mit entsprechender Massenware abgefertigt.

Das heißt, diese spezifisch historische Form der Vergleichbarmachung von Arbeit steht von vornherein unter der Prämisse der Organisation und Beherrschung des Arbeitsprozesses als Verwertungsprozess. Die Arbeitszeitrechnung geschieht zum Zweck der Kontrolle über die (Arbeitszeit-)Quantität der sich in Warenform vergegenständlichenden Arbeit im Verhältnis zu den Reproduktionskosten der Arbeitenden selbst. Alles, was nicht diesem Aneignungsaspekt, seiner Gewährleistung und Ausweitung dient, ist für die Frage der Verwertung irrelevant und wird weg-abstrahiert.

Auch in einer von dieser Voraussetzung befreiten Gesellschaft wird es Beschreibungen von Arbeitsschritten und Arbeitszeitrechnungen für die gesellschaftlich notwendigen Arbeiten geben. Doch ermöglicht die Rückführung der Zwecksetzungen dieser Arbeiten auf selbstbestimmte Zielsetzungen in Rahmen einer selbstorganisierten Assoziation der Produzenten, dass die Vergleichung der Arbeitserleichterung und gerechten Verteilung der Arbeit dient. Es muss dann weder jeder Handgriff kontrolliert werden, noch die Arbeit so zerstückelt werden, wie es die Herauspressung von noch mehr Mehrarbeit am besten ermöglicht.

Trotzdem muss, zumindest in einer ersten Periode, zunächst einmal überhaupt „Arbeitsgerechtigkeit“ erzielt werden: dass also jedeR über die Grundsicherung hinaus vom gemeinsam erzeugten gesellschaftlichen Reichtum soviel erhält, wie er/sie an Arbeit geleistet hat – was offensichtlich ein Fortschritt gegenüber dem Kapitalismus wäre. Das heißt aber auch, dass weiterhin ein Maß für die der Allgemeinheit geleistete Mühe vorhanden sein muss, das sich aus der Vergleichung der Arbeiten und ihrer (Arbeitszeit-)Quantitäten ergeben muss:

„Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andererseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehen kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer anderen ausgetauscht“ (40).

Wenn Robert Kurz meint, dass Marx hier (bei der Frage der Aufhebung der vom Kapital angeeigneten Mehrarbeit) einen „überhistorischen“, „ontologischen“ Arbeitsbegriff verwendet, so ist Kurz der Vorwurf der idealistischen Verkennung des Arbeitsproblems zurückzugeben. Tatsächlich steht nicht die Frage der „Aufhebung der Arbeit“ an, sondern die Frage von bestimmten historischen Formen, in denen „abstrakte Arbeit“ erscheint. Erst diese Formen ermöglichen es, dass „abstrakte Arbeit“ zur Wertsubstanz wird.

Nicht die „Abstraktion“ an sich ist das Problem, sondern die dieser Abstraktion zugrundeliegenden (Klassen-)Herrschaftsverhältnisse, die zugleich dadurch befestigt und versachlicht werden. Das ungeheure Potenzial einer von naturwüchsigen und knechtschaftlichen Verhältnissen befreiten Entwicklung und Ökonomisierung von Arbeit wird gleichzeitig rückgebunden an das Kommando einer kleinen Minderheit der Gesellschaft über die warenförmig gemachten Vergegenständlichungsbedingungen dieser Arbeit.

Mit der Einverleibung der „freien Arbeitskraft“ in die Warenwelt, entsteht die Möglichkeit der Verselbständigung der Wertform: Durch die Eigenschaft einer Ware, mehr Wert zu schaffen, als zu ihrer Reproduktion notwendig ist, kann aus Geld über Kauf von Produktionsmitteln und Arbeitskraft wiederum mehr Geld gemacht werden, ohne die „Tauschgerechtigkeit“ zu verletzen.

Im Kapital ist die Bewegungsform des sich in selbständiger Form beständig verwertenden Werts gefunden. Als Geldkapital und in verwandelter Form als das in Produktionsmitteln und Waren vergegenständlichte Kapital steht es der lebendigen Arbeitskraft übermächtig gegenüber, zwingt sie zum Verkauf der Arbeitskraft bzw. Kauf der Konsumware vom Kapital und reproduziert so beständig auf höherer Stufenleiter die eigene Herrschaft. Die „tote Arbeit“ (d.h. die im Produktiv- und Warenkapital vergegenständlichte Arbeit) wird zur Diktatur über die lebendige.

Verselbständigung der Wertform und ihre Widersprüche

Auch wenn diese Selbstverwertung des Werts in selbständiger Form, d.h. als reiner Selbstzweck, das Wesen des Kapitalismus ausmacht, so ist sie doch zurückgekoppelt und abhängig von der Entwicklung der Wertsubstanz, der Arbeit selbst. Hier hat sie eine eindeutige Voraussetzung: der Kapitalismus kann nicht existieren ohne beständige Revolutionierung, Umgestaltung, Expansion der produktiven Basis der Gesellschaft. Er muss, um seinem Wesen zu entsprechen, alle denkbaren Produktivkräfte und wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse mobilisieren, aufgreifen, kapitalisieren. Er muss insbesondere die Arbeit nicht einfach in ihrer vorgefundenen Form kommandieren, sondern sie „real subsumieren“: also entsprechend dem Verwertungsziel reorganisieren, wissenschaftlich-technisch ausrichten, aufteilen und damit in immer größerem Ausmaß „vergesellschaften“.

In diesem Verhältnis der Entwicklung von Wertsubstanz im Verhältnis zur verselbständigten Wertform sind mehrere Widersprüche angelegt:

(1) Wie schon anhand des „Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate“ ausgeführt, stößt diese schrankenlose Ausdehnungsbewegung von Produktivkraftentwicklung und Verwertungsbedürfnis auf die Beschränktheit der eigenen gesellschaftlichen Basis: die Verdrängung lebendiger Arbeit gegenüber den immer größer angehäuften Massen an Produktivkapital untergräbt die Verwertbarkeit der unaufhaltsamen Produktivkraft-Revolutionen. Verwertungsbewegung und Produktionsbewegung müssen in einem krisenhaften Prozess aufeinanderstoßen, um eventuell wieder ein neues Gleichgewicht, eine neue Ausgangslage für das „schrankenlose Wachstum“ zu finden.

(2) Die wachsende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, seine immer umfassender werdende interne wissenschaftlich durchorganisierte und geplante Arbeitsorganisation, steht in immer krasserem Gegensatz zur Willkür und Unberechenbarkeit der (Welt-) Marktbewegungen. Das Prinzip des „vereinzelten Einzelnen“ als gesellschaftliche Rolle der Subjekte der Warenökonomie, steht der immer schärferen Aufhebung der „vereinzelten Arbeit“ durch den gesellschaftlichen Produktionskörper gegenüber. Einerseits wird hierbei dem „Einzelnen“ die gesellschaftliche Potenz seiner Arbeit als „fremde Gewalt“ gegenübergestellt, so dass die Einzelarbeit zum entfremdeten Teilaspekt, dem unbewussten Rädchen in der Riesenmaschine wird. Andererseits kann die wachsende Vergesellschaftung nicht funktionieren ohne die Mobilisierung von Kommunikation, wachsender Kooperation auf größerer Stufenleiter, wachsendem gemeinsamen Verständnis des Produktionszusammenhangs, etc. Vereinzelung, De-Qualifikation, Entfremdung auf der einen Seite, und wachsende Qualifizierung, Kooperation, Vergesellschaftung gehen im kapitalistischen Produktionsprozess eine widersprüchliche Verbindung ein, die die Grenzen der warenförmigen Vergesellschaftungen immer klarer werden lassen.

(3) Die Entwicklung des Kapitals bedingt ungeheure Ausdehnung der „disposable time“, der Zeit, die über das Maß vorhanden ist, das notwendig zur Reproduktion der Gesellschaft gearbeitet werden müsste.

„Diese Schöpfung von Nicht-Arbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals, wie aller früheren Stufen, als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige. Das Kapital fügt hinzu, dass es die Surplusarbeitszeit der Masse durch alle Mittel der Kunst und Wissenschaft vermehrt, weil sein Reichtum direkt in der Aneignung von Surplusarbeitszeit besteht; da sein Zweck direkt der Wert, nicht der Gebrauchswert“ (41).

Die Reduktion der notwendigen Arbeitszeit produziert unter diesen Bedingungen (als „Hilfe, uns geht die Arbeit aus!“) den Irrsinn von „Arbeitslosigkeit“ bei gleichzeitiger grenzenloser Ausdehnung der Mehrarbeit für den Rest.

„Die Arbeitszeit als Maß des Reichtums setzt (…) die disposable time nur existierend im und durch den Gegensatz zur Surplusarbeitszeit oder Setzen der ganzen Zeit des Individuums als Arbeitszeit und Degration desselben daher zum bloßen Arbeiter, Subsumtion unter die Arbeit. Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher, jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohsten Werkzeugen tat“ (42).

Aufhebungsperspektive

Damit ist klar, dass in den immanenten, vom Kapitalismus erzeugten Widerspruchsbewegungen der Produktivkraftentwicklung auch die Tendenzen seiner Aufhebung enthalten sind. Der kapitalistische Produktionsbereich ist nicht das bloße „Reich der Negativität“, so dass nur außerhalb desselben eine neue selbstorganisierte Vergesellschaftung möglich ist. Eine solche ist ohne die gewaltige materielle Basis des modernen Produktionsprozesses gar nicht möglich. Im Gegenteil: sie braucht dessen erreichten Stand an Vergesellschaftung, Verwissenschaftlichung und Technikentwicklung. Er schafft auch die produktiven Fähigkeiten zur selbstorganisierten, egalitären Kontrolle über diesen Prozess, wie die Notwendigkeit, diese auch tatsächlich zu übernehmen. Auf seiner Grundlage wird „disposable time“ zum möglichen „neuen Maß des Reichtums“:

„Die wirkliche Ökonomie – Ersparung – besteht in der Ersparung von Arbeitszeit (…); diese Ersparung aber identisch mit Entwicklung von Produktivkraft. Also keineswegs Entsagen vom Genuss, sondern Entwicklung von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten wie der Mittel des Genusses.(…) Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. der Zeit die für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit.(…) Die Arbeit kann nicht Spiel werden (…). Die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein anderes Subjekt verwandelt, und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozess. Es ist dieser zugleich Disziplin, mit Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Experimentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständlichende Wissenschaft mit Bezug auf den gewordenen Menschen, in dessen Kopf das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert“ (43).

Hier ist das Modell einer dynamischen Gesellschaft dargestellt, in der die „notwendige Arbeit“ der Entfaltung des „freien Menschwerdens“ untergeordnet ist und beide eine beständige, befruchtende Wechselwirkung eingehen.

Dies ist natürlich auch entgegengesetzt einer Vorstellung von Sozialismus, die in einer bloß „gesellschaftlich demokratisch geplanten“ Kontrolle des wie bisher ablaufenden Produktionsprozesses besteht. Wenn die produktiven, schöpferischen und kommunikativen Potenzen des modernen Produktionsprozesses nicht aus ihren entfremdeten, kapitalistischen Formen befreit werden, dann wird es einer solchen Planwirtschaft jeder dem Kapitalismus vergleichbaren Entwicklungsdynamik fehlen, weiterhin Überarbeit durch extensive Mehrarbeit betrieben und gleichzeitig unweigerlich in stagnative Krisen verfallen. Andererseits bleibt das Krisis-Modell von der „selbstorganisierten Assoziation“ ohne Bezug auf die weitere Entwicklung der Basis der „notwendigen Arbeitszeit“ ohne materielle Basis und kann in ihren Beispielen letztlich auch nichts anderes als stagnatives Werkeln mit der vorhandenen Produktiv-Basis anführen.

Kapitalismus als Klassenherrschaft

Mit der Auslöschung der wesentlichen Differenz von Wertsubstanz und Wertform bei Krisis hängt logisch auch die Auflösung von sich wesentlich entgegengesetzten gesellschaftlichen Subjekten im Kapitalismus zusammen. Klassen haben nur noch eine Rolle in der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus. Ähnlich wie bei Eric Hobsbawn in seiner Historisierung der „Bourgeoisie“ (siehe „Das imperiale Zeitalter“) verschwindet die Notwendigkeit der spezifisch bürgerlichen Unternehmer- und Politikergestalt hinter der völligen Auflösung in Charaktermasken und Repräsentanz von Institutionen.

Noch im Faschismus sieht Lohoff die Notwendigkeit, aufgrund der noch nicht totalen Wertform, die Gleichförmigkeit durch Massenspektakel, -terror und sonstige Volkstümelei gegenüber noch realer Klassenspaltung zu simulieren. Erst mit der totalen Durchsetzung der Wertförmigkeit, mit der absoluten Herrschaft des „automatischen Subjekts“ im Nachkriegs-Fordismus sind alle Subjekte gleichermaßen als Marionetten dieses Apparats organisiert – wenn auch mit unterschiedlichem Leidensdruck. Aber auch die Systemeliten seien heute einer „absurden Lebensführung“ (Kurz) unterworfen.

Geht man dagegen von der materiellen Entwicklung der Wertsubstanz aus, so ist klar, dass sich das „automatische Subjekt“ nicht ohne einen tatsächlichen, interessierten, gesellschaftlichen Träger organisieren kann. Die Herrschaft des „Kapitals an sich“, als gewaltige Produktivkraftansammlung gegenüber der formgebenden lebendigen Arbeit erzeugt vor allem auch ein ungeheures Machtverhältnis. Es verlangt nach Eignern und Entscheidern, die die tatsächliche Kontrolle über den Ablauf und die Ausrichtung der Produktion ausüben. „Kapital ist (gegenüber dem Arbeiter, M.L.) als für sich seiender, selbstischer Wert sozusagen gesetzt (was im Geld nur angestrebt war). Aber das für sich seiende Kapital ist der Kapitalist.“ (44).

Aber das Kapitalverhältnis produziert nicht bloß das Machtverhältnis von Kapitalist und Arbeiter. Die Aneignung der „disposable time“ als Mehrarbeit in Form des Mehrwerts erzeugt für die gesellschaftliche Klasse auch eine materielle Grundlage von beständig komfortablerer Ausstattung. Nichts anderes ist letztlich auch der materielle Grund für die Herrschaft des „automatischen Subjekts“ – wie immer auch die gesamte Gesellschaft in verrückte, katastrophenlastige „Sachzwänge“ gezwängt wird, so gibt es doch mächtige gesellschaftliche Kräfte, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses Theaters haben.

Durch die Ablösung des Fetisch und des „automatischen Subjekts“ von dieser gesellschaftlichen Basis, wird den Fetisch sein eigentlicher gesellschaftlicher Zweck, genommen – er wird quasi wörtlich genommen. Tatsächlich verschleiert er jedoch als sachliches Verhältnis, das doch eigentlich ein ganz handgreiflich gesellschaftliches ist, die Herrschaft einer Klasse über eine andere. Bei Marx ist das noch ziemlich einfach ausgedrückt:

„Das fremde Wesen, dem die Arbeit und das Produkt gehört, in dessen Dienst die Arbeit und zu dessen Genuss das Produkt der Arbeit steht, kann nur der Mensch selbst sein. Wenn das Produkt der Arbeit nicht dem Arbeiter gehört, eine fremde Macht ihm gegenüber ist, so ist dies nur dadurch möglich, dass es einem andern Menschen außer dem Arbeiter gehört. Wenn seine Tätigkeit ihm Qual ist, so muss sie einem andern Genuss und die Lebensfreude eines andern sein. Nicht die Götter, nicht die Natur, nur der Mensch selbst kann diese fremde Macht über den Menschen sein“ (45).

Der Mystizismus um ein von jeglicher Klassengrundlage gelöstes totalitäres „automatisches Subjekt“ ist daher nichts anderes als eine quasi-religiöse Verschleierung der tatsächlich durch die Kapitalverwertung vermittelten Klassenherrschaft.

Die Prinzipien bürgerlicher Subjektbildung unter den Bedingungen der sich dynamisierenden verallgemeinerten Warenproduktion sind Konkurrenz, Kampf jeder gegen jeden einerseits und Koalitionsbildung andererseits. Schon auf der Ebene des „Kapitals im allgemeinen“ ist die Konkurrenz der Warenbesitzer in sich verschärfender Form unumgänglich ableitbar: Der Widerspruch im Tauschverhältnis zwischen dem Besitzer von Kapital und jenem von Arbeitskraft in schrankenloser Ausbeutung einerseits und Erhalt der eigenen Ware andererseits, führt bei zugespitzterer Akkumulationsbewegung zu heftigem Aufeinaderprallen „gleichberechtigter“ Ansprüche.

Gewaltsame Auseinandersetzung einerseits und Koalitionsbildung auf beiden Seiten ist daher unvermeidlich. Die Herausbildung der Arbeiterklasse als organisiertes gesellschaftliches Subjekt ist daher ein notwendiges Resultat bürgerlicher Vergesellschaftung. Es ist damit auch die Möglichkeit (wenn auch nicht unmittelbar die tatsächliche Fähigkeit) eines Subjekts gegeben, das die oben angeführten Widersprüche aufheben kann, gegenüber einem anderen Subjekt, dass unter allen Umständen am Wahnsinnssystem festhalten muss.

Das Verhältnis dieser beiden Klassen drückt daher in zweifacher Weise die Grenzen der Kapitalakkumulation aus: Einerseits dadurch, dass die Stärke der „Konkurrenzbedingungen“ der mehr oder weniger organisierten Arbeiterklasse die Lösung von Kapitalverwertungsproblemen durch Ausdehnung von Mehrarbeit begrenzt. Andererseits dadurch, dass in einer sich weitergehend organisierenden und bewusstwerdenden Klasse überhaupt eine Systemalternative als Lösung der Verwertungskrise materiell greifbar wird.

Die ökonomische Wirkung der Klassenstruktur

Konkurrenz ist eine unabdingbare Folge der durch verengende Verwertungsbedingungen bei gleichzeitiger schrankenloser Expansion aufeinander geworfenen Einzelkapitale. Andererseits ist es gerade die Konkurrenz, die die Durchsetzung des Rückbezugs auf die Wertsubstanz dieser Expansionsbewegung erzwingt.

Durch sie wird über die Marktpreisbildung den Einzelkapitalen die Anpassung an produktivere Produktionsbedingungen, die ansonsten Extraprofite erzielen würden, aufgezwungen. Ebenso führen günstigere Profitbedingungen in anderen Branchen zu Kapitalflüssen, d.h. Umverteilungen des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens zwischen den verschiedenen Bereichen, die erst die Herausbildung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate erzwingen.

Letzteres bedeutet eben auch, dass der Wert in der kapitalistischen Wirklichkeit eben auch nie „rein“ erscheint, sondern systematisch verzerrt als Kostpreis plus Durchschnittsprofitaufschlag. Gerade diese Vereinheitlichung der Bedingungen für die Einzelkapitale als Tendenz ist der reinste Ausdruck davon, dass sich im Kapitalverwertungsautomatismus die Herrschaft einer Kapitalistenklasse vermittelt: Das Wegräumen aller „ungleichen Bedingungen“, aller „ungerechtfertigten Bevorteilungen“ und „Überregulierungen“, die Vereinheitlichung der Ausbeutungsbedingungen, also kurz zusammengefasst die Vereinheitlichung der Konkurrenzbedingungen und deren institutionelle Sicherung ist die beständige Tendenz der bürgerlichen Klasse, die jedem ihrer Mitglieder „bei fair play“ seinen „verdienten“ Durchschnittsprofit, d.h. seinen Anteil an der Ausbeutung der Arbeiterklasse, garantiert.

Damit ist der Kampf gegen alle Einschränkungen für ihre Marktpreis- und Kapitalbewegung wie auch gegen die ihren Hunger nach Mehrwert einschränkende Arbeiterklasse das einigende Band der bürgerlichen Klasse. In der Herausbildung der Durchschnittsprofitrate drückt sich aus, „warum die Kapitalisten, so sehr sie in ihrer Konkurrenz untereinander sich als falsche Brüder bewähren, doch einen wahren Freimaurerbund bilden gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse“ (46).

Nationalstaat und Weltmarkt

In einer Gesellschaft, in der der gesellschaftliche Zusammenhang nur indirekt, über Konkurrenz und Markt hergestellt wird, muss die herrschende Klasse die allgemeinen Bedingungen weiterhin durch eine scheinbar unabhängige, „neutrale“ Instanz über den konkurrierenden Warenbesitzern regeln. Der bürgerliche Staat ist die Institution, die die „gleichen“ und „freien“ Bedingungen für alle Konkurrenzteilnehmer garantieren soll: er übernimmt die Kontrolle über das Geldwesen, die Regelungen für die Marktteilnahme, die Schlichtung bei Konflikten zwischen Warenbesitzern, die Regelung allgemeiner Arbeitsbedingungen, grundlegende Infrastrukturbereitstellung, etc. – je nach Entwicklung und Bedarf von Kapitalakkumulation und Klassenkampf-Situation. Letztlich ist er der bewaffnete Arm der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung der Kapital-Verwertungs-Gesellschaft.

Da die Herausbildung der bürgerlichen Klasse, die Herausbildung ihres Marktes und vor allem Arbeitsmarktes, sowie die Herstellung vereinheitlichter Konkurrenzbedingungen im Wesentlichen auf nationaler Basis erfolgte (also an bestimmte historisch, kulturelle, sprachliche etc. Bedingungen geknüpft war), ist es klar, dass die Herausbildung von bürgerlichen Staaten immer eine Bildung von Nationalstaaten war. Andererseits war keine andere Gesellschaftsformation so wie der Kapitalismus von Anfang an auf weltweite Expansion und Herausbildung eines Weltmarktes ausgerichtet. Die Unterordnung des staatlichen Organisationsprinzips gegenüber dem der Kapitalverwertung drückt sich darin aus, dass der wesentlichen Weltmarktbewegung des Kapitals keine Tendenz zur Herausbildung eines Weltstaates entspricht. Die „vereinzelten Einzelstaaten“ im Meer der überbordenden Kapitalbewegung sind für das Kapital Regulation genug und Garantie für die notwendige Bewegungsfreiheit seiner Verwertung.

In dieser einzelstaatlichen Aufsplitterung drückt sich aber auch die Unterschiedlichkeit von Bedingungen aus, die an sich die Bildung der Durchschnittsprofitrate beeinflussen: Unterschiedliche Geldwerte (Währungen), unterschiedliche Steuer- und Zollsysteme, unterschiedliche Konkurrenz- und Arbeitsregulierungen etc. Daher setzt sich auf dem Weltmarkt die Tendenz zur Bildung der Durchschnittsprofitrate auch in modifizierter Form durch, in dem sie für längere Zeitperioden auch sehr verschiedene Niveaus gesellschaftlicher Produktivität im Rahmen einer spezifischen internationalen Arbeitsteilung nebeneinander existieren lässt, um dann zu um so heftigeren Angleichungsbewegungen zu führen.

Daraus folgt einerseits, dass die Entwicklungsgeschichte der Durchsetzung der Wertform innerhalb der Geschichte nie abgeschlossen sein wird: Solange es keinen Weltstaat gibt, gibt es immer noch nationale „Schranken“ der freien Bewegung von Kapital und Arbeit, die einzureißen sind und die die Profitratenbildung und damit die Preisbildung modifizieren. Gerade die Herausbildung der EU zeigt, wie schwierig es auch heute noch ist, im entwickelten Kapitalismus solche nationalen Schranken zu überwinden. Andererseits muss die jeweils erreichte „Gleichgewichtssituation“ für die Herausbildung der internationalen, am Weltmarkt realisierbaren Durchschnittsprofitrate wenn schon nicht durch einen Weltstaat, so doch durch eine dominierende kapitalistische Nation „garantiert“ werden.

Die Vorherrschaft des britischen und später des US-Kapitalismus sowie ihrer jeweiligen Währungen auf dem Weltmarkt war jeweils entscheidend für die Garantie einer aufsteigenden Weltmarktbewegung des Kapitals. Zeiten der zugespitzten Konkurrenz um diese Führungsrolle dagegen sind Ausdruck des krisenhaften Umbruchs in den Grundbedingungen der weltweiten Kapitalverwertung.

Monopol und Imperialismus

Die Bourgeoisie ist also nicht nur durch ihre Konfrontation mit den Arbeitern zur Klassenbildung gezwungen; sie ist als nationale Klasse auch immer Staatenbildner in Konfrontation mit anderen nationalen Bourgeoisien. In der Krise hat die Bourgeoisie nicht nur die Optionen, zu schließen oder noch mehr aus den Arbeitern holen. Einzelnes Kapital kann immer auch vom Unglück der anderen profitieren; massenhafte Kapitalvernichtung bei anderen schafft wieder eigene Expansionsmöglichkeiten, gegebenenfalls durch Übernahme anderer Kapitale.

Genauso lassen sich günstigere Weltmarktpositionen dazu nutzen, das eigene Kapital auf Kosten der anderen zu sanieren. Mit der Tendenz zu Zentralisation und Konzentration des Kapitals geht daher die Herausbildung einer weiteren Modifikation der Durchsetzung des Wertgesetzes einher: die bestimmende Stellung großer Kapitale und ihre „Aufteilung“ bestimmter Sektoren des Weltmarktes mit wenigen anderen „Großen“, führt in diesen Bereichen zu einer weiteren zeitweisen Verzögerung von Ausgleichsbewegungen. Die bevorteilten „monopolistischen Sektoren“ können Extra-Profite auf Kosten anderer, schwächerer Kapitale erzielen.

Gerade in der Krise bewährt sich der Zusammenhang von großen Monopolen (sowohl als Produktiv- wie als Geldkapitale) und „ihren“ Nationalstaaten, die ihnen ihre besonderen Bedingungen und Vorteile im weltweiten Kapitalverwertungssystem beibehalten helfen. Umso klarer ist, dass alle bürgerlichen Staaten, die über keine solchen mit ihnen verbundenen großen Kapitale verfügen, zum Spielball der ökonomischen und politischen Großmächte werden. Sie können höchstens um die günstigsten Ausbeutungsbedingungen für „ausländische“ Kapitalzuflüsse buhlen oder ihre „minderbewerteten“ Rohstoffe und Fertigwaren billig gegen teure Monopolwaren tauschen.

Ihre nationale Bourgeoisie erhält dadurch ein Auskommen, dass sie durch (im Vergleich zu den Zentren) verschärfte extensive Ausbeutung jedoch beständig erhöhen muss – in der „ersten Liga“ jedoch können sie so nie mitspielen. In diesem System ist die soziale Explosion in der Peripherie genauso vorprogrammiert, wie die Versuche nationaler Bourgeoisien, sich aus ihrer untergeordneten Rolle zu befreien. Daher ist dieses System des monopolistischen Kapitalismus notwendigerweise „Imperialismus“: die Staaten der großen Monopole sorgen nicht nur mit ihrem erdrückenden ökonomischen Gewicht für die Aufrechterhaltung ihrer Weltordnung, sondern wenn es sein muss auch militärisch. Auf diese Weise setzt sich der Reichtum der „großen kapitalistischen Nationen“ dann auch notwendigerweise um in die „ungeheure Ansammlung von Waffen“.

Weit entfernt davon, in der Überakkumulationskrise die Nationalstaaten „aufzulösen“, braucht sie der Kapitalismus gerade dann als imperialistische Staaten. Auch wenn er den Staat in einigen für ihn „unproduktiven“ Bereichen zurückschneidet, um Revenue zu sparen, so gilt dies keineswegs für die „Kernbereiche“ des bürgerlichen Sicherheits-Staates. Wenn heute von der Machtlosigkeit des Nationalstaates gegenüber den globalen Kapitalflüssen gesprochen wird, so wird leicht vergessen, dass die kapitalistische Führungsnation USA weiterhin aufgrund ihrer Weltmarktposition, ihrer Geld- und Handelspolitik und letztlich ihrer militärischen Omnipräsenz für ihre Kapitale Renditemöglichkeiten schafft, die um einiges ihre realen Produktivitätsvorteile übersteigen. Ebenso klar ist, dass insbesondere das deutsche Kapital, als „Führungsnation“ des EU-Blocks langfristig, wie schon zweimal im letzten Jahrhundert wiederum „global leadership“ anstrebt, um in eine ähnlich komfortable Position zu kommen. Eine Tendenz, die zum schärfsten Ausdruck der kapitalistischen Krise unter monopolistischen Weltmarktbedingungen führen kann: zum imperialistischen Krieg.

Anti-Imperialismus

Auch wenn die „Anti-Deutschen“ gegenüber „Krisis“ richtig die Gefahr aufzeigen, die gerade auch wieder vom deutschen Imperialismus ausgeht, so sehen sie doch nicht den Ursprung dieser Gefahr in internationalen Kapitalbewegungen – heute ist es die Ordnung des US-Imperialismus, die weltweit für die Aufrechterhaltung eines Ausbeutungssystems sorgt, von dem auch das deutsche Kapital mitprofitiert.

Dies ist eine Ordnung, die nur durch den internationalistischen Kampf der Arbeiterklasse überwunden werden kann, die das enorme weltumspannende Produktiv-Potential für eine wirklich globale und nicht-diskriminierende Arbeitsteilung transformiert. Im Konflikt der Imperialisten kann eine solche Internationale nur defaitistisch auf beiden Seiten sein. Sie muss getreu Liebknechts Parole „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ für den Sturz der herrschenden Klasse kämpfen und dafür auch die Niederlage des „eigenen“ Landes in Kauf nehmen – und zwar, um den Kampf gegen den imperialistischen Krieg in einen internationalen Klassenkampf gegen den Imperialismus, also den imperialistischen Krieg in den revolutionären Bürgerkrieg zu transformieren.

Wenn also in der zugespitzten Krise die Bedeutung des Nationalstaates in den imperialistischen Zentren nicht zurückgeht, sondern im Gegenteil größer und gefährlicher wird, so stimmt es, dass in der „Peripherie“ des Imperialismus, Staat und Ökonomie um so mehr (wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen) zerrüttet werden. Während in einigen extremen Fällen der Staat ganz fragmentieren kann, so wird er in anderen Fällen repressivere Züge annehmen, die Hierarchie der „ungünstigen Bedingungen“ von sich, auf noch unterlegenere Regionen und Nationen weiterreichen. Von daher ist die Zunahme nationaler Konflikte nicht Ausdruck von irrationalen Auflösungstendenzen oder Rückfall in „ethnizistischen Separatismus“. Sie ist vielmehr die logische Konsequenz von realer Repression und Ausbeutung, die sich in nationaler, militärischer und ökonomischer Form immer unerträglicher macht.

Sicherlich sind heute irrationale Verzweiflungsmomente in den „anti-imperialistischen“ Bewegungen oder Aufständen häufiger, gerade weil die falschen Alternativen von Stalinismus und Dritte-Welt-Nationalismus große Enttäuschung hinterlassen haben, ohne dass an ihre Stelle eine neue massenwirksame Systemalternative getreten wäre. Umso größer wäre die Notwendigkeit, den Verzweifelten und Erniedrigten eine reale Perspektive zu geben, statt einfach ihre nationalistische Verblendung zu konstatieren.

Ein typisches Beispiel ist der Palästina-Konflikt: Das selbst vollkommen abhängige und krisengeschüttelte Israel kann sich nur mithilfe einer apartheidlichen, brutalen militärischen Unterdrückung gegenüber den Palästinensern halten. Gleichzeitig wird diese nationale Frage in der ganzen Region zum Hebel für Repression und diktatorische Regimes, wie auch zum Vorwand für imperialistische Militärpräsenz.

Natürlich liegt daher in der „nationalen Frage“ Palästinas eine ungeheure Sprengkraft für die gesamte, für den Imperialismus so wichtige Region. Ebenso ist klar, dass es keine bürgerlich-nationale Lösung dieses Problems geben kann, die für wirklichen Frieden sorgt (außer der Totalvernichtung irgendeiner Seite); denn die Errichtung eines lebensunfähigen palästinensischen Kleinstaates wird nur die Vorbereitung für die nächste Stufe der Konfliktverschärfung sein. Daher ist klar, dass nur ein multiethnisches, sozialistisches Palästina eine wirkliche Lösung für die Arbeiter und Bauern in der Region bedeuten kann; eine Lösung, die mit der imperialistischen Ordnung des gesamten Nahen Ostens natürlich in schärfsten Widerspruch steht.

Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution – nationale Konflikte im imperialistischen Zeitalter in antiimperialistische Bürgerkriege zu transformieren – bleibt daher weiterhin unvermeidlich. Diese Perspektive setzt jedoch eine starke, organisierte internationale Arbeiterbewegung voraus, die in den betroffenen Regionen auch die Führung der nationalen Befreiungskämpfe übernehmen kann. Fehlt diese Kraft, oder ist sie zu schwach, die bürgerlich-nationalistische Führung zu überwinden, so wird dieser Kampf zwangsläufig eine reaktionäre Wende nehmen.

Ohne daher Illusionen in irgendwelche „Völker“ und ihre „Führer“, oder „nationale Befreiungskämpfe“ zu schüren, gilt es Partei zu ergreifen gegen die imperialistische Kapitalverwertungsmaschine und ihren Unterdrückungsapparat und gleichzeitig an der Alternative zu bauen, die den von ihren mörderischen Verrücktheiten Betroffenen tatsächlich eine Perspektive bieten kann: einer weltweiten, kommunistischen Arbeiterinternationale zur sozialistischen Aufhebung des Kapitalverhältnisses.

 

Anmerkungen und Fußnoten

(1) Die Zeitschrift „Krisis“ (als „Marxistische Kritik“ begonnen) erscheint seit etwa 15 Jahren. Um sie gruppiert sich eine Strömung, der neben Robert Kurz z.B. Ernst Lohoff, Norbert Trenkle und Franz Schandl angehören. Wegen ihrer spezifischen regionalen Konzentration werden sie auch manchmal flapsig als „die Nürnberger“ tituliert.

(2) Justus Wertmüller, „Abschied vom Kommunismus – ein antideutscher Showdown“, bahamas, Nr.25, S.26, 1998.

(3) Ein grundlegendes „wertkritisches“ Werk von Postone, „Time, labour and social domination – a reinterpretation of Marx’s critical theory“ (1993) wird demnächst von der „Krisis“-Gruppe auch auf deutsch herausgebracht. In der deutschen Linken stärker rezipiert wurde der Artikel „Logik des Antisemitismus“ (1979).

(4) Siehe z.B. den unter Computer-Kids so beliebten Artikel von Stefan Meretz, „Freie Software ist wertlos – und das ist gut so!“, in: Stefan Meretz, „Linux+Co. Freie Software“, Nue-Ulm, 2000.

(5) Ernst Lohoff, „Determinismus und Emanzipation“, in: Krisis, Nr.18, S.60, 1996.

(6) Karl Kautsky, „Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund“, Nürnberg, 1915.

(7) Rosa Luxemburg, „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“, Werke Band 5, S.410f.

(8) Siehe: Ernest Mandel, „Die langen Wellen im Kapitalismus“, Ffm., 1983.

(9) Robert Kurz, „Marx 2000“, in: Weg und Ziel, 2/99, S.1.

(10) ebd., S.7.

(11) Ernst Lohoff, „Determinismus und Emanzipation“, in: Krisis, Nr.18.

(12) Ernst Lohoff, „Krise und Befreiung – Befreiung in der Krise“, Krisis, Nr.18, S.110, 1996.

(13) Ebenda

(14) Robert Kurz, „Marx 2000“, S.6.

(15) Ernst Lohoff, „Hello Mr. Postman. Replik auf die Krisis-Kritik von Clemens Nachtmann“, in Krisis Nr.20, S.158, 1998.

(16) Robert Kurz, „Das Ende der Nationalökonomie“, Beitrag für die Brasilianische Zeitung „FOLHA“, S.3, 1995.

(17) Ernst Lohoff, „Hello Mr.Postman“, in Krisis Nr. 20, S.159.

(18) Lohoff, Krise und Befreiung, S.126

(19) Ebd., S.104

(20) Ebd., S.104

(21) Ebd., S.120

(22) Ebd., S.102

(23) Robert Kurz, „Paranoia des Terrors“, Erklärung zum 11. September 2001.

(24) Ebenda

(25) Ebenda

(26) Ebenda

(27) Ebenda

(28) T.Ebermann/R.Trampert, „Die Offenbarung der Propheten. Über die Sanierung des Kapitalismus, die Verwandlung linker Theorie in Esoterik, Bocksgesänge und Zivilgesellschaft“, Hamburg, 1995.

(29) Robert Kurz, „Feierabend“, in „konkret“, 1/1994.

(30) Ebenda

(31) Robert Kurz, „Honeckers Rache. Zur politischen Ökonomie des wiedervereinigten Deutschland“, Berlin 1991.

(32) Ebermann/Trampert, siehe oben

(33) Clemens Nachtmann, „Wenn der Weltgeist dreimal klingelt“, in: „Krisis“ Nr.20, 1998.

(34) T.Ebermann/R.Trampert, „Die Offenbarung der Propheten“, S.54.

(35) Norbert Trenkle, Editorial von „Krisis“ Nr.25.

(36) Alle Zitate aus: Theodor W. Adorno, „Negative Dialektik“, suhrkamp, 1966.

(37) Robert Kurz, „Marx 2000“, S.2.

(38) MEW 32, S. 552 f.

(39) Georg Lukacs, „Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Arbeit“, Luchterhand, 1973.

(40) Karl Marx, „Kritik des Gothaer Programms. Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“, in MEW Band 19, S.20.

(41) Karl Marx, „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 42, S.603.

(42) Ebenda

(43) Ebenda, S.607.

(44) ebd., S.224.

(45) MEW Ergänzungsband I: „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, S.518.

(46) „Das Kapital“, 3.Band, MEW25, S.208.




Markenfetischismus und Sweatshops

Gerald Waidhofer, Revolutionärer Marxismus 33, Frühjahr 2003

Marken gelten in der Welt der Waren längst nicht mehr nur als Bezeichnung für besondere, am Markt zu kaufende Produkte. Ihr Anspruch, ihre Prägung der gesellschaftlichen Verhältnisse weit über den Konsums hinaus und die unterschiedlichen Formen der Kritik daran haben diesen Rahmen längst gesprengt.

Zwei Bücher sind in den letzten Jahren erschienen, die sich umfassend mit der Rolle der Marken wie der Markenkonzerne beschäftigen und in diesem Artikel ihren Niederschlag finden: Naomi Kleins Buch No Logo, das sich primär mit dem nordamerikanischen Bereich beschäftigt sowie das Schwarzbuch Markenfirmen von Klaus Werner und Hans Weiss, die sich verstärkt Konzernen im deutschsprachigen Raum widmen (1).

Schöne neue Markenwelt

In Zeiten der Globalisierung ist es gerade für international agierende Firmen zu einem wesentlichen Image geworden, die Welt zu integrieren. Die Werbestrategie der großen Marken bedient heute die Vision einer zusammenwachsenden Welt, die durch die Marken vernetzt wird. Selbst die Einkaufszentren präsentieren sich als globale Einrichtungen mit dem Bestreben, regionale Gewohnheiten zu überwinden.

Hinter der Fassade dieser schönen neuen Welt befindet sich allerdings eine Wirklichkeit, die in starkem Gegensatz dazu steht. Auf der einen Seite wird ein immenser Konsumdruck erzeugt. So campieren beispielsweise Jugendliche vor den Türen der Nike-Towns, wenn ein neues Modell von Sportschuhen angeboten wird. Um die begehrten Markenartikel zu bekommen, berauben und erstechen einige Kids einander sogar.

Auf der anderen Seite arbeiten Jugendliche als ‚Wegwerf-Arbeitskräfte‘ unter übelsten Produktionsbedingungen in den Slums der Modeindustrie. Für die Herstellung billiger Exportprodukte schuften sogar Kinder – weltweit etwa 12 Millionen. So etwa in der Produktion der offiziellen FIFA-Fußbälle für die Weltmeisterschaft oder als Hilfskräfte in der Herstellung von Spielzeugen für die Happy Meals, die Kindermenüs von McDonald’s. Auch in der Bekleidungsindustrie sind viele Fälle von Kinderarbeit von China bis Mexiko aufgedeckt geworden.

Fast alle Kleidungsstücke, die wir hierzulande von den großen Bekleidungs- und Sportartikelfirmen kaufen können, werden nicht mehr von diesen selbst hergestellt. Sie werden von Billigstproduzenten in Südostasien, Mittelamerika, Osteuropa und den Freihandelszonen in China produziert. Gemessen am Verkaufspreis eines Sportschuhmodells erhalten die Herstellerfirmen rund 12% und müssen davon die Material- und Produktionskosten bestreiten. Die Näherin selbst erhält durchschnittlich nur etwa 0,4%!! des Schuhpreises für ihre Arbeit.

Aufgrund des Druckes verschiedener Gewerkschaften, Kampagnen und humanitärer Organisationen wurden gelegentlich einige Missstände verringert. Viele große Unternehmen haben mittlerweile ‚Codes of Conduct‘ eingerichtet und beschäftigen Menschenrechtsbeauftragte. In der Regel sind diese Kodizes sehr ungenau, ohne Einbeziehung der direkt Betroffenen entstanden und ohne verbindliche Regelungen für ihre Durchsetzung. Es finden sich darin verständlicherweise weder das Recht auf Bildung unabhängiger Gewerkschaften und Betriebsräte, noch das Recht auf einen existenzsichernden Lohn. Diese Codes werden mit Vorliebe in den für die ArbeiterInnen nicht zugänglichen Empfangsräumen angebracht oder nicht in die Landessprache übersetzt. Sofern damit allerdings tatsächlich Verbesserungen eintreten und zusätzliche Kosten verbunden sind, müssen die Zulieferbetriebe mehr oder weniger selbst dafür aufkommen. So verbesserten eine Reihe von Sweatshops tatsächlich die Sicherheitseinrichtungen und verschärften ihre Kontrollen gegen Kinderarbeit. Aber dies geschieht vor allem durch eine Umschichtung der Ausgaben innerhalb der Betriebe. Die vermehrten Kosten werden durch Erhöhung der Arbeitsintensität oder Senkung der Löhne den ArbeiterInnen wieder abverlangt. Wenn die Sweatshops die angeforderten Verbesserungen aus eigenen Mitteln nicht schaffen, riskieren sie, dass ihr Abnehmer zu einem günstigeren Standort abwandert. Wenn sich etwa in Firmen in Taiwan oder Südkorea Gewerkschaften bilden können und damit die Löhne verbessern, verliert der Abnehmer sein geschäftliches Interesse. Immerhin waren die relativ hohen sozialen und ökologischen Auflagen in den imperialistischen Ländern ein wesentlicher Grund für die Auslagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Standards. Diese riskieren mit jeder sozialen Verbesserung, die ohne Verteuerung nicht zu haben ist, die Abwanderung der Abnehmer, also der Markenkonzerne, in ein kostengünstigeres Land. Zur Ermöglichung dieser Beweglichkeit werden teils auch die Fabriken mobil konzipiert. Jedenfalls liegt das Risiko einer Betriebsschließung voll beim Zulieferer und dessen Beschäftigten und nicht bei den Markenfirmen, welche jedoch durch ihre Monopolstellung die Abnahmepreise diktieren. So laufen die gelegentlich akzeptierten Verhaltenskodizes letztlich darauf hinaus, die durchgesetzten Verbesserungen auf der einen Seite durch Arbeitsplatzverlust oder zumindest Verschlechterungen auf der anderen Seite zu bezahlen.

Kinderarbeit

„Die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) schätzt, dass allein in Entwicklungsländern rund 250 Mill. Kinder zwischen fünf und vierzehn Jahren zur Arbeit gezwungen werden. Davon leben 153 Mill. in Asien, 80 Mill. in Afrika und 17 Mill. in Lateinamerika. ‚Viele von ihnen arbeiten unter Bedingungen, die ihre körperliche, geistige oder emotionale Entwicklung gefährden.‘

Die schlimmsten Formen der Kinderarbeit sind sexuelle Ausbeutung und Sklaverei. Zu Ersterer gehört die Prostitution und die Produktion von Kinderpornographie. Letztere umfasst auch die Schuldknechtschaft, bei der Kinder angebliche oder tatsächliche Schulden ihrer Eltern abarbeiten müssen.

Die Mehrheit der Kinder arbeitet ohne formelle Anstellung: in der eigenen Familie, auf dem Feld oder im eigenen Betrieb, aber auch in fremden Haushalten oder auf der Straße, zum Beispiel als Schuhputzer. Ein kleinerer Teil ist in Industrie und Landwirtschaft beschäftigt. Es wird geschätzt, dass insgesamt rund 12 Mill. Kinder unter vierzehn Jahren für den Weltmarkt produzieren.

Die ILO definiert Kinderarbeit prinzipiell als Erwerbstätigkeit bis zum Alter von achtzehn Jahren. Doch nur für Kinder bis dreizehn soll, so die Forderung, ein generelles Arbeitsverbot gelten. Im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn bzw. bis zur Beendigung der Schulpflicht dürfen Kinder nur mit leichten Arbeiten beschäftigt werden, die die Ausbildung nicht beeinträchtigen. Bis zum vollendeten 18. Lebensjahr gelten dann strenge Vorschriften hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen – etwa das Verbot von Nachtarbeit.“ (2)

Die Markenkonzerne weigerten sich bislang in der Regel, ein unabhängiges Kontrollsystem mit Einbeziehung von Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen zuzulassen. Sie ziehen Prüfmethoden vor, die sich eher für ihre Imagepflege eignen, und benutzen Gutachten von selbst bezahlten Institutionen oder noch besser – von eigenen Leuten. Solange zumindest die Überprüfung selbst finanziert wird, ist es auch einfacher, missliebige Ergebnisse zu verheimlichen.

Wenn all dies berechtigte Zweifel an der Zweckmäßigkeit solcher Codes weckt, stellt sich freilich die Frage, wofür sie überhaupt angenommen werden. Der wesentliche Grund dürfte neben dem Zugeständnis an die öffentliche Kritik vor allem einer sein: die Möglichkeit zur Verbesserung des Gewissens der KonsumentInnen. Ihnen soll wieder plausibel gemacht werden, dass sie und die Markenfirmen dieselben Interessen hätten und die Markenfirmen in Wirklichkeit Vorreiter in Sachen Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten in den bemitleidenswerten, armen Ländern wären. Die Wirksamkeit solcher Methoden kann daran abgelesen werden, dass tatsächlich viele KonsumentInnen glauben, die extremen Missstände würden der Vergangenheit angehören.

Um dem kritischen Bewusstsein der KonsumentInnen entgegenzukommen, haben einige dieser Unternehmen offiziell damit begonnen, in wohltätige Zwecke zu investieren. So stellt beispielsweise Nike-Town in Berlin seine MitarbeiterInnen für gemeinnützige Aktivitäten in sozialen Brennpunkten Berlins frei, um mit SozialarbeiterInnen Ballspiele mit Kindern und Jugendlichen zu organisieren. C&A finanziert ein Berufsbildungszentrum für ehemalige KinderarbeiterInnen in Indien, das jährliche Betriebskosten von etwa _ 40.000 erfordert. Deichmann rühmt sich christlicher Nächstenliebe für Notleidende in Tansania und Indien. Und Reebok präsentiert sich gar als „ethische Alternative“ der Schuhbranche.

Gemessen an Gewinnen und angerichteten Schäden sind diese Ausgaben allerdings außerordentlich gering. Ihr Zweck ist offenkundig kein anderer als die Imagepflege. Wenn Nike etwa für die Renovierung gemeindeeigener Basketballplätze sorgt, dann wird dort schon gebührend der Nike-Swoosh hinterlassen.

Ökonomische Situation der Markenfirmen im Bekleidungssektor

Firma Firmensitz Jahr Umsatz
(Euro)
Gewinn
Adidas Herzogenaurach (D) 2000 5,8 Mrd. 347 Mio.
C&A Brüssel (B) 1999 5,0 Mrd. unbekannt
Deichmann Essen (D) 1998 1,8 Mrd. unbekannt
DKNY New York (USA) 2000 1,2 Mrd. 23 Mio.
GAP San Francisco (USA) 2000 14,9 Mrd. 1,5 Mrd.
H&M Stockholm (S) 2000 4,1 Mrd. 438 Mio.
KarstadtQuelle Essen (D) 2000 14,6 Mrd. 222 Mio.
Levi Strauss San Francisco (USA) 2000 5,0 Mrd. 380 Mio.
Nike Beaverton (USA) 1999 9,5 Mrd. unbekannt
Otto-Versand Hamburg (D) 2000 23,4 Mrd. unbekannt
Reebok Canton (USA) 2000 3,1 Mrd. 90 Mio.
Tommy Hilfiger New York (USA) 2000 2,0 Mrd. 177 Mio.
Triumph International Zurzach (CH) 2000 1,5 Mrd. unbekannt

 

(Quelle: Schwarzbuch S. 220 – 320)

Auch wenn sich die hier beschriebenen Marken auf den Bekleidungsmarkt konzentrieren, sind Marken auch in andere Märkte vorgedrungen. Bekannt sind dabei vor allem die verschiedenen Marken bei Elektrogeräten, Fahrzeugen, Lebensmitteln, Medikamenten und in vielen anderen Sparten.

Für Aufsehen sorgten zum Beispiel die Skandale in der Spielzeugproduktion. Von zwölf chinesischen Fabriken, die für die Walt Disney Company produzierten, wurde im vergangenen Jahr berichtet, dass das Personal für ein Entgelt unter dem gesetzlichen Mindestlohn zu einer Arbeit bis zu 18 Stunden täglich, 7 Tage die Woche über Monate hinweg gezwungen wurde. Manche der Arbeiterinnen waren nicht einmal 16 Jahre, ihre Schlafsäle waren überfüllt und darüber hinaus wurden sie mit schikanösen Strafen bedroht. Die meisten Arbeiterinnen waren weder kranken- noch sozialversichert, die Auszahlung der Löhne erfolgte oft mit mehrmonatigem Rückstand, die meisten Überstunden wurden überhaupt nicht bezahlt. Gerade in der Produktion von Spielzeug für die bei Kindern beliebten Walt Disney-Figuren in den Happy Meals arbeiteten etwa in der Fabrik City Toys im Juli 2000 160 Kinder im Alter zwischen zwölf und dreizehn Jahren zwölf Stunden täglich. Als Reaktion auf diesen Bericht stoppte der Konzern die meisten seiner dortigen Aufträge, wodurch die Arbeiterinnen ihren Job verloren.

Neben der extremen Ausbeutung sind es auch die Arbeitsbedingungen, deren Offenlegung den Spielzeugmarkt beunruhigte. So kostete im Mai 1993 ein Brand in der ‚Kader Toy Factory‘ in der Nähe von Bangkok 188 Menscheleben, 469 wurden verletzt. Obwohl das nicht der erste gefährliche Brand war, gab es keine ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen. Sprinkler und Notausgänge waren nicht vorhanden, Fenster waren vergittert und Türen verriegelt. Manche Arbeiterinnen waren erst 13 Jahre, manchmal wurden sie zu 19 Stunden durchgehender Arbeit gezwungen und der Tageslohn von $ 2,50 unterschritt den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Sie stellten Spielwaren für die US-Konzerne Mattel und Hasbro her.

Einige Monate später wurden in der ‚Zhili Handicrafts Factory‘ in einer Freihandelszone im Süden Chinas, wo Spielwaren für den italienischen Konzern Artsana S.p.A./Chicco hergestellt wurden, durch einen Brand 87 ArbeiterInnen getötet und 47 schwer verletzt. Ihr Monatslohn bewegte sich zwischen 26 und 40 Euro und die Fabrik war aus Angst vor Diebstahl zu einer Art Gefängnis ausgebaut worden. (3)

Wenn die besonderen Ausbeutungsformen bei der Herstellung von Markenprodukten oftmals für Aufsehen sorgen, dann heißt das keineswegs, dass die ‚No-Name-Produkte‘ unter besseren Bedingungen hergestellt werden. Bei ihnen ist lediglich der Kontrast zwischen dem verkauften Image und der Realität in der Produktion nicht so eklatant.

Internationale Abhängigkeit

Seit der kolonialen Eroberung und Aufteilung der Welt werden große Mengen an Rohstoffen und Waren aus den Kolonien geliefert. Seit etwa einem Jahrhundert, also mit Beginn der imperialistischen Epoche, kommt als Trend hinzu, dass auch Teile der Produktion in die ökonomisch weniger entwickelten Teile der Welt verlagert werden. Vor allem das überschüssige Kapital aus den entwickelteren imperialistischen Ländern sucht sich weitere rentable und strategische Anlagemöglichkeiten. Die Entwicklung der Produktivkräfte und die damit verbundene Erhöhung der Produktivität der Arbeitskraft bringt den vermehrten Einsatz von Maschinerie mit sich, was den Anteil der lebendigen Arbeit im Vergleich zur toten, in Maschinerie vergegenständlichten Arbeit reduziert. Wert (und insbesondere der für den Profit entscheidende Mehrwert) kann jedoch nur durch lebendige Arbeit, durch Arbeitskräfte geschaffen werden. Mit der verallgemeinerten Durchsetzung einer neuen, auf Reduktion des Einsatzes von Arbeitskraft zielenden Herstellungsweise sinkt die Profitrate, da nun nur noch aus wenigen Arbeitskräften ein Mehrwert (also jener in Waren verkörperte Arbeitseinsatz, der über die Deckung der Lebenskosten der ArbeiterInnen hinausgeht) gezogen werden kann. Durch die Senkung der Lohnkosten kann diese Tendenz vorübergehend aufgeschoben oder gar revidiert werden. Daher gibt es eine Tendenz der Konzerne, in Bereiche vorzudringen, in denen sie die Lohnkosten gering halten können.

Das ökonomische Ungleichgewicht wird durch den Kapitalexport in unterentwickelte Länder nicht verringert, sondern in ungeheurem Ausmaß noch verfestigt. Selbst die formale Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien wird damit zu einem wenig bedeutsamen Etikett. Lenin nennt diese Länder darum ‚Halbkolonien‘, also „Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind.“ (4)

Dass im Kapitalismus Produktion in diese Halbkolonien abwandert, hat eine Reihe von Gründen. Dazu gehören sicherlich die geringeren gesetzlichen Auflagen für Umweltverträglichkeit oder Arbeitsplatzausstattung sowie die Möglichkeiten der Einflussnahme auf politische und damit staatliche Verhältnisse. Ökonomisch gesehen stellen die Halbkolonien aber auch ein riesiges Reich von „Billiglohnländern“ dar. Dieser Umstand zieht vor allem den Teil der Produktion an, in welcher die technische Ausstattung relativ gering ist. D.h., dass jene Hersteller, bei denen der Anteil der Ausgaben für die Ware Arbeitskraft im Verhältnis zu den Ausgaben für die Produktionsmittel noch relativ hoch ist, sich vorzugsweise dort niederlassen, wo die Löhne am niedrigsten sind.

Für ihre „milde Gabe“ an Arbeitsplätzen fordern die Konzerne Steuerbegünstigungen und diverse Sonderrechte, werden nationale oder lokale Regierungen bestochen oder bedrängt, Repressionsapparate finanziert und rückständigere nationale Wirtschaftsformen zunehmend an die Wand gespielt und – wo sie dem Konzern direkt im Weg stehen oder sich zur Konkurrenz entwickeln könnten – mit wirtschaftlicher, politischer oder repressiver Macht erdrückt.

Infolge dieses Prozesses bildeten sich in den Halbkolonien eine immer direkter werdende Abhängigkeit und eine riesige Armee billigster Arbeitskräfte, die für die international agierenden Konzerne eine willkommene Möglichkeit für extremste Ausbeutung darstellen. Sie können mit Rückendeckung durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds Arbeitsbedingungen etablieren, die ziemlich alle Grausamkeiten aus der Zeit der frühkapitalistischen Entwicklung wiederholen. In der Folge werden Rechtsbrüche durch diese Konzerne gebilligt und die Mindestlöhne werden sogar unter das Existenzminimum gedrückt. Selbst Sklaverei und Kinderarbeit erleben wieder eine neue Blütezeit. An der Elfenbeinküste beispielsweise wird ein Kind mit einem Wert von unter 30 Euro gehandelt. Etwa 200.000 Kinder wurden in den letzten Jahren in Westafrika als Sklaven verkauft.

Das sind nur einige Beispiele dafür, was die Unterschiede im Entwicklungsniveau verschiedener Länder unter globalen kapitalistischen Bedingungen bedeuten. Diese Bedingungen heben die Ungleichmäßigkeiten nicht auf, sondern vergrößern und kombinieren sie. Trotzki erfasst dies als Gesetzmäßigkeit:

„Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein anderes Gesetz, das man mangels passenderer Bezeichnung das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann, im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitlicher Formen.“ (5)

In rund 70 Ländern wurden inzwischen sog. Freihandelszonen bzw. Exportproduktionszonen geschaffen, in denen etwa 30 Mill. Menschen beschäftigt sind. Diese Zonen sind isolierte, zoll- und steuerfreie Wirtschaftsräume, die wie kleine Militärstaaten konzipiert sind und den zuständigen Regierungen wenig Eingriffsrechte belassen. Dort befinden sich die billigsten Werkstätten für die billigsten Arbeitskräfte. In der in diesen Zonen stattfindenden Produktion der Markenwaren verschwindet die Konkurrenz des Verkaufs häufig in einer umstandslosen gemeinsamen Herstellung. Anstelle der aufdringlichen Markenpräsentation findet sich hier das Prinzip der Geheimhaltung. Kein Wunder: sechs bis sieben Arbeitstage die Woche mit bis zu 16 Stunden, unglaubliche Arbeitsbedingungen mit Strafsystemen und Misshandlungen durch Aufseher, Löhne unter dem vorgeschriebenen Minimum oder gar unter dem Existenzminimum, Verfolgung von Gewerkschaften usw. – all das schadet dem Image der Marken! Es zeigt nämlich nicht ihr strahlendes Gesicht des globalen Zusammenwachsens, sondern ihre reale Neigung zur Suche nach billigsten Zulieferern mit den hungrigsten und wehrlosesten ArbeiterInnen. Ihr aufgeblähter Konkurrenzkampf in der Verkaufsarena der Marken wird ermöglicht durch den Konkurrenzkampf der Zulieferer. Es handelt sich tatsächlich um einen internationalen Verarmungswettbewerb, der mehr oder weniger gut verschleiert wird.

Auch eine Verbesserung der Lage durch die Nutzung der oftmals reichlich vorhandenen natürlichen Ressourcen ist nicht möglich, weil diese von ausländischen Firmen kontrolliert werden und die Rohstoffpreise im Vergleich zu jenen der Industriegüter zunehmend sinken. Selbst die Besteuerung der riesigen Exportgewinne erweist sich hier nicht als eine ausreichende Einnahmequelle, weil einerseits die internationalen Finanzinstitute keine ernsthaft spürbare Besteuerung dulden, andererseits im internationalen Konkurrenzkampf um Investoren die Steuern nach unten gedrückt werden.

Um diese ökonomische Kontrolle abzusichern, intervenieren die Firmen auch mehr oder weniger direkt im Bereich der politischen Gestaltung. Dabei sind polizeiliche und militärische Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Die Finanzierung brutaler Militärregimes, die gezielte Anfachung von Bürgerkriegen oder die Nutzung des Geschäfts mit Waffen – das sind alles keine extremen Ausnahmen, wenn es um die Sicherung und Vermehrung des Profits geht. So kooperierte etwa Royal Dutch Shell in engster Weise zwischen 1966 und 1999 mit den Militärdiktaturen Nigerias. Dem Konzern wurde vorgeworfen, das Militär zu bezahlen und als Privatpolizei gegen die Proteste der Einheimischen einzusetzen. In dieser Zeit hat sich der unterhalb der Armutsgrenze lebende Anteil der Bevölkerung mehr als verdoppelt. Korruption, Verfolgungen, Massenverhaftungen und Exekutionen gehörten ebenso zum üblichen Erscheinungsbild dieser Zusammenarbeit wie die umfassende Zerstörung der Umwelt und damit der Landwirtschaft, sowie die massive Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung. In dieser Weise zog Shell seine Spur über den gesamten Globus: vom südafrikanischen Apartheidregime über das indonesisch besetzte Osttimor bis in das peruanische Amazonasgebiet.

Im Kongo hat ein 1998 entfesselter Krieg bereits Millionen Tote und unzählige Opfer durch Krankheit und Hunger gefordert. Willkürliche Hinrichtungen, sogar Massentötungen stehen dort auf der Tagesordnung. Durch den außerordentlichen Reichtum an Edelmetallen, Diamanten und Erdöl konzentriert sich der Krieg vor allem auf den Zugriff darauf. Viele Industriekonzerne, welche sich für diese Rohstoffe interessieren, gelten mittlerweile als eigene Kriegsparteien – sei es auf der Seite der Armee oder jener der Rebellen.

Gleichzeitig wird in den Ländern mit den am weitesten entwickelten Produktivkräften – wenn es die Profite vergrößern kann – die Produktion verringert oder ganz abgebaut. Die TextilarbeiterInnen sind davon besonders betroffen. Aber nicht nur sie werden durch billiger arbeitende KollegInnen in entfernten Regionen der Welt ersetzt. Auch die firmeneigene Fabrik wurde zunehmend ersetzt durch beauftragte Zulieferbetriebe. Statt sich mit dem Bau und dem Erhalt von Fabriken, der Beschaffung der Maschinen, der Einteilung der Beschäftigten usw. zu beschäftigen, suchen die Markenkonzerne heute global nach dem billigsten Anbieter.

Unter diesem Druck verloren auch in den imperialistischen Ländern unzählige TextilarbeiterInnen Vollzeitarbeitsplätze und sahen sich häufig gezwungen, befristete Jobs, Teilzeit-, Aushilfs- und Heimarbeit anzunehmen. Die Sicherheit der Arbeitsplätze verringerte sich ebenso wie die Standards der Arbeitsbedingungen und die Löhne. Zur Umgehung von Sozialleistungen und gesetzlicher Auflagen boomt auch das System der sog. Leiharbeit. Komplette Abteilungen von Firmen werden von Agenturen übernommen, die als Auftragnehmer für den erforderlichen Aufgabenbereich das Personal zur Verfügung stellen. Mithilfe dieses Abbaus der Standards von Arbeitsplätzen und den Auslagerungen konnten viele Konzerne nicht nur ihre Gewinne in die Höhe treiben, sondern auch ihre Flexibilität vergrößern. Wer sich mit der gewachsenen Macht und Beweglichkeit der Konzerne einen Zuwachs an Arbeitsplätzen erhoffte, wurde bitter enttäuscht – es vergrößerte sich lediglich der Druck auf die noch regulär beschäftigten Arbeitskräfte, die immer mehr zu einer Minderheit der erwerbsfähigen Erwachsenen wurden. So konnten die 100 größten Konzerne der Welt von 1990 bis 1997 einen Anstieg ihres Gesamtvermögens um 288 % vermerken, was aber 1998 die US-Konzerne nicht daran hinderte, 677.000 Dauerarbeitsplätze abzubauen. (6)

Die Entwicklung der Marken

Auch wenn die Menschen noch nie so umfassend ‚markiert‘ wurden wie heute, ist die Hervorhebung von Marken und die Verwendung von Werbung keine völlig neue Erscheinung. Historisch gesehen finden sich die ersten massiven Marketingstrategien bereits Mitte des 19. Jahrhunderts. Am Beginn standen für heutige Verhältnisse kleine Anzeigen für die Vermarktung neuer Erfindungen. Mit der Durchsetzung der Fabrik als üblicher Produktionsstätte wurde der Markt immer mehr von industriell gefertigten Massenprodukten überschwemmt, die kaum noch zu unterscheiden waren. Die direkten Beziehungen zwischen den KundInnen und ProduzentInnen im Verkauf von Waren wurden verdrängt durch die Beziehung zwischen KäuferInnen und VerkäuferInnen im Einzelhandel. Bestellte Produkte wurden ersetzt durch unbestellte Massenwaren für einen anonymen Markt, deren Erscheinungsbild für den Verkauf mitentscheidend wurde. Das war die eigentliche Geburtshilfe für eine Werbung in dem Sinne, dass sie nicht mehr eine bloße Information über das zu verkaufende Produkt darstellte, sondern auch ein Image schuf. Sie war ein „Zusatz“ für die produzierenden Unternehmen, um den Verkauf der Produkte zu verbessern. (7)

Nachdem der Kauf von Waren nicht mehr aus dem Gespräch mit den ProduzentInnen resultierte, sondern aus einem Gespräch mit VerkäuferInnen, wurden schließlich auch diese in den Hintergrund gedrängt – durch die besondere Erscheinungsform der Waren. Das Verkaufsgespräch wurde sozusagen verdinglicht, d.h. ersetzt durch die Gestaltung der Ware, die Verpackung, die Auslage der Geschäfte und die massenmedialen Werbeträger. Das für den Verkauf benötigte Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisstruktur und die Schwächen der Kundschaft wurde damit nicht mehr dem Personal überlassen, sondern durch ein Image ersetzt. Das Geschäft konnte sich damit zu einem ‚Selbstbedienungsladen‘ transformieren, in dem das Verkaufgespräch als ’stumme Zwiesprache‘ zwischen der Kundschaft und der mit der Werbung assoziierten Ware stattfindet. Auf diese Weise konnte das industrielle Kapital wieder „direkt“ in Kontakt zu den KäuferInnen treten. Das Medium dafür war die überregionale Werbung.

Der Einzelhandel musste sich durch seine damit insgesamt zurückgedrängte Bedeutung zunehmend verschiedene Bedingungen durch die Markenfirmen diktieren lassen. Die Reaktion des Handels bestand in der Folge darin, auch Marken zu schaffen – Handelsmarken als Gegengewicht zu den Industriemarken.

Eine Marke ist nicht nur eine ökonomische Kategorie. Sie umfasst ebenso eine rechtliche Verankerung und eine ästhetische Konzeption. Um innerhalb der industriellen Massenproduktion die Unverwechselbarkeit der eigenen Produkte abzusichern und konkurrierende Unternehmen in eine nachteilige Situation zu bringen, erwirken die Firmen einen rechtlichen Schutz für ihr Markenzeichen. Erst dieses rechtlich geschützte Zeichen macht aus einer industriell gefertigten Massenware eine unverwechselbare Markenware. Es rückte die Kapitalherkunft gegenüber dem Gebrauchswert in den Vordergrund. Mit dem Aufkommen von Markenartikeln, die eine aufwendige Inszenierung mit sich brachten, trat die ästhetische Gestaltung in den Vordergrund und löste sich zunehmend von der eigentlichen Ware ab.

Vor allem seit der Rezession Mitte der 1980er Jahre galt als zahlreichen Unternehmen als Credo, Produkte nicht mehr selbst herzustellen, sondern sich auf die Schaffung und Vermarktung von Marken zu konzentrieren. Dieser Trend löste die Markenfirmen von der Produktion ab und lenkte ihr Augenmerk auf den An- und Verkauf von Fertigprodukten. Die Produktion wanderte ab in jene Regionen der Welt, die dafür die geringsten Kosten bedeuten. So sehen beispielsweise die Markenfirmen in Bekleidungs- und Sportartikelbranche heute ihre Funktion vor allem beim Design und in der Werbung. Tommy Hilfiger etwa versteht sein Geschäft nicht im Herstellen, sondern im Signieren von Kleidung. Erleichtert wurde diese Entwicklung durch die Reform des Arbeitsrechts und die Liberalisierung des Handels.

Die Dimension dieser Verschiebung offenbarte sich spätestens 1988, als der Kraft-Konzern durch Philip Morris zum sechsfachen Buchwert aufgekauft wurde. Das zeigt die bedeutende Rolle der Werbung als eine, die längst ihre Funktion als bloße Verkaufsstrategie überwunden hat. Bei Coca-Cola wird der Wert der Marke mit 96% des Unternehmenswertes veranschlagt. Die dazugehörige Werbung ist zweifellos unverzichtbar. Allein Nike gibt für Werbung jährlich beinahe 1 Mrd. US-Dollar aus. Das ist aber nur etwa ein Promille der Gesamtausgaben aller amerikanischen Unternehmen für Marketing Mitte der 1990er Jahre.

Es zeichnet sich ein doppelter Trend ab. Zum einen bewähren sich jene Unternehmen, die sich als Discounter für lebensnotwendige Güter durch niedrige Preise behaupten können; andererseits gibt es jene, die das Marketing über die Preispolitik stellten, für die also das zu verkaufende Produkt nur noch als Erscheinung der Marke als eigentliches Wesen gilt. Mehr denn je kehrt diese Renaissance der Marken ihre Botschaften hervor: Als eigentlich zu verkaufendes Produkt gilt die Marke, das reale Produkt als zweitrangig. Die Ware gilt nicht mehr als Objekt, sondern nur noch als Instrument des Marketings. Auch die Werbung löst sich zunehmend von der Präsentation von Waren und verlegt sich mehr auf die fast spirituelle Darstellung eines Lifestyles rund um die Marke. Die Werbeagenturen werden damit zu Markenpflegern, die sich um das Image der Marke und die Verbreitung ihrer „Philosophie“ bemühen. Es sieht mittlerweile so aus, dass Polaroid, IBM und Swatch nicht einfach Kameras, Computer und Uhren verkaufen, sondern ein soziales Schmiermittel, Problemlösungen und die Idee der Zeit. Es ist inzwischen üblich, dass sich die VertreterInnen von Markenfirmen als Philosophen zu verstehen geben.

„Die Markenmanie hat einen neuen Typ des Geschäftsmanns hervorgebracht. Er verkündet mit stolzgeschwellter Brust, die Marke X sei kein Produkt, sondern ein Lebensstil, sei eine Haltung, ein Wertesystem, ein Aussehen, eine Idee.“ (8)

Während diese ‚Philosophen‘ unsere Aufmerksamkeit in den Himmel ihrer Ideen lenken, erobern die Konzerne, die sie vertreten, die irdischen Werte. Sehen wir heute die weltweit 100 größten Wirtschaftsmächte an, dann finden wir keineswegs eine Reihenfolge verschiedener Staaten. Vielmehr können wir feststellen, dass diese gegenüber verschiedenen Unternehmen bereits in der Minderheit sind. So ist der Umsatz von General Motors beispielsweise größer als der von Dänemark oder etwa der von Wal-Mart, Exxon-Mobil, Ford oder DaimlerChrysler jeweils größer als der von Ungarn, der Tschechischen Republik und Neuseeland zusammengenommen. (9)

Ökonomische Funktion der Marken

Was sind nun eigentlich Marken? Sie entstanden vor dem Hintergrund der verallgemeinerten Warenproduktion. In dieser erscheint das zugrunde liegende gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten vermittelt über das Verhältnis ihrer Arbeitsprodukte, in denen sich bestimmte Quanta gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit vergegenständlichen.

Das schlägt sich im Bewusstsein aller Gesellschaftsmitglieder unwillkürlich nieder. Je mehr der Kapitalismus alle Lebensverhältnisse bestimmt, desto mehr verfestigt sich dieser Schein. Der Preis einer Ware erscheint als Eigenschaft des Produktes und nicht als gesellschaftliches Verhältnis, das nur im Austausch, nur im Verhältnis zwischen Menschen seine Bedeutung erhält.

Diese „Täuschung“, dieser Fetischcharakter der Ware, der so alt ist, wie die Waren selbst, legt nun die Grundlage für die Existenz und Bedeutung von Marken. Es ist die Mystifikation des allgemeinen Warentausches, die erst mit der Überwindung des allgemeinen Warentausches ihr Ende finden kann.

Marken sind zunächst nichts anderes als Warenzeichen zur Kennzeichnung bestimmter Produkte im Unterschied zu anderen. Aber sie drücken schon bald auch das Versprechen an die KäuferInnen aus, mit dem Kauf der angebotenen Ware mehr als den konkreten Gebrauchswert zu erhalten.

Für den Käufer erscheint es so, als wäre die Marke eine Eigenschaft des Produktes. „Das ist ein Mercedes.“ ist eine Aussage, die für uns klar und verständlich erscheint. Doch hundert Jahre zuvor hatte diese Aussage noch keine Bedeutung. Heute scheint der Name für sich selbst zu stehen. Die Marke „Mercedes“ steht für (deutsche) Qualität, Leistungsfähigkeit … und ist ein Auto. Der Besitzer des Mercedes ist kein profaner „Autofahrer“, sondern ein Mercedes-Fahrer, der sich im Straßenverkehr oft genug auch so benimmt.

Der Name hat eine Selbständigkeit erlangt, die mit dem Produkt selbst, dem Gebrauchswert, nicht unbedingt oder auch gar nicht in Relation stehen muss.

Der Markenfetisch fußt auf dem Warenfetisch, er ist eine Weiterentwicklung.

Solange die Ware Ware bleibt, haftet ihr dieser Fetischcharakter an. Er entspringt nicht der Werbung und deren Versuchen, uns ein Produkt schmackhaft zu machen, und kann daher nicht allein durch „Antiwerbung“ aufgehoben werden. Die modernen Werbestrategen nutzen diesen Fetisch nur aus.

Je mehr die Marke in den Vordergrund rückt, desto weiter weg rückt sie von ihrem Entstehungsprozess, von der Produktion. Die Markenwelt erscheint als eine Märchenwelt, losgelöst von der banalen Realität der Sweatshops, als Spiel des virtuellen Skorpions (she. nike-Homepage). Während die Marke das Image, das Feeling, die Wunderwelt des Irrealen schafft, wird der Name der eigentlichen Firma, die das Produkt herstellt, zu einem absoluten No-Name, zu einer völligen Unbekannten, so dass selbst für Interessierte schwer nachvollziehbar wird, wo, wie und unter welchen Umständen die Produktion dieses mit Fetischen behafteten Produktes eigentlich vor sich ging.

Mit der Entstehung verschiedener, miteinander konkurrierender Industrie- und Handelsmarken ist eine enorme Erhöhung der Ausgaben für Werbung verbunden. Während viele MarkenkritikerInnen die hohen Werbekosten, die für die Erstellung des spezifischen Markenimages verausgabt werden, als moderne Form der Betrügerei sehen, erkennen sie nicht, dass diese überhöhten Preise sowohl aufgrund der Monopolstellung dieser Konzerne möglich als auch zur Verteidigung dieser Monopolstellung erforderlich sind.

Marken spielen vor allem im Bereich der industriell gefertigten Massenkonsumgüter eine entscheidende Rolle. Solange die Arbeiterklasse kaum genug Einkommen hatte, ihr Überleben zu sichern und die wenigen Produkte für ihren Unterhalt auf einem lokalen Markt gefertigt wurden, war die Entwicklung von Marken für die Masse der Bevölkerung irrelevant.

Aber die industrielle Großproduktion führte rasch zur Schaffung größerer Kapitale im Konsumgütersektor und im kommerziellen Sektor. Die lokalen Produzenten und Händler wurden durch größer und größer werdende Unternehmen, die einen überregionalen, nationalen oder internationalen Markt bedienten, verdrängt.

Dabei machten die Lohnabhängigen immer die Erfahrung, dass die Konsumgüterindustrie durch schlechte Qualität der Produkte und überhöhte Preise zusätzliche Gewinne einfahren wollte.

Die Schaffung von Industrie- und Handelsmarken hatte daher immer auch das Ziel, die Kunden durch ein mehr oder weniger imaginäres „Qualitätsversprechen“ an die jeweilige Marke zu binden.

Die Etablierung bestimmter Marken wurde zudem auch zum Mittel, Marktanteile gegen Konkurrenten abzusichern. Der Produzent einer bestimmen Getränkesorte – sagen wir Coca Cola – will sicherstellen, dass möglichst nur seine Marke (und nicht Pepsi-Cola) gekauft wird. Wie kann er das aber schaffen, wenn sich beide Produkte nicht oder kaum voneinander unterscheiden? Neben dem rechtlichen Schutz der Marke, Rechte an Patenten, Dumping, Einflussnahme auf die Verkaufswege und anderen Monopolisierungsstrategien, vor allem dadurch, dass mit dem Kauf von Coca Cola auch gleich ein ganzes „Lebensgefühl“ versprochen wird.

Bedürfnis nach Marken

Das Markenprodukt wird angepriesen durch ein propagiertes Image einer besonderen Qualität. Diese besondere Qualität soll beispielsweise in Zeit ausgedrückt eine besonders langanhaltende Konsummöglichkeit beinhalten oder auch den Vorteil eines kurzzeitigen Konsums. Ersteres soll dem Wunsch entgegenkommen, für das Bezahlen eines höheren Preises eine entsprechend erhöhte Konsumdauer zu erhalten. Letzteres kommt etwa bei Fertigspeisen, Reinigungsmitteln oder Verkehrsmitteln zum Tragen, d.h. als versprochene Zeitersparnis im Zuge der Essenszubereitung, einer Reinigung oder eines Transports. Was hier geschieht, ist die „Verkürzung von individueller Konsumtionszeit durch »Fertigpräparate«, die mit verlängerter gesellschaftlicher Produktionszeit bezahlt werden.“ (10)

Eine Marke ist ein Symbol für den Versuch, den Konsumenten zu überzeugen, dass der Konsum des Markenproduktes seine Lebensqualität erhöhe. Das kann aber auch bedeuten, dass er dafür seine Lebensgewohnheiten verändern muss. Schließlich geht es den auf Marken basierenden Unternehmen nicht nur um den Verkauf einer Ware, sondern um eine möglichst weitgehende Vereinnahmung der Kundschaft, die Prägung ihres Lebensstiles. Zur Durchsetzung eines an eine Marke angelehnten Lebensstils wird – nach einem Ausdruck von Klein – eine ‚Marktspirale‘ entwickelt. Diese beginnt normalerweise mit einer Fusion zwischen Markenfirmen als einfachster Form der Markenerweiterung. Dann bemüht sich die vergrößerte Marke, sich möglichst zu verselbständigen und den Bereich von Medien und Unterhaltung bis hin zum Profisport mit wechselseitig verkaufsfördernden Eindrücken zu versehen. Durch solche Marktspiralen kommt es zu einer Vermischung von Einzelhandel und Unterhaltungsindustrie und erbitterten Kämpfen zwischen konkurrierenden Markenlagern. (11)

Aber nicht nur eine Veränderung des Lebensstils – ausgehend von den Einkaufsgewohnheiten – ist für das Überleben der Marke entscheidend. Vielmehr muss sie sich auch selbst immer wieder neu erfinden. Sie muss sich mit dem Wandel der Zeit auch selbst verwandeln, in Mode bleiben und damit eine ästhetische Innovation durchführen, um ihre Marktfähigkeit zu erhalten. Nur damit kann sie den Konsum durch kurzlebige Produkte erhöhen und ihre Konkurrenten überholen.

Als gängige Methoden zur Durchsetzung einer Marke auf dem Markt beschreibt Klein einen Preiskrieg, der die Konkurrenten unterbietet, eine möglichst häufige Präsenz ihrer Verkaufsstellen und ein Superstore in bester Lage als dreidimensionale Markenwerbung.

Für die erste Methode ist Wal-Mart als weltweit größter Einzelhändler ein gutes Beispiel. Das Rezept besteht darin, an Orten mit geringer steuerlicher Belastung größere Läden als die Konkurrenz zu bauen, riesige Produktmengen verbilligt einzukaufen und möglichst billig anzubieten. Werbekosten sind dabei relativ gering und durch eine nur schrittweise Ausbreitung von dominierten Gebieten aus werden auch die Transportkosten nicht zu hoch.

Dieser Billigkonsum, der dem Bedürfnis nach sinnlicher Stimulation und Interaktion beim Einkauf nicht mehr entgegenkam, produzierte wiederum eine Nachfrage nach Marken, die diesem Bedürfnis besser entsprechen. Orientiert auf diese Nachfrage und mithilfe eines dichten Filialennetzes konnte sich beispielsweise Starbucks durchsetzen.

Der Superstore schließlich ist als zentrale Einrichtung zur Markenpräsentation eine Konzentration des Marketings durch wechselseitige Markenverstärkung mit Elementen eines Überganges zum Freizeit- und Multimediapark. Es ist als eine Art ‚Allerheiligstes‘, das Vorzeigeprojekt der elitären Lifestyle-Marken für die Kundschaft der Marken-Fans, denen kein Preis zu teuer ist. So ist es etwa Nike gelungen, seine Nike Towns als eine Art Sporttempel erscheinen zu lassen.

Als Steigerung dessen gibt es dann noch Markenferien, eigene Kreuzfahrten, Siedlungen usw., wo die Marke „lebendig erfahren“ werden kann und das Leben wie in der Werbung erscheint. (12)

Ideologische Funktion von Marken

Das Zeitalter der Marken erscheint so, als ob die Wertevermittlung und Sinnstiftung, die durch Religion und Politik geschah, zunehmend durch die Ökonomie übernommen wird. Das Vordringen der Marken in die Ideologieproduktion geht Hand in Hand mit der Entwertung der traditionellen Wertebildner und ihrer Ersetzung durch Images.

Unmittelbar betroffen von den expansiven Markierungsbestrebungen sind zunächst die Beschäftigten in den Firmen selbst: Sie sind auserkoren zur weitreichenden Umsetzung der Unternehmensmythologie, sie erhalten passende Bezeichnungen, werden auf einen markengerechten Jargon eingeübt, mit eigenen Liedern ausgestattet, einer entsprechenden Lifestyle-Philosophie versorgt und müssen rundum auf die Designkonsistenz achten.

Von hier aus entfalten die Markenfirmen eine Wirkung, die in ihrer Dimension kaum eine gesellschaftliche Nische unberücksichtigt lässt. Ihr Vordringen geschieht in einer Form, die alle Einrichtungen, die eine ideologiebildende Funktion innehaben, zurückdrängt. Kirchen und Schulen, politische Organisationen und kulturelle Institutionen, alle ideologischen und bewusstseinsbildenden Instanzen verlieren an Boden, der durch das Marketing besetzt wird. Mithilfe der Werbung verbinden die Markenfirmen den Konsum ihrer Produkte mit befriedigenden Dingen oder einem ersehnten Image. Die Marken reizen Bedürfnisse, vermitteln eine ästhetische Befriedigung und hinterlassen einen abgespaltenen unbefriedigten Teil, der das Bedürfnis bestehen lässt. Sie verarbeiten die Sehnsüchte der Menschen zu einer aufgeblähten Illusion einer Wunscherfüllung. Sie schaffen in dieser Weise eigentlich ‚privatisierte öffentliche Utopien‘.

Der Erfolg der Marken ist somit wesentlich in ihrer Fähigkeit zur Anknüpfung an unerfüllten Wünschen, an dem Bedürfnis nach Illusionen in einer frustrierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit begründet. Hier findet sich der subjektive Nährboden für die verschiedensten religiösen Anbindungen, welche die Menschheit so lange begleitet haben. Ihr nachlassender Einfluss in den entwickelteren Regionen der Welt schafft nun Platz für eine besser angepasste und gewinnbringendere Illusion. An die Stelle der Kirchensteuer treten die Markenpreise. Religiöser und teilweise auch politischer Fetischismus wird abgelöst vom Markenfetischismus. Dieser ist somit quasi das zeitgemäßere ‚Opium für das Volk‘. (13)

Was aus sozialen Bezügen nicht befriedigt werden kann, soll durch einen Bezug von Sachen, den Konsum bestimmter Waren geschehen. Je stärker die Verdinglichung wirkt, desto schwächer wird die soziale Bezugsmöglichkeit, desto größer wird die Bereitschaft, mit dem Konsum von Markenwaren eine zumindest scheinbare Befriedigung unerfüllter Wünsche zu erreichen. Was an realen Möglichkeiten zur Wunscherfüllung fehlt, soll durch eine virtuelle Befriedigung kompensiert werden.

Es ist auch das erste ideologische Ziel der Markenwerbung, ein „Markenbewusstsein“ zu schaffen, oder besser gesagt: die Marke zum Fetisch zu machen. Der Konsum von Produkten bestimmter Marken soll ein sonst nicht erreichtes öffentliches Ansehen vermitteln und damit das Selbstwertgefühl erhöhen. Gegenüber diesem Sinn der Marke darf die Eigenschaft der Ware in den Hintergrund treten. Der Kauf einer Markenware wird zur Erfahrung des Markensinns.

Der Vormarsch des Markenfetischismus ist bei den Logos auf den Kleidungsstücken sehr deutlich sichtbar. In den frühen 1970er Jahren waren sie noch unauffällig auf der Innenseite angebracht, in den 1980er Jahren wanderten sie zunehmend auf die sichtbare Außenseite und in den 1990ern wuchsen sie dort so sehr, dass schließlich die Kleidung nur noch als Träger der Marke erscheint. Und um selbst ohne Kleidung nicht ohne Markierung zu bleiben, lassen sich viele Menschen ihre Lieblingsmarke auch noch auf ihrer Haut verewigen. So gilt etwa in den USA das Nike-Symbol Swoosh als die meistgefragte Tätowierung.

Das weitergehende ideologische Ziel der Markenwerbung ist die Verschmelzung von Warenkategorie und Markenbezeichnung – wie Coca Cola für Softdrinks und McDonald’s für Hamburger. Bei Maggi veränderte der Markenname sogar den Pflanzennamen ‚Liebstöckel‘ in ‚Maggi-Kraut‘. Sobald jedoch der Markenname zum Gattungsbegriff wird, wird der hieraus betriebene Kampf gegen die Konkurrenz einer um die Kontrolle über eine Gattung von Produkten mittels der Bezeichnung.

Dieses Ziel des Marketings verweist auf die den Markenkonzepten innewohnende monopolistische Tendenz. So vielfältig sie sich auch darstellen, so vereinheitlichend sind sie wirksam. Die Buntheit der Markenwelt verschlingt die wirkliche Verschiedenheit und macht sie tatsächlich monoton. Sie stellt sich dar als Bereicherung unserer Auswahlmöglichkeiten, verringert sie aber tatsächlich, schafft Surrogate. „An der Oberfläche ist Karneval, und darunter, wo es darauf ankommt, vollzieht sich eine Konsolidierung.“ (14)

Allein schon die Entscheidung über die Aufnahme bestimmter Waren ins Sortiment einer großen Handelskette wirkt sich auf unser Leben aus. Hieraus ergeben sich nicht nur über den Medienbereich Konsequenzen für die Unterhaltungsindustrie, sondern auf alle Bereiche der Produktion. Wenn eine private Entscheidung einer Supermarktkette ein bestimmtes Produkt für mit dem Firmenimage unvereinbar erklärt, wird es dort schlichtweg nicht angeboten.

Zur Bedienung dieser Zensur legen darum viele Zeitschriften Vorabdrucke vor. Filmproduzenten und Plattenfirmen fertigen inzwischen vorbeugend zwei Versionen ihrer Filme und Alben an – eine authentische und eine selbst zensierte. Wenn ein Konzern von der Produktion über den Vertrieb bis zum Handel die Kontrolle hat, wird selbst diese Zweigleisigkeit verunmöglicht. (15)

Eine Mehrgleisigkeit kann allerdings auch von den Markenfirmen selbst hergestellt werden. Hat ein Konzern einmal seine Konkurrenten besiegt, kann er seine Strategie erweitern durch den Vertrieb mehrerer Marken, die scheinbar miteinander konkurrieren. Damit kann er für verschiedene Typen von KundInnen verschiedene Produkte anbieten und damit seinen Markt vergrößern.

Als ‚Nebenwirkung‘ dieser monopolistischen Tendenz der Markenerweiterung beschreibt Klein als eine Art Kolonialismus, der vom mentalen Raum des Individuums bis hin zum öffentlichen Raum überall hin vordringt und dabei alle vermarktbaren Eigenschaften einer neuen Bestimmung unterwirft. (16)

Wenn Haug in seinem Buch „Warenästhetik und kapitalistische Massenkultur“ ein ‚objektives Gebrauchswertversprechen‘ als die Erscheinungsweise einer angebotenen Ware von einem ’subjektiven Gebrauchswertversprechen‘ als die Erwartung des kaufenden Menschen an den Konsum unterscheidet, dann ist den Marken ein Vordringen in die Subjekte sehr weitgehend gelungen. Die sinnlich wahrnehmbare Präsentation von Markenwaren wird nämlich begleitet von einer Modifizierung der Wahrnehmung selbst. Der durch ihre Werbekampagnen verknüpfte Konsum der angebotenen Markenware mit der Erfüllung von weit darüber hinausreichenden Wünschen verändert zweifellos die Wahrnehmung und damit die Orientierung der Menschen in der Wirklichkeit. Die Marken sind dadurch bis in die Prozesse der persönlichen Identitätsbildung vorgedrungen. Selbst die unmittelbare Sinneswahrnehmung kann davon betroffen sein, wenn sich beispielsweise durch die intensive Anpreisung von Mitteln gegen Körpergeruch die Ekelschwelle verschiebt. (17)

Eine für die Erhöhung des Konsums wesentliche Rolle nimmt die Veränderung der Mode bzw. die ästhetische Innovation ein. Sie führt dazu, dass technisch noch durchaus brauchbare Produkte als veraltet und erneuerungsbedürftig erscheinen. Ihr Gebrauchswert erscheint aus ästhetischen Gründen als verschlechtert und das Bedürfnis nach ihrer Ersetzung durch neue Produkte wird vergrößert. Das wieder schlägt sich um in kürzeren Konsumzeiten und damit in höheren Umsätzen. Auf der Seite der KäuferInnen vollzieht sich hier eine Innovation der Bedürfnisse.

Wie schaffen es nun aber die Markenfirmen, ihre Waren aufgrund der erforderlichen ästhetischen Innovation immer wieder neu darzustellen? Die erforderlichen Hinweise auf die Marktfähigkeit und die Inspiration für die Erneuerung holen sich die Markenfirmen weniger aus der Massenkultur, als von Randgruppen und Subkulturen. Solche Gruppierungen befinden sich nicht nur außerhalb der von den Massenmedien angepriesenen Identitäten, sondern formieren für sich auch eine eigene Öffentlichkeit. Für ihre gemeinsamen Interaktionsformen und Aktivitäten stellt ihr spezifischer Konsum eine wesentliche Rolle. Abseits der Zwänge der gesellschaftlichen Produktion suchen sie nach neuen Formen der Integration und Anerkennung. Aus dieser Suche entstehen dann immer wieder neue Kulturelemente, die für die Markenfirmen eine wertvolle Anregung für ihre Erneuerung darstellen. Auch wenn die Vermarktung dieser Elemente letztendlich massenhaft geschehen soll, steht dies dem Kriterium der Seltenheit bei ihrer Auswahl keineswegs entgegen.

Zu diesen Gruppen zählen vor allem noch nicht gesellschaftlich integrierte Jugendliche, die Szene der Homosexuellen, die Milieus der KünstlerInnen oder Gruppen, die sich in irgendeiner besonderen Weise unterdrückt fühlen. Selbst widerständische Gruppen sind bei Markenfirmen beliebt: „Marketingexperten haben schon immer Symbole und Zeichen von Widerstandsbewegungen ihrer Zeit übernommen.“ (18)

Diese „Gegenkulturen“ werden systematisch beobachtet und für die Imageveränderung ausgewertet. Ein breit gefächertes „Spionagenetz“ sorgt für eine Versorgung der Markenfirmen mit neuen Kulturelementen. Zusätzlich liefern beispielsweise Zeitschriften ihren Anzeigenkunden möglichst genaue Beschreibungen ihrer Leserschaft, damit die Werbung das Publikum zielgerichtet ansprechen kann. Eine noch bessere Möglichkeit zur Versorgung der Inserenten mit Marktforschungsdaten bietet etwa das in amerikanischen Schulen verwendete Computernetzwerk ‚ZapMe!‘. Hier werden nicht nur Reklameflächen für Sponsoren angeboten, sondern auch die Wege der SchülerInnen beim Surfen registriert.

Die Jugendlichen sind allerdings längst von einer die Markeninnovation inspirierenden Gruppe zu einer entscheidenden Zielgruppe des Markenmarktes geworden. Angesichts der Tatsache, dass es etwa eine Milliarde Teenager gibt und diese überdurchschnittlich viel des Familieneinkommens verbrauchen, ist die besondere Orientierung vieler Markenfirmen auf Jugendliche nicht verwunderlich. Vielmehr ist sie eine Fortsetzung der allgemeinen Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise, den Warentausch mehr und mehr zu verallgemeinern und neue Absatzmärkte zu suchen oder zu schaffen. Bei der Jugend geht es auch darum, möglichst frühzeitig künftige KundInnen für sich zu gewinnen.

Um die Teenager als Kundschaft zu erobern, müssen die Markenfirmen es schaffen, den Konsum ihrer Markenware in einer identitätsstiftende Funktion darzustellen. Sie müssen beispielsweise das Tragen von Schuhen einer bestimmten Marke wie ein an die Füße geschnürtes Image präsentieren. Persönliche Identität muss als in den Verkaufsregalen erwerbbar erscheinen und das Selbstwertgefühl als mit den Preisen der konsumierten Waren gesteigert wirken. Wenn sie es schaffen, der von Selbstzweifeln geplagten Jugend einen Ersatz für die ansonsten nicht ausreichend herstellbare Selbstachtung anzubieten, dann haben sie den Einstieg in einen fast idealen Marktbereich für ihre Markenprodukte geschafft.

Dabei wird der Teenagermarkt keineswegs ohne Berücksichtigung der sozialen Unterschiede erfasst und ausgewertet. Diese Unterschiede werden eingehend wahrgenommen und geschickt in den Werbekampagnen untergebracht. So werden einerseits die Stile der Straße und die Kultur der jugendlichen Außenseiter übersetzt in vermarktbare Waren, andererseits die besondere Vorliebe für Kleidung und Zubehör von teuren Freizeitaktivitäten bei sozial schlechter gestellten Jugendlichen ausgenutzt. Speziell junge schwarze Männer in den USA werden als Quelle der Inspiration für die Imagegestaltung gesehen. Für sie ist Markenkleidung auch wie ein Talisman, der den Weg in ein besseres Leben bahnt. „Man verkauft an weiße Jugendliche, weil sie den schwarzen Stil fetischisieren und an schwarze Jugendliche, weil sie dasselbe mit dem weißen Reichtum machen.“ (19)

Der Erfolg der Werbekampagnen ist oft so durchschlagend, dass selbst die direkt von den Markenfirmen Geschädigten dem Markenkult huldigen. Das betrifft nicht nur die KundInnen, die durch die hohen Preise der Markenartikel und die fehlenden Arbeitsplätze infolge der ausgelagerten Produktion geschädigt werden. Die Wirksamkeit der Markenimages findet sich auch dort noch, wo unter den unglaublichsten Bedingungen für die Markenfirmen produziert wird. Die in den Sweatshops arbeitenden Menschen haben ebenso ihre Vorlieben, die von Disney bis zu McDonald’s reichen. Sie versuchen quasi, ihre benachteiligte Stellung im Produktionsprozess durch eine Beteiligung am bevorzugten Konsumtionsprozess etwas auszugleichen.

Im Wettlauf der Marken sind die entsprechenden Firmen immer mehr dazu übergegangen, nicht nur ihre Waren, sondern durch Sponsoring auch verschiedenste kulturelle Veranstaltungen mit ihrem Logo zu markieren. Wo sie sich selbst inspirieren ließen, erscheinen sie jetzt selbst als Inspiration. Diese Version der Markierung kann enorme Wachstumsraten verzeichnen. Weltweit stiegen die Ausgaben für Sponsoring von 1991 mit 7 Mrd. US-Dollar auf 19,2 Mrd. 1999. (20)

Mit Hilfe des Sponsorings ist es den Markenfirmen möglich, Brückenköpfe für ihre Präsenz außerhalb der üblichen Werbemöglichkeiten zu schaffen. Damit kann die Marke sich mit kulturellen Ereignissen und sozialen Erfahrungen in Beziehung setzen. Aber aus der finanziellen Unterstützung wird zunehmend der Anspruch, die Marke selbst als Star erscheinen und zur Kultur werden zu lassen. Das Unterstützte wird damit zu einer Reklameveranstaltung und die Grenzen zwischen Sponsor und Gesponstertem wurden unsichtbar.

Klein fasst das so zusammen, „dass sich die Sponsoren und die von ihnen markenpolitisch eroberte Kultur zusammengeschlossen haben, um eine dritte Kultur zu schaffen: Ein abgeschlossenes Universum von Markennamen-Menschen, Markennamen-Produkten und Markennamen-Medien.“ (21)

Dieser Vormarsch der Marken über ihre Verkaufsstellen und klassischen Werbemöglichkeiten hinaus, ihre Schaffung von Bindungen über das Sponsoring lässt sich allerdings kaum über die Überzeugungskraft der Logo-Botschaften erklären. Vielmehr wurde er eingeleitet über die Durchsetzung neoliberaler Politik. Die Wirtschaft wurde vermehrt dereguliert, öffentliche Einrichtungen wurden privatisiert und die Großunternehmen konnten sich über steuerliche Entlastungen freuen. Mit der damit einsetzenden „Verschlankung“ der Staatshaushalte mussten in der Folge auch die Ausgaben drastisch reduziert werden. So wurde es für unzählige Institutionen regelrecht zur Überlebensfrage, sich auf eine Unterstützung durch private Firmen einzulassen.

Durch die einschneidenden Haushaltkürzungen wurden beispielsweise die Schulen so weit unterfinanziert, dass sie für Erhaltung, Ausstattung und die Möglichkeit eines Zuganges zu moderner Technologie von Sponsoren abhängig sind. Aber mit der Nutzung dieser Finanzierung fiel auch die Grenze zwischen Bildung und Werbung. Mit dem wachsenden finanziellen Einfluss steigerte sich in der Folge der Einfluss auf die Bildungsprogramme. So erhielten unzählige Schulen in den USA kostenlos audiovisuelle Geräte für ihren Unterricht, mit denen sie von einem selbsternannten Schulsender ein Nachrichtenprogramm empfangen können – sowie Werbesendungen mit nicht verstellbarer Lautstärke. Zur Würdigung der Partner aus der Wirtschaft werden die SchülerInnen auch schon mal angehalten, ein Coca-Cola-T-Shirt zu tragen oder sich ein neues Design für die Getränkeautomaten von Pepsi-Cola zu überlegen.

An den nordamerikanischen Highschools, Colleges und Universitäten bestehen mittlerweile zahlreiche exklusive Verbindungen mit verschiedenen Markenfirmen. Nike und Adidas statten beispielsweise die führenden Basketballmannschaften der dortigen Highschools mit Sportkleidung und Zubehör ihrer Marke aus. Inzwischen häufen sich Fälle, in denen die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit der Forschung gegenüber dem Interesse der unterstützenden Konzerne an Bedeutung verliert.

Diese Abwertung von Bildung und Wissenschaft gegenüber den Interessen der Markenfirmen provoziert zwangsläufig Proteste. Also sichern sich diese Firmen auch gegen mögliche Kritik mit vielfältigen Mitteln ab. Um ihr Image nicht zu gefährden, hat z.B. Reebok in seinen Sponsorverträgen mit amerikanischen Universitäten eine Klausel vorgesehen, die es allen Angestellten und Sporttrainern untersagt, den Ruf von Reebok zu schädigen.

Wenn StudentInnen kritische Flugblätter gegen solche Bindungen verteilen, müssen sie damit rechnen, dass ihnen das auf dem Campus und seiner näheren Umgebung verboten wird, dass ihr Material beschlagnahmt wird, ihnen Geldbußen auferlegt und Haftstrafen angedroht werden. Wenn sie sich gegen die kommerziellen Eindringlinge an ihren Universitäten zur Wehr setzen, werden sie selbst als politische Eindringlinge verfolgt.

Insgesamt ist es damit den Markenfirmen gelungen, ihr Logo zu einem Symbol für eine entscheidende gesellschaftliche Kraft zu machen. Dabei geht es nicht nur um die bekannte Diskussion um den Einfluss der Wirtschaft im Sport, wenn beispielsweise ein Fußballspiel zwischen USA und BRD als Machtkampf zwischen Nike und Adidas zelebriert wird. Die Erfolge ihres Marketings strahlen mittlerweile in deutlicher Weise auf alle Bereiche der Gesellschaft aus. So ist es heute normal, wenn sich KünstlerInnen als verbraucherfreundliche Selbstvermarktung inszenieren.

Selbst die Politik ist inzwischen von den Methoden der Markenwerbung stark durchdrungen. Ihr Erfolg wurde zum Vorbild für die gängigen politischen Muster und Präsentationen. Das, was Kautsky und Lenin als die Notwendigkeit des Hineintragens sozialistischen Bewusstseins in die Klasse beschrieben, findet sich heute bei den meisten etablierten Organisationen der Arbeiterbewegung nur noch als Hineintragen eines Images in die WählerInnen. Die Anwendung kapitalistischer Vermarktungsstrategien in die politische Kontroverse ist für sie eine nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeit. Populismus, eingeschränkte Konkurrenz bei scheinbarer Verschiedenheit, usw. – all diese Phänomene drücken vor allem eines aus: das Verständnis der Organisation als Marke. Sie bemühen sich nicht um die Schaffung eines Bewusstseins, sondern um die Pflege eines Images, was im Grunde nichts anderes ist, als eine Anwendung besonderer Mittel der kapitalistischen Ökonomie für politische Ziele.

Markenkritik

Diese Entwicklungen bleiben nicht unwidersprochen. Von Aufklärung über Markenkonzerne bis zu diversen Kampagnen und Aktionen spannt sich eine breite Palette von Aktivitäten, die die Machenschaften der Markenkonzerne im Visier haben. Die Bücher „No Logo!“ von Naomi Klein und „Schwarzbuch Markenfirmen“ von Klaus Werner und Hans Weiss sind bei weitem nicht die einzigen, wenn auch die im deutschsprachigen Raum bekanntesten Publikationen dazu.

In ihrem Buch analysiert Naomi Klein sehr ausführlich den Widerspruch zwischen der Produktion der Markenprodukte in diversen Sweatshops und dem durch die Werbemaschinerie vermittelten „Feeling“. Sie zeigt auf, wie sehr Markenwerbung die Rolle eines Ideologievermittlers übernommen hat, die Markenwelt in unser Alltagsleben eingedrungen ist und dieses mehr und mehr formt. Auch wenn ihre Analyse der Entwicklung und Wirkung der Marken primär auf den nordamerikanischen Raum zugeschnitten ist, liefert sie eine Reihe von interessanten Überlegungen und Thesen, die für den europäischen Raum in ganz ähnlicher Weise gültig sind.

In ihrer Kritik erkennt sie, dass die Markenfirmen in ihrer Konkurrenz mit anderen Monopolen ein blütenweißes Image für die Marke kreieren, das besonders anfällig ist für Kritik in Form von Aufklärung über die realen Arbeitsbedingungen in der Produktion. Gerade für etwas wohlhabendere Schichten der Gesellschaft, die Mittelschichten, die sich „Qualität“ auch etwas kosten lassen können und sich gern ihrer „Menschlichkeit“ versichern, oder für Jugendliche, denen die Ungerechtigkeiten in der Welt stärker ins Auge stechen, ist der Gedanke, dass ihrer Bekleidung der Nimbus von Sklavenarbeit anhaftet, ein für den Verkauf abträgliches Argument.

In einer etwas unsystematischen Weise zeigt sich der Einfluss dieser idealistischen Kritik etwa bei Klein. Ihre Hoffnung liegt vor allem in der Möglichkeit eines kollektiven Rucks in den Medien und der interessierten Weltöffentlichkeit bzw. allgemein in der verändernden Kraft eines Bewusstseinswandels.

Klein hofft dabei auf die Übersättigung mit der Idee des Marken-Brandings und des Gewichtes der nicht erfüllten Versprechungen und der daran ansetzenden Kritik. Die gesellschaftliche Wirklichkeit fungiert dabei als verdeutlichendes Kontrastmittel. Gerade der Kontrast zwischen dem Image einer Marke einerseits und dem damit verbundenen Abbau von Arbeitsplätzen und den skandalösen Produktionsmethoden auf der einen Seite fordern demnach Protest geradezu heraus: „Wenn immer mehr Leute die dunklen Geheimnisse des globalen Markennetzes entdecken, wird ihre Empörung der Antrieb für die nächste große politische Bewegung, eine gewaltige Welle des Widerstands, die sich frontal gegen die multinationalen Konzerne richtet, und zwar besonders gegen solche, die stark mit einer Marke identifiziert werden.“ (Klein, S. 17)

Wenn der von ihr beschriebene Kolonialismus der Marken in den Menschen selbst an seine Grenzen stößt, diese sich des Kontrastes zwischen dem Markenimage und der wirklichen Rolle der Markenkonzerne bewusst werden, dann wird sich das so gewandelte Bewusstsein mithilfe eines Rucks in den Massenmedien in eine neue Bewegung umsetzen.

In ihrer Kritik übersieht sie jedoch, dass Marken nur eine Erscheinungsform der gesellschaftlichen Realität des Kapitalismus sind, eine besonders augenfällige, dass jedoch all die von ihr beschriebenen Tendenzen der Markenwirtschaft dem Warentausch und dem damit verbundenen Fetischcharakter der Ware generell eigen sind. Daher erscheint bei ihr der bürgerliche Staat – im Gegensatz zu den Firmen, die nur ihren Aktionären gegenüber verantwortlich sind – als in seiner Entscheidungsfindung transparenter und durch demokratische Mittel kontrollierbar, auch wenn sie selbst zugestehen muss, dass die Konzerne zunehmend bestimmend auf die Regierungen wirken. In ihrer Hoffnung auf einen Ruck durch Aufklärung bringt sie zum Ausdruck, dass sie sich nicht gegen den Kapitalismus als Gesellschaftsform mit seinem in Profitwirtschaft und Ausbeutung verankerten Fundament stellen will, sondern lediglich eine Rückführung auf „normale“ Umgangsformen des Kapitalismus anstrebt. Mit ihrer Kritik am Betrug, der durch die Markenfirmen und ihre Werbung erfolgt, legt sie eigentlich nicht den Grundstein für eine Abwendung von Marken und jener Gesellschaft, die sie hervorbringt, sondern für eine Neuschaffung von Marken: von Marken, die „saubere“ Arbeitsbedingungen oder einen „fairen“ Tausch nachweisen sollen – ein weiterer Fetisch.

Denn was soll „sauber“ in einer Gesellschaft bedeuten, in der sich ein Unternehmer – egal ob im Produktionsbetrieb, als Zwischenhändler oder als Marken vermarktender Konzern – weit über 90% des von den ArbeiterInnen geschaffenen Mehrwertes aneignet. Wäre es „sauber“, wenn das Verhältnis 50:50 oder 70:20 betrüge? Oder macht nicht die Tatsache, dass der Unternehmer sich Werte aneignet, die von ArbeiterInnen geschaffen wurden, diesen jedoch nie gehören werden, das Verhältnis an sich „unsauber“?!

Und was wäre ein „fairer“ Tausch? Ist er fair, wenn die ArbeiterInnen für ihre Arbeit genug bekommen, dass sie davon in einem bestimmten Wohlstand leben und ihre Kinder erziehen können – also wie bei jeder anderen Ware, ihre Produktionskosten bezahlt bekommen?

Auf dem Boden verallgemeinerter Warenproduktion findet Ausbeutung auf Grundlage der „fairen“, d.h. dem Wert der Ware Arbeitskraft entsprechenden, Entlohung statt – und nicht bloß als Resultat „unfairer“ Praktiken, d.h. der Kauf der Ware Arbeitskraft unter ihrem Wert.

Solange Klein nicht versteht, dass jede Forderung nach „Fairness“ oder „Sauberkeit“ an der „normalen“ kapitalistischen Ausbeutung noch lange nichts ändert, bleibt sie in ihrem Ansatz beschränkt, kann sie das Bedürfnis nach einer Marke nicht begreifen, ja legt sogar in ihrer Argumentation nur den Grundstein für weitere Marken, die über die realen gesellschaftlichen Verhältnisse – wenn auch mit weniger krassen Ausformungen – hinwegtäuschen sollen.

Daher sieht sie auch den Staat als positive Instanz, die solchen Betrug einschränken soll, während es in Wirklichkeit gerade jene Instanz ist, die das Eigentum der Konzerne vor dem Zugriff ihrer KritikerInnen wie der ProduzentInnen schützt. Sie bleibt in ihrer Kritik einer Perspektive der Mittelschichten verhaftet, die sich angewidert von den Exzessen des Kapitalismus abwenden, während sie gleichzeitig ihren relativen Wohlstand aus der „normalen“ Funktionsweise des Kapitalismus schöpfen und sich somit mit „geordneten“ kapitalistischen Verhältnissen durchaus anfreunden können.

Klein sieht den Zusammenhang zwischen dem Erfolg von Konzernen mit deren Verbrechen an der Umwelt, deren Vorgehen gegen die Arbeitskräfte und ihrer Flucht aus ihrer Verantwortung ihnen gegenüber und erklärt daraus das Anwachsen der Bewegung gegen diese Konzerne und deren Wirtschaftsweise. Weshalb sollten die Beschäftigten eines Konzerns auch Einbußen für einen wirtschaftlichen Firmenerfolg hinnehmen, wenn sie dafür keine spürbaren Vorteile erhalten und dieser Erfolg an der Börse sich mit jeder Lohnerhöhung verschlechtert und jeder Entlassung verbessert?

Aus dieser Lockerung der Firmenidentitäten, der Beziehung zwischen Konzernen und Beschäftigten findet sie aber lediglich zu einer vagen Beschreibung dieser Bewegung: „Eine Generation qualifizierter Arbeiter, die sich nicht mehr lebenslang an ein Unternehmen gebunden fühlt, könnte zu einer Renaissance an Kreativität und zu einer Wiederbelebung der Zivilgesellschaft führen, zwei sehr verheißungsvolle Aussichten.“ (Klein 281, 355, 455)

Letztlich ist Klein dann aber doch wieder mehr an einem aufklärerisch wirksamen Medienspektakel orientiert, als an einem Fortschritt in der internationalen Organisierung der Arbeiterbewegung. Die Erfolge der massenhaften gewerkschaftlichen Organisationen gegen die Sweatshops sieht sie eher als beschränkt auf die 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts und in nationalem Maßstab. Demgegenüber meint sie beispielsweise zu dem von Charles Kernaghan geleiteten National Labor Committee (NLC), das seine Erfolge nicht aus einer Organisierung der ArbeiterInnen, sondern aus ihrer Kritik an Markenfirmen bezog:

„In den fünf Jahren von 1994 bis 1999 hat das mit drei Personen besetzte New Yorker Büro des NLC mit mediengerechten Aktionen à la Green Peace mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf die Leiden der Sweatshop-Arbeiter gezogen als die viele Millionen Dollar schwere internationale Gewerkschaftsbewegung in fast 100 Jahren.“ (Klein 361, vgl. 448)

Die Wiederbelebung ihrer Zivilgesellschaft als bürgerzentrierter Alternative mündet in der Hoffnung auf die durch das Internet unterstützte mediale Wirksamkeit in internationalem Maßstab und die durch Gerichte erzwungene Transparenz der Konzerne. Mit dem Internet könne dem multinationalen Gegner in einer globalen Arena entgegengetreten werden. Es könne mit geringem Aufwand zur Organisierung international koordinierter Aktionen eingesetzt werden. Die dezentralisierte Entscheidungsfindung, die keinen ‚monolithischen Konsens‘ erreicht, gilt für sie dabei als wesentlicher Vorteil in der Kooperation. Bezüglich der empfohlenen Rechtswege ruft Klein zur Nutzung der Gerichtssäle als Forum zur Veröffentlichung der wahren Rolle der Konzerne auf. Das Gerichtsverfahren zwischen UmweltschützerInnen und McDonald’s Mitte der 90er-Jahre ist für sie ein Beispiel für diese Methode:

„Es hatte fast so gut für den Vegetarismus geworben wie der Rinderwahn, hatte mehr Licht auf die Arbeitsbedingungen im McJob-Sektor geworfen als jede Gewerkschaftskampagne und hatte eine ernsthaftere Debatte über die Zensur durch Konzerne ausgelöst als irgendein anderer Prozess der jüngeren Vergangenheit, bei dem es um das Recht auf freie Meinungsäußerung gegangen war.“ (Klein 395)

Als Kriterium des Erfolges kommt sie über eine unspezifische öffentliche Aufmerksamkeit und die Anregung zur Diskussion kaum hinaus. Es geht ihr weder um eine programmatische Einigung, noch um die Schaffung einer demokratisch-zentralistischen Organisationsstruktur. Bei aller berechtigten Kritik an den Gewerkschaften und deren Führungen sieht sie keine Notwendigkeit einer Orientierung auf die international zu organisierende Arbeiterklasse. Ihr geht es weniger darum, dass die ArbeiterInnen ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, als um die Aufklärung der Öffentlichkeit und eine daraus resultierende Regulierung der international handelnden KapitalistInnen.

Damit findet sie wiederum zurück zu ihrem kleinbürgerlichen Mittelschichtsstandpunkt, der den Glauben an das aufgeklärte Individuum vor sich herträgt, während das zentrale Ziel einer Organisierung der Arbeiterklasse zu ihrer eigenen Verteidigung zu einem zweit- oder drittklassigen Anliegen verkommt.

Auch Klaus Werner und Hans Weiss führen in ihrem „Schwarzbuch Markenfirmen“ detailliert die Machenschaften der Großkonzerne weltweit auf und stellen sie an den Pranger. Auch für sie wird die Frage aufgeworfen, wie man sich dagegen zur Wehr setzen kann, um die Exzesse des Kapitalismus zu mindern. In ihrer Kritik am heuchlerischen Umgang der Markenfirmen mit den Verhaltenskodizes stoßen sie auch auf den Kern der Schwäche selbst in der Formulierung dieser Kodizes: auf das Fehlen des Rechts auf die Bildung von unabhängigen Gewerkschaften. Damit treffen sie den Kern der Sache genauer als Klein. Denn nur durch die Selbstorganisation der ProduzentInnen, der ArbeiterInnen, kann die Einhaltung von Forderungen durchgesetzt und permanent im Arbeitsalltag kontrolliert werden. Dieses Stück des Weges gehen wir mit ihnen gemeinsam, denn jede Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist ein Gewinn, der das Kräftegleichgewicht zu Gunsten der Arbeiterklasse verschiebt.

Doch auch sie glauben an einen „fairen“ Tausch; im Grunde teilen sie die Vorstellung eines gezähmten „fairen“ Kapitalismus, sei es durch ein internationales Konkursrecht, das den verschuldeten Ländern die Möglichkeit auf Schuldenerlass erleichtert, sei es durch eine Tobin-Steuer auf Devisenspekulationen, deren Einnahmen zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit verwandt werden sollen – und sitzen damit einem weiteren Fetisch auf: dem Fetisch der Unabhängigkeit des Staates.

Denn der Staat ist immer ein Instrument der herrschenden Klasse und im Kapitalismus sind dies die Unternehmer, allen voran die Konzerne. Das Eigentum wird geheiligt, weil das Eigentum die Grundlage ist, auf der die herrschende Klasse ihre Verfügung über die Produktionsmittel begründet. Daher ist der Schutz des Eigentums durch den Staat – durch Gesetze, Polizei und Streitkräfte – die oberste Tugend des bürgerlichen Staates. In aller Welt intervenieren ganze Heerscharen von Staatsagenten – Juristen, Diplomaten, Beamte bis hin zu Streitkräften – um dieses Eigentumsrecht, primär jenes an Produktionsmitteln, zu sichern.

Von diesem Staat zu verlangen, dass er diese Funktion abgibt, heißt, die Herrschaft der herrschenden Klasse in Frage zu stellen und wirft damit gleich die nächste Frage auf: Wie soll eine solche Reform erfolgen, die gerade die stärksten und dominantesten Teile der Gesellschaft – die Konzerne – einschränkt und reguliert? Welche gesellschaftliche Kraft hat die Macht, sich den Konzernen entgegenzustellen und einen solchen regulierenden Staat zu schaffen? Hier bleiben uns die Autoren die Antwort schuldig. Sie gingen der vermeintlichen Unabhängigkeit des Staates auf den Leim und trauen dem Staat eine Unabhängigkeit gerade von jenen Kräften zu, deren Interessen ihn wesentlich bestimmen.

Ihre eigenen Beschreibungen führen klar vor Augen, dass die Konzerne selbst vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken, wo sie ihre Profite gefährdet sehen. Will der Staat mehr Unabhängigkeit von den Konzerninteressen erlangen, kann er dies nur, indem er sich auf die andere Hauptklasse der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, stützt.

Ein wirklich friedliches und gemeinschaftliches Neben- und Miteinander der verschiedenen Staaten wie Bevölkerungsgruppen dieser Welt, ist jedoch nicht über geänderte Gerichtsbarkeiten und Steuern, sondern nur durch eine Revolution möglich. Alles andere täuscht lediglich über diese Herrschaft hinweg, verleiht ihr das Mäntelchen der Unabhängigkeit, das sich der bürgerliche Staat so gern selbst umhängt, rüttelt jedoch nicht an der Tatsache, dass dieser Staat im Interesse der Wirtschaft und damit der Profite der Konzerne walten wird. Mehr noch: er verteidigt die Macht der herrschenden Klasse, die ihren eigenen Untergang als den der allgemeinen Wirtschaft verschleiert und so versucht, breitere Unterstützung außerhalb der eigenen Klasse für ihr ureigenstes Projekt zu finden.

Da sich Werner und Weiss nicht daran wagen, Klassengesellschaft und bürgerliche Klassenherrschaft an sich in Frage zu stellen, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, die Utopie eines unabhängigen Staates zu schaffen und von diesem eine entsprechende Regelung zu fordern.

Doch die Vorstellung einer Weiterentwicklung der Produktivkräfte scheint sie so weit zu erschrecken, dass sie sogar einen Rückschritt in der Produktionsform als gesellschaftlichen Fortschritt verkaufen. So meinen sie etwa in Bezug auf die Landwirtschaft: „In den meisten Fällen aber schafft die ökologische Landwirtschaft mit ihren kleineren und langfristig angelegten Strukturen zumindest höherwertige Arbeitsplätze als die industrielle Massenproduktion.“ (Schwarzbuch, S. 172)

Bewegungen gegen blutige Marken

Vorschläge für praktische Kampagnen und aktionistische Bewegungen finden sich in buntscheckiger Vielfalt. Als Königsweg der Veränderung wird immer wieder auf die Macht der KonsumentInnen verwiesen. Dabei geht es beispielsweise darum, die großen Firmen durch Proteste zu Veränderungen zu zwingen. Immerhin sei ja wie in der Politik von einer Verleihung der Macht auszugehen: im einen Fall durch eine Wahl, im anderen durch einen Kauf.

Als Aufsehen erregende Protestform inszenierten etwa amerikanische Kids 1997 ein ‚Shoe In‘ und luden dabei ihre alten Turnschuhe vor Nike-Town in New York ab, was von einem 13jährigen aus der Bronx so kommentiert wurde: „Nike, wir haben dich gemacht. Und wir können dich auch vernichten.“ (Schwarzbuch 20 f., 289, Klein 381-384)

Aber es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass Boykott als Kampfmaßnahme nicht sinnvoll ist. Er schafft nicht die Misere ab, sondern höchstens die Arbeitsplätze. Er schadet also in der Regel letztlich jenen, an denen Unterstützung gedacht war. Angesichts des Anspruches einer Kritik der Probleme am globalen Arbeitsmarkt erweist sich der Ansatz am Konsum ohnehin als zu kurz.

Auch die Kampagne des ‚Buy Nothing Day‘ zeigte, dass sie anstelle einer Alternative zum Konsum vielmehr eine neue Marke schuf. Selbst diese Antimarketing-Bewegung musste sich letztlich um ihre Vermarktung sorgen.

Wenn sich diese Ansätze zur Beschränkung der Macht der Konzerne als letztlich ineffektiv erweisen, bleiben aber noch eine Reihe anderer Möglichkeiten, die sich in der Regel auf die Verteidigung bestehender Verhältnisse gegenüber den vordringenden Firmen spezialisieren. Solche Verteidigungshaltungen reichen vom nationalen Protektionismus bis zum Engagement zur Erhaltung demokratischer Errungenschaften und öffentlicher Bereiche, die vor der Vermarktung zu schützen sind. Klein beschreibt dies etwa am Beispiel des Bildungsbereiches: „Zum gegebenen historischen Zeitpunkt … ist das Argument, dass wir Bildung nicht in eine Übung für Markenerweiterung verwandeln sollten, so ziemlich dasselbe wie, dass Nationalparks und Naturreserven erhalten werden müssen.“ (Klein 121, vgl. 198, Schwarzbuch 28 f.)

Diese Beschränkungsansätze versuchen in der Regel, an den bürgerlichen Staat als Verbündeten zu appellieren.

Eine andere Form von Initiativen konzentriert sich wiederum auf den zeitlichen Faktor und will so etwas wie eine Geschwindigkeitsbegrenzung im weiteren Sinn. So entstand nicht nur als Reaktion auf die Ausbreitung der amerikanischen Fastfood-Ketten etwa in Italien eine ‚Slowfood-Bewegung‘, sondern verschiedene Organisationen, die sich für eine Funktionalisierung der Globalisierung für die Menschen und für eine Besteuerung aller Käufe und Verkäufe von Devisen einsetzen, fordern auch insgesamt eine ‚Entschleunigung‘ der internationalen Kapitalmärkte. (Schwarzbuch 218 f., Klein 133)

Im Gegensatz zu solchen defensiven Initiativen entwickelten sich allerdings auch offensivere Protestformen. Zur Rückeroberung des Raumes für die Öffentlichkeit bildete sich beispielsweise das „Culture-Jamming“ – eine Art Guerillakunst -, die sich darauf spezialisierte, Reklametafeln als Leinwände zu benutzen und deren Botschaften zu verändern, Gegenbotschaften gezielt einzusetzen und eine bestimmte Werbung zu parodieren. Das Internet ist ein beliebter Ort für diese kritische Kunst, aber sie findet sich auch in Zeitschriften oder sogar in eigenen ‚Antiwerbespots‘ im Fernsehen. Durch die Flut an Informationen, die täglich über die Massenmedien transportiert wird, ist es allerdings schwierig, eine Gegenbotschaft als einprägsamen Kontrast zu übermitteln.

Diese stellt eine witzig und insbesondere für Jugendliche wirksame, nützliche und Spaß vermittelnde Variante dar, die eine sinnvolle Ergänzung einer aktiven Bewegung ist. Sie kann auf witzige Art ein Bewusstsein über die Markenpolitik wecken und stellen eine fortschrittlichere Bewegung dar, als die reine Markenverweigerung. Denn mit ihren Anti-Statements steht diese Bewegung zu klar transportierten Inhalten, die die Plakativität von Marken nutzt, um sie gegen sie zu wenden. Jene Strömung hingegen, die sich generell gegen Marken wendet und sich überhaupt dagegen wendet, plakativ Inhalte zu präsentieren, ist von jenem kleinbürgerlichen Individualismus durchdrungen, der zwar jede Marke verweigert, damit jedoch erst recht einen eigenen markanten Stil schafft, der sich bloß durch die Abwesenheit von identifizierbaren Marken unterscheidet, ansonsten jedoch genauso eine Art Uniform für sich findet.

Aus dieser Markenverweigerung den Schluss zu ziehen, jedes Label sei abzulehnen, kommt eigentlich der herrschenden Klasse nur entgegen, die zwar Identifizierbarkeit mit Labels schätzt, wo es um die Vermarktung ihrer eigenen Produkte geht, diese jedoch ebenso vehement ablehnt, wenn ihr Klassengegner dies mit ähnlicher Vehemenz tut. Denn die Verwendung von Logos, Designs oder Slogans ermöglicht eine rasche Identifizierbarkeit und schafft im Falle von Organisationen der Arbeiterbewegung eine Assoziation und Identifikation mit realen Kollektiven. Die Ablehnung der Marke ist eigentlich der klarste Ausdruck der bürgerlichen Ideologie vom Individuum, das vermeintlich frei sein soll in all seinen Entscheidungen und sich nach seinem Willen oder seinem Gefühl, nicht jedoch noch kollektiven oder gesellschaftlichen Zwängen entscheiden soll.

In Wirklichkeit dient diese Ideologie nur der weiteren Vereinzelung des Individuums in der Gesellschaft und der weiteren Subsumtion unter die von Medien vorgegebenen gesellschaftlichen Ideale.

Dieser Kritik geht es um die Inhalte der Werbung und ihre Techniken mitsamt ihren unterschwelligen Manipulationen. Die KonsumentInnen sollen vor der verführerischen Wirkung der Werbung, deren Funktion eine Fremdsteuerung, die Weckung falscher Bedürfnisse sei und eine kulturelle Entfremdung bewirke, beschützt werden. Eine beliebte Ausdrucksform einer solchen Kritik geschieht heute in einer Ironisierung von Werbekampagnen. Neue Slogans werden dabei spielerisch gedreht und gewendet bis eine Gegen-Losung herauskommt.

Die Kritik an den Konzernen reicht mittlerweile bis in sie selbst hinein. Als Ergebnis der konzernkritischen Bewegungen sind nun die Jahresversammlungen der AktionärInnen auch eine Tribüne für Kritik. So wurden beispielsweise von 1996 bis 1998 vom US-amerikanischen Investor Responsibility Research Center 79 Anträge bei bekannten Markenkonzernen registriert, die sich gegen Sweatshops richteten.

Um gar nicht erst in solche Auseinandersetzungen zu geraten, wurde die Möglichkeit für Geldanlagen in politisch „korrekte“ Ethik-Fonds geschaffen. Aber solche Einflussmöglichkeiten beschränken sich zwangsläufig auf Leute mit den erforderlichen finanziellen Kapazitäten. Sie sind außerdem an die Illusion gebunden, dass dem Gewissen der Kapitalisten eine stärkere Kraft innewohnen könnte, als der Logik des Kapitals. Der objektive Wirtschaftstrend soll mit einer subjektiven Gegenbewegung bezwungen werden.

Bei diesen Bewegungen stechen einige inzwischen besonders hervor. So formieren sich seit einiger Zeit Kampagnen gegen die Sweatshops in internationalem Maßstab. Einer der Durchbrüche dafür war das ‚Jahr des Sweatshops‘, das 1995/96 an der New York University durchgeführt wurde. Durch diese und ähnliche Kampagnen wurde bekannt, dass bekannte große Konzerne für die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in Indonesien, China und vielen anderen Ländern verantwortlich sind und dass dort sogar Kinder quasi als Sklaven Markenartikel herstellen müssen. Das ‚Jahr des Angriffs‘ gegen die Markenkonzerne wurde seither nicht beendet und aus der anfänglichen Konzentration auf die Textilindustrie wurde mittlerweile eine Ausweitung der Kritik an allen möglichen Konzernen, die sich direkt oder indirekt am globalen Markt der Arbeitskräfte und natürlichen Ressourcen bedienen. Damit gerieten viele Multis ins Visier unterschiedlicher Kampagnen, die deren Politik als entscheidende Ursache für die globalen Ungerechtigkeiten hervorhoben. (Klein 337)

Eine der bekanntesten Kampagnen beschäftigt sich speziell mit Nike. Mit zahlreichen internationalen Aktionstagen informiert sie die Kunden vor den Verkaufsstellen von Nike über die Arbeitsbedingungen bei der Herstellung der angebotenen Produkte und die Forderungen nach einer unabhängigen Überwachung. Am 18. Oktober 1997 gab es hierzu eine Beteiligung in 85 Städten in 13 Ländern. An den Universitäten in den USA gehört die Anti-Nike-Bewegung mittlerweile zu den größten und sichtbarsten. (Klein 374)

An den nordamerikanischen Universitäten bildete sich durch das aggressive Vordringen der Markenfirmen inzwischen eine ganze Reihe von konzernkritischen Bewegungen heraus. Einige Universitäten beanspruchen mittlerweile, dass ihre Auftragnehmer einen Verhaltenskodex einhalten, der die Bezahlung des gesetzlichen Mindestlohns, Sicherheit an den Arbeitsplätzen, das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und unabhängige Kontrolle verlangt. Im Juli 1998 gründete eine landesweite Versammlung von Anti-Sweatshop-AktivistInnen in New York die Organisation United Students against Sweatshops. Im Juni 1999 veranstalteten studentische AktivistInnen mit der neu gegründeten Student Alliance to Reform Corporations in Ohio eine Konferenz für eine Kampagne, wonach die Geschäftsbeziehungen der Universitäten auf jene Konzerne einzuschränken sei, die sich zur Beachtung der Menschenrechte und der Umwelt verpflichten. Diese Organisationen veranstalten neben Konferenzen zahlreiche Protestaktionen wie Teach-ins, Sit-ins, Strick-ins, usw. Ihre Erfolge führten dazu, dass die amerikanische Regierung unter Bill Clinton für einen Apparel Industry Partnership Code warb und einige Hochschulen sich gleich nach mehreren Kodizes richten müssen. Einige Multis schlossen sich 1999 einer Partnerschaft zwischen einem Entwicklungsprogramm der UN und einiger Menschenrechtsgruppen an. Aber die Offenlegung der Produktionsstätten, eine geeignete Kontrolle und verbindliche Durchsetzbarkeit konnte damit nicht erreicht werden.

Die Rolle der Gewerkschaften

Wenn ein marxistischer Ansatz zur Lösung der beschriebenen Erscheinungen grundlegend im Bereich der Produktion orientiert ist und als Antwort auf die globalisierte Wirtschaft auf eine international organisierte Arbeiterklasse setzt, dann haben hierfür die Gewerkschaften eine elementarste Organisationsform eine ganz zentrale Rolle.

Gerade als der Mainstream der gewerkschaftlichen Führungen ihre Antwort auf die für sie schwieriger werdende Situation in einer umfassenderen Kooperation mit den Unternehmen suchten und sich dementsprechend um deren internationale Wettbewerbsfähigkeit bemühten, wuchs die Notwendigkeit einer internationalistischen Aktionseinheit der Arbeiterklasse in bislang nicht erreichtem Umfang und Tempo.

In den Exportproduktionszonen der Halbkolonien herrscht ein Regime mit besonderen Regeln. Eine dieser meistens ungeschriebenen Regeln ist die Verhinderung von Protesten und Arbeitskämpfen – und damit von Gewerkschaften. Die gewerkschaftliche Organisierung von Beschäftigten bedeutet nämlich nicht nur die Gefahr eines Streiks, sondern auch einen „Standortnachteil“ gegenüber den international agierenden Auftraggebern. Nicht einmal die gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung von Betriebsräten und Gewerkschaften garantiert eine effektive Vertretung der Arbeitenden. Eine ungehinderte Vertretung wird immer wieder durch massive Einschüchterungen verunmöglicht.

Das ist in den imperialistischen Ländern nicht grundsätzlich anders. Wenn sich die USA als demokratisch und liberal darstellen, so zeigt ein Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation vom März 2001 ein anderes Ergebnis: In rund 90% der betrieblichen Gewerkschaftswahlen organisieren die Unternehmer Zwangsversammlungen der Beschäftigten, in denen gegen die Gewerkschaften gehetzt wird, fast 80% der AmerikanerInnen befürchten eine Kündigung im Falle eines Gewerkschaftsbeitrittes und ein Verfahren beim US-Gerichtshof gegen die Gewerkschaftsfeindlichkeit eines Unternehmens dauert durchschnittlich 557 Tage.

Dies deutet eine Einengung des gewerkschaftlichen Handlungsspielraumes an, während die Herausforderungen an die Gewerkschaften allgemein steigen. Besonders das verstärkte Auftreten von international agierenden Markenfirmen verdeutlicht den national organisierten Gewerkschaften ihre begrenzten Einflussmöglichkeiten. Selbst wenn sie versuchen, mit nationalen Scheuklappen durchzukommen, werden sie auf die Probleme mit den Markenmultis spätestens dann aufmerksam, wenn sie beispielsweise bemerken, dass in ihren Superstores weder Demonstrationen, noch Streikposten erlaubt sind.

In vielen Gewerkschaften herrscht noch immer einerseits die Sehnsucht nach wirtschaftlich stabileren Zeiten mit den damit verbundenen reformistischen Möglichkeiten und andererseits ein Wunsch nach einer weitergehenden Partnerschaft mit den Unternehmen zur Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Die einen gelten als ‚Traditionalisten‘ und blicken auf ihrem Weg zurück, die anderen gelten als ‚Modernisierer‘ und versuchen, den Weg der Bosse zu gehen. Beiden gemeinsam ist ihr Konzept einer Partnerschaft zwischen der Arbeiterbürokratie und der Bürokratie des Kapitals.

Inzwischen haben allerdings global agierende Konzerne ihre nationale Gebundenheit relativiert und die Produktion in international angelegten Fertigungsketten organisiert. Der internationale Charakter der Arbeiterklasse zeigte sich nicht nur in der Zusammensetzung der Belegschaften in den Fabriken, sondern auch in den weltweit verteilten Produktionsstätten der großen Konzerne. Die Notwendigkeit grenzüberschreitender Allianzen verdeutlicht sich zwar in atemberaubendem Tempo, aber die Gewerkschaftsbürokratie bleibt immer noch in ihren partnerschaftlichen Konzepten gefangen.

Die erforderliche Erneuerung der Gewerkschaften deutet sich jetzt auf internationaler Ebene vor allem in den industrialisierteren Halbkolonien an, wo sie sich auch als soziale Bewegungen verstehen. Dort nehmen sie nicht nur eine aktive Rolle bei Mobilisierungen auf der Straße ein, sondern übernehmen auch eine politische Führungsrolle. Sie treten im Sinne aller Angehörigen der Arbeiterklasse ein für Forderungen mit einer weiterreichenden sozialen und wirtschaftlichen Zielsetzung. Dafür organisieren sie auch prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Arme und Nachbarschaftsorganisationen. Solche Modelle können durchaus als internationales Vorbild dienen.

Am naheliegendsten sind die Möglichkeiten für einen beginnenden gewerkschaftlichen Internationalismus sicherlich innerhalb der Multis. Ihre grenzüberschreitenden Produktionsketten machen sie zwar weniger angreifbar von national ausgerichteten Organisationen, aber ausgesprochen empfindlich gegenüber international koordinierten Aktionen. Sofern hier eine gewerkschaftliche Koordinierung gelingt, kann sie an den Schaltstellen der Weltwirtschaft eingreifen.

Bislang sind viele internationale Netzwerke zwischen aktiven GewerkschafterInnen noch inoffiziell und ihre Aktionen eher symbolisch oder experimentell. Aber sobald sich hier erste Erfolge einstellen und Schule machen, wird eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung auf internationaler Ebene nicht mehr so einfach zu bremsen sein. Wenn das geschieht, können die Spielregeln gegenüber den großen Konzernen in grundlegender Weise geändert werden.

Als Beispiel für einen aktiven und erfolgreichen gewerkschaftlichen Internationalismus führt Moody den Streik der britischen Docker an: „Wenn es schon einer kleinen Gruppe englischer Docker gelingt, den Globus zu umspannen und eine weltweite Aktion zu starten, wie wirkungsvoll müssen dann erst Gewerkschaften und internationale Arbeitervereinigungen operieren können, ausgestattet mit klaren Zielvorstellungen und einer demokratischen Organisation zur Aktivierung ihrer Mitglieder.“ (Moody 32)

Auch Werner und Weiss dringen auf die Notwendigkeit der internationalen Solidarität der Gewerkschaften. Aber anstelle einer Überwindung der Macht der Konzerne schlagen sie deren Regulierung vor: „Es geht darum, dass sie ihre Macht nützen müssen, um jenen, denen sie ihre Profite verdanken, einen zumindest würdevollen Lebensstandard zu sichern.“ (Schwarzbuch 36 f.)

Während sie noch dazu aufrufen, noch einmal politische Lösungen über die demokratisch gewählten VertreterInnen des Volkes zu suchen, betrat eine neue Bewegung die Bühne der internationalen Politik.

Diese Bewegung war nicht mehr beschränkt auf eine Kritik an einzelnen Konzernen. Sie vertraute nicht mehr auf die Durchsetzungsfähigkeit der demokratisch gewählten „VolksvertreterInnen“. Im Gegenteil: die vergangenen Jahre zeigten den politischen Führungen der Bourgeoisie, dass sie von dieser Bewegung nicht gegen die internationalen Konzerne unterstützt werden, sondern selbst zum Ziel der Kritik wurden. Ihre internationalen Zusammenkünfte, die Gipfeltreffen der EU, des IWF, der NATO usw. sind ohne entsprechende Gegenmobilisierung inzwischen gar nicht mehr vorstellbar.

Es ist eine Bewegung, welche die kapitalistische Globalisierung mit ihren verschiedenen Auswirkungen nicht unwidersprochen hinnimmt. Sie gibt sich nicht mehr mit bloßer Aufklärung zufrieden. Sie zeigt ihre Kritik aktiv und in internationalem Maßstab. Die Rolle der bewussten AntikapitalistInnen in dieser Bewegung und ihr Verhältnis zur Arbeiterbewegung werden für ihre weitere Entwicklung von zentraler Bedeutung sein. Sofern es gelingen wird, die AntikapitalistInnen und die Arbeiterbewegung zu vereinigen und auf internationaler Ebene in organisierter Form zu aktivieren, werden nicht nur die Machenschaften der Markenmultis beendet werden können; das ganze kapitalistische System, von dem sie nur ein besonders ekelhafter Auswuchs sind, kann dann von diesem Globus hinweg gefegt werden.

 

Anmerkungen und Fußnoten:

(1) Klein, Naomi: No Logo! Der Kampf der Global Players um Markenmacht. Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern. Übers. d. amerikan. Ausg., Sonderausg., Riemann, München, 2002.

Werner, Klaus und Weiss, Hans: Schwarzbuch Markenfirmen. Die Machenschaften der Weltkonzerne. 4. Aufl., Deuticke, Wien-Frankfurt/M., 2001.

(2) Schwarzbuch, S. 22f. Informationen der ILO finden sich unter: http://www.ilo.org

(3) Schwarzbuch, S. 176f.

(4) Lenin, W.I.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss. Aus: W.I. Lenin Werke, Band 22, S. 267.

(5) Trotzki, Leo: Das Gesetz der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung. In: Trotzki, Leo: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution. Übers. aus d. Engl., Isaac Deutscher u.a. (Hrsg.), Suhrkamp, 1981. S. 90.

(6) Klein, S. 243ff, S. 344.

(7) vgl. Haug, Wolfgang Fritz: Warenästhetik und kapitalistische Massenkultur (I). „Werbung“ und „Konsum“. Systematische Einführung in die Warenästhetik. Argument, Berlin, 1980.

(8) Klein, S. 43.

(9) Schwarzbuch S. 42f, Klein S. 349f.

(10) Haug, S. 129.

(11) Klein, S. 160ff.

(12) Klein, S. 70ff, S. 155f, S. 163ff, S. 192f, S. 388

(13) Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. Aus: Marx, Karl und Friedrich Engels: Werke. Bd. 1. Dietz, Berlin, 1981. S. 378.

(14) Klein, S. 146, vgl. S. 145, S. 170ff.

(15) Klein, S. 177ff.

(16) Klein, S. 27, S. 31, S. 82, S. 90, S. 146, S. 192.

(17) Haug, S. 45f., S. 50ff., S. 83, S. 126f, S. 182f, S. 186f.

(18) Klein, S. 310, vgl. S. 129, S. 455; Haug S. 156.

(19) Klein, S. 92, vgl. S. 90ff, S. 103, S. 301, S. 371.

(20) Klein, S. 48, S. 53.

(21) Klein, S. 77f.