Umweltkatastrophe stoppen, Umweltimperialismus bekämpfen

Liga für die Fünfte Internationale, aus „Die Krise der Globalisierung und die sozialistische Revolution“, Juni 2019, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Die Verschlechterung und Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde schreitet unvermindert fort und nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an. Die immer häufigeren extremen Wetterereignisse, immer heftigere Stürme, Überschwemmungen und Waldbrände, ausgedehntere Dürreperioden, das Abschmelzen der Eiskappen, welches zu einem bedrohlichen Anstieg des Meeresspiegels führen wird und viele Länder mit totaler Überschwemmung bedroht, sind alle Indizien für den fortschreitenden Klimawandel auf der Erde.

Der Klimawandel, verursacht durch den massiven Ausstoß von Treibhausgasen, stellt die größte Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem Planeten dar. Aber er ist wahrlich nicht die einzige. Die Versauerung und zunehmende Vermüllung und Verschmutzung der Ozeane, die Überlastung und Unterbrechung von Nährstoffkreisläufen, die Übernutzung von Trinkwasserressourcen und Verschmutzung von Gewässern, die Dezimierung der Biodiversität und die Anreicherung von giftigen Chemikalien in der Umwelt – all das sind sehr bedrohliche Entwicklungen für die Existenz der gesamten Menschheit.

Während Eingriffe in die Umwelt und die Nutzung der Umwelt für menschliche Bedürfnisse notwendig sind und auch im Sozialismus fortbestehen werden, ist es der Kapitalismus, der aus seinem grenzenlosen Drang nach Kapitalakkumulation die Umwelt um der Profite willen zerstört. Die großen Wirtschaftsmächte der Welt weigern sich hartnäckig, wirksame Maßnahmen für ein Umsteuern zu ergreifen. Die Unvereinbarkeit kapitalistischer „Entwicklung“ mit der Erhaltung und Wiederherstellung eines für menschliche Gesellschaften wünschenswerten Zustands der Umwelt, von der alles Leben abhängt, wird hier besonders deutlich. Der unstillbare Drang des Kapitals nach maximalem Gewinn forciert nicht nur die Ausbeutung der Menschen, sondern auch der natürlichen Ressourcen, die für den künftigen menschlichen Fortschritt erforderlich sind.

Diese Phänomene, neben der Bedrohung durch einen globalen Krieg, zeugen davon, dass der Kapitalismus ein im Sterben liegendes System ist. Die entscheidende Frage ist, ob er rechtzeitig durch eine revolutionäre Umwälzung überwunden wird, oder ob die Menschheit mit ihm den Weg in die Barbarei und sozialen Rückschritt beschreitet. Trumps Ankündigung von 2017, dass die USA das Pariser Abkommen zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen und anderer „Klimakiller“ zurückweisen wollen, bestätigt dies. Doch der US-Rückzug verhüllt die Tatsache, dass weder die „entwickelten“ Hauptemittenten der Welt wie die USA, Japan und die Europäische Union noch die „sich entwickelnden“ Giganten wie China und Indien wirklich bereit sind, die Gewinne der Konzerne zu gefährden, um die notwendigen Emissionsminderungen vorzunehmen. Schlimmer noch: die meisten Regierungen und Großkonzerne ignorieren weiterhin alle Pläne und Vorschläge von WissenschaftlerInnen und UmweltaktivistInnen, wie die bevorstehende Katastrophe zu verlangsamen oder umzukehren ist.

Der Kapitalismus zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern hat sich global zu einem System des Umweltimperialismus entwickelt. Die Ausbeutung in den halb-kolonialen Ländern wird systematisch ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen intensiviert, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu vermehren. Die sozio-ökologischen Auswirkungen werden systematisch in die Halbkolonien ausgelagert. Der Umweltimperialismus ist gekennzeichnet durch unregulierte Weltmärkte, in denen der Handel zugunsten der reichen, imperialistischen Länder organisiert wird. Grundlage dafür ist die immer weiter zunehmende Konzentration von Kapital und die Unterdrückung der halb-kolonialen Länder mithilfe der Kontrolle über entscheidende Technologien und mittels des Kapitalexports.

Alle Proteste der Betroffenen in den Halbkolonien gegen die Projekte der großen Agro-, Saatgut-, Bergbau-, Energiekonzerne etc. führen sofort zum Auftreten der internationalen Geldgeber und Institutionen, die die Regierungen vor Ort dann meist als willige Vollzugsorgane vorfinden. In den imperialistischen Zentren wird der tatsächlich betriebene Raubbau an Mensch und Natur dann mit zynischen Kampagnen über angeblich „nachhaltige“ Produktion verbunden, die es aber nur für die Menschen dort gibt . Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss, ausgehend von den Betroffenen und den globalen Interessen der ArbeiterInnenklasse, auch zentral Forderungen zum Kampf gegen den weltumspannenden ökologischen Raubbau zu Lasten vor allem der Halbkolonien entwickeln.

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur gemildert und umgekehrt werden, wenn die Kontrolle über die Produktion den Händen der großen Kapitalformationen entzogen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. In den letzten Jahrzehnten hat sich starker Widerstand gegen Umweltzerstörung und die Bedrohungen des Klimawandels herausgebildet, ausgehend von lokalen Initiativen gegen bestimmte Großprojekte, großen Bewegungen gegen die falschen politischen Antworten z.B. zur Klimapolitik, Widerstand in Halbkolonien, aber auch Umweltbewegungen in den imperialistischen Zentren. In Europa waren es die Jugendlichen, die mit weltweiten Schüler- und Schulstreiks und direkten Aktionen die Vorreiterrolle spielten. Die Arbeiterbewegung muss sich mit ihnen verbinden, ihre Aktionen und Kampagnen unterstützen und erweitern, ohne zu versuchen, ihre Begeisterung zu unterdrücken. In gewissen Bereichen konnte das bisher ungehemmte Handeln der Großkonzerne und ihrer Helfershelfer in Bezug auf Umweltfragen gebremst werden. Es ist notwendig, diese Erfolge zu einer gesellschaftlichen Kontrolle über die sozio-ökologischen Auswirkungen von ökonomischen Entscheidungen auszubauen. Demokratische legitimierte Kontrollorgane aus Beschäftigten, KonsumentInnen, Betroffenen von Großprojekten, um ihre Zukunft kämpfenden Jugendlichen etc. müssen gebildet und befähigt werden, um über Projekte, Gefährdungsstufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen etc. zu entscheiden. Dem Kapital muss systematisch die gesellschaftliche Kontrolle in Bezug auf die sozio-ökologischen Auswirkungen seines Handelns entgegengesetzt werden. Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und die geplante optimale Nutzung der Ressourcen unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen.

Die folgenden Forderungen richten sich nicht einfach an staatliche und supra-nationale Umweltpolitik, sondern sind Forderungen, die sich nur in einer internationalen Bewegung umsetzen lassen, die die zuvor dargestellte Form demokratisch legitimierter gesellschaftlicher Kontrolle über die hier geforderten Maßnahmen durchsetzt.

• Für einen Notfallplan zum Umbau des Energie- und Transportsystems – weg vom weltumspannenden Verbrauch fossiler Brenn- und Treibstoffe!

• Die großen Konzerne und imperialistischen Staaten wie die USA und die EU müssen für die Umweltzerstörung bezahlen, die sie im Rest der Welt verursacht haben. Für Reparationszahlungen, um die halb-kolonialen Ländern darin zu unterstützen, den notwendigen ökologischen Wandel herbeizuführen.

• Für einen Plan zum Ausstieg aus der fossilen und nuklearen Energieerzeugung. Für massive Investitionen in regenerative Energieformen wie Wind-, Wasser- und Sonnenenergie sowie in geeignete Speichertechnologien!

• Für ein großes globales Programm zur Wiederaufforstung zerstörter Wälder bei gleichzeitigem Schutz der noch vorhandenen naturnahen Ökosysteme!

• Für den Schutz und das Recht auf Selbstbestimmung der indigenen Völker!

• Für die Unterstützung der Kämpfe der von Umweltzerstörung bedrohten Bevölkerungen und indigener Völker!

• Für ein globales Programm zum Schutz der Wasserressourcen. Für massive Investitionen in Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung!

• Für ein globales Programm zur Ressourcenschonung, Müllvermeidung und Abfallmanagement.

• Für die Umstellung der Landwirtschaft auf nachhaltige Anbaumethoden. Für die Enteignung des Großgrundbesitzes und eine Verteilung von Land an die Menschen, die es bebauen (wollen). Für tiergerechte Haltungsbedingungen in allen landwirtschaftlichen Betrieben! Für die Intensivierung der Erforschung nachhaltiger Anbausysteme unter Kontrolle der BäuerInnen und ArbeiterInnen! Wo nötig auch die Verpflichtung zur Anwendung von ökologisch nachhaltigen Anbaumethoden wie der ökologischen Landwirtschaft unter Berücksichtigung der Ernährungssicherheit.

• Kostenloser Nahverkehr für alle und massive Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme! Umbau des Verkehrssystems zu einem auf Schienenverkehr basierenden System, sowohl bei der Personen, als auch bei der Güterbeförderung. Gleichzeitig massive Reduktion von Auto, LKW und Flugverkehr!

• Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses! Abschaffung des Patentschutzes! Für die Zusammenführen dieses Wissens, um nachhaltige Alternativen zu bestehenden Technologien zu schaffen. Echte Unterstützung der weniger entwickelten Ländern durch Technologietransfer!

•  Verstaatlichung aller Umweltressourcen, wie Agrarflächen, Wälder und Gewässer.

• Verstaatlichung aller Energiekonzerne und aller Unternehmen mit Monopolen auf grundlegende Güter wie Wasserwirtschaft, der Agrarindustrie sowie aller Luftverkehrsgesellschaften, Schifffahrts- und Eisenbahnunternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle!

•  Für eine restriktive Chemikalienpolitik nach dem Vorsorgeprinzip, dh keine Zulassung solche Stoffe, die im Verdacht stehen schädlich zu sein! Für das Verbot von Chemikalien, die erwiesenermaßen oder wahrscheinlich gesundheitsgefährend und/oder umweltzerstörend sind, wie z.B. Glyphosat! Grenzwerte oder Gefahrenstufen in der Chemikalienverwendung müssen von Organen demokratisch legitimierter gesellschaftlicher Kontrolle bestimmt werden!

Für den Umbau unserer Städte

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt heute in Städten, aber die Mehrheit von ihnen in Baracken- und Elendsvierteln ohne richtige Straßen, Beleuchtung, sauberes Trinkwasser oder Abwasser- und Abfallentsorgung. Ihre behelfsmäßigen Konstrukionen werden von Erdbeben, Wirbelstürmen, Überschwemmungen und Tsunamis weggerissen, wie wir es in Indonesien, Bangladesch, New Orleans und auf Haiti gesehen haben. Hunderttausende sterben nicht einfach an diesen „natürlichen“ Ereignissen, sondern an einer von Armut geprägten Infrastruktur. Die Flucht der Menschen in die Städte wird durch die Unfähigkeit des Kapitalismus, des Großgrundbesitzes und der Agrarindustrie getrieben, ein Leben auf dem Land zu ermöglichen.

Nur wenige BewohnerInnen dieser Viertel haben dauerhafte und sichere Arbeitsplätze. Ihre Kinder haben keinen Zugang zu Tagesstätten, Kliniken oder Schulen. Kriminelle Banden, DrogendealerInnen und Polizei nötigen und erpressen die BewohnerInnen. Frauen und Jugendliche werden in Prostitution und sexuelle Sklaverei oder Sklavereiarbeit in gefährlichen und gesundheitsschädigenden Klitschen (Sweatshops) gezwungen. Echte Sklaverei und der Handel mit Menschen nehmen wieder zu. Dies ist ein weiteres Phänomen, das nach Abschaffung des Kapitalismus schreit! Dieses entsetzliche Anhäufung menschlichen Elends muss ein Ende haben.

Dies kann aber nicht mit dem bisschen Hilfe aus reichen Ländern, Spendenveranstaltungen, NGOs oder von Kirchen, Moscheen und Tempeln betriebenen Wohltätigkeitsorganisationen erreicht werden. Auch Selbsthilfe- oder Mikrokreditprogramme können diese enormen Probleme nicht lösen. Die Bevölkerung der Barrios, Favelas und Townships kann, wie sie gezeigt hat, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Durch Massenmobilisierungen in Venezuela, Bolivien und Südafrika konnte sie bereits Reformen durchsetzen. Im Verbund mit der ArbeiterInnenklasse kann sie mittels einer gemeinsam durchgeführten sozialen Revolution den repressiven Staat und die wirtschaftliche Ausbeutung zerschlagen und an ihrer Stelle eine auf Komitees und Räten der ArbeiterInnen und Armen gegründete Gesellschaft aufbauen als Instrument zur vollständigen Transformation unserer Städte.

• Wohnungen, Licht und Strom, Abwasser- und Müllentsorgung, Krankenhäuser und Schulen, Straßen und öffentliche Verkehrsmittel für die EinwohnerInnen der riesigen und rasch wachsenden Armutsviertel, die alle Großstädte der „Entwicklungsländer“ umgeben, von Manila und Karatschi bis Mumbai, Mexiko-Stadt und Sao Paulo!

• Für ein Programm öffentlicher Arbeiten unter der Kontrolle der ArbeiterInnen und der Armen! Für einen kostenlosen Personennahverkehr und Berufsverkehr für die ArbeiterInnen!

• Massive Investitionen in Sozial- und Gesundheitsdienste, Wohnungswesen, öffentliche Verkehrsmittel und eine saubere, nachhaltige Umwelt!

• Unterstützung der Kämpfe von KleinbäuerInnen, LandarbeiterInnen und Landlosen!

Die Landfrage und das Leben auf dem Land

Noch leben 45 Prozent der Menschheit in Dörfern, auf Plantagen und in den ländlichen Gemeinschaften indigener Völker. Bis 2050, so schätzt die UNO, wird sich diese Zahl auf ein Drittel reduzieren. Die Landflucht ist nicht nur durch den Reiz des Stadtlebens motiviert. Für die meisten MigrantInnen überwiegen die Nachteile der Slums, der Kriminalität und der Überausbeutung die Vorzüge des Stadtlebens bei weitem. Verantwortlich ist vielmehr die Unfähigkeit des Kapitalismus, ein Minimum an würdigem Leben auf dem Land zu bieten. Das Ausbleiben und Scheitern von Landreformen hat die Arbeitslosigkeit in den Dörfern und Landlosigkeit verstärkt. Die Kluft zwischen Einkommen, Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Kommunikation dort und dem in den Städten verfügbaren ist oft enorm. Darüber hinaus sind die LandbewohnerInnen von der Zerstörung der ländlichen Umwelt durch Industriezweige wie Holzwirtschaft, Bergbau sowie durch Monokulturen und andere wirtschaftliche Aktivitäten betroffen, die zu Überschwemmungen oder zur Auslaugung des Bodens führen. Zugleich konzentriert der Kapitalismus unermüdlich Landbesitz in den Händen einer wohlhabenden Elite oder des internationalen Agrobusiness. Von China und Bengalen bis Südamerika und Afrika werden Bauern/Bäuerinnen und indigene Gemeinschaften vom besten Land vertrieben und müssen in die Slums der Städte wandern.

Das Leben auf den Plantagen, auf denen Zucker, Kaffee, Tee, Baumwolle, Sisal, Gummi, Tabak und Bananen erzeugt werden, reproduziert viele der Merkmale der Sklaverei und von unfreien Vertragsarbeitsverhältnissen. PlantagenarbeiterInnen werden oft in Schuldknechtschaft gezwungen. Eine Revolution auf dem Lande, angeführt vom Proletariat, den landlosen Bauern/Bäuerinnen oder kleinen LandbesitzerInnen, bleibt immer noch eine mächtige Verbündete der städtischen ArbeiterInnenschaft und diese ist wiederum eine unverzichtbare Unterstützung für ihre Schwestern und Brüder auf dem Land.

• Enteignung der OligarchInnen, ehemals kolonialer Plantagen und des multinationalen Agrobusiness unter Kontrolle von ArbeiterInnen, armen BäuerInnen und LandarbeiterInnen!

• Das Land denen, die es bebauen!

• Abschaffung der Pachtrente und Streichung aller Schulden der armen BäuerInnen!

• Kostenlose Kredite für den Kauf von Maschinen und Dünger; Anreize, um die SubsistenzbäuerInnen zu ermutigen, freiwilligen Produktions- und Vermarktungsgenossenschaften beizutreten!

• Freier Zugang zu Saatgut, Abschaffung aller Patente in der Landwirtschaft!

• Modernisierung des ländlichen Lebens. Volle Elektrifizierung, Internetzugang und moderne städtische Einrichtungen. Stopp der Abwanderung der Jugend aus dem ländlichen Raum durch die Förderung kreativer und kultureller Aktivitäten.

• Gegen die Armut auf dem Land; Einkommen, Zugang zu Gesundheit, Bildung und Kultur an die Städte angleichen! Dies allein kann die pathologische Form der Verstädterung des Kapitalismus verlangsamen und umkehren und den Weg zu dem im Kommunistischen Manifest festgelegten Ziel ebnen: „Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.“




Umweltpolitik und Umweltbewegung, Kritik des ökologischen Bewusstseins

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Dieser Artikel ist der Versuch einer dialektisch-materialistischen Analyse von Umweltpolitik und ihren Diskursen in der bürgerlichen Epoche, insbesondere in der gegenwärtigen Periode der Verschränkung von kapitalistischer und ökologischer Krise. Es handelt sich daher nicht um eine deskriptiv-normative Darstellung von Umweltpolitik, die von solchen ideologischen Konstrukten wie „wertfreier Wissenschaft“, „mündigen KonsumentInnen“, „Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie“, „ökologisch korrekter Lebensweise“ oder Ähnlichem ausgeht.

Es geht aber auch nicht um eine bloße Entlarvung von „apokalyptischen Narrativen“ einerseits oder den Erzählungen von einem nachhaltigen, grünen kapitalistischen Wachstum andererseits. Als gesellschaftliche Erscheinungen sind Umweltpolitik und ökologische Theorie Produkte einer langwierigen Auseinandersetzung, die in letzter Instanz wie alles im Kapitalismus mit Klassengegensätzen, Produktions- und Eigentumsverhältnissen zu tun hatten und haben. Die Umweltproblematik ist daher selbst bei Beschränkung auf die bürgerliche Epoche nie ahistorisch immer als ein und dasselbe zu betrachten. Sie wird vielmehr durch die beständige Veränderung des globalen (Re-)Produktionsprozesses, der sich wandelnden Klassenzusammensetzungen, der sich ändernden Verhältnisse von Wissenschaft, Technik, Politik und ihrer ideologischen Widerspiegelungen etc. immer wieder neu definiert. Entsprechend radikal ändern sich die AkteurInnen, die Zuspitzungen, die Aufgabenstellungen etc., in denen sich Umweltpolitik und ökologische Theorie notwendigerweise jeweils darstellen. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. … Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus“ schreiben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ (Marx/Engels 1959, S. 465).

Dieser revolutionäre und letztlich planlose Gesamtprozess bestimmt auch das Verhältnis zur Ökologie, der im Kapitalismus auch Umweltpolitik beständig neu definiert und einstmals „erreichten Stand“, „umweltpolitische Erfolge“ etc. einer Periode sofort wieder zu Staub von gestern macht. Andererseits: „Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse … “ (ebd., S. 467). Die Krisenhaftigkeit als Kernbestandteil kapitalistischer Entwicklung ist dabei nicht nur eine ökonomische, mit sozialen und politischen Folgen – sondern notwendigerweise auch ein ökologischer, die natürlichen Grundlagen jeglicher Produktivkraft bedrohender Bruch in diesem Entwicklungsprozess.

Umweltpolitik und ökologische Theorie in der bürgerlichen Epoche können daher nur verstanden werden durch ihre jeweilige Einordnung in diesen Veränderungsprozess, der gleichermaßen die beständige Revolutionierung aller Verhältnisse beinhaltet wie auch den krisenhaften Verlauf dieses Prozesses – und der letztlich immer die grundlegende Frage nach der Umwälzung der Produktionsverhältnisse, d .h. Eigentumsverhältnisse selbst stellt. Wenn im folgenden Artikel ein Zickzack von Bewegungen, Theoremen und Bewegungen behandelt wird, dann liegt dies nicht nur an der Unfähigkeit des Autors zur Strukturierung der Thematik. Es ist auch so, dass sich die Darstellungsform dieser dynamischen Entwicklung und ihrer beständigen Brüche anpassen muss, will man nicht den vorherrschenden bürgerlichen Verständnissen von Umweltpolitik aufsitzen.

1. Bürgerliche Umweltpolitik – von Beginn an mit Widersprüchen behaftet

Umweltpolitik war immer schon Teil bürgerlicher Politik – auf eine ganz spezifische Weise. Als Kernelement liberaler Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert wurde der Fortschritt der Produktivkräfte in der Neugestaltung der städtischen Infrastruktur fortgeführt mit dem Ziel von „Hygiene“ und gesünderen Lebensverhältnissen: in großen Projekten der Kanalisation, der Wasserversorgung, der Abfallentsorgung, großzügigeren Anlagen von Wohnvierteln, Parkanlagen etc. Dies war zwar ein Schwerpunkt bürgerlicher Politik – ging aber an den größten, wachsenden Teilen (Rändern) der Städte völlig vorbei. Eindrucksvoll schildert dies Friedrich Engels in „Die Lage der arbeitenden Klasse In England“ (Engels 1962). Ausführlich stellt er den Kontrast zwischen den modernen bürgerlichen Stadtvierteln von Manchester zu den Behausungen der ArbeiterInnenviertel, die zumeist nicht mal als Teil der Stadt anerkannt wurden, dar. Die Beschreibung des völlig verschmutzten Flüsschens Irk, im Zentrum eines dieser Viertel gelegen, lässt noch heute Übelkeit hochsteigen (S. 281 ff.). Keine Kanalisation, kaum fließendes Wasser, der Fluss als Kloake und dabei noch das letzte Kellerloch neben dem herabfließenden Urin überteuert vermietet – das war die schreckliche Kehrseite der immer grüner und moderner gestalteten bürgerlichen Großstadt.

Dieser hier angedeutete Widerspruch durchzieht auch alle anderen umweltbezogenen Bereiche: ein wachsendes Verständnis für natürliche Kreislaufprozesse, für das Funktionieren von Natur, die Empfindlichkeit der Artenvielfalt ebenso wie die Entdeckung von Natur als Erholungsraum – all dies kontrastierte damit, was die wachsende Industrialisierung nicht nur der arbeitenden Klasse antat. Diese wurde im Produktionsprozess ungeschützt gefährlichen Chemikalien, wie Chlor und Blei, aber auch metallhaltigen Feinstäuben ausgesetzt. Darüber hinaus wurde durch die immens steigende Kohleverfeuerung Schwefel in ungeheurer Menge freigesetzt, der Schwefeldioxid bildete und damit nicht nur ungesunden Smog, sondern vor allem auch sauren Regen hervorbrachte, der für die Pflanzenwelt in der Nähe der Industriegebiete tödlich war. Zusammen mit dem erhöhten Holzbedarf wurden mit diesem sauren Regen insbesondere die Wälder in gewaltigem Ausmaß die Opfer der Industrialisierung.

Es ist daher klar, dass die hier angedeuteten Probleme sowohl in der frühen ArbeiterInnenbewegung, in Organisationen der Land- und Forstwirtschaft, aber auch in den Teilen der Bourgeoisie, die von dem Widerspruch der fortschrittlichen Ansprüche zu den realen Ergebnissen geplagt waren, zu einer politischen Reaktion führten.

Kapitalismus ist ein System, das primär auf der Ausbeutung produktiver Arbeit (in Form der Aneignung von Mehrwert) beruht. Die Verwertung der Mehrarbeit setzt aber die Reproduktion der Ware Arbeitskraft genauso voraus wie die scheinbar unbegrenzte Zufuhr natürlicher Ressourcen bzw. Entsorgung von Abfallstoffen in natürlichen Senken – was über einen längeren Zeitraum selbst auch wieder auf den natürlichen Reproduktionskreisläufen beruht. Insbesondere der Zwang zu stets wachsender Akkumulation führt zu einer Unterwerfung der menschlichen und natürlichen Reproduktion unter die Anforderungen der produktiven Verwertung bis an die Grenzen des Erträglichen: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Marx 1968, S. 529 f.).

Diese destruktive Tendenz des Akkumulationsprozesses bedeutet, dass das Kapital aus sich heraus, als konkurrenzierende Einzelkapitale, keine Schranken dieses Ausbeutungsprozesses auch gegenüber der Natur entwickelt. Das heißt jedoch nicht, dass die bürgerliche Klasse dem nur tatenlos zusieht. Hier kommt es zum Auftreten des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist“. Der Widerspruch, dass das Kapital mit seinem schrankenlosen Wachstumstrieb seine eigenen Grundlagen in der Reproduktion untergräbt, wird durch staatliche Maßnahmen in weniger explosive Bewegungsformen abgeschwächt – immer in Unterordnung unter das durch die Konkurrenz der Kapitale erzwungene Verwertungsprinzip. Diese staatliche „Moderation“ wird einerseits durch den Klassenkampf angetrieben. Dieser bewirkte eine Kanalisierung der sich zuspitzenden sozialen Kämpfe, die Integration der ArbeiterInnenbewegung in die kommunale Politik zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in den ärmeren Vierteln, ebenso Arbeitsschutz- und Umweltauflagen für Produktionsanlagen aufgrund der Kämpfe der ArbeiterInnen, aber auch von agrarischen Klassen.

Andererseits verkörpert gerade die „Umweltpolitik“ in hervorragender Weise die von Marx beschriebene Spaltung des bürgerlichen Menschen in den „Privatmenschen“ (den Bourgeois) und den „öffentlichen Menschen“ (den Citoyen). Als Bourgeois kann man AnteilseignerIn der größten Dreckschleuderfabrik sein, während man als gute/r StaatsbürgerIn steuerlich absetzbar „großzügig“ an Naturschutzverbände spendet. Auch die großen deutschen Naturschutzverbände, wie Nabu oder BUND, ganz zu Schweigen von bestimmten Tier- und Landschaftsschutzvereinigungen, können ihre Geschichte bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Nichts scheint klassenübergreifender, allgemeinen humanistischen oder globalen Zielen untergeordneter zu sein als der „Naturschutz“. Ohne unmittelbaren Klassenbezug wird aber umso deutlicher, dass es entweder die Klasse der GroßspenderInnen oder der Klassenbezug des Staates sind, die diesen „Naturschutz“ in das Gesamtsystem einordnen – d .h., dass dieser eben letztlich den ökonomischen Interessen des Akkumulationsprozesses untergeordnet bleibt. Der besprochene Widerspruch ist also nicht aufgehoben, sondern hat eine besondere Bewegungsform gefunden: Vorhaben des Kapitals (ob nun der Industrie, Energiewirtschaft, des Straßenbaus etc.) müssen nunmehr Genehmigungsprozesse in Bezug auf Arbeits- und Umweltschutz durchlaufen, in denen z. B. Umweltverbände und betroffene Gemeinden oder Bürgerinitiativen Gehör finden. Entsprechend komplex werden Gesetzgebungen bzw. die juristischen Verfahren rund um solche Genehmigungen, Kontrollbestimmungen oder z. B. in Fragen von Haftungen bei „Zwischenfällen“. An der destruktiven ökologischen Grundtendenz der Kapitalakkumulation wird dies niemals etwas ändern – jedenfalls aber ist es zu einem breiten Feld bürgerlicher Politik (und auch Justiz) geworden. Die grundlegenden Umweltprobleme lassen sich im Kapitalismus nicht lösen, sondern nur in gewissen Grenzen einhegen, regulieren und administrativ abmildern. Wie wir später besprechen werden, stößt diese Form des Umweltreformismus bei den globalen ökologischen Bedrohungen heute an eine absolute Grenze.

2. Veränderungen von Umweltpolitik mit dem Nachkriegsboom

Mit der Illusion der „sauberen“ fordistischen Fabrik, Massenkonsum, „Wohlfahrtsstaat“ und Massentourismus schien die Lage der arbeitenden Klassen weit weg von den Zeiten des Manchester-Kapitalismus – auch der/die ArbeiterIn hatte jetzt in abgepackter Form seinen/ihren kleinen Anteil an Naturgenuss und „gutem Leben“. Wie schnell sich dies selbst in der imperialistischen Welt für die große Masse als Illusion erwies, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Die „imperiale Lebensweise“ als allgemeine Zurechnung für MetropolenbewohnerInnen haben wir an anderer Stelle zurückgewiesen (siehe Artikel zum Umweltimperialismus in diesem RM). Allerdings war die Phase des Aufstiegs dieser fordistischen Illusion wirkkräftig genug, um die meisten sozialdemokratischen Organisationen und die damit verbundenen Gewerkschaften vollends in Co-Managementorganisationen zu verwandeln, die dabei auch ihre umweltpolitische Vorreiterrolle abgegeben haben. Nichts verdeutlicht dies mehr als die Verstrickungen der Sozialdemokratie in kommunale Unternehmen von der Abfall-, Bau-, bis Energiewirtschaft, andererseits die Unterordnung unter die Profitinteressen der wichtigen Arbeit„geber“Innen vor Ort (man denke an die besondere Beziehung von SPD und IG Metall zu „unserer“ Automobilindustrie).

In den Halbkolonien sind die Verhältnisse natürlich noch andere. Wie wir in unserer „Umweltimperialismus“-Analyse ja klar gemacht haben, wurden viele umweltpolitischen „Fortschritte“ in den imperialistischen Ländern dadurch erzielt, dass die umweltschädlichsten Verwertungsprozesse in Halbkolonien verlagert wurden, was insbesondere durch die (ebenfalls extrem umweltschädlichen) globalen Lieferketten auch immer leichter wird. Dabei entstanden in der Peripherie Wohn- und Arbeitsbedingungen, die gegen Engels’ Schilderung der Lage in Manchester zu seiner Zeit keine wesentliche Veränderung erkennen lassen. Insofern sind die Umweltbewegungen in diesen Regionen dann auch sehr viel mehr klassengeprägter als hierzulande. So stehen an vorderster Front der „Umweltbewegung“ in Brasilien solche Organisationen wie die MTST, als Organisation der FavelabewohnerInnen, die z. B. gegen die hygienische Nichtversorgung riesiger Stadtgebiete kämpft, oder die MST (die „Bewegung der landlosen ArbeiterInnen“), die sich gegen den ökologischen Wahnsinn der Projekte der Agroindustrie zur Wehr setzt. Ebenso sind es in Indien vor allem Organisationen der Kleinbauern und -bäuerinnen, die gegen Staudammprojekte oder Vernichtung von Agrarland durch Großprojekte auf die Straße (oder die Felder) gehen. Mit „Via Campesina“ hat die arme Landbevölkerung auch eine internationale Organisation geschaffen, die in der globalen Umweltbewegung eine wichtige Rolle spielt. Dagegen sind „grüne Parteien“ mit klassenübergreifendmn Anspruch in den Halbkolonien zumeist Projekte der Rechten – in Brasilien z. B. in Verbindung zu Evangelikalen.

Wenn wir uns daher jetzt der sogenannten „zweiten Umweltbewegung“ zuwenden, sollte klar sein, dass diese in verschiedenen Weltregionen sehr unterschiedlichen Charakter trug und trägt.

3. Die zweite Periode der Umweltbewegung und die Veränderung der Klassenstruktur

Wenn man von einer „zweiten Umweltbewegung“ seit den 1970er Jahren spricht, dann deswegen, da die als „erste Welle“ im 19. Jahrhundert entstandenen Organisationen des Natur- und Umweltschutzes wie auch die Umweltpolitik der ArbeiterInnenbewegung zumindest in den imperialistischen Ländern durchaus Veränderungen und Begrenzungen der Umweltzerstörung durch das Kapital hervorgebracht hatten. Andererseits war mit dem großen Boom nach 1945 und der neuen Stufenleiter kapitalistischer Akkumulation vor allem in Bereichen der chemischen Industrie, Mobilität, der Energieproduktion aber auch der Agrarchemie auch eine neue Etappe der Naturzerstörung eingeläutet worden. Beispiele dafür waren der massive Einsatz von DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan; Kontakt- und Fraßinsektizid), die Schaffung der „autogerechten“ Stadt, aber auch die Einführung der Kernenergie als Grundlage für die Energiewirtschaft der „Zukunft“. In Zusammenhang mit der StundentInnenbewegung der 1968er Jahre provozierte dies eine neue Protestbewegung gegen Naturzerstörung und immer lebensfeindlicher werdender Städte. In Deutschland formierten sich zu vielen kleineren kommunalen Fragen Bürgerinitiativen, die sich später bundesweit im BBU (Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz) eine grundlegende Infrastruktur gaben. Vor allem aber wurde die Kernkraft und ihre Verschmelzung von Großindustrie und politischer Macht zum zentralen Mobilisierungsfokus der Protestbewegung.

Wieder war es also der Widerspruch von Fortschrittsanspruch und realen, immer globaler werdenden destruktiven Momenten der Kapitalakkumulation, der zum Auslöser schwerer politischer Auseinandersetzungen wurde.

Die Geschichte des DDT ist hier sicherlich ein Musterbeispiel. Dieses Produkt der Chlorchemie wurde als ein sehr einfach und in großer Menge herstellbares Produkt des Schweizer Unternehmens Geigy um die Zeit des 2. Weltkriegs als großartiger Durchbruch in der Insektenbekämpfung gefeiert. Es wurde z. B. in Massen zur Läusebekämpfung in Großunterkünften, Checkpoints etc. verwendet, um den Ausbruch von Pandemien zu unterdrücken. Das weiße Pulver als Allzweckwaffe schien in eine neue, „chemisch saubere“ Zukunft zu führen. Im Laufe der 1950er Jahre entdeckte man, dass die eigentlichen „Schädlinge“ inzwischen Resistenz entwickelt hatten, während deren natürliche FeindInnen z. B. unter den Käfern ausgerottet wurden – Konsequenz: einfach mehr von dem Zeug verwenden! Auch die Auswirkungen auf den menschlichen Organismus wurden nicht untersucht, da man lange keine unmittelbaren Konsequenzen nachweisen konnte. Auch wenn sich unter FachwissenschaftlerInnen Kritik häufte, kam der Wendepunkt erst mit einem Buch, das diese prägnant und ungemein massenwirksam verbreitete: „Der stumme Frühling“ von Raquel Carson, erschienen 1962 (Carson 1662). Darin wies die Autorin, die selbst lange in biochemischer Forschung gearbeitet hatte, nach, wie DDT mehrere Nahrungsketten von Lebewesen durchläuft und dabei nicht nur mehrere bekannte Arten an den Rand des Aussterbens brachte, sondern sich auch in menschlichen Nahrungsmitteln anreicherte. Die berühmte Geschichte vom aussterbenden Käfer, der dann zum Aussterben der ersten Vogelart, dann der nächsten etc. führt, bis kaum mehr Blätter tragende Bäume einen stummen Frühling andeuten – dieses bedrohliche Bild drang damit ins öffentliche Bewusstsein. Mit Carson begann eine vermehrte wissenschaftliche und öffentliche Beschäftigung mit ökologischen Zusammenhängen und Auswirkungen von chemischen und sonstigen Eingriffen in natürliche Kreisläufe, vom Artensterben, über Anreicherung bestimmter Wirkstoffe in der Nahrungskett, bis zu Diskussionen um Grenzwerte und Nachhaltigkeit. Viele der Naturschutzorganisationen und ihre wissenschaftlichen BegleiterInnen wurden aus ihrem Nischendasein gerissen und in scharfe politische Auseinandersetzungen gezwungen. Carson ist da auch ein deutliches Beispiel: Die großen chemischen Konzerne begannen mit einer Schmutzkampagne ohnegleichen gegen die angebliche Kommunistin, die durch ihre gefährliche Propaganda millionenfach Menschenleben bedrohe, wenn das „gute“ DDT nicht weiter ungehemmt verwendet würde. Letztlich wurde es dann infolge langwieriger Untersuchungen, parlamentarischer Verfahren und Anhörungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre aus dem Verkehr gezogen. Diese Auseinandersetzung um „Risiken und Nebenwirkungen“ von Chlorchemie bis zu radioaktiver Strahlung wurde zu einem Feld heftigster Polemik zwischen den „seriösen“ konzernnahen WissenschafterInnen und ihren OpponentInnen, zumeist WissenschaftlerInnen, die den Umweltverbänden näherstanden. Dieser Kampf konnte für letztere nur erfolgreich sein, wenn es zu massiven Mobilisierungen und öffentlichem politischen Druck kam, der die KonzernlobbyistInnen in ihrem kurzen Draht zur Politik störte. Die „zweite Umweltbewegung“ ist wesentlich gekennzeichnet durch eine Politisierung der Wissenschaften, die für die ökologischen Folgen der Industrieexpansion nach 1945 relevant waren – also insbesondere Chemie, Biologie und Kernphysik. Zu der Tendenz bürgerlicher Umweltpolitik, Unmengen an Verordnungen und juristischen Verfahren anzusammeln, kam nun die Flut von wissenschaftlichen Daten, Grenzwerten und Untersuchungsverfahren mitsamt der zugehörigen Institutionen.

Insgesamt haben sich mit dem „Nachkriegsboom“ Trends in der Veränderung von Produktionsprozess und Klassenstruktur durchgesetzt, die auch für Umweltpolitik und -bewegungen von entscheidender Bedeutung wurden. Die Dampfkraft als zentrale Antriebstechnologie, repräsentiert durch „rauchende Fabrikschlote“ und Dampflokomotiven, verschwand endgültig. Mit verstärkter Durchsetzung von Elektrizität und auf Erdöl basierenden Technologien zur Energiegewinnung und Kunststoffproduktion, bekamen Umweltprobleme ein anderes, nicht mehr so „rußgeschwärztes“ Gesicht. Zentralisierte Energiegewinnung in Form von Wasser-, Kohle- oder Atomkraftwerken lösten Auseinandersetzungen um Fabriken als die wichtigsten „Dreckschleudern“ ab – und hoben die Auseinandersetzungen auf eine viel allgemeinere, politischere Ebene. Durch die Verbindung von großen Energiekonzernen, Politik und Gewerkschaftsbürokratie (vorgeblich mit Unterstützung der um „ihre Arbeitsplätze“ besorgten Beschäftigten), wurde der Widerstand gegen die Umweltfolgen immer mehr zu einer Erscheinung außerhalb der traditionellen ArbeiterInnenbewegung und der betreffenden Betriebe selbst.

3.1 ArbeiterInnenklasse und die wachsenden Umweltrisiken

Dies trifft selbst zu, wenn die Umweltproblematik klar mit den einzelbetrieblichen Abläufen zu tun hat wie z. B. in der chemischen Industrie. Besonders krass wird dies deutlich bei den großen Chemieunfällen wie z. B. 1976 im norditalienischen Seveso (Region Lombardei).

In dem zum Schweizer Hoffmann-La-Roche-Konzern gehörenden Werk Icmesa in der Nähe der Gemeinde Seveso wurde eines der berüchtigten Produkte der Chlorchemie, Hexachlorophen, hergestellt (wie sich später herausstellte, nicht nur als Desinfektionsmittelzusatz in Kosmetika, Pharma- und Agrarprodukten, sondern vor allem zur Weiterverarbeitung in den USA für das „Entlaubungsmittel“ Agent Orange – für den Einsatz im Vietnamkrieg). Dabei entsteht im Reaktor bei zu großer Wärme als Nebenprodukt 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, kurz „Dioxin“ (später auch „Sevesogift“) genannt. Aufgrund ungenügender Sicherheitsvorkehrungen erkannte das Wartungspersonal an einem Wochenende nicht, dass sich im Reaktor ein Wärmestau entwickelte, der innerhalb von nur 7 Minuten zu einer Explosion führte. Herangeführtes Fachpersonal konnte erst nach fast eineinhalb Stunden die Reaktortemperatur wieder herunterfahren – bis dahin war eine bis heute unbekannte Masse an Dioxin in die Umwelt entwichen und als Giftwolke über den Umlandgemeinden, insbesondere Seveso, niedergegangen. In den folgenden Tagen begannen Blätter und Gräser zu verwelken. Über 3.000 Tierkadaver wurden gefunden, 200 Menschen, insbesondere Kinder erkrankten an Chlorakne. Der Betrieb wurde aber weitergeführt! Hoffmann La-Roche reagierte mit einer gezielten Desinformationskampagne. Die Tatsache, dass Dioxin im Spiel war, wurde verschwiegen. Die konzerneigenen Untersuchungen „belegten“, dass Erkrankungen nicht ursächlich mit dem Unfall zu tun hatten etc. Erst unabhängige Untersuchungen vor Ort enthüllten die massive Belastung der Umgebung mit Dioxin und die bedrohliche Gesundheitslage. Erst eine Woche nach dem Unglück traten die ArbeiterInnen, entgegen den Aufforderungen der Gewerkschaftsführung, in einen wilden Streik. Erst danach entschlossen sich auch die Behörden zur Schließung des Betriebs. Insgesamt musste an der Dekontamination von Werk und Umgebung mehr als 6 Jahre gearbeitet werden. Die Zahl der Opfer bleibt weitgehend unbekannt, wie auch der Verbleib vieler „entsorgter“ Tonnen von Chemieabfällen. Die beteiligten ManagerInnen blieben, dank der AnwältInnen von Hoffmann La-Roche und der guten Verbindungen zur Regierung Andreotti, weitgehend ohne Strafe – wenn nicht die „Roten Brigaden“ einen der Produktionsleiter erschossen hätten. Weitaus schlimmer traf es wenige Jahre später 1984 ArbeiterInnen und Bevölkerung im indischen Bhopal (Bundesstaat Madhya Pradesh) beim Unfall eines Chemiewerkes des US-Konzerns Union Carbide (heute Dow Chemical). Hier blieb die Dekontamination bis heute aus. Viele Menschen leben inmitten gefährlichster Chemikalie. Bis heute sind an die 25.000 Menschen an den Folgen gestorben, über 100.000 leiden an schweren Krankheiten. Die Unfallursache lag in offensichtlichen Sicherheitsmängeln wegen des Drucks von Produktionsvorgaben. Niemand der Verantwortlichen bei den US-AuftraggeberInnen ist je zur Rechenschaft gezogen worden. Hatte Seveso zumindest zur Folge, dass so gefährliche Werke in Europa nicht mehr gewagt werden, werden von der indischen Regierung den Nachfolgeunternehmen von Union Carbide alle nur möglichen Standortvorteile verschafft.

Die Beispiele zeigen unter anderem aber auch sehr deutlich die Verschiebung der Machtfragen im Betrieb rund um Arbeitsprozesse auf. Lohnabhängiges „vor Ort“ eingesetztes Personal ist kaum mehr in der Lage, die Risiken des Produktionsprozesses abzuschätzen und „Kontrolle“ über den Gesamtprozess zu erlangen – oft ist nur noch die „Notabschaltung“, was „den ArbeiterInnen“ übrig bleibt. Für Risikobeurteilung und Kontrolle ist es erforderlich, dass technisch und wissenschaftlich ausgebildetes Personal aktiv wird. Da dieses in den Betrieben zumeist stark mit dem Management verbunden ist, wie sich an solchen Beispielen immer wieder zeigte, ist außerbetriebliche Unterstützung wesentlich geworden. Der Begriff der „ArbeiterInnenkontrolle“ muss damit von seiner einzelbetrieblichen und auf manuelle ArbeiterInnen bezogenen Verengung befreit werden. Im modernen Produktionsprozess sind Wissenschaft und technisches Wissen immer mehr zur entscheidenden Produktivkraft geworden. Auch insofern hat sich die ArbeiterInnenklasse völlig neu strukturiert (insbesondere in den imperialistischen Ländern).

3.2 Atomkraft und Anti-AKW-Bewegung

3.2.1 Zu den Risiken der Atomindustrie

Diese Veränderungen wurden in den 1970er und 1980er Jahren vermehrt als „Abschied von der Klassengesellschaft“ samt „Abschied vom Proletariat“ analysiert. Die neuen sozialen Bewegungen, insbesondere im Umweltbereich, wurden als Aufkommen von „postmaterialistischen“ Schichten charakterisiert, die nicht mehr dadurch definiert werden könnten, dass sie für ihren Lohn möglichst viel Konsumgüter erlangen wollten. Der entscheidende Umbruch war jedoch, dass mit dem Einsatz von immer mehr Technik und Wissenschaft im Produktionsprozess (z. B. einsetzende Automatisierung, zentrale elektronische Produktionssteuerung, komplexere chemische Prozesse, Energieeffizienzanforderungen etc.) die klassische Bandarbeit der fordistischen Fabrik immer mehr zu Gunsten von technisch-wissenschaftlichem Personal, aber auch von Dienstleistungsbereichen (die ihrerseits auch immer technisierter werden) abgelöst wurden. Damit wuchsen sowohl die Anforderungen an den Bildungsbereich, wie auch größere Schichten von wissenschaftlich gebildeten Lohnabhängigen entstanden. Die 68er-Bewegung entstand sicherlich als Reaktion auf die Widersprüche im Bildungsbereich, die sich daraus ergaben. Sie war aber insgesamt ein Ausdruck des Protests gegen die autoritären (Management-)Strukturen in Betrieben und Staat sowie die Versuche, die Wissenschaft in diesem Prozess vollkommen den Kapitalinteressen unterzuordnen. Nur in dieser Gemengelage lässt sich auch die Entstehung der zweiten Umweltbewegung, als Kind der 68er-Revolte, verstehen. Das hat nichts mit einer neuen „postmaterialistischen“ Orientierung bestimmter Gesellschaftsschichten zu tun. Es geht vielmehr um sehr einschneidende Widersprüche in der Produktivkraftentwicklung. Sich ihrer Lage bewusst werdende Produktivkraftsubjekte erfassen einfach immer mehr den Widerspruch zwischen den allgemeinen Möglichkeiten des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts und den tatsächlichen ökologischen und sozialen Folgen desselben unter kapitalistischen Bedingungen. Durch autoritäre, undemokratische Verhältnisse in den Betrieben selbst verlagert sich der folgende Protest notwendigerweise stark auf das „Außen“ der Betriebe selbst, in denen die Umsetzung der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung erfolgt. Dies fällt zusammen mit der oben beschriebenen Entwicklung von immer mehr Institutionen, in denen diese „Kontrolle“ von außen mehr oder weniger „unabhängig“ versucht wird. Ob im Wissenschaftsbetrieb, in öffentlichen Umweltbehörden, in Gewerkschaften, in klassischen oder neuen Umweltverbänden, in der Presse etc. – überall hier entwickeln sich Elemente von Gegengewichten zur kapitalbestimmten Produktivkraftentwicklung, die sich mit den klassischen betrieblichen Widerständen ergänzen. Es ist klar, dass das dominierende Kapitalinteresse in all diesen privaten oder öffentlichen Institutionen letztlich die Hegemonie behält. Die teilweise Verlagerung des Interessenkampfes außerhalb des Betriebes bedeutet auch, dass das wirksamste Mittel gegen das Kapital, der Streik, weniger eingesetzt wird und mehr die Frage der politischen Gewinnung der „Öffentlichkeit“ in den Vordergrund rückt. Demonstrationen, symbolische Besetzungen, Bürgerinitiativen, Medienkampagnen, politischer und juristischer Druck zur Erwirkung von Baustopps und Ähnlichem sind eher charakteristisch für die neue Umweltbewegung als Streiks. Dies zeigt einerseits die Schwäche dieser Bewegung auf, die zu einem sehr langsamen Tempo von wirksamer umweltpolitischer Veränderung führt (für viele der Probleme auch tatsächlich viel zu langsam). Andererseits wäre es eine ökonomistische Verkürzung, die Anliegen der Umweltbewegung und die Masse der daran Beteiligten deshalb als „kleinbürgerlich“ abzutun. Der Protest der Umweltbewegung stammt unmittelbar aus den zentralen Widersprüchen der Produktivkraftentwicklung im gegenwärtigen Kapitalismus. Dabei ist die Verbindung des daraus erwachsenden Protestes mit betrieblichem Klassenkampf durch betriebliche Zerstückelung und weiterhin bestehender autoritärer Strukturen im Betrieb eine schwierige politische Aufgabe. Dass diese Verbindung linken Organisationen kaum gelungen ist, zeigt daher nicht nur deren tatsächliche Schwäche auf, sondern auch die Größe dieser Aufgabe insgesamt.

In keinem anderen Bereich wird dies so deutlich wie in der Frage des Protests gegen den Mitte der 1950er Jahre beginnenden Umstieg der Energieversorgung auf den scheinbar unbeschränkten Ausbau der Nutzung von „Atomenergie“.

An sich war das Konzept der Gewinnung von Energie auf der Grundlage des Massendefekts, der bei der Kernspaltung schwerer, radioaktiver Elemente entsteht, ein genialer Wurf – und die technische Umsetzung, von der moderierten Reaktivität z. B. von Brennelementen mit angereichertem Uran-235 bis zur Nutzung der entstehenden Wärmeenergie in Turbinen sicher eine Ingenieurmeisterleistung. Leider entsteht aber bei dem Prozess ionisierende Strahlung (Neutronen-, Alpha-, Gamma-), die in unterschiedlicher Weise für organische Lebensformen und auch menschliche Zellen vernichtende Wirkung haben. Diese Strahlung ist nicht einfach „Endprodukt“, sondern nach dem Spaltprozess entstehen Übergangsstoff mit sehr unterschiedlichen Halbwertszeiten, die solche Strahlung noch sehr viel länger abgeben. So entsteht unmittelbar bei Uranspaltung Caesium-137, ein Betastrahler (Neutronen-), bei dessen Zerfall wiederum starke Gammastrahlung auftritt. Dieses hat „nur“ eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren. Die geringere Halbwertszeit deutet auf die erhöhte Radioaktivität, weshalb z. B. die Ausbreitung dieses Isotops wie auch verschiedener Jod- und Kobaltisotope jedenfalls verhindert werden muss. Als „Abfall“ des Spaltprozesses entstehen insgesamt unbeständige radioaktive Stoffe, die Halbwertszeiten von wenigen Sekunden, mehren Tagen, bis zu Millionen von Jahren haben. „Abgebrannte“ Brennelemente enthalten zunächst noch sehr reaktives Material, das noch weiter stark gekühlt werden muss – weshalb „Zwischenlagerung“ anfangs noch extreme Sicherheitsvorkehrungen und Ableitung der Nachwirkungswärme erfordert. Auch abgekühlte Brennelemente enthalten noch stark radioaktive Elemente, die mehrere Jahre besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordern. Erst dann entsteht der „schwach“ radioaktive Müll, der für mehrere tausend Jahre „endgelagert“ werden muss (z. B. Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von über 24.000 Jahren, Jod-129 von 1,5 Millionen Jahren).

Zu Beginn der AKW-Euphorie wurden die Risiken der Strahlungsenergie selbst wie auch die Gefahren des Austritts von lebensbedrohlicher Strahlung während des Betriebs bzw. bei der Atommülllagerung extrem unterschätzt bzw. heruntergespielt. Erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurden die Erkenntnisse über Äquivalenzdosen von Strahlungsbelastungen so präzise, dass man diese Risiken immer genauer erfassen kann und Strahlungsbelastungen mit Krankheits- und Sterblichkeitswahrscheinlichkeiten belegt (auch wenn es hier in Bezug auf z. B. Leukämie und Erbkrankheiten noch viel Forschungsbedarf gibt). Noch zu Beginn der Anti-AKW-Bewegung konnte man „ExpertInnen“ erleben (und dies lässt sich heute noch gut in Medienarchiven nachhören), die diese Risiken in heute unvorstellbarer Weise verharmlosten.

Eben das trifft auch auf die Risiken des Betriebs und die Lagerungsproblematik des Atommülls zu. Selbst die AKW-BetreiberInnen wussten natürlich um die Schwachstellen in der Kühlproblematik, die Gefahren des Austritts von radioaktiv belastetem Kühlwasser, des Ausfalls der Kühlsysteme etc.. AKWs wurden daher auch so ausgelegt, dass bei einem Ausfall der Kühlsysteme (GAU) noch rechtzeitig die Reaktivität heruntergefahren werden können sollte. Aufgrund solcher Systeme wurden Unfälle beim Betrieb von Kernkraftwerken für total unwahrscheinlich bezeichnet. Alle „ExpertInnen“ und ihre politischen Frontleute erklärten, in wieviel Millionen Jahren mal vielleicht ein größerer Störfall aufträte und sie natürlich jederzeit in die Nachbarschaft eines AKW zögen. Beim Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 war es gerade der Notabschaltvorgang, der aufgrund sehr unglücklicher Umstände letztlich der „Funke“ war, der das zuvor entstandene explosive Gasgemisch zur Explosion brachte. Bei der Havarie 2011 der Reaktoren Fukushima 1 – 4 war das Kühlsystem durch ein Erdbeben ausgefallen und beim folgenden Tsunami waren dann auch noch sämtliche Notkühlsysteme zerstört worden. Bei beiden Unfällen barst der Reaktormantel und eine radioaktive Rauchwolke (natürlich mit Caesium-137) entwich in die Atmosphäre. In Fukushima konnte Schlimmeres nur durch massive Kontamination des Meeres mit Kühlwasser verhindert werden. In beiden Fällen kam es zusätzlich zu einer Kernschmelze, so dass eine extreme Verseuchung des Grundwassers drohte – wenn nicht durch aufwändige Notbaumaßnahmen der Reaktorrest „eingesargt“ worden wäre. Durch das Opfer der „LiquidatorInnen“ und der „Fukushima 50“ wurden zwar wahrscheinlich Millionen von Menschenleben gerettet, aber die Verseuchung von tausenden Quadratkilometern Boden für unbestimmte Zeit samt unbekannten Folgen durch Fallout über tausende Kilometer hinweg wie auch die Auswirkungen auf die Meeresbiologie sind ein zusätzlich hoher Preis.

Der inzwischen gut rekonstruierte Ablauf der Katastrophe von Tschernobyl wie auch des Beinahe-GAU von Three Mile Island (bei Harrisburg; US-Bundesstaat Pennsylvania) 1979 zeigen, wie komplex die Abläufe in einem AKW (sämtlicher Bauarten) sind und wie schwer es für jegliches Bedienungspersonal im Krisenfall ist, innerhalb kürzester Zeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Natürlich kann man sich immer noch mehr Sicherungsmaßnahmen gegen noch so „unwahrscheinliche“ Verkettungen unglücklicher Umstände vorstellen. Irgendwann muss dann der Sicherheitsaufwand zur Minimierung des „Restrisikos“ mit den dafür notwendigen Kosten abgewogen werden – und wo da im Kapitalismus die Grenzen sind, ist wohl klar. Schon zu Beginn des Aufbaus der Kernenergie wurde in den kapitalistischen Ländern nach dem Prinzip verfahren, dass diese Anlagen nur durch große staatliche Zuwendungen für das Privatkapital überhaupt profitabel zu betreiben waren. So wurde die Endlagerproblematik schon früh weitgehend auf die „Allgemeinheit“ ausgelagert, ebenso viele der notwendigen Infrastruktur- und Sicherheitsmaßnahmen. Dies wird auch bei der Frage der „Wiederaufbereitung“ deutlich, durch die der hochradioaktive Müll reduziert wird- Dieser muss dafür aber auch aufgrund des hohen Risikos extrem gesichert zwischen Zwischenlagern und Wiederaufbereitungsanlagen auf Staatskosten hin und her transportiert werden. Die beiden europäischen Anlagen in La Hague und Sellafield produzieren dabei kaum mehr Brennstoffe, umso mehr atomwaffenfähiges Plutonium. Daneben sind sie vor allem bekannt für die Ableitung von Millionen Tonnen radioaktiven Mülls ins Meer.

Die Umweltbilanz von Kernspaltungsenergie, die heute wieder als „klimafreundliche“ Brückentechnologie propagiert wird, bekommt einen zusätzlichen Schlag durch die Probleme bei der Produktion der Brennelemente selbst. Der Uranbergbau gehört zu den zerstörerischsten (auch was die CO2-Bilanz betrifft) Arten des Bergbaus überhaupt. Er hinterlässt radioaktiv verseuchte Wüstenlandschaften und erfordert aufgrund der Abnahme des Gehalts an Urangestein in den verbleibenden Abbaugebieten immer aggressiveren Einsatz chemischer und mechanischer Hilfsmittel. Inzwischen wird Afrika zu einem für diese Schmutzarbeit willigen Opfer, das immer mehr auch zum Zielpunkt von „Endlagerung“ des Atommülls wird. Dazu kommen auch im Bereich des Uranbergbaus bekannte verheerende Unfälle – z. B. der Bruch des Uranabraumrückhaltebeckens am Rio Puerco, New Mexico, 1979. Die massive Umweltbelastung wurde nicht so bekannt, da die Opfer „nur“ tausende in der Umgebung lebende Native Americans („IndianerInnen“) in deren „Reservaten“ betraf. Zu den Risiken und Umweltproblemen des Uranbergbaus kommt noch die Produktion der Brennelemente aus dem Rohstoff selbst. Schon die Anreicherung des spaltfähigen Uran-235 ist energieintensiv. Dazu kommt, dass daraus dann noch das angereicherte Uranhexafluorid zunächst in Uran(IV)-oxid konvertiert werden muss, das dann bei hohen Temperaturen mit keramischen Material zu Brennstäben verarbeitet wird. Brennelementefabriken sind CO2-Schleudern und zeigen die üblichen Sicherheitsrisiken der Kernindustrie. Am bekanntesten ist der vor Fukushima größte Atomunfall in Japan 1999 im Brennelementewerk Tokaimura. Dort entstand beim Reinigungsprozess von angereichertem Uran(IV)-oxid eine Kettenreaktion, die über 20 Stunden Neutronen- und Gammastrahlung in die Umgebung freisetzte. Mehrere ArbeiteInnenr starben und in einem Umkreis von 10 Kilometern musste evakuiert bzw. der Boden dekontaminiert werden.

3.2.2 Der Anti-AKW-Protest

Offensichtlich war die Kernenergie ein Großprojekt von Monopolkapital und Staat, für die die erwähnten Risiken und Umweltprobleme nur ein sekundäres Thema darstellten. Ein neues „Atomzeitalter“ mit sauberer und billiger Energie wurde propagiert und „die“ Wissenschaft verteidigte diesen Anspruch mit scheinbar unwiderlegbaren Argumenten. KritikerInnen der Atomenergie galten als rückwärtsgewandt, FeindInnen der „Moderne“ und voll von unbegründeten Ängsten und Bedenken. Die Proteste, die es schon in den 1960er Jahren gab, waren denn auch tatsächlich von eher rückständigen Schichten z. B. aus der Landbevölkerung um Atomkraftwerke herum bzw. fundamentalistischen ChristInnen getragen. Erst die 68er-Bewegung und die beschriebene neue Schicht eines „akademisierten Proletariats“ konnte dieser geballten Propagandamacht etwas entgegensetzen. Die Arroganz der Atomwirtschaft, die Verbindung mit der Frage der Atombewaffnung und die autoritären Methoden zur Durchsetzung ihrer Projekte boten in den 1970er Jahren dann genug Stoff, um die Anti-AKW-Bewegung anwachsen zu lassen. Wichtig war natürlich, dass einerseits die Probleme der Atomwirtschaft immer konkreter aufgezeigt werden konnten, diese andererseits aber immer offenkundiger zu Tage traten. Insbesondere in Deutschland wuchs die Anti-AKW-Bewegung zu einer Größe, dass Ende der 1970er Jahre Demonstrationen mit um die 100.000 TeilnehmerInnen möglich wurden.

Noch Mitte der 1970er Jahre rümpften die VertreterInnen der traditionellen „Umweltbewegung“ wie der Biologe Otto König die Nase über die „Revolutionsspiele“ der Anti-AKW-ProtestlerInnen und meinten, dass diese „StudentInnen“ gar nichts mit der „wirklichen“ Umweltbewegung zu tun hätten (Radkau 2011, S. 209). Dies verdeutlicht den Bruch, den diese „zweite Umweltbewegung“ tatsächlich darstellte. Viel wurde in „Kulturwandel“, spezielle „deutsche Angstkultur“, neue „nichtmaterialistische Schichten“ etc. hineingedeutet, um diesen Bruch und die große Ausdehnung der Bewegung zu erklären. Tatsächlich basiert sie, wie gezeigt wurde, sowohl auf einer Veränderung der Produktivkraftentwicklung wie auch auf der damit zusammenhängenden Veränderung der Klassenverhältnisse. Die gesteigerte Verwissenschaftlichung der Produktion, entsprechende Großtechnologien und deren ökologischen Auswirkungen auf der einen Seite brachten die Ausdehnung von gebildeten Schichten im Proletariat, die immer mehr zur Rebellion gegen autoritäre Strukturen in Staat und Betrieben bereit waren, auf der anderen mit sich. Jede/r, der/die bei der Bewegung dabei war, kann sich erinnern, wie viele sich in Details von Kraftwerkstypen eingearbeitet hatten (z. B. die Kritik daran, dass sich trotz der Risiken im dicht besiedelten Westdeutschland die deutsche Atomindustrie aus Kostengründen vorwiegend für den Bau von Leichtwasserreaktoren entschieden hatte), wie viele zu „ExpertInnen“ für Strahlenschutz wurden und vor allem, wie konkret die Kritik an Zwischen-, Endlager- und Wiederaufbereitungskonzepten zugespitzt wurde. Während diese vor allem „von außen“ geübt wurde, gab es zwar in den Betrieben der Atomindustrie durchaus intern gehaltene Auseinandersetzungen um Sicherheitsstandards. Aber im Großen- und Ganzen wurde von den Gewerkschaftsführungen von IG Bergbau und Energie (später IG BCE) und IG Metall der vollständige Schulterschluss mit dem Kapital praktiziert. Somit standen SPD und Gewerkschaften im anderen Lager. Die Unterschätzung der Massenwirkung des Protestes, der  vor allem vor Ort sehr breite Gesellschaftsschichten erreichen konnte, führte auch dazu, dass die staatliche Repression mit der Zeit überfordert war und sogar zum Ansteigen der Bewegung mit beitrug.

Ein großer Teil der Nach-68er-Bewegung beteiligte sich überhaupt erst mit den Auseinandersetzungen zum Bau des AKW Wyhl nach 1975. Der Widerstand dort wurde zunächst von einer kleinen badischen BürgerInneninitiative im benachbarten Breisach getragen. Durch offensichtliche Verfahrensfehler im Genehmigungsverfahren konnten im Zusammenhang mit Protesten immer wieder Baustopps durchgesetzt werden, so dass die Proteste vor dem Kraftwerk schließlich tausende mobilisierten. Die erfolgreiche Behinderung der Inbetriebnahme wurde denn auch zu einem positiven Signal für ähnlich gelagerte Proteste in Brokdorf, Kalkar, Grohnde etc.. Dabei wurden die Proteste vor den Bauzäunen immer militanter. Auch viele Linke, die zunächst gegenüber den Protesten skeptisch blieben, stiegen in deren Organisierung mit ein. 1979 kam es zu einer bundesweiten Demonstration mit etwa 120.000 TeilnehmerInnen: der Höhepunkt einer von Jahr zu Jahr sich steigernden und immer vernetzter werdenden Mobilisierung (z. B. mit einer großen Rolle der „Bürgerbewegung Umweltschutz“). Der Protest in Hannover war bereits der Beginn einer neuen Etappe der Auseinandersetzung: Nachdem der Bau von neuen Atomkraftwerken durch den Widerstand immer schwieriger wurde, verlagerte sich der Protest damals auf die Frage der Endlagerung bzw. Wiederaufbereitung. Er bildete den Auftakt zur Verhinderung der Atommülltransporte ins „Zwischenlager“ Gorleben im Wendland. Gleichzeitig begann auch in einer abgelegenen Gegend in der Oberpfalz die Auseinandersetzung um eines der größten Projekte der deutschen Atomwirtschaft: die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) Wackersdorf. Die Auseinandersetzungen um Gorleben und Wackersdorf sollten schließlich die „Entscheidungsschlachten“ um die Zukunft der deutschen Atomindustrie werden. Bedingt durch die weltweiten schweren Atomunfälle, die oben schon geschildert wurden, aber auch durch die politische Verschiebung in der deutschen Politik durch das Erscheinen der Partei „Die Grünen“, wurde die Lage der Atomlobby dabei immer schwieriger. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass auch innerhalb der SPD immer größere Opposition gegen die Projekte der Atomindustrie auftrat. Letztlich waren es auch wirtschaftliche Gründe (in Deutschland war Kohlestrom als billigere Alternative für die Energiekonzerne bald attraktiver) und die Tatsache, dass die deutsche Atomindustrie auf dem Weltmarkt immer mehr Positionen verlor, die dazu führten, dass erst die Wiederaufbereitungsprojekte (2005) und später im „Atomkompromiss“ (2011) auch der Betrieb von Kernkraftwerken bis 2022 aufgegeben wurde. Bei letzterem gelang es den Energiekonzernen nochmals, die Kosten weitgehend der Allgemeinheit aufzubürden.

Nachdem in Österreich schon 1978 in einer Volksabstimmung der Einstieg in die Atomenergie abgelehnt wurde und auch die Schweiz 2011 einen „Atomausstieg“ beschlossen hat (der allerdings erst 2034 abgeschlossen sein soll), ist das großspurig angekündigte „Atomzeitalter“ zumindest in den deutschsprachigen Ländern wohl eine kurzzeitige Episode geblieben. Ironischer Weise war es aber eindeutig der Geburtshelfer für eine neue Form der Umweltbewegung und auch ein neues politische Phänomen – die grünen Parteien.

In anderen imperialistischen Ländern wie Frankreich, den USA oder Japan, in denen das Kapital weiterhin in großem Ausmaß auf Kernenergie setzt, bleibt dagegen das Thema weiterhin ein „heißes“ Mobilisierungsfeld. Anders als vielfach dargestellt, gibt es in diesen Ländern sehr wohl eine militante Protestbewegung, die immer wieder zu größeren Mobilisierungen in der Lage ist. Aufgrund des anderen Kräfteverhältnisses waren dort die Proteste allerdings nie so politisch durchschlagend (in Japan änderte sich dies erst nach Fukushima, so dass dort jetzt auch ein Art „Atomausstieg“ in Gang gesetzt wurde).

Entscheidend ist natürlich, dass jeder Protest gegen solche Projekte wie die Kernenergie die Frage nach den Alternativen stellt. Hier ist nicht der Platz, unsere Position zur Zukunft der Kernenergie auszuführen: Sicher ist, dass unter kapitalistischen Bedingungen nur ein möglichst sicherer und gesellschaftlich kontrollierter raschest möglicher Ausstieg anzustreben ist. Ob die Probleme der Betriebssicherheit, der Produktion und Entsorgung (oder gar Wiederverwendung) der Brennelemente je in Einklang mit langfristigen ökologischen und sozialen Zielsetzungen zu bringen sind (z. B. in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft) können wir heute natürlich nicht entscheiden. Da scheint die Einführung der Kernfusion, zumindest was Ausgangs- und Endprodukte betrifft, sogar aussichtsreicher, wenn denn je eine betriebssichere Form von Fusionsreaktoren entwickelt werden kann. So lange bleibt angesichts der Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Kohleverstromung der Ausbau erneuerbarer Energiegewinnung als notwendige Brückentechnologie übrig – aber das natürlich nur in Zusammenhang mit einer planvollen Reduktion oder zumindest Begrenzung des Energieverbrauchs.

4. Umwälzung der Produktionskräfte und der sozialen Schichtungen als Basis neuer politischer Bewegungen und Parteien im Umweltbereich

Die soziale Basis für die neue Umweltbewegung und die spätere Entstehung von grünen Parteien kann nur verstanden werden aufgrund der Veränderungen der Produktions- und Konsumtionsverhältnisse in den imperialistischen Ländern, wie sie sich in den 1960er und 1970er Jahren vorbereitet hatten und in den folgenden Jahrzehnten beschleunigten. Verbreitet auch in der Linken sind hierzu Vorstellungen von einem Übergang von „Fordismus“ (MassenarbeiterInnen, Fließbandarbeit, Massenkonsumprodukte etc.) hin zum „Postfordismus“ (Automatisierung, globale Lieferketten, Individualisierung etc.). Tatsächlich verschleiern diese Labels mehr an den tatsächlichen Veränderungen, als sie aufklären.

Als eines der gängigen verfehlten Vorurteile zu den gesellschaftlichen Konsequenzen der Veränderungen im Produktionsprozess kann man die seit nunmehr 40 Jahren immer wiederholte Prognose heranziehen, nach der Automatisierung und Digitalisierung zu einem dramatischen „Rückgang der Arbeit“ führen würden – mindestens im nächsten Jahrzehnt der jeweiligen Prognose. Tatsächlich haben sich diese Voraussagen jeweils immer als vollkommen falsch herausgestellt, da sich jedes Jahrzehnt tatsächlich das Volumen an lohnförmig organisierter Arbeitszeit trotz Rationalisierungen und Automatisierungen erhöht und nicht reduziert hat. Der (auch heute wieder gängigen) Prognose vom „Rückgang der Lohnarbeit“ liegt tatsächlich ein falsches Verständnis von wertschöpfender Arbeit im Kapitalismus zugrunde, die banal gesagt mit nützlicher Handarbeit assoziiert wird. Marx hat dagegen folgende Aspekte von Arbeit im Kapitalismus hervorgehoben, die sowohl für soziale als auch ökologische Veränderungen von entscheidender Bedeutung sind – und die jedenfalls zeigen, dass Kapitalismus nicht daran scheitert, dass ihm die Arbeit „ausgeht“:

Erstens wird jede Lohnarbeit nur als Bestandteil einer gesellschaftlichen Gesamtarbeit produktiv oder nützlich: „Das Produkt verwandelt sich überhaupt aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d .h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsprozesses näher oder ferner stehn. [ … ] Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehn“ (Marx 1968, S. 531).

Diese Entfremdung vom Zweck oder Endresultat des Prozesses, ob sie innerhalb eines Betriebes oder über komplexe Marktbeziehungen vermittelt entsteht, hat sich in den letzten Jahrzehnten nochmals gesteigert. Die „Nützlichkeit“ der einzelnen Arbeit wird umso mehr zur Nebensache, wenn man einen weiteren Aspekt der Arbeit im Kapitalismus betrachtet:

Zweitens ist Arbeit im Kapitalismus nur produktiv, wenn sie Mehrwert schafft, d .h. der Verwertung von Kapital dient: „Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter produziert nicht für sich, sondern für das Kapital. Es genügt daher nicht länger, daß er überhaupt produziert. Er muss Mehrwert produzieren. Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient“ (Marx 1968, S. 532).

Was daher nützliche Tätigkeit, Arbeit, wirtschaftliche Aktivität etc. ist, entscheidet sich nicht an irgendwelchen gesellschaftlichen oder ökologischen Kriterien, sondern im Kapitalismus nur daran, ob Kapital zur Beschäftigung von Lohnarbeit eingesetzt werden kann, das dabei auch über die Realisierung von Mehrwert gewinnbringend zu Kapitalwachstum führt. Im Neoliberalismus (und seinen Privatisierungen) haben wir gesehen, was alles an Beschäftigungen mehrwertschaffend verwertet werden kann, von dem dies vorher nicht für möglich gehalten wurde. Damit die Realisierung des Mehrwerts gelingt, ist natürlich ein weiterer Aspekt wesentlich:

Drittens ist Arbeit nützlich, wenn ihr Produkt oder die damit verbundene Dienstleistung „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache“ (Marx 1968, S. 49). Die beständige „Entdeckung“ von solchen Bedürfnissen ist nicht nur „geschichtliche Tat“ (ebd., S. 50), sondern systematische Beschäftigung ganzer Teile des/r „GesamtarbeiterIn“. Abhängig von der im Reproduktionsprozess hervorgebrachten Kaufkraft (für Konsum- oder Produktionsmittel) erscheint so dem kapitalistischen Wachstum keine Grenze gesetzt zu sein. In der Nachkriegsperiode wurde tatsächlich eine längere Wachstumsperiode nicht nur durch günstige Ausbeutungsbedingungen für das Kapital nach den Verheerungen des Krieges geschaffen, sondern auch ein dafür geeignetes Konsumtionsregime gefunden. Die industrielle Massenproduktion bestimmter Konsumgüter (Automobile, Haushaltsgeräte, Unterhaltungselektronik etc.) ermöglichtn ein Produktionswachstum, das sich die entsprechende Kaufkraft selbst schuf (Verbilligung der Konsumtionsmittel erleichterte Produktion von relativem Mehrwert). Dieses Modell war es, das in den 1970er bis 1980er Jahren an seine Grenzen stieß.

Viertens wird der Gesamtzusammenhang der Arbeit immer mehr nur durch das Kapital selbst hergestellt, der den/die einzelne ArbeiterIn zum Anhängsel eines Prozesses macht, der wie eine „Naturgewalt“ erscheint: „Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeit beherrscht und aussaugt. Die Scheidung der geistigen Potenzen des  Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich [ … ] in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie. Das Detailgeschick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert sind“ (Marx 1968, S. 446).

Die fortschreitende Ersetzung von Teilen des/r GesamtarbeiterIn durch Automaten ist nichts Neues im Kapitalismus. Vielmehr ist es seit Anbeginn ein grundsätzliches Element kapitalistischer Rationalisierung. Dort, wo es Kosten einspart, wird mithilfe wissenschaftlich-technischer Produktionsmittel menschliche Arbeitskraft durch Kapital als Maschinerie ersetzt. Dabei entsteht die „Polarisierung“ der Beschäftigten in die gering qualifizierten „Restarbeiten“ (deren Ersetzung durch Maschinerie sich aus Kostengründen nicht lohnt) und das immer höher qualifizierte Personal der technischen Transformation, Durchführung und Überwachung. War dies früher auf die fabrikmäßig organisierte Arbeit konzentriert, so ist es heute unter dem Stichwort der „Digitalisierung“ immer mehr auch auf Dienstleistungs- und Büroarbeiten zu beziehen. Die beschriebene Form der kapitalistischen Rationalisierung führt aber durch das wachsende Gewicht des toten gegenüber dem mehrwertschaffenden Kapital zum tendenziellen Fall der Profitrate und damit zum für das Einzelkapital unhinterfragbaren Wachstumszwang (Steigerung des absoluten Profitmasse in Gegenwirkung zum relativen Sinken der Profitrate), letztlich zur Überakkumulation von totem Kapital. Die wirkliche Schranke des Wachstums für das Kapital ist daher nur das Kapital selbst.

Fünftens ist Arbeit im Kapitalismus durch eine beständige Tendenz zur „Verwissenschaftlichung“ geprägt. Das permanente Verwertungsproblem des investierten Kapitals zwingt zur beständigen Rationalisierung und Ökonomisierung der bestehenden Arbeitsprozesse, aber auch der Entdeckung (oder auch Erzeugung) neuer Bedürfnisse, um die Realisierung der erweiterten Produktion auch zu gewährleisten. Von daher wird Wissenschaft und Technik nicht nur im unmittelbaren Produktionsprozess immer wesentlicher. Sie wird auch immer mehr selbst vereinnahmt und den Verwertungsinteressen des Kapitals unterworfen, um diese genannten Ziele auch in einer Form zu erreichen, die dem klassischen Wissenschaftsbetrieb an sich fremd ist (was Masse an Mitteln, Zeitvorgaben, praktische Anwendbarkeit etc. betrifft).

Seit den 1950er Jahren haben wir mehrere Umwälzungen der technischen Basis, der Arbeitsorganisation, der Reproduktions- und Konsumtionsregim, etc. entsprechend diesen fünf Prinzipien beobachten können. Dies wurde in Bezug auf die Umweltproblematik schon an den obigen Beispielen aus den Bereichen der chemischen Industrie und der Energiewirtschaft deutlich. Es betrifft aber auch die Umwälzungen im Transportsektor, der Kommunikations- und IT-Industrie, allgemeiner der Automatisierungstechnologien. Mit den technisch-wissenschaftlichen Revolutionen einher ging ein Wachstum der agierenden Kapitale, die sich immer mehr bei global agierenden Konzernen konzentrieren. Damit wurde eine weitere Aufspaltung des Produktionsprozesses möglich, die sich in weltweiten Produktions- und Lieferketten mit komplexer Termin- und Teilesteuerung manifestiert („global lean production“). Der/die einzelne Beschäftigte ist immer mehr ein kleines Rädchen eines/r globalen GesamtarbeiterIn.

Damit einher gingen vier bedeutsame Veränderungen in der Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse: Noch 1960 produzierten die damals noch zu Recht so bezeichneten „westlichen Industriestaaten“ etwa 80 % der am Weltmarkt gehandelten Industrieprodukte. Entsprechend stand der Anteil der Industrie an der Gesamtbeschäftigung in Westdeutschland damals noch bei fast 50 %. Heute liegt er in den alten imperialistischen Zentren (also ohne China und Russland) bei nur noch 40 % (während immer noch über 50 % der „Wertschöpfung“ dort stattfinden und sogar zwei Drittel des Weltvermögens dort konzentriert sind). In Deutschland sind heute nur (für die „westlichen Industrieländer“ sogar recht hohe) 24 % der Gesamtbeschäftigung im „produktiven Gewerbe“ tätig. Hinter dieser Entwicklung steht natürlich eine neue internationale Organisation des Kapitals, die viele der „schmutzigen“ Produktionen in den „globalen Süden“ verlagert hat, aber die Verwertungskontrolle weiterhin im „globalen Norden“ behält: die Gesamtsteuerung, den technisch-wissenschaftlichen Kernprozess etc. und vor allem das Geld- und Finanzkapital.

Zweitens geht damit einher, dass die wachsenden Bereiche in diesen oberen Ebenen der „Wertschöpfungskette“, wie sie jetzt in den imperialistischen Ländern konzentriert sind, immer mehr an Bildung und wissenschaftlich-technischer Forschung in diesen Ländern erfordern. Ausdruck davon ist einerseits, dass noch bis zum 2. Weltkrieg in Deutschland 60 % der Bevölkerung den Hauptschul- als höchsten Schulabschluss aufwiesen – heute sind es nur noch 20 %. Dagegen hatten noch 1960 nur 7 % der 18- bis 20-Jährigen die Studienberechtigung – heute sind es 56 %. Zwischen 1960 und 1980 kam es zu einer regelrechten „Explosion“ des Bildungssektors in Deutschland und vergleichbaren Ländern. Sowohl die Anzahl an Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen stieg als auch die Masse an Auszubildenden und Lehrenden an diesen Institutionen wie auch die Verweildauer von Jugendlichen in Bildungsinstitutionen. Die Masse an formellen Qualifikationen nimmt zwar ebenso zu, wie der Übergang von Bildungsabschluss zu Eintritt in Festeinstellungen immer später erfolgt. Ttatsächlich bedeuten diese Abschlüsse weder eine Garantie auf besser bezahlte Jobs, noch dass nicht schon während des Ausbildungsprozesses eine Ausdehnung informeller Beschäftigung erfolgt, aus der viele dann auch nicht mehr herauskommen.

Sicher ist, dass die Ausdehnung des Bildungssektors zu beträchtlichen sozialen Widersprüchen in den imperialistischen Ländern geführt hat. Dies betrifft nicht nur die Fortführung der Benachteiligung von Kindern aus Unterschichten oder mit Migrationshintergrund, die notwendig immer wieder zu Konflikten und Protesten im Bildungsbereich führt. Es betrifft auch die Möglichkeit einer viel stärkeren Reflexion der kapitalistischen Widersprüche z. B. auch in den Fragen der ökologischen Zukunftsentwicklung, die für viele Jugendliche ab den 1960er Jahren immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten.Das betrifft auch die überkommener autoritärer Strukturen in den Bildungsinstitutionen, den traditionellen Familienstrukturen, der Arbeitswelt etc. und der Infragestellung der Geschlechterrollen. Die Jugendrevolte der 1960er und 1970er Jahre hat in allen diesen Bereichen ein permanentes Potential an Politisierbarkeit von Jugendlichen hervorgebracht, aus dem sich in jeder Generation danach auch in den Fragen der Ökologie immer wieder Protestbewegungen und politisches Engagement entwickelt haben. Als die Partei „Die Grünen“ in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren zu einer „Wahlalternative“ wurde, waren 80 % ihrer WählerInnen unter 30 Jahre. Bis heute bleiben die Grünen in dieser Altersgruppe die stärkste der Parteien. Die formelle Trennung von Bildungsbereich und Arbeitswelt verführt dazu, die Jugendprotestbewegungen als etwas von „den Arbeitenden“ Getrenntes zu betrachten. Tatsächlich sind viele der beteiligten Jugendlichen trotz Ausbildungsstatus’ selbst in prekären Formen der Beschäftigung verfangen, werden als Auszubildende ausgebeutet oder sind in einer Ausbildungsschiene hin zu einem Job. Nur für die wenigsten bedeutet ihr Ausbildungsstatus noch die Vorbereitung auf eine privilegierte Stellung „im Mittelstand“. Die Charakterisierung von Sahra Wagenknecht für die Jugendlichen in solchen Protestbewegungen als solche, die die „Probleme verwöhnter Mittelstandskinder“ wälzen, könnte nicht falscher sein, was die soziale Wurzel dieser Bewegungen seit den 1960er Jahren betrifft.

Die Kehrseite dieser seitdem entstandenen „Jugendkultur“ ist, dass sie dem Kapitalismus andererseits auch wieder zu einer beträchtlichen Modernisierung verhalf. Dies betrifft nicht nur viel effektivere Formen der scheinbar nichtautoritären Arbeits- und Führungskultur. Es beinhaltet vor allem auch ein Durchbrechen des beschränkten Konsumhorizonts der „fordistischen Massenproduktion“. Mit dieser einher ging ein hohles, entfremdetes Angebot eines „guten Lebens“ für die Normalbevölkerung: Normalarbeitstag, normierte Wohnung je nach Stellung, Waschmaschine, Fernseher, Auto je nach Stellung, Ferien entsprechend Reisekatalog, kleinbürgerliche Familienverhältnisse etc. Nachdem die verschiedenen Jugendrevolten seit den 1960er Jahren immer wieder an diesem normierten Bild des „Glücks“ gerüttelt bzw. die Umweltbewegungen dessen ökologischen Fußabdruck aufgezeigt haben, hat dies andererseits dem Kapitalismus ganz neue Verkaufsmöglichkeiten erschlossen. Massenproduktion wird heute mit Aufpreis „individualisiert“, mit sozialen und ökologischen Zusatzfeatures versehen. „Individualisierter“ Tourismus wie auch diversifizierte Unterhaltungsindustrie sind regelrecht explodiert. Die Internetplattformen ermöglichen ganz andere Dimensionen von Marketing etc. Das kritische Potential der neuen grünen Milieus gegenüber der kapitalistischen Massenproduktion und ihren sozialen und ökologischen Folgen führt auch zu einer Reihe von „Lösungsmöglichkeiten“, die der Kapitalismus angeblich zu bieten hat – und die dann auch ein neues Level der kapitalistischen Massenproduktion ermöglichen.

Die dritte Veränderung betrifft das, was man seit geraumer Zeit in soziologischen Studien die „Polarisierung der Qualifikationen“ bezeichnet. Dies bezeichnet die gut belegbare Tatsache, dass in allen OECD-Ländern derzeit besonders bei den „mittleren Qualifikationen“ ein Beschäftigungsabbau stattfindet, während sowohl bei denen mit höherer als auch besonders niedriger Qualifikation ein Aufbau erfolgt. Dies passt natürlich zu der schon genannten Tendenz des Abbaus traditioneller Industrien und Dienstleistungsbetriebe mit ihren klassischen Ausbildungsberufen (eben mittlere Qualifikationen wie im FacharbeiterInnenbereich oder bei Bürokaufleuten). Andererseits werden am oberen Ende der globalen Wertschöpfungsketten immer mehr Fachkräfte für die technischen Grundlagen, die Steuerung, die Finanzierungsdienstleitungen, das Marketing etc. benötigt. Andererseits fallen überall „Restarbeiten“ an, für die sich eine automatisierte Lösung derzeit nicht anbietet (Transport-, Reinigungssektor, Botendienst, etc.). Neben einer Ausdehnung des besser bezahlten Bereichs qualifizierter Arbeiten gibt es daher auch eine immer größer werdende Beschäftigung in prekären Sektoren oder solchen mit informellen Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeit, Leiharbeit etc.). Damit hat sich auch die Differenzierung der ArbeiterInnenklasse weiter fortgesetzt: Heute gibt es nicht mehr nur die klassische Scheidung zwischen Angestellten, FacharbeiterInnen und unqualifizierten Arbeitskräften. Es kommen auf der einen Seite immer mehr an die Betriebe an- oder ausgegliederte prekäre Beschäftigte dazu. Auf der anderen Seite wächst aber auch eine neue „ArbeiterInnenaristokratie“ im Bereich der besonders gefragten Qualifikationen. Letztere gehen oft auch über in neue lohnabhängige Mittelschichten, sofern sie Kompetenzen besitzen, die ihnen quasi Selbstständigkeit oder Anstellung in Forschungseinrichtungen mit privilegierten Beschäftigungsverhältnissen ermöglichen.

Die vierte Veränderung betrifft die „Demografie“. Dies bezieht sich nicht nur, wie oft verkürzt darunter verstanden wird, auf die Überalterung der Bevölkerung in den imperialistischen Ländern (in Deutschland sind ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre). Es bezieht sich auch auf die Auflösung der traditionellen „bürgerlichen Familie“ (Zunahme an Alleinerziehenden, Singlehaushalten, Rückgang der Kinderzahlen pro Familie etc.) und vor allem die Tendenz zur immer stärkeren Konzentration der Bevölkerung in den Großstädten. Natürlich ist letzteres auch verknüpft mit den Tendenzen zur Konzentration auf die „oberen Ebenen“ der Wertschöpfungskette in den imperialistischen Ländern wie auch zur Ausdehnung der Bildungszeiten.

Die dargestellten Veränderungen erklären in vielerlei Hinsicht die Entstehung des spezifischen „grün-alternativen Milieus“, das die soziale Basis sowohl für die neue Art der Umweltbewegung abgibt wie auch für die Entstehung von grünen Parteien. Dieses Milieu unterscheidet sich deutlich von den (klein-)bürgerlichen Schichten der klassischen bürgerlichen Umweltpolitik und -vereinstätigkeit. Es unterscheidet sich auch stark von den klassisch sozialdemokratischen Milieus – auch wenn es zu beiden natürlich Überschneidungen gibt. Das Milieu ist einerseits konzentriert in Großstädten, stark von seinen Wurzeln aus den Jugendprotesten seit den 1960er und 1970er Jahren geprägt, Ergebnis der Ausdehnung der langen Bildungsprozesse und der dargestellten Veränderung in der internationalen Mehrwertproduktion. Das Milieu eint die „kritische Haltung“ gegenüber der kapitalistischen Massenproduktion und -konsumtion und ihren sozialen und ökologischen Folgen sowie den konservativen gesellschaftspolitischen Strukturen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaften (Autoritarismus, Geschlechterrollen etc.).

Das grün-alternative Milieu und die sich daraus bis heute verästelt entwickelnden Potentiale mit Bezug zu Umweltbewegungen dürfen jedenfalls nicht als „neue Klasse“ missverstanden werden. Weder die Kategorie von „neuen postmaterialistischen Klassenlagen“ noch die von „urban professionals“, vom neuen „Bildungsprekariat“ etc. können diese soziale Formation erfassen. Sie kann nur verstanden werden aus der Entwicklung der Produktivkräfte nach dem zweiten Weltkrieg, der damit einhergehenden globalen Neuverteilung von Arbeit, der Ausdehnung von Bildungs- und Wissenschaftsprozessen in den imperialistischen Ländern, zusammen mit der wachsenden ökologischen Krise, die diese Prozesse mit sich bringen. Klassenmäßig formiert sich hier immer wieder in unterschiedlicher Zusammensetzung eine Koalition verschiedener Schichten aus unterschiedlichen Klassen, die über ihre spezifische Position im (Re-)Produktionsprozess positive Erwartungen in Bezug auf ökologische und soziale Fortschritte entwickelt haben, die von der krisenhaften Realität des realen „Fortschritts“ enttäuscht werden. Die Enttäuschung von Erwartungen hängt dabei mit Bildungsprozessen und Verbreitung von Wissen über mögliche alternative Lebens- und Produktionsweisen zusammen, die sich in diesen Milieus befestigt haben.

Andererseits formieren sich diese Milieus nicht nur durch den Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen, die in welcher Form auch immer als Hindernis für den gewünschten Fortschritt erkannt werden. Dies betrifft auch die Konfrontation mit den klassischen bürgerlichen und proletarischen Milieus. Das Narrativ von der Konfrontation von StudentInnenbewegung und Umweltprotesten mit „den ArbeiterInnen“ gipfelte ja zumeist in den plakativen Interviews von AutomobilarbeiterInnen, die über die Protestierenden urteilen: „Die haben ja in ihrem Leben noch nie was Richtiges gearbeitet“. Hier wurde natürlich nicht die Klassenkonfrontation mit der Bourgeoisie gemeint, sondern die sinnentleerte, entfremdete Arbeit in der fordistischen Fabrik zur Essenz des richtigen Lebens für uns Subalterne erklärt. Damit wurde auch verschleiert, dass ein Großteil dieser neuen Milieus, auch wenn er  zumeist nicht in diesen immer mehr verschwindenden Fabriken arbeitet, zu einem Bestandteil der sich neu formierenden ArbeiterInnenklasse wurde. Eben einer, die sich vermehrt in prekärer Arbeit, in Dienstleistungsbereichen, in Bildungs-, Wissenschafts-, Gesundheitsinstitutionen etc. findet und immer weniger aus klassischen ProduktionsarbeiterInnen besteht (man denke an das Marxzitat zum/r „GesamtarbeiterIn“ zurück).

Im Übrigen ist „Bildung“ in ihrer verdinglichten Form als „Qualifikation“ ja auch nur ein weiterer Fetisch neben dem des Lohns, den die Herrschaft der Wertform hervorbringt. Abstrahiert wird dabei sowohl von ihrer Bedeutung im Gesamtproduktionsprozess wie auch von den Bedingungen ihrer Produktion selbst. Viele so hervorgebrachten und „erworbenen“ Qualifikationen sind für den realen Produktionsprozess kaum zu gebrauchen. Die meisten „Qualifizierten“ arbeiten in ganz anderen Tätigkeiten oder hangeln sich als real „Unqualifizierte“ von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Tatsächlich dienen „Qualifikationen“ zur gesellschaftlichen Hierarchisierung und Auslese derjenigen Arbeits- und Führungskräfte, die für den Gesamtarbeitsprozess aus Sicht der Kapitalkontrolle darüber tatsächlich zentral sind. Dieser Prozess bringt daher sowohl ein wachsendes „Bildungsprekariat“, kritische grün-alternative Milieus wie auch die zentralen Wissens- und Führungskräfte des modernen Kapitals hervor. Gegenüber den traditionellen ArbeiterInnenschichten eint dann der Fetisch des „Gebildetseins“. Heute drückt sich das dann gerne in den Exzessen der „Wokeness“ (Haltung der Wachheit und Wachsamkeit) aus, mit denen man sich über den Antiökologismus, Rassismus, Sexismus, politischen Irrsinn etc. der „bildungsfernen Schichten“ in einer breiten Koalition mit den liberalen Mittelschichten aufregt. In vielen einzelnen Fällen mag das berechtigt sein, muss aber auch immer unterm Aspekt des „Klassismus“, der schichtspezifischen Abgrenzung gegenüber den ungebildeten Unterschichten kritisch betrachtet werden.

Wichtig ist hier vor allem, dass sich mit der Herausbildung dieser alternativ-grünen Milieus eine beträchtliche Spaltung zwischen den traditionellen und neuen Schichten der ArbeiterInnenklasse in fast allen imperialistischen Ländern ausdrückt. Dies mag mehr oder weniger stark ausgeprägt sein und sich auch in Bewegungen oder politischen Parteien niedergeschlagen haben. Darin zeigt sich jedoch das schwächer Werden von traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenklasse wie den Gewerkschaften aus wie auch die Probleme ihrer neuen Schichten. Ihre Arbeitsbedingungen sind zumeist von schwächerer gewerkschaftlicher Organisation geprägt, wie sich über die „Qualifikation“ auch eine starke Spaltung und Individualisierung der Beschäftigten organisieren lässt. Das „kritische Potential“ dieser Schichten kann sich daher auch weniger in Gewerkschaften oder anderen Organisationen der Klasse ausdrücken. Daher die größere Tendenz zu Bewegungen außerhalb des eigenen Arbeitsplatzes hin zu solchen im Reproduktionsbereich, kommunalem Engagement, ökologischen oder antisexistischen Protesten etc. Daher auch die Tendenz dieser Milieus zu klassenübergreifenden Koalitionen, die sich in solchen Bereichen notwendigerweise einfacher ergeben. Sofern dann dieser Aktivismus nicht eine Tendenz zur Systemkonfrontation entwickelt wie im Fall der Anti-AKW-Bewegung, gewinnt das (klein-)bürgerliche Segment in dieser Klassenkoalition notwendigerweise ideologisch die Vorherrschaft. Anders als die traditionellen, gewerkschaftlichen Milieus, bei denen zumindest ein Rest von Klassenbewusstsein in Form der Notwendigkeit v. a. gewerkschaftlicher Organisierung gegen das Kapital bestehen bleibt, bestehen diese dann schnell nur noch aus „kritischen BürgerInnen“.

Das „grüne Milieu“ ist entsprechend eine komplexe Koalition aus klassenmäßig durchaus unterschiedlichen Schichten von „progressiven“ (Klein-)BürgerInnen, lohnabhängigen Mittelschichten, neuer ArbeiterInnenaristokratie bis hin zum „Prekariat“. Welche der genannten Schichten jeweils im Vordergrund einer Bewegung, eines Protestes, einer Parteibildung etc. steht, hängt von den konkreten Umständen, den Erfahrungen und Organisationsprozessen aus vorangegangenen Auseinandersetzungen ab. Dies kann zu einer stark ins bürgerliche System integrierten, von Mittelschichten dominierten bis hin zu radikalen, von Prekären oder Jugendlichen geprägten Protestbewegung reichen. Diese widersprüchliche Vielfalt werden wir im Folgenden von der Parteibildung der Grünen über die Herausbildung der NGO-Kultur bis hin zu den verschiedenen Ausprägungen der Klimaschutzbewegung herauszuarbeiten versuchen. Klar ist: Die Radikalität und potentiell systemsprengende Kraft der Anfangsphase, wie wir sie in Deutschland in der Anti-AKW-Bewegung analysiert haben, wurde dabei nicht wieder erreicht. Hierfür spielte gerade auch die Herausbildung der grünen Partei und ihrer Degeneration eine entscheidende Rolle.

Hier sei noch erwähnt, dass die hier entwickelte Herangehensweise sich grundlegend vom antidialektischen, strukturalistischen Konzept der „Hegemonie“ unterscheidet. Die angesprochenen klassenübergreifenden Blockbildungen sind im Kapitalismus nie stabile, über lange Zeiträume „vorherrschende Diskurseinheiten“, sondern werden durch Krisen, Klassenwidersprüche und Zuspitzung von Gegensätzen rasch wieder über den Haufen geworfen und zwingen zur Neugruppierung. Der Kapitalismus ist kein System des „Stellungskrieges“, mittels dessen man vor der Revolution die gedankliche Vorherrschaft der ArbeiterInnenklasse dauerhaft erringen kann, sondern eines der permanenten Umwälzung und Revolutionierung. Insofern ist auch die Konzentration auf die Kritik am Neoliberalismus als Kampf um die Wiederherstellung von „schon mal Erreichtem“ nichts anderes als linker Konservativismus. Die kapitalistische Dynamik muss dagegen als Chance der Wiederpolitisierung und Hinaustreiben der Proteste auch über das angeblich schon mal Erreichte verstanden werden. Dagegen ist die Befestigung von „Stellungen“ im Rahmen der herrschenden kapitalistischen „Diskurse“ nur das sichere Zeichen, dass der betreffende Organisierungsprozess verbürgerlicht, d .h. sozial von den Schichten in den kritischen Milieus bestimmt wird, die mit ArbeiterInnenaristokratie oder lohnabhängigen Mittelschichten zu tun haben – die also letztlich ihr Schicksal mit dem der Bourgeoisie verknüpfen. Sie verwechseln oft Revolution als wesentlich notwendige, praktische Tat mit den entrückten Diskursen in ihren eigenen Köpfen und Reihen – „kritische KritikerInnen“ eben.

5. Zur Entstehung und Charakterisierung der Partei „Die Grünen“

5.1 Entstehung der Grünen

Anfang der 1980er Jahre waren die verschiedenen Protestbewegungen, die von den beschriebenen neuen Milieus geprägt waren, an einem Punkt angelangt, der zur politischen Organisierung drängte. Die großen Anti-AKW-Demos stellten klarerweise die Frage nach einer politischen Antwort gegenüber dem „Atomstaat“. Dies betraf nicht nur eine grundlegend andere Energiepolitik, sondern  damit auch die nach einer Alternative zur bestehenden Wirtschaftsform insgesamt. Dazu kamen die Mobilisierungen gegen den NATO-Doppelbeschluss (1979), die nicht nur die Frage des Austritts aus der NATO, sondern nach der Konfrontation mit dem Imperialismus insgesamt stellten. Aber auch in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Unterdrückung von Homosexuellen, der rassistischen Diskriminierung etc. stellten sich Fragen politischer Alternativen, die von den bestehenden Parteien unter Einschluss der damals noch regierenden SPD nicht beantwortet wurden.

Die radikale Linke stand der neuen Umweltbewegung zunächst unschlüssig gegenüber. Die meisten Organisationen charakterisierten sie als „kleinbürgerlich“. Wie schon mehrfach ausgeführt, wurde hiermit, wie schon bei der „StudentInnenbewegung“ zuvor, die Tiefe der gesellschaftlichen Veränderungen im Produktionsprozess, im Klassengefüge, bis hin zum gesellschaftlichen Überbau nur ungenügend erfasst. Das „Kleinbürgertum“ spielte tatsächlich in der neuen Bewegung eine untergeordnete Rolle. Zwar waren bei den Anti-AKW-Bewegungen durchaus auch viele Bauern und Bäuerinnen sowie kleinstädtisches BürgerInnentum vertreten. Die Masse der Protestierenden kam aber wie oben ausgeführt aus urbanen Milieus, die auch große Teile einer sich neu formierenden ArbeiterInnenklasse umfassten. Auf der anderen Seite hatten die klassischen arbeiteraristokratischen Schichten gerade ihren Weg in die Verkleinbürgerlichung im Nachkriegsaufschwung hinter sich. SPD und Gewerkschaftsbürokratie, die gerade mit diesen aufs Engste verbunden waren, hatten damit maximal Probleme, diese neuen Schichten der ArbeiterInneklasse an sich zu binden (mit der teilweisen Ausnahme der Jusos, die damit auch einiges an Sprengkraft in die SPD brachten). Auch die DKP war mit ihren unverbrüchlichen Bekenntnissen zur „sicheren“ sowjetischen Kernenergie nicht gerade ein glaubwürdiger Anknüpfungspunkt der neuen Umweltbewegung. Ihr „kleinbürgerlicher“ Charakter ergab sich so weniger aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung als viel mehr aus ihrer Ferne zur bestehenden organisierten ArbeiterInnenbewegung. Die Führungen von Gewerkschaften und SPD waren ja auch unmittelbare GegnerInnen in der politischen Auseinandersetzung. 

Damit war es auch klar, dass diese Protestbewegung letztlich unter politische Kontrolle tatsächlich von kleinbürgerlichen Kräften kommen musste, die die Beschränktheit der Kampfmethoden und ihre Ferne zur klassischen ArbeiterInnenbewegung zum „neuen“, „modernen“ politischen Prinzip erklärten. Damit aber verwandelten sie die Protest- in eine Reformbewegung des Kapitalismus („Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“). Aber es war eben nicht von Anfang an klar, dass die „zweite Umweltbewegung“ letztlich unter Kontrolle solcher politischen Strömungen wie der „Grünen“ kommen musste – und natürlich blieb diese Kontrolle auch immer nur eine partielle. So entwickelten sich die „Grünen“ von einer von kleinbürgerlichen Massenbewegungen getragenen Protestpartei (nicht Massenpartei!) mit ihren Mantras „ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“ zur offen bürgerlichen Formation – einer besonderen allerdings, weil nicht aus Bewegungen innerhalb des kapitalistischen Bürgertums hervorgegangen. Anzumerken bleibt, was die frühen Grünen an der radikalen Linken zerstört haben: den vorher selbstverständlichen, wenn auch linksstalinistisch verzerrten Bezug auf die ArbeiterInnenklasse. Dieser Katastrophe leistete auch der degenerierte Nachkriegstrotzkismus wenig bis keinen Widerstand, sondern teilweise Vorschub (Teile der GIM). Ähnliche Kapitulation erfolgten gegenüber anderen „neuen sozialen Bewegungen“ ( z. B. dem Feminismus) aus einem Mangel an einer auf die Höhe der Zeit gehievten Orthodoxie.

Allerdings haben sich seit der Gründung der „Grünen“ in Deutschland Anfang der 1980er Jahre bedeutende Verschiebungen in der Klassenzuordnung ergeben, die auch für die Umweltbewegung insgesamt und für ihre weitere Ausdifferenzierung wichtig sind. Die Protestbewegungen der 1970er und 1980er Jahre waren auch Resultate der Krise des Nachkriegsaufschwungs, eines neuerlichen Umbruchs im Produktionsprozess und der Integrationsprobleme mit dem analysierten neuen „Bildungsproletariat“. Ausdruck dessen in der Bundesrepublik war auch eine einflussreiche Rolle verschiedener maoistischer K-Gruppen in den großen Protestbewegungen dieser Zeit. KBW/BWK, KB und deren diverse Abspaltungen spielten eine wichtige Rolle für die Organisierung der militanteren Formen des Protests. So wurde z. B. der KBW wegen des versuchten Sturms auf das Baugelände des AKW Grohnde wegen „Rädelsführerschaft“ mit einem Verbotsverfahren bedroht. Diverse K-Gruppen und auch trotzkistische ZentristInnen waren an der Gründung von „Alternativen Listen“ (oder „Bunten Listen“) beteiligt. Die bedeutende Rolle der K-Gruppen bei der Gründung der Grünen wird heute in der Selbsterzählung der Partei als zufällige biografische Randnotiz abgetan. So etwa beim Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der sich „in seiner Jugend“ halt in eine autoritäre „Sekte“ verirrt habe. Tatsächlich war er als Vertreter des KBW bei AKW-Protesten, wie in Wyhl, sehr aktiv beteiligt. Insgesamt lieferte diese orthodox-maoistische Gruppe dem Realo-Flügel einiges an Spitzenpersonal (Bütikofer, Fücks, Schmierer, etc.). Im Unterschied zum KBW, der keine bewusste Eintrittstaktik betrieb, spielte der KB in Norddeutschland eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Grünen. Die GAL in Hamburg um die KB-Größen Ebermann/Trampert lieferte das Muster für ähnliche Interventionen in den anderen norddeutschen Bundesländern – und ebenso langjähriges Führungspersonal, wie Jürgen Trittin und Angelika Beer.

Natürlich war es für maoistische ZentristInnen leichter, ihre „revolutionäre Perspektive“ mit einer opportunistischen Klassenpolitik zu verbinden – ganz im Sinne Maos origineller Mehrklassenbündnisse im Rahmen einer völligen Verfälschung der „demokratischen Diktatur“-Strategie. Tatsächlich passten sich die K-Gruppen in der Gründungsphase der Grünen an die vorherrschenden kleinbürgerlichen Ideologien an, statt, wie angeblich vorgesehen, für die „führende Rolle des Proletariats“ in dieser „Volksbewegung“ zu kämpfen. Die Bündnisse mit „undogmatischen Linken“, spontaneistischen Protestgruppen, neuen Bürgerinitiativen und traditionellen Umweltverbänden, die sich in „Bunten Listen“ zunächst auf kommunaler Ebene sammelten, nahmen zwar oft scheinbar radikale Programme an. Ohne Bezug auf tatsächliche alternative Machtorgane (auf Basis realer Klassenkämpfe)lieferte dieses Verfahren letztlich nur ein linkes Alibi für die Integration der Protestbewegung in parlamentarische Strukturen. Insbesondere die Fraktion Z um Ebermann/Trampert (zu der auch Trittin gehörte) spaltete sich 1980 von der Mehrheit des KB ab (die weiter bei der „Bunte Listen“-Taktik blieb), um explizit am Aufbau einer grünen Partei mitzuwirken. Ihr Bündnis mit den Linksalternativen und Bürgerinitiativen auf dem Programmparteitag 1980 war entscheidend dafür, dass der konservative, auf traditionelle Umweltpolitik ausgerichtete Flügel um Gruhl (Grüne Aktion Zukunft; GAZ) letztlich unterlag, um später die Grünen in Richtung ÖDP zu verlassen. Dieses Ergebnis war entscheidend dafür, dass die Grünen lange Zeit in der Lage waren, die linke Protestbewegung in Westdeutschland in das politische System zu integrieren.

Dabei war von Anfang an klar, dass eine Partei, deren Kernelement „umweltpolitische Realpolitik“ bildete, die also die Durchsetzung ihrer umweltpolitischen Ziele auch im Kapitalismus für möglich hielt, sich letztlich auch in Regierungsausübung für diese Zwecke einspannen lassen würde. Statt die Widersprüche gegenwärtiger kapitalistischer Produktivkraftentwicklung auch in ökologischer Sicht zu einer Politik der Überwindung des Kapitalismus zu nutzen, musste diese Partei letztlich bei der „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“, also bei der falschen Ideologie eines ökologischen Kapitalismus enden. Vorbereitet wurde dies durch Beteiligung an Regierungen von der kommunalen  bis zur Länderebene (auf denen die „Friedenspolitik“ noch keine so große Rolle spielte). Damit bildete sich ein Apparat von „RealpolitikerInnen“, der notwendig immer stärker werden musste. Dies umso mehr, als ja anders als bei einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei das permanente Gegengewicht z. B. von Gewerkschaften ebenso fehlte wie das vorübergehende einer radikalen, linkspopulistischen Massenbewegung. Der Zug war letztlich abgefahren, als der Versuch von Ebermann/Trampert, die Grünen für eine „ökosozialistische“ Ausrichtung zu gewinnen, scheiterte und die HauptprotagonistInnen samt „linkem“ Flügel die Partei verließen.

5.2 Verbürgerlichung der Grünen

Diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf Ebene der politischen Führung ist nichts anderes als eine Widerspiegelung der Veränderungen der sozialen Basis der Partei. War sie anfänglich durch die Protestbewegungen der radikalen Teile von Jungendrebellion und neuem Prekariat geprägt, so bedeutete die Etablierung der Grünen als parlamentarische Kraft, dass auch immer mehr andere Schichten des oben analysierten „grünen Milieus“ die Partei zu dominieren begannen. Waren Anfangs noch 80 % der Grünenwähler unter 30, so wurde die Partei mehr und mehr auch zu einer Partei der sich neu herausbildenden neuen ArbeiterInnenaristokratie und der ökologisch orientierten neuen lohnabhängigen Mittelschichten. Die Bioläden wandelten sich von Alternativkommunen zu modernen Varianten der alten Reformhausgenossenschaften – nur ein Ausdruck der schleichend voranschreitenden Verbürgerlichung.

Dazu kam, dass mit dem Verpassen der revolutionären Möglichkeiten 1989/90 und der Ausdehnung in die fünf neuen Bundesländer über „Bündnis 90“ diese Verbürgerlichung noch mehr voranschritt. In den fünf neuen Bundesländern fehlte das oben analysierte „grüne Milieu“ weitgehend. Die rasch voranschreitende Deindustrialisierung und Abwicklung der DDR-Wirtschaft führte auch zu einer Marginalisierung von „grünen“ Themen. Bei der ersten Bundestagswahl nach der Vereinigung wurde denn auch mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ ein Wahldebakel mit dem Verlust der Bundestagssitze eingefahren. Mit „Bündnis 90“ wurde ein Teil der DDR-Opposition eingegliedert, der sehr verschiedene Elemente vereinte. Einerseits einen Teil, der schon in der DDR berechtigte umweltpolitische Proteste repräsentierte. Einer der wenigen Erfolge der Wendezeit war ja tatsächlich, dass noch vor der offiziellen „Wiedervereinigung“ der Naturschutz auf dem Gebiet der damals noch bestehenden DDR stark ausgeweitet werden und vieles davon in die neuen Bundesländer gerettet werden konnte. Dies führte aber auch dazu, dass Umweltpolitik ein breites politisches Betätigungsfeld auf kommunalpolitischer und Länderebene in den fünf neuen Ländern wurde. Ein kleinerer Teil der DDR-Oppositionellen war auch tatsächlich auf eine sozialistische Alternative zur DDR orientiert und schloss sich dem „linken“ Flügel der Grünen an. Der überwiegende Teil von „Bündnis 90“ war jedoch strukturkonservativ-christlich geprägt und nur aus Gründen der speziellen Geschichte der Ost-CDU nicht dort organisiert. Nach der Vereinigung zu „Bündnis 90/Die Grünen“ verließen denn auch einige dieser Teile die Partei Richtung CDU. In den fünf neuen Bundesländern blieben die Grünen damit lange Zeit eine Partei, die sich gerade um die 5 % halten konnte und stark von „grüner Realpolitik“ geprägt ist.

Entscheidend ist jedoch die neue gesellschaftliche Situation nach dem Krisenjahrzehnt der 1980er Jahre. Mit dem Sieg im Kalten Krieg und der „Globalisierungsperiode“ änderten sich auch entscheidende ökonomische, soziale und ökologische Rahmenbedingungen. Noch viel mehr als vorher wurden die „Schmutzindustrien“ ebenso wie die klassischen fordistischen Betriebe in die Halbkolonien ausgelagert, andere Produktionsbetriebe wurden immer mehr automatisiert. Insgesamt stieg der Einsatz von IT-basierten Technologien enorm an. Die Beschäftigung verschob sich vermehrt in Berufe mit höherer Qualifikation bzw. Dienstleistungssektoren. Andrerseits entstand auch in den imperialistischen Zentren immer mehr ein Prekariat, in den 1990er Jahren gerne als „neue Proletarität“ bezeichnet. Die Verlagerung umweltschädlicher Produktion im Verbund mit grüner Umweltpolitik konnte schon als Erfolg in Richtung „ökologische Marktwirtschaft“ verkauft werden, nachdem die Folgen dieses Wandels in den Halbkolonien hierzulande nicht so sichtbar wurden. Die klassische grüne WählerInnenschaft wurde immer mehr zu dem Teil der ArbeiterInnenaristokratie, der zu den Gewinnern der Globalisierungsperiode zählte, während Teile der alten ArbeiterInnenaristokratie ins Prekariat absanken.

Diese soziale Verschiebung erklärt auch die breite Unterstützung, mit der sich letztlich der Realo-Flügel in die rot-grüne Regierungskonstellation stürzen konnte und dabei mehr oder weniger alle einstigen Programmpunkte der Gründungsphase über Bord warf: Friedens-, Migrations-, Sozialpolitik sowieso, aber bald auch Kernelemente der Umweltpolitik. Der Ex-KB- und Anti-AKW-Aktivist Jürgen Trittin sollte als grüner Umweltminister die letzten Castortransporte durchsetzen – natürlich wegen der Anerkennung des „Rechtsstaates“ und der Durchsetzung eines „Kompromisses“ zum Ausstieg der sowieso schon sterbenden Wiederaufbereitung in Deutschland. Letztlich war das Mittragen des „Atomkompromisses“ wie auch später des „Kohleausstiegs“ in ökologischen Fragen so etwas wie ein politischer Offenbarungseid der „Grünen“ – der Ausverkauf jeglicher Durchsetzung ökologischer Interessen zu Lasten des Kapitals (zahlen muss bei diesen „Kompromissen“ ja die „Allgemeinheit“, um ja nicht „unsere“ Energiekonzerne in ihrer Profitabilität zu gefährden).

Ihre Anpassung an Kapitalinteressen und Umwandlung in eine Partei, die nunmehr zu den „staatstragenden“, „kanzlerInnenfähigen“ politischen Kräften in diesem Land geworden ist, geht einher mit der Entwicklung besonderer Verhältnisse zur Bourgeoisie selbst. Dies betrifft nicht nur ihre „konstruktive“ Zusammenarbeit mit Kapitalverbänden (z. B. im „Automobilland“ Baden-Württemberg). Dazu zählt auch die Entwicklung eines spezifischen „grünen Mittelstands“, mit besonderen Verbindungen zu den Grünen. Gerade im Bereich der erneuerbaren Energien gibt es verschiedenste Firmen oder auch Genossenschaften, die sich von grünen UmweltministerInnen gerne Fördermittel und günstige Infrastrukturzugänge erwarten können. Aber auch im Bereich der Agroindustrie gibt es durchaus Unternehmen der Verarbeitung „biologischer Lebensmittel“ oder von Kosmetika, die nicht nur grünen „Ideen“ anhängen. Exemplarisch sind solche Supermarktketten wie Alnatura (tatsächlich ein kleiner Konzern), die sowohl mit ihren LieferantInnen als auch den Beschäftigten nicht besser als Aldi & Co umgehen. Der Firmeneigner, der Anthroposoph Götz Rehn, Schwager des dm-Vorstandsvorsitzenden Götz Werner, weist natürlich für seinen mit so hehren Zielen agierenden Betrieb solche materialistischen Ansinnen wie die Gründung von Betriebsräten  vehement zurück. Es sind solche „innovativen“ UnternehmerInnen, mit denen sich die Grünen heute gerne über die „ökosoziale Marktwirtschaft“ austauschen. Es gibt sie sicherlich noch, die Verbindung der Grünen zu den Umweltprotestbewegungen (insbesondere durch die Jugendorganisationen). Aber vielmehr sind die Grünen heute eine Partei mit sehr gutem Draht zur deutschen Bourgeoisie. Sprich sie sind eine bürgerliche Partei, die über Umweltverbände und ihren politischen Apparat weiterhin eine starke Kontrolle über Umweltproteste aller Art in diesem Land ausübt – und damit zu dem entscheidenden Hindernis für die notwendige Antwort auf die ökologische Krise des Kapitalismus hier geworden ist.

Die heutige Umweltbewegung in Deutschland kann unmöglich ohne den hier skizzierten Transformationsprozess der Grünen verstanden werden. So sehr auch radikalere Teile der Bewegung so tun, als hätten sie nichts mit den Grünen am Hut, als wären sie für ihre politischen Ziele irrelevant – es bleibt der grüne Elefant, der immer auch im Raum steht. Spätestens wenn es um konkrete politische Ziele geht, sind Umweltverbände und Vorfeldstrukturen der Grünen dabei – und sie  bleiben AnsprechpartnerInnen in den Parlamenten und Verwaltungen. Mit der Verbürgerlichung der Grünen hat das kapitalistische System eine Verteidigungslinie gegen die Radikalisierungstendenzen gefunden, die ihm durch die beschriebenen grünen Milieus drohen. Das radikale Potential, das sich noch in der Anti-AKW-Bewegung gezeigt hatte, ist wesentlich eingedämmt worden. Jede noch so radikale Umweltbewegung befindet sich heute ist im Sog grüner Mittelstandsideologien und der „Reformangebote“ der „Grünen“ oder ihrer Vorfeldorganisationen.

5.3 Grüne Mittelstandsideologie

Die verschiedenen radikaleren Bewegungen im ökologischen Bereich dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umweltpolitik in Deutschland im Großen von individualistischen Mittelstandsideologien bestimmt ist, die sich insgesamt in die Verwertungsinteressen des Kapitals einpassen lassen und an den fundamentalen ökologischen Widersprüchen nichts ändern. Kern der grünen Mittelstandsideologie ist die Dominanz der Warenlogik in Fragen der Ökologie, die sich vom „greenwashing“ kapitalistischer Produktion  bis zur „Verantwortung des/r KonsumentIn“ hinzieht. Die Studie „Die grüne Lüge“ von Kathrin Hartmann (2019) zeigt gut, wie die „Nachhaltigkeitsstrategien“ der Konzerne im Wesentlichen Marketingerfolge sind, die den VerbraucherInnen ein „gutes Gewissen“ durch Preisaufschläge verschaffen: ob durch „Ökolabels“, „Klimazuschläge“, Pushen angeblicher ökologischer Alternativprodukte, etc. Das Buch zeigt an vielen Fällen, wie die „Nachhaltigkeitsbilanz“ dann tatsächlich in den Herkunftsländern der Produkte katastrophal ausfällt. Wichtig ist aber auch, wie Hartmann zu Recht feststellt, dass durch diese Marketingaktionen die Verantwortung für die ökologische Krise des globalen Kapitalismus auf die KonsumentInnen verschoben wird. Es wird vorgegaukelt, dass diese selbst ja schuld an den Problemen seien, da sie ja die nichtökologischen Produkte kaufen. Sie müssten  ja nur ein paar Euro mehr für die besseren Produkte zahlen, womit dann jede/r einen Beitrag zur Rettung des Planeten an der Supermarktkasse leisten könne. Und wie schon Gandhi sagte: „Veränderung beginnt bei mir selbst“.

Diese bürgerliche Ideologie der klassenunspezifischen Veränderbarkeit des Kapitalismus setzt sich fort mit „Reform“illusionen in staatliche Politik, die nur den Markt regulieren müsse, z. B. durch Preisbestimmungen mit (ökologischen) Verbrauchersteuern. Damit würde die angeblich so gut funktionierende Marktwirtschaft zu einer ökosozialen weiterentwickelt. Klar, dass diese Illusionen in den bürgerlichen Staat auch verknüpft sind mit einer neuen Form von „grünem Patriotismus“: Angesichts der globalen Dimension ökologischer Probleme sind die Beschränkungen jedes einzelnen Nationalstaates in der Umweltpolitik besonders stark spürbar. Daher werden die „deutschen Umweltstandards“ (wie auch die angebliche Überlegenheit in Bezug auf Menschenrechte etc.) zu einer Quelle des Patriotismus, der auch zu einer entsprechenden Bevormundung und Drangsalierung anderer Länder führt. So wird denn auch „grüne Politik“ nicht erst seit Joschka Fischer zu einem Markenzeichen des deutschen Imperialismus, mit einem besonderen Platz für die grüne Partei – mitsamt Einfügung in das „westliche Bündnis“ samt NATO.

6. Die „Greenpeaceisierung“ der Umweltbewegung

Wichtiger noch ist die grundlegende politische Veränderung, die sich in der Umweltbewegung durch die Verbürgerlichung der Grünen selbst nur widerspiegelt. Niemand aus dem Kreis der führenden Ur-Grünen hat das so deutlich erfasst wie Ebermann/Trampert, z. B. in ihrem damals viel gelesenen Buch „Die Offenbarung der Propheten“ (1996). Ihnen kann man immerhin zugute halten, dass sie Ende der 1980er Jahre versucht haben, einen organisierten Kampf gegen den Prozess zu führen und dabei in „letzter Minute“ den auf Regierungskurs befindlichen Kahn verlassen haben – im Unterschied zur Masse an „linksradikalen“ Kadern, die ihren „Entrismus“ bis in die Bundesregierung fortsetzten.

Ein gutes Beispiel für den angesprochenen Transformationsprozess machen die beiden in dem Buch an der Auseinandersetzung um die Versenkung der Nordseeölplattform „Brent Spar“ fest. Das Kapitel dazu ist überschrieben mit „Der Klassenkampf ist tot. Lang leben Greenpeace und die Verbraucher/innen!“ (ebd., S. 137 ff.). Es wird dabei treffend verglichen, wie auf einen großen Streik der ÖTV nach der Wiedervereinigung medial reagiert und dann im Kontrast dazu mit der Greenpeacekampagne gegen den Shellkonzern umgegangen wurde. Auf der einen Seite wurde der Streik im öffentlichen Dienst mit seinen Auswirkungen auf Nah- und Fernverkehr, Behörden, Müllabfuhr und Ähnliches in allen Medien bis hin zur „grünen“ taz als „unverantwortlich“, „egoistisch“ und dem Gemeinwohl widersprechend verteufelt. Eine wahre Chronik des Schreckens bis hin zu tragischen Schilderungen von Beschäftigten, die zu spät zur Arbeit kamen, wird aus Bild & Co hier von den Autoren zusammengetragen. Die taz vermutete ein letztes Gefecht, eine „Wagenburgmentalität des Klassenkampfes“ angesichts der „wahren Probleme“ der sozialen Angleichung des Ostens: „… wer eine Brücke über die sich vertiefende soziale Spaltung schlagen will, muss bereit sein, unten zu teilen … als ob die Kosten der Einheit nichts mit Tarifpolitik zu tun hätten. Aus einer Wagenburg aber, die nur den alten Antagonismus von Kapital und Arbeit im Blickfeld hat, entwickelt sich keine Gestaltungskraft“ (ebd., S. 139 f.).

Hier kommt zum Ausdruck, dass sich auch der grüne Mainstream inzwischen als Vertreter „gesamtnationaler“ Interessen gegenüber irgendwelchen „Partikularinteressen“ sah. Er erkannte auch an, dass die Lohnkosten einen wesentlichen Faktor für die Weltmarktstellung des deutschen Kapitals bildeten, dass also nur zu verteilen, was innerhalb dieses Rahmens möglich sei.

Ganz anders reagierte die vereinte Öffentlichkeit im Fall des britisch-niederländischen Konzerns Shell, der 1995 plante, die Tank- und Versorgungsanlage „Brent Spar“ aus Altersgründen stillzulegen – und die Entsorgung dabei nicht durch Verschrottung an Land, sondern durch Versenkung in der Nordsee durchzuführen. Der Konzern hatte dafür wissenschaftliche Studien für Auswirkungen auf die Meeresökologie vorgelegt und die Restbestände an Öl auf unter 100 Tonnen angegeben. Dann begann Greenpeace eine großangelegte Kampagne, die „exemplarisch“ einen Konzern und seine Umweltsünden an den Pranger stellen sollte. Spektakuläre Plattformbesetzungen ergänzten sich mit großangelegten Medienkampagnen. Dabei wurde die Restmenge an Öl gleich mal auf 5.500 Tonnen hochgerechnet (spätere unabhängige Untersuchungen bei der Entsorgung ergaben dann tatsächlich etwa 75 Tonnen). Was aber das Besondere an der Greenpeacekampagne speziell in Deutschland darstellte, war, wie einheitlich von Bildzeitung bis taz alle auf sie abfuhren und plötzlich die Umweltpolitik auf die Verhinderung der „Brent Spar“-Versenkung reduziert zu sein schien. Natürlich wurde jetzt das künftige Allheilmittel gefunden: Die „Volks“kampagne musste ihre Ergänzung im VerbraucherInneboykott von Shelltankstellen finden. Warum sind Streiks „egoistisch“, Verbraucherkampagnen dagegen „ethisch“? Die Autoren urteilen im Fall von „Brent Spar“: „Erstens war es eine willkommene Heuchelei, die Deutschland in dem Maße sauber erscheinen ließ, wie England beschmutzt wurde, zweitens ging es um nichts, drittens waren willfährige, markttreue Verbraucher/innen, die ja schließlich der Bohrinsel wegen nicht einen Liter weniger Benzin tankten, die Objekte der Inszenierung“ (ebd., S. 143).

Was daran richtig ist, ist, dass eine Umweltkampagne hier von einem scharfen Konflikt mit „dem System“ zu rein symbolischem Protest mit ganz bestimmten Elementen der Inszenierung geriet. Es fängt damit an, dass ein bestimmtes Unternehmen ausgeguckt wird, das für das nationale Terrain gerade als geeignetes Stellvertreterfeindbild herhalten kann. Es geht weiter mit medienwirksamen Aktionen von einigen wenigen „professionellen“ AktivistInnen (gerne z. B. Greenpeace). Und es erfolgt eine „leicht umsetzbare“ Aufforderung an die „VerbraucherInnen“ (entweder irgendwelche Petitionen zu unterstützen, ein Produkt zu boykottieren oder irgendwie sonst ihr Marktverhalten zu ändern). Wie Ebermann/Trampert zu Recht darlegen, haben Organisationen wie Greenpeace daraus direkt ein Geschäftsmodell entwickelt. Die vielen Spenden, die ein auf Medienhype aufgebauter Aktionismus generiert, beinhalten natürlich auch solche von denjenigen Konzernen, die gerne gute Presse genießen wollen und dafür bei „den Jungen“ ihr ökologisches Image aufpolieren. Das heißt nicht, dass es nicht auch oft die Richtigen trifft – entscheidend ist, dass das eigentliche Problem schon durch die Form des elitären Aktionismus jenseits der Massenaktion verfehlt wird. Das machen Ebermann/Trampert am Beispiel von „Brent Spar“ (das hier nur für den Beginn einer ganzen Historie von neuem „Umweltaktivismus“ behandelt wird) sehr gut deutlich.

Das Problem der Öleinträge in die Weltmeere (neben der sonstigen Müllentsorgung, insbesondere was Atommüll betrifft) ist tatsächlich ein gewaltiges ökologisches. Schon im Normalbetrieb entweichen Ölbohrinseln große Mengen an Rohöl während der Förderung. Dazu kommen in ebensolchem Verhältnis Ölabfälle von Schiffen und Industrieeinleitungen, die Mengen an Öl, die jährlich bei Tankerkatastrophen in die Meere gelangen. Schließlich geht auch ein großer Teil der Verbrennungsprodukte von aus Öl gewonnenen Treibstoffen über den Niederschlag oder Flüsse ins Meer als globaler Senke für die Abfälle von Öl und ölverarbeitender Industrie. Die nicht mal 100 Tonnen Ölschlamm in der „Brent Spar“ waren natürlich nur ein verschwindend kleiner Teil unterhalb des Promillebereichs dieser gewaltigen Abfallmenge. Trotzdem wurde die Verhinderung der Versenkung der Plattform hochgespielt, als ginge es hier um die „Rettung der Weltmeere“. „Wollte jemand die Nordsee retten und sich aus politischen Gründen auf die Bohrinseln konzentrieren, hätte er zur Demonstration, dass es ihm ernst ist, zumindest den Normalbetrieb angreifen müssen. Wollte jemand wegen des Symbolcharakters den Widerstand auf nur eine einzige Bohrinsel konzentrieren, dann hätte der Kampf gegen den Bohrapparat der deutschen Gesellschaft RWE-DEA, die im Wattenmeer tatsächlich die Nordsee verseucht, nahegelegen“ (ebd., S. 144).

Das berührt natürlich den Kern des Problems, ohne die Lösung wirklich zu benennen. Den „Normalbetrieb“ einer Industrie anzugreifen, heißt gewöhnlich, diese z. B. durch Streiks oder Besetzungen lahmzulegen. Die richtige Kritik an der Hetze gegen Streiks „nur für die eigene Geldtasche“ und das mediale Lob für die „verantwortungsbewussten VerbraucherInnen“, die ihre „Marktmacht“ zur Geltung bringen, drücktt eigentlich auch aus, was hier fehlt. Nämlich dass (nicht nur in Deutschland) die Aktivitäten des Streiks und anderer, ähnlicher Klassenkampfformen ihres politischen Kerns beraubt und tatsächlich zu reinen Lohnkämpfen degradiert wurden. In den Hochzeiten der ArbeiterInneninternationalen waren Streiks auch politische Kämpfe, Massenaktionen z. B. zum Sturz von Autokratien oder zur Durchsetzung allgemeiner sozialer Maßnahmen, aber auch für Arbeitsschutz und gegen Umweltauswirkungen bestimmter Produktionsprozesse. Wie schon ausgeführt sind heute solche Streiks aufgrund von Veränderungen im Produktionsprozess, der Repressionsmöglichkeiten gerade in strategischen Industrien und des sozialchauvinistischen Charakters der Gewerkschaftsführungen schwierig geworden. Letztere stützen sich zudem auf die sozialen Umschichtungen im Betrieb, die dort die technische Intelligenz, die für Kämpfe auch um eine Umgestaltung des „Normalbetriebs“ oder auch eine Transformation der Produktion auf andere Produkte entscheidend wäre, von denen der nicht privilegierten ArbeiterInnen fernhalten. Trotzdem wäre es natürlich für einen effektiven Kampf um eine ökologische Umgestaltung oder Transformation notwendig, alle ArbeiterInnen in solchen Schlüsselbetrieben zu gewinnen.

Gibt man diese Perspektive auf, so gibt es nur den „Druck von außen“ auf das Kapital. Die militanten Kampfformen, wie sie sich etwa in der Anti-AKW-Bewegung entwickelt haben, waren sicher eine Zeitlang ein wirksames Moment, das Tendenzen entwickelte, das System als Ganzes anzugreifen. Sie hätten aber erst realisiert werden können, wenn die Kämpfe auf die „Störung des Normalbetriebs“, auf die Beschäftigten selbst übergegriffen hätten. Nach der Aufgabe dieser Perspektive durch den „grünen Mainstream“ im Gefolge der Umwandlung der Grünen von einer kleinbürgerlichen Bewegungs- in eine offen bürgerliche Partei (wenn auch besonderen Ursprungs) war klar, dass „Druck von außen“ etwas anderes, Systemkonformes werden musste. Und „Brent Spar“ zeigt auch exemplarisch tatsächlich, was aus der „Umweltbewegung“ in den 1990er Jahren geworden war. Sie war auf verschiedenen Ebenen den „Mystifikationen der Zirkulationssphäre“, wie Marx es formulieren würde, aufgesessen – ob jetzt in der „Marktmacht der VerbraucherInnen“, der „Macht der Wählerstimmen“ in Parlamenten, den Möglichkeiten staatlicher Eingriffe, der „Macht der Medien“ etc. Zentral ist natürlich, dass in der Zirkulationssphäre die Klassenwidersprüche hinter der scheinbaren Gleichheit der individuellen WarenbesitzerInnen verschleiert werden. Jeder Verbraucher, jede Verbraucherin erscheint als „verantwortlich“ für ihre individuelle Kauf-/Wahlentscheidung. Wenn nur entsprechende „grüne Angebote“ gemacht würden, dann könne auch „konkret“ etwas verändert werden. Natürlich sind auf all diesen Ebenen von Markt bis Staat, Wahlen bis Medien nicht einfach „Gleiche“ unterwegs, sondern bestimmte AkteurInnen können durch ihre Marktmacht und Kapitalzuwendungen ganz andere Gewichte in die Waagschale werfen.

Zusätzlich zur Verlagerung der „politischen“ Momente der Umweltbewegung in ihren „parlamentarischen Arm“ gibt es auch die zunehmende „Professionalisierung“ des Umweltaktivismus durch „Nonprofit“-Organisationen, wie wir sie hier am Beispiel von Greenpeace gezeigt haben. Seit den 1990er Jahren existiert eine starke Tendenz zur Stellvertreterpolitik in Protesten, theoretischer Arbeit, Publikationen etc. durch „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs). Diese sind zwar zumeist formell als „Nonprofit“-Gesellschaften deklariert, stellen aber ein breites Feld für steuergünstige Investitionen in ein wachsendes Business dar. Studien belegen, dass der NGO-Sektor zu einem bedeutenden Bereich von prekärer Beschäftigung und für eine Koalition von NGO-ManagerInnen mit anlagewilligen Finanzierungsnetzwerken durchaus profitabel geworden ist (Fong/Naschek 2021). Letztere Studie zeigt auch, wie stark die Ausdehnung dieses Sektors mit neoliberalen Ausgliederungen im Sozial-, Umwelt-, Bildungs-, Forschungsbereich, aber auch von kommunalen Einrichtungen zu tun hat. Für die Protestbewegungen, die mit bestimmten NGOs zu tun haben (z. B. in der Klimabewegung), bedeutet dies eine Tendenz der Dominanz durch deren Apparate,  Kampagnenstrukturen, bereitgestelltes Personal, finanzielle Möglichkeiten etc. Damit erlebte auch die Umweltbewegung in sehr viel schnellerem Tempo als die ArbeiterInnenbewegung ihre Bürokratisierung.

7. „Greenwashing“ und „Green Economy“ – auf dem Weg zum „Green New Deal“

Das Beispiel „Brent Spar“ zeigt dabei auch, wie sich Umweltkampagnen selbst einerseits für die Interessen bestimmter Kapitalgruppen bzw. eines eigenen grünen Business’ (hier desjenigen des Greenpeacekonzerns) nutzen lassen. Andererseits zeigt auch die Reaktion der betreffenden Industrie, wie sie den Protest dann für einen Umbau ihrer Marken und ihres Images selbst einsetzen kann. Nach „Brent Spar“ nutzten insbesondere Shell und BP ihr Eingehen auf den Protest im Rahmen der wachsenden Klimabewegung für eine „Selbstneuerfindung“ als Champions von Nachhaltigkeit und Transformation hin zu erneuerbaren Energien.

Um die Jahrtausendwende startete BP eine großangelegte Imagekampagne, die unter anderem dazu führte, dass es sich von „British Petrol“ in „Beyond Petrol“ („Über Benzin hinaus“) umbenannte. Das Logo wurde von dem alten, aus der imperialen Anglo-Persischen Kompanie (APOC), die noch in den Sturz des Mossadegh-Regimes 1953 verwickelt war, übernommenen Schild in eine grün-gelbe Sonnenblume umgewandelt. In diversen Nachhaltigkeitsreports wurde hervorgehoben, wie sehr der Konzern den Umbau von Öl hin zu erneuerbaren Energien betreibe. Tatsächlich wurden einige Firmen der Solar- und Windenergie aufgekauft. Seitdem kann man allerdings tatsächlich beobachten, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am Konzernumsatz verschwindend klein ist und weiterhin vor allem in die Erschließung neuer Ölfelder z. B. im Golf von Mexiko oder vor der brasilianischen Küste investiert wird. Der Konzern hat es anders als andere große Firmen der Ölindustrie verstanden, dass es sich gegenüber den KonsumentInnen in den imperialistischen Ländern nicht lohnt, den Klimawandel zu leugnen. Daher simuliert er den Umbau in einen Konzern der erneuerbaren Energien, der halt noch ein bisschen Ölgeschäft als „Brücke“ zur Zukunft betreibe. Dazu kommt dann noch die Propaganda von den fortschrittlichen Verfahren, die man angeblich einsetze, um die Ölförderung weniger umweltschädlich zu gestalten. Noch Ende 2009 erklärte BP: „Unser Ziel ‚keine Unfälle, keine Schäden für Menschen und keine Zerstörung der Umwelt‘ ist weiterhin die Grundlage der BP-Aktivitäten“ (Hartmann 2019, S. 34 f.). Keine 2 Wochen, nach Veröffentlichung dieser Erklärung ereignete sich auf einer eigenen Explorationsplattform im Golf von Mexiko eine der schwersten Katastrophen der Ölindustrie überhaupt – die Explosion auf der „Deepwater Horizon“ (20.4.2010). Der Umgang mit dieser Katastrophe, auch wenn man es z. B. mit der „Brent Spar“-Affäre vergleicht, enthüllt das ganze Ausmaß an Heuchelei und Verdrängung, das im „globalen Norden“ in Bezug auf die Problematik der Ölindustrie herrscht.

Im Golf von Mexiko gibt es mehr als 3.000 Bohrinseln nicht weit von Küstengewässern mit komplexen ökologischen Lebensräumen. Natürlich war „Deepwater Horizon“ (DH) nur der schlimmste Unfall in der Kette der „Lecks“ die auch im Normalbetrieb immer wieder auftreten. In den 15 Jahren vor der Katastrophe hatte es schon 79 Störfälle gegeben, bei denen die BetreiberInnen zeitweise die Kontrolle über die Bohrlöcher verloren hatten, mit mehr oder weniger massiven Ölaustritten. Die Katastrophe war denn auch keine „unvorhersehbare Tragödie“, sondern von unabhängigen BeobachterInnen schon lange erwartet worden. DH diente der Durchführung von Probebohrungen zur Erschließung einer neuen Ölquelle in etwa 5.000 Meter Tiefe. Aufgrund von Zeitverzügen und Kostendruck waren gegen Ende dieser Bohrungen einige Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr möglich. Außerdem erwies sich der von Halliburton für die Abdichtung des Bohrlochs gelieferte Zement als ungeeignet. Da es schon einige Gasausbrüche gegeben hatte, nannten die ArbeiterInnen vor Ort die Station „Well of Hell“ (das Höllenloch). Trotz Bedenken der Bohrmannschaft (von denen viele in Folge starben) wurde die Bohrung fortgesetzt, als es zu einem plötzlichen starken Druckanstieg kam. Der folgende „Blow Out“ konnte weder durch den angeblich absolut sicheren automatischen Blow-Out-Preventer noch durch manuelle Notabschaltung verhindert werden. Eine Öl- und Gasfontäne schoss aus dem Bohrloch, die die Plattform sofort in Brand setzte und fürs Erste jegliche Aktivitäten zur Schließung des Bohrlochs verunmöglichte. Noch dazu waren die Bauteile, die zur Notschließung dienen sollten, offenbar Billigware, die sich in der Situation als völlig unbrauchbar erwies. Auch wenn die Untersuchungsberichte die Mängel der Sicherheitsvorkehrungen auf mangelnde Investitionen der Betreiberfirma zurückführten, konnte BP sich später von allen solchen Vorwürfen reinwaschen. Schuld waren natürlich untergeordnete Firmen, die als Sündenböcke dienen konnten. Auch aufgrund des nach der Katastrophe schnell wieder beschleunigt aufgenommenen Ausbaus der Ölförderung vor der Küste Louisianas waren weder der Bundesstaat noch die Obama-Administration auch nur im Entferntesten daran interessiert, BP an den Pranger zu stellen. Dies trotz der Art und Weise, wie der Konzern dann die Folgen der Katastrophe „verschwinden“ ließ!

Da 87 Tage nicht reichten, den Ausfluss zu stoppen, gelangten mindestens 780 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko. Das war 20 Mal mehr als bei der bis dahin größten Tankerkatastrophe, als durch die Havarie der Exxon Valdez 2.000 km der Küste Alaskas verseucht wurden. Um ähnlich schreckliche Bilder wie damals an der 70 Kilometer entfernten Küste Louisianas zu vermeiden, kam BP auf ein besonderes „Zaubermittel“. Schon seit langem verwendet die Ölindustrie für den Fall der Fälle sogenannte Dispersionsmittel, die Ölklumpen in „Tropfen“ auflösen. Bei DH kam man schnell auf  Corexit, das von einer britischen Firma produziert wurde, an der BP Anteile hält. Ironischer Weise ist das Mittel aufgrund seiner toxischen Eigenschaften in Britannien selbst gesetzlich nicht zugelassen. Für die US-Umweltbehörde war dies aber kein Grund, dem Einsatz im Golf von Mexiko zu widersprechen. Zur Bekämpfung des riesigen Ölteppichs wurden denn auch nicht wie bisher üblich ein paar tausend Liter der Substanz eingesetzt, sondern insgesamt 7 Millionen – so etwas wie eine industrielle Massenverschleierungsaktion. Denn nicht nur der enthaltene Glycolether zeitigt auf die Meeresfauna beträchtliche Auswirkungen, sondern ist die Dispergierung des Öles ja kein Verschwinden der Verschmutzung: Das Meerwasser enthält in der Gegend weiterhin eine Ölbelastung pro Wasserteil, die für viele Mikroorganismen, Garnelen und Fische tödlich war. Außerdem sammelt sich so das Öl nur am Meeresgrund, wo es letztlich wieder verklumpt. Für dortige Korallen und andere Lebewesen war das tödlich. Letztlich kommt die Katastrophe so auch in Ölklumpen wieder an die Küste, wenn auch nur „in Zeitlupe“. Verschiedene lokale Ökoorganisatione, wie Ecorigs haben seit der Katastrophe eindringlich die Wüste dargestellt, die die Katastrophe aus dem einstig biologisch vielfältigen Küstengewässer vor Louisiana gemacht hatte. BP jedoch verkündete 2015, dass die DH-Katastrophe „nachhaltig“ beseitigt worden wäre und untermalte das mit Bildern von weißen Stränden und „glasklarem“ Wasser. Von untersuchten, an der Küste gefundenen Ölrückständen wurde behauptet, dass diese gar nicht mehr aus der erfolgreich bekämpften Ölpest kommen könnten. In der Mainstream-Presse der USA wurde dies auch einhellig gefeiert und einzelne ökologische KritikerInnen, die damals das Ausmaß der Katastrophe zum Beleg für ihre Forderung nach Ausstieg aus den Ölbohrungen angeführt hatten, der „maßlosen Übertreibung“ bezichtigt. Die Verschleierungskampagne von BP war voll aufgegangen. Verschiedenste Initiativen und Proteste von Umweltorganisationen, die den tatsächlichen Zustand der Meeresökologie und der Herkunft von Ölrückständen bzw. Abbauprodukte von Corexit vor Ort wissenschaftlich untersuche lassen wollten, wurden von den Umweltbehörden der USA mit puren Absichtserklärungen beantwortet. Tatsächlich haben die Öllobby und ihre Regierungen alle solche n bisher nicht zustande kommen lassen.

Das Beispiel BP wurde hier so ausführlich gebracht, weil es besonders deutlich macht, wie sehr ökologischer Anspruch und Realität im gegenwärtigen Kapitalismus auseinanderklaffen. Fast alle großen Unternehmen sind einerseits beständig dabei, immer größere Umweltprobleme zu akkumulieren, um andererseits dauernd zu präsentieren, was sie nicht alles zur „Weltrettung“ unternehmen. Die Nachhaltigkeitsprogramme der Unternehmen, die seit der ersten Konferenz von Rio zu einer Art Pflichtübung der Managementetagen wurden, lassen die Konzerne fast als Vorreiter der Umweltbewegung erscheinen. Kaum eine einschlägige Broschüre eines Großkonzerns kommt ohne Hinweis auf dessen Beitrag zum „Kampf gegen Klimawandel und Umweltzerstörung“ aus, als ob diese nicht zumeist gerade diejenigen sind, gegen die sich dieser Kampf dabei richten müsste. Die tatsächlichen ökologischen Aktionen, die dann von ihnen ausgehen, sind zumeist Symbolprojekte, die in Bezug auf das Gesamtgeschäft nicht ins Gewicht fallen. Trotzdem bevölkern ihre VertreterInnen  die großen globalen Umweltkonferenzen, führen in Davos und anderswo das große Wort zur „Umweltpolitik“. Schließlich werden sie auch von den etablierten Umweltverbänden oder grünen AmtsträgerInnen als notwendige „GesprächspartnerInnen“ akzeptiert. Nicht zuletzt geraten auch NGOs im Umweltbereich in beträchtlichem Ausmaß unter ihren Einfluss, da sie spenden, Logistik oder „Ideen“ liefern.

Schließlich betreiben die Konzerne inzwischen auch nicht mehr einfach nur „Greenwashing“. Mit dem Schlagwort „Green Economy“ wird seit über einem Jahrzehnt inzwischen von einem qualitativen Wandel des Kapitalismus an sich phantasiert. Seit der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 (UNSCD 2012) dient das Schlagwort zur Zielvorstellung der „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“. Mit anderen Worten, es wird die Vorstellung propagiert, dass Kapitalakkumulation ohne systemische Umweltzerstörung und rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen möglich ist. Möglich soll dies werden durch „intelligente Produkte“ und vor allem neue „Erfindungen“, die auf technische Weise die Probleme lösen. Die Probleme z. B. der Umweltvernichtung durch die Explosion der Nutzung privater Pkws sollen nicht etwa durch deren Verminderung gelöst werden, sondern durch die inzwischen als Heilmittel auch in der Automobilindustrie gefeierte E-Mobilität, das neue, „ökologische“ Wachstumschancen eröffne. Natürlich sieht die Ökobilanz der E-Mobilität vor allem durch den zu erwartenden Stromverbrauch im Fall eines flächendeckenden Ersatzes der Verbrenner verheerend aus. Andere dieser technischen  Weltrettungsprojekte beziehen sich zumeist auf das Recycling. So versucht auch die Textilindustrie über alle möglichen Recyclingideen, das immer verrücktere Wachstum (und damit auch an ausrangierten Textilprodukten) als ökologisch verträglich zu verkaufen. Dabei gehört die globale Textilindustrie nicht nur zu den ausbeuterischsten Branchen, sondern auch zu den größten UmweltverbrecherInnen. Erinnert sei daran, dass der riesige Wasserverbrauch der Baumwollfelder in Kasachstan und Usbekistan (den Hauptlieferanten der Textilindustrie des indischen Subkontinents) wohl hauptverantwortlich ist für die Austrocknung des Aralsees (eine der größten Umweltkatastrophen des neuen Jahrtausends). Bei fortgesetztem Umsatzwachstum ist der bisher bekannte Anteil an Recycling von Baumwollprodukten hier reine Kosmetik. Zudem sind die Geschwindigkeitsanforderungen an die Recyclingprozesse für die Abnehmerindustrie nicht ohne sehr hohen Energieaufwand zu bewältigen. Schließlich ist der erhöhte Einsatz von IT als Allheilmittel zur Optimierung des Ressourceneinsatzes auch ein zweiseitiges Schwert. Das rasche Wachstum der Rechenzentren weltweit, die das Rückgrat der Internet- und IT-Prozesse abgeben, hat zu einem Energieverbrauch geführt, der, wäre die IT-Industrie ein Land, diese zur sechstgrößten Energieverbraucheinr der Welt machen würde.

Wie schon in unseren Umweltimperialismusthesen in diesem Band dargelegt, gilt für die sogenannte „green economy“ das schon von Jevons entdeckte Paradox, dass Effizienzsteigerungen unter kapitalistischen Bedingungen letztlich sogar zu einer Erhöhung des Ressourcenverbrauchs führen. Der britische Ökonom Jevons hatte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand des Kohleverbrauchs der britischen Industrie nachgewiesen, dass Effizienzsteigerungen bei Ausnutzung der Dampfkraft nicht zu geringerem, sondern aufgrund des durch die Kosteneinsparungen bedingten Wachstumsanreizes sogar erhöhtemKohlverbrauch führten.

8. Die Tendenz zur Umweltzerstörung im Kapitalismus und ihre Relativierungen

Dies ist auch nicht anders zu erwarten in einer von den Kategorien der Wertbildung beherrschten Ökonomie. Die Produktivkraftentwicklung erfolgt nicht anhand bewusster sozialer oder ökologischer Zielsetzungen, sondern die Ersparung von Arbeit und Ressourceneinsatz erzeugt umgekehrt über Wertkategorien wie Preis, Lohn, Profit etc. den „Sachzwang“ zur Verallgemeinerung von sich „naturwüchsig“ durchsetzenden Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen und des Verhältnisses zur Natur. Die herrschenden Eigentumsverhältnisse und der darauf basierende Zwang zur Verwertung des Kapitals erzeugen dabei sowohl die beständige Bedrohung der Verschlechterung der Verwertungsbedingungen („tendenzieller Fall der Profitrate“, Krisen- und Zusammenbruchstendenz) als auch die entgegenwirkenden Ursachen, insbesondere im Zwang zur beständigen Ausweitung der absoluten Masse des produzierten Mehrwerts. Letzteres bedeutet, dass der Zwang nicht einfach nur zum „Wachstum“, sondern zu scheinbar grenzenlosem, kein Produkt der „Gier“ von KapitalistInnen oder „der Gesellschaft“ darstellt, sondern ein unmittelbares Produkt des kapitalistischen „Normalbetriebs“.  Ein Kapitalismus ohne Wachstum muss in kurzer Zeit aufgrund der damit verbundenen Verwertungskrise zusammenbrechen. Eine „Kritik des Wachstums“ ohne Aufhebung der Wertmechanismen des Kapitals und der ihnen zugrundeliegenden Eigentumsverhältnisse ist nicht nur utopisch, sondern ein Weg in die Katastrophe. Die von Menschen geschaffenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse verselbstständigen sich zu einem scheinbar „objektiven“ Zwang der Ökonomie, der nicht nur zur Entfremdung zwischen den Menschen sondern auch entfremdete Verhältnisse zwischen Mensch und Natur schafft. Unter kapitalistischen Bedingungen gibt es keine „Versöhnung“ von Ökologie und Ökonomie.

Foster et al. (2011) haben zu Recht aus dieser grundsätzlichen Dynamik des kapitalistischen Wachstums langfristige ökologische Gesetzmäßigkeiten für den Kapitalismus abgeleitet. Marx behauptet als „langfristiges Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“, dass die beschriebenen Widersprüche des kapitalistischen Wachstums auf lange Sicht zu einer Zunahme der sozialen Ungleichheit im Weltmaßstab führen müssen. D .h. es kommt u einer ungeheuren Ansammlung von Reichtum auf Seiten eines verschwindend kleinen Teils der Gesellschaft (der Bourgeoisie), gegenüber dem der arbeitende Rest der Gesellschaft relativ gesehen „verelendet“ (wie immer diese dann noch auf die subalternen Klassen verteilt wird). Foster et al. (2011) ergänzen dies durch ein zweites Gesetz der kapitalistischen Akkumulation: das „absolute allgemeine Gesetz der Umweltschädigung unter dem Kapitalismus“ (S. 196). Gemäß zweitem Hauptsatz der Thermodynamik und der daraus folgenden „entropischen Erosion“ – also des notwendigerweise steigenden (Energie-)Aufwands auf jeder Stufe, um das Wachstumstempo halten zu können –, zeigen sie, dass der Verwertungsprozess des Kapitals trotzdem selbst diese Schranke nicht respektiert.  Vielmehr bildet das für ihn einen „neuen Wachstumsanreiz“, um selbst die als „Umweltschutz“ verstandenen Maßnahmen letztlich zur Steigerung der Umweltzerstörung zu nutzen. So „gewährleistet die kapitalistische Art der Aneignung mit ihrem Ziel der Förderung privater Profite unter geringer Rücksichtnahme auf gesellschaftliche oder umweltbezogene Kosten, dass diese entropische Erosion global gesehen zu jeder historisch gegebenen Entwicklungsphase auf eine maximal ökonomisch denkbare Ebene hinausläuft“ (ebd., S. 197).

Jede Theorie oder politische Antwort auf die gegenwärtigen ökologischen Grundprobleme, die die Frage der Eigentumsverhältnisse und damit ihres Klassencharakters ausklammert, kann daher keine wirkliche Antwort auf die ökologische Krise geben.

Insbesondere sind daher grüne Parteien oder andere politische Kräfte, die eine Versöhnbarkeit von kapitalistischer Ökonomie und Ökologie zu ihrer umweltpolitischen Agenda machen, letztlich nicht anders als diejenigen, die von der Möglichkeit eines sozialen Kapitalismus phantasieren. Angesichts der beiden Grundgesetze der kapitalistischen Akkumulation sind „Errungenschaften“ auf sozialem oder ökologischem Gebiet im Kapitalismus auf lange Sicht nur zeitweilige Erfolge, die immer wieder zunichtegemacht werden. Grüne und sozialdemokratische Parteien sind damit nichts weiter als Verwalterinnen der Umweltzerstörung wie des Sozialabbaus, die sie angeblich bekämpfen oder beschränken wollen. Dies heißt natürlich nicht, dass es nicht immer wieder richtig wäre, für konkrete Verbesserungen auf ökosozialem Gebiet zu kämpfen – ohne Illusion darin, dass Erfolge auf diesem Gebiet im Kapitalismus in realem Sinn „nachhaltig“ sein könnten. Nachhaltigkeit gibt es nicht ohne Angriff auf die bestehenden Produktionsverhältnisse.

So wie eine nachhaltige Umweltpolitik im Kapitalismus ein Widerspruch in sich ist, so ist es auch nicht verwunderlich, dass die im akademischen Bereich vorherrschenden Positionen zu Ökologie und Gesellschaft heute keine Antworten auf die ökologische Krise liefern können. Natürlich sind auch in den verschiedenen Gebieten wie Umweltsoziologie, Ökologie, Klimaforschung etc. die hegemonialen Theorien der „ökologischen Modernisierung“ verpflichtet. Sie verbreiten die Vorstellung, dass eine ökologische Umgestaltung des kapitalistischen Wachstums nur Ersetzung bestimmter technischer Prozesse durch „modernere“ bedeuten würde, bei anhaltendem Wachstum. Ja, dies sei sogar der Motor für neues Wachstum. „Kapitalismuskritik“ hatte es in linken Theorien gegeben. Aber in den heute vorherrschenden ökologischen Theorienwird  nur noch von „Marktwirtschaft“ gesprochen. Maßnahmen der Umgestaltung seien durch Nutzung bestimmter „Marktmechanismen“ möglich (Zertifikatehandel, Steuerpolitik, Investitionsförderung … ).

Wenig erstaunlich auch, dass hier der Siegeszug poststrukturalistischer Theorie zu einer „linken“ Flankendeckung der „ökologischen Modernisierung“ führt. Den verschiedenen Diskurstheorien folgend, lehnen akademische ÖkologInnen heute natürlich den Anspruch der „großen Erzählung“ ab, die der Marxismus für die ökologische Krise liefert. So wird denn auch die drohende menschengemachte Klimakatastrophe zu einem „gängigen Narrativ“ (Radkau 2011, S. 34), zu dem es auch „Gegenerzählungen“ vom Machtstreben eines Öko- und Klimaestablishments gäbe. In vielen Bereichen sei es sogar notwendig, zum herrschenden Narrativ der großen Kapitale plausible „Gegenerzählungen“ wirksam zu verbreiten. Eine „Metaerzählung“, bei der man unschwer „die Grundmuster der Tragödie und der Apokalypse“ erkenne, mit der Botschaft „die Menschheit ist dabei, sich durch ihre eigene Wirtschaftsweise … zugrunde zu richten“ (Radkau 2011, ebd.),  sei dagegen nicht zu begründen bzw. führe zu totalitären Ansprüchen. So erbaulich solche ökologischen Apokalypseerzählungen für das Leserpublikum auch seien, die konkreten Maßnahmen in Verwaltungen und Unternehmen zum Umweltschutz würden weit mehr voranbringen als der „Alarmismus“.

Diese Relativierung von wissenschaftlicher Wahrheit in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften wird somit auf dem Gebiet der Ökologie besonders bizarr. Es ist kein Wunder, dass die „alarmistischen Erzählungen“ heute vor allem von NaturwissenschaftlerInnen kommen. Auch wenn es für komplexe ökologische Zusammenhänge wie z. B. den Einfluss der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise auf das globale Klima sicher eine Menge an Unsicherheiten und unwägbaren Faktoren gibt, durch die gegenwärtige Messergebnisse zu einer Bandbreite an möglichen Entwicklungen führen können, sind NaturwissenschaftlerInnen in der Lage, ihre Vorhersagen mit Fehlerwahrscheinlichkeiten, Überprüfungsmöglichkeiten und quantifizierbaren Intervallen für die zu erwartenden Entwicklungen zu begründen. D. h. in dialektischem Sinne sind ihre Resultate als fortschreitende Annäherung an die Wahrheit erkennbar. Die ökologischen Brüche, die für verschiedene Bereiche heute die „points of no return“ im globalen Ausmaß erreicht haben oder zu erreichen drohen, sind in diesem Sinn wissenschaftlich belegt und erfordern tatsächlichen „Alarm“. Foster et al. (2011) zitieren aus einer internationalen Studie, an der zahlreiche bekannte NaturwissenschaftlerInnen aus den relevanten Fachwissenschaften beteiligt waren, nach der es in neun globalen ökologischen Bereichen solche für einen lebenswerten Planeten bedrohliche Brüche gibt: neben dem Klimawandel die Übersäuerung der Ozeane, die Stickstoff- und Phosphatkreisläufe, der stratosphärische Ozonmangel, der weltweite Frischwasserverbrauch, die intensive Landnutzung, der Verlust an Biodiversität, die Aerosolaufladung der Atmosphäre, die chemische Verschmutzung (S. 16). In allen diesen Bereichen gibt es klare Kennziffern und alarmierende Annäherungen an Grenzwerte, die allesamt rasches Handeln erforderlich machen.

Natürlich ist das relativierende Gerede von den „Narrativen“ durch GesellschaftswissenschaftlerInnen und ihr politisches Gefolge vor allem auf die Frage der Ökonomie gerichtet. Die Frage, ob ein „wirtschaftliches Wachstum ohne Umweltzerstörung“ möglich sei, sei nicht mit irgendwelchen Bezugnahmen auf „Naturgesetze“ zu begründen. Hier begegnen wir heute vor allem zwei ideologischen Phänomenen: Entweder werden überhistorische allgemeine ökonomische Gesetze postuliert, die z. B. als Marktgesetzte ähnlich wie Naturgesetze funktionieren – und so auch für bestimmte ökologische Zielsetzungen technisch genutzt werden könnten (Zertifikate, Steuern etc.). Oder es wird die Unvorhersagbarkeit ökonomischer Entwicklungen aufgrund der vielen individuellen Entscheidungen der MarktteilnehmerInnen, der „Psychologie des Marktes“ etc. betont. Bei beiden Varianten gibt es keine erkennbare langfristige Tendenz. Folglich lassen sie die Möglichkeit einer „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“ durch marktgerechte Staatseingriffe, vor allem aber durch die Verantwortung der „individuellen Entscheidungen“ der MarktteilnehmerInnen offen.

Durch diese verdinglichende Abstraktion „des Marktes“, „der Marktgesetze“ etc. von den historischen Bedingungen der gegenwärtigen Wirtschaftsweise werden die besonderen strukturellen Gründe der heutigen Widersprüche von Ökonomie und Ökologie vollkommen verschleiert. Vom Standpunkt des historischen Materialismus wird die Menschheitsgeschichte dagegen durch eine Reihe grundlegender Umbrüche gekennzeichnet gesehen, die jeweils für mehr oder weniger lange Perioden sehr unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten unter anderem auch im Mensch-Naturverhältnis mit sich bringen. Die „Marktgesetze“ sind daher nichts Überhistorisches, was so immer schon wirkte, sondern Vorherrschen von Warenproduktion, Lohnarbeit und Entwicklung von Märkten (Zirkulation) in Unterordnung unter die Verwertung von Kapital im Produktionsprozess sind historische Spezifika, ohne die eine „marktwirtschaftliche Herangehensweise“ auch an ökologische Krisen unsinnig ist. Es ist daher auch falsch, wenn sowohl „linke“ ÖkologInnen wie auch die ÖkomodernisiererInnen von einem Problem des „Anthropozäns“ sprechen – also einer wachsenden Tendenz der Umweltzerstörung, die es seit Anbeginn der „menschlichen Zivilisation“ gäbe. So z. B. exemplarisch im Werk des Anthropologen Jared Diamond zu sehen, der etwa in dem Buch „Kollaps“ (2005) eine interessant geschriebene Geschichte ökologischer Katastrophen von den PolynesierInnen auf den Osterinseln bis zur Gegenwart erzählt. Er schlussfolgert, dass es bloß zu einer quantitativen Steigerung von Umweltkrisen im Verlauf der menschlichen Zivilisation komme – das Muster jedoch immer dasselbe sei. Die Lehren daraus würden von den heutigen Menschen eine Umkehr von den bisher eingeübten Verhaltensweisen „der menschlichen Zivilisation“ verlangen, wollen wir nicht wie einst die WikingerInnen auf Grönland aussterben – nur diesmal in globalem Maßstab.

Dabei wird gerade bei den genannten neun ökologischen Problemfeldern, bei denen heute Grenzwerte für einen lebenswerten Planeten erreicht werden, klar, dass die Epoche des Kapitalismus nicht nur eine quantitative Steigerung der bisherigen „Zivilisationsprobleme“ bringt, sondern eine neue, katastrophale Qualität. Seit Beginn der kapitalistischen Industrialisierung sind nicht nur die Konzentrationen der Treibhausgase in der Atmosphäre in nie dagewesener Geschwindigkeit explodiert. Gleiches gilt für Übersäuerungsprobleme, Wasserverbrauch, chemische Verschmutzung, Artensterben etc. Der Kapitalverwertungszwang und der damit verbundene immer größer werdende Hang zur stofflichen und energetischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen unter Missachtung der der Natur eigenen, sehr viel langsameren Entwicklung (auch die Natur hat ihre Geschichte, mit allen Sprüngen und Veränderungen) haben der Naturzerstörung eine ganz andere Dynamik aufgeprägt, als dies die dagegen behäbig und provinziell wirkenden feudalen oder antiken Gesellschaften je hervorbringen konnten. Elmar Altvater sprach daher zu Recht von einem „Kapitalozän“ (Altvater 2018), das den Planeten an den Rand einer neuen „global extinction“ bringt. In Analogie zu den erdgeschichtlich wohl bisher fünf „Massenausterbeereignissen“ gehen viele BiologInnen davon aus, dass wir mitten im sechsten stehen.

9. Kapitalismuskritik mithilfe von Degrowth?

Tragischerweise sind jedoch nicht nur ÖkoreformistInnen wie die VertreterInnen der „ökologischen Modernisierung“ von der ahistorischen und technizistischen Sichtweise beherrscht – auch viele von deren „linken“ KritikerInnen sind da nicht besser. Ein Teil der KritikerInnen an der „gegenwärtigen Wirtschaftsweise“ versucht ein Gegenmodell einer „Postwachstumsgesellschaft“ zu propagieren. Bekannt wurde diese Strömung durch das Schlagwort der „Degrowth-Bewegung“. Wie die Seite www.degrowth.de zeigt, erhält diese durchaus einiges an Unterstützung aus akademischen Kreisen, von diversen umweltpolitischen Initiativen, aber auch von Parteistiftungen der Grünen und der Linken. Insgesamt aber ist die Bewegung entgegen ihrem globalen Anspruch vornehmlich auf die imperialistischen Länder beschränkt, mit einigen eher isolierten akademischen ZuarbeiterInnen in den Halbkolonien.

Entscheidendes Merkmal dieses losen Zusammenschlusses ist die Entwicklung einer „Gegenerzählung“ zu dem angeblich auch von MarxistInnen vertretenen Standardnarrativ, dass keine wirtschaftliche Entwicklung ohne Wachstum möglich sei. Bei aller Vielfältigkeit der Positionen eint die Strömung schon, dass für sie „Kapitalismuskritik“ und „Infragestellung der Wachstumsgesellschaft“ Hand in Hand gehen. Was dabei genau „Kapitalismuskritik“ ist, wird von den verschiedenen Flügeln bzw. AutorInnen sehr unterschiedlich beantwortet. Klar ist, dass sie nicht von einer historischen Betrachtung ausgehen, nach der die Probleme des kapitalistischen Wachstums nur durch eine revolutionäre Umwälzung der Eigentumsverhältnisse überwunden werden können. Das Spektrum reicht vielmehr von einer vagen Andeutung, dass der Kapitalismus „ungeeignet“ sei, um dem Wachstumszwang zu entgehen (Blauwhof 2012 , S. 261), oder Degrowth den Kapitalismus „hinter sich lassen“ würde (Kallis et al. 2016, S. 31) bis dazu offenzulassen, ob Kapitalismus und Postwachstum nicht doch miteinander vereinbar sind. So vertritt Lawn (2005, S. 228), dass es möglich sei, „auf demokratischem Weg an die Macht zu kommen“, um „den kapitalistischen Betrieb sozial und ökologisch in die Schranken zu weisen“. Andere favorisieren gar die Rückkehr zu vorkapitalistischen Verhältnissen in Form kleinbäuerlicher Agrargesellschaften (Bennholdt-Thomsen 2015, S. 162). Insbesondere der griechische Ökonom und Ökologe Giorgios Kallis (z. B. in „Degrowth. Handbuch für eine neue Ära“, 2016) zeichnet sich durch eine Theoretisierung dieser ökonomischen Unklarheiten an der Basis von Degrowth aus. Vertreten wird, dass der „Wachstumszwang“ gar nicht aus „der Ökonomie“, aus den von Marx entdeckten Zwangsgesetzen der kapitalistischen Akkumulation komme, sondern ein Element der herrschenden „Leitkultur“ sei, eine „low growth“- oder gar „steady state“-Ökonomie vor allem durch einen „grundlegenden Kulturwandel“ zustande käme. Die Überwindung des Kapitalismus wird dann vor allem zu einer der „kapitalistischen Kultur und Denkweise“. Im Allgemeinen lehnt Degrowth daher nicht überraschenderweise die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution ab, auch wenn man sich zeitweise an den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und das Konzept der „bolivarischen Revolution“ anlehnte.

Es ist überhaupt bezeichnend für die neue Umweltbewegung seit der Jahrtausendwende (die wir im Anschluss ausführlicher behandeln werden), dass die Steigerung der Umweltprobleme sehr wohl „dem Kapitalismus“ angelastet wird und man sich ganz allgemein als „AntikapitalistInnen“ bezeichnet (und auch gerne auf allen Aktionen „A-Anti-Anticapitalista“ intoniert) – dabei aber einen vollkommen unklaren, nicht materialistisch fundierten Begriff von Kapitalismus zu hegen. Dass vorherrschende Strömungen wie „Degrowth“ ein mehr oder weniger friedliches Hinübergehen von der derzeitigen kapitalistischen Ökonomie in eine nachkapitalistische Postwachstumsgesellschaft für möglich halten, ist natürlich vom Standpunkt einer sich auf Marx beziehenden Kapitalismuskritik völlig unsinnig. Wenn man jedoch von den zugrundeliegenden Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen und den darauf basierenden Verwertungszwängen abstrahiert, kann man sich natürlich eine „Marktwirtschaft“ mit Postwachstum vorstellen. Anstelle eines Angriffs  auf die Eigentumsverhältnisse und der dafür notwendigen Klassenperspektive treten dann „Individuen“, die sich in wachsender Zahl bewusst werden, dass „konkret“ etwas grundlegend anders werden muss, um sich an der „großen Transformation“ zu beteiligen.

Wenn es nicht um eine soziale Revolution, um Änderung der Eigentumsverhältnisse, um eine Klassenaktion zur Umwälzung der Produktionsverhältnisse geht, sondern vor allem um einen „Kulturwandel“, um eine Überwindung der kapitalistischen Lebensweise etc., so ist klar, dass die „Transformation“ eine langwierige Folge von „autonomen“ Handlungen von lokalen Initiativen verkörpert. Bei Degrowth sind anders als in der Green Economy nicht die einzelnen KonsumentInnen, TrägerInnen der Veränderungen, sondern die dezentralen und vernetzten Initiativen. Dies kann von der Errichtung von Gemeinschaftsgärten, dezentralen Energieprojekten, lokalen Kreisläufen mit Regionalwährungen bis hin zur Gründung von Landkooperativen und auf Gesamtebene der Umsetzung eines bedingungslosen Grundeinkommens reichen. Auf der politischen Ebene wird der Staat nicht als Instrument der herrschenden Klasse gesehen, sondern als Vehikel, in dem sich verschiedene Kräfte auseinandersetzen und somit auch ökologische und soziale Zielsetzungen (z. B. Grundeinkommen) mehr und mehr durchsetzen ließen. Verbunden wird dies mit der Vorstellung einer Ersetzung staatlicher oder privater Strukturen durch ein Wiedererstarken der „Commons“, also der gemeinschaftlich genutzten Ressourcen und Güter – z. B. nach dem Vorbild der Open-Source-IT-Systeme, die eben dafür auch immer mehr Verteilmechanismen selbstvernetzend schaffen könnten.

Abgesehen davon, dass der hier skizzierte „Kulturwandel“ angesichts der drängenden ökologischen Probleme offensichtlich sehr viel Zeit erfordern würde, ist jedoch gravierender, dass weder die herrschenden ökonomischen Interessen (in den Konzernen) noch die staatlichen Organe noch die von den bürgerlichen Ideologien beherrschten Massen sich durch „das gute Beispiel“ so widerstandslos überzeugen lassen werden. Aktionsformen wie Besetzungen (ob von Häusern oder Land), direkte Aktionen gegenüber Banken etc. erzeugen bekanntlich Gegenreaktionen der Besitzenden und oft nicht so viel Solidarität der Beherrschten. „Alternatives Wirtschaften“ ist eingebunden in eine kapitalistische Marktlandschaft, die schnell auch über die Logik der Preise die Verwertungszwänge in die scheinbar „nichtkapitalistisch denkenden“ Inseln hineinträgt. Die Erfahrungen mit „sozialistischen Experimenten“ im Kapitalismus sind nun nicht gerade eine Neuerung. Schon Marx hat eine Reihe davon aus dem 19. Jahrhundert einer epochemachenden Kritik unterzogen, die nichts an ihrer Aktualität verloren hat.

Das bedingungslose Grundeinkommen unter den Voraussetzungen der bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse umzusetzen, bedeutet – wie wir andern Orts schon genauer ausgeführt haben (siehe Roth 2010) –, dass das Kapital Sozialhilfe auf ein niedriges Niveau ohne aufwändige Sozialbürokratie kürzen können wird. Ökotransformation und bedingungsloses Grundeinkommen unter den gegebenen Machtverhältnissen umzusetzen, bedeutet letztlich, Armutsnischen zu schaffen, in denen dann ein aus der „Mehrheitsgesellschaft“ ausgestiegener Teil sein karges, ökologisch korrektes Leben fristen wird. Eine Transformation, die die brennenden ökologischen Probleme auf globaler Ebene löst, werden wir auf diese Weise wohl innerhalb der nächsten 100 Jahre nicht erleben können. Auch die „Ausweitung der Commons“, der „Siegeszug“ von Open Source & Co lassen sich nicht gerade gut an: Open Source wurde im Grunde zum Wegbereiter des digitalen Plattformkapitalismus. Es erleichterte die Etablierung der Monopole derjenigen Konzerne (wie Apple, Amazon, Facebook, Alpha etc.), die auf Grundlage der Popularität einer Flut praktisch kostenloser Applikationen den Markt durch Plattformen, die diese zugänglich machen, beherrschen. Nichts deutet darauf hin, dass in irgendeiner Weise eine Transformation im Gange ist, die den Kapitalismus „von selbst“ zum Verschwinden bringt.

Zuletzt muss natürlich auch erwähnt werden, dass der Begriff der „Transformation“ für einen nicht unbedeutenden Teil der „modernen“ ReformistInnen anschlussfähig ist. Der strukturalistische, marxistische Theoretiker Poulantzas hatte diesen Begriff als Alternative zum leninistischen Revolutionskonzept geprägt (ausführlicher kritisiert in: Lehner 2017). Poulantzas revidierte das Marx’sche Konzept des Klassencharakters des bürgerlichen Staates. Er sei zwar vom kapitalistischen Produktionsverhältnis bestimmt, in ihm würden sich jedoch auf Grund der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen langfristig Kräfteverschiebungen widerspiegeln, die auch zu einer Transformation von Staat und Ökonomie genutzt werden könnten. Insofern lehnte er die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates in „komplexen, modernen“ Gesellschaften ab. Zusammen mit einer Ausnutzung der Vagheiten von Gramscis Hegemoniebegriff wird daraus heute die „Transformationslinke. Die Vorstellung, dass durch Eroberung von „Stellungen“, ideologisch-kulturelle Verschiebungen, einzelne erfolgreiche Massenproteste, Wahlerfolge auf verschiedenen Ebenen etc. langsam eine antikapitalistische Transformation durchgesetzt werde, die gar keiner Revolution mehr bedarf, bildet ihren ideologischen Kern. Natürlich lässt sich die von Degrowth angestrebte „große Transformation“ mit dieser Strategie der „unmerklichen“ Überwindung des Kapitalismus verbinden. Daher ist es kein Wunder, dass in vielen linken Parteien heute „Transformation“ und „Postwachstum“ große Anhängerschaften aufweisen. Das ist praktisch die Kombination, mit der z. B. die „Bewegungslinke“ innerhalb der Linkspartei die Grünen als „Ökoavantgarde“ abzulösen versucht.

Inzwischen erfährt das Schlagwort der „Transformation“ ein ähnliches Schicksal, das bereits die „Nachhaltigkeit“ erlitten hat. Von einem Begriff, der Teil eines ökologischen, kapitalismuskritischen Diskurses war, ist er längst zum Jargon der kapitalistischen „ModernisiererInnen“ verkommen. Von Seiten des Kapitals werden Strukturveränderungen, wie sie derzeit die Automobil- oder die Stahlindustrie durchmachen, heute als „Transformation“ verkauft. Was es dabei darunter versteht, kann man an solchen Vereinbarungen betrachten wie in der Energiewirtschaft (z. B. im „Kohlekompromiss)“. Prinzip ist die Sicherung der Profite durch möglichst langsame Abschreibung der bestehenden Investitionen bzw. Entschädigung, falls es zur Beschleunigung kommt, bei gleichzeitiger Abwälzung der sozialen Kosten (z. B. Arbeitsplatzverlusten) der Transformation auf die Allgemeinheit. Bei Gewerkschaften werden entsprechend Vereinbarungen zur „Transformation“ abgeschlossen, die sich vor allem um Sozialpläne, Umschulungsmaßnahmen, Lohnverzicht, vorzeitige Verrentung etc. drehen. Wie unten genauer ausgeführt wird, ist daher in der Umweltbewegung eine Strömung entstanden, die die „Transformation“ mit der Frage der „Gerechtigkeit“ verknüpft – etwa unter dem Schlagwort der „Klimagerechtigkeit“ (die nicht nur die Nord/Süd-Ungleichheit betrifft).

Auch wenn der Schwachpunkt der Degrowth-Bewegung die idealistische Kapitalismuskritik und der Mangel einer klassenpolitischen Transformationsperspektive ist, so bleibt die Frage einer alternativen Gesellschaft, die die gegenwärtigen ökologischen Probleme überhaupt noch in der Lage ist einzugrenzen, mehr als berechtigt. Selbst eine sozialistische, demokratisch organisierte Weltgesellschaft würde vor enormen Problemen der Harmonisierung von ökologischer „Reparaturarbeit“ einerseits und notwendiger sozialökonomischer Entwicklung andererseits stehen. Schon Mitte der 1970er Jahre hat einer der wohl interessantesten linken Oppositionellen in der DDR, Wolfgang Harich, dies in seinem Buch „Kommunismus ohne Wachstum?“ (Harich 1975) entwickelt. Darin reagierte er auf die Analysen der „Grenzen des Wachstums“ durch den „Club of Rome“, in dem er auf der einen Seite feststellte, dass der Kapitalismus nicht in der Lage sein würde, Ökologie und Wachstum in Einklang zu bringen: „Der Kapitalismus kann, da Kapitalakkumulation und Kapitalverwertung sein Lebensgesetz sind, unmöglich von der erweiterten zur einfachen Reproduktion übergehen“ (ebd., S. 111). Damit ergibt sich die Schlussfolgerung: „Der Sturz der Bourgeoisie, die Errichtung der Diktatur des Proletariats und die Verwirklichung des Kommunismus sind die Voraussetzungen dafür, die Forderungen des Club of Rome in der Gesellschaft durchzusetzen“ (ebd., S. 109). Doch dies sind nur die notwendigen Voraussetzungen. Harich kritisiert auch die Unfähigkeit der damals existierenden „Planwirtschaften“, tatsächlich einen ökologischen Umbau als wesentliches Planziel zu formulieren, geschweige denn durchzusetzen. Dabei erkennt er als wesentliches Hindernis die nationale Beschränktheit der Planwirtschaften. Gerade der ökologische Umbau erfordert möglichst einen „Weltwirtschaftsplan“: „Es gäbe den vom Weltwirtschaftsrat ausgearbeiteten Weltwirtschaftsplan mit seinen Kontingentierungsauflagen … für alle übrigen Industrieprodukte, und für den Einzelnen gäbe es Rationierungskarten“ (ebd., S. 167). Dieses System würde „nach dem Grundsatz der Gleichheit jedem Individuum zuteilen, was es für ein menschenwürdiges Leben an Gebrauchswerten benötigt, nicht mehr, aber auch nicht weniger, in Indien wie in USA, überall“ (ebd., S. 170). So könne man im ersten Schritt einen Rückbau der ökologischen Schädigungen beginnen – wobei er darunter auch die Überwindung des Individualverkehrs zählte. Für die DDR nicht besonders populär, stellte er fest: „Der Pkw in Privatbesitz ist nach meiner Überzeugung ein natur- und gesellschaftsfeindliches Konsumtionsmittel, ein antikommunistisches auf jeden Fall“ (ebd., S. 155). Dem ökologischen Rückbau in den hochindustrialisierten Ländern könne nicht einfach ein ausgleichender Aufbau von Industrie im globalen Süden folgen, sondern eine am globalen Gesamtbedarf orientierte behutsame Aufteilung der globalen ökologischen und ökonomischen Lasten auf die passenden Regionen.

Die Durchsetzung dieses ökologischen Weltwirtschaftsplans mag sehr unrealistisch erscheinen. Sie ist aber hundertmal realistischer und rascher umzusetzen, als auf den jahrhundertelangen Transformationsprozess der Degrowth-Bewegung zu warten, bei dem immer der Zweifel besteht, inwiefern man damit wirklich eine für die gesamte Menschheit dieses Planeten nachhaltige Überlebensfähigkeit sichern könnte (oder doch wieder nur für einen elitären Teil mit eigenem Gemüsebeet).

Harich weist auch zu Recht darauf hin, dass es notwendig ist, sich von gewissen utopischen Momenten des Marxismus in Bezug auf „Naturbeherrschung“ zu verabschieden: „Ich glaube jedoch nicht mehr, dass es jemals eine im Überfluss lebende, eine aus dem Vollen schöpfende kommunistische Gesellschaft geben wird, wie wir Marxisten sie bisher angestrebt haben. In diesem Punkt müssen wir uns korrigieren“ (ebd., S. 33). Tatsächlich verweist dies auf den materiellen Gehalt des Begriffs der „Grenze“, wie er in der Wachstumskritik gefasst werden muss. Im Kapitalismus erscheint jede „Grenze“ für das scheinbar grenzenlos sich ausdehnende Kapital nur als immanente „Schranke“ (Mangel an Kapital, Mangel an Absatzmärkten, Mangel an Investitionsmöglichkeiten etc.). Schranken sind jedoch etwas Relatives, das letztlich durch einen neuen Anlauf überwunden werden kann. So stößt die Akkumulation in der Landwirtschaft irgendwann auf die Schranke der Ertragsfähigkeit der verfügbaren Böden, nur um dann durch Investition in ertragssteigernde Ergänzungsmittel (Phosphate, Nitrate etc.) überwunden zu werden. Welche langfristigen Folgen aus dieser qualitativ neuen Stufe von Wachstum für die betroffenen Naturkreisläufe herrühren (z. B. Eutrophisierung der Gewässer), wird erst sehr viel später klar. Die Zusammenhänge zwischen erweiterter ökonomischer Reproduktion und ökologischen (Re-)Produktionsprozessen sind das eigentliche Gebiet der Ökologie. Sie haben sich als sehr viel komplexer und schwerer erkennbar erwiesen, als es sich Fortschrittsglaube und Phantasie von der „absoluten Naturbeherrschung“ in der Ideologie der Moderne vorgestellt hatten. Für eine sozialistische Weltgesellschaft steht daher ein langwieriger ökologischer Umbau bevor, besonders da er für eine inzwischen enorm gewachsene Weltbevölkerung zugleich ein menschenwürdiges Leben garantieren muss. Ein Absterben des Staates und damit auch der Zwangsmechanismen, die mit einem solchen Management der Knappheit verbunden sind, ist daher auch sehr viel langsamer möglich, als dies dem marxistischen Optimismus entsprach (aber natürlich auch den kommunalistischen Träumen der Degrowth-Bewegung). 

10. Klassenfragen

Schon während der zweiten Umweltbewegung, den großen militanten Konfrontationen mit dem „Atomstaat“, stellten viele der linken Teile dieser Bewegung die Frage, wo denn die ArbeiterInnenklasse bleibe. Wie schon erwähnt, wurde (und wird) der Begriff der ArbeiterInnenklasse gern auf das industrielle Proletariat verengt. Somit setzte sich bei vielen AktivistInnen und auch in der theoretischen Aufarbeitung die These durch, dass diese in den imperialistischen Ländern integriert und reaktionär bzw. die Klassenfrage im „Postfordismus“ gar nicht mehr relevant sei. Die Versuche, die neuen sozialen Bewegungen, also auch die neue Umweltbewegung, mit einem Strukturwandel der Klassengesellschaften, also auch einer Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse in Verbindung zu setzen, blieben rar oder führten nicht zu neuen politischen Orientierungen. Die ökonomische Krise und die beginnende Globalisierungsperiode des Kapitalismus brachten eine weitere Differenzierung durch ein sich auch in den imperialistischen Zentren ausdehnendes „Prekariat“. Der „Abschied vom Proletariat“, die radikalen Konfrontationen während der Krisenphase in den 1980ern und die Orientierung eher auf subproletarische Schichten brachten in dem Jahrzehnt den kurzen Frühling der „Autonomie“ hervor. Damit einher ging eine Abkehr von den strategischen und organisatorischen Prinzipien der K-Gruppenphase in großen Teilen der Linken und ihre Ersetzung durch die Schaffung eines sich scheinbar konfrontativ von der kleinbürgerlichen Lebensweise (auch der ArbeiterInnen) abgrenzenden Milieus mit alternativen Lebensformen und  militanten Kleingruppen. Auch bei Umweltprotesten geriet der „schwarze Block“ seither (in Ersatz der früheren K-Gruppen) zum ständigen Bestandteil.

Ein anderer Teil der deutschen Linken, der im Ex-K-Gruppen-Milieu und damit auch im weiteren Sinne in Umweltbewegungen und Grünen einflussreich war, lehnte diese Orientierung an der „neuen Proletarität“ vollkommen ab. Im schon oben zitierten Buch von Ebermann/Trampert (1996) wird deutlich, dass nach der Niederlage der Linken im Ringen um Führung der Umweltbewegung und in Opposition gegen die Verbürgerlichung der Grünen nicht die Schuld bei der eigenen Politik gesucht wurde, sondern schnell die Hauptverantwortliche gefunden wurde: die „ArbeiterInnenklasse“, im Speziellen deren deutschen VertreterInnen. So schreiben Ebermann/Trampert in Bezug auf die Orientierung an der „neuen Proletarität“: „Die Vorstellung, dass die Linke sich auf alle Schichten des neuen – also wohl postfordistischen – Proletariats zu beziehen habe, ist erschreckend. Was bliebe von einer antirassistischen Initiative übrig, für die tatsächlich alle (!) ‚prekären‘ Schichten – ohne Rücksicht auf den Stand des Bewusstseins – der vorrangige Bezugspunkt wären? Nichts! Sie müssten sich auch positiv auf jene beziehen, die ihren Projektionswahn in der Verfolgung und Ermordung von Nicht-Deutschen abreagieren. Sie müssten sich positiv auf jene beziehen, die das Kapital auffordern, aus nationalen Erwägungen im eigenen Land zu investieren, statt den Franzosen Arbeitsplätze anzubieten… “ (Ebermann/Trampert 1996, S. 99). Die Bejubelung der neuen Unterschichten, wie sie sich gerade in der Krise der ehemaligen DDR-Länder zeigte, wäre nichts anderes, als Verständnis für „pauperisierte Nazis“ (ebd.) zu entwickeln, die durch die Konfrontation mit dem Kapital schon irgendwann ihren Rassismus überwinden würden. Auch solche Umweltkampagnen wie die zu Brent Spar (siehe oben) wären nichts anderes als nationalistische, bei denen die Umweltsünden nichtdeutscher Konzerne oder Staaten angeprangert werden könnten – in dem Beispiel insbesondere das britische Kapital.

Wir haben an anderer Stelle ausführlich dargelegt (z. B. Lehner 2010), dass der marxistische Bezug auf das Proletariat nicht davon ausgeht, dass ArbeiterInnen „an sich“ fortschrittliches Bewusstsein hätten. Vielmehr ermöglicht die proletarische Klassenposition, dass sich das Proletariat in Kombination von praktischen und theoretischen Kämpfen zum Träger von revolutionärem Klassenbewusstsein aufschwingen kann. Dies aber nicht spontan z. B. auf Grund ökonomischer Kämpfe, sondern nur durch das systematische Eingreifen von KommunistInnen. Insbesondere erfordert dies einen Formierungs- und Organisierungsprozess, in dem von Anfang an gegen rassistische, sexistische, antiökologische etc. Elemente des bürgerlichen Bewusstseins in der Klasse gekämpft werden muss und diese aus der proletarischen Bewegung entfernt werden. In imperialistischen Ländern ergibt sich aus der möglichen Privilegierung bestimmter Schichten der ArbeiterInnenklasse immer die Gefahr einer breiten materiellen Basis für Nationalismus, Chauvinismus und gar Rassismus. Insofern ist in Ländern wie Deutschland der Kampf um revolutionäres Klassenbewusstsein notwendigerweise immer wieder in heftigen Auseinandersetzungen mit „sozialimperialistischen“ Strömungen im Proletariat zu führen.

Da große Teile der  Ex-K-Gruppen, wie von Ebermann/Trampert repräsentiert, dies nicht verstanden oder diesen Kampf erst gar nicht aufnehmen wollten, sind für sie bestimmte Schichten des Proletariats, insbesondere „biodeutsche“ Unterschichten, per se unwiederbringlich rassistisch, sexistisch, antiökologisch etc. mit „natürlichem“ Hang zum Faschismus. Es ist daher kein Wunder, dass sich in der Linken in den Grünen bzw. bei den diversen „Links“abspaltungen wie z. B. der „Ökologischen Linken“ die verschiedenen Versatzstücke der antideutschen, antinationalen „Linken“ als dominierend erwiesen haben. Nicht nur die klassenpolitische Revision der „neuen Linken“ erwies sich für marxistische Intervention in die Umweltbewegung als verheerend. Auch die der Kapitalismuskritik führte dazu, dass eine marxistische Polemik gegen den „Antikapitalismus“, wie er z. B. von Degrowth vertreten wird, unter schweren Bedingungen sich durchsetzen muss. So hat in den 1990er Jahren die Verkürzung der Marx’schen Kapitalanalyse auf die „Wertkritik“ dazu geführt, dass sie gar nicht mehr als realwirtschaftliche Analyse zur Aufdeckung von langfristigen sozialen (und ökologischen) Zuspitzungen herangezogen wurde, sondern vornehmlich (über den Fetischbegriff) als Aufdeckung von ideologischen Verblendungszusammenhängen – so etwa die Ableitung von Antisemitismus aus dem „Arbeitsfetisch“ und der „verkürzten Kapitalismuskritik“. Dabei gelang nicht einmal eine werttheoretische Analyse der Umweltzerstörung, die wesentlich auch im Kapital als Verwertungszusammenhang angelegt ist – im Gegensatz z. B. zu den Ansätzen dazu bei Foster et al. (2011).

Korrespondierend zum „Abschied vom Proletariat“, der Abkehr von dem/r „reaktionären PauperIn“ der „neuen Linken“ konnten sich auch die Mainstreamgrünen von den prekären Schichten des (Sub-)Proletariats fernhalten, um den „gebildeten“ und „progressiven“ Teil der Mittelschichten als ihre Kernklientel zu betrachten. Nicht von ungefähr waren die Grünen an den Hartz-Reformen beteiligt, ohne dass ihnen das bei Wahlen ähnlich geschadet hätte wie der SPD. DIE LINKE konnte bis zu einem gewissen Teil in die Lücke stoßen, die von dieser Art linker Opposition, dem Protest von (sub-)proletarischen Schichten gegen den rot-grünen Verrat geschaffen wurde. Es bleibt sicher richtig, dass es beträchtliche Teile von subproletarischen Schichten, von KleinbürgerInnen, von vom Abstieg bedrohten Mittelschichten etc. gibt, bei denen Rassismus, Antiökologie, „Antigenderwahn“ etc. heute zum weitverbreiteten Bewusstsein gehört. Dies aber gerade auch, weil es den politischen und ökonomischen Organisationen der „Linken“ nicht gelungen ist, einen tatsächlichen, progressiven Ausweg für diese Schichten glaubhaft aufzuzeigen. Erst dadurch wurden sie mit vorherrschenden reaktionären Projektionen und Substituten für die eigentlich notwendigen Widerstände allein gelassen, um Freiwild für rechtspopulistische bis faschistische Mobilisierung, also z. B. zu WählerInnen der AfD zu werden.

Beim Rechtspopulismus gehört die Polemik gegen „Klimawahn“, „Ökofaschismus“, „selbstgerechte grüne Yuppies“ etc. heute zum Standardrepertoire, um gerade solche Schichten anzusprechen. Dies verweist auf eine wesentliche klassenpolitische Wahrheit, die unter anderem in der Analyse von der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017) angesprochen wird. Danach befestigt sich die kapitalistische Gesellschaftsformation auch, indem „sie in den Alltagspraxen und im Alltagsverstand verankert ist und dadurch gleichsam ‚natürlich‘ wird“ (ebd., S. 45). „Imperial“ ist diese Lebensweise, da sie eigentlich nur für eine kleine Elite tatsächlich möglich ist, jedoch bei entsprechender Loyalität/Arbeit für Unternehmen und Staat auch in Abstufungen für Subalterne etwas davon abfällt – was aber vor allem nur in den imperialen Zentren in nennenswertem Ausmaß gelingt. Dem Fetisch von der „harten Arbeit“ (entkleidet jeglichen inhaltlichen Nutzens) entsprechen dann das „wohlverdiente“ Automobil (möglichst ein SUV), das Eigenheim im (zersiedelten) Grünen mit Swimmingpool (und entsprechendem Wasserverbrauch), die Flugreisen zu „Traumzielen“ (Kerosin hin oder her), das fette Rentenkonto für die Finca auf Malle etc. Das „Bedürfnis“, einen Platz möglichst weit oben auf der Leiter dieser Lebensweise zu ergattern, induziert individualistische Konkurrenz, entsolidarisiert. Vor allem: da es für die meisten trotz „harter Arbeit“ nur in Ansätzen erreichbar ist bzw. für viele nach Verschuldung, Arbeitsplatzverlust etc. dann der „Abstieg“ in die Platte bzw. der „Rückfall“ auf öffentliche Verkehrsmittel folgen, so wird die Schuld nicht dem Kapital bzw. den von ihm induzierten unsinnigen Konsumzielen gegeben, sondern es steht eine breite Palette an „natürlichen“ Sündenböcken zur Verfügung. Und gerade was die Kritik an besagten unsinnigen Elementen der imperialen Lebensweise aus ökologischer Sicht betrifft, bieten sich hier die „ÖkoidiotInnen“ als günstiges Ziel an: Sie machen das Autofahren unerschwinglich (Benzinpreis, Ökosteuern … ), verhindern den Straßenbau, verbieten erschwingliche Autos mit Verbrennungskraftmotoren, verteuern Flugreisen oder verbieten sie gar, behindern den Eigenheimbau in bestimmten Gebieten oder stören den Blick ins Grüne mit Windradparks etc. etc.

Die ökologischen Folgen der „imperialen Lebensweise“, der einzelnen hier angedeuteten Ausformungen davon, sind mehr als bekannt. Natürlich muss es darum gehen, diese rücksichtslos individualistischen Ausprägungen (klein-)bürgerlicher, entfremdeter Vorstellungen von „gutem Leben“ durch solidarische und ökologische Alternativen zu ersetzen. Dies kann aber nur in einer Massenbewegung durchgesetzt werden, in der diese für die Mehrheit der ArbeiterInnen greifbar werden und durch die Umwälzung der Verhältnisse in Produktion, Distribution und Konsumtion auch realisierbar erscheinen. Kurz (und dies fehlt natürlich bei Brand/Wissen): Nur ein revolutionäres, proletarisches Klassenbewusstsein kann die entfremdete imperiale Lebensweise überwinden. Nur dieses kann über die Umgestaltung der globalen Produktionsweise auch eine sozial und global solidarische Lebensweise durchsetzen, die Entwicklung, sozialen Ausgleich und Eindämmung ökologischer Folgen menschlicher Produktivkraftentfaltung vereinbar macht. Bei Umwelt- und Klimagerechtigkeit im „Transformationsprozess“ kann es nicht nur darum gehen, dass die Kosten der Transformation (wie z. B. erhöhte Energiekosten) gerade nicht von den sozial oder regional Schwächeren getragen werden, sondern das Gesamtsystem, das diese Kosten erst erzeugt, zu hinterfragen. So z. B. bei der Frage der Spritpreise und dem „Zwang“ zum Auto für PendlerInnen: Letzterer hängt zusammen mit unendlich steigenden Wohnkosten in bestimmten Ballungsgebieten, die zum Auswandern in die Peripherie und dann eben zum Pendeln zwingen, beständigen Verlagerungen von Arbeitsstätten, mangelnder Infrastruktur im ländlichen Raum, z. B. was Anbindung öffentlicher Verkehrsmittel oder IT-Anschüsse betrifft, etc. Die Frage auf Spritpreis und Kfz-Pauschale (oder Energiegeld) zu verkürzen, verliert aus den Augen, dass Umwelt- und Klimagerechtigkeit nicht bloß eine Frage von finanziellem Ausgleich ist, sondern der Umgestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ein Versagen bei der Gestaltung von Umwelt- und Klimagerechtigkeit jedoch, dass eben wie jetzt der „Transformationsprozess“ vor allem zu Lasten von bestimmten Teilen der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums und der ArbeiterInnenklasse geht, führt eben zu den besagten reaktionären, nichtsolidarischen Massenphänomenen, die sich auch gegen ökologische Veränderungen richten. Das Muster davon konnten wir in letzter Zeit in der Querdenkenbewegung sehen: Die „Verteidigung der individuellen Freiheit“ gegen kollektive Maßnahmen zum Schutz besonders betroffener Gruppen in einer Pandemie ist ein deutliches Zeichen, wie der (klein-)bürgerliche Individualismus zu menschenfeindlicher Entsolidarisierung führt: Ich opfere doch nicht „meine Lebensweise“ für das Leben von Alten oder Risikogruppen, die eh bald sterben werden. Genau hier sehen wir das Muster, nach dem auch „KlimaquerdenkerInnen“ mobilisiert werden können: Wegen der „Klimapanikmache“ und den paar Südseeinseln, die vielleicht jetzt untergehen werden, verzichten wir doch nicht auf unsere hart erarbeiteten SUVs oder Fernreisen.

In einer ambivalenteren Form ist auch die „Gelbwestenbewegung“ ein Resultat dieser gesellschaftlichen Verwerfung. In Frankreich wurde insbesondere die Erhöhung der Spritpreise zum Mobilisierungspunkt einer Massenbewegung, die auch rechte bis faschistische Elemente umfasste, aber auch durch Verbindung mit gewerkschaftlichen Kämpfen (z. B. um die Rentenreform) Elemente des gerechtfertigten sozialen Widerstands. Hier wird deutlich, wie sehr solche Einzelfragen um die Kosten ökologischer Transformation mit einem Gesamtkonzept der Umwelt- und Klimagerechtigkeit verbunden werden müssen. Ansonsten drohen solche Kämpfe z. B. um Spritpreiserhöhungen, zum Thema rechter Mobilisierungen zu werden. Die „Gefahr“ von „Gelbwestenbewegungen“ wie in Frankreich wird denn auch von vielen Regierungen in imperialistischen Ländern als Menetekel heraufbeschworen, um entschiedene umwelt- und klimapolitische Maßnahmen zu vermeiden. Da man ja an die Profite der Unternehmen wegen der „Wettbewerbsfähigkeit“ nicht herangeht, Energiepreiserhöhungen oder Einschränkungen von Flugreisen etc. nur in möglichst unmerklich langen Zeiträumen ansetzt, bleiben dann nur „Fördermaßnahmen“ wie z. B. Subventionen für E-Mobilität oder etwas CO2 sparende Produktionstechnologien. Die Kosten tragen dann wieder vor allem die ArbeiterInnen über Massensteuern oder Preiserhöhungen. Andererseits werden so kaum wirkliche Effekte in der Beschränkung der Ausweitung der ökologischen Großkrisen erreicht.

Gerade die „Gelbwestenbewegung“ hat in letzter Zeit besonders die Begeisterung des Linkspopulismus hervorgerufen. Hier sieht er endlich „das Volk“, die nicht von den „gebildeten Schichten“ verdorbenen Unterklassen, die zur Rebellion schreiten. Bei Sahra Wagenknecht sind die Klima-, Rassismus- oder Genderfragen ja vor allem Themen für Mittelstandsjugendliche, die „sonst keine Probleme“ haben. Bei ihr sieht man, wohin die absurde Trennung der sozialen Fragen von der Gesamtheit der kapitalistischen Widersprüche führt, die eben auch die grundlegende ökologische Krise, die Zuspitzung der Nord/Südkonflikte und damit auch der Migrationsbewegungen sowie des Rassismus etc. etc. umfassen. Darüber hinaus verkennt Wagenknecht, dass die gebildeten, privilegierten Schichten, die „sich selbstgerecht den Protest um solche Themen leisten können“ auch großteils Teile der ArbeiterInnenklasse sind, die natürlich genauso für die sozialen Proteste gewonnen werden können und müssen. Die Polemik erinnert vielmehr an das alte stalinistische Muster von den „volksfernen Intellektuellen“ mit seinen deutlichen antisemitischen Anklängen. Sie ist nichts anderes als eine reaktionäre Spaltung der Klasse von den mit dem Kapital in Widerspruch stehenden Bewegungen. Dem müssen wir deutlich entgegentreten und klarmachen, dass Umwelt- und Klimagerechtigkeit nicht nur ökologischen Umbau, sondern auch eine gesellschaftliche Veränderung bedeutet, die die Überwindung der ökologische Krise zusammen mit einer Umverteilung von oben nach unten erkämpft.

11. Die dritte Periode der Umweltbewegung – Globalisierung und Klimakrise

Görg/Bedall (2013, S. 81) charakterisieren die globale „Klimabewegung“ als die erste Bewegung, die im Rahmen einer sich formierenden „Weltzivilgesellschaft“ einen hegemonialen Kampf führe – wobei sie Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft als „erweiterter Staat“ verwenden. Auch wenn die Andeutung eines „Weltstaates“, der sich in der Klimapolitik herausbilden würde, völlig daneben greift, so deutet sich hier im Falschen doch einiges an richtigen Elementen in Bezug auf das Neue der Klimabewegung an:

11.1 Globale Umweltprobleme und überstaatliche Reaktionen darauf

Erstens liegt natürlich das Grundproblem bürgerlicher Politik mit solchen imminenten globalen Problemen wie den erwähnten neun Umweltkrisen (mit der Klimakrise an der Spitze) darin, dass der Kapitalismus unfähig ist, die Ebene des Nationalstaats in der Weltmarktkonkurrenz zu überwinden. Deswegen prägt gerade die Epoche des kapitalistischen Gesellschaftssystems, die im Zeitalter der Konkurrenz der Monopole auf dem Weltmarkt ins Leben trat, den Imperialismus, eine Aufteilung der Welt unter Großmächte und -konzerne, die insbesondere den Rest der Welt in ein ökonomisch-politisches Abhängigkeitsverhältnis zu diesem System der „großen Wirtschafts- und Militärmächte“ halten. Die Institutionen, die dieses System auf globaler Ebene schafft, haben nichts mit einem tatsächlichen „Weltstaat“ zu tun, auch wenn sie in Form der UNO Elemente davon vorspielen. Im Grunde sind G7, G8, G20, die UNO-Teilorganisationen, IWF, Weltbank, WTO etc. Mechanismen des Ausgleichs zwischen den imperialistischen Ländern, in denen die Rolle des Rests der Welt immer untergeordnet und abhängig von der Unterstützung bestimmter Teile der „Großen“ ist. Dies ist natürlich auch in der Umweltpolitik und insbesondere in der Weltklimafrage der Fall.

Ganz allgemein: Wir haben zu Beginn dieses Artikels gesehen, wie Umweltpolitik im Kapitalismus ein integraler Bestandteil des bürgerlichen Staates ist. D. h. der Externalisierungstendenz des Kapitals muss der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Von den Abwasserproblemen, der Müllentsorgung bis zu den Sicherheits- und Umweltrisiken von Produktionsanlagen ist die Umweltpolitik ein Feld von (Klassen-)Kämpfen, in denen der bürgerliche Staat auf seinen verschiedenen Ebenen (Kommunen, Regionen, Gesamtstaat, Justiz, Verwaltungen, Wissenschaft etc.) und die Zivilgesellschaft (Initiativen, Vereine, Parteien, Medien etc.) als „erweiterter Staat“ die Austragungsorte liefern (neben den Auseinandersetzungen in den Betrieben selbst, z. B. um Sicherheitsstandards). Mit zunehmender Dimension der Umweltprobleme wuchs auch die Masse an staatlichen Regulierungen, wissenschaftlichen und technischen Informationen, administrativen und juristischen Prozessen, Öffentlichkeitsstrukturen etc. rund um Umweltfragen. Dies alles sieht aber sofort anders aus, wenn wir die internationale Ebene betrachten: Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, so etwas wie einen Weltstaat zu errichten, obwohl das Kapital gleichzeitig von Beginn an über nationale Grenzen zur Etablierung des Weltmarktes drängt. Er wird letztlich beherrscht von der globalen Kapitalakkumulation unter Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz, ohne auf dieser Ebene den „ideellen Gesamtkapitalisten“ etablieren zu können. Alle umweltpolitischen Regularien und Prozesse der Nationalstaaten (wie auch im sozialen Bereich) werden daher notwendigerweise von der Weltmarktkonkurrenz des Kapitals immer wieder untergraben und zunichtegemacht. Das einzige globale System, das der Kapitalismus gegenwärtig etabliert hat, ist das oben skizzierte imperialistische, mit der Zementierung der neokolonialen Ungleichheiten und der Dominanz bestimmter „Großmächte“. Von daher mündet die Externalisierungstendenz des Kapitals notwendigerweise im System des Umweltimperialismus (wie wir ihn im Hauptartikel dieses RM charakterisiert haben). Dies beinhaltet durchaus Fortentwicklung von Umweltpolitik (wie beschrieben) in den imperialistischen Zentren – dafür umso prekärer werdende Umweltbedingungen in der Peripherie. Insbesondere wird dieses System jedoch kritisch, wenn es um globale Probleme geht, um Umweltkrisen, die die Umweltbedingungen auf dem ganzen Planeten betreffen. Dies betrifft insbesondere die schon genannten neun Krisen, die für die Lebensbedingungen auf diesem Planeten bedrohliche Ausmaße angenommen haben. Hier reichen diese Externalisierungs- und Regulierungsmethoden nicht mehr aus. Andererseits fehlten anfänglich jegliche internationalen quasistaatlichen Strukturen bzw. auch so etwas wie eine globale „Zivilgesellschaft“.

Angesichts der Ausmaße der globalen Umweltprobleme, wie sie sich spätestens in den 1970er Jahren (unter anderem bewusst gemacht durch die Berichte des Club of Rome) abgezeichnet und die sich mit dem neuerlichen kapitalistischen Aufschwung in der Globalisierungsperiode des Kapitalismus nach der Krise der 1980er Jahre nochmals enorm verschärft haben, war es auch für die politische Verantwortlichen in den imperialistischen Zentren nicht mehr zu leugnen, dass dringendster internationaler Handlungsbedarf besteht. Hatte man noch in den 1980er Jahren eine „gefährliche Tendenz“ der CO2-Konzentration in der Atmosphäre von 350 ppm gesehen (der vorindustrielle Wert lag bei 280 ppm), der ernste Klimafolgen erwarten ließ, haben wir bekanntlich 2018 schon die 400 ppm überschritten. Die Gefahr eines ungebremsten Anstiegs der Emission von Treibhausgasen, die sich für lange Zeit als klimarelevanter Faktor in der Atmosphäre ansammeln würden, bis wieder eine gewisse Trendumkehr erreichbar ist, wurde spätestens Anfang der 1990er Jahre in Wissenschaft und von ihr beeinflusster Politikberatung immer dringlicher in der „Weltgemeinschaft“ publik gemacht. Tatsächlich berief dann die UNO im Jahr 1992 eine „Weltkonferenz“ zu „Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro ein, auf der unter anderem die Klimarahmen- und Biodiversitätskonventionen sowie Prinzipien zum Waldschutz verabschiedet wurden. Die 197 VertragspartnerInnen der „Rio-Erklärung“ verpflichteten sich dabei zur Einleitung eines Prozesses, der zu verbindlichen Maßnahmen des Klimaschutzes führen und dabei die unterschiedlichen nationalen/regionalen Beiträge „gerecht“ verteilen sollte. Zu diesem Zweck wurden jährliche Konferenzen, die „Conferences of the Parties“ (COP), auch „Klimagipfel“ genannt, die an wechselnden Orten stattfinden sollten, geplant. Diese starteten mit der COP1 1995 in Berlin. Schon 1997 auf der COP3 in Kyoto wurde auch ein 2012 auslaufendes erstes Vertragswerk mit „verbindlichen“ Zielen zur Treibhausgasreduktion beschlossen, dem sich aber nur ein Teil der Rio-VertragspartnerInnen anschloss (insbesondere nicht die USA und Kanada). Die COPs wurden deshalb ergänzt um Treffen der Kyoto-VertragspartnerInnen, die immer verzweifelter um ein Kyoto-Nachfolgeabkommen rangen, dem auch die USA beitreten könne. Erst 2015, auf der COP21 wurde nach langem Ringen das berühmt-berüchtigte „Pariser Abkommen“ vereinbart, mit dem „2 °C“-Ziel und der Vorgabe, die globale CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen. Angesichts der bedrohlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte und insbesondere der Tatsache, dass die USA und China als Haupttreiber der Globalisierungsperiode in den 1990er und 2000er Jahren (außerhalb jeglicher Beschränkungen) die globale Treibhausgasemission enorm gesteigert haben (z. B. gab es in den USA einen Boom neuer Erdölförderung, Erschließung von Gasquellen, Fracking etc., was sie gänzlich von Energieimporten unabhängig gemacht hat), ist der Gesamtprozess seit Rio lächerlich langsam und ineffektiv gewesen. 2 Jahrzehnte wurde mit nutzloser Klimadiplomatie und viel heißer Konferenzluft vertan. 2 Jahrzehnte, die für die herannahende Katastrophe sehr viel verpasste Zeit bedeuten.

Aber immerhin gibt es mit den „Paris-Zielen“ jetzt die Verpflichtung der Vertragsparteien, konkrete Maßnahmen für die nationale Umsetzung dieser Ziele mit Zeitplänen versehen vorzulegen. Niemand kann mehr sagen, eine Reduktion bei uns um X % Autoverkehr hat doch für das Klima einen Effekt von 0,Y % globaler Treibhausgasemissionen – da können wir es doch auch gleich bleiben lassen. Jeder Prozentsatz ist jetzt eine „Planvorgabe“ innerhalb eines weltweiten Reduktionsprozesses. Insbesondere sind solche quantifizierbaren und terminlichen Ziele jetzt mobilisierungsfähig und können nicht zuletzt (wie einst Grenzwert- und Sicherheitsauflagen bei AKWs) vor Gericht verwendet werden (wie jüngst beim Urteil gegen den Shellkonzern zu sehen).

11.2 Die Internationalisierung als Merkmal der dritten Periode der Umweltbewegung

Zweitens hat sich mit der Institutionalisierung des Rio-Prozesses und den jährlichen internationalen Klimagipfeln auch einiges am Charakter der AkteurInnen in der Umweltbewegung geändert. In der zweiten Periode der Umweltbewegung herrschten immer noch nationale Mobilisierungen vor und die meisten Expertisen, Öffentlichkeitsarbeit, juristisch/parlamentarische Intervention etc. erwuchsen organisch aus den Bewegungen selbst. Die beschriebene Etablierung der Grünen und der mit ihnen verbundenen Strukturen in der Umweltbewegung haben hier schon einiges an abgehobener „Professionalisierung“ hervorgebracht. Auch die beschriebene Episode rund um Brent Spar zeigt, wie bestimmte Umweltorganisationen immer mehr auf „medienwirksame“ PR-Agenturen, mit großen professionellen Apparaten, wissenschaftlichen ExpertInnen und „Aktionsprofis“ umgetrimmt wurden, mitsamt entsprechenden „Finanzierungsmodellen“. Mit dem Rio-Prozess und der von der UNO in diesem Rahmen verlangten „Akkreditierung“  von AktivistInnen zur Teilnahme wurde auf internationaler Ebene dieser schon in Gang befindliche Prozess beschleunigt, indem Umweltorganisationen nunmehr zu „Non Governmental Organisations“ (NGOs) mutierten. Zu Beginn des Rio-Prozess schlossen sich mehrere Umwelt-NGOs zum sogenannten CAN (Climate Action Network) zusammen, das zunächst so etwas wie das „Sprachrohr“ der Umweltbewegung bei den Klimakonferenzen sein sollte. Das CAN bot insbesondere eine Gelegenheit für viele Halbkolonien, die sowieso Schwierigkeiten hatten, jenseits ihrer abhängigen Regierungen den Interessen der dort immer mehr von Umweltkatastrophen betroffenen Menschen Gehör zu verschaffen, selbst NGOs zu bilden. Insbesondere in entwickelteren Halbkolonien wie Brasilien oder Indien wuchs damit die Zahl der Netzwerke und AktivistInnen mit umweltpolitischen Zielsetzungen sehr stark an.

Dies bedeutete insbesondere, dass Umweltbewegungen, die in den meisten Halbkolonien bisher eher eine marginale Rolle gespielt hatten, zu relevanten politischen Akteurinnen wurden. Insbesondere kleine und Subsistenzbauern/-bäuerinnen, Indigene, Betroffene von den sanitärhygienischen Verhältnissen in suburbanen Regionen etc. wurden zu sozialen TrägerInnen solcher Bewegungen, die dann über die neuen NGOs weltweit Aufmerksamkeit erzielten. Erstmals wurden die sozialen und ökologischen Auswirkungen des „Neoextraktivismus“ (der neuen Welle von Konzentration der Rohstoffgewinnung in bestimmten Halbkolonien), des enormen Ausbaus der Agroindustrien (und der damit einhergehenden Verdrängungsprozesse), der Ausweitung der Energiegewinnung (Staudammprojekte, Biospritgewinnung etc.), der neoliberalen Privatisierungspolitik mit Folgen für die Grundversorgung der Bevölkerung (z. B. Saatgut, Wasser, etc.) zum Thema von „Umweltgerechtigkeit“ auch im Rahmen des „Rio-Prozesses“. Andere „entwicklungspolitische“ und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen, denen sich Nicht-Umwelt-NGOs gewidmet hatten, z. B. in der Textilindustrie, wurden mit diesen Themen verknüpft.

Seit der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls passten sich jedoch die umweltpolitischen NGOs wie Greenpeace oder WWF vollständig den kapitalkonformen „Lösungs“logiken der COP-Mechanismen an. Damals waren dies insbesondere der Zertifikatehandel und die „Clean Development Devices“, später all das, was wir als „green washing“ und „green economy“ charakterisiert haben. Die NGOs (im CAN) als offizielle „Sprachrohre“ der Klimabewegung entfremdeten sich so mehr und mehr von den KlimaaktivistInnen, die bei den Klimagipfeln auf die Straße gingen, speziell von den „Klimagerechtigkeits“-Ansprüchen der Gruppierungen aus dem globalen Süden. In Konsequenz kam es gegen 2006 zu einer Spaltung des CAN: Diejenigen Teile der Klimabewegung und der NGOs, die den neoliberalen Grundkonsens der COP-Protokolle und -Vereinbarungen nicht akzeptierten, formierten unter dem Slogan „system change – not climate change“ ein neues Netzwerk „Climate Justice Now“ (CJN). Allerdings wurde dieses neben CAN auch auf den folgenden COPs als zivilgesellschaftlicher Akteur akkreditiert. Um die Frage des „Wirkens von innen“ (auf den COPs) spaltete sich bald auch die CJN . Der „außerparlamentarische“ Flügel organisierte sich international im Netzwerk „Never Trust a COP“ (NTAC). In CJN ist eine der größten internationalen Umweltorganisationen, die „Friends of the Earth International“ (FoEI), mit Mitgliedsorganisationen wie BUND oder Global 2000 vertreten, die in den letzten Jahren immer kritischere Positionen zu „greenwashing“, „Marktmechanismen“ und den tatsächlichen ungleichen Lasten bei den Klimafolgen einnahm. FoEI wurde zu einem wichtigen Bestandteil internationaler Klimaproteste, blieb aber zugleich immer Element des Klimakonferenzirkusses. Neben Umweltorganisation im eigentlichen Sinn waren im CJN aber auch „entwicklungspolitische“ NGOs wie Oxfam oder Organisationen mit Schwerpunkten im globalen Süden wie „La Via Campesina“ vertreten.

11.3 Die „Klimagerechtigkeit“sbewegung

11.3.1 Richtung Kopenhagen

Drittens: Dieser Differenzierungsprozess hin zu einem „kapitalismuskritischen“ bzw. Außer-COP-Teil der Bewegung ist auch Resultat eines anderen Phänomens neuer sozialer Bewegungen in der Globalisierungsperiode: des der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Seit Anfang der 1990er Jahre war der Weltkapitalismus in eine neue Aufschwungphase getreten, charakterisiert durch die Schaffung umfangreicher globaler „Wertschöpfungsketten“, dem Niederreißen von Schranken für Kapitalexport und vieler Operationen der „Finanzmärkte“, einem enormen Anstieg des Welthandels, einer intensiven Ausbreitung der weltweit nutzbaren digitalen Infrastrukturen etc. Die Kehrseite war eine auch in Folge des Untergangs der Sowjetunion enorme Steigerung von sozialer und gewerkschaftlicher Entrechtung, Prekarisierung, aber eben auch der fortschreitenden Umweltzerstörung. In Teilen des globalen Südens, wie z. B. in Lateinamerika, regte sich gegen diese Auswirkungen Widerstand, der sich auch in der Etablierung von neuen „Linksregierungen“ äußerte. Gleichzeitig kam es zu einem Wiederanstieg sozialer Proteste in den imperialistischen Zentren, die sich z. B. 1999 mit den ersten Gipfelprotesten in Seattle zu einem weltweiten Phänomen verallgemeinerten. Die von Lateinamerika ausgehenden „Gegengipfel“, die „Weltsozialforen“, verbanden sich mit den Protestbewegungen in Nordamerika und Europa, um in der ersten Hälfte der 2000er Jahre zu einer großen, weltweiten kapitalismuskritischen Bewegung zu geraten. Natürlich wurden auch die Agenden der linken Teile der Klimabewegung von der Sozialforenbewegung aufgegriffen, mitsamt den „Klimagerechtigkeit“sforderungen. Umgekehrt wurden die Mobilisierungs- und Protestformen der Altermondialbewegung (Alter Monde: andere Welt) von CJN & Co aufgegriffen. So waren die „Klimacamps“, die etwa um 2006 in Britannien erstmal stattfanden, sicherlich von denen der Gipfelproteste inspiriert. Letztlich benutzten die Linksregierungen in Lateinamerika ihre Netzwerke in beiden Bewegungen auch, um ihr Gewicht auf den Klimakonferenzen zu stärken bzw. auch selbst Gegengipfel zu organisieren. Der wichtigste davon war sicherlich die von Evo Morales im bolivianischen Cochabamba einberufene „World People’s Conference on Climate Change and the Rights of Mother Earth“ (Weltbevölkerungskonferenz zum Klimawandel und zu den Rechten von Mutter Erde) im Jahr 2010 als Antwort auf das Scheitern der Kopenhagen-Konferenz (COP15) ein Jahr zuvor. Über die Errichtung eines „Climate Justice“-Tribunals und die Forderung nach einem Weltvolksreferendum zu Klimamaßnahmen hinaus bietet das Cochabamba-Protokoll allerdings auch nicht viel Konkretes.

Mit dem Entstehen des kapitalismuskritischen Flügels der Klimaproteste, ihrer Organisierung in Netzwerken um CJN und der Etablierung von „Klimacamps“ vor allem in Europa wurde zwischen 2006 und der Organisierung der Proteste rund um COP15 (Kopenhagen) eine erste Phase einer wirklich massenhaften „Klimabewegung“ eingeleitet. Mit den COP15-Protesten ist diese als wirkliche neue soziale und ökologische Bewegung hervorgetreten, die sich von der bisherigen Dominanz grüner Parteien und bürokratisierter NGOs als eigenständige neue Umweltbewegung gelöst hat. Bei der zentralen Demonstration in Kopenhagen 2009 drückte sich dies in der Teilnahme von mehr als 100.000 Protestierenden aus. Aber auch bei den folgenden Aktionen und Gegenveranstaltungen waren tausende Umweltbewegte anwesend und erwarteten, dass der Druck dieser neuen Bewegung auf die COP15 etwas bewirken würde. Bekanntlich war die offizielle Klimakonferenz ein Fiasko. Eine Fortentwicklung des Kyoto-Protokolls, geschweige denn eine Konkretisierung samt Einbeziehung von USA und China schien damals in weite Ferne gerückt.

Insbesondere in Deutschland war im Vorlauf zu COP15 die Auseinandersetzung um das Kohlkraftwerk Moorburg wesentlich. 2008 war in Hamburg die erste schwarz-grüne Landesregierung zustande gekommen, in der die Grünen auch die Genehmigung dieses Kraftwerks im Zuge der Regierungsbeteiligung mittrugen. Ihr offener Bruch mit ihren klimapolitischen Versprechen befeuerte die Mobilisierung zum ersten deutschen Klimacamp 2008 eben in Moorburg. Im Vorfeld wurde eine breite linke Mobilisierung erreicht, die neben DIE LINKE, attac und Avanti auch die Grüne Jugend umfasste, die damit in deutlichen Konflikt zu ihrer Mutterpartei gerieten. Insbesondere die versuchte Erstürmung des Kraftwerkes machte die Bewegung bekannt, unterstützte die Mobilisierung für Kopenhagen – und kann als Startschuss für die regelmäßige Kombination von Klimacamps und Aktionen rund um Einrichtungen von Braunkohleabbau bzw. -verstromung in der deutschen Klimabewegung gesehen werden. Dazu kam in Deutschland, dass dieses Aufkommen der Klimabewegungen mit der letzten Phase der Mobilisierungen gegen Castortransporte und den „Atomkompromiss“ zusammenfiel. Die „Castor Schottern“-Aktionsform wurde später für Initiativen, wie „Ende Gelände“ (nach 2015) zum Vorbild, das AktivistInnen zu „Grenzüberschreitungen“ führte, die dieses Unrechtssystem (das solche Umweltverbrechen genehmigt) als „illegal“ bezeichnet.

11.3.2 Die US-Klimaschutzbewegung

Mit dem Scheitern des Kopenhagen-Kongresses und den daraus folgenden geringen Möglichkeiten für weitere größere Massenmobilisierungen ebbte die erste große Mobilisierungswelle der Klimabewegung seit 2010 in Europa ab. Allerdings blieben die Aktionsformen der Klimacamps und der Proteste gegen die Braunkohleverstromung lebendig – wenn auch beschränkt auf einen kleineren AktivistInnenstamm. In Europa standen auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und insbesondere der soziale Kämpfe in Südeuropa zunächst weit mehr im politischen Fokus als die Klimakonferenzen, von denen sowieso kaum jemand viel erwartete.

Umso mehr startete dafür in den USA die Klimabewegung durch. Mit dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 wuchs der Druck der Klimabewegung auf eine Wende in der US-Klimapolitik. Tatsächlich versandeten aber Obamas große Ankündigungen insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem US-Kongress. Dies führte zu großen Protestwellen, die durch FoEI, aber vor allem auch die kometenhaft aufsteigende neue Umweltorganisation 350.org organisiert wurden. Letztere, durch den charismatischen Bill McKibben im Vorlauf der Mobilisierungswelle gegründet, erklärte, dass nur die Reduktion der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf 350 ppm das Erreichen des 1,5 °C-Zieles gewährleisten würde (auch das Paris-Ziel von 2 Grad wird wahrscheinlich über das Triggern von Klimakippunkten schwerwiegende negative Dominoeffekte auslösen). Zum Kulminationspunkt der US-Proteste wurde ab 2012 der Kampf gegen das Pipelineprojekt Keystone XL. Mit dieser Pipeline soll Rohöl, das aus Ölsanden auf kanadischen Ölfeldern gewonnen wird, zu Raffinerien im Süden der USA transportiert werden. Die Proteste richteten sich nicht nur gegen die unmittelbaren Umweltschäden durch den Bau und die Risiken für wichtige Wasserreservoirs (wodurch nicht nur die unmittelbar betroffenen indigenen Völker in Mitleidenschaft gezogen werden). Es richtete sich auch gegen die globalen Klimafolgen der besonders Treibhausgase emittierenden Gewinnung von Öl aus Teersanden. Eine Umweltprüfung durch die Regierung selbst kam zu dem Ergebnis, dass die CO2-Belastung dadurch um 17 % über der „normalen“ Erdölgewinnung lag. Der Kongress schlug solche Bedenken in den Wind und wollte die Obama-Administration zur Genehmigung des Projektes zwingen. Die massiven Proteste, mit dem Höhepunkt von 400.000 beim People’s Climate March im September 2014 in New York City (sicherlich der Höhepunkt der zweiten Phase der Klimabewegung), brachten die Obama-Administration jedoch in Zugzwang. Da es sich um ein gemeinsames Projekt mit Kanada handelte und damit als „außenpolitisches Projekt“ dem Präsidenten ein Entscheidungsrecht einräumt, stoppte Obama Anfang 2015 die weiteren Arbeiten an Keystone XL. Von der US-Umweltbewegung wurde dies als großer Sieg gefeiert, der sicherlich auch weltweit die Kämpfe um die Stilllegung oder Nichtgenehmigung von Projekten der fossilen Energiewirtschaft ermutigte. Dies wurde ergänzt dadurch, dass in Folge die US-Regierung auch zur Unterzeichnung des Pariser Abkommens bereit war – und sich damit erstmals zu weltweit abgestimmten Klimazielen bekannte.

11.3.3 Fridays for Future

Bekanntlich war es mit dieser Ökoherrlichkeit in den USA Ende 2016 wieder vorbei – zu den ersten Amtshandlungen von Donald Trump zählten bekanntlich der Austritt aus dem Pariser Abkommen und die sofortige Genehmigung für Keystone XL und weitere Pipelineprojekte. Zwar löste dies erwartungsgemäß neue Proteste aus. Doch fürs Erste schien die Sisyphusarbeit der Klimabewegung wieder von einem neuen Tiefpunkt starten zu müssen. 2018 waren die Klimaproteste wieder kleiner und zumeist auf den üblichen Kreis von Aktiven beschränkt. Agesichts der bedrohlichen Zuspitzung der Krisenanzeichen (z. B. heftige Wetterphänomene, Hitzewellen, Überschwemmungen etc.) machte sich eine gewisse Resignation breit. Gegen Ende dieses Sommers jedoch machte sich eine 15-jährige Schülerin in Stockholm auf den Weg, um vor dem schwedischen Reichstag mit einem handgemalten Plakat zum Schulstreik für das Klima aufzurufen. Wenige Zeit später entstand eine der wohl größten internationalen Umweltprotestbewegungen, die wir bisher gesehen haben. Wellen von Schulstreiks im Rahmen von Fridays for Future (FFF) rollten über Westeuropa und andere Teile der Welt, um am 15.3.2019 in einem globalen Protesttag mit etwa anderthalb Millionen SchülerInnen zu münden. Greta Thunberg und FFF bilden sicherlich ein Beispiel für die Wirkung des Prinzips, dass die richtige Person an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit in Kürze Potentiale in Bewegung setzen kann, die sonst sicher sehr viel länger brachgelegen hätten. Die Unzufriedenheit mit der realen Klimapolitik, die Rückschläge durch die US-Politik und die immer bedrohlicher werdende Situation haben 2018 gerade unter vielen SchülerInnen, die sich zu Recht intensiv mit ihrer Zukunft in der Klimakatastrophe beschäftigt hatten, in Greta Thunberg die ideale Sprecherin gefunden. Sie hat Wahrheiten deutlich ausgesprochen, die viele vor lauter „greenwashing“ und Nachhaltigkeitsgefasel schon gar nicht mehr wahrnehmen konnten. Dies gilt auch für ihre gerade kürzlich getroffene Feststellung: „Im Jahr 2030 werden wir eine unumkehrbare Kettenreaktion ausgelöst haben, die höchstwahrscheinlich zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird. Es sei denn, es ist uns bis dahin gelungen, permanente und bisher nie dagewesene Veränderungen in allen Gesellschaftsbereichen durchzusetzen, welche unsere CO2-Emissionen mindestens halbieren“ (350.org 2019, S. 5). Thunberg bleibt aber im Ungefähren, was die notwendige gesellschaftspolitische Konsequenz davon sein muss. Auch wenn sie natürlich die wirtschaftlichen Interessen und Prozesse anspricht, die bei diesen „nie dagewesenen Veränderungen in allen Gesellschaftsbereichen“ überwunden werden müssen, so unklar bleibt sie, was die Frage der Eigentumsverhältnisse und der notwendigen neuen Wirtschaftsweise betrifft.

Insgesamt stellt sich die Frage des Programms der Klimabewegung in allen ihren bisherigen 3 Phasen. Insbesondere die zweite und dritte setzten die Differenzierung der ersten Phase (CAN/CJN) nicht auf dem gleichen Level fort. Die Frage einer möglichen „Green Economy“ als „ökologische Modernisierung“ des Kapitalismus wurde wieder „massenfähig“ und über den „Green New Deal“ auch „politikfähig“. Organisationen wie 350.org stehen dem zwar kritisch gegenüber, beteiligen sich aber zusammen mit VertreterInnen dieser Orientierung an politischen Projekten. Besonders deutlich wird das Problem an Organisationen wie „Extinction Rebellion“ (XR), der anderen größeren Mobilisierungsorganisation der dritte Welle der Klimabewegung neben FFF. XR verkündet optimistisch, dass die Lösungskonzepte der Klimakrise längst vorlägen und nur die „Blockaden“ für die Umsetzung durchbrochen werden müssten. Der XR-Gründer Roger Hallam bezieht sich vornehmlich auf politikwissenschaftliche Studien zum Sturz bestimmter Diktaturen wie z. B. in Serbien unter Milosevic, um daraus den „wissenschaftlichen“ Schluss zu ziehen, dass mit spektakulären Aktionen des gewaltlosen zivilen Widerstands (medienwirksame Blockaden von Mobilitätsschwerpunkte an bestimmten X-Tagen, zumeist über mehrere Tage) genug Druck ausgeübt werden könne, damit dann in einem nächsten Schritt ein per Losverfahren „gewählter“ Klimarat legitimiert werden könnte, der die Maßnahmen dann einfach umsetzt.

Während XR mit anderen Organisation der Klimabewegung die Schilderung der Dramatik der Klimakrise teilt (wie schon das „Extinction“ im Namen zeigt), ist Roger Hallam nicht bereit, anders als z. B. Greta Thunberg, zu erklären, dass der Stopp der globalen Umweltkrise nur durch eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung möglich ist, die die bestehende Wirtschaftsweise radikal in Frage zu stellen hat, und es folglich Mächte gibt, die dieser Veränderung entgegenstehen, die sich nicht durch ein paar Straßenblockaden ergeben werden. Die Formen der Mobilisierung (XR-AktivistInnen nehmen sich tagelang frei, speziell um den Berufsverkehr zum Stillstand zu bringen – meist in erstaunlich gutem Einvernehmen mit der Polizei) sind schließlich auch äußerst auf die Mittelschichten zugeschnitten. Bezeichnend ist die geringe Anzahl an nicht-weißen AktivistInnen im XR-Kernland Britannien. Bei ihrem großen „Herbstaufstand gegen den Klimanotstand“ 2019 in London gab es eine Aktion in einer U-Bahnstation, bei der einige XR-AktivistInnen einen Pendlerzug mit ihrem Banner „Business as Usual = Death“ blockierten. Auf dem Dach der U-Bahn standen einige weiße Jugendliche in Anzug und Krawatte. Unten staute sich eine Masse empörter schwarzer ArbeiterInnen, die die U-Bahn für ihren Weg zur Arbeit brauchten – es wurde handgreiflich. Um die Welt ging dann das Bild, wie ein weißer Krawattenträger mit seinem Schuh auf einen schwarzen Arbeiter tritt. Nicht gerade das Muster für einen Protest, der auch die „Klimagerechtigkeit“ zum Inhalt haben soll. Später erklärte XR die Aktion sogar für ein Muster des „gewaltlosen Widerstands“, während es sich immer tausendmal entschuldigt, sollte es je zu einer heftigen Konfrontation mit der Polizei kommen. Insgesamt ist XR eine liberale Sekte, die die gesellschaftliche Dimension des Kampfes gegen die Umweltkatastrophe zugunsten ihres technizistischen Bewegungs- und Lösungskonzepts beiseitelässt. Da XR im Allgemeinen auch Zusammenarbeit mit anderen Gruppen (insbesondere aus der Linken) ablehnt, ist es insgesamt ein Hindernis für die Entwicklung der Klimabewegung, vor dem wir AktivistInnen, die sich zu der Frage organisieren wollen, nur warnen können.

Organisationen wie FFF und 350.org sind inhaltlich sicher breiter aufgestellt als XR. Auch wenn FFF stark von Kräften dominiert wird, die in Richtung „Green New Deal“ gehen, gibt es auch eine merkliche Anhängerschaft für Degrowth und jedenfalls eine starke Betonung auf „Klimagerechtigkeit“. Letzteres ermöglicht dann auch Überschneidungen mit dem Klimacamp/System-Change-Flügel der Bewegung, also z. B. „Ende Gelände“. Eine Differenzierung zwischen dem Reform- und einem antikapitalistischen Flügel blieb bei FFF bisher aus. Insbesondere hat die Corona-Zwangspause dazu geführt, dass es sein Lebenselement, die Massenmobilisierung von SchülerInnen, zeitweise eingebüßt hat. Die bekannteren AktivistInnen (wie Neubauer) sind in dieser Zeit stärker in die grünen Strukturen der „ökologischen Modernisierung“ integriert worden. Es kann aber sein, dass mit dem Heraustreten aus dem Corona-„Winterschlaf“ es auch zu einer starken Wiederaufnahme des Bewegungsmoments von FFF kommt. Immerhin haben die Pandemiemaßnahmen ja gezeigt, dass „Notsituationen“ sehr wohl zu staatlichen Einschränkungen in Wirtschaft und Alltagsleben führen können – und auch zu viel dramatischeren Schulschließungen, als das ein „Klimafreitag“ je bewirkt hatte.

Vom Programmatischen her bleibt die Frage der „Climate Justice“: Was wird im „linken“ Flügel der Bewegung hier konkret darunter verstanden? Tadzio Müller, einer der Gründer von „Ende Gelände“ und langjähriger Klima- (und LGBTQ)-Aktivist aus Berlin, hat die Forderungen bündig folgendermaßen zusammengefasst: „fossile Ressourcen im Boden zu lassen; ökologische Schulden des Nordens an den Süden anzuerkennen und Reparationen zu leisten; der Kampf für Energie-, Ressourcen- und Ernährungssouveränität; und die Reduktion von Überkonsumtion und Überproduktion, vor allem im globalen Norden“ (Kaufmann/Müller, S. 194).

In dem Artikel teilt Müller übrigens einige der Kritikpunkte, die unten noch folgen. Er ergänzt daher den Begriff der „Klimagerechtigkeit“ mit dem Schlagwort „solidarische Transformation“ (nicht zufällig für eine Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung). Dazu noch später. Zurecht weist er darauf hin, dass „Klimagerechtigkeit“ inzwischen ein ebenso missbrauchtes Schlagwort geworden ist wie „Nachhaltigkeit“ – nur trifft dies leider auch auf „Transformation“ zu.

12. Zu den Standardforderungen der „Klimagerechtigkeit“

Stopp aller Erschließungsprojekte für fossile Ressourcen gehört sicherlich zu den Grundforderungen aller Klimaproteste. Für Halbkolonien geht es insbesondere darum, dass ihnen auch in der heutigen Weltarbeitsteilung zumeist die Hauptlast der Rohstoffgewinnung zukommt, auch was fossile Ressourcen betrifft. Deswegen wird diese Forderung auch erweitert zur Entwicklung eines „postextraktivistischen globalen Südens“.  TheoretikerInnen wie Arturo Escobar (2018) verbinden dies mit einer allgemeinen Theorie des „post development“, das im Sinne der Degrowth-Bewegung jegliche „nachholende Entwicklung“ im globalen Süden ablehnt und damit auch eine Abkopplung von den Märkten propagiert, die den Neoextraktivismus dort erzwingen. Dies sei möglich durch eine Beschränkung auf das „Buen Vivir“, das karbonneutrale, einfache gute Leben von Subsistenzbauern und -bäuerinnen und Indigenen als Alternativmodell der ökologischen Selbstversorgungswirtschaft für die postkoloniale Welt zur Zielsetzung der „Entwicklung“, d. h. Nachäffung des verfehlten Weges des industrialisierten globalen Nordens.

Tatsache ist, dass sich in der Globalisierungsperiode in den Halbkolonien die Wirtschaftszweige, die mit Ressourcenerschließung und dem globalen Agrobusiness zu tun haben, extrem ausdehnten, statt an Bedeutung zu verlieren. Bergbau-, Energie-, Chemie-, Pharma-, Agrokonzerne haben dabei regionale Ableger hochkommen lassen, die selbst zu wichtigen globalen Playern von Extraktivismus und Zerschlagung von Versorgungssouveränität geworden sind – samt Aufstieg von „Mittelschichten“, die sich im Konsumverhalten denen in den Metropolen annähern. In dieser Periode hat sich gerade die Energienachfrage in Öläquivalenttonnen gemessen mehr als verdoppelt, wobei die fossilen Energieträger heute global 87 % dazu beitragen. Um 50 % ist die Nachfrage nach nichtenergetischen Rohstoffen (z. B. Metallen) gestiegen. Im Agrarbereich ist nicht nur die Konzentration der Kapitale für Anbau, Tierhaltung und Verarbeitung gestiegen, auch der Flächen- und Ersatzstoffbedarf hat Rekordwerte erreicht. Dieses Wachstum hat mit Ausnahmen (z. B. was den „Fossilboom“ in den USA betrifft) vor allem im „globalen Süden“ stattgefunden. Gleichzeitig hat die Konzentration von Kapital in den imperialistischen Zentren (zu denen man inzwischen auch China  zählen muss) sich auf an die 90 % erhöht, mit einer vollkommenen Dominanz auf den Finanz-, Kapital- und Währungsmärkten. Ein Blick auf die Handelsbilanzen und die Bemessung des jeweiligen Importbedarfs von Halbkolonien einerseits in US-Dollar (als dominierender Welthandelswährung) im Vergleich zu den jeweils vor Ort bestimmten „Kaufkraftparitäten“ zeigt, dass immer größere Teile der eigenen Wirtschaftsleistung für den Anschluss an den Weltmarkt geleistet werden müssen. All dies erzeugt ökonomische „Zwänge“, die auch schon unabhängig von den imperialistischen Institutionen von IWF, Weltbank, WTO etc. und zusätzlich den dem „Washington Consensus“ verpflichteten Eliten vor Ort wirksam sind. „Post development“ mag aus neuen „sozialen Bewegungen“, vor allem armer Landbevölkerung und indigenen Organisierungen hervorgehen – mehrheitsfähig bei den ArbeiterInnen (nicht nur der betroffenen großen Unternehmen) und Mittelschichten ist es in keinem Fall. Auch wenn die „postkoioniale Theorie“ solche materiellen Interessen als „wesensfremden Utilitarismus“ bezeichnet, so lehrt die Erfahrung der letzten Jahre, dass politische Projekte um „post development“ in den Halbkolonien kein breites Bündnis gegen die sich verschärfende imperialistische Ausbeutung zustande bringen kann.

Im Gegenteil: die Ansätze zur Abkopplung vom Weltmarkt, wie sie in Lateinamerika tatsächlich von den „pinken“ Regierungen, z. B. in Venezuela, versucht wurden, erinnern eher an das gescheiterte Modell des „Sozialismus in einem Lande“, allerdings ohne „Sozialismus“. Die Vorgängertheorien wie „Dependenztheorie“ oder die des „ungleichen Tausches“ verkündeten die Notwendigkeit der Abkopplung vom Weltmarkt zur Ermöglichung einer „eigenständigen Entwicklung“ (d .h. sie vertraten noch den Standpunkt deren Fortschritts). Aber schon die Erfahrung der Sowjetunion, die eine beschränkte Loslösung vom Weltmarkt kombinierte mit einem konzentrierten, planvollen Aufbau von Substitutionsproduktion, musste sehr früh auf einen (wenn auch über das Außenhandelsmonopol kontrollierten) Import von Weltmarktprodukten zurückgreifen – mit all den bekannten langfristigen Folgen für das Bestärken von Wertbeziehungen auch im Inneren. Der „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ versuchte das Übergehen in den Postkapitalismus samt Überwindung der Abhängigkeiten vom Weltmarkt ohne wirkliche Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und ohne koordinierten Angriff auf die imperialistische Ordnung. Der Pseudosozialismus in einem Land war für Venezuela der Weg in das wirtschaftliche Desaster, dem das politische und soziale folgte. Nicht anders wäre „post development“, heute umgesetzt, ein Weg, der Millionen Menschen in eine Katastrophe führen würde. Die meisten Halbkolonien sind nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, in der Lage, sich in der Not durch Rückgriff auf die Subsistenzwirtschaft der ländlichen Regionen ernähren zu können. Wie die jüngsten Wirtschaftskrisen (z. B. Nordafrika nach den Preiseskapaden im Gefolge der Finanzmarktkrise 2009) zeigen, bedeutet ein Ausfall der Lebensmittelimporte, dass sich die Versorgungslage schnell katastrophal entwickelt.

Natürlich vertreten daher Organisationen wie „La Via Campesina“ die Stärkung der Kleinbauern/-bäuerinnen und der ländlichen Subsistenzwirtschaft. Tatsächlich sind diese immer weiter auf dem Rückzug. „Die schweren Geschütze der Preise der westlichen Industrie brechen alle chinesischen Mauern“. Das letzte Opfer der Agrarmarkt„reformen“ der neoliberalen Modi-Regierung sind gerade die indischen Kleinbauern/-bäuerinnen  – auch wenn diese fürs Erste aufgrund der Proteste auf Eis gelegt werden musste. Wie schon Marx in der Frage der russischen Dorfgemeinschaften (und ihren starken Traditionen von Gemeineigentums) bemerkte, lassen sich aus dien fortschrittlichen Elementen der kleinbäuerlichen/gemeinschaftlichen Produktionsweisen nur durch ihre Modernisierung in Form von Kooperativen mit entsprechender zentralisierter Organisierung von Inputs (Saatgut, Traktoren, Dünger etc.) und Outputs (Vertrieb, Lagerung, Transport etc.) überlebensfähige Betriebe bilden, die sowohl in der Konkurrenz mit den großen Agrarunternehmen bestehen als auch für die regionale Bevölkerung eine erschwingliche Grundversorgung bieten können. Nicht zufällig waren die LPGs derjenige Teil der DDR-Ökonomie, der sich nach der „Wende“ nach Umwandlung in Agrargenossenschaften am erfolgreichsten und überlebensfähigsten erwiesen hat – allerdings mit Abbau fast aller Elemente der ländlichen Daseinsfürsorge, die sie noch in der DDR erfüllten.

„Globale Umwelt- und Klimagerechtigkeit““ muss natürlich heißen, dass das Wachstum der Rohstoff-, Energie- und Agroindustrien in den Halbkolonien eingebremst werden muss zugunsten einer Ökonomie, die einerseits die Grundversorgung gewährleisten kann, andererseits aber an einer Weltarbeitsteilung beteiligt ist, die die sozialen und ökologischen Lasten zwischen Nord und Süd gleich verteilt. Natürlich basieren die „Preiswunder“, die man z. B. in den Supermärkten im „Norden“ wahrnehmen kann, zu einem beträchtlichen Teil auf den billigen Rohstoffen oder Arbeitsprozessen aus dem/im „Süden“ bzw. den viel zu geringen Kosten der Treibhausgase verursachenden Transporte von dort. Und natürlich können viele Güter im „Süden“ nur noch gekauft werden, da ihr Import gegenfinanziert ist durch die besagten billigen Rohstoffe etc., die exportiert werden. Unter Marktbedingungen würden sich bei jeder Einschränkung dieser Exporte, Verteuerung der Transportkosten etc. einerseits die Preise für sehr viele Konsumgüter im „Norden“ stark verteuern, wie auch viele Arbeitsplätze im „Süden“ gefährdet wären. Insofern ist jede solche Umstellung mit der Frage der „solidarischen Transformation“ zu verbinden. Statt hier „marktgerechte“ Antworten über Verbrauchssteuern, Subventionen oder Ähnliches zu geben, existiert ein bekanntes Reservoir an Forderungen aus der ArbeiterInnenbewegung für solche Krisenperioden: Belastet werden können dafür die Profite, die großen Vermögen und Erbschaften. Für die Preisbewegungen muss es eine entsprechend mobile Skala der Löhne (und Sozialtransfers) geben. Die Veränderungen der Produktionsprozesse (Transformation) müssen unter Kontrolle der Beschäftigten gebracht werden inklusive Anpassung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Für Halbkolonien muss dies verbunden werden mit der Forderung nach Schuldenstreichung, Ausgleichszahlungen für die Schäden des Umweltimperialismus und einem allgemeinen Plan für den Aufbau ökologisch und sozial ausgerichteter Energie- und Agrarversorgung. Insbesondere die großen  Konzerne im Energie- und Agrarsektor müssen dafür enteignet werden. Pure bürgerliche „Verstaatlichung“ reicht hierzu sicher nicht, wenn man an das weltweite Agieren solcher Staatskonzerne wie Vattenfall denkt. Auch hier erweist sich echte ArbeiterInnenkontrolle, die wirklich international alle für solche Konzerne Arbeitenden umfasst (Konzerntöchter, Subfirmen, „VertragspartnerInnen“), als Ausgangspunkt internationaler gesellschaftlicher Kontrolle, als Vorbereitung eines von Beschäftigten und KonsumentInnen bestimmten globalen Plans. Sie ist natürlich nicht zu verwechseln mit der Verzahnung nationaler Gewerkschaftsbürokratien mit z. B. dem „eigenen“ Energiekonzern, wie man es z. B. bei RWE und der IGBCE sehen kann. Ebenso kann die Enteignung der Agrokonzerne nur durch ArbeiterInnenkontrolle in den Input/Output-Betrieben der Agrarwirtschaft in Zusammenwirken mit der gesellschaftlichen Kontrolle über die großbetrieblichen Agrarflächen sozial und ökologisch sinnvoll durchgeführt werden. Dies kann je nach Stand der Bewegung auf dem Land erfolgen entweder durch Aufteilung des Bodens unter Agrargenossenschaften aus kleinen Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen oder direkt durch verstaatlichte Agrarbetriebe unter Kontrolle der dort Beschäftigten.

13. Zur Frage von Strategie und Taktik

Die Umwelt- und Klimabewegung hat in den letzten Jahren sicherlich enorm viele Menschen auf die Straße gebracht, eine Menge AktivistInnen dazu animiert, mit unterschiedlichsten Aktionen viel Zeit und Energie einzusetzen, viel „Öffentlichkeitswirksamkeit“ entfaltet – doch mit welchem Effekt?

Der Mitinitiator von „Ende Gelände“, Tadzio Müller, bemerkte dazu passend jüngst in einem Interview: „Mir geht es beim Aktivismus halt um das reale Verändern von Dingen. Also ums Gewinnen. Faktisch hatten wir das trotz der tollen Proteste weder mit der Antikriegs- noch mit der globalisierungskritischen Bewegung geschafft, was sich entmächtigend anfühlte. Ich bin jemand, der viele Fehler macht – aber jeden Fehler gerne nur einmal. Und ja, eigentlich machte ,Ende Gelände’ von 2015 bis 2018 alles richtig. Wir zogen unsere Strategie fast lehrbuchmäßig durch und blieben unbesiegt. Aber was kam nach drei Jahren Powerplay raus, als das politische System 2018 mit der Kohlekommission antwortete? De facto eine Bestandsgarantie für die Braunkohle im ,Kohlekompromis’. Im Grunde wurden wir ganz einfach ausgespielt.“ (Müller 2021)

13.1 War die Klimaschutzbewegung erfolgreich?

Weitaus allgemeiner erscheint der „Erfolg“ der Klimabewegung sich gerade aus ihrer Wirkungslosigkeit zu ergeben. Massen werden zu immer apokalyptischerem Sound mobilisiert. Nur: ändern tut sich eigentlich gar nichts, wodurch dann noch mehr mobilisiert werden kann, mit gleichbleibend null Effekt. Zu diesem Schluss kommt auch Andreas Malm, schwedischer Klimaaktivist der ersten Stunde, in seinem jüngst erschienenen Rück- und Ausblick auf die Klimabewegung (Malm 2020). Er erinnert an die ersten Blockadedemos beim COP1 in Berlin 1995. Seither habe sich vor allem verändert, dass man immer mehr wurde, aber sonst: „Wir errichten unsere Lager für nachhaltige Lösungen. Wir kochen unser veganes Essen und halten unsere Versammlungen ab. Wir marschieren, wir blockieren, wir führen Theaterstücke auf, wir überreichen Minister*innen Listen mit Forderungen, wir ketten uns an und marschieren auch am nächsten Tag wieder. Wir sind immer noch absolut und mustergültig friedlich. Zahlenmäßig sind wir mehr geworden und in unseren Stimmen liegt eine größere Verzweiflung. Wir sprechen vom Aussterben und davon, dass es keine Zukunft mehr gibt. Aber das business as usual geht unbeirrt seines Weges.“ (ebd., S. 14) Parallel zum Wachstum der Klimaschutzbewegung blieb das fossile Kapital nicht nur intakt, es wuchs sogar beschleunigt weiter (ebd., S. 33 f.)! Aus einer Studie zu fossiler Energieinfrastrukturentwicklung aus der Zeitschrift Nature aus dem Jahr 2019 zitierend stellt er fest: „Die letzten Jahrzehnte erfuhren jedoch eine beispiellose Expansion der historisch langlebigen, auf fossilen Brennstoffen basierenden Energieinfrastruktur. ( … Denn) nicht weniger als 49 % der aktuell betriebenen Kapazität (sei) nach 2004, dem Jahr der COP10, in Auftrag gegeben worden. Während ihrer bisherigen Zyklen hat die Klimaschutzbewegung keine Delle in diesen sich stetig hochschraubenden Kurven hinterlassen“ (S. 35 f.). Wenige Wochen nach dem „Herbstaufstand“ von XR veröffentlichte die IEA (Internationale Energieagentur) ihren Jahresbericht, der zeigte, dass zwei Drittel der Neuinvestitionen der Energiewirtschaft weiterhin in Kohle, Öl und Gas gingen. Dann kommen Atomenergie und Wasserkraftwerke, während der Anteil der weltweiten Investitionen in Wind- und Solarenergie keinerlei Wachstum aufwies. Insbesondere die Investitionen in Kohle sind weiterhin steigend. Besonders aufregend findet das Kapital Investitionsmöglichkeiten in Tiefseebohrungen (Deepwater Horizon ist wie gesagt längst „bewältigt“) vor Brasilien und Guyana, im Permbecken von Texas und seit einiger Zeit auch (heftig umkämpft) mehrere Feldern im Mittelmeer (Griechenland, Türkei, Israel, Libyen). Allein Explorationsbohrungen weisen in den letzten Jahren enorme Steigerungsraten auf, mit folgenden Erschließungsinvestitionen. Bei der Größenordnung der hier investierten Kapitalmengen geht es um sehr langfristige Anlageinvestitionen, die darauf ausgerichtet sind, das Kapital auch sehr lange verwerten zu lassen – in diesem Fall etwa von 40 Jahren. D. h. diese jetzt steigenden Massen an fossiler Energieproduktion will das Kapital sicherlich bis 2060 vollständig ausreizen. Die Studie schätzt, dass die in den bereits bestehenden Anlagen festgeschriebenen Emissionen bereits ausreichen, das 1,5 °C-Ziel zu durchbrechen. Mit den allein 2018 im Bau befindlichen Anlagen ist dann bereits das 2 °C-Ziel gerissen – aber wie gesagt, die Investitionen seither sind ja alles andere als rückläufig. Malm schließt, dass bei den Summen dieses Anlagekapitals und dem üblichen Risikobewusstsein von InvestorInnen es offensichtlich ist, dass diese sich keine Sorgen um die künftige Klimapolitik machen (ebd., S. 38). Klimaproteste, Blockaden, Umweltgesetzgebung, Klimaschutzerklärungen der „großen Politik“ hin oder her – „diese Kapitalist*innen scheinen keine Abrissbirnen vor Augen zu haben. Sie denken gar, ihnen könne überhaupt nichts geschehen“ (ebd.). Von der „Führungsschicht“ von Staat bis in die Unternehmen irgendeine ernsthafte Wahrnehmung der nahenden Katastrophe zu erwarten, ist vollkommen vergeblich: „An ihre Vernunft, an ihren Common Sense zu appellieren, wäre augenscheinlich vergebens. Denn letztlich siegt ein aufs andere Mal ihr Engagement zugunsten grenzenloser Kapitalakkumulation. Nach den letzten drei Jahrzehnten kann kein Zweifel mehr bestehen, dass die Führungsklasse geradezu gesetzmäßig untauglich ist, auf die Katastrophe anders zu reagieren, als sie immer weiter anzustacheln; aus eigenem Antrieb vermag sie nichts anderes zu tun, als sich den Weg bis zum bitteren Ende zu brennen“ (ebd., S. 14).

Die Strategie der Klimaschutzbewegung ist also nach diesen Bestandsaufnahmen von Müller und Malm an einem toten Ende der Wirkungslosigkeit angekommen. Malm sieht vor allem zwei Kernpunkte der bisherigen Bewegung, die überwunden werden müssen: die Beschränkung auf Methoden des „zivilen Ungehorsams und Protestes“ (bei dem man doch noch auf eine Wirkung auf die Führungsklassen hofft) und die Infragestellung des Eigentumsrechts, insbesondere in Bezug auf das fossile Kapital.

13.2 Zur Frage der gewaltfreien Protestformen

Malm sieht insbesondere das Dogma der „Gewaltlosigkeit“, des „phantasievollen, gewaltlosen, zivilen Ungehorsams“ als Kernproblem des bisherigen Mainstreams der Klimaschutzbewegung. Tatsächlich gehören Auseinandersetzungen um diesen „strategischen Pazifismus“ und die daraus erwachsenden Strategien und Taktiken des Protests genauso zu den zentralen Eckpunkten der Umweltbewegung wie die um „green economy“, Degrowth oder „Antikapitalismus“. Ein großes Verdienst von Malms Buch ist die direkte und detaillierte Auseinandersetzung mit den „Glaubenssätzen“ dieses Pazifismus, wie er in den Hauptströmungen der Bewegung, bei FFF (mit Zitaten von Thunberg), bei XR und bei 350.org (in Auseinandersetzung mit McKibben) sich widerspiegelt.

Am leichtesten fällt dies sicherlich bei XR, dessen Gründer unmittelbar und in naiver Weise die bizarre „wissenschaftliche“ Beweisführung von Chenoweth/Stephan in „Why Civil Resistance Works“ (2011) in die Grundlagen von XR aufgenommen hat. Dort wird mit angeblich statistisch-empirischen Mitteln „bewiesen“, dass bei den wichtigsten 300 Fällen von Übergängen weg von „Autokratien“ oder „Okkupationen“ mehrheitlich die Methoden des gewaltlosen Widerstandes die erfolgreicheren waren. Hier werden dann absurde Gegenüberstellungen vollzogen wie z. B. dem „erfolgreichen gewaltlosen Widerstand“ in Slowenien 1991 der „erfolglose“ gewaltsame Widerstand der PalästinenserInnen entgegengestellt. Wie die meisten solcher losgelösten, rein technischen Betrachtungen von Taktiken als die „Ein und alles“-Erklärungen für Erfolg/Misserfolg wird hier vollkommen vom historischen Gesamtkomplex und den vielen anderen Faktoren abstrahiert, die zu dem einen oder anderen vorläufigen Ergebnis führen. Die Unabhängigkeit Sloweniens im „10-Tage-Krieg“ 1991 kann natürlich überhaupt nicht isoliert werden vom umfassenden Zerfallsprozess Jugoslawiens, der spätestens seit den frühen 1980er Jahren immer heftigere und nationalistischere Züge annahm. Der slowenische Teilstaat besaß von vornherein, aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung, eine herausgehobene Stellung, die ihm auch in Sicherheitsfragen Vorrechte ermöglichte. Die Auseinandersetzung mit den Territorialstreitkräften der slowenischen Teilrepublik war für die serbisch dominierte jugoslawische Volksarmee von vornherein untergeordnet gegenüber der viel größeren Auseinandersetzung, die mit Kroatien heraufzog. Der Rückzug aus Slowenien war daher kein Erfolg von „gewaltlosem Widerstand“ (einer sehr wohl kampfbereiten Armee!), sondern eigentlich unmittelbare Vorbereitung für den blutigen Krieg in Slawonien, der Krajina und Norddalmatien. Etwas als erfolgreiches Muster von gewaltlosen Widerstand darzustellen, das Auftakt für einen der blutigsten Bürgerkriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete (mit den traurigen Höhepunkten Vukovar, Srebrenica, Racak und den NATO-Angriffen auf Rest-Jugoslawien), ist schon hochgradig „naiv“ (um es höflich auszudrücken). Wer dies dann auch noch mit einen vollkommen anderen gesellschaftlichen und historischen Konflikt wie dem in Palästina (der sowohl mit der Geschichte des Zerfalls des Osmanischen Reiches, der Kolonialisierung der Region als auch mit der komplexen Geschichte von Diaspora und Verfolgung des jüdischen Volkes verwoben ist), vergleicht, hat offenbar vom Verhältnis zwischen Taktiken und Entwicklung gesellschaftlicher Konflikte gar keine Ahnung. Anders als Jugoslawien ist der von den USA hochgerüstete Staat Israel alles andere als im Zerfall begriffen. Und natürlich gab es auch in Palästina nicht wenige Ansätze des zivilen Ungehorsams oder Setzens auf „Diplomatie“, den „arabischen Nationalismus“ und seine verschiedenen „Heimatländer, die Sowjetunion etc. Der bewaffnete Kampf war immer wieder die „asymmetrische“ Reaktion auf eben das Scheitern jeglicher solcher Lösungsversuche. Auch die BDS-Kampagne ist ja genau aus der Methode eines solchen „zivilgesellschaftlichen Protestes“ entstanden.

Nicht weniger falsch sind die Bezüge von McKibben und Greta Thunberg auf die Abschaffung der Sklaverei oder den Kampf um das Frauenwahlrecht. Beides wird als Resultat der „Erfindung“ des gewaltlosen Widerstandes durch AbolitionistInnen bzw. die Suffragetten dargestellt. Dies isoliert bestimmte Kampfformen dieser beiden politischen Bewegungen von dem viel umfassenderen und langwierigeren Kampf zu diesem Thema, der gerade umgekehrt vor allem durch revolutionäre Gewalt vorangetrieben wurde. Der wahrscheinlich einschneidendste Moment im Kampf gegen die Sklaverei war, dass nach vielen blutig niedergeschlagenen Aufständen die Revolution in Haiti gelang und hier eine erste, von SklavInnen gegründete Republik entstand. Die Bedrohung durch die SklavInnenbewegung einerseits und die ökonomisch günstigere Ausbeutungsmöglichkeit der industrialisierten Lohnarbeit andererseits machten die Sklaverei zu einem Auslaufmodell. Die AbolitionistInnebewegung war nur der letzte Schnitt an einem schon im Absterben begriffenem System, durch VertreterInnen der Herrenklassen selbst an schon von der Geschichte überrollten, reaktionären Überbleibseln der SklavInnenhaltersysteme. Bekanntlich hat außerdem diese Form des bürgerlichen Abolitionismus in keiner Weise zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung der ehemaligen SklavInnen geführt, sondern zu neuen Formen der rassistischen Segregation.

Insofern wird auch der Mythos vom großen Vorbild des zivilen Widerstands, Martin Luther King, von den tatsächlichen Zusammenhängen des antirassistische Kampfes, wie er in den USA zu Beginn der 1960er Jahre in einen neuen Zyklus trat, völig losgelöst. Natürlich war, wie Malm detailliert ausführt, auch diese Bewegung bestimmt durch gewaltsame Zusammenstöße, die von der antirassistischen Bewegung mit einer defensiven, aber durchaus nicht „gewaltlosen“ Reaktion beantwortet wurden. Vielmehr gab es die Teilerfolge der Bewegung nur durch das Wechselspiel großer, gewaltloser Proteste einerseits und militanter Kämpfe andererseits, zu denen durchaus auch die Malcolm-X- und die Black-Panther-Bewegung gehörten.

Auch die Erkämpfung des Frauenwahlrechts war alles andere als Resultat einer gewaltlosen bürgerlichen Frauenbewegung. Ihm ging ein jahrzehntelanger Kampf proletarischer Frauen im Rahmen der ArbeiterInnenbewegung voraus, der dieses Recht zusammen mit vielen anderen Fragen der Unterdrückung von Frauen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Nicht zuletzt standen proletarische Frauen in den Revolutionen ab 1917 von Russland bis Deutschland an vorderster Front des Kampfs ums allgemeine Wahlrecht inklusive des Frauenwahlrechts. Ohne die „Gefahr“ der Ausbreitung dieser revolutionären Welle ist die „plötzliche“ Durchsetzung dieses Rechts auch in den anderen europäischen Ländern nicht zu erklären. Malm zeigt jedoch, dass selbst die Suffragetten alles andere als Muster des „gewaltlosen Widerstands“verkörperten. Sie griffen zu Mitteln der Sabotage, Anschlägen auf Sachen (auch Brandanschlägen) etc. und wurden dafür auch zu entsprechenden Haftstrafen verurteilt.

Als letztes ist Malm auch zu danken, dass er ausführlich Mahatma Gandhi entmystifiziert, das neben Martin Luther King und Nelson Mandela meist zitierte Vorbild für „gewaltfreien Widerstand“ (übrigens letzter auch in völliger Verkennung der tatsächlichen Geschichte des ANC und Niederringens des Apartheidregimes). Auch das Ende der britischen Kolonialherrschaft wies natürlich eine viel längere und blutigere Geschichte voller Aufstände, Streiks und auch bewaffneter Konfrontationen auf, als dass es irgendwie im Entferntesten als Muster für die Strategie von „gewaltlosem Widerstand“ dienen könnte. Natürlich ist es richtige, gerade auf die Provokationen eines/r sehr mächtigen, bewaffneten GegnerIn mit Elementen des passiven Widerstands, mit dosierter Konfrontation etc. erstmal so viel wie möglich Kräfte zu sammeln bzw. ihn/sie zu schwächen, zu diskreditieren, Teile ins Zweifeln kommen zu lassen etc. (Gandhis Satyagraha). Doch Gandhi erkannte nicht, dass zu dieser Schwächung und Abschreckung durchaus auch der Einsatz von Gewalt gehören musste. Die Sabotageaktionen und Angriffe auf KollaborateurInnen, Massenstürmungen von Polizeistationen wurden zwar alle von Gandhi verurteilt, waren aber für die britischen Behörden das Zeichen, dass die Massen über die friedliche „Nichtkooperationstaktik“ hinaus drängten. Malm zieht mehrere Beispiele für Gandhis opportunistische Politik gegenüber dem britischen Imperialismus heran wie z. B. sein Andienen für Anwerbung von indischen Soldaten für den Ersten Weltkrieg oder den Einsatz gegen Aufständische in Südafrika: „Gandhis Strategie zur nationalen Befreiung hat niemals – soviel steht fest – Gewalt gegen die Briten geduldet, doch Gewalt mit ihnen war darin stets inbegriffen“ (ebd., S. 53). Man kann zu Recht feststellen, dass die indische „Unabhängigkeit“ nicht durch Gandhis Strategie errungen wurde, sondern trotz seiner Politik, die letztlich zur Errichtung neokolonialer Verhältnisse durch fortgesetzte staatliche, soziale und religiöse Spaltungen führte – was den indischen Subkontinent bis heute im Würgegriff hält.

Was aus diesen Betrachtungen des Verhältnisses von gesellschaftlichen Umwälzungen und der Frage der Kampfmittel (von friedlichem Protest bis zur Gewalt) klar wird, ist, dass die Umstände,  Gegenkräfte und das Stadiums der bereits vor sich gehenden Veränderungen über die Angemessenheit dieser oder jener Protestform entscheiden – nicht solche Prinzipien wie „Gewalt führt immer zu nichts Gutem“. Wenn die Gegenkräfte bereits entscheidend geschwächt sind bzw. in Angst vor Massenprotesten aller Art leben, dann mögen friedliche Massendemonstrationen, Streiks, gepaart mit einigen spontanen Gewaltausbrüchen ausreichen, um ein bereits bröckelndes System zum Einsturz zu bringen (z. B. die Abschaffung der Schulsegregation in den USA durch die „Bürgerrechtsbewegung“ zwischen 1957 und 1964).

13.3 Zur Notwendigkeit einer neuen Strategie

Bei der Umwälzung jedoch, die die Klimaschutzbewegung durchsetzen will, geht es nicht um irgendwelche veralteten und für das Kapital nicht essentiellen Institutionen oder den Sturz eines schon bröckelnden diktatorischen Regimes (wie z. B. im Fall Milosevics), sondern um nichts Geringeres als um einen grundlegenden Systemwechsel, der eine zentrale Säule der Kapitalakkumulation, das fossile Kapital, zum Gegner hat. Die Geschichte der Umweltproteste hat gezeigt, dass sich dieser nicht durch noch so große Massenproteste aus der Bahn werfen lässt. Außer einer Anpassung der Marketingstrategien („greenwashing“) und einer für die Problemlage völlig ungenügenden politischen Antwort („Green New Deal“) gibt es für das große Kapital keinen Wirkungstreffer seitens der Proteste. Sie bleiben nette Happenings für junge Leute, die ansonsten das business as usual nicht stören. Außerdem gibt es genug Gegenkräfte, die durch ökologische Veränderungen ihre „individuelle Freiheit“ und ihre „Lebensweise“ bedroht sehen, um zur Not auch reaktionäre Gegenproteste instrumentalisieren zu können. Das Problem bleibt tatsächlich, dass die herrschenden Strömungen der Klimaschutzbewegung auf ihren Prinzipien der Ablehnung militanter Aktionen herumreiten und nicht wahrhaben wollen, dass sie damit nur Zeit verlieren, die wir nicht mehr haben. Malm stellt damit zu Recht angesichts dieser Sackgasse der friedvollen Proteste inmitten einer immer bedrohlicher werdenden Lage an die Bewegung (der er von Beginn an angehört) die Frage: „Wann eskalieren wir? Wann gelangen wir zu der Einsicht, dass es an der Zeit ist, auch zu anderen Mitteln zu greifen? Wann fangen wir an, die Dinge, die unseren Planeten ruinieren, physisch anzugreifen … ?“ (ebd., S. 15).

Das Problem der Vorherrschaft pazifistischer Illusionen in den Umweltprotesten ist nicht einfach eines der „falschen Ideologien“ von der Wirksamkeit gewaltloser Proteste. Es ist eben auch ein Ergebnis eines Niedergangs der subjektiv revolutionären Bewegungen und damit Diskreditierung der Orientierung auf die Revolution als Lösungsweg für fundamentale gesellschaftliche Probleme: „Das Beharren darauf, militante Aktionen unter den Teppich der Zivilität zu kehren – das heutzutage nicht allein innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung, sondern auch in den meisten angloamerikanischen Ansichten und Theorien hinsichtlich sozialer Bewegungen vorherrscht -, stellt selbst ein Symptom der eklatant gewordenen Kluft zwischen der Gegenwart und all dem, was von der Haitischen Revolution bis zur Polltax-Rebellion passiert ist, dar. Es ist ein Symptom des Niedergangs revolutionärer Politik. Diese existiert kaum noch als lebendige Praxis innerhalb schlagkräftiger Bewegungen oder als Folie, derer sie sich bedienen könnten, um ihre Forderungen zu stellen. Von den Jahren rund um 1789 bis zu jenen um 1989 verlor die revolutionäre Politik nichts an Aktualität und dynamischer Potentialität, doch seit den 1980er Jahren ist sie zusehends diffamiert, antiquiert, verlernt und unglaubwürdig geworden. Mit der konsequenten Dequalifizierung geht der Widerwille einher, revolutionäre Gewalt als integralen Bestandteil ihrer selbst anzuerkennen. Und eben darin besteht die ausweglose Situation, in der sich die Klimagerechtigkeitsbewegung befindet: Der geschichtliche Sieg des Kapitalismus und die Zerstörung des Planeten sind ein und dasselbe. Um daraus auszubrechen, müssen wir das Kämpfen von Grund auf neu lernen, und zwar in dem vielleicht ungünstigsten Moment der bisherigen Geschichte der menschlichen Besiedlung des Planeten“ (ebd., S. 73).

Doch was schlägt Malm als „Eskalation“, als „Kämpfen neu lernen“ vor? Einerseits sieht er durchaus Anzeichen, aus der Bewegung heraus, zu einer Steigerung der Kampfformen. So haben etwa die beiden Gewerkschaftsaktivistinnen Jessica Reznicek und Ruby Montoya 2017 (kurz nach Trumps Amtsantritt) durch einen technisch geschickt durchgeführten Anschlag auf das Maschinendepot der Dakota Access Pipeline ihren Iowa den Baubeginn um mehrere Monate verzögert. Dazu gelang ihnen auch, durch selbst gebastelte Schweißbrenner regelmäßig Löcher in bereits verbaute Pipelineabschnitte zu schweißen. In Erklärungen zu den Aktionen stellten sie fest, dass sie zu diesen Mitteln greifen, da offenbar alle friedlichen zu nichts führen. Inzwischen scheinen die beiden in den USA, besonders in indigenen Gebieten, viele NachahmerInnen gefunden zu haben. In ähnlicher Weise mehren sich wieder Aktionen der „Entlüftung von SUVs“ oder ähnliche Maßnahmen, durch die SUVs zeitweise außer Betrieb gesetzt oder „entschönert“ werden.

Gemeinsam ist solchen Aktionen natürlich nicht einfach, dass sie „Gewalt gegen Sachen“ darstellen, Verletzungen oder gar Tötungen von Menschen jedenfalls vermeiden. Entscheidend ist, dass es um Beschädigungen von Sachen geht, die sich im privaten Eigentum befinden. Gerade das ist die entscheidende Schwelle für die Apostel der Gewaltlosigkeit: Das Niederreißen der Berliner Mauer ist ein Akt der Gewaltlosigkeit, aber einen privaten Pkw zu beschädigen ,ist „unmoralisch“. Entsprechend fällt auch die Reaktion von Staat und „Öffentlichkeit“ für solche Aktionen aus. Als man 2019 Reznicek und Montoya vor Gericht stellte, wurden sie jeweils mit einer Haftstrafe von 110 Jahren bedroht. Der Vorstandsvorsitzende der betroffenen Ölfirma sprach gar von einem derart schwerwiegenden Akt des „Terrorismus“, dass die beiden „aus dem Genpool“ getilgt werden müssten. Die harmlosen SUV-Entlüftungen in Schweden und Frankreich führten zu heftigen Beschuldigungen, die diese Aktionen als Angriffe auf „Freiheit und Demokratie“ und die „VerbrecherInnen“ als schlimmer als Pädophile oder SelbstmordattentäterInnen verurteilten. Selbstverständlich werden heute bei den VerfassungsschützeInnern Warnungen laut, dass es aus der Klimabewegung zu einer Radikalisierung kommen könne, mit der dann ein „Klimaterrorismus“ einherginge.

Hier wird natürlich einerseits die „Heiligkeit“ des Privateigentums deutlich, ob an Produktionsanlagen oder Luxusgütern. Andererseits das völlig Ausbleiben jeglicher Anerkennung, dass die Gewalt, die von der Ausübung bestimmter Formen von Privateigentum ausgeht, um ein Vielfaches gefährlicher ist (was die Klimafolgen betrifft) als die Nadelstiche, die hier gesetzt werden. Es ist also klar, dass die Eskalation, um die es gehen muss, die Frage der Verfügungsgewalt über die Produktions- und Konsumtionsmittel, die die wichtigsten Beiträge zu den großen Umweltschädigungen bewirken, aufwerfen muss, also die Frage des Eigentums. Enteignungsprozesse können natürlich verschiedene Formen annehmen, von der Sabotage, über (zeitweise) Besetzungen, Streiks (die für ihre Dauer die Verwertung von Eigentum unterbrechen) bis hin zur Enteignung (Verstaatlichung, Vergesellschaftung).

Der Begriff der „Enteignung“ ist in letzter Zeit wieder in das Arsenal von linken Bewegungen getreten, z. B. bei der Frage von Wohnungs- und Mietenpolitik. In der Klimapolitik gab es schwache Vorzeichen dazu in Initiativen für die Rekommunalisierung von Energieversorgungsunternehmen. Es fehlt allerdings noch eine Initiative ähnlich „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ auch für die großen Energiekonzerne. Ein Vorzug von FFF ist sicherlich, dass es den Streik auf die Tagesordnung des Klimaprotestes gesetzt hat. Auch wenn Streiks in der Schule nicht die ökonomisch-politische Bedeutung von betrieblichen Streiks erlangen, so hat dies doch auf die ArbeiterInnenbewegung Ausstrahlung. Es kam an verschiedenen Aktionstagen auch zu betrieblichen Warnstreiks und Diskussionen über „Klimastreiks“ auch in Gewerkschaften. Darüber hinaus tobten um die Schulstreiks durchaus auch Auseinandersetzungen um die „Illegalität“ der Verweigerung der Schulpflicht.

13.4 „Ende Gelände“ (EG) als Alternative?

Die Kampfform, die Malm jedoch besonders hervorheb,t ist die der Besetzung. Dies hat auch damit zu tun, dass er eine Rolle spielt für die Internationalisierung von „Ende Gelände“ (siehe Ende Gelände 2020). Dies ist inzwischen lange nicht mehr einfach eine deutsche Sonderform des Klimaprotestes. 2018 wurde auch formal die Struktur „Ende Gelände goes Europe“ (EGGE) gegründet, die Aktionen zumindest mal in Europa koordiniert. Es geht längst nicht mehr nur um die Braunkohlereviere in Deutschland oder den Hambacher Forst. Aktionen wurden von diesem Netzwerk durchgeführt gegen Gasterminals in Groningen (Niederlande), Braunkohletagebau in Tschechien (Bilina), weitere in Großbritannien, Italien und Schweden. Für 2020 waren die Kampagne „Shell Must Fall“ in den Niederlanden, weitere Aktionen gegen die Atomindustrie in Frankreich und die Kohleindustrie in Polen (Turow) geplant. Vieles davon konnte pandemiebedingt nur sehr beschränkt umgesetzt werden.

Sicherlich ist es richtig, dass EG in der „Klimagerechtigkeit“sbewegung eine Vorreiterrolle in Bezug auf Koordinierung militanter Aktionen gegen zentrale Produktionsstätten des fossilen Kapitals einnimmt. Die Besetzungsaktionen sind eine Herausforderung für die Sicherheitskräfte und können zeitweise tatsächlich zu Betriebsunterbrechungen führen. Viele der Kampfformen wie die Fingertaktik, Bezugsgruppen, ausgefeilte Kommunikationsstrukturen, lange logistische Vorbereitungen für möglichst große Protestteilnahme etc. sind weitgehend aus der Altermondialbewegung bekannt. Auch viele der Organisationsformen kommen von dort: aufwändige Plenardebatten, das „Konsensprinzip“, lokale Gruppen, inhaltliche und organisatorische Arbeitsgruppen, Bündnisse vor allem mit verschiedenen Umweltverbänden (vor allem aus dem CJA-Spektrum), Postautonomen, Antira-/fa-Gruppen, lokalen Bürgerinitiativen, gewerkschaftlichen Untergruppen etc. An Organisationsform und Zielsetzungen wird klar, dass auch EG nur einen Schritt hin zu einem internationalen militanten Kampf für den Systemwechsel repräsentiert. Es ist weder eine konsequent antikapitalistische, revolutionäre Organisation noch in der Lage, einen wirklich einschneidenden Stillstand des fossilen Kapitals zu bewirken. Insofern sind die einleitenden Einschätzungen zum „Scheitern“ der EG-Strategie, wie sie sich in Deutschland im „Kohlekompromiss“ manifestiert hat, verständlich. Immerhin haben auch viele der „BündnispartnerInnen“ von EG diesen Ausverkauf mitgetragen. Konsequent muss daher mit Malm gefragt werden: Was ist denn jetzt die nächste Stufe der „Eskalation“?

Die führende linke Organisation in EG, die Interventionistische Linke (IL), versteht die Eskalationsstrategie innerhalb solcher Bündnisstrukturen wie EG so, dass mit ihren Aktionsformen für größer werdende Mobilisierungen „niedrigschwellige Angebote“ gemacht werde. Dies soll zur Infragestellung der Eigentumsverhältnisse und darüber hinausgehend zur Frage der Vergesellschaftung führen. Selbst diese scheinbar radikale Perspektive verkennt natürlich, dass eine schrittweise Untergrabung des Privateigentums an Produktionsmitteln und von lokalen Strukturen ausgehende „Vergesellschaftung“ unter Bedingungen der Vorherrschaft des Wertgesetzes und seiner totalitären Durchdringung aller ökonomisch verwertbaren Bereiche durch den Verwertungszwang, vollkommen unmöglich ist. Dies hat die gesamte bisherige Geschichte des Kapitalismus bewiesen – namentlich das Schicksal des Genossenschaftswesens. Von daher bietet die Vorstellung der Ersetzung der bestehenden zentralen Energieversorgung durch „vergesellschaftete“, dezentrale Einheiten der Energieproduktion und -verteilung keine Perspektive. Die IL und damit große Teile von EG vertreten mit ihren niedrigschwelligen Angeboten für „revolutionäre Realpolitik“ auch nur (ähnlich wie Degrowth) die Perspektive einer langwierigen Transformation statt einer tatsächlich revolutionären Politik.

Bezeichnenderweise vermeidet Malm in seinem Plädoyer für revolutionäre Politik und die Einbeziehung von revolutionärer Gewalt als Kampfmittel jeglichen klassenpolitischen Bezug. Dabei stellt sich doch die Frage als erste, wie so grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen wie der Systemwechsel weg vom fossilen Kapital durch „revolutionäre Gewalt“ denn funktionieren können. Wer kann denn TrägerIn, das Subjekt dieser revolutionären Umwälzung sein? Es ist klar, dass hier die ArbeiterInnenklasse als diejenige soziale Kraft, auf deren Einsatz letztlich die Verwertung des Kapitals beruht und die auch die Kraft ist, die zum Aufbau einer neuen Produktionsweise in der Lage ist, ins Spiel kommen muss. Wie schon am Anfang des Artikels ausgeführt, ist die ArbeiterInnenklasse in ihren sehr unterschiedlichen Schichtungen natürlich immer an der Umweltbewegung beteiligt. Auch die meisten AktivistInnen der Klimaschutzbewegung, die nicht SchülerInnen und StudentInnen sind, gehören ja zu dieser Klasse. Die große Frage, gerade was das fossile Kapital betrifft, sind natürlich die Beschäftigten in den unmittelbar betroffenen Industrien selbst. Offenbar sind die Gewerkschaften und Betriebsräte in diesen Unternehmen zumeist alles andere als Protestbeteiligte. Betriebsrats- und Gewerkschaftsvorsitzende der deutschen Industriegewerkschaften sind sogar in den Aufsichtsräten repräsentiert so wie viele kommunale oder LändervertreterInnen der „linken“ Parteien bei einigen Unternehmen die EigentümerInnen vertreten. Sehr wohl sprechen jetzt IG Metall und IG BCE von „Transformation“ und wollen den „Umbau“ mitgestalten. Gleichzeitig warnt der IG BCE-Vorsitzende (gleichzeitig Aufsichtsratsmitglied bei RWE) vor einem neuen „Klimaprekariat“, das durch eine allzu heftige Klimapolitik in Bezug auf die deutsche Industrie drohe. Es ist also klar, dass gegen die bestehenden Führungen in Betrieb und Gewerkschaft eine entschiedene Opposition aufgebaut werden muss. Diese muss sowohl gegen die Transformationszugeständnisse der Gewerkschaften (die de facto unter Transformationstarifverträgen vor allem Strukturkurzarbeitsregelungen oder Frühverrentungen verstehen) die erwähnten Forderungen wie gleitende Skala der Löhne und Arbeitszeit, Umbaukosten aus Profiten finanzieren etc .einbringen. Sie muss aber vor allem das sofortige Ende der Sozialpartnerschaft mit dem Kapital und ein Programm der sozial gerechten Konversion der auf fossilem Kapital beruhenden Produktionsprozesse erkämpfen. Die Gewinnung dieser ArbeiterInnen für ein solches Programm wird entscheidend sein, um dem Kapital tatsächlich die Kontrolle über diese Systeme aus der Hand schlagen zu können. Erst dann werden die Gewaltmittel des Kapitals und seiner Staatsorgane überwindbar sein – und wird revolutionäre Gewalt nicht mehr nur in Nadelstichen verabreicht werden können. Im Jahr 2020 im Gefolge der Corona-Gefahr wurde demonstriert, wie bei einem Notstand ein Shutdown auch zentraler Industrien unter Aufrechterhaltung versorgungswichtiger Betriebe möglich ist. Die Auswirkungen auf die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre zeitigten erstmals seit Jahren einen messbar geringeren Jahresanstieg. 2021 war dagegen sofort wieder eine „nachholende“ Rekordsteigerung zu verzeichnen. Der Klimanotstand macht einen solchen organisierten Shutdown ebenso erforderlich. Ein solcher  wird nur gegen das Kapital und seine Regierenden durchsetzbar sein (auch das hat der weitere Verlauf der Pandemie gezeigt) – als international koordinierter Generalstreik für das Klima. Dieser stellt sofort die Machtfrage, die Frage, wer über die weitere Entwicklung nach dem Shutdown bestimmt. Die Machtfrage verleiht überhaupt erst der „revolutionären Gewalt“ ihren Sinn, soll sie nicht ihrerseits weiterhin nur ein Element des symbolischen Protestes bleiben.               

14. Zur Frage der ökologischen Planwirtschaft

Die Pandemie lehrt auch einiges für die Zeit „nach der Revolution“. Die Krise von 2020/21 wird in den imperialistischen Ländern mit einem massiven Investitionsprogramm beantwortet. Der Stillstand soll vorgeblich zu einem Umbau im Sinn der „green economy“ genutzt werden. So beinhaltet das Investitionsprogramm der USA den Aufbau von mehreren riesigen Offshore-Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 30 Gigawatt (entspricht etwa einem Siebtel der Energiekapazität Deutschlands). Ebenso große Ausbauprogramme gibt es in der EU, Großbritannien und China. Einher gehen diese Aufbauprojekte für erneuerbare Energien mit einem entsprechenden Ausbau der Stromnetze und -speicherkapazitäten sowie der Ersetzung von Verbrennungs- durch Elektromotoren. Ihre Kehrseite liegt im enorm steigenden Bedarf für Rohstoffe wie Kupfer, Lithium, Kobalt, Seltene Erden etc. Entsprechend sind die Preise für diese Rohstoffe in einer Aufstiegsbewegung, die derjenigen des Öls zu Beginn des Aufstiegs der ölbasierten Verbrennungsmotoren nicht nachstehen. Nicht nur erzeugt dies entsprechenden politischen Druck auf die Hauptbergbauländer – man denke an den Putsch(versuch) in Bolivien (einem der wichtigsten Lithiumlieferanten der Welt), der auch durch gewisse Konzerne der E-Mobilität befördert wurde. Es bedeutet auch, dass die Länder des Südens nicht nur des Kapitals entbehren, um sich an diesem Ausbau erneuerbarer Energien beteiligen zu können. Se können sich auch die Rohstoffe, die dafür gebraucht werden, nicht leisten. So sieht „Klimagerechtigkeit“ sicherlich nicht aus. Wie beim „Impfstoffnationalismus“ bildet auch das Programm des ökologischen „Neustarts“ einen Ausdruck der imperialistischen Aufteilung der Welt. Und wiederum erweisen sich die G7 als „Planagentur“, die dann Brosamen aus den Impf- und Neustartprogrammen an den Rest der Welt verteilen. Natürlich ist ein Neuanfang nur möglich, wenn die G7 (bzw. G20) zerschlagen werden und ein tatsächlich globaler Plan zum Ausbau der erneuerbaren Energien, alternativer Infrastrukturen und Mobilitätskonzepte erstellt wird, der zugleich einen Ausgleich für die vom erhöhten Rohstoffbedarf betroffenen Länder schafft.

Eine andere Auswirkung der Bewältigung der Pandemie, die längerfristig anzuhalten scheint, stellt die Ausweitung der Verlagerung vieler Arbeitsplätze nach Hause („mobiler Arbeitsplatz“) dar. Dies hat durch die Verringerung an Fahrten zum Arbeitsplatz sicherlich ökologisch gesehen Vorteile. Andererseits überlastet es offensichtlich Familien mit beengtem Wohnraum, ergibt Probleme mit der Essensversorgung (Lieferdienste statt Kantine sind ökologisch gesehen nachteilig), erzeugt erhöhten Arbeitsdruck durch atomisierte Arbeitsweise etc. Auch hier würden nachkapitalistische Verhältnisse andere Möglichkeiten eröffnen: Ein Umbau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird möglich: z. B. mit integrierten Arbeits- und Wohnanlagen, Kombination von Wohnungen mit gemeinschaftlich nutzbaren/r Büroplätzen und IT-Infrastruktur, Gemeinschaftsküchen, gemeinsamen Careeinrichtungen (für Kinder, medizinische Grundversorgung etc.), gemeinsame Freizeiteinrichtungen. Die Verringerung an Mobilitätszwängen, die sich so ergäbe, könnte für den Ausbau von öffentlichem Verkehr bzw. Fahrradinfrastruktur genutzt werden, so dass auch diejenigen, die weiterhin zu zentralen Arbeitsstätten unterwegs sein müssen, nicht auf Pkws angewiesen wären bzw., sofern dies notwendig ist, Gemeinschaftsautos von Wohnanlage oder Betrieb nutzen könnten (IT-Anwendungen für den Share-Betrieb gibt es ja auch inzwischen genug).

Die Notwendigkeit der Umgestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen auf solidarische Gemeinschaftlichkeit wie auch die eines international koordinierten Plans zum ökologischen Umbau war auch schon das Thema von Rudolf Bahro in seinem 1977 erschienenen Buch „Die Alternative“ (Bahro 1977). Das besondere dabei war der Erscheinungsort: die DDR. Bahro war SED-Kader, Aktivist bei der Kollektivierung der Landwirtschaft und Leiter des Bereichs „Wissenschaftliche Arbeitsorganisation in der Industrie“ in der DDR-Wirtschaftsplanung. Aus dieser Position heraus war seine scharfe Kritik am nichtsozialistischen Charakter der DDR-Planwirtschaft und insbesondere an der fehlenden ökologischen Ausrichtung eine Sensation. Die Veröffentlichung führte ihn sofort nach Hohenschönhausen, Bautzen und dann ins Exil. Auch wenn vieles an seinen späteren Positionen kritikwürdig ist, ist „Die Alternative“ noch heute lesenswert, da sie wichtige Fragen zum ökologischen Umbau in nachkapitalistischen Gesellschaften aufwirft. Vor allem erklärt sie, warum die „Planwirtschaften“ in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten das Gegenbeispiel für einen solchen Umbau darstellen (und heute noch als „Beweis“ für die Untauglichkeit von Planwirtschaft für eine grüne Wirtschaft angeführt werden).

Bahro stellt fest, dass die Entwicklung in der Sowjetunion nach der Revolution natürlich zunächst weiterhin geprägt war von Arbeitsteilung, Organisation und Verteilung, wie sie vom Kapitalismus übernommen wurde. In einer ersten Phase mussten eine nachholende Entwicklung, die Sicherstellung eigenständiger Versorgung und damit zusammenhängende Verteilungsnormen im Vordergrund stehen. Er meint nun, dass die „realsozialistischen Staaten“ praktisch nie über diese Phase hinausgekommen sind. D. h. die Arbeitsteilung und Konsumverhältnisse waren im „Osten“ nicht weniger fordistisch als im „Westen“. Dies trug zur Folge, dass bei der Arbeit hierarchische Strukturen und Kommandowirtschaft, weitgehend ohne demokratische Kontrolle, vorherrschten bzw. individualistische Konsumbedürfnisse im atomisierten Privaten. Damit sind die Planökonomien in eine Konkurrenz um Wirtschaftsleistung und Konsumgüterversorgung insbesondere mit den imperialistischen Ländern geraten, die sie nur verlieren konnten bzw. für die sie eine rücksichtslose Naturausbeutung in Kauf nehmen mussten. Deswegen hielt Bahro es für die nachkapitalistischen Ökonomien für unumgänglich durchzuführen (Bahro 1977, S. 325):

  • eine grundlegende Umorganisierung der Arbeit, so „dass sich kein Mensch mehr in die Funktion einer bestimmten beschränkten oder subordinierten Tätigkeit verwandeln kann“; eine selbstbestimmte Arbeit, ohne Privilegierung durch besondere Rollen in der Arbeitsteilung erlaubt dann auch erst eine demokratische Bestimmung über den Plan,
  • allgemeiner Zugang zu umfassender Bildung, die sowohl soziale Kompetenz wie auch ökologisches Verständnis mit beinhaltet, Vermeidung von „sozial inkompetenten Spezialistentum“,
  • „die Herstellung von Bedingungen für ein neues Gemeinschaftsleben auf der Basis autonomer Gruppenaktivitäten, um die sich erfüllte menschliche Beziehungen kristallisieren können“,
  • „die Vergesellschaftung (Demokratisierung) des allgemeinen Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses, seine Konstituierung außerhalb und oberhalb des hierarchischen Apparats, der das normale Funktionieren der laufenden Reproduktion sichert“,
  • die Überwindung der patriarchalischen Formen der Betreuung, Erziehung und Heranführung an den Arbeitsprozess von Kindern und Jugendlichen.

Diese Punkte sah Bahro also nur in einer nachkapitalistischen Gesellschaft verwirklichbar, die sich vom Zwang der intensiven erweiterten Reproduktion befreit, wie er im Kapitalismus und in den ersten Phasen einer Planökonomie vorherrschend ist. In Bezug auf die DDR stellte er fest (ebd., S. 318), dass unsinnige Konkurrenz mit dem Westen um die Zahl der Privatpersonen zur Verfügung gestellten Pkws, um schnellen moralischen Verschleiß von Konsumgütern im Textil- oder Wohnungsausstattungsbereich, bei der Organisierung von Urlauben bzw. besonderen Wohnlagen für privilegierte Schichten etc. dazu führten, dass eine sozialistische Umgestaltung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht im Entferntesten angegangen würde. Damit würden hierarchische Strukturen verfestigt und ein von unten bestimmter Plan, der den wirklichen Bedürfnissen nach einem guten solidarischen Leben entspricht, verunmöglicht.

Grundlegend stellt Bahro für die nachkapitalistische Ökonomie – lange vor Degrowth – die Frage, ob eine solche nicht die im Kapitalismus vorherrschende Form der Entwicklung durch stetig wachsende materielle Verfügungsgewalt über Dinge und Natur ersetzen muss vor allem durch eine Entwicklung der menschlichen Formen des Zusammenlebens auf der Basis des Erhalts der erreichten materiellen Grundsicherung: „Der ganze Typus von erweiterter Reproduktion, den die europäische Zivilisation in ihrer kapitalistischen Ära hervorgebracht hat, diese lawinenartig anschwellende Expansion in allen materiell-technischen Dimensionen, beginnt sich als unhaltbar darzustellen. Der Erfolg, den wir mit unseren Mitteln der Naturbeherrschung hatten, droht uns und alle anderen, die er unbarmherzig in seinen Sog reißt, zu vernichten. Die gegenwärtige Lebensweise der industriell fortgeschrittensten Völker bewegt sich in einem global antagonistischen Widerspruch zu den natürlichen Existenzbedingungen des Menschen …. Die gegenwärtigen Rohstoff- und Umweltprobleme sind das Nebenprodukt von nur zwei Jahrhunderten industrieller Tätigkeit eines Bruchteils der Menschheit. Vom ökonomischen Prinzip der Profitmaximierung her, das mächtig in den real existierenden Sozialismus hineinregiert, ist es ein wesentlich quantitativer Progreß mit dem Trieb ins schlecht Unendliche. Er muß aufhören … , wenn der Planet bewohnbar bleiben soll“ (ebd., S. 310).

Andreas Malm spricht sich in einem 2020 bei Jacobin erschienen Interview (Malm 2020a) für einen „ökologischen Leninismus“ als Lösung des Klimanotstandes aus. Ebenso macht eine Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Aktualität der Frage der Planwirtschaft zum Thema (die wir auch demnächst ausführlicher besprechen werden: Daum/Nuss 2021). Tatsächlich ist es mehr als Zeit, die Frage der Revolution und der Einleitung einer nachkapitalistischen Gesellschaft wieder akut auf die Tagesordnung zu setzen. Die aktuellen Entwicklungen im digitalen Kapitalismus, z. B. die enormen globalen Plankapazitäten der Logistikkonzerne, aber auch die Infrastrukturen für gemeinsam nutzbare Ressourcen lassen auch die Frage der Planwirtschaft als Alternative in dieser nachfossilen Zeit zur Tagesaktualität gelangen. Dabei sollten wir die Erfahrungen aus den zusammengebrochenen Planökonomien berücksichtigen, die nicht nur von AutorInnen wie Bahro zusammengefasst wurden: Auch die planwirtschaftliche Umgestaltung der globalen Ökonomie kann nicht zur menschlichen, ökologisch verträglichen Emanzipation führen, wenn wir nicht die aus dem Kapitalismus überkommenen Formen der Arbeitsteilung, des Konsums und des Naturverhältnisses dabei überwinden.

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Die Green New Deals. Programm zur Rettung des Klimas oder des Kapitalismus?

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

In der Not verspricht auch die bürgerliche Politik Rettung für die Menschheit und den Planeten. Längst können selbst große Teile der herrschenden Klassen die Krise des Kapitalismus und die drohende ökologische Katastrophe nicht mehr ignorieren. Zu augenscheinlich mehren sich jährlich die Auswirkungen der Umweltkrise, vor allem des Klimawandels, in Form von Extremwetterlagen. Die wichtigsten kapitalistischen Mächte,  ob nun die USA unter Biden, die EU unter der Kommissionsvorsitzenden von der Leyen oder das aufstrebende China, bekennen sich zum Klimaschutz. Alle wollen erklärtermaßen nicht nur die Welt retten, sondern beanspruchen auch noch eine führende Rolle bei der ökologischen Runderneuerung des Kapitals.

Die Realität straft diese Behauptungen Lügen. Bei den Weltklimagipfeln kommt regelmäßig wenig mehr als heiße Luft heraus. Nichts gewesen außer Spesen und viel Blabla. Die Gipfel dienen mittlerweile allenfalls als Foren dafür, die eigenen Anstrengungen schönzureden, eine Reihe unverbindlicher Erklärungen abzugeben und ansonsten die Schuld für das weitere Voranschreiten der Katastrophe bei der Konkurrenz im Kampf um die Neuaufteilung der Welt zu suchen. Wie unlängst im November 2021 in Glasgow besteht der gemeinsame Nenner dieser Umweltpolitik darin, Meeting für Meeting dieselben Ziele und Absichten zu formulieren – und ansonsten möglichst keine konkreten Verpflichtungen einzugehen.

Zugleich konstatieren die Berichte des Weltklimarates IPCC regelmäßig die Verschlechterung der Lage und ein Zurückbleiben hinter den selbst gestellten, ohnehin moderaten Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens aus dem Jahr 2015. Nachdem die Emissionen 2020 infolge von Corona und globaler Rezession zeitweilig zurückgingen, werden sie 2021 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. 2022 droht, einen neuen Höchstwert des CO2-Ausstoßes mit sich zu bringen. Eine Zusammenfassung des IPCC-Berichts aus dem Jahr 2021 bringt das folgendermaßen auf den Punkt:

„Die globale Oberflächentemperatur wird bei allen betrachteten Emissionsszenarien bis mindestens Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. Eine globale Erwärmung von 1,5 °C und 2 °C wird im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2– und anderer Treibhausgasemissionen.“[i]

Diese und ähnliche Schlussfolgerungen werden mittlerweile durch beachtliche Fortschritte der Klimaforschung und durch Untersuchungen weiterer ökologischer Krisenprozesse so gut untermauert, dass sie über jeden ernst zu nehmenden Zweifel erhaben sind. Betrachtet man darüber hinaus nicht nur den Klimawandel, auf den sich die bürgerliche Umweltpolitik konzentriert, sondern weitere ökologische Krisenprozesse, so kann die aktuelle Gefahr kaum überschätzt werden. Parallel zum Klimawandel nehmen auch die Versauerung der Ozeane, die sinkende biologische Vielfalt, der Eintrag von Stickstoff und Phosphor in die Biosphäre, die Gefährdung der Ozonschicht, die Übernutzung von Land und Trinkwasser sowie die Verschmutzung durch Nanomaterialien und Mikroplastik kritische Ausmaße an. In der 2009 veröffentlichen Studie über die „Belastungsgrenzen des Erdsystems“ untersuchte der Agrarwissenschafter Johan Rockström diese verschiedenen Subsysteme und ihren Zusammenhang.

„Laut dieser Bestandsaufnahme der ökologischen Krise sind nur zwei von sieben Belastungsgrenzen noch nicht überschritten (nämlich die Süßwasser-Regeneration und Aufnahmefähigkeit der Ozeane für Kohlendioxid). Die Probleme sind zudem miteinander verbunden.“[ii]

Die wechselseitige Verbundenheit der oben benannten Phänomene erfordert nicht nur rasches, sondern vor allem auch planmäßiges, vorausschauendes Handeln, um den Stoffwechsel von Mensch und Natur und die Reproduktion des Erdsystems so zu organisieren, dass die Reproduktion der Menschheit dauerhaft und nachhaltig möglich ist. Das Fortschreiten nicht nur des Klimawandels, sondern auch aller anderen ökologischen Krisenphänomene droht letztlich, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit selbst zu zerstören.

Auf einen rationalen, vernünftigen Umgang durch die herrschende Klasse kann jedoch keinesfalls gerechnet werden, weil der eigentliche Zweck kapitalistischen Wirtschaftens, nämlich möglichst hohe Profite zu erzielen, nicht in Frage gestellt wird und von Kapitalseite auch nicht in Frage gestellt werden kann. Unabhängig davon, was einzelne UnternehmerInnen, AktionärInnen, ManagerInnen oder deren politische SprecherInnen auch wollen, sorgen die Zwangsgesetze der Konkurrenz dafür, dass sie bei Strafe des eigenen Zurückbleibens und Untergangs gezwungen sind, eben diesen Folge zu leisten, sich als Personifikationen des Kapitals zu verhalten.

Während zur Zeit die meisten Regierungen der Erde die Gefahr als solche durchaus anerkennen, ist das keineswegs bei allen der Fall. Die Leugnung des Klimawandels oder anderer ökologische Gefahren durch die Trumps und Bolsonaros dieser Welt ist zwar irrsinnig, hat aber nachvollziehbare systemische Ursachen. Angesichts der aktuellen strukturellen Krise des Kapitalismus, der verschärften Konkurrenz und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten stellen sie eine mögliche Rechtfertigung dafür dar, sich der Kosten des Klimawandels zumindest kurzfristig zu entziehen. Die aktuelle Weltlage bringt solche Formen des Irrationalismus durchaus folgerichtig hervor, sowohl bei einem Flügel des Kapitals als auch in Form reaktionärer kleinbürgerlich-populistischer Parteien und Bewegungen.

Vom Standpunkt der Konzerne und Nationalökonomien, die um ihre Stellung auf dem Weltmarkt fürchten, oder der Kleinunternehmen, die im Konkurrenzkampf zu unterliegen drohen, erscheint der Klimawandel als Ursache für ihren drohenden Niedergang oder Ruin. Sobald dieser oder der menschliche Einfluss auf ihn geleugnet wird, erscheint jede Anstrengung zur Abwendung der drohenden ökologischen Katastrophe als das  eigentliche Problem. Selbst die unzureichenden Pläne der Klimakonferenzen werden dann zum Anschlag, zur regelrechten Verschwörung gegen die „eigene“ Wirtschaft, Nation, den kleinen Laden oder den Arbeitsplatz verkehrt. Gerade weil sich die vorherrschende bürgerliche Klimapolitik als unfähig erweist und erweisen wird, auch nur eines der großen ökologischen Probleme zu lösen, werden früher oder später weitere reaktionäre bürgerliche und kleinbürgerliche Bewegungen auf den Plan treten, die die drohenden Katastrophen leugnen und mit nationalistischen, chauvinistischen und populistischen Lösungen reaktionär verknüpfen.

Das Versprechen des Green (New) Deal

Zur Zeit erkennen jedoch die vorherrschenden politischen Kräfte das Problem als solches an. Die EU-Kommission und alle Parteien, die sie tragen (Konservative, Liberale, Grüne und Sozialdemokratie), vertreten ein Programm des Green Deal. Biden verspricht das größte Klimaschutzprogramm der Geschichte im Umfang von zwei Billionen US-Dollar. Sowohl die EU als auch die USA, also die beiden (noch) größten Wirtschaftsregionen der Welt, haben sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu sein. China will dies 2060 erreichen, Indien 2070. Eine Klimapolitik, die ökologisch und ökonomisch nachhaltig sein will, versprechen heutzutage unter dem Titel Green Deal, Green New Deal oder einem ähnlichen Öko-Label fast alle.

Sicherlich sind die EU-Mächte wie Deutschland und Frankreich oder die USA nicht aus reinen Vernunftgründen zu dieser Einsicht gelangt, sondern wegen der kaum zu leugnenden Auswirkungen der ökologischen Krisen, vor allem aber aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Drucks von Massenbewegungen und linker VertreterInnen einer sozialökologischen Transformation.

Es bedurfte langer, erbitterter Kämpfe vor allem jugendlicher und lohnabhängiger AktivistInnen der Umweltbewegung in den imperialistischen Metropolen, von Bauern und Bäuerinnen, von Landlosen, von GewerkschafterInnen und Indigenen in den halbkolonialen Ländern, um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die „ökologische Frage“ überhaupt ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu rücken. Über Jahrzehnte bekämpften viele, die heute den Green Deal versprechen, diese Bewegungen und in zahlreichen Ländern werden Bauern und Bäuerinnen und indigene Völker, die sich gegen Landraub und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen wehren, weiter mit brutaler Gewalt unterdrückt, vertrieben oder gar ermordet.

Selbst die Ideen des Green Deal (GD) und der ökologischen Modernisierung der Wirtschaft, der sich USA und EU mit milliardenschweren Programmen verschrieben haben, gehen ursprünglich auf radikalere Programme aus dem kleinbürgerlichen oder reformistischen Flügel der Umweltbewegung zurück. So wurden erste Vorschläge für einen Green New Deal (GND) 2007/2008 in Britannien von der Green New Deal Group veröffentlicht, der VertreterInnen von NGOs, eine grüne Abgeordnete und später auch einige der Labour Party angehörten. Ähnliche Vorstellungen wurden auch in anderen grünen Parteien in Europa entwickelt und zur Klimakonferenz in Dänemark 2009 einer größeren Öffentlichkeit präsentiert.

In den letzten Jahren wurde der GND von zahlreichen linken Kräften aufgegriffen und popularisiert. Die britische Labour Party machte ihn 2019 zu einem Bestandteil des Wahlprogramms. Linke demokratische US-amerikanischen PolitikerInnen wie Bernie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez (AOC) griffen ihn ebenfalls auf. Schließlich fordern auch die Parteien der europäischen Linkspartei einen Green New Deal, der sich durch eine stärkere Betonung der sozialen Frage und globaler Klimagerechtigkeit vom Green Deal der EU-Kommission abheben soll.

Im folgenden Artikel wollen wir uns mit verschiedenen Konzepten des GD und GND auseinandersetzen und diese einer Kritik unterziehen. Auch wenn die verschiedenen Ansätze selbst noch eine bunte Bandbreite unterschiedlicher Theorien, AutorInnen und Schwerpunkte inkludieren, so werden wir uns mit drei Hauptströmungen befassen bzw. mit AutorInnen, die für diese stehen. Zwischen ihnen existiert natürlich eine Reihe von Überschneidungen, Übergängen und Zwischenstufen. Dennoch macht unserer Meinung nach eine Unterscheidung Sinn, weil sie auf verschiedene soziale Kräfte zur Umsetzung des Green (New) Deal verweist.

1. Großkapitalistischer Green Deal

Hier handelt es sich um das Programm und die politische Strategie von Kräften der herrschenden Klassen wie der EU-Kommission, der Biden-Administration oder den Grünen. Auch die Versprechen ökologischer Erneuerung, wie sie der chinesische Imperialismus proklamiert, gehören letztlich zu dieser Form von Umweltpolitik.

Darüber hinaus steht auch der Mainstream der europäischen Sozialdemokratie sowie der Gewerkschaften in den imperialistischen Zentren auf dem Boden dieses Programms, ebenso wie die etablierten, bürgerlichen Umweltverbände, also BUND oder NABU in Deutschland, Oxfam oder Greenpeace auf internationaler Bühne.

Als AgentInnen des ökologischen Wandels fungieren beim GD Regierung und bürgerlicher Staat, die mithilfe von Konjunkturprogrammen, Steuerpolitik und Bepreisung (Emissionshandel, CO2-Bepreisung) ökologisch schädlicher Technik, Produkte oder Verhaltens eine Veränderung der Lebensweise der Menschen und eine stoffliche Erneuerung des Kapitals anstreben. Letzteres stellt ein zentrales Ziel dar, weil das ökologisch modernisierte Kapital auch konkurrenzfähiger sein soll als die fossile Abteilung.

Die Programme der EU oder USA (aber auch Chinas) sind daher wesentlich solche zur Erneuerung des Gesamtkapitals einer imperialistischen Nation oder eines imperialistischen Blocks.

2. Linksbürgerlicher und radikal kleinbürgerlicher GND

Zur Linken des Programms des Großkapitals finden sich VertreterInnen aus bürgerlichen Parteien wie  US-DemokratInnen (z. B. Sanders, AOC), AnführerInnen von politisch kleinbürgerlichen Massenbewegungen wie Fridays for Future (Greta Thunberg) oder AutorInnen wie Naomi Klein.

Sie betrachten soziale Bewegungen als notwendigen Bestandteil zur Durchsetzung eines GND, der nicht nur ökologisch nachhaltiges Wirtschaften gewährleisten, sondern auch soziale Gerechtigkeit herbeiführen soll. Das schließt auch eine diffus antikapitalistische Zielsetzung ihrer Politik ein, die jedoch nicht wirklich an die Wurzeln des Systems geht, sondern Antikapitalismus auf einen Bruch mit dem Neoliberalismus reduziert. Die Zielsetzung dieser Spielart des GND besteht darin, den Staat darauf zu verpflichten, eine regulierte, sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Marktwirtschaft weltweit durchzusetzen.

Als zentrale Akteurin des GND gilt dieser Strömung eine Bewegung, die sich auf verschiedene Communities (Gemeinschaften) stützt, auf Gewerkschaften, Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch „aufgeklärte“ bürgerliche Schichten und die eine andere, soziale und demokratische staatliche Politik durchsetzt.

Der GND soll also von eine Allianz scheinbar gleichberechtigter Klassenkräfte verwirklicht werden, die sich gegen das „fossile Kapital“ zusammenschließen, Druck auf die Staaten und Regierungen ausüben und ihrerseits ökologisch orientierte Regierungen an die Macht bringen. Die Triebkraft diese Politik sind daher nicht Klassen – und somit natürlich auch nicht die Lohnabhängigen –, sondern „das Volk“, „die“ Community oder „die“ Menschen. Daher trägt diese Politik einen (links)populistischen Charakter, der die gegensätzlichen Klasseninteressen diese Allianz verschleiern soll – und somit auch den eigentlich bürgerlichen Charakter dieses Programms.

3. Reformistische Transformationsstrategie

Der kleinbürgerlich-radikale GND weist viele Gemeinsamkeiten mit der reformistischen Strategie bürgerlicher ArbeiterInnenparteien auf. Dennoch unterscheidet er sich davon, auch wenn sich eine ganze Reihe der erhobenen Forderungen deckt. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch im Verhältnis eines Green New Deal zur organisierten ArbeiterInnenbewegung. Organisationen wie Labour unter Corbyn, die Democratic Socialists of America (DSA) oder die Europäische Linkspartei verknüpfen den GND mit einer sog. Transformationsstrategie, also einem Konzept des graduellen Übergangs zu einer „anderen“ Gesellschaft.

Das zentrale gesellschaftliche Subjekt der Veränderung bildet für diese Strömung die Klasse der Lohnabhängigen. Sie setzt auf eine Politik der Mobilisierung der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenklasse, um eine Reformregierung durchzusetzen, die, gestützt auf diese Kräfte und im Bündnis mit den Mittelschichten, ein linkskeynesianisches Programm, einschließlich einer Reihe von Verstaatlichungen in Kernsektoren (Energie, Transport/Verkehr, Gesundheit, … ) durchsetzt, um so eine sozialökologische Transformation zu einer anderen Wirtschaftsordnung in Gang zu bringen.

Wir sehen also, dass der GD bzw. der GND zum Programm verschiedener Klassenkräfte geworden sind. Grundlegend gehen jedoch alle von der Vorstellung aus, dass auch unter kapitalistischen Bedingungen eine staatliche Politik möglich sei, die ein ökologisch nachhaltiges Wirtschaften erzwingen könne. Offen oder implizit beziehen sich der GD und noch mehr der GND auf die Politik F. D. Roosevelts in den 1930er Jahren und dessen New Deal, weil sie als Beweis für die Machbarkeit einer solchen Reformpolitik auch unter kapitalistischen Bedingungen gilt.

Der New Deal

Bevor wir uns mit der Interpretation der Politik Roosevelts und des New Deal beschäftigen, wollen wir deren Ursachen, Verlauf und Durchsetzung betrachten.

Der Börsencrash von 1929, die darauf folgende tiefe Rezession der US- und Weltwirtschaft hatten den US-Kapitalismus erschüttert wie keine andere ökonomische Krise davor und danach. Von 1929 bis 1933 halbierte sich das BIP der USA nahezu, von 103,6 Mrd. US-Dollar auf 56,4 Mrd. Selbst wenn wir eine inflationsbereinigte Rechnung zugrunde legen, so brach es um von 1929 auf 1933 um rund 25 % ein.[iii]

Infolge der Finanzkrise mussten 9 490 Banken – 40 % des gesamten Sektors – Insolvenz anmelden und schließen. Die Industrieproduktion halbierte sich in diesem Zeitraum und die Landwirtschaft erfasste ebenfalls eine tiefe Krise, Export und Investitionen brachen ein.

Die sozialen Auswirkungen waren verheerend. Die Einkommen der FarmerInnen sanken um rund 70 %, Millionen Betriebe mussten aufgeben. Die Massenarbeitslosigkeit traf die Lohnabhängigen mit voller Wucht. Die Arbeitslosenrate stieg von 3 % 1929 auf 24,9 % 1933 – und das ohne öffentliche Arbeitslosen-, Rentenversicherung und soziale Absicherung. Nur ein Prozent der ArbeiterInnen und Angestellten hatte eine private Versicherung abgeschlossen. Aufgrund des Zusammenbruchs der Banken verloren viele obendrein noch ihre restlichen Ersparnisse.

Auch die Organisationen der ArbeiterInnenklasse wurden Ende der 1920er Jahre und während der großen Depression in eine tiefe Krise gestürzt . Die Gewerkschaften organisierten Ende der 1920er Jahre nur noch rund 2 Millionen Lohnabhängige (gegenüber rund 4 Millionen nach der großen Streikwelle 1919), was nur rund 6 % der Beschäftigten entsprach. Zu diesem Zeitpunkt hatte die AFL-Bürokratie ihre Kontrolle über die gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen sogar noch ausgebaut und hielt hartnäckig an ihren reaktionären, berufsständischen Prinzipien fest. Auch deshalb trafen die sozialen Auswirkungen die Lohnabhängigen mit voller Wucht.

Auch wenn es schon 1932 zu wichtigen gewerkschaftlichen Kämpfen kam, so drückten sich Frustration, Wut und Empörung, aber auch die Desillusionierung von Millionen bis 1933 weniger in ArbeiterInnenkämpfen als vielmehr in lokalen Unruhen und einer Abwendung vom etablierten System aus.

Die Politik des amtierenden US-Präsidenten Herbert C. Hoover hatte sich nicht nur als vollkommen unfähig erwiesen, die Lohnabhängigen und die kleinbürgerlichen Massen vor Not, Elend und Ruin, vor Armut und Hunger zu bewahren, sondern konnte auch die herrschende Klasse nicht zufriedenstellen.

Dem Wahlsieg Roosevelts 1933 lagen also  eine grundlegende politisch-ökonomische Krise und die Unzufriedenheit aller Klassen zugrunde. Anders als Hoover erblickten er und seine BeraterInnen im Brain Trust, einer Gruppe von Wirtschafts- und RechtswissenschaftlerInnen, die maßgeblich den New Deal und seine Ausrichtung beeinflussten, die Ursachen für die Depression nicht in den Verhältnissen außerhalb der USA, sondern in inneren Problemen und Ungleichgewichten.

Die Monopolisierung der US-Wirtschaft und stagnierende Löhne hätten in den 1920er Jahren ein ökonomisches Ungleichgewicht – eine Art chronischer Unterkonsumtion – geschaffen, die durch staatliches Handeln ausgeglichen werden müsse. Der New Deal sollte Abhilfe schaffen. Erstmals verwandte Roosevelt diesen Begriff am 2. Juli 1932 in seiner Nominierungsrede: „Aus der ganzen Nation schauen Männer und Frauen auf uns, die von der politischen Philosophie der Regierung vergessen wurden, um Führung und eine gerechtere Chance auf einen Anteil am nationalen Wohlstand zu bekommen. Ich verpflichte mich zu einer Neuverteilung der Karten für das amerikanische Volk. Das ist mehr als eine politische Kampagne. Das ist ein Ruf zu den Waffen.“[iv]

Der New Deal selbst durchlief mehrere Phasen. Nach der Wahl zur ersten Präsidentschaft war Roosevelts Politik vor allem auf eine unmittelbare Stabilisierung der Wirtschaft und der sozialen Lage gerichtet. Dies umfasste eine Banken- und Finanzreform und die Abwertung des US-Dollar sowie Maßnahmen zur Stabilisierung der Agrarproduktion. Zur Bekämpfung der Deflation und Stabilisierung der Kaufkraft diente vor allem die National Recovery Administration (NRA), ein korporatistisches Projekt, das die Unternehmen auf einen Verhaltenscode verpflichten und Arbeit und Kapital zur Zusammenarbeit bringen sollte. Zu dem Maßnahmenkatalog der NRA gehörten außerdem auch Reformen, die die Rechte der LohnarbeiterInnen erweiterten – Mindestpreise und Mindestlöhne, gewerkschaftliche Organisationsrechte, die 40-Stunden-Woche und Ähnliches. Diese gingen naturgemäß vielen Unternehmen zu weit und wurde auf verschiedene Weise bekämpft. 1935 wurde die NRA vom Verfassungsgericht kassiert.

In den ersten Monaten erfreuten sich die Präsidentschaft Roosevelts und der New Deal unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise zwar einer breiten Zustimmung. Dies änderte sich jedoch bald. Einerseits betrachteten Teile der herrschenden Klasse den GND als Angriff auf ihre Privilegien, andererseits ermutigte die Politik Roosevelts auch die ArbeiterInnenklasse. Teils durch den Präsidenten und die mit ihm verbündeten Gewerkschaften vorangetrieben, vor allem durch den neu entstandenen Congress of Industrial Organizations (CIO), teils durch Bewegung von unten stiegen sowohl der Organisationsgrad wie auch die Zahl der Streiks und Arbeitskämpfe massiv. In den Jahren 1933 – 37 vervielfachte sich die Mitgliedschaft der Gewerkschaften von 2 auf 7 Millionen.

Dieses Wachstum war selbst ein Resultat der neuen Gesetze, die die Organisierung der Beschäftigten erleichterten, als auch von Arbeitskämpfen zu deren Durchsetzung auf betrieblicher Ebene. Allein 1934 traten 1,5 Millionen Lohnabhängige in den Streik, oft um ihre neue gewonnenen, legalen Möglichkeiten gegen den Widerstand von UnternehmerInnen, StreikbrecherInnen, bewaffnete Schlägergruppen und Polizeikräfte durchzusetzen. In Städten wie San Francisco, Minneapolis und Toledo kam es zu lokalen Generalstreiks.

Der Widerstand des Kapitals gegen den New Deal und die Aufhebung des NRA durch das Verfassungsgericht entfachten den Kampfeswillen der Lohnabhängigen. In den Jahren 1935 – 37 ergriffen die Kämpfe weitere zentrale Industriesektoren, und der Sitzstreik (Sit In) geriet zu einer besonders effektiven und dynamischen Kampfform.

Roosevelt selbst beunruhigten diese Entwicklungen. Nachdem das NRA aufgehoben worden war, versuchten er und seine Administration durch eine Reihe weiterer Reformen, der wachsenden Militanz der ArbeiterInnenklasse und auch der Entstehung populistischer Strömungen Rechnung zu tragen.

Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Wagner Act von 1935. Mit ihm wurde den ArbeiterInnen erneut das Recht zugestanden, Gewerkschaften zu bilden und Löhne und Arbeitsbedingungen kollektiv zu verhandeln. Das Streikrecht wurde anerkannt und Lohnabhängige durften nicht mehr wegen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft entlassen werden.

Doch auch nach der Verabschiedung des Gesetzes gingen die Kämpfe weiter, teilweise in brutaler und blutiger Form, bei der etliche ArbeiterInnen von der Polizei getötet wurden. Doch der Wagner Act umfasste nicht nur eine Reihe von Garantien für die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten. Mit ihm wurde auch das National Labour Relations Board eingeführt, das bei Arbeitskämpfen vermitteln sollte und diese Funktion auch immer mehr ausübte, nachdem sich die Einzelunternehmen mit der neuen Gesetzeslage abgefunden hatten.

Ab 1935 wurde zudem eine Reihe weiterer Gesetze eingeführt, die die Lage der ArbeiterInnenklasse verbessern sollten – so eine Sozial- und Rentenversicherung, ein Mindestlohn und das Verbot der Kinderarbeit für alle unter 16, das allerdings nicht für die schwarze Bevölkerung der Südstaaten galt.

Dass die Verbesserungen des New Deal Stückwerk blieben, verdeutlichen jedoch gerade dessen Beschränkungen und Grenzen. Der Social Security Act blieb selbst hinter den meisten damals bereits bestehenden europäischen Regelungen zurück, was unter anderem auf die Intervention des damaligen Finanzministers Hans J. Morgenthau zurückzuführen ist. So blieben LandwirtInnen, Hausangestellte und Selbstständige von der Renten- und Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen. Dies bedeutete, dass gerade die ärmsten und unterdrücktesten Schichten der Lohnabhängigen nichts von den Segnungen des New Deal abbekamen. Diese Exklusion trug darüber hinaus einen eindeutig rassistischen Charakter. 65 % aller Schwarzen waren von der Sozialversicherung faktisch ausgeschlossen, in den Südstaaten sogar 70 – 80 %.

Neben diesen beinhaltete der New Deal der 1930er Jahre auch eine Reihe von Infrastruktur- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese waren ursprünglich eigentlich eine Antwort darauf, dass die Arbeitslosigkeit trotz BIP-Wachstums weiter sehr hoch blieb. In den 1930er Jahren sank sie nie unter 14 % und nie unter die absolute Zahl von 10 Millionen. Roosevelt und die Mitglieder des Brain Trusts machten aus dieser Not eine Tugend.

1935 wurden mit der Emergency Relief Appropriation Bill erstmals Milliarden US-Dollar für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verwandt. Die Projekte wurden dabei auf Anweisung Roosevelts so konzipiert, dass sie arbeitsintensiv und langfristig sinnvoll sein sollten. Innerhalb weniger Jahre wurden so wichtige Infrastrukturprojekte in Gang gebracht, darunter eine Million Kilometer Autobahnen und Straßen, 77.000 Brücken, Bewässerungssysteme, die Elektrifizierung ländlicher Regionen und öffentliche Gebäude und Erholungseinrichtungen wie Schwimmbäder oder Parks.

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren weit davon entfernt, ein Wohlfahrtsprogramm für die Lohnabhängigen darzustellen. Roosevelt persönlich bestand vielmehr darauf, dass die ArbeiterInnen bei diesen Projekten schlechter bezahlt werden mussten als jene in der Privatwirtschaft.

Auch wenn die Infrastrukturprojekte gegen den Widerstand einzelner Kapitalgruppen durchgesetzt wurden, entsprachen sie insgesamt den längerfristigen Interessen der besitzenden Klasse. Der Staat agierte als ideeller Gesamtkapitalist und leistete einen massiven Anschub zur Erneuerung der allgemeinen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen in den USA, also essentieller Voraussetzungen für eine anhaltende erweiterte Reproduktion des nationalen Gesamtkapitals.

Dennoch führte der New Deal während der 1930er Jahre keineswegs zu einer Wiederherstellung eines dynamischen, expansiven Gleichgewichts der US-Ökonomie. Nicht nur die Arbeitslosigkeit blieb chronisch hoch. Die Maßnahmen des New Deal wurden durch eine Erhöhung der Staatsverschuldung erkauft. Wie sehr die US-Wirtschaft auf die staatliche Nachfrage angewiesen war, verdeutlicht die reale Entwicklung. Nachdem Roosevelt 1936 das Haushaltsdefizit etwas senken konnte, schlitterte die Wirtschaft 1937 in eine Krise.

Der Grund dafür liegt im Charakter des New Deal selbst begründet. Damit er als Programm funktionieren konnte, bedurfte es nicht nur der Erneuerung der Infrastruktur des US-Kapitalismus. Um ein neues Akkumulationsregime samt höherer Profitraten und einer Neujustierung des Verhältnisses zwischen den Klasse etablieren zu können, mussten nicht nur innere, sondern vor allem äußere Bedingungen geschaffen werden, die eine Überwindung der strukturellen Krise des US-Kapitalismus erlaubten: Der New Deal hatte letztlich nur Aussicht auf Erfolg als Bestandteil eines umfassenderen Programms zur Neuordnung der Welt.

In seiner Schrift „Marxismus in unserer Zeit“[v] unterzieht Trotzki den New Deal einer Analyse. Er verweist dabei auf den aristokratischen Charakter dieser Politik, die im Grunde nur für reiche, imperialistische Nationen möglich ist.

„Die Politik des New Deal, die die imperialistische Demokratie durch Bestechung der Arbeiter- und Farmer-Aristokratie zu retten sucht, steht im großen Stil nur den sehr reichen Nationen offen; in diesem Sinn ist sie die amerikanische Politik par excellence. Die amerikanische Regierung hat versucht, einen Teil der Kosten dieser Politik auf die Schultern der Monopolisten abzuladen, indem sie diese ermahnte, die Löhne zu erhöhen und die Arbeitszeit zu verkürzen und so die Kaufkraft der Bevölkerung zu heben und die Produktion zu erweitern.“[vi]

Trotzki berührt hier einen entscheidenden Punkt bezüglich des Klassencharakters des New Deal, der versucht, die oberen aristokratischen Schichten der ArbeiterInnenklasse zu integrieren, nicht jedoch die Gesamtheit der Lohnabhängigen. Auch ließ der New Deal die Jim-Crow-Gesetze, also die Politik der sog. Rassentrennung, unberührt. Der Ausschluss der schwarzen Massen stellte den politischen Preis für die Unterstützung des New Deal durch die demokratischen Abgeordneten aus den Südstaaten dar. Doch die Bedeutung dieses Ausschlusses ist weit grundlegender.

Die Politik der Klassenzusammenarbeit, des Korporatismus, wie sie der New Deal einleitet und wie sie den westlichen Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg prägen wird, entspricht einer Politik der Integration der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Staat. Sie kann ihrer eigenen Natur nach nicht auf die gesamte Klasse der Lohnabhängigen ausgedehnt werden, sondern setzt vielmehr eine imperiale und rassistische Spaltung der Arbeitskraft im Inneren wie erst recht auf globaler Ebene voraus und reproduziert diese, wenn auch in unterschiedlichen Formen.

Auch auf diesen Zusammenhang verweist Trotzki schon 1939: „Natürlich sind die sich auftürmenden Staatsschulden eine Hypothek für die Nachwelt. Aber der New Deal selbst war nur möglich auf Grund des von den früheren Generationen aufgehäuften Reichtums. Nur eine sehr reiche Nation kann sich eine solche Politik der Verschwendung erlauben. Aber auch eine derartige Nation kann nicht unbegrenzt fortfahren, auf Kosten vergangener Generationen zu leben. Die New Deal-Politik mit ihren eingebildeten Großtaten und ihrem sehr realen Steigen der Staatsschulden ist unvermeidlich dazu verurteilt, in wilder kapitalistischer Reaktion und in einer verheerenden Explosion des Imperialismus zu gipfeln.“[vii]

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also durch den Sieg über die imperialistischen RivalInnen, die Vernichtung überschüssigen Kapitals, die Etablierung hoher Ausbeutungs- und Profitraten, die Neuordnung des Weltmarktes und des Weltwirtschaftssystems unter Vorherrschaft der USA, des US-Dollar und des Bretton-Woods-Systems, können die Maßnahmen des New Deal Teil eines Ganzen werden, das eine dynamische Expansion des Kapitalismus über mehrere Zyklen erlaubt – und somit auch eine stabile Integration der ArbeiterInnenaristokratie und sogar breiterer Schichten der ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Zentren. Hier wird deutlich, dass der New Deal eine Politik im Interesse der herrschenden Klasse war, die jedoch einzelnen konkurrierenden Kapitalen selbst aufgezwungen werden musste:

„Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts ,New Deal’; sogar Trumans ‚Fair Deal’ wurde mit nicht wenig Geschrei über ‚schleichenden Sozialismus’ beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen – hauptsächlich der Industriearbeiterschaft – die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar gesellschaftlich und politisch in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war.“[viii]

Vom Klassencharakter des New Deal wie auch von seinen historischen Voraussetzungen wollen die heutigen ParteigängerInnen dieser Politik aus verschiedenen Lagern – vom bürgerlichen Linksliberalismus bis zu den „demokratischen SozialistInnen“ in den USA oder in der europäischen Linkspartei – nichts wissen.

Vielmehr negieren die VertreterInnen des GND dessen Klassencharakter und stellen ihn vielmehr als Politik im Interesse der gesamten Gesellschaft oder gar der ArbeiterInnenklasse dar, an die es heute anzuknüpfen gelte.

Sie abstrahieren dabei nicht nur von den Krisen und Kämpfen der 1930er Jahre und vom imperialistischen Charakter der US-Politik im Zweiten Weltkrieg. Sie abstrahieren auch  davon, dass der Einbindung von Elementen des New Deal in die US-geführte Nachkriegsordnung  eine historisch einzigartige Kapitalvernichtung vorausgehen musste und ein Weltkrieg, der überhaupt erst eine neue Periode der Kapitalakkumulation im Weltmaßstab möglich machte.

Das überschüssige US-Kapital hätte ohne Krieg und Neuordnung der Welt auf Kosten der geschlagenen imperialistischen und verbündeten RivalInnen, ohne Sieg über den deutschen und japanischen Imperialismus und ohne Aufbrechen der britischen und französischen Kolonialreiche nie die erforderlichen Anlagegebiete gefunden. Nur durch Errichtung der US-Hegemonie im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegsperiode bis Ende der 1940er Jahre konnten die realen Bedingungen für die Expansion des Kapitalismus geschaffen werden.

Die VertreterInnen des GND müssen jedoch von diesen Voraussetzungen absehen, weil sie mit dem Bezug auf den New Deal zeigen wollen, dass eine solche Politik voraussetzungslos sei, dass sie unabhängig von der Akkumulationsdynamik des Kapitals und der internationalen Ordnung gewissermaßen jederzeit durchgeführt werden könnte, wenn nur der politische Wille vorhanden wäre.

Die ApologetInnen des New Deal in der heutigen reformistischen und kleinbürgerlich-radikalen Linken interpretieren ihn darüber hinaus als eine quasi antikapitalistische Politik, weil sie sich auch gegen wichtige Monopole und Konzerne wandte. Sie übersehen dabei, dass der Widerspruch zwischen den kurzfristigen Profitinteressen der Einzelkapitale und den langfristigen des Gesamtkapitals selbst ein notwendiges Element der Kapitalbewegung darstellt, der in Krisenperioden offen und sichtbar als politische Krise der Bourgeoisie und der Gesellschaft, als innerer Konflikt des Kapitals hervortritt. Genau das meint beispielsweise Lenin, wenn er davon spricht, dass eine revolutionäre Krise davon gekennzeichnet sei, dass die Herrschenden nicht mehr so regieren könnten wie bisher.

Diese Lage führte überhaupt erst dazu, dass das Programm Roosevelts und des Brain Trusts zu einer staatlichen Politik werden konnte. Diese musste jedoch in langjährigen Kämpfen gegen den Widerstand von Einzelkapitalen durchgesetzt werden.

Aufgrund der Verelendung breiter Massen und der Lage der ArbeiterInnenklasse konnte sich Roosevelt dabei auf ein Bündnis mit den Gewerkschaften, genauer mit Teilen der Gewerkschaften und ihres Apparates stützen. Die ökonomische Lage erforderte drastische Maßnahmen, um überhaupt die Reproduktion der Lohnabhängigen zu sichern und somit auch eine ausreichend qualifizierte und arbeitsfähige ausgebeutete Klasse dem Kapital zur Verfügung zu stellen. Die Verringerung der Arbeitszeit und die Erhöhung der Löhne sollten letztlich durch andere Mittel zur Erhöhung der Profitrate (Produktivitätssteigerung, Verringerung der Kosten für Transport, Infrastruktur, Extraprofite auf dem Weltmarkt) ausglichen werden.

Insofern trugen die Klassenkämpfe der 1930er Jahre auch einen zwiespältigen Charakter. Einerseits drückten sie eine potentiell revolutionäre Erschütterung des US-Kapitalismus aus, eine Zunahme des Klassenkampfes, der deutlich machte, dass auch die „unten“ nicht mehr so leben wollten wie bisher.

Zugleich ordneten sich die Gewerkschaftsführungen in diesen Jahren faktisch immer der Führung Roosevelts und der Demokratischen Partei unter. Ihre teilweise überaus militant geführten Kämpfe bargen zweifellos das Potential, über die Grenzen des New Deal und einer Modernisierung des US-Kapitals hinauszugehen. Dies hätte aber eine Überwindung des vornehmlich nurgewerkschaftlichen Kampfes erfordert – und somit einen politischen Bruch mit den US-DemokratInnen und mit Roosevelt, den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenpartei, die sich auf die gewerkschaftliche und betriebliche Militanz stützt. Doch hätte eine solche Partei  nicht nur auf gewerkschaftlicher Ebene die US-Bourgeoisie bekämpfen müssen, sondern beispielsweise auch  den dem New Deal  inhärenten Rassismus. Sie hätte den New Deal als das betrachten müssen, was er war  – ein Programm zur Rettung des US-Imperialismus. Daher hätte eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei vor allem auch die US-amerikanische imperialistische Politik bekämpfen müssen. Genau dies taten die Gewerkschaften und vor allem ihre Führungen nicht. Spätestens mit dem Kriegseintritt wurden sie zu patriotischen Verteidigerinnen des demokratischen Imperialismus und seiner Weltmachtambitionen.

Und die heutigen ParteigängerInnen des ND wollen von all dem nicht nur nichts wissen. Sie stellen vielmehr die politische Unterstützung Roosevelts als vorbildlich hin. Sie behaupten nämlich, dass es möglich wäre, den bürgerlichen Staat zu Reformen für die ArbeiterInnenklasse zu nutzen und den Einfluss des Kapitals zurückzudrängen.

So wird der damalige Opportunismus auch heute gefeiert, während die Kritik am New Deal als „Sektierertum“ gebrandmarkt wird. Dafür reicht schon, den New Deal als bürgerliches Programm zur Rettung des Kapitalismus zu charakterisieren, wie es die TrotzkistInnen und RätekommunistInnen und sogar die stalinisierte KP in den 1930er Jahren taten.

Das Abfeiern des New Deal soll vor allem darauf einstimmen, dass seine grüne Neuauflage, sollte sie je verwirklicht werden, ähnliche Bündniskonstellationen erfordern wird.

Der bürgerliche GD/GND

Staats- und Regierungschefs wie Biden, von der Leyen, Scholz, Macron oder Xi eignen sich allerdings nicht gut als zeitgenössische Roosevelts. Das ficht die VertreterInnen des GND aber nicht oder nur bedingt an. Schließlich schwankte auch die US-Regierung in den 1930er Jahren und musste durch Gewerkschaften und Druck von unten zum Handeln gezwungen werden. Von den US-DemokratInnen, von der europäischen Sozialdemokratie oder den Grünen mag zwar keine konsequente sozialökologische Transformation erwartet werden. Aber wenn es eine linke Partei oder Bewegungen gäbe, die genügend gesellschaftlichen Druck entfalteten, könnten sie zum „vernünftigen“ Handeln gedrängt werden und der bürgerliche Staat zu einem Instrument sozialer und ökologischer Transformation mutieren.

Schließlich erkennen mittlerweile fast alle Regierungen und auch zahlreiche führende UnternehmensvertreterInnen die Realität der ökologischen Probleme an – und damit scheinbar auch die Notwendigkeit des Handelns. Vor diesem Hintergrund, so die Kalkulation der AnhängerInnen eines „echten“ Green New Deal, könnten auch die EU-Kommission, die Regierungen Deutschlands und der USA vom fossilen Saulus zum nachhaltigen Paulus mutieren. Wer lieber auf den chinesischen Imperialismus als alternatives Modell staatsinterventionistischer Politik setzt, kann seine Hoffnungen auf die Erneuerungspläne Pekings projizieren, auch wenn diese zur Zeit noch in den Kohlegruben des Landes lagern.

In diesem Abschnitt wollen wir daher kurz die proklamierten Klimaziele und Strategie der wichtigsten imperialistischen Regierungen oder Staatenbündnisse wie der EU sowie der Grünen skizzieren, um deren wesentliche Aspekte herauszuarbeiten.

USA

Zuerst betrachten wir das Programm der USA. Nach seiner Wahl zum Präsidenten verkündete Joe Biden bekanntlich eine Wende in der Klimapolitik. Auch auf diesem Gebiet wolle das Land nach den Jahren unter Trump wieder zum Vorreiter werden.

So verkündete er ein massives zwei Billionen US-Dollar schweres Programm, das  verschiedene Bereiche der US-Wirtschaft stimulieren und die Beschäftigung erhöhen soll. Einen damit verbundenen Teil bildet auch der „Clean-Energy Plan“. Insgesamt sah das Biden-Programm ursprünglich vor:

  • Die US-Infrastruktur soll massiv aufgebaut werden: Straßen und Brücken, Wasserversorgungssysteme, Strom- und Breitbandnetze sollen saniert oder verbessert werden.
  • Eine Million Jobs sollen in der Autoindustrie und bei ihren ZuliefererInnen geschaffen werden, dabei liegt der Schwerpunkt auf Elektroautos.
  • Alle Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern sollen mit emissionsfreien öffentlichen Transportmitteln ausgestattet werden.
  • Millionen Arbeitsplätze sollen auch durch Investitonen in den Energiesektor geschaffen werden, der bis 2035 saubere Energie „made in America“ ohne Emissionen erreichen soll.
  • Investitionen in die energetische Sanierung von vier Millionen Gebäuden und der Bau von 1,5 „Millionen nachhaltigen“ Häusern und Wohnungen sollen zur Jobmaschine werden.[ix]

Auf den ersten Blick erscheint das ursprünglich geplante Programm Bidens sehr umfangreich. Rund die Hälfte der im sog. Recovery Act anvisierten 2 – 2,7 Billionen US-Dollar sollten zur Umrüstung der US-Wirtschaft auf Klimaneutralität verwendet werden. Die Summe erscheint jedoch schon deutlich geringer, wenn man bedenkt, dass die Ausgaben über 8 Jahre verteilt werden. Aufgrund des Widerstandes der RepublikanerInnen und der Konzession der neuen Administration ist mittlerweile die Hälfte schon kassiert, aus über zwei Billionen wurde eine. Ähnliches gilt, nebenbei bemerkt, für die Sozial- und Arbeitsbeschaffungsprogramme.

Vergessen wird zudem, dass der Umfang des Umweltprogramms weit hinter dem zurückbleibt, was ÖkonomInnen für notwendig halten, um eine Volkswirtschaft von der Größe der USA bis 2050 umzurüsten, nämlich rund 5 – 7 % des BIP pro Jahr. Das Biden-Programm kommt hier dem Topfen auf den heißen Stein gleich:

„Großzügig geschätzt, ist etwa die Hälfte der zwei bis 2,7 Bill. für die Bewältigung der Klimakrise bestimmt. Verteilt man eine bis 1,3 Bill. über acht Jahre, kommt man auf etwa 0,5 Prozent des derzeitigen Bruttoinlandsprodukts jährlich. Das liegt weit unter jeder vernünftigen Schätzung des für die Dekarbonisierung benötigten Investitionsvolumens. Das Lager von Bernie Sanders verlangte, unterstützt von der 350.org-Kampagne des Aktivisten Bill McKibben, 16,3 Bill. Dollar. Die Thrive-Act-Initiative, die von Gruppen aus dem Umfeld des Green New Deal unterstützt wird, fordert zehn Bill. Dollar, von denen achtzig Prozent vor allem der Klimapolitik zufließen sollen.“[x]

Vergleicht man außerdem die konkreten Reformvorhaben der US-Regierung, so fällt auf, dass sie auf vielen Gebieten weit hinter ihren imperialistischen RivalInnen zurückliegen und wohl auch weiter zurückfallen werden – selbst wenn Bidens Pläne umgesetzt würden. Dazu 2 Beispiele:

  • China verfügt über ein Hochgeschwindigkeitsnetz für Züge in der Länge von 19 000 Kilometern, die USA über eines von – 500 Kilometern! Selbst wenn das gesamte Biden-Programm für den Ausbau der Schiene verwendet würde, würde das nicht reichen, um China einzuholen.
  • Für die Umstellung auf E-Autos plant die US-Regierung, bis Ende 2030 im ganzen Land 500 000 Ladestationen zu errichten. Das scheint viel, ist aber wenig im Vergleich zu China (3 Millionen) oder Deutschland (eine Million). Lassen wir einmal den problematischen Charakter der E-Mobilität als „Lösung“ der Verkehrsproblematik beiseite, so lässt sich anhand solcher Zahlen ermessen, wie ernst es der US-Regierung mit dem Ausstieg aus den fossilen Energieträgern wirklich ist.

Da sich die Regierung Biden nicht einmal im begrenzten Maße wie einst Roosevelt mit US-Unternehmen anlegen will und sie fürchten muss, die Mehrheiten im Kongress und Senat bei den Wahlen 2022 zu verlieren, sind große Taten auf diesem Gebiet wie bei anderen Reformvorhaben nicht zu erwarten.

Die „Lösung“ des Problems? Ganz einfach: Die staatlichen Ausgaben sollen nur einen Bruchteil der Summen ausmachen, die in „grüne“ Anlagen fließen. Sie sollen gewissermaßen nur als Funke wirken, der ein regelrechtes Investitionsfeuerwerk entfachen soll. Die staatlichen Ausgaben würden so als Multiplikatorinnen wirken – und schon löst sich das ganze Problem. Wer braucht schon Staatsintervention, wenn Kredite und Finanzmärkte für die notwendigen Investitionen zur Entwicklung neuer, grüner Märkte sorgen sollen?

Es bleibt also entweder die Hoffnung darauf, dass es ausgerechnet die Finanzmärkte richten. Damit diese nicht zuerst stirbt, muss die Regierung allerdings nachhelfen. Sie muss garantieren, dass die nachhaltige Investition vor allem profitabel, genauer profitabler ist als jene in traditionelle, auf fossilen Trägern basierende Produktion.

Das ist nicht nur von ökologischer Nachhaltigkeit weit entfernt. Es stößt auch beständig an die Grenzen der aktuellen Akkumulationsdynamik des Kapitalismus. Die chronische Überakkumulation von Kapital ist es ja gerade, die Investitionen in spekulative Anlagen, in Finanzgeschäfte fließen lässt. Die InvestorInnen und großen Player auf diesen Anlagemärkten vergleichen Gewinnerwartungen zwischen den einzelnen Sphären, um eine möglichst hohe und möglichst sichere Rendite einzufahren. Damit das Kapital also in ökologische Modernisierung fließt, müsste diese daher, wie bei jeder anderen Anlagesphäre, mit überdurchschnittlichen Gewinnerwartungen aufwarten. Dies wiederum erfordert Expansion, wachsenden Markt und hohe Ausbeutungsraten in der sog. Zukunftsbranche.

Gigantische Investitionen in erneuerbare Energien, in Infrastruktur usw., die über den Finanzmarkt vorfinanziert werden, werden zudem logischerweise zum spekulativen Markt, der alles Mögliche bewerkstelligen mag – aber sicher keine gezielte, effektive und ressourcensparende ökologische Umrüstung, weil die stoffliche Seite der Investition wie im Kapitalismus allgemein, so auf den Finanzmärkten in besonders drastischer Form, nur Mittel zum Zweck ist.

Hinzu kommt außerdem, dass eine Umrüstung der gesamten US-Wirtschaft auf „Nachhaltigkeit“ notwendigerweise das Ende oder wenigstens die Reduktion ganzer Produktionszweige (Öl, Gas, Bergbau) bzw. die Umstellung ganzer Sektoren usw. erfordern würde. Unter privatkapitalistischen Bedingungen schließt das die Vernichtung von bestehendem Kapital ein. Und das will die Regierung Biden nicht, jedenfalls nicht in den USA. Ökologische Erneuerung ist gut, aber sie darf die Profite der großen US-Kapitale – und das heißt natürlich auch der Ölmultis, der Autoindustrie usw. – nicht beschneiden. Ebenso wenig soll die internationale Konkurrenz die US-Konzerne auf dem Gebiet neuer, grüner Technologien ausstechen. Daher führt eine ökologische „Runderneuerung“ der KonkurrentInnen auf dem Weltmarkt gerade unter den aktuellen Bedingungen unvermeidlich zu einem ruinösen Wettbewerb zwischen den verschiedenen nationalen Kapitalen darum, wer bei der Neuorganisation des Weltmarktes die Nase vorn hat. Dieser muss nicht nur früher oder später zur Vernichtung der auf dem Markt unterlegenen Konkurrenz oder zur Austragung ebendieser mit außerökonomischen Mitteln führen, sondern resultiert logischerweise in einer Überakkumulation in diesen Sektoren samt Überproduktion, da unter Bedingungen der kapitalistischen Konkurrenz nicht in das ökologisch sinnvollste oder nachhaltigste Produkt, sondern in das mit den größten Profiterwartungen investiert wird.

Selbst wenn das Biden-Programm zum Klimaschutz voll umgesetzt würde, würde es am anarchischen Charakter des Kapitalismus nichts ändern, würde es in vielfacher Hinsicht das Problem verschärfen und den Output der US-Wirtschaft weiter erhöhen – also die ökologischen Folgewirkungen weiter verschärfen.

EU

So wie die US-Regierung ihren Green Deal hat, so auch ihre Konkurrenz. Unter der Kommissionspräsidentin von der Leyen erklärte die Europäische Union den Green Deal zur eigenen Kernstrategie. Getragen wird er von einer ganz großen Koalition aus Konservativen, Liberalen, Grünen und Sozialdemokratie. Folgen wir der Selbstdarstellung der Kommission, so liest sich das folgendermaßen:

„Klimawandel und Umweltzerstörung sind existenzielle Bedrohungen für Europa und die Welt. Mit dem europäischen Grünen Deal wollen wir daher den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft schaffen, die

  • bis 2050 keine Netto-Treibhausgase mehr ausstößt,
  • ihr Wachstum von der Ressourcennutzung abkoppelt,
  • niemanden, weder Mensch noch Region, im Stich lässt.

Der europäische Grüne Deal führt uns auch aus der Corona-Krise: Ein Drittel der Investitionen aus dem Aufbaupaket NextGenerationEU und dem Siebenjahreshaushalt der EU mit einem Umfang von insgesamt 1,8 Billionen EUR fließt in den Grünen Deal.“[xi]

Wie alle grünen Wirtschaftsprogramme fehlt es auch bei jenem der EU nicht an philanthropischen Beschwörungsformeln. Niemand soll im Stich gelassen werden: Davon können nicht nur die Geflüchteten  an den EU-Außengrenzen ein Lied singen, sondern auch Millionen Arbeitslose und prekär Beschäftigte.

Wie die US-Regierung setzt auch die EU auf die Hebelwirkung ihres Förderprogramms, um Investitionen in den Umweltsektor zu fördern. Mit der Taxonomie-Verordnung vom 18. Juni 2020 wurde die weltweit erste „grüne Liste“ für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten geschaffen, gewissermaßen ein offizielles Gütesiegel für Anlagen mit wirklichen oder jedenfalls behaupteten positiven Klima- und Umweltauswirkungen. Darüber hinaus hat die EU auch einen Fonds von 150 Milliarden Euro aufgelegt, um Regionen mit überdurchschnittlich hohem Verbrauch fossiler Energie den Übergang zu nachhaltigen zu subventionieren.

Anders als das aktuelle Biden-Programm setzt die EU auf die CO2-Bepreisung, um über diesen Mechanismus Konsum und Investitionen in grüne Produkte und Wirtschaftszweige zu stimulieren.

Ähnlich wie die USA – und alle anderen imperialistischen Staaten mit einem riesigen Kapitalstock – steht freilich auch die EU vor dem gigantischen Problem, die eigenen industriellen Konzerne und die Infrastruktur auf „Nachhaltigkeit“ umzurüsten. Dabei sollen die bestehenden Kapitalien nicht nur erhalten, sondern möglichst auch noch zu WeltmarktführerInnen in den neuen, grünen Branchen entwickelt werden.

Fazit

Alle Programme zur Erreichung der Klimaziele (Green Deal … ) der Großmächte – und das gilt auch für China, Japan oder andere imperialistische Konkurrenz von USA und EU – sind wesentlich solche zur Erneuerung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals der jeweiligen Nationen oder Blöcke. Sie unterscheiden sich natürlich angesichts der verschiedenen Herrschaftsformen, inneren Kräftekonstellationen und historischen Voraussetzungen, der Zusammensetzung der jeweiligen Kapitale wie auch ihrer Stellung in der globalen Konkurrenz.

Bei der grünen Erneuerung geht es daher vor allem darum, das eigene nationale Kapital so umzustrukturieren, dass es sich als produktiver und konkurrenzfähiger als die anderen erweist, es seine Stellung auf den internationalen Märkten ausbaut – und das notwendigerweise auf Kosten der anderen.

Daher sind alle Programme des Green Deal wesentlich nationale Wirtschaftsprogramme – nicht bloß in dem Sinne, dass ein Nationalstaat die Rahmenbedingungen( gesetzlichen Rahmen und Regularien für eine Umstrukturierung der Wirtschaft) setzt, überwacht oder  ökologisches Handeln mit wirtschaftlichen Anreizen oder Sanktionen herbeizuführen trachtet. Vor allem geht es darum, dass sich die jeweiligen Großkapitale als führende, als Champions auf dem Weltmarkt bewähren, also die Konkurrenz aus den anderen Blöcken übertreffen.

Die Aufgabe des imperialistischen Staates (oder eines Staatenbundes) besteht darin, genau diese überlegende Konkurrenzfähigkeit herzustellen und das Zurückbleiben der eigenen großen Konzerne zu verhindern. Solange die Aussicht auf eigene Überlegenheit besteht, erscheint der Green Deal als Zukunftskonzept für das Gesamtkapital. Doch genau aus denselben Gründen muss früher oder später auch auf die Bremse getreten werden. Die Rettung der Erde soll schließlich nicht auf Kosten des eigenen Kapitals oder der eigenen imperialen Ambitionen gehen. Besser ist es, in der fossilen Hölle zu herrschen, als im nachhaltigen Himmel zu dienen.

Vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation, einer verschärften Konkurrenz auf dem Weltmarkt und eines Kampfes um die Neuaufteilung der Welt kann von einem ausgewogenen, geplanten Umbau der Ökonomie im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit erst recht nicht die Rede sein.

Im Gegenteil. Die Fragen der Dominanz der Ökonomie und des Weltmarktes sowie der Halbkolonien durch das Großkapital (neuer Formen des Finanzkapitals, Großindustrie, Multis, Agrarkonzerne) taucht im kapitalistischen ökologischen Diskurs selbst als Aspekt imperialistischer Politik, der Sicherung grüner Rohstoffe und als Investitionsprojekt auf. Die Verpreisung der Umweltpolitik, der Zertifikathandel, ist dafür nur ein Beispiel.

Die Hilfen für die ärmsten Länder, die eigentlich 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr betragen sollen, existieren bis heute nur auf dem Papier. Wo es welche auf bilateraler Ebene gibt, nehmen sie die Form von Almosen oder Exportförderung für InvestorInnen aus den finanzstarken Ländern an.

Alle Ideologien bürgerlicher Umweltpolitik kennzeichnet eine Abstraktion von den grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüchen des Kapitalismus. Dessen innerer Zwang zur immer größeren Aneignung fremder Arbeit zur Vermehrung des Profits, der daraus resultierenden stetigen Ausdehnung des Kapitals und damit auch der Produktionsmittel und des Outputs spielt nicht nur keine Rolle. Er muss notwendigerweise negiert werden, beispielsweise in Phantasien von einem kapitalistischen Wachstum ohne Ausdehnung der Produktion und Ausbeutung. Dies mag zwar für einige Zeit in Form der Ausweitung fiktiven Kapitals möglich sein. Grundsätzlich ist das auf dem Boden des Kapitalismus aber ausgeschlossen. Da der ganze Zweck der Produktion und jeder anderen wirtschaftlichen Tätigkeit für das Kapital darin besteht, sich Mehrwert in Form von Profit anzueignen, dessen Rate und Masse zu erhöhen, bedarf es notwendigerweise auch der stetigen Suche nach neuen Feldern zur Ausbeutung der Lohnarbeit. Da mehr Lohnarbeit aber ohne mehr und neue Produktionsmittel nicht in Bewegung gesetzt werden kann, müsste das Kapital dem eigentlichen Zweck seiner Betätigung entsagen, müsste aufhören, Kapital zu sein.

Die IdeologInnen des Green Deal müssen daher notwendigerweise nicht nur das Wesen des Kapitalismus negieren. Sie müssen die Frage der Nachhaltigkeit letztlich als technische begreifen, als Frage der Innovation, der „richtigen“ Lenkung von Angebot und Nachfrage. Rezessionen, Einbrüche, ja selbst die Umweltzerstörung gelten allenfalls als Exzesse, als Betriebsunfälle der Marktwirtschaft, der es mit etwas staatlicher Unterstützung und richtigem Konsumverhalten auf die Sprünge zu helfen gelte. Der Kapitalismus gilt einfach als die natürliche und beste Ordnung der Welt, die nur noch besser und so nachhaltig gemacht werden soll, dass sie ewig hält.

Allenfalls braucht es ergänzende Maßnahmen der Steuerpolitik, der sozialen Abfederung, um die Ärzte und Ärztinnen am Krankenbett des Kapitalismus, die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, an Bord zu halten.

Wie auch der New Deal stellt der Green Deal ein Programm zur Rettung des Kapitals dar. Wie der New Deal stellt er ein nationales Programm dar. Internationale Zusammenstöße und der Kampf um die Kosten der Klimakatastrophe bilden dabei einen integralen Bestandteil der imperialistischen Dominanz der ärmeren Länder wie auch der imperialistischen Konkurrenz.

Anders als der New Deal vermag der Green Deal wie jedes kapitalistische Umweltprogramm jedoch eines nicht: Das Problem, das er zu lösen vorgibt, irgendwo zu meistern. Der New Deal bzw. das Akkumulationsmodell, auf das er sich bezog, konnten nach der Etablierung des Nachkriegsordnung zu für mehrere Weltmarktzyklen dominierenden Modellen werden (Sozialstaat), weil es mit den Akkumulationsbedingungen des Kapitals nicht nur vereinbar war, sondern für eine bestimmte Periode sogar ermöglichte, die kapitalistische Expansion auf der Basis des relativen Mehrwerts mit einer Ausdehnung des Konsums der ArbeiterInnenklasse zu vereinbaren. Unter bestimmten, historischen Voraussetzungen erwies sich dieses Akkumulationsregime sogar als das günstigste für das Gesamtkapital der wichtigen imperialistischen Länder. Mit dem Ende des sog. langen Booms und mit der Krise der frühen 1970er Jahre ist diese Phase jedoch unwiederbringlich vorbei.

Der New Deal erwies sich für eine bestimmte Periode vor allem als ein Instrument, die Akkumulationsbedingungen des Kapitals zu verbessern. Diese Komponente inkludiert auch der Green Deal.

Sie steht aber in einem unauflösbaren Widerspruch zum eigentlich proklamierten Ziel ökologischer Nachhaltigkeit. Diese ist, wie oben kurz skizziert, auf der Basis einer kapitalistischen Marktwirtschaft grundsätzlich unmöglich. Die kann nicht einfach besser reguliert werden. Sie muss vielmehr durch eine demokratische Planwirtschaft ersetzt werden. Nur so können eine globale Wirtschaftsweise gemäß den Bedürfnissen der Menschen und eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft reorganisiert werden. Ziele und Umfang der gesellschaftlichen Gesamtarbeit müssen und können unter diesen Voraussetzungen bewusst bestimmt, das Was und Wie von Produktion und Reproduktion so festgelegt werden, dass die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit reproduziert werden können. Dazu ist der Kapitalismus grundsätzlich nicht in der Lage.

Das Programm der Grünen

Als Beispiel der ideologischen Verkleisterung wollen wir nicht liberale, konservative Umweltpolitik heranziehen, sondern das Wahlprogramm der deutschen Grünen.

Unter dem Titel „Deutschland. Alles ist drin.“[xii] versprechen sie nicht nur eine Klimaregierung und eine Kanzlerin, sondern auch allen Klassen und Schichten das Blaue vom Himmel.

Das erste Kapitel „Lebensgrundlagen schützen“ stellt uns einen klimagerechten Wohlstand, Versorgungssicherheit mit Erneuerbaren, nachhaltige Mobilität, ein gutes Leben für alle sowie eine Stärkung von Bauern, Bäuerinnen und deren Tieren in Aussicht. Diese Versprechungen werden in weiteren Abschnitten auf allen möglichen Ebenen ergänzt. So wollen die Grünen für faire Löhne und Gehälter sorgen, Kinder, Jugendliche und Familien fördern, Gerechtigkeit zwischen  Geschlechtern schaffen und soziale Netzwerke sichern.

Gleichzeitig wollen sie Unternehmensgeist, Wettbewerb und Ideen stimulieren, dem Markt einen sozialökologischen Rahmen verleihen, die Digitalisierung voranbringen, die Finanzmärkte stabiler und nachhaltiger gestalten sowie die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden.

Mehr als alle anderen stehen die Grünen für ein Konzept zur Überwindung der gegenwärtigen Krise: den Green New Deal. Diese „sozialökologische Transformation“ soll nicht weniger leisten als die Lösung der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und demokratischen Herausforderungen unserer Zeit. Dazu müssten nur alle anpacken und von den Grünen lernen: „Als Gesellschaft haben wir den Schlüssel für so vieles schon in der Hand. Wir wissen, wie man eine Industriegesellschaft sicher ins Zeitalter der Klimaneutralität führt. Wie man dafür den Kohleausstieg beschleunigt und Versorgungssicherheit gewährleistet, wie viel mehr Strom aus Wind und Sonne gewonnen werden kann. Wir wissen, wie man eine sozialökologische Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt, wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und Tech-Konzerne angemessen besteuert. ( … ) Wir sind in der Lage und fest entschlossen, Europa als Wertegemeinschaft demokratisch zu stärken und im globalen Systemwettbewerb gerechter und handlungsfähiger zu machen.“[xiii]

Die Frage, ob eine sozialökologische Umgestaltung im Kapitalismus an Systemgrenzen stößt, stellt sich für die Grünen im Unterschied zu linkeren Versionen des Green New Deal erst gar nicht. Kein Wunder also, dass die Umverteilungsvorschläge, also die soziale Komponente des Deals, auf den 137 Seiten des Programms dünn und vage ausfallen.

So versprechen die Abschnitte zu Arbeit, Löhnen und sozialen Netzen wenig mehr, als dass alles „sozialer werden“ solle. Hartz IV soll zwar durch eine „Grundsicherung“ ersetzt werden, über deren Höhe schweigen sich die Grünen aber aus. Das Rentenniveau soll auf gerade 48 % gehalten werden, das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren festgeschrieben bleiben, also beim erreichten Stand an Verschlechterungen der Großen Koalition. Der Mindestlohn soll auf gerade mal 12 Euro angehoben werden. Armut verhindert das Programm der Grünen trotz gegenteiliger Beteuerung also längst nicht.

Statt einer generellen Arbeitszeitverkürzung soll Vollbeschäftigung durch einen flexiblen Arbeitszeitkorridor von 30 – 40 Stunden pro Woche erreicht werden, ohne Lohnausgleich natürlich. Damit das alles auch weiter friedlich und reguliert über die Bühne geht, soll die SozialpartnerInnenschaft gestärkt werden. Schließlich versprechen die Grünen zur Milderung der Wohnungsnot neben einer Zügelung der Wohnungsspekulation und „fairen Mieten“, ganz wie alle tradierten bürgerlichen Parteien, die Erleichterung des Erwerbs von Wohneigentum.

Betrachten wir die sozialen Versprechungen, entpuppen sich jene der Grünen als bescheidener als jene des sogenannten ArbeitnehmerInnenflügels von CDU/CSU. Die Armen sollen etwas weniger arm werden – darin erschöpft sich die grüne Transformation. Andere Forderungen nach sozialer Absicherung oder nach Ausbau des Bildungswesens, Verbesserung der Digitalisierung usw. sind vor allem Versprechungen gegenüber bessergestellten Teilen der Lohnabhängigen und den bildungsbürgerlichen Mittelschichten, also der Kernklientel der Grünen, und natürlich auch dem Kapital, das besser qualifizierte Arbeitskräfte braucht.

Noch unbestimmter und zahmer erweisen sich die Umverteilungsforderungen gegenüber Kapital und VermögensbesitzerInnen. Neben allgemeinen Beschränkungen von Exzessen der Spekulation und Profitmacherei geht es vor allem darum, dass die Reichen einen gerechten, wenn auch nicht übertrieben hohen Anteil an der sozialökologischen Umgestaltung leisten.

So soll klimaschädliches Verhalten von ProduzentInnen und KonsumentInnen nicht weiter subventioniert werden, was in einem ersten Schritt die Staatsausgaben um jährlich 10 Milliarden Euro reduzieren soll. Des Weiteren sollen mit Steuergeldern umsichtig umgegangen und die Vergabe von öffentlich-privaten Partnerschaften transparenter gestaltet werden.

Die Schuldenbremse soll reformiert werden, um den Spielraum für Staatsausgaben zur Steigerung von Konsum und Zukunftsinvestitionen in Ökologie, Bildung und Digitalisierung zu erleichtern. Der Spitzensteuersatz soll außerdem auf bis zu 48 % angehoben werden, würde also noch immer deutlich geringer als unter Helmut Kohl liegen. Außerdem soll für alle Vermögen von über 2 Millionen Euro eine Vermögensteuer von jährlich 1 % erhoben werden. Selbst davon ist bei den Koalitionsverhandlungen nichts geblieben. Zittern muss das Kapital also nicht, zumal auch Begünstigungen für Betriebsvermögen im verfassungsrechtlich erlaubten und wirtschaftlich gebotenen Umfang eingeführt werden sollen. Fazit des Ganzen: Die Reichen sollen etwas weniger reich werden.

Die Klassenspaltung der Gesellschaft kommt im Programm wie generell bei den Grünen überhaupt nicht vor. Sie erscheint erst gar nicht als Realität, daher auch nicht als Problem. Auch die Kluft zwischen Arm und Reich wird als solche nicht Frage gestellt. Die Grünen stört nur, dass sie mittlerweile zu groß wird – so groß, dass sie den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ gefährde. Dadurch würden nämlich die Demokratie, der soziale Frieden und die Möglichkeit eines „vernünftigen“, von allen akzeptierten Ausgleichs der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen untergraben. Doch genau ein solches Mindestmaß an Harmonie scheint der Partei notwendig, um auch den ökologischen Umbau „vernünftig“ zu gestalten und „alle mitzunehmen“.

An mehreren Stellen des Wahlprogramms wird der Green New Deal als neue Wirtschaftsweise verkauft. Jedoch Kritik am Kapitalismus oder an der Warenproduktion ist damit nicht gemeint.

Die neue Wirtschaftsweise soll allerdings klimaneutral sein. Erreicht werden soll das im Wesentlichen durch eine endlich konsequente Umsetzung der internationalen Vereinbarungen zum Klimaschutz und des Grünen Deals, den die EU-Kommission zu implementieren versucht. Während linkere Spielarten des Green New Deal – z. B. das Wahlprogramm der britischen Labour Party unter Corbyn – auch die Verstaatlichung strategischer Wirtschaftsbereiche inkludieren und anerkennen, dass ein ernsthafter ökologischer Umbau nur gegen mächtige Kapitalinteressen durchsetzbar wäre, wollen die Grünen den Konzernen und Banken vermitteln, dass eine ökologische Umgestaltung der Wirtschaft auch in ihrem längerfristigen ökonomischen Interesse läge. Sie präsentieren sich dabei als bessere, weitsichtigere SachwalterInnen der Gesamtinteressen des deutschen und europäischen Kapitals.

Diesem soll die Investition in die sozialökologische Transformation schmackhaft gemacht werden. Da das Kapital aber noch nicht nach Wunsch in diese Branchen strömt, müsse dem freien Spiel der Marktkräfte auf die Sprünge geholfen werden. Auf technologischer Ebene erscheint den Grünen dabei das Problem im Grunde schon als gelöst. Die Unternehmen müssten bloß dazu ermutigt werden, in enger Kooperation mit einer Regierung zu handeln, die sich dem Green New Deal verschrieben hat.

In dieser Politik finden sich Elemente des Keynesianismus wieder: Einerseits sollen Produktion und Konsum von ökologisch schädlichen Gütern durch den Abbau von Subventionen und durch Preissteigerungen (Ökosteuern; CO2-Preis) verteuert werden, so dass nicht nur die Unternehmen solcher Branchen Gewinneinbußen hinnehmen, sondern auch die KäuferInnen ihrer Produkte (also bei Konsumgütern vor allem die Lohnabhängigen) höhere Preise zahlen müssten.

Andererseits sollen steuerfinanzierte Programme zur ökologischen Erneuerung der Wirtschaft das Kapital in die gewünschten Sphären lenken. Dabei setzen die Grünen auf eine Stärkung der europäischen Kooperation und ein großes Investitionsprogramm, um „etwa gemeinsame europäische Energienetze oder ein Schnellbahnnetz“ zu finanzieren. Außerdem soll der Euro als internationale Leitwährung gestärkt werden, auch um zusätzliche InvestorInnen anzuziehen. Wie sehr dabei die Politik der Grünen von den Interessen des deutschen Großkapitals durchdrungen ist, verdeutlichen zwei Passagen:

„Jetzt braucht es Entschlossenheit und Zusammenarbeit, damit unsere Autobauer in Zukunft wieder die Nase vorn haben. Klar ist: Der fossile Verbrennungsmotor hat keine Zukunft. Wir wollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zulassen. Wir unterstützen bei Forschung und Innovation und sichern einen schnellen Aufbau der Ladesäuleninfrastruktur und eine weitere Förderung des Markthochlaufs von emissionsfreien Fahrzeugen zu. Aktuell haben Deutschland und Europa den Anschluss bei der Batteriezellenproduktion und damit viel Wertschöpfung verloren. Das darf sich bei den Batterien der nächsten Generation, die günstiger und ressourcensparender sind, nicht wiederholen. Wir wollen Europa zum Weltmarktführer einer ökologischen Batteriezellenproduktion machen.“[xiv]

Und weiter: „Um kritische Abhängigkeiten zu verringern, soll die EU-Kapazität im Bereich der Halbleitertechnologie wie von der EU-Kommission vorgeschlagen auf 20 Prozent der weltweiten Produktion ausgebaut werden. Das gilt vor allem für die Bereiche, in denen wir bei der Halbleitertechnologie für industrielle Anwendungen bereits eine starke europäische Stellung haben oder in denen eine besonders dynamische zukünftige Entwicklung zu erwarten ist.“[xv]

Bei allem kleinbürgerlichen Gedöns über Menschlichkeit, Zusammenhalt, Gerechtigkeit und sonstigen Phrasen präsentieren die Grünen hier ein Programm für den deutschen Imperialismus und eine in seinem Interesse vollendete EU. Diese soll zu einem Bollwerk im Kampf bei der Neuaufteilung der Welt werden, die in der grünen Ideologie zur sozialökologischen Vorreiterrolle Europas verbrämt wird.

Anders als rein neoliberale DoktrinärInnen erkennen die Grünen dabei an, dass es staatlicher Intervention bedarf, wenn ein solches Programm Wirklichkeit werden soll, dass der deutsche Staat und die EU im längerfristigen Interesse des Gesamtkapital als GeburtshelferInnen der Transformation der technischen Basis des Kapitals wirken müssen. Der soziale Anstrich dieser Politik erscheint darüber hinaus rational, weil eine zu große Vertiefung der sozialen Kluft der Gesellschaft das Projekt noch zusätzlich erschweren würde. Daher sollen die ärgsten Auswüchse des Neoliberalismus auch abgemildert werden. Schließlich lässt sich das Programm der kapitalistischen Ökotransformation auch besser verkaufen und gegen andere bürgerliche Kräfte und gesellschaftliche Opposition durchsetzen, wenn man es mit viel sozialer und demokratischer Tünche lackiert.

So wie die Interessen der deutschen Autoindustrie und anderer Konzerne offen benannt werden, so erinnert der Abschnitt „Klimaaußenpolitik“ sehr an klassischen, verlogenen Imperialismus:

„Sie bedeutet zum einen, dass wir Europäer*innen unseren Bedarf an grüner Energie durch Klimapartnerschaften decken helfen: grüner Wasserstoff statt Öl- und Gasimporte. Andererseits werden wir so endlich unserer historischen Verantwortung gerecht, indem wir Elektrifizierung und Technologietransfers insbesondere in afrikanischen Ländern vorantreiben und den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien in diesen Ländern unterstützen. Nur so können wir es schaffen, global auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.“[xvi] Am deutschen (und europäischen) Kapitalexport soll also die Welt genesen. Der Imperialismus wird so endlich wieder seiner Verantwortung gerecht. In der Vergangenheit mag er Afrika geplündert haben, jetzt macht er es nachhaltig. Die imperialistische Ausbeutung wird bei der sozialökologischen Transformation mit neuen Phrasen beschönigt. Die Realität dieser Politik zeigt der EU-Afrika-Pakt, der seit Jahren im Interesse der europäischen Konzerne vorangetrieben wird, um sich Zugang zu strategisch wichtigen Rohstoffen, Investitionen und Märkten zu sichern. Zugleich bildet er einen Teil der europäischen Strategie, um im neuen Wettlauf um Afrika den USA und China Paroli bieten zu können. In der grünen Ideologie hingegen erscheint diese klassisch imperialistische Politik des europäischen Finanzkapitals als „Win-win“-Situation, ganz so wie die bürgerliche Wirtschaftstheorie immer gerne die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Metropolen und Peripherie als Vorteil für alle verklärt hat.

Die sozialökologische Transformation der Grünen erweist sich weder als sozial noch als ökologisch. Sie entpuppt sich vielmehr als Programm zur Umstrukturierung des deutschen Kapitals. Wie ökologisch das Ganze ist, zeigt der Schulterschluss mit der deutschen Autoindustrie. Die Grünen setzen auf E-Mobilität im privaten, vorgeblich klimaneutralen Pkw. Wenn notwendig, werden dafür auch Wälder gerodet und unsinnige, aber höchst profitable Autobahnbauten durchgesetzt wie zur Zeit im Dannenröder Wald. Was die Grünen für Deutschland und Europa versprechen, führt schon jetzt Kretschmann in Baden-Württemberg vor.

An der kapitalkonformen Ausrichtung lässt das Programm der Grünen keinen Zweifel übrig. Es wird aber nicht nur den ökologischen, geschweige denn den sozialen Fragen unserer Zeit nicht gerecht. Die Grünen skizzieren auch ein alternatives, imperialistisches Programm. Damit werden sie zu einer Option für die deutsche Bourgeoisie. Die Ampel schaltet auf Grün – freie Ökofahrt für das deutsche Kapital.

Linksbürgerliche, populistische und kleinbürgerliche Kritik

Vom bürgerlichen Green (New) Deal heben sich deutlich all jene Spielarten des GND ab, die ihn in ein Gesamtkonzept sozialer und globaler ökologischer und sozialer Transformation einbetten. Oft wird dieses Plädoyer mit einer teilweise recht beißenden und treffenden Kritik bürgerlicher Umweltpolitik und einer engagiert vorgetragenen am neoliberalen Kapitalismus verbunden.

Für diesen Flügel der Umweltbewegung steht u. a. Naomi Klein, eine der meistgelesenen AutorInnen dieser Richtung mit den Büchern wie „Kapitalismus vs Klima“[xvii] (2015) und „Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann“[xviii](2019). Kernthesen dieser Publikation wollen wir im Folgenden einer Kritik unterziehen, weil darin grundlegende Konzepte dieser politisch kleinbürgerlichen Strömung der Umweltbewegung deutlich werden.

Das Buch „Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann“ basiert zu einem bedeutenden Teil auf Artikeln und Reportagen der Autorin, die für die Veröffentlichung überarbeitet wurden. Wie bei anderen Texten Kleins liegt deren Stärke und Kraft in der  plastischen und engagierten Darstellung von Beispielen ökologischer Verheerungen, ihrer Verbindung zur Profitmacherei sowie ihren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Die Betroffenen werden dabei nicht nur als Opfer, sondern auch als Subjekte von Widerstand, als Kämpfende dargestellt. Die Formen von Selbstorganisation, die sie dabei, ob nun als indigene Gemeinden, als Lohnabhängige oder als KlimaaktivistInnen entwickelt haben, nehmen einen wichtigen Platz in Kleins Artikeln und Büchern ein. Kein Wunder, dass sie viele junge AktivistInnen inspiriert und ermutigt haben.

Eine weitere, für vieler LeserInnen zweifellos mitreißende Seite solcher Texte besteht darin, den Blick auf die VerursacherInnen von Umweltzerstörung und deren soziale Folgen zur richten. Klein tut dies seit Jahren auf zweierlei Art. Erstens, indem sie konkrete ProfiteurInnen, also einzelne Konzerne, AkteurInnen auf den Finanzmärkten, Medien und staatliche Organe (Regierungen, Gerichte, Repressionskräfte) benennt und anprangert, die diese offen und gezielt unterstützen.

Zweitens richtet sie ihre Aufmerksamkeit auch auf die systemischen Ursachen der drohenden Umweltkatastrophe.

Welcher Antikapitalismus?

In dem Buch „Kapitalismus vs. Klima“ stellt Klein 2015 diesen Gegensatz folgendermaßen dar: „Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen. Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteil der Menschheit zugute kommen würden –, eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hält.“[xix]

Entscheidend für die Konzeption von Naomi Klein und einer sehr viel breiteren Strömung der Umweltbewegung, deren Positionen sie artikuliert, ist hier Folgendes. Das fundamentale gesellschaftliche Verhältnis, der grundlegende Widerspruch, der den ökologischen Katastrophen zugrunde liegt, wird nicht in der kapitalistischen Produktionsweise ausgemacht, sondern im „deregulierten Kapitalismus“ oder Neoliberalismus. Dieser erscheint darüber hinaus selbst gar nicht als Periode einer Produktionsweise, sondern als vorherrschende Ideologie und Politik.

Dieser Gedanke durchdringt sämtliche ihrer Arbeiten und auch ihre Konzeption des Green New Deal. Mit der neoliberalen Wende unter Thatcher und Reagan hätte es auch einen Bruch mit jenen Institutionen und Formen gegeben, die eine gewisse demokratische Regulierung des Kapitalismus ermöglicht hätten.

In „Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann“ betont Klein immer wieder diesen Bruchpunkt in der kapitalistischen Entwicklung selbst. So heißt es:

„Und es stimmt absolut, dass die weltweite Entfesselung des unregulierten Kapitalismus, also der Neoliberalismus, in den achtziger und neunziger Jahren den bei weitem größten Beitrag zu einer katastrophalen Emissionsspitze in der jüngsten Zeit geleistet hat und das bei weitem größte Hindernis für wissenschaftsbasierte Klimamaßnahmen darstellt, … “[xx] Doch nicht nur der deregulierte Kapitalismus erwies sich als Desaster. Auch der „autokratische, industrialisierte Sozialismus“ war „eine Katastrophe für die Umwelt“ [xxi]. Zweifellos kann niemand ernsthaft die verheerenden ökologischen Folgen der Herrschaft der Bürokratie in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten[xxii] bestreiten wollen. Indem Klein jedoch die bürokratischen Planwirtschaften mit Sozialismus gleichsetzt, verwirft sie zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit einer wirklich antikapitalistischen, demokratischen Planung, die auf der Enteignung des Kapitalismus und der Ersetzung des bürgerlichen Staatsapparates durch Organe der ArbeiterInnendemokratie und -herrschaft wie Räten beruht.

Kleins Antikapitalismus will von einem revolutionären Bruch mit dem Kapitalismus nichts wissen. Vielmehr stellt sie diesem einen dritten, „demokratisch-sozialistischen“ Weg entgegen:

„Dem (Scheitern des autokratischen, industrialisierten Sozialismus und des Petropopulismus in Venezuela; Anm. d. Red.) müssen wir uns stellen, aber wir können auch darauf verweisen, dass Länder mit einer starken demokratisch-sozialistischen Tradition (wie Dänemark, Schweden und Uruguay) eine Umweltpolitik verfolgen, die zu den visionärsten der Welt gehört. Daraus können wir den Schluss ziehen, dass Sozialismus nicht unbedingt ökologisch ist, aber ein demokratischer Öko-Sozialismus – der die Demut besitzt, die Lehren der indigenen Völker über die Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen und die Verbundenheit aller Lebensformen zu befolgen – die beste Chance für ein kollektives Überleben der Menschheit bietet.“[xxiii]

Hier zeigt sich auch die Brücke zum New Deal Roosevelts. So wie die Beispiele Schwedens, Dänemarks oder Uruguays beweisen sollen, dass auf Basis eines regulierten Kapitalismus eine „visionäre“ Umweltpolitik und eine fast schon sozialistische Gleichheit möglich wären, so soll der New Deal der 1930er Jahre belegen, dass in Krisensituation auch auf Basis der Marktwirtschaft große gesellschaftliche Fortschritte erzielt werden können, wenn nur die richtigen gesellschaftlichen und politischen Weichen gestellt werden.

„Im Hinblick auf die Dimension, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, bezieht das Konzept des Green New Deal seine Inspiration aus Franklin D. Roosevelts New Deal, der mit einem bunten Strauß politischer Maßnahmen und öffentlicher Investitionen auf das Elend und den Zusammenbruch während der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre reagierte.[xxiv]

Natürlich, so Klein, war auch dieser nicht perfekt und enthielt einige offenkundige Schwächen wie die Reproduktion des Rassismus und den Ausschluss der indigenen Bevölkerung der USA. Darüber hinaus basierte er bekanntlich auf dem Ausbau fossiler Energieträger.

Naomi Klein und die ParteigängerInnen eines radikalen Green New Deal begegnen diesem Problem einfach, indem sie darauf verweisen, dass ein solches Programm heute mit Investitionen in erneuerbare Energien sowie einer entsprechenden Umgestaltung anderer Bereiche des Lebens (z. B. Umrüstung auf 100 % energiesparenden Wohnungsbau usw.) kombiniert werden könne. Die Forderungen indigener Gemeinden und rassistisch Unterdrückter müssten eben einfach nur aufgenommen werden – dann wäre ein großer Reformentwurf perfekt.

Was die globale Dimension betrifft, haben sie und verschiedene AnhängerInnen des GND auch ein simples, der Neugestaltung des Weltkapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg entlehntes, mit dem historischen New Deal verbundenes Konzept parat – einen neuen Marshallplan (European Recovery Program) für die Erde.

Das Fehlen eines tieferen Verständnisses der kapitalistischen Produktionsweise erlaubt es Klein und anderen VertreterInnen des linksbürgerlichen oder kleinbürgerlichen GND ironischer Weise, eine radikale, scheinbar gegen den Kapitalismus gerichtete Kritik an großen Konzernen und dem politischen Establishment mit einem Reformprogramm zu verbinden, das Marktwirtschaft und Privateigentum an den Produktionsmitteln nirgendwo grundlegend in Frage stellt. Wenn die eigentlichen Gegner, der Neoliberalismus und der deregulierte Kapitalismus, als eine herrschende Ideologie und Politik bestimmt werden, drängt sich geradezu die Schlussfolgerung auf, dass es genügen würde, dieser Politik einfach eine andere, inkludierende bürgerliche Reformpolitik entgegenzusetzen.

Klassenübergreifende Allianz

Neben diesen globalen und institutionellen Aspekten umfasst der Green New Deal Kleins außerdem auch die Ausweitung vorhandener,  widerständiger Erneuerungsbewegungen der kleinbürgerlich-bäuerlichen Selbstorganisation wie in Chiapas, populistischer wie der MAS in Bolivien, der indigenen Bauern und Bäuerinnen im selben Land oder der reformistischen Regierung wie im indischen Bundesstaat Kerala.

Damit sind für Klein auch schon die Kräfte gefunden, die im Rahmen einer globalen Allianz unterschiedlicher Klassen einen Green New Deal durchsetzen sollen:

  • Bürgerliche Kräfte wie z. B. vom linken Flügel der Demokratischen Partei in den USA. Deren bekannteste und auch linkeste VertreterInnen wie AOC und Bernie Sanders gelten Klein, nebenbei bemerkt, auch als SchlüsselautorInnen ihres Programms eines Green New Deal. In ihrem Buch verweist sie auf insgesamt 105 Mitglieder des US-Kongresses und des Senats, die sich vor den Wahlen öffentlich zur Green-New-Deal-Resolution von AOC bekannt hatten – darunter Politikerinnen wie Elizabeth Warren und selbst die nunmehrige US-Vizepräsidentin Kamala Harris.
  • Linke, in den Augen von Klein, demokratisch-sozialistische Regierungen in den imperialistischen wie auch in den halbkolonialen Staaten (Schweden, Dänemark, Uruguay), Parteien wie ein Teil der Grünen oder Bewegungen wie DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025).
  • Aktivistische und kampagnenorientierte Teile der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung wie das Sunrise Movement in den USA, Extinction Rebellion (XR) in Europa oder Fridays for Future. Diese Gruppierungen verfügen selbst nur über sehr rudimentäre Programme. Faktisch greifen sie nicht nur die Losung des Green New Deal auf, sondern übernehmen weite Teile des Programms von linken Grünen und linken DemokratInnen, betonen in Aktionen deren Dringlichkeit.
  • Bewegungen der indigenen und bäuerlichen Gemeinden in den Halbkolonien, einschließlich von linken kleinbürgerlichen Kräften wie den Zapatistas, die auf Basis genossenschaftlichen und kleinbürgerlichen Eigentums eine Form lokaler nachhaltiger Kommunen aufzubauen versprechen.
  • Reformistische Kräfte aus dem linken Flügel der ArbeiterInnenbewegung (Europäische Linkspartei, DSA in den USA, Corbyn-Flügel in Labour).

Für die AnhängerInnen eines linksbürgerlichen Green New Deals wie Naomi Klein stellt die ArbeiterInnenklasse dabei keinesfalls das entscheidende Subjekt der Veränderung dar. Sie ist vielmehr bloß Bestandteil einer breiten, klassenübergreifenden Allianz, die vom „linken“ Flügel des Kapitals über wichtige Teile der lohnabhängigen Mittelschichten und des KleinbürgerInnentums bis hin zu Teilen der ArbeiterInnenbewegung reicht.

Folgerichtig beschränkt sich der Antikapitalismus dieser Strömungen auf eine bestimmte Erscheinungsform und Ideologie der bestehenden Gesellschaftsordnung, den Neoliberalismus. An deren Stelle soll eine regulierte, nachhaltige ökosoziale Marktwirtschaft treten, deren Gehalt jedoch ideologisch überhöht wird, ja werden muss.

Programm des kleinbürgerlichen GND

Das beschränkte Ziel spiegelt sich deutlich in den Programmen des kleinbürgerlichen GND wider. Unbenommen der Tatsache, dass sich die verschiedenen Konzepte in etlichen Aspekten unterscheiden, arbeitet Naomi Klein im Anschluss an die GND-Resolution von AOC in ihren Büchern Eckpunkte dieser Strategie heraus.

Erstens verspricht der GND nicht nur ökologische Erneuerung und das Erreichen der Klimaziele. Er soll sich auch als wahres Jobwunder erweisen, als echte Win-Win-Situation für Klima, Kapital und Arbeit, für kleine und große ProduzentInnen.

Die Frage, welche inneren Hindernisse dem im Wege stehen, warum sich zentrale Teile des gesellschaftlichen Gesamtkapitals entweder gegen eine ökologische Transformation wenden oder sich diese wie die Kohleindustrie dreifach vergolden lassen, wird nicht oder nur oberflächlich betrachtet. Letztlich erscheint der Widerstand gegen den GND als Mischung aus Mangel an Vernunft, übermäßiger Profitgier, fehlenden finanziellen Mitteln und Ängsten von Lohnabhängigen, Jobs und Einkommen zu verlieren.

Dem könne aber leicht abgeholfen werden durch Erhöhung staatlicher Ausgaben und massive Konjunkturprogramme, die sich, so die frohe Botschaft, rasch refinanzieren würden. Zustimmend zitiert Klein den US-amerikanischen Thinktank New Consensus. Diesem zufolge „werden durch den Green New Deal neue Arbeit von Waren und Dienstleistungen entstehen, die die zusätzlichen Ausgaben ausgleichen. Von daher besteht kein Grund zu Bedenken, es könnte durch dessen Finanzierung ein wirtschaftlicher Stillstand eingeleitet werden, ebenso wenig, wie dies bei der Finanzierung von Kriegen oder Steuererhöhungen der Fall war.“[xxv]

Laut AOC sollten alle Erfordernisse für den GND wie Notstandsmaßnahmen finanziert werden. Der Kongress solle einfach die notwendigen Mittel bewilligen, die ihrerseits vom Weltwährungsfonds abgesichert werden. Auf ähnlichem Wege sollte dieser auch die Programme anderer Länder und vor allem des globalen Südens absichern.

Die damit einhergehende Zunahme der Staatsverschuldung stelle kein Problem dar. Letztlich würde diese durch zukünftige Einnahmen infolge einer Expansion der Wirtschaftsleistung und Gewinne gedeckt werden. Die Schulden wären somit nur vorübergehender Natur. Die Austeritätspolitik, die von den neoliberalen und monetaristischen bürgerlichen WissenschaftlerInnen vertreten wird, kritisieren sie und andere VerfechterInnen des GND als „Vernichtungspolitik“. Ihr müsse eine konterzyklische, vom Keynesianismus inspirierte Konjunkturpolitik zur Stimulierung und Finanzierung einer ökosozialen Transformation entgegengesetzt werden.

Zusätzliche ideologische Schützenhilfe erhält diese Strömung durch die dem Neokeynesianismus zuzurechnende Modern Monetary Theory (MMT). Grundsätzlich gehen die AutorInnen der MMT, die dem GND nahestehen, davon aus, dass es ein Finanzierungsproblem eigentlich gar nicht gebe:

„Bezahlbarkeit ist für eine souveräne Regierung nie eine wichtige Frage – die relevante Frage betrifft die Ressourcenverfügbarkeit und ihre Aneignung. Es besteht daher eine natürliche Allianz zwischen der MMT und dem GND. Wenn es uns gelingt, technologisch machbare Projekte zu identifizieren, mit denen die Ziele des GND erreicht werden können ( … ), dann können wir die Finanzierung der Programme ermöglichen.“[xxvi]

Dazu müsse man letztlich nur den Staat und die mit ihm verbundene Zentralbank der Kontrolle des Kapitals, genauer seiner „fossilen“ Fraktion, entreißen und die nationale Souveränität – ganz wie es der Linkspopulismus proklamiert – für die „Linke“ einräumen.

Diese recht optimistischen Annahmen versucht die MMT, damit zu untermauern, dass der Staat über das Monopol der Geldpolitik verfügt, also Geld selbst emittieren kann. Die Gefahr der Staatspleite oder dauerhaften Inflation sei dabei gering, ja ausgeschlossen, wenn mit den quasi schon vorhandenen Mitteln produktive Investitionen getätigt würden.

Ganz in diesem Stil verspricht Naomi Klein daher, dass der GND auch krisenfest wäre. Denn: „Wenn die Weltwirtschaft in einen neuerlichen Abschwung oder eine weitere Krise gerät, was zweifellos der Fall sein wird, wird die Unterstützung für einen Green New Deal nicht abnehmen wie bei früheren größeren ökologischen Initiativen als Gegenmittel gegen eine Rezession. Da er die Wirtschaft in großem Stil stimulieren wird, bietet er die größten Hoffnungen auf ein Ende der wirtschaftlichen Not der Menschen und wird deshalb umso mehr Unterstützung finden.“[xxvii]

Kombiniert werden soll das mit einer Besteuerung der Reichen, einer Art Öko- und Sozial-Solidaritätszuschlag, und einer Mindestsicherung für die Armen, so dass es keine Rückschläge durch GND-VerliererInnen aus den Unterschichten und –klassen geben könne.

Den kleinbürgerlichen und linksbürgerlichen VertreterInnen des GND ist durchaus klar, dass sie mit ihrem Programm auf den entschlossenen Widerstand der Großkonzerne, vor allem des fossilen Kapitals stoßen werden. Diese – jedoch keineswegs alle Unternehmen – werden als Gegner ausgemacht. Die Konzerne sollen, so Klein, „gebändigt“ werden. Wie? Indem Subventionen gestrichen und höhere Steuern erhoben, staatliche Infrastrukturprogramme und Ausgaben für Nahverkehr, Stadterneuerung, Wohnungsbau auf den Weg gebracht werden. Darüber hinaus bedürfte es einer Rückkehr zur öffentlichen Raum-, Industrie- und Flächennutzungsplanung, wie sie in vielen kapitalistischen Ländern noch vor der neoliberalen Wende existierte.

Bemerkenswert an all diesen Reformvorschlägen ist weniger, welche Wünsche noch vorgetragen werden, sondern welche Forderung nirgendwo erhoben wird: die nach Enteignung der großen Kapitale oder auch nur der größten UmweltverschmutzerInnen!

Der ganze Antikapitalismus des GND macht vor dem Privateigentum an Produktionsmitteln aus mehreren miteinander verbundenen Gründe halt.

Erstens entspricht – und das ist auch der entscheidende Grund –  dies der klassenübergreifenden Zusammensetzung der GND-Allianz, die ihrerseits  die Begrenzung der Kritik auf den Neoliberalismus, d. h. einen beschränkten Antikapitalismus, widerspiegelt. Es erscheint, wie wir oben gezeigt haben, als systemische Ursache der aktuellen Umweltkatastrophe, nicht der Kapitalismus als solcher, sondern seine deregulierte, neoliberale Spielart.

Als eigentliche politische Gegnerin wird folglich nicht die herrschende Klasse insgesamt betrachtet, sondern nur eine (neoliberale und fossile) Fraktion dieser. Die anderen gelten als Verbündete im Kampf für den Green New Deal.

Es entspricht daher der gesamten Konzeption dieser Richtung, den Charakter ihres Programms, die Frage, welche gesellschaftliche Kraft eigentlich bestimmen soll, mit Formeln zu übertünchen, hinter denen der Klassenstandpunkt der einzelnen Kräfte zurücktritt.

So erscheinen bei Klein die VertreterInnen der demokratischen Partei nicht als solche einer der beiden tradierten Hauptparteien des US-Kapitals, sondern vielmehr als Dutzende, wenn nicht Hunderte neuer Abgeordnete, die mit ihrer Community, mit ihren WählerInnen verbunden sind, als wohlmeinende, wenn auch vielleicht etwas privilegiertere Menschen, denen die Nöte und Sorgen ihrer Gemeinde noch immer ans Herz gehen, als philanthropische UnternehmerInnen und EigentümerInnen, die sich nicht nur um Profit, sondern auch um ihre Beschäftigten kümmern.

Der Widerstand der Konservativen wird, so Klein, durchaus zu brechen sein – und zwar durch die Resultate des GND selbst. Selbst jene, die den GND als sozialistisches Projekt verteufeln und so gegen ihn polarisieren wollten, würden schließlich eines Besseren belehrt, wenn neue Jobs und Unternehmen geschaffen würden. Schließlich würde das ja auch neue grüne Gewinne mit sich bringen.

„Natürlich werden die Republikaner in Washington den Green New Deal auch weiterhin als das beste Rezept hinstellen, die Vereinigten Staaten in ein zweites Venezuela zu verwandeln. Damit ignorieren sie einen der größten Vorteile unseres Modells, das den Klimanotstand als ein umfassendes Infrastruktur- und Bodensanierungsprojekt betrachtet: Nichts hebt ideologische Trennlinien so schnell auf wie ein konkretes Projekt, das leidenden Gemeinden Arbeitsplätze und Ressourcen verschafft.“[xxviii]

Schließlich, so können wir hinzufügen, söhnten sich auch die bürgerlichen GegnerInnen von Roosevelts New Deal mit diesem aus, nachdem sie erkannt hatten, dass er die Interessen des Kapitals bediente.

Betrachten wir das Programm des GND von AOC oder Klein wie überhaupt der GND-Allianz, so entpuppt es sich letztlich als eines zur ökologisch-sozialen Transformation des Kapitalismus, wenn auch mit mehr sozialen Abfederungen und radikalerer Rhetorik als jenes der großen bürgerlichen Kräfte. Es entspringt dem Bedürfnis, der gesellschaftlichen Stellung der dominierenden aktivistischen Kräfte und der kleinbürgerlichen IdeologInnen dieser Strömung, es als radikaleres und zugleich als „klassenübergreifendes“ darzustellen.

Sie geben zwar vor, die Welt grundlegend verändern zu wollen – freilich ohne ihre eigentlichen Grundlagen, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das System der Profitmacherei, selbst anzugreifen. Unbenommen ihrer vergleichsweise radikalen Aktionsformen ist ihr Ziel letztlich jenem des Bourgeoissozialismus aus dem Kommunistischen Manifest ähnlich: Sie wünschen „den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern.“[xxix]

Es gehört daher zum notwendigen Erscheinungsbild dieser Richtung, das eigene Reformprogramm als radikaler zu verkaufen, als es seinem Inhalt nach ausfällt. So wird die klassenübergreifende Bewegung des GND, die vor der Enteignung haltmacht und am Standpunkt seiner linksbürgerlichen Elemente, also am Klassenstandpunkt der Bourgeoisie, ihre politische Grenze findet, noch zur „intersektionalen Massenbewegung“[xxx] (Klein, S. 327) verklärt.

Dahinter steckt – wie bei der gesamten Intersektionalitätstheorie – letztlich, dass man sich die Allianz zwischen bürgerlichen Kräften, aus dem KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten stammenden UmweltaktivistInnen, kleinbürgerlich-bäuerlichen Communities in den Halbkolonien und Teilen der ArbeiterInnenklasse ähnlich wie bei der Volksfrontpolitik als Addition verschiedener Klassen vorstellt. In Wirklichkeit paralysieren sich jedoch die Kräfte, weil das Bündnis nur funktioniert, wenn die Lohnabhängigen entscheidende Klassenstandpunkte und Ziele ihren Verbündeten aus anderen Klassen, und das heißt vor allem aus der bürgerlichen, unterordnen. Der Verzicht auf die Enteignung auch zentraler Kapitalgruppen verdeutlicht das.

Es entspricht jedoch der inneren Logik solcher Bündnisse, dass das linksbürgerliche Programm – in diesem Fall der Green New Deal – mit scheinradikaler Rhetorik überhöht werden muss. Schließlich sollen die AktivistInnen, die eigentlich radikalere Absichten verfolgen, denen es jedoch an einer eigenen, revolutionären Strategie und einem Klassenstandpunkt fehlt, bei der Stange gehalten werden. Der proklamierte Antikapitalismus, das proklamierte „system change, not climate change“ bildete daher eine notwendige Ergänzung zum bürgerlichen Reformprogramm, das der GND letztlich darstellt.

Modern Monetary Theory

Klein und andere AnhängerInnen des GND propagieren diesen, wie wir oben gesehen haben, gern auch als wirtschaftliches Erfolgsprojekt. Dabei stützen sie sich einerseits auf die Kalkulation, dass ein Konjunkturprogramm allen Klassen der Gesellschaft helfen würde:  Die KapitalistInnen könnten Anlagen und Profite machen, die ArbeiterInnen hätten Jobs und Einkommen und könnten überdies neue grüne Produkte mit Öko-Siegel kaufen.

Finanziert werden soll dies durch eine vorübergehende Erhöhung der Staatsverschuldung, die früher oder später wieder eingespielt werden kann.

Doch selbst wenn dem nicht so wäre, so versichern die VertreterInnen der Modern Monetary Theory (MMT), die dem GND nahestehen, wäre das kein Problem. Wir haben schon oben gesehen, dass die praktischen Schlussfolgerungen dieser Theorie darauf hinauslaufen, dass Staatsschulden für einen  Staat eigentlich kein wirkliches Problem darstellen würden, dass also der Souverän nur Geld drucken müsse, um notwendige Infrastrukturprogramme anzuschieben. Das Finanzierungsproblem eines GND ist damit überhaupt kein ökonomisches, sondern ein rein politisches. Es ginge letztlich nur darum, dass der bestehende bürgerliche Staat für ein solches Programm eingesetzt, also dessen Souveränität gegenüber neoliberalen Gegenkräften behauptet oder wieder erkämpft wird.

Das fehlende Verständnis für den Klassencharakter des bürgerlichen Staates der MMT springt hier natürlich ins Auge. Darauf verweist auch Ingo Stützle in dem lesenswerten Aufsatz „Money makes the world go green?“[xxxi], in dem er die MMT einer grundlegenden Kritik unterzieht und auf den wir uns in den folgenden Ausführungen stützen. Die naive Sicht des bürgerlichen Staates, ja, das Fehlen einer Staatstheorie in der MMT bildet dabei letztlich nur die andere Seite einer falschen Geldtheorie und damit eines falschen Verständnisses des Kapitalismus selbst.

Der MMT zufolge sei eigentlich alles Geld seinem Wesen nach Kredit. Damit es als solches von den Gesellschaftsmitgliedern, also den Tauschenden, anerkannt wird, bedürfe es des Staates, der die Währung emittiert und ein Monopol darauf geltend machen könne, gewissermaßen die StaatsbürgerInnen zwingt, nur sein Geld zu verwenden und ihre Tauschgeschäfte nur mit diesem zu verrichten. Die Steuern erschienen daher nicht als zentrales Finanzierungsmittel des Staates, sondern als Mittel, die StaatsbürgerInnen zur Begleichung einer Schuld mit dem Geld zu zwingen, das der Staat selbst emittiert. Alle Tauschverhältnisse zwischen den Marktsubjekten, alle Steuern usw. werden als Schuldner-Gläubiger-, als Kreditverhältnisse begriffen.

Wie in anderen bürgerlichen Wirtschaftstheorien wird der Kredit nicht von den Geldfunktionen und dem Kapitalbegriff her entwickelt, sondern umgekehrt erscheint jedes Geld und jede Geldfunktion als Kredit. Mit dieser Setzung bedarf die MMT auch keiner werttheoretischen Fundierung. Geld wird nicht wie im Marx`schen Kapital aus der Wertform der Waren (allgemeines Äquivalent) entwickelt und daraus seine Funktionen herausgearbeitet (Maß der Werte, Zirkulationsmittel, Weltgeld usw.): Es wird vielmehr bloß als eine geniale Erfindung zur Erleichterung des Warentausches begriffen. Darüber hinaus bedarf die MMT auch keiner Klärung des Verhältnisses von kapitalistischer Akkumulation und staatlicher (Geld-)Politik und keiner Staatstheorie.

Der Staat bzw. die staatliche Notenbank, die in dieser Theorie einseitig auch bloß als Verlängerung der Regierung aufgefasst wird, setzten das Geld als Währung und zwängen damit  allen StaatsbürgerInnen oder Untertanen ihr Geld auf.

Der Staat steht dieser Theorie zufolge nicht erst vor der Notwendigkeit, Geld über Steuern einzunehmen. Er besitzt es bereits, da er über das Monopol verfügt, es zu drucken, also die Mittel zur Verfügung zu stellen, die notwendig sind, um z. B. die ökologische Umstellung der Wirtschaft zu finanzieren.

Dass der Staat zur Zeit nicht in diesem Sinne handelt, hat für die MMT letztlich zwei Ursachen. Einerseits folgt dies aus den mit dem Kredit selbst verbundenen Krisen- und Spekulationsphänomenen, die letztlich auch die eigentliche Ursache der kapitalistischen Krise ausmachen. Andererseits folgt das aus der falschen politischen Ausrichtung des Staates. Letzterer wird dabei nicht als Organ der Klassenherrschaft begriffen und auch nicht als Kampfterrain zwischen Klassen wie bei der reformistischen Konzeption von Poulantzas, sondern erscheint als eine Art Black Box, die prinzipiell verschiedenen gesellschaftlichen Kräften zur Verfügung stünde. Daher, so einige AutorInnen dieser Schule, müsse die politische Linke selbst zu einer Vorkämpferin der staatlichen Souveränität werden und ihre Distanz zu Begriffen wie „nationale Souveränität“ ablegen.

Da der Staat Geld als Mittel zur Allokation von Gütern und Arbeitskräften selbst in Umlauf bringen kann, kann er auch die negativen Ausformungen des Kredits (Spekulation, … ) politisch in den Griff kriegen. Die Warenproduktion selbst stellt für die MMT kein Problem dar. Um Krisen zu überwinden, genüge es letztlich, das Geld- und Kreditsystem für  bestimmte produktive Zwecke einzusetzen.

Bei den Schlussfolgerungen bezüglich des Staates springen nicht nur die grundlegenden Unterschiede zum Marxismus ins Auge. Die Differenzen beginnen schon bei der Frage, was eigentlich Geld und Kapitalismus sind. Für die MMT ist Geld letztlich nur ein Mittel zur Allokation von Ressourcen.

Der Fehler in der MMT beginnt schon damit, dass sie verkennt, dass eine bestimmte Ware überhaupt nur zur Geldware werden kann, wenn sie selbst vergegenständlichte menschliche Arbeit verkörpert:

„Die Waren werden nicht durch das Geld kommensurabel. Umgekehrt. Weil alle Waren als Werte vergegenständlichte menschliche Arbeit, daher an und für sich kommensurabel sind, können sie ihre Werte gemeinschaftlich in derselben spezifischen Ware messen und diese dadurch in ihr gemeinschaftliches Wertmaß oder Geld verwandeln. Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeitzeit.“[xxxii] Damit eine bestimmte Warenart überhaupt zum Geld werden kann, muss sie selbst Produkt menschlicher Arbeit sein. Sobald diese jedoch einmal als solche als Geld etabliert ist, sie dauerhaft zur besonderen allgemeinen Äquivalentform aller Waren wird, verschwindet die Wertfundierung des Geldes in der Erscheinung.

„Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist. Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eignen Resultat und läßt keine Spur zurück. Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigne Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper.“[xxxiii]

Marx nennt dies den Geldfetisch. Genau diesem sitzt die gesamte Geldtheorie der MMT auf.

Doch damit nicht genug. Marx arbeitet im „Kapital“ heraus, welchen grundlegenderen systemischen, mit der Warenproduktion untrennbar verbunden Charakter Geld hat. Dazu Stützle:

„Die im Kapitalismus nachträgliche vergesellschaftete Privatarbeit erschöpft sich nicht in der Produktion von Gütern, diese sind lediglich Mittel zur Verwertung des Werts, der im Geld seine selbstständige Gestalt hat – es ist Maßstab der Verwertung. Die voneinander getrennten Privatarbeiten sind als Kapitalverhältnis organisiert, Kapital beutet Arbeitskraft aus, um Profit zu machen. Investiertes Geld muss sich rentieren, aus G (Geld; Anm. d. Red.) muss G’ (mehr Geld; Anm. d. Red.) werden, und Produktion, die kein G’ macht, wird nicht als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt. Diese Prozesse muss das Geld organisieren, sonst ist es kein Geld und wird nicht als Geld akzeptiert.“[xxxiv]

Anders als für die MMT fungiert Geld nicht als bloßes Hilfs- oder Schmiermittel des Warentausches, sondern stellt Ausgangs- und Endpunkt der Kapitalbewegung dar. Erst auf deren Basis lässt sich die Funktion des bürgerlichen Staates, seine historische Besonderheit gegenüber früheren Staatsformen verstehen. Sein Zweck besteht nämlich, unbenommen aller konkreten Unterschiede zwischen verschiedenen Staaten, darin, die allgemeinen Bedingungen der Kapitalakkumulation zu garantieren.

Formal hat der Staat (oder seine Notenbank) zwar das Recht, beliebig viel Geld zu emittieren. Die MMT  verwechselt aber hier diese formelle Souveränität damit, dass diese materiell keineswegs existiert, sondern vielmehr durch das Kapitalverhältnis, und zwar nicht bloß durch ein nationales, sondern den Weltmarkt und die internationale Arbeitsteilung  beschränkt, ja, bestimmt wird.

„Ob und inwieweit diese staatlichen Zahlungsmittel aber Geld sind, wie weit ihre Zugriffsmacht (,Kaufkraft’) reicht, was dieses Aneignungsrecht gilt, das bestimmt der Staat ebenso wenig wie die Frage, ob sie als Kapital fungieren. Eine Zentralbank kann zwar eine Währung herausgeben. Doch was diese Währung kann, welche Macht sie als Zugriffsmittel hat, das entscheidet sich in der kapitalistischen Privatwirtschaft – und letztlich kommt es darauf an, ob das Geld als Mittel der Verwertung fungieren kann oder nicht.“[xxxv]

Ob ein bestimmtes staatliches Konjunktur- und Investitionsprogramm die Akkumulation des Gesamtkapitals befördert oder es sich als Milliarden schweres Strohfeuer entpuppt, hängt daher nicht vom Willen und politischen Entscheidungen des Staates ab. Entscheidend sind vielmehr der Stand der Akkumulation des Gesamtkapitals, dessen organische Zusammensetzung, die Entwicklung der Profitrate etc.

Für die MMT ist Kapital letztlich bloß eine große Menge Geld, ein „Kredit“, der den Anspruch auch bestimmte Ressourcen (Arbeitskraft und Produktionsmittel) begründet. Ebenso verfüge auch der Staat (über Steuern, Aufnahme von Schulden und über Gelddruck) über eine Menge Geld.

Übersehen wird dabei jedoch, dass Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis darstellt, dessen Zweck darin besteht, aus Kapital in Geldform noch mehr Geld, aus G  G’ zu machen. Der Staat ist für das Kapital notwendig, um allgemeine gesellschaftliche Voraussetzungen der Kapitalakkumulation zu sichern, das Konkurrenzverhältnis zwischen konkurrierenden Einzelkapitalen wie auch zwischen den Gesellschaftsmitgliedern zu regeln sowie das Kapitalverhältnis nach innen und außen abzusichern. Dazu bedarf es eines Staatsapparates, einer Bürokratie, eines Heeres, Gemeindiensten, Gerichten, FinanzbeamtInnen und auch staatlicher Investitionen in Bereichen, die einzelnen Kapitalen nicht lukrativ erscheinen.

Die einzelnen KapitalistInnen, ja, die gesamte Klasse nehmen zu diesen Ausgaben ein zwiespältiges Verhältnis ein. Einerseits sind sie unerlässlich, andererseits Abzüge vom Mehrwert. Daher soll der Staat möglichst nichts kosten, aus den Steuern der Masse der Gesellschaft, also vor allem denen der Lohnabhängigen, finanziert werden und zugleich die Interessen des Kapitals bedienen.

Da sich die bürgerliche Gesellschaft als eine unabhängiger PrivatproduzentInnen und voneinander unabhängiger, freier WarenbesitzerInnen konstituiert, muss ihnen der Staat notwendigerweise als eine scheinbar über der Gesellschaft stehende, von ihnen unabhängige Instanz gegenübertreten.

Nur so kann er überhaupt zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse vermitteln, das Interesse des Gesamtkapitals gegen widerstreitende Einzelkapitale durchsetzen. Nur so kann er den Schein wahren, das gesellschaftlich Allgemeine, also auch die unterdrückten Klassen und Schichten der Gesellschaft, zu repräsentieren. Wie sich diese widerstreitenden Interessen in staatlicher Politik ausdrücken, ist selbst eine Machtfrage im Kampf zwischen den Klassen. Dass die Lohnabhängigen dabei in der Lage sind, auch reale Verbesserungen durchzusetzen, nährt zusätzlich den Schein der Klassenneutralität des Staates.

Es ist diese formelle Unabhängigkeit des Staates, über die und hinter der sich jedoch dessen materieller Klassencharakter durchsetzt. Die MMT sitzt hier einmal mehr der Oberflächenerscheinung gesellschaftlicher Verhältnisse auf. Dass sie diesen Fehler mit der gesamten kleinbürgerlichen Umweltbewegung und dem Reformismus teilt, macht die Sache natürlich nicht besser. Betrachten wir die Programme von Sanders, AOC und anderen, können wir jedoch leicht erkennen, warum die MMT bei diesen VertreterInnen des GND so beliebt ist. Sie verspricht eine Finanzierung einer „radikalen“ Umweltpolitik aus dem Nichts. Wenn der Staat einfach Geld, also die notwendigen Mittel für ökologische Investitionen schöpfen kann, spielen Eingriffe in die Verfügungsgewalt des Kapitals über die Produktionsmittel nur eine Nebenrolle. Selbst partieller Verstaatlichungen z. B. des Energiesektors, des Transportwesens oder der Banken und Finanzinstitutionen bedarf es dann nicht. Die Eigentumsfrage spielt keine Rolle, weil der Staat die Realallokation von Ressourcen (Arbeitskraft, Produktionsmittel) auch selbst hervorbringen oder lenken könne, ohne zu verstaatlichen. Selbst die Frage der Besteuerung spielt eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Programme des GND eine Umverteilung der Steuerlast in der Regel vorsehen.

Die MMT führt somit zu falschen Schlüssen, denen die reale Entwicklung entgegenschlägt. In Wirklichkeit ist der Zugriff des Kapitals auf den Staat nur zu brechen durch die Aufhebung des Kapitalverhältnisses selbst. In den letzten Jahrzehnten wurde das Kapital zudem nicht nur ideologisch, sondern auch materiell noch stärker gegenüber dem Staat,  sei es durch Privatisierungen, Umverteilung der Steuerlast, Ausweitung der Staatsschulden. Letztere bilden selbst einen mächtigen Hebel nicht nur des Einflusses des Kapitals auf den Staat. Für es bescheren diese gleich zwei Vorteile: Erstens müssen so weniger Steuern gezahlt, also weniger Gelder den Unternehmen entzogen werden. Zweitens bilden Staatsanleihen und Schulden imperialistischer Staaten einen sicheren Hafen für InvestorInnen in wirtschaftlich stürmischen Zeiten. Das zinstragende Kapital kann also mit einer sicheren Rendite rechnen. Drittens verschafft diese Abhängigkeit den privaten GläubigerInnen auch einen materiellen Hebel. Damit AnlegerInnen „Vertrauen“ in einen mit anderen konkurrierenden Staat als Schuldner haben, muss dieser auch glaubhaft machen, dass er die Kapitalinteressen bedient.

Schon diese Überlegungen verdeutlichen, wie naiv die Sicht ist, dass Staatsschulden kein Problem darstellen. Außerdem kann keineswegs jeder Staat beliebig Schulden bedienen. Deren Höhe ist vielmehr nur so lange ein handhabbares Problem, als Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen ihre Tilgung und Zinsen garantieren. Jede große globale Krise stellt genau diese Fähigkeit der schwächeren, vom Imperialismus beherrschten Länder in Frage. Die sog. Schwellenländer Argentinien oder Türkei sind nur zwei markante Beispiele für diese Entwicklung, die durch einen weiteren Faktor verschärft wird, für den MMT blind ist.

Den verschiedenen Nationalökonomien und den Staaten, die darauf basieren, weisen der Weltmarkt und die imperialistische Ordnung einen bestimmten Platz in der internationalen Arbeitsteilung, in den Wertschöpfungsketten bezüglich des Zugangs zu Finanzmitteln usw. zu. Dieser Hierarchie entspricht auch eine der nationalen Währungen.

Selbst die formelle Währungssouveränität existiert auf dem Weltmarkt letztlich nur für wenige imperialistische Staaten. Ganz oben stehen hier (noch) die USA. Der US-Dollar fungiert als Leitwährung, als Weltgeld, auch wenn China und die EU ihm diesen Platz streitig machen wollen. Für die meisten Länder der Welt existiert eine Währungssouveränität nicht wirklich, so wie die meisten halbkolonialen eben nur formell unabhängig, ökonomisch jedoch als untergeordnete, ausgebeutete Teile in den Weltmarkt integriert sind. Ihre Ökonomien werden vom imperialistischen Großkapital beherrscht – und die Unterordnung ihrer Landeswährungen ist selbst nur ein Ausdruck des Klassenverhältnisses auf imperialistischer Stufenleiter. Diese etablierte und durch das Weltwährungssystem reproduzierte Arbeitsteilung verfestigt logischerweise auch die ökologische Seite der imperialistischen Arbeitsteilung.

Entgegen ihrer eigenen Proklamation, eine Theorie zur Rettung der Menschheit vor der Krise zu liefern, entpuppt sich die MMT eigentlich als Schönwetterideologie, die den  grundlegenden Charakter des Kapitalverhältnisses verkennt.

5. „Linker“, transformatorischer Green New Deal

Die linkeste Variante des Green New Deal, die sich in vielen Forderungen mit denen von Sanders oder AOC durchaus deckt, wurde in den letzten Jahren von reformistischen Parteien bzw. von deren VertreterInnen entwickelt. Im Folgenden wollen wir uns mit dem Wahlprogramm von Labour aus dem Jahr 2019 und mit dem Buch „System Change“ von Bernd Riexinger, dem ehemaligen Vorsitzenden der Linkspartei, beschäftigen, der darin versucht, das Konzept in eine strategische Perspektive einzuordnen.

Das Programm von Labour

Im September verabschiedeten die Delegierten des Labour-Parteitags das, was weithin als die radikalste Umweltpolitik einer großen politischen Partei in der Welt gefeiert wurde:

„Die Maßnahmen des Labour-Konzepts beinhalten die Installation eines Nationalen Transformationsfonds von 400 Milliarden Pfund zur Umsetzung der ‚Green Industrial Revolution’. Davon sollen 250 Milliarden Pfund direkt in den Ausbau erneuerbarer Energie, für den Umbau des Transportwesens, den Erhalt von Biodiversität und Umweltschutz fließen. Die ‚Green Industrial Revolution’ verspricht insgesamt die Schaffung von einer Million neuer Jobs.

Im britischen Energiesektor soll der Übergang zu netto-null Emissionen in den 2030er Jahren erfolgen. Dafür sollen bis 2030 bis zu 90 Prozent der Elektrizität und 50 Prozent der Wärme durch den Ausbau von Off- und Onshore Windenergie, Solar- und Kernenergie erzeugt und auf verbesserten Stromnetzen verteilt werden.

Der Energieverbrauch in Gebäuden verursacht 56 Prozent der britischen CO2-Emissionen; er soll durch den Ausbau und die Erforschung verschiedener Technologien wie Wärmepumpen, solare Warmwassererzeugung und Wasserstofftechnologien reduziert werden. Auch die britischen Haushalte könnten laut Labour profitieren und ab 2030 im Durchschnitt 417 Pfund pro Jahr sparen.

Wichtige Bausteine der ‚Green Industrial Revolution’ sind zudem die Förderung regionaler wirtschaftlicher Entwicklung, besonders in den deindustrialisierten und ökonomisch schlechter gestellten Regionen Großbritanniens, sowie der massive Ausbau öffentlichen Eigentums. Durch demokratische Selbstverwaltung sollen die Menschen bei Entscheidungen über die regionale Entwicklung der Energieversorgung und alle Investitionen mitbestimmen.

• Bus und Bahn sollen wieder verstaatlicht und ausgebaut werden. Der öffentliche Nahverkehr soll verbessert und Straßen für Fußgänger*innen sowie Radfahrer*innen sicherer und komfortabler werden. Zusätzlich ist eine Verbesserung der Infrastruktur für Elektroautos und die Förderung von E-Auto Carsharing Clubs vorgesehen. Bereits ab 2030 sollen in Großbritannien keine neuen Autos mit Verbrennungsmotoren mehr verkauft werden.“[xxxvi]

Der Beschluss, den mittlerweile der Nachfolger Corbyn’s kassiert hat, verpflichtet Labour zu „öffentlichem Eigentum an Energie“ und „öffentlichem Eigentum an den großen Sechs [Energieversorgern]“. Dies stellte zweifellos einen Fortschritt dar gegenüber der bisherigen Politik der Labour-Partei, die zwar das öffentliche Eigentum an den Stromnetzen befürwortete, die Energieverteilung aber in privater Hand belassen wollte. Aber die Grenzen dieses Vorhabens sollten nicht unerwähnt bleiben. Während ein von der Partei in Auftrag gegebener Bericht einräumte, dass erhebliche staatliche Subventionen notwendig sein würden, um Anreize für die Erzeugung von Wind- und Solarenergie zu schaffen, würde Labour der Privatwirtschaft die Freiheit lassen, die Gewinnung fossiler Brennstoffe und die Stromerzeugung aus Kernkraft fortzusetzen, solange sie rentabel seien.

Der Labour-GND sprach auch von einer Verstaatlichung der Verkehrsindustrie und massiven Investitionen in kostenlose oder erschwingliche öffentliche Verkehrsmittel. Die Partei hatte jedoch deutlich gemacht, dass sie bei Verstaatlichung der Eisenbahnen alle privaten Vermögenswerte zum Marktpreis zurückkaufen würde, finanziert durch staatliche Anleihen – ein gewaltiger Vermögenstransfer von den SteuerzahlerInnen zu den ProfiteurInnen. Ähnliches war für den Energiesektor vorgesehen.

Die Betonung technologischer Lösungen, die zu einer verstärkten Nutzung erneuerbarer Energien, einschließlich Elektroautos, führen sollten, kam außerdem einer unkritischen Unterstützung von Industrien gleich, die weiter schädliche Auswirkungen auf die Umwelt hätten. So werden für den Bau von Wind- und Solarparks Metalle aus seltenen Erden und nicht erneuerbaren Materialien benötigt, deren Herstellung zudem energieintensiv ist. Die Autoindustrie kompensiert geringere Gewinne bei der Produktion von Elektroautos durch den Verkauf von Luxusmodellen an weniger energiebewusste VerbraucherInnen oder durch die billigere Produktion von benzinbetriebenen Modellen in anderen Teilen der Welt.

Am wichtigsten ist jedoch, dass der Labour-Ansatz jeden privaten Industriezweig (Solar, Wind, Autos, Busse, Energieerzeugung) als einzelnes Puzzleteil betrachtete, das sich, wenn es nur mit genügend staatlichen Mitteln gefördert würde, in ein harmonisches Gesamtbild einer grünen Wirtschaft einfügen würde. So als ob die Anarchie des Marktes und das Motiv der Profitmaximierung aufgehoben würden, wenn alle privaten AkteurInnen gleich gefördert würden.

Damit sind wir bei der entscheidenden Frage der Eigentumsverhältnisse angelangt. Auch wenn sie wichtige Verstaatlichungen vorsah, räumt die Labour-Partei letztlich der Logik des Privatkapitals Vorrang ein. Sie betrachtet die Unternehmen als „Partner“ beim grünen Wandel, die vom Staat nur von Zeit zu Zeit an ihre ökologische und soziale Verantwortung erinnert werden müssten. Selbst wenn die versprochenen Summen an staatlichen Investitionen bereitgestellt würden, räumte selbst der Labour-GND ein, würden wesentliche Teile der „grünen“ Industrie in privater Hand bleiben.

Somit erweist sich selbst der relativ radikale „Green New Deal“ in Wirklichkeit als Subventionierung, um Anreize für die Ökologisierung von profitorientierten Unternehmen und Finanziers zu schaffen, von denen viele zu den größten VerursacherInnen der Umweltzerstörung gehören.

Ein radikales Verstaatlichungsprogramm müsste die entschädigungslose Enteignung vorsehen und den gesamten Sektor der Energie und Verkehrswirtschaft umfassen, um eine Planung wenigstens für diesen Bereich gemäß gesellschaftlichen Bedürfnissen sicherzustellen. Doch Labour verpflichtete sich, die Unantastbarkeit des Privateigentums grundsätzlich zu respektieren, indem den ehemaligen EigentümerInnen eine „faire“ (d. h. marktgerechte) Entschädigung angeboten und andere Unternehmen als „Partner“ begriffen werden sollen.

In Wirklichkeit hätten diese „Partner“ freilich auch Labours Programm als Kriegserklärung aufgefasst. Wenn die Partei z. B. bereit gewesen wäre, wesentlich radikalere Steuerpläne zur Finanzierung des GND durchzusetzen, hätte das eine Kapitalflucht in großem Umfang ausgelöst, um das Eigentum in Sicherheit zu bringen und eine Schuldenkrise auszulösen, um damit diese Labour-Regierung zu Fall zu bringen. Die Androhung von Enteignungen hätte zweifellos eine ähnliche Wirkung. In jedem Fall aber müsste Labour auf eine solche Sabotage mit strengen Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen reagieren und diese erzwingen, wobei die Gewerkschaften die ArbeiterInnenkontrolle und die Öffnung der Konten, Bücher und Finanzunterlagen der betroffenen Unternehmen hätten durchsetzen müssen.

All das hätte jedoch zu einer massiven Verschärfung des Klassenkampfes geführt, die ihrerseits die Systemfrage, also die der Enteignung der herrschenden Klasse, der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates und Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft aufgeworfen hätte.

Das wollte aber auch die linke Labour-Führung unter Corbyn nicht. Mehr noch. Da die Labour-Führung eine sozialistische Umwälzung gegenwärtig als nicht möglich, unrealistisch und utopisch zurückwies und eine Planwirtschaft prinzipiell ablehnte, blieb ihr letztlich nur eine mehr oder minder radikale Reformpolitik übrig.

Die Verhandlungen am Labour-Parteitag brachten jedoch nicht nur die Schwächen und Grenzen ihres New Deals hinsichtlich der herrschenden Klasse zum Ausdruck. Viele Abschnitte stellten auch einen Formelkompromiss mit jenen GewerkschaftsvertreterInnen dar, die vor allem um die Zukunft „ihrer“ Industrie fürchteten.

Die Spannungen zwischen eng definierten Gewerkschaftsinteressen (Erhalt bestehender Arbeitsplätze und Verbesserung der Arbeitsbedingungen) und der Umweltpolitik sind nicht neu. Wie die AktivistInnen zu Recht erkannt haben, ist eine breite Unterstützung der ArbeiterInnenklasse, einschließlich derjenigen, die derzeit z. B. in fossile Energieträger verbrauchenden Industrien arbeiten, für eine ökologische Transformation unerlässlich. Aber die Gegensätze lassen sich nicht dadurch lösen, dass man sie unter den Teppich kehrt, wie es die Labour-Partei z. B. bei der Frage des Flughafenausbaus getan hat. Die Bewegung muss offen zugeben, dass einige Produkte und Produktionsstätten verschwinden müssen – und zwar schnell.

Staatliche Unterstützung für Umschulungsprogramme kann zwar einen gewissen Beitrag leisten, die sozialen Folgen kapitalistischer Umstrukturierungen abzufedern. Sie wird aber niemals in der Lage sein, den anarchischen Marktkräften vollständig entgegenzuwirken, die – zumindest vorübergehend – LohnarbeiterInnen verdrängen und sie in schlechter bezahlte Arbeit zwingen werden.

Auch hier zeigt sich, dass eine grundlegende ökologische Umstrukturierung der Wirtschaft ein Gesamtprogramm der ArbeiterInnenklasse erfordert, das Arbeitskräfte aus Branchen, die geschlossen werden, ohne Einkommensverlust und zu gleichen Arbeitsbedingungen in andere überführt. Allein diese notwendige Neuverteilung der gesellschaftlichen Arbeit lässt sich viel leichter, reibungsloser durchführen, wenn die entsprechenden Unternehmen unter ArbeiterInnenkontrolle verstaatlicht werden.

Schließlich sprach der Green New Deal der Labour-Partei auch einige Folgen des Umweltimperialismus und dessen Dynamiken an. Doch blieb er, wie ein großer Teil der vorherrschenden Umweltpolitik, bei freiwilligen Lösungen und wohlklingenden Phrasen stehen, indem er sich auf die Förderung des internationalen Austauschs von Technologien und Ressourcen beruft, um anderen Ländern zu helfen, einen Green New Deal zu erreichen. Diese unverbindliche Erklärung verpflichtet zu nichts. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Labour-Partei angesichts ihres Engagements für marktwirtschaftlich-keynesianische Lösungen im eigenen Land sicherlich nicht bereit gewesen wäre, die Zerschlagung aller Institutionen des globalen Imperialismus zu unterstützen, die notwendig wäre, um die Volkswirtschaften des globalen Südens aus den Fesseln zu befreien.

Der linke, reformistische GND – und nicht nur der von Labour – behandelt sowohl soziale Transformation, internationale Verhältnisse wie Umweltfrage als Verteilungsproblem.

Sofern eine Überwindung des Kapitalismus angestrebt wird, geht sie mit einer verengten, reformistischen Vorstellung von Sozialismus einher und einer Wiederbelegung utopischer, marktsozialistischer Konzeptionen. So heißt es z. B. bei Klaus Dörre:

„Neben kollektivem Selbsteigentum benötigt eine neue Wirtschaftsdemokratie drei weitere Säulen:

– eine induktive demokratische Rahmenplanung einschließlich der Abstimmung über Planalternativen im Rahmen allgemeiner, gleicher und freier Wahlen;

– ein Maximum an direkter Partizipation und Demokratie in Region, Kommune, Betrieb und Unternehmen;

– echte Marktwirtschaft und Märkte als wichtiger Allokationsmechanismus.

In einer solchen Wirtschaft könnten noch immer Unternehmen existieren, die Gewinne erwirtschaften. Aber eine gesamtwirtschaftliche Koordination würde sie einer social order unterwerfen, die keine kapitalistische wäre.“[xxxvii]

Was im Labour-Programm noch vergleichsweise altbacken, traditionsreformistisch daherkommt, hebt sich in Dörres Vorstellung von einer „großen Transformation“ letztlich nur durch eine anders geartete Verkennung der Zwangsgesetze der Kapitalakkumulation ab.

Die Vorstellung, dass eine Art „Rahmenplanung“ neben einer funktionierenden oder gar „echten“ Marktwirtschaft harmonisch zum Wohl aller existieren könnte und, ganz nebenbei, sich auch noch ein nachhaltiges Verhältnis von Mensch und Natur etablieren würde, ist kompletter Utopismus. Sie kommt dem Versuch gleich, die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unangetastet zu lassen und gleichzeitig alle ihre Missstände und Nachteile durch eine nebulöse, nichtkapitalistische „social order“ auszumerzen. Ebenso gut könnte man die Abschaffung des Kapitalismus auf Basis des Kapitalismus verlangen.

In Wirklichkeit greifen alle Formen eines Green New Deal zu kurz, weil sie das Privateigentum intakt lassen – und somit notwendigerweise auch die Grundstruktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Riexinger

Nachdem wir das Programm der Labour-Partei unter Corbyn betrachtet haben, wollen wir uns dem ehemaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Bernd Riexinger, zuwenden. Gegen Ende seine Funktionsperiode ging dieser unter die BuchautorInnen und versuchte sich als Stratege seiner Partei. Schon 2018 legte er mit „Neue Klassenpolitik“[xxxviii] einen Text vor, in dem er die Ausrichtung der Linkspartei zu begründen suchte. Mit seinem vor wenigen Monaten beim Hamburger VSA-Verlag erschienenen „System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal“[xxxix] versucht er, eine langfristige, strategische Antwort auf die derzeitige Krise vorzulegen.

Er will deshalb die herrschenden Zustände angreifen, den „Status quo in Frage stellen“. Auch wenn er den Kapitalismus nicht abschaffen will, so strebt er eine andere „Formation“ desselben an. Dass der Vorsitzende einer reformistischen Partei dem Reformismus treu bleibt, überrascht nicht weiter. Die Beschäftigung mit seinem Buch erweist sich dennoch als sinnvoll. Reformistische Parteien und ParteichefInnen begründen ihre „Realpolitik“ in der Regel erst gar nicht theoretisch, da sie diese ohnedies, ganz im Sinne ihres engen, pragmatischen Horizonts, für alternativlos erachten.

Riexinger hingegen hält eine theoretische Begründung für nötig, weil er einen „neuen“ Linksreformismus begründen will, dessen Vorstellung von Systemwandel (System Change) und Green New Deal sich nicht nur vom revolutionären Marxismus, sondern auch von den Konzepten der Sozialdemokratie und der Grünen unterscheiden und abgrenzen soll.

Dabei greift er reale Probleme auf: „Lange schon schwelen verschiedene Krisen des Kapitalismus: Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und das Gefühl von vielen, dass die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Corona hat diese Vielfachkrise des Kapitalismus verschärft und zugespitzt.“[xl] Er beschreibt Erscheinungen und Probleme, die mit dem Kapitalismus zu tun haben bzw. von ihm produziert werden. Aber eine marxistische Krisenanalyse stellt dies nicht dar.

Eine theoretisch fundierte, konkrete Untersuchung des Kapitalismus findet nicht statt und auch nicht, wie diese „einzelnen Krisen“ zusammenhängen. Er beschreibt die Erscheinungen meist ganz treffend und belegt, dass die vorgeblichen Bemühungen von Bundesregierung oder EU-Kommission, bestimmte Probleme, z. B. die globale Erwärmung, anzugehen, hilflos sind, Einzelmaßnahmen darstellen und durch die generelle Ausrichtung der Politik konterkariert werden.

Ein Beispiel: „EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits Ende 2019 ein Konzept für einen Green Deal auf den Weg gebracht, der die Klima- und Wirtschaftspolitik stärker aufeinander abstimmen soll. Ziel sind massive Investitionen in neue Technologien zur effizienteren Ressourcennutzung und zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen. Das klingt gut, erweist sich aber bei näherem Hinsehen wie eine Mischung aus ,Greenwashing’ und Wettbewerbspolitik. Das Ziel, bis 2050 eine ,grüne Null’ zu erreichen, ist für die EU ein Fortschritt, reicht aber nicht aus, um die Klima-Katastrophe zu verhindern. Während aus einem Fonds Investitionen in den Klimaschutz finanziert werden sollen, fördern zahlreiche EU-Töpfe mit Milliarden Euro klimaschädliche Großprojekte.“[xli]

Aus all diesen Beispielen folgt für Riexinger, dass eine neue Politik nötig ist. Er beansprucht dabei nicht weniger, als alle genannten Probleme in ihrer Vielfältigkeit anzugehen. Sein Ziel ist es, alle Bewegungen, die gegen diese aktiv sind, zu einer einzigen zu vereinen, die dann alles für alle erreicht, was sozial und ökologisch ist, unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Riexinger fasst das so zusammen: „Entscheidend ist, ein Bündnis sozialer Bewegungen für den sozialökologischen Umbau und unteilbare Solidarität aufzubauen. Dafür ist der Green New Deal kein Masterplan, sondern ein strategischer Vorschlag, wie wir eine bessere Welt gewinnen können.“[xlii]

Die Ziele, die er vorschlägt, basieren auf den bekannten Forderungen der Linkspartei:

  • Löhne, die zum Leben reichen; 13 Euro Mindestlohn; Leiharbeit verbieten: prekäre Arbeit abschaffen; Arbeitszeit um die 30-Stunden-Woche mit Lohnausgleich.
  • Rentenniveau auf 53 % anheben; Mindestrente von 1 200 Euro; AlG I auf 24 Monate verlängern; Elterngeld auf 24 Monate anheben.
  • Für die „Transformation der Autoindustrie“ stellt Riexinger sich unter anderem vor, Fahrzeuge für kollektive Mobilitätskonzepte herzustellen und einen Ausbau der Bahn zu forcieren.

Um diese Ziele zu erreichen, sollen die Bewegungen, die es schon gibt und die sich noch mehr verbinden müssen, soviel Druck auf den Staat ausüben, dass dieser die Konzerne und das Kapital dazu zwingt. Am Beispiel der Autoindustrie liest sich das so: „Der Staat muss die Auto-Konzerne auf einen sozial gerechten, ökologischen Transformationspfad verpflichten. Das wird nur gelingen, wenn Belegschaften, Gewerkschaften, Umweltverbände und Klimabewegung an einem Strang ziehen.“[xliii]

Er verweist darauf, dass es im Konjunkturpaket Gelder der Regierung für Transformation gebe.

Für die Zukunft will er außerdem die Wirtschaft demokratisieren. DAX-Unternehmen sollen mindestens zu 21 % in öffentlichem Eigentum stehen, 30 % Belegschaftseigentum, den Rest dürfen private AktionärInnen behalten.[xliv]. Was er nicht sagt, ist, wie den DAX-Konzernen 51 % ihres Kapitals genommen werden sollen. Darüber hinaus liegt seinem Buch die Vorstellung zugrunde, dass die VertreterInnen des Staates, des „öffentlichen Eigentums“ und die Belegschaften einen Block formen würden. Realistischer ist jedoch, dass der Staat mit dem Kapital zusammengeht. Hinzu kommt, dass das „Belegschaftseigentum“ letztlich auch eine Form des Privateigentums, nämlich Gruppeneigentum darstellt. Die Beschäftigten wären (Mit-)EigentümerInnen „ihres“ Betriebes und daher auch an dessen Konkurrenzfähigkeit interessiert. Was Riexinger als Schritt zu einer Vergesellschaftung ausgibt, könnte sich nur allzu leicht als weitere Fessel der Lohnabhängigen an „ihr“ Unternehmen erweisen.

Solche Utopien kann man nur schreiben, wenn man alles ignoriert, was MarxistInnen über Konkurrenz und den bürgerlichen Staat formuliert haben. Die Marx’sche Sichtweise erledigt Riexinger, indem er die Aussage, der „Staat sei nur ein Instrument in den Händen von Kapital und Konzernen“[xlv], so interpretiert, als würde sie bedeuten, dass Staat und Kapital als identisch betrachtet würden, dass sich der Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht im Staat reflektieren würde, als könnten überhaupt keine politischen Reformen errungen werden. Zwar weist er die platte bürgerliche Idee, dass „der Staat ein neutrales Instrument sei“ zurück und erklärt stattdessen, „dass sich im Staat Kräfteverhältnisse verdichten. Er ist das Feld, auf dem die verschiedenen Interessen (Klasseninteressen) ausgetragen werden.“[xlvi]

Hinter diesen Ideen steckt zwar ein Körnchen Wahrheit, nämlich dass rein gewerkschaftliche oder soziale Kämpfe allein nicht ausreichen, um grundlegende Veränderungen zu erzielen, sondern ein politischer Kampf notwendig ist. Aber durch die Weigerung, den bürgerlichen Klassencharakter dieses Staates anzuerkennen, verkommt das Ganze nur zu einer komplexeren Begründung einer reformistischen, bürgerlichen Reformstrategie. Letztlich muss und kann die ArbeiterInnenklasse in Riexingers Augen den Staat in einem langwierigen gesellschaftlichen und institutionellen Kampf übernehmen und verändern.

Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zur marxistischen Staatstheorie, die den bürgerlichen Staat als Herrschaftsinstrument des Kapitals begreift, das über tausende Fäden materieller Spitzenprivilegien die Armee, den Repressionsapparat, die Justiz- und Staatsbürokratie auf sich als herrschende Klasse verpflichtet, um die Interessen des Gesamtkapitals wahrzunehmen. Die Crux besteht gerade darin, dass der bürgerliche Staat als ideeller Gesamtkapitalist fungieren kann, weil er nicht mit einzelnen Kapitalen oder der ökonomischen Vertretungen der Bourgeoisie identisch ist. So kann er deren Gesamtinteresse auch gegen einzelne dieser Fraktionen durchsetzen – wie beim New Deal der 1930er Jahre.

Das ist auch der Grund, warum ein revolutionäres kommunistisches Programm immer auf die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch einen Rätestaat der ArbeiterInnenklasse, die Diktatur des Proletariats, zielt.

Es würde aber auch reichen, die politische Realität wahrzunehmen: Es ist ja kein Ausrutscher, wenn in den Konjunkturpaketen keine Auflagen für die Lufthansa oder die Autokonzerne enthalten sind, denn es geht diesem Staat, seiner Regierung und seinem Apparat dabei immer um das, was im Wortsinn „systemrelevant“ ist: den Erhalt der Profitmaschinen der deutschen Bourgeoisie im Konkurrenzkampf mit ihren internationalen KonkurrentInnen. Dem werden alle sozialen und ökologischen Fragen untergeordnet.

Es zeigt sich an dieser Stelle, dass die Schwammigkeit zu Beginn des Buches bei der Darstellung der vielfältigen „Krisen des Kapitalismus“ ihre Ergänzung und Fortsetzung findet, wenn es um den Staat im Kapitalismus geht. Die Utopie schließt auch ein, dass dieser sozial und ökologisch gebändigte Kapitalismus funktionieren und nicht weiter Krisen produzieren würde.

Riexinger hält seine Utopie für Realismus. Sein Credo ist, man müsse an die realen Bewegungen anknüpfen, weil nur Menschen in Bewegung etwas verändern können. Sein Irrtum besteht darin, dass er auch an den falschen Vorstellungen der Bewegungen festhält, ja sie zu seinen eigenen macht. Die Führung der Umweltbewegung beispielsweise glaubt, dass eine ökologische Wende in diesem System, ja sogar mit diesen Regierungen möglich sei.

RevolutionärInnen vertreten einen anderen Ansatz: Sie wollen, dass Menschen in der Bewegung lernen und ihre Ziele ändern. Dafür gilt es immer, Vorschläge zu unterbreiten, die realistisch sind, weil sie funktionieren können. Wir leugnen, dass der Staat der Bourgeoisie durch eine Bewegung zu einem anderen werden kann, selbst wenn es möglich ist, Maßnahmen im Interesse der Lohnabhängigen durchzusetzen.

Notwendig ist vielmehr, dass die ArbeiterInnenklasse diese Kämpfe für Reformen – einschließlich von Forderungen nach Verstaatlichung – mit dem Kampf um Kontrolle eben dieser Maßnahmen und den Aufbau ihrer eigenen Macht verbindet. Dass die Beschäftigten Betriebe besetzen, die geschlossen werden sollen. Dass sie für die Verstaatlichung, die Fortführung und Umstellung, Konversion der Produktion unter ihrer eigenen Kontrolle kämpfen und diese gegen Übergriffe des Staates verteidigen.

Eine solche Perspektive ist im revolutionären Sinne realistisch, weil sie von den realen gegensätzlichen Interessen der Klasse und der Rolle des Staates ausgeht und nicht selbst Luftschlösser produziert. Indem sie die Kämpfenden in den Bewegungen darauf vorbereitet, deren Illusionen und falschen Vorstellungen solidarisch kritisiert und darlegt, welche Aktionen und Forderungen notwendig sind, um kurz- und langfristige Ziele zu erreichen, tritt sie für einen revolutionären Realismus ein.

Für seine Vision muss sich Riexinger aber nicht nur den Kapitalismus und seinen Staat schönreden, sondern auch die AkteurInnen seiner Bewegungen. Das fängt an bei der Linkspartei, die sich „behauptet“ und die „stabil“ ist, aber auch in „ständiger Veränderung“[xlvii]. Dies würde wahrscheinlich auch Riexinger nach der Wahlniederlage 2021 anders formulieren. Blauäugig war es aber auch vorher schon. Schon damals musste man die Frage stellen, warum die Linke so gut wie nichts aus den Verlusten der SPD gewinnen konnte. Was ist mit der Politik der Linken an der Regierung? Martin Schulz sagt zu Recht: „Eine Regierung SPD-Grüne-Ramelow, zum Beispiel, vor der hat in Deutschland keiner Angst.“

In den Gewerkschaften sieht Riexinger völlig zu Recht eine entscheidende Kraft für jede Veränderung. Er erkennt auch, dass diese sich entscheiden müssen, „ob sie sich als mobilisierende, organisierende und konfliktorientierte Interessenvertretung stärken oder ob sie sich auf die korporatistische Zusammenarbeit mit (exportorientiertem) Kapital konzentrieren wollen.“[xlviii]  Dann lobt er das IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, um anschließend festzustellen: „Selbstverständlich gibt es auch ganz andere Stimmen. Betriebsräte und GewerkschafterInnen, die Abwrackprämien auch für neue Dieselautos fordern.“[xlix]  Diese „anderen“ Stimmen stellen in der IG Metall die absolute Mehrheit! Auch Urban hat der Forderung nach Kaufanreizen für Verbrennerautos nicht widersprochen.

Aber die SozialpartnerInnenschaft floriert nicht nur in der Exportindustrie. Die maßgeblich von der Linkspartei und ihren FunktionärInnen in ver.di angestoßene Pflegekampagne wurde trotz breiter Wirkung von der ver.di-Bürokratie auf einzelne Betriebe beschränkt, eine Politisierung durch die Verbindung mit der Forderung nach Rekommunalisierung der Krankenhäuser bekämpft und die ganze Kampagne in die Sackgasse von BürgerInnenbegehren gelenkt.

Um die Gewerkschaften und ihre Millionen Mitglieder für antikapitalistische Kampagnen jeder Art zu gewinnen, ist also eine systematische Auseinandersetzung mit der SozialpartnerInnenschaft und ihrer Trägerin, der Gewerkschaftsbürokratie, nötig. Schon die Debatte darüber, wie diese aussehen könnte und sollte, wird in der Linken nicht geführt und auf den Streikkonferenzen der Luxemburg-Stiftung konsequent verhindert.

Die Idee eines sozial gebändigten Kapitalismus‘ ist nicht neu. Riexinger will dem Raubtier nur neue ökologische Fesseln anlegen. Dieser Traum ist immer wieder befeuert worden, weil es Phasen gab, in denen die Bourgeoisie Zugeständnisse an die ArbeiterInnenbewegung machen musste. Er wurde auch genährt, weil in Krisenperioden die gängigen bürgerlichen Ideologien selbst fraglich werden. Daher suchen auch viele nach radikalen Alternativen. Auch das versuchen Riexinger und die Linkspartei wie auch viele ähnliche Strömungen in Westeuropa, den USA und auf der gesamten Welt aufzugreifen, indem sie einen scheinbar radikaleren Reformismus als gangbare quasi revolutionäre, antikapitalistische Politik zu begründen versuchen.

Die Aufgabe für SozialistInnen und KommunistInnen bleibt beständig, in einer historischen Krise des kapitalistischen Systems nicht für eine neue sozialere Formation des Kapitalismus zu kämpfen, welche dieses verrottete System sofort wieder zerlegen würde, sobald es kann.

Fazit

Die reformistischen Spielarten des Green New Deal lösen weder die sozialen und politischen Probleme unserer Zeit noch die ökologischen Krisen. Ganz grundlegend behandelt dieser GND die soziale Transformation, nationale und internationale  Klassenverhältnisse als Verteilungsprobleme. Und in diesen Reigen fügt sich auch die Umweltfrage ein, die sich, ebenso wie Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Verhältnisses von Norden und Süden usw. angeblich durch eine stärkere Regulation der kapitalistischen Wirtschaft lösen ließen. Ob es nun Teilverstaatlichungen, eine „Rahmenplanung“ durch den bürgerlichen Staat oder Belegschaftseigentum an großen Unternehmen sein sollen, in jedem Fall bleiben die grundlegenden Mechanismen der Konkurrenz und der kapitalistischen Akkumulation intakt.

Was den reformistischen Green New Deal von anderen, vor allem vom linksbürgerlichen unterscheidet, ist nicht, dass er Bündnisse mit Teilen der herrschenden Klasse ablehnen würde. Er sieht nur im Unterschied zu anderen Spielarten des GND die Notwendigkeit, dass die ArbeiterInnenklasse, die gewerkschaftlich und in reformistischen Massenparteien organisiert ist, im Bündnis mit der Umweltbewegung ständig Druck auf den Staat, die Regierung und auf die KapitalistInnen ausüben muss, quasi als ständiger Reparaturbetrieb wirken muss, um die „Transformation“ voranzubringen, was, wie jede reformistische oder rein gewerkschaftliche Strategie, bestenfalls einer Sisyphusarbeit gleichkommt.

Bei günstigem Geschäftsgang des Kapitals kann sie noch eine gewisse Logik für sich beanspruchen, weil sich der Umverteilungsspielraum der rein gewerkschaftlichen und sozialreformerischen Aktivität bei Prosperität des Kapitals erweitert, dann die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft günstiger sind. Krisenperioden jedoch  unterhöhlen die Basis dieser Sisyphusarbeit.

Was die Frage der ökologischen Transformation betrifft, stößt diese Reformpolitik jedoch auf ein zweites, grundlegendes Problem. Während die Prosperität des Kapitals den Spielraum für Sozialreformen erhöhen kann, so gilt dies keineswegs für die Lösung  ökologischer Probleme. Im Gegenteil, der freie Gang der Akkumulation verschärft und beschleunigt diese Krise. Daher greift eine Politik, die die Frage der gesellschaftlichen Transformation letztlich als Verteilungsproblem analog zum gewerkschaftlichen Kampf betrachtet, notwendigerweise immer zu kurz.

Die verschiedenen Formen der ökologischen Krise (in gewisser Weise auch die Corona-Pandemie) werfen vielmehr die Frage nach grundlegender bewusster Reorganisation der Gesellschaft auf: nach dem Was, Wie, Wieviel, Womit und Für wen produziert wird, nach bewusster gesellschaftlicher Planung.

Um die sieben, zu Beginn des Artikels dargestellten, großen ökologischen Krisenphänomene bewältigen zu können, sind grundlegende Eingriffe in die Bestimmung dessen, was wie produziert wird, notwendig. Diese sind untrennbar mit der Überwindung der globalen kapitalistischen Ausbeutungsordnung verbunden, also der internationalen Revolution. Nur so kann Produktion und Reproduktion vernünftig und ökologisch nachhaltig im Interesse der gesamten Menschheit bewusst reorganisiert werden.

Ein Aspekt dieses Gesamtkomplexes betrifft auch die Frage der Endlichkeit von Ressourcen. Sozialismus und Kommunismus können nicht einfach als ein Mehr an Produktion und eine Verallgemeinerung des Konsums der Bevölkerung auf dem Stand der ArbeiterInnenklasse der Industrieländer aufgefasst werden. Für diese wird vielmehr eine Beschränkung des aktuellen individuellen Konsumniveaus notwendig sein.

Dem stehen natürlich ein Gewinn an frei verfügbarer Zeit, weniger Arbeitsstunden, gemeinschaftlich statt nur persönlich nutzbare, wiederverwertbare und langlebige Güter und die Möglichkeit zur viel breiteren, umfassenderen individuellen Entfaltung entgegen, so dass eine sozialistische Umwälzung letztlich im Interesse der gesamten ArbeiterInnenklasse liegt.

Beim Green New Deal werden diese Fragen jedoch entweder grundsätzlich ignoriert oder bloße Scheinlösungen präsentiert, weil auch ein „reformierter“ oder „gebändigter“ Kapitalismus, der notwendigerweise auf einer erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals beruhen muss, mit einer planmäßigen, an den Bedürfnisse von Mensch und Natur ausgerichteten Produktion unvereinbar ist.

6. Zusammenfassende Kritik

a) Alle Spielarten des ND oder GND erkennen an, dass der „reine“ freie Markt nicht ausreicht zur ökologischen Transformation, sondern ein staatliches Eingreifen erforderlich ist. Insofern impliziert der GD oder der GND immer zumindest eine begrenzte Kritik am Neoliberalismus und das Aufgreifen einzelner keynesianischer Momente.

b) Alle unterstellen jedoch zugleich, dass kapitalistisches Wachstum mit ökologischem Umbau erfolgreich verbunden werden muss.

Dies impliziert also die Möglichkeit einer erfolgreichen Regulierung des Kapitalismus durch Regierungen – durch Preispolitik, Stimulation der Konkurrenz für ökologische Ziele, Investitionsprogramme oder, in den linksten Varianten, durch partielles Eingreifen in die Verfügungsgewalt des Privateigentums bis hin zu Verstaatlichungen in einzelnen Sektoren.

Grundsätzlich gehen alle Varianten des GD/GND davon aus, dass die kapitalistische Produktionsweise ökologisch nachhaltig gemacht werden könne, wenn nur eine dementsprechende Technologie verallgemeinert und ökologisch nachteilige Effekte durch staatliche Rahmenbedingungen oder Wirtschaftspolitik ausgeglichen würden.

c) Der bürgerliche Staat wird als Instrument zur Regulierung des Kapitalismus im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit (und bei den linkeren Konzeptionen auch sozialer Gleichheit) begriffen . Er muss gewissermaßen nur selbst reformiert und „richtig“ eingesetzt werden.

d) Staatliche Politik soll durch eine gesellschaftliche Mehrheit (Allianzen) oder Bewegungen gestützt werden. Gesellschaftliche Hegemonie soll hergestellt werden, um den GND (oder GD) gegen Widerstände durchzusetzen. Bei allen Unterschieden zielen sämtliche Konzepte auf eine Art korporatistische und zivilgesellschaftliche Einbindung verschiedener Klassen, auf eine „progressive Allianz“.

e) Alle Varianten des GND unterstellen, dass sich eine nachhaltige Ökonomie analog zur Einbeziehung von Teilen der ArbeiterInnenklasse in eine reformierte kapitalistische gestalten ließe. Das heißt, die ökologischen Fragen werden letztlich wie Umverteilungsfragen behandelt.

f) Alle sind letztlich nationale (oder allenfalls auf einen Staatenbund wie die EU bezogene) Programme, deren internationale Komponente nie über wechselseitige, völkerrechtliche Abmachungen bürgerlicher Staaten und nebulöse Bekenntnisse zu mehr „Fairness“ in den Wirtschaftsbeziehungen hinausgeht. Die bestehende imperialistische Ordnung und die ihr zugrunde liegende Arbeitsteilung werden faktisch vorausgesetzt und bleiben letztlich unangetastet.

7. Umwelt und sozialistische Transformation

Bei aller Kritik wirft der Green New Deal die Frage auf, wie die Produktion, wie Gesellschaft, wie das Verhältnis von Mensch und Natur in Zukunft organisiert werden sollen. Natürlich mussten sich Menschen immer schon zur Natur verhalten, haben immer in diese eingegriffen, diese verändert. Das trifft für alle menschlichen Gemeinschaften und damit natürlich auch alle vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen zu.

Das Verhältnis dieser Gemeinschaften zur Natur war natürlich nie ein naiv-harmonisches. Die äußere Natur tritt dem Menschen oft genug als unbeherrschter, noch wenig erkannter und verstandener Zusammenhang entgegen. Die Mittel zur eigenen Existenz werden teilweise vorgefunden oder als Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse entdeckt oder müssen einer oft übermächtigen Naturgewalt abgerungen werden. Die Natur, die natürliche Umwelt, tritt also selbst als sich durch menschlichen Eingriff, Arbeit verändernde Materie auf. Ein „harmonisches“ Mensch-Natur-Verhältnis existiert nicht. Dieses Bild entsteht vielmehr erst auf späteren Stufen der Entwicklung der Klassengesellschaft, insbesondere in verschiedenen Spielarten der Romantik und ihren Ausläufern, als immer schon verklärtes und ideologisiertes, seinem Wesen nach reaktionäres Naturbild.

Reaktionär ist es insbesondere deshalb, weil es den Blick auf das Mensch-Natur-Verhältnis selbst verstellt. Dieses ist immer schon durch die gesellschaftliche Arbeit vermittelt, ja, die menschliche Arbeit konstituiert überhaupt erst den Unterschied zwischen Mensch und Natur. Neben die natürliche Umwelt tritt eine zweite, mit dieser immer eng verbundene menschliche, gesellschaftliche Natur:

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur.“[l]

Mit der menschlichen Arbeit geht also immer schon ein zweckmäßiger Eingriff in Natur einher, und als Bildnerin von Gebrauchswert stellt sie, egal, ob nun als Arbeitsmittel oder zum individuellen Verbrauch, eine Grundbedingung jeder menschlichen Gesellschaft dar. Mit der menschlichen Arbeit geht aber auch ihre Zwecksetzung einher. Dies unterscheidet sie von den entwickeltsten anderen Spezies auf dem Planeten. Auch Primaten können z. B. Gegenstände als Hilfsmittel einsetzen, aber sie produzieren diese nicht. Bienen, Termiten oder Ameisen kooperieren instinktiv in riesigen Gemeinschaften, aber sie setzen sich diese Zwecke nicht selbst. Marx macht diesen Unterschied und damit auch ein Wesenselement der menschlichen Arbeit im 1. Band des Kapitals deutlich:

„Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt.“[li]

Diese allgemeinen Bestimmungen der menschlichen Arbeit verweisen schon darauf, dass im Arbeitsprozess nicht nur ein unvermeidlicher Eingriff in die Natur stattfindet, sondern auch darauf, dass dieser auch die Möglichkeit einer rationalen, nachhaltigen Regelung dieses Stoffwechsels beinhaltet. Auf den ersten Blick erscheint das Verhältnis von Mensch und Natur dabei als recht einfaches, transparentes.

Nicht so jedoch im realen historischen Entwicklungsprozess. Die Menschen machen bekanntlich zwar ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie unter vorgefundenen, ihnen selbst als gegeben entgegentretenden Bedingungen, weder aus freien Stücken noch mit vollem Bewusstsein in Gestalt eines Gesellschaftsplans. Die von ihnen selbst geschaffenen Verhältnisse erscheinen ihnen wie Naturgewalten, als außerhalb ihres Willens und ihrer Kontrolle liegend. Die Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung hervorgebracht haben und die letztlich auf Entwicklungsstufen der menschlichen, und das heißt immer schon der gesellschaftlichen, Arbeit beruhen, erscheinen ihnen daher in ideologisierter Weise.

Auch frühere Produktionsweisen griffen teilweise massiv und extrem zerstörerisch in die Natur ein – bis hin zur Verwüstung ganzer Landstriche, der Ausrottung zahlreicher Tierarten oder auch der Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen lokaler oder regionaler menschlicher Gemeinschaften, die, wenn auch ungewollt, zum Untergang ganzer Kulturen führen konnten. Allerdings waren diese Prozesse letztlich lokal oder regional begrenzt.

Der Kapitalismus stellt das Verhältnis von Mensch und Natur auf eine nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ neue Grundlage. Anders als frühere Produktionsweisen greift er in globalem Maßstab und auf Grundlage der großen Industrie in dieses Verhältnis ein. Die Menschheit wird im Kapitalismus selbst zu einem bestimmenden Faktor der Entwicklungen globaler ökologischer Systeme. Der Klimawandel ist dafür nur ein Bespiel.

Dabei kommt zweierlei zum Ausdruck. Erstens stellt der Kapitalismus von Beginn an eine globale Produktionsweise dar. Zweitens prägt der Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Charakter der Arbeit und privater Aneignung der Arbeitsprodukte diese Produktionsweise grundlegend.

Der nützliche Charakter der Arbeit erweist sich erst im Nachhinein über den Markt, also  hinter dem Rücken der ProduzentInnen. Ob ein Produkt das Bedürfnis eines/r Dritten befriedigt, ist dabei jedoch nur eine Bedingung für die erfolgreiche Vermittlung über Kauf und Verkauf. Die Ware muss nicht nur ein Bedürfnis befriedigen, der Bedürftige muss  seinerseits auch kaufkräftig sein.

Wesentlich für das über den Markt vermittelte Verhältnis ist jedoch, dass in der kapitalistischen Produktionsweise noch in einem viel grundlegenderen Sinn die Bedürfnisse Dritter nur Mittel zum eigentlichen Zweck der Produktion verkörpern. Die Metamorphosen (Umwandlung) der Waren stellen selbst ein dem Kapitalkreislauf und den Metamorphosen des Kapitals untergeordnetes Moment dar. Der eigentliche Zweck der Produktion besteht in der Verwertung des Werts, darin, aus Kapital C mehr Kapital C’ zu schlagen. Daher muss der kapitalistische Produktionsprozess ständig nach Expansion, nach Ausdehnung seiner Basis und nach Erweiterung der Akkumulation streben. Ein Kapitalismus ohne Wachstum wäre gleichbedeutend mit einem Kapitalismus ohne erweiterte Reproduktion des Kapitals, wie Sklaverei ohne Versklavung.

Akkumulation ist das Lebenselixier der bestehenden Produktionsweise; ohne diese keine Vermehrung von Profit. Historisch betrachtet, ging dies mit einem enormen Fortschritt gegenüber vorhergehenden Gesellschaftsformationen einher, nämlich der Umwälzung der technischen Grundlage der Produktion, der Einbeziehung von Wissenschaft und Technik in den Arbeitsprozess und damit auch der Schaffung der produktiven Grundlagen für eine bewusste Form der Vergesellschaftung. Doch solange das Kapitalverhältnis selbst besteht, geht der Widersprich zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung auf Kosten von Mensch und Natur. Er  besteht in der Ausbeutung und damit in der Zurichtung der Arbeitenden einerseits in der Ausnutzung der Naturbedingungen ohne Rücksicht auf langfristige Folgen, also der Unterminierung und tendenziellen Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit andererseits.

Die Stärke des Marxismus und seiner Kapitalanalyse besteht zweifellos darin, dass er im 19. Jahrhundert bereits diese grundlegende Tendenz erkannt hat:

„In der Agrikultur wie in der Manufaktur erscheint die kapitalistische Umwandlung des Produktionsprozesses zugleich als Martyrologie der Produzenten, das Arbeitsmittel als Unterjochungsmittel, Exploitationsmittel und Verarmungsmittel des Arbeiters, die gesellschaftliche Kombination der Arbeitsprozesse als organisierte Unterdrückung seiner individuellen Lebendigkeit, Freiheit und Selbständigkeit. Die Zerstreuung der Landarbeiter über größre Flächen bricht zugleich ihre Widerstandskraft, während Konzentration die der städtischen Arbeiter steigert. Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“[lii]

In der imperialistischen Epoche wird dieser Widerspruch weiter auf die Spitze getrieben. Die Tendenzen zur Monopolisierung, die immer größere Konzentration und Zentralisation des Kapitals verstärken erstens den Umfang des Produktionsprozesses und der Warenzirkulation, zweitens aber auch die Tendenz zum Beharren auf bestehender (umweltschädlicher) Produktion.

Globale Konkurrenz, Aufteilung der Welt zwischen den großen Kapitalgruppen und die Beherrschung der sog. Dritten Welt bedeuten auch, die Kosten etwaiger ökologischer „Folgeschäden“ auf ärmere Regionen, deren ArbeiterInnenklasse und Bauern- und Bäuerinnenschaft abzuwälzen – allesamt Folgen einer Produktionsweise, die sich auf der Ebene des Mensch-Natur-Verhältnisses zu einem System des Umweltimperialismus’[liii] verdichtet hat.

Die krisenhafte, katastrophische Zuspitzung dieses Widerspruchs drängt in den letzten Jahrzehnten unwillkürlich ins Bewusstsein der Gesellschaft, in den öffentlichen Diskurs. Klimawandel, wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Nord und Süd, die Fragen der Zukunft der Landwirtschaft, der Energieversorgung, des Artensterbens, die Zunahme von Schadstoffen und Müll sind nur einige Problemfelder, die deutlich machen, dass sich die Gesellschaft in einer ökologischen Sackgasse befindet.

So wie bei großen ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen muss das Kapital auch bei der ökologischen Zuflucht beim Staat nehmen. Die Akkumulation und Konkurrenz führen an den Abgrund. Die ökologische Katastrophe bedroht nicht nur den ökonomischen Reproduktionsprozess, sondern die Lebensgrundlagen der Menschheit selbst. Daher ruft auch ein Teil der herrschenden Klasse nach Staatsintervention, ähnlich wie beim ökonomischen Krisenprozess.

So wie die gesellschaftlichen Formen des Kapitals (z. B. die Aktiengesellschaft) und das Staatseigentum ihre jeweilige Kapitaleigenschaft nicht abstreifen können, somit also keine Lösung seiner inneren Widersprüche darstellen können, sondern nur deren Austragungsform verändern, so kann auch kein noch so gut gemeinter Green New Deal, kein noch so ökologisch auftretender bürgerliche Staat ein nachhaltiges Verhältnis zu den natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz herstellen.

Ähnlich wie bei Kapitalverhältnissen kann er zwar reformierend eingreifen, z. B. indem bestimmte Umweltauflagen für Unternehmen erlassen, bestimmte Technologien und damit verbundene Kapitalgruppen gefördert werden, indem versucht wird, durch Steuerpolitik einzugreifen usw.

Doch in Wirklichkeit sind die Möglichkeiten, den ökologischen Krisenprozessen mit staatlichen Reformen beizukommen, noch viel begrenzter, als der Verelendung der Lohnabhängigen durch den rein ökonomischen bzw. gewerkschaftlichen Kampf der ArbeiterInnenklasse zu begegnen.

Das liegt daran, dass der Lohnkampf bis zu einem gewissen Grad selbst notwendig ist, um das Wertgesetz im Kapitalismus überhaupt zur Geltung zu bringen. Ohne kollektive gewerkschaftliche Aktionen oder ohne staatliche Gesetze, also ohne Begrenzung des Arbeitstages oder Mindesteinkommen würde der Arbeitslohn für große Teile der Lohnabhängigen unter die Reproduktionskosten sinken, der Arbeitstag immer mehr ausgeweitet werden. Für die einzelnen Kapitale hätte dies natürlich unmittelbare Vorteile, weil es die Mehrwertrate deutlich erhöhen würde, aber für die Reproduktion des Gesamtkapitals würde es langfristig ein Problem darstellen, wenn sich die ArbeiterInnenklasse aufgrund zu geringer Löhne nicht ausreichend reproduzieren könnte. Ihr Gebrauchswert würde damit nämlich zerstört oder zumindest nicht in ausreichendem Maße hergestellt.

Allerdings kennt die herrschende Klasse Lösungswege auf dem Boden der Kapitalakkumulation und der imperialistischen Ordnung. Erstens können Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen oder eine Erhöhung des Soziallohns (Arbeitsschutzbestimmungen, Sozialversicherungen oder staatliche, über Steuern finanzierte Leistungen wie Schulbildung … ) durch eine Erhöhung des relativen Mehrwerts   so kompensiert werden, dass die Akkumulation sogar über mehrere Konjunkturzyklen hinweg weiter expansiv und dynamisch ausfallen kann. Zweitens erzwingt die imperialistische Arbeitsteilung auch, dass neben der Durchschnittsarbeit auch Lohnarbeitende in den Kolonien oder Halbkolonien bzw. rassistisch unterdrückte ihre Arbeitskraft unter ihrem Wert verkaufen müssen. Die Entlohnung der Arbeitskraft zu ihrem Wert findet daher auch im Normalbetrieb des Kapitalismus nur für einen Teil der globalen ArbeiterInnenklasse statt. In Krisenperioden wird auch dieses geschichtlich etablierte Niveau angegriffen.

Doch darüber hinaus muss noch ein weiterer grundlegender Unterschied in Betracht gezogen werden. Die Reproduktion von globalen ökologischen Systemen folgt einer anderen Logik als die des Kapitals. In letzter Instanz trifft das zwar auch auf die menschliche Arbeitskraft zu, aber in Phasen der Prosperität kann diese noch eher mit der Entwicklungsdynamik des Kapitals vermittelt werden.

Für den/die einzelne/n Lohnabhängige/n wie auch ganze Beschäftigtengruppen, ja, für eine gesamte ArbeiterInnenschaft, springt das Interesse an Löhnen, die die Reproduktionskosten auf Basis der kapitalistischen Verhältnisse decken, unmittelbar ins Auge und wird z. B. in der ideologisierten Forderung nach gerechtem Lohn erhoben.

Anders bei den ökologischen Folgekosten des Kapitalismus. Diese sind ohnedies oft externalisiert. Sie erscheinen darüber hinaus in einem Gegensatz zum eigentlichen Produktionsverhältnis. Indem die natürlichen Grundlagen der Produktion und des menschlichen Lebens gewissermaßen gratis vorgefunden werden, scheinen die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Produktion nur als „äußeres“ technisches Problem, nicht als Teil des Gesamtkomplexes gesellschaftlicher Arbeit.

Dies trifft ganz offenkundig auf die kapitalistische Umweltpolitik, aber auch auf linkere Varianten des Green New Deal zu. Alle unterstellen einen dauerhaft expandierenden, aber sozial regulierten Kapitalismus. Die ökologische Frage wird so allenfalls analog zu einem gewerkschaftlichen Problem betrachtet. Doch genau das bleibt unterhalb der eigentlichen Problematik.

In Wirklichkeit wirft die ökologische Krise dauerhaft die Frage auf, die auch jede Krise des Kapitalismus erhebt: die nach der Reorganisation des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. Schon in der „Deutschen Ideologie“ begründen Marx und Engels die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution aus der Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus und verweisen in diesem Zusammenhang auf den grundlegenden Unterschied der kommunistischen Umwälzung gegenüber der bürgerlichen:

„Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft. Seine Einrichtung ist daher wesentlich ökonomisch, die materielle Herstellung der Bedingungen dieser Vereinigung; sie macht die vorhandenen Bedingungen zu Bedingungen der Vereinigung. Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.“[liv]

Kurzum, die Aufgabe der sozialistischen Umwälzung besteht darin, die Verkehrsform der Gesellschaft selbst bewusst hervorzubringen und zu gestalten. Dies schließt zugleich ein, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, also ökologische Nachhaltigkeit selbst zu sichern. Im „Kapital“, wo Marx auf den zunehmenden Riss von Landwirtschaft und Industrie, von Mensch und Natur verweist, deutet er auch allgemein auf die Mittel zur Lösung des Problems:

„Die Zerreißung des ursprünglichen Familienbandes von Agrikultur und Manufaktur, welches die kindlich unentwickelte Gestalt beider umschlang, wird durch die kapitalistische Produktionsweise vollendet. Sie schafft aber zugleich die materiellen Voraussetzungen einer neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie, auf Grundlage ihrer gegensätzlich ausgearbeiteten Gestalten.“[lv]

Die Verbindung von Industrie, Agrikultur und Wissenschaft bildet den Schlüssel für diese Produktion der Verkehrsform – aber eben nur unter der Voraussetzung der Enteignung der herrschenden Klasse und einer planwirtschaftlichen Reorganisation der gesamten Produktion und Reproduktion.

Die Entwicklung der Produktivkräfte schafft zwar die Bedingungen zur Lösung der gesellschaftlichen und ökologischen Probleme. Erstere darf aber nicht nur als rein technische  Entwicklung verstanden werden, also solche der Erfindung neuer nachhaltiger Energieträger, effizienterer, Ressourcen sparender Produktion und Technik.

Vielmehr müssen solche in zukünftige Planungen und auch bereits in ein Programm von Übergangsforderungen eingebunden werden, um auf diesem Weg von Beginn an Parameter und Gleichgewichtsbedingungen für den Erhalt (oder teilweise auch die Wiederherstellung) ökologischer Geosysteme zu installieren.. Eine gesellschaftliche Gesamtplanung muss daher nicht nur als Planung bestimmter menschlicher Bedürfnisse, effektiverer, arbeitszeitsparender Produktion und dazu notwendiger Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf verschiedene Bereiche von Produktion und Reproduktion verstanden werden. Es muss auch der Stoffwechsel mit der Natur in die Planung selbst einfließen, so dass die menschliche Produktion als Teil eines größeren, globalen Kreislaufes begriffen wird.

Die gesellschaftliche Produktionsweise muss und kann nicht nur als Gegensatz zur natürlichen Umwelt verstanden, sondern muss auch als ihr Bestandteil erfasst werden – nämlich weil sich die Menschheit zwar selbst eine eigene, zweite gesellschaftliche Natur schafft, zugleich aber immer auch Naturwesen bleibt.

Die Enteignung des Kapitals, die Eigentumsfrage, stellt wie generell im Übergang zum Sozialismus die Schlüsselfrage zur Reorganisation der Wirtschaft gemäß menschlichen Bedürfnissen und ökologischer Nachhaltigkeit dar. Jedes Programm von Übergangsforderungen muss in der „Expropriation der ExpropriateurInnen“ gipfeln und in der Errichtung einer umfassenden demokratischen Planung.

Auch wenn es möglich und notwendig ist, Umweltreformen auch vom bürgerlichen Staat zu fordern, so entspricht die ökologische Transformation keiner Addition solcher, sondern sie erfordert vielmehr einen grundlegenden Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung.

Daher nimmt schon im Hier und Jetzt die Frage der Kontrolle über solche Maßnahmen, über Gesetze, erkämpfte Verbesserungen usw. eine Schlüsselrolle ein. Die Reorganisation der Produktion erfordert die Kontrolle durch die Lohnabhängigen, und zwar nicht nur auf betrieblicher, sondern auf gesellschaftlicher Ebene. So darf die ArbeiterInnenkontrolle z. B. bei der Umstellung von Produktionsverfahren oder Produktion nicht nur auf betrieblicher Ebene gedacht werden. Die Kontrolle z. B. über die Prioritäten der Verkehrsplanung muss über die betriebliche Ebene hinaus erfolgen. Selbiges gilt für die Frage der Reorganisation des Verhältnisses von Stadt und Land, für die Veränderungen in der Agrarproduktion, die Schaffung von Verbindungen und Kontrollorganen nicht nur der ArbeiterInnenklasse, sondern auch mit Bauern und Bäuerinnen, insbesondere der Kleinbauern-/bäuerinnenschaft und den Landlosen, wenn wir an die halbkolonialen Länder denken.

Die ökologische Transformation muss in jedem Fall mit einer massiven Umverteilung der Ressourcen einhergehen, einschließlich einer gewaltigen Zentralisation ebendieser, um das Erreichen von bedrohlichen Kipppunkten bei globalen Erdsystemen wie dem Klima zu verhindern, aber auch um die Mittel für die Bekämpfung der Folgen ökologischer Veränderungen gerade in den ärmsten Ländern und Regionen massiv zu erhöhen.

Die ökologische Transformation ist daher untrennbar mit der Machtfrage verbunden, dem Kampf für ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierungen und seiner Verallgemeinerung zur globalen sozialistischen Revolution.

Damit die ArbeiterInnenklasse selbst zum Subjekt, zur entscheidenden Trägerin dieser Umwälzung werden kann, muss sie selbst aber grundlegend verändert werden. Nicht nur die Jahrzehnte der Vorherrschaft von Stalinismus und Sozialdemokratie haben Verheerendes im Bewusstsein der Klasse angerichtet. Auf dem Weg zu einer Revolutionierung der Klasse müssen auch Scheinlösungen wie der Green New Deal politisch überwunden werden. Erst recht trifft das auf  rein ökonomistische Sichtweisen in der Umweltfrage und im ArbeiterInnenbewusstsein zu.

So erfordert beispielsweise ein Übergangsprogramm, auch offen auszusprechen, dass bestimmte Produktionsfelder eingestellt werden müssen, wenn wir die ökologische Krise überwinden wollen. Natürlich können und sollen die Arbeitenden in diesen Sektoren weiter Beschäftigung finden, ja, ihr Wissen, ihre Expertise stellt selbst eine enorme Ressource für die Konversion in ökologische nachhaltige Produktion dar. Zugleich erlaubt eine solche Umverteilung der Arbeit auch eine Reduktion der Arbeitszeit oder eine Verlagerung von Arbeit auf Sektoren, die heute chronisch an Überbelastung leiden (z. B. im Gesundheitswesen). Die Überwindung des entfremdeten Charakters der Arbeit und der repressiven Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft wird schließlich auch die Bedürfnismuster verändern und die Grundlagen für den vorherrschenden Konsumfetisch allmählich zum Verschwinden bringen.

Aber ein Gesamtprogramm ökologischer Transformation erfordert, auch deutlich zu machen, dass es reale Einschränkungen des Verbrauchs an Konsumgütern nicht nur für KapitalistInnen und Mittelschichten wird geben müssen, sondern auch für bedeutende Teile der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Ländern, wenn nicht für die gesamte Klasse. Schon Lenin wies in der Diskussion über die sozialistische Umwälzung des 20. Jahrhunderts darauf hin, dass das kommunistische Programm den privilegierteren Schichten der ArbeiterInnenklasse – damals der ArbeiterInnenaristokratie in Westeuropa und den USA – nicht einfach den bestehenden Zugang zu Konsumgütern weiter garantieren könne. Schließlich muss die globale sozialistische Revolution zuerst die Lebensbedingungen der Masse der Lohnabhängigen und vor allem der ärmsten und unterdrücktesten Schichten in den halbkolonialen Ländern sichern.

Was die sozialistische Revolution und eine damit einhergehende ökologische Transformation jedoch der gesamten Klasse der Lohnabhängigen und insbesondere auch der oft hoch qualifizierten, für die planmäßige Umgestaltung der Gesellschaft in vielen Fällen überaus wichtigen ArbeiterInnenaristokratie garantieren kann, ist erstens die Überwindung der Entfremdung ihre Arbeit, ihrer knechtischen, vereinseitigenden Unterordnung unter das Kapital und zweitens eine Reduktion der Arbeits- und damit eine deutliches Mehr an disponibler Zeit, um sich selbst umfassend als menschliches Individuum zu entwickeln.

Natürlich muss auch heute eine sozialistische Revolution für die große Masse der weltweiten ArbeiterInnenklasse wie auch der Bauern und Bäuerinnen eine Zunahme an Gütern bedeuten – sei es an Konsumgütern, an Wohnraum, an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, an Gesundheits- und Altersversorgung usw. Für die privilegierteren Teile der ArbeiterInnenklasse gerade in den imperialistischen Ländern können wir uns jedoch eine sozialistische Revolution nicht ökonomistisch als weitere Vermehrung von Konsumgütern vorstellen. Diese würde die klassenlose Gesellschaft zu einer Unmöglichkeit machen. Auch der Überfluss der kommunistischen Gesellschaft, von dem Marx spricht (z. B. in der Kritik des Gothaer Programms) darf nicht als unbegrenzter Zugang zu Gütern missverstanden werden. Der Überfluss, den die klassenlose Gesellschaft allerdings herbeiführen kann, besteht vielmehr in der Reduktion gesellschaftlich notwendiger Arbeits- und in der Ausdehnung disponibler, frei verfügbarer Zeit, die zur eigenen allseitigen Entwicklung verwendet werden kann. Eng damit verbunden ist die Tatsache, dass eine klassenlose Gesellschaft, eine Reorganisation von Produktion und Reproduktion im Interesse der Gesellschaft selbst und ökologischer Nachhaltigkeit auch dazu beitragen werden, die für den Kapitalismus typische Trennung von entfremdeter Arbeit und, oft nur auf andere Weise entfremdeter, Freizeit zu überwinden, so dass die gesellschaftliche Arbeit selbst zu einem Bedürfnis und Teil einer allseitigen menschlichen Entwicklung wird.

Eine solche Perspektive der sozialistischen Transformation wird jedoch nicht spontan in der ArbeiterInnenklasse entstehen, ja, nicht entstehen können. Grundsätzlich entwickeln die Lohnabhängigen revolutionäres Klassenbewusstsein nie spontan oder auch nur aus ihren ökonomischen Kämpfen heraus. Dieses muss vielmehr von außen in die Klasse getragen werden.

Die aktuelle ökologische Krise und deren Verschärfung führen zweifellos Millionen Lohnabhängige und vor allem Millionen Jugendlicher zur Suche nach einer Lösung für die großen ökologischen Probleme.  Aufgrund der Verhältnisse werden sie geradezu auf den Weg der Systemkritik, auf die Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus  gestoßen. Worin der oft geforderte Systemwandel jedoch besteht, wie er erkämpft werden kann, welche gesellschaftliche Neuorganisation daher notwendig ist und wie diese erkämpft werden soll, ergibt sich daraus jedoch noch nicht. Das erfordert vielmehr die Verbindung von ArbeiterInnenklasse, ökologischer Kritik und wissenschaftlichem Sozialismus zu einer Einheit, zu einer revolutionären Partei und Internationale. Es erfordert ein internationales Programm von Übergangsforderungen, das den Kampf gegen die ökologische Krise als Teil der sozialistischen Weltrevolution begreift. Und es erfordert eine Rückbesinnung auf einen umfassenden Begriff von sozialer Umwälzung und Kommunismus. Nur die Umwerfung aller Verhältnisse, die den Menschen zu einem verächtlichen, ausgebeuteten, geknechteten, unterdrückten und vereinseitigten Wesen machen, stellt die notwendige, unerlässliche Voraussetzung dafür dar, dass die Menschen selbst ihre eigene gesellschaftliche Verkehrsform bewusst gestalten und hervorbringen – im Einklang mit ihren natürlichen Lebensbedingungen.

Endnoten

[i] https://www.de-ipcc.de/media/content/Hauptaussagen_AR6-WGI.pdf

[ii] Matthias Martin Becker, Klima, Chaos, Kapital, PapyRossa Verlag, Köln 2021, S. 78

[iii] http://pdwb.de/nd23_2011.htm

[iv] Roosevelt, Nominierungsrede 1932, Zitiert nach: https://de.wikipedia.org/wiki/New_Deal

[v] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/marxismus.htm

[vi] Leo Trotzki, Faschismus und New Deal. In: Ders., Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution [Hrsg.: Isaac Deutscher/George Novack/Helmut Dahmer], Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1981, S. 254)

[vii] Ebenda, S. 255

[viii] Ernest Mandel, Trotzkis Faschismustheorie, Einleitung zu Schriften über Deutschland, in: Leo Trotzki, Schriften über Deutschland, Band 1, EVA, Frankfurt/Main 1971, S. 14.)

[ix] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/boerse/biden-klimaschutz-billionenprogramm-101.html

[x] https://www.blaetter.de/ausgabe/2021/juni/bidenomics-klimawende-mit-angezogener-handbremse

[xi] https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/european-green-deal_de

[xii] https://cms.gruene.de/uploads/documents/Wahlprogramm-DIE-GRUENEN-Bundestagswahl-2021_barrierefrei.pdf

[xiii] Ebenda, S. 6

[xiv] Ebenda, S. 34

[xv] Ebenda, S. 34

[xvi] Ebenda, S. 117

[xvii] Naomi Klein, Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015

[xviii] Naomi Klein, Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann, Hoffmann und Campe, Hamburg 2019

[xix] Klein, zitiert nach: Ebenda, S. 280

[xx] Klein, ebenda,  S. 281

[xxi] Ebenda, S. 282

[xxii] Unter degenerierten ArbeiterInnenstaaten verstehen wir Staaten, in denen der Kapitalismus zwar abgeschafft wurde, jedoch die Bürokratie die politische Macht monopolisiert hat. Die Sowjetunion entwickelte sich nach einer genuinen proletarischen Revolution zu einem ArbeiterInnenstaat mit bürokratischen Auswüchsen, Deformationen aufgrund ihrer Isolation. Die Etablierung der stalinistischen Herrschaft bedeutete den Abschluss dieses Prozesses. China, Kuba, Nordkorea, Vietnam oder die Länder Osteuropas waren von Beginn an degenerierte ArbeiterInnenstaaten. Zur Analyse siehe: Revolutionärer Marxismus 52, Theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale, Stalinismus und der Untergang der DDR, global red, Berlin 2019

[xxiii] Klein, Warum nur ein … , a. a. O., S. 282

[xxiv] Ebenda, S. 38

[xxv] Ebenda, S. 320

[xxvi] Yeva Nersisyan/Randall L. Wray, How to Pay for the Green New Deal, in: Working Paper des Levy Insitute of Bard College, No 931, Mai 2019; zitiert nach: Ingo Stützle, Money makes the world go green, in: PROKLA 202, 51. Jg., Nr. 1, Bertz + Fischer, Berlin März 2021, S. 72

[xxvii] Klein, Warum nur ein … , a. a. O., S. 324

[xxviii] Ebenda, S. 328

[xxix] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959, S. 488

[xxx] Klein, Warum nur ein … , a. a. O., S. 327

[xxxi] Ingo Stützle, Money makes the world go green? In: PROKLA 202, Bertz + Fischer, Berlin 2021, S. 71 – 94

[xxxii] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971, S. 109

[xxxiii] Ebenda, S. 107

[xxxiv] Ingo Stützle, Money makes … , a. a. O.,  S. 83

[xxxv] Ebenda

[xxxvi] Katharina Schramm, Radikal bis neoliberal – aktuelle Konzepte des Green New Deal, in: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung 121 [Hrsg.: Forum Marxistische Erneuerung e. V./IMSF e. V.], Frankfurt(Main März 2020; [online]: https://www.linksnet.de/artikel/47932

[xxxvii] Dörre, Great Transformation: Die Zukunft moderner Gesellschaften (Vortrag, gehalten auf dem 30. ordentlichen Bundeskongress der NaturFreunde Deutschlands e. V., Nürnberg 31. März bis 2. April 2017); [nur online]:

http://www.intranet.naturfreunde.de/sites/default/files/attachments/nfdbk_vortrag-doerre_great-transformation.pdf

[xxxviii] Bernd Riexinger, Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen, VSA Verlag, Hamburg 2018

[xxxix] Bernd Riexinger, System Change, Plädoyer für einen linken Green New Deal –
Wie wir den Kampf für eine sozial- und klimagerechte Zukunft gewinnen können.
Eine Flugschrift, VSA Verlag, Hamburg 2020

[xl] Ebenda, S. 9

[xli] Ebenda, S. 24

[xlii] Ebenda, S. 132 f.

[xliii] Ebenda, S. 59 f.

[xliv] Ebenda, S. 62

[xlv] Ebenda, S. 103

[xlvi] Ebenda, S. 103

[xlvii] Ebenda, S. 16

[xlviii] Ebenda, S. 96

[xlix] Ebenda, S. 97

[l] Marx, Das Kapital, Band 1, a. a. O., S. 192

[li] Ebenda, S. 193

[lii] Ebenda, S. 528 ff

[liii] Chris Kramer, Umwelt und Kapitalismus, Revolutionärer Marxismus 54, S. 7 – 40

[liv] Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3, Dietz Verlag, Berlin/DDR 1969, S. 70

[lv] Marx, Das Kapital, Band 1, a. a. O.,  S. 528




Vom Kapitalismus, dem Verkehr und seiner Wende

Leo Drais, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

1. Einleitung

Offensichtlich und allgegenwärtig zeigen sich die Einwirkungen der kapitalistischen Produktionsweise auf Mensch und Natur in der von ihr hervorgebrachten Verkehrs- und Transportweise. Lang gestreckte Asphaltwüsten, die man Autobahnen nennt, ziehen sich durch die halbe Welt, zerschneiden Felder und Wälder. Sie tragen Menschen und Waren in einer scheinbar nie endenden Kolonne von Lkws und Pkws, welche ihrerseits für fast ein Fünftel der Abgase verantwortlich ist, die das Treibhaus Erde mit anheizen (1). Und da der auf gummierten Rädern rollende Tross des motorisierten Individualverkehrs global betrachtet seit Jahrzehnten stets länger und länger wurde und die entlegensten Gebiete der Welt eroberte, drängte er vielerorts jenes stählern besohlte Verkehrsmittel zurück, das einst im Ansturm des Kapitalismus auf die Welt selbige erobert, ja die modernen Großindustrie überhaupt erst ermöglicht hatte, die Eisenbahn.

Währenddessen schwimmen auf den Meeren Ruß ausstoßende Giganten von nie dagewesener Größe. Sie halten wesentlich die globalisierten Just-in-time-Produktionsketten in Gang, deren außerordentliche Empfindlichkeit sich beeindruckend zeigte, als die präzise und knappe Taktung in Handel und Fabriken jäh ins Stocken geriet, weil der Containerriese „Ever Given“ im Kanal von Suez steckenblieb wie ein Sandkorn, das in ein sensibles Getriebe fällt.

Und die Luft, sie war von einem Netz durchzogen, das in seiner Engmaschigkeit eine nie dagewesene Dichte erreicht hatte und weiß von den Flugzeugen in den Himmel gezeichnet war, bis Corona die Höhenflüge der Luftfahrt schließlich auf den Boden der tiefsten Krise in der Geschichte der zivilen Fliegerei herunterholte und der Himmel auf einmal so blau und frei von  Kondensspuren war, wie es manch ein Mensch noch nie gesehen hatte. Derweil, mit der Rückkehr des Reisens ins breite Leben, kehren die Flugmaschinen wieder in die Wolken zurück.

Global und total sind die hier gezeichneten Phänomene. Aber sie erscheinen keineswegs auf der ganzen Welt gleich, genauso wenig, wie alle Länder und Nationalökonomien gleichermaßen ProduzentInnen und KonsumentInnen, ProfiteurInnen und VerliererInnen der heute auftretenden Transportweise sind. Auf die Spitze getriebener Hightech in modernen Fahrzeugen wie Fahrwegen in der imperialistischen – der hochnäsig sogenannten „Ersten Welt“ – steht vielfach der Rückständigkeit fehlender oder kaputter Straßen oder antiquierter Fahrzeuge in der halbkolonialen, abfällig als „Dritte Welt“ bezeichneten, gegenüber.

Lokal zeigen sich genauso die Unterschiede. Während sich zu Hauptverkehrszeiten in Metropolen Transport zumeist zäh und in überwältigender Masse auf den Straßen, in Untergrundbahnen und Bussen, auf Rollern, Fahrrad und zu Fuß vollzieht, wobei sich mancherorts die Durchschnittsgeschwindigkeit des im Blech verpackten Menschen kaum von der eines auf den eigenen Füßen gehenden unterscheidet, finden sich die Weiten ländlicher Gebiete abgehängt und oftmals der Alternativlosigkeit eigener Privatfahrzeuge gegenüber, fernab jeden Gleisanschlusses oder auch nur eines regelmäßig fahrenden Busses. Neben der Wohnungs- zeigt vor allem die Verkehrsfrage alltäglich den Unterschied zwischen Stadt und Land.

Und natürlich vollziehen sich die Klassenunterschiede der Gesellschaft auch in der von ihr produzierten Weise, Wege zurückzulegen. Überbordender Luxus und verschwenderisches Auftreten der Luxus- und Business-Classes, überschwere oder Rennwagen ähnliche Edelkarossen sowie private Yachten im Dienste eines kleinen, superreichen Teils der Menschheit stehen ihrem übergroßen anderen Extrem gegenüber: der Fortbewegung mittels notwendigen Einsatzes des eigenen Körpers oder anderer, geradeso leistbarer Mobilitätsarten.

Die Beschreibung lässt sich lange fortsetzen, für die Einleitung reicht es. Das bisher Genannte sind nur Ausschnitte eines Verkehrssystems, das sich in einer mehrfachen Krise befindet, und – da sich diese zuspitzt – die Frage nach ihrer Lösung aufwerfen, die Verkehrsfrage. Ihr wohnt die Lösung von Ineffizienz und Reibungspunkten inne, aber angesichts der sich vollziehenden Katastrophe des Klimawandels ist es vor allem die Bekämpfung derselben, die das Eintreten für eine ökologische Verkehrswende als Teil der Klimabewegung aufgebracht hat.

Dieser Bewegung ist die Dringlichkeit zur Überwindung der bestehenden Verkehrsweise von einem rationalen oder auch ökologisch nachhaltigen Standpunkt aus klar, wie auch überhaupt einem großen Teil der Gesellschaft. Doch warum stellt sich das offensichtlich Erforderliche nicht ein? Warum kann trotz kleiner lokaler Ausreißer in Richtung einer umfassenden Verkehrswende von ihr global wie auch in den einzelnen Staaten keine Rede sein?

Haben Politik und Wirtschaft die Bedrängnis hausgemachter Zerstörung existentieller Lebensgrundlagen für die Menschheit einfach nicht begriffen? Ist das vielfach versprochene Ziel der maximalen Erderwärmung von 1,5 °C bei dieser nicht existierenden Verkehrswende als Teil der gesamten kapitalistischen Produktion und Konsumtion schon im Grunde verloren? Ist es nicht bekannt, dass das gepriesene und beförderte E-Auto die Umweltkrise nicht löst, sondern verschärft? Warum haben Millionen bei Fridays for Future (FFF), Tausende bei Sand im Getriebe und Hunderte AktivistInnen in den Kronen des Dannenröder Waldes, um bloß mal die Umweltbewegung Deutschlands zu erwähnen, nicht gereicht, um Verkehrsministerien und Industrie das Notwendige gegen die Klimakrise einzubläuen, sie zum „Umdenken“ zu bewegen? Was muss sich in und mit der Umweltbewegung ändern? Was muss passieren? Wer zwingt die Regierung, VW und Co in die Knie? Und was (wer?) kann das Steuer wirklich herumreißen, die Weichen in Richtung einer Verkehrswende stellen, deren Name ihr wirkliches Programm ist? Und was ist überhaupt ihr Programm?

Diese Fragen zu beantworten, heißt, ihnen auf den Grund zu gehen – auf den tiefsten Grund der kapitalistischen Gesellschaft, ihre ökonomische Struktur, und welche Rolle der Verkehr darin spielt.

2. Verkehr und Kapitalismus

Viele, im Prinzip alle Programme bürgerlicher Prägung streben an, den Verkehr zu ändern, ohne die Grundlage anzutasten, auf der er fährt: das Privateigentum an Produktionsmitteln mitsamt dem einhergehenden Zwang zur Mehrwertaneignung und Produktionsausweitung – kurz, den Kapitalismus. Dies verwundert auch nicht. Schließlich ist er nicht nur das Fundament, auf dem der Transport im Kapitalismus stattfindet, sondern eben auch auch die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Seine VordenkerInnen treibt kein Interesse um, daran zu rütteln, selbst wenn ihr Wunsch nach einer nachhaltigen Verkehrswende noch so aufrichtig wäre.

Aber, selbst linkere, reformistische bis hin zu revolutionär verstandene Vorschläge bleiben oft diffus. Antikapitalistisch zwar dem Wort und Empfinden nach, aber doch wenig konkret, wenn es gilt, dem Antikapitalismus einen klaren Weg zu weisen.

Zweierlei ist dafür ursächlich. Einerseits bestrebt eine auf Reformen fokussierte Politik in allen ihren Spielarten – und zu diesen gehört unfreiwillig auch diverser grüner Anarchismus – nicht den finalen Bruch mit der bestehenden Gesellschaft und ihre revolutionäre Überwindung. Sie will es zum einen nicht, weil ihre AkteurInnen doch zu sehr mit Staat und Kapitalismus verwachsen sind und davor zurückschrecken, am eigenen morschen Ast zu sägen. Oder aber manche/r scheut das Aussprechen gewisser Forderungen aus Angst, die abzustoßen, die doch eigentlich für eine fortschrittliche Verkehrspolitik gewonnen werden sollen. Auch wenn manche eigentlich Gefallen an, zum Beispiel, einer ArbeiterInnenkontrolle über die Autoindustrie mit demokratischem Umstellungsplan finden, trauen sie dies aber gleichzeitig den ArbeiterInnen auch nicht wirklich zu und betrachten sie (vielleicht unterbewusst) als passives Objekt.

Andererseits besteht eine verkürzte Verkehrspolitik oft darin, dass sie am mal nahen, mal weiter entfernten Horizont zwar ein schön anzusehendes Ziel verspricht, (weniger Verkehr, kostenloser Nahverkehr, Struktur der kurzen Wege usw.), aber der Weg dahin unklar im fast undurchdringlichen Dickicht aus Ahnungslosigkeit und gewisser Naivität verborgen liegt. Er soll dann mit den mehr oder minder stumpfen Klingen des Parlamentarismus freigeschnitten werden oder es wird versucht, in eifrigem Aktivismus das Gestrüpp zu durchqueren, was bald zum Verlaufen und zur Erschöpfung führt und die Transportwende nicht wirklich näher gerückt hat.

Dieser Mangel an tauglichen Wegen zum Ziel ist direkt verbunden mit einem an korrekten Analysen darüber, dass den bestehenden Erscheinungsformen von Fortbewegung ökonomische Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, die entscheidend das Wirken und die Möglichkeiten von Wirtschaft und bürgerlicher Politik bestimmen und jede wirkliche ökologische Wende in Industrie und bürgerlicher Politik verunmöglichen.

Also, was sind diese Gesetzmäßigkeiten? Wie bestimmt der Kapitalismus unsere Art und Weise der Ortsveränderung? Und welche Rolle spielt Verkehr umgekehrt im Kapitalismus? Betrachten wir dazu mehrere Szenarien, zunächst im Gütertransport, welcher im Gegensatz zum Personenverkehr fast ausschließlich kommerziell durch die Transportindustrien – Reedereien, Logistik-, Fuhrunternehmen usw. – abgewickelt wird. Außerhalb davon findet er fast nur in der unbezahlten Reproduktionsarbeit privat statt, etwa nach dem Einkauf im Supermarkt oder beim Umzug.

2.1. Gütertransport

Bevor Güter, die im kommerziellen Transport fast immer zugleich Waren sind, transportiert werden können, braucht es ein Fahrzeug mit einer entsprechenden Infrastruktur. Dabei genießen Luft- und Schifffahrt den strukturellen Vorteil, ihre Verkehrswege natürlich vorzufinden und weitgehend unentgeltlich zu nutzen. Lediglich an den Anfangs- und Endpunkten der Wege braucht es einen (Flug-)Hafen mitsamt Zuführungen. Den Weg selbst begleiten ansonsten lediglich Satellit, Funk, Überwachungseinrichtungen und Küstenwachen oder FluglotsInnen. Straßen und Schienenwege sowie Pipelines sind demgegenüber in ihrer Gesamtheit vom Menschen zu schaffen.

Nehmen wir die Fahrt eines Containerschiffs als (unvollkommenes) Beispiel. Nun betrachten wir Folgendes nacheinander: das Schiff als Transportmittel, die Besatzung als TransportarbeiterInnen und die Ware, das Transportgut.

Das Containerschiff wurde in der südkoreanischen Daewoo-Werft gebaut. Die dort Arbeitenden schufen den Gebrauchsgegenstand Transportmittel, aber genauso auch seinen Wert – ein Schiff als Ausdruck und Träger der darin versammelten menschlichen Arbeitskraft. Für ihren Einsatz bekamen die WerftarbeiterInnen einen Lohn vom Schiffsbaukonzern, der sich darüber hinaus aber einen Mehrwert aneignete, der als sein Gewinn neben Lohn-, Material- und Maschinenkosten für das Schiff ebenfalls in den Preis mit einging, den die Reederei schließlich dafür zahlte.

Nun haben wir ein fertiges neues Schiff. Darin enthalten sind nicht nur Technik und Schweröl oder Diesel, sondern auch der gesellschaftliche Wert, den die ArbeiterInnen in der Werft geschaffen haben. Was passiert nun mit diesem?

Wir haben ja noch keine Ladung im Schiff. In Taiwan zum Beispiel wird nun ein Container ins Schiff geladen. Die Besatzung sichert ihn und passt während der Überfahrt auf ihn und seinen Inhalt – sagen wir Fernseher – auf. Es wird Transportarbeit geleistet. Und obwohl die Besatzung des Schiffes in der Regel nie den Inhalt, sprich den Fernseher, berührt oder an sich verändert, passiert etwas mit ihm. Er wechselt seinen Ort. Aber nicht nur das. Weil die Ortsveränderung ein notwendiger Übergang von einer Produktionssphäre in die andere (annähernd die Hälfe der Waren, die um den Planeten reisen, sind unfertige Produkte innerhalb von Wertschöpfungskette und  Produktionssphäre) (2) oder aber wie in unserem Fall in die Konsumsphäre ist, wird der Transport auch zum Teil der Produktion selbst, obwohl die Ware selbst außer in ihrer geographischen Lage nicht verändert wird. Der Transport bildet die Verlängerung der Produktion in die Zirkulationssphäre, wofür produktive, Mehrwert schaffende Arbeit im Kapitalismus aufgewendet werden muss.

Übrigens gehört die Ware dem/r ReederIn oder LogistikerIn heute meistens nicht mehr während des Transports, was einen Unterschied zum früheren Handel darstellt, der seine gesellschaftlich notwendige Position aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis, Waren zu transportieren, ableitete. Er kaufte die Ware in Asien, brachte sie nach Europa und verkaufte sie weiter. Die schieren Mengen, die kurzen Zeiten und die hohe Sicherheit im Zusammenhang mit Transportrisiken (Versicherung) haben den Besitz der zu transportierenden Waren durch die ReederInnen überflüssig gemacht. Die Reederei braucht das Eigentum am Transportgut nicht mehr zu seiner Absicherung.

Zurück zu unserem Schiff, das nun beladen ist und Kurs auf Europa genommen hat. Indem die Besatzung den Frachter bewegt, wird der Ware Fernseher Wert hinzugefügt. Wo kommt dieser  her? Aus der Transportarbeit und – aus dem Schiff. Der in ihm enthaltene Wert, den es in der Werft erhalten hat, wird durch die Arbeit der Besatzung ein kleines bisschen in die Fernseher übertragen, bis das Containerschiff schließlich an sein wirtschaftliches Ende gekommen ist und seinen Wert vermittels der Transportarbeit auf alle Waren übertragen hat, die es jemals beförderte. Selbiges gilt für den taiwanesischen Lkw, der den Container zum Hafen brachte, die Kräne, die ihn be- und entluden, den Güterwagen, der ihn nach Wien trug, und den Lkw, der den Fernseher ins Geschäft brachte.

Aber bleiben wir beim Schiff. Die Reederei wird dem/r ProduzentIn, Zwischen- oder EndhändlerIn die Überfahrt von Kaohsiung nach Rotterdam, den Transport der Fernseher in Rechnung stellen, diese dann wiederum dem/r EndverbraucherIn. Die Rechnung der Reederei enthält die Lohnkosten für die Besatzung, Hafengebühren, Treibstoffkosten und einen gewissen Prozentsatz, der für das Schiff abbezahlt wird, sowie – den Gewinn, den die Reederei mit dem Transport machen will. Wie schon die Werft aus ihren ArbeiterInnen hat sich auch der/die ReederIn einen Mehrwert aus der Arbeit der Besatzung angeeignet, der zum größten Teil darin investiert wird, noch größere Containerriesen anzuschaffen, um noch günstigere Transporte anbieten zu können, damit in der Konkurrenz auf den Ozeanen mitgehalten werden kann.

Was halten wir bisher fest? Erstens, dass Verkehr in der Form des Gütertransports ein notwendiges Rückgrat der kapitalistischen Produktion darstellt, ja dass die Ortsveränderung selbst ein zwingender Teil davon ist und somit Transportarbeit den Dingen auf Schiff, Zug, Lkw und in Flugzeugen Wert hinzufügt – und dass diese Transportarbeit vermittelst der Mehrwertaneignung, die durch die TransportkapitalistInnen stattfindet, ebenfalls Ausbeutung beinhaltet.

2.2. Personentransport

Betrachten wir nun ein Passagierflugzeug. Gemeinsam mit unserem Containerschiff hat es nicht nur die Fähigkeit zur Ortsveränderung und die Abhängigkeit von gewissen Infrastrukturen, sondern auch, dass es eine riesige Masse menschlicher Arbeit – Wert – repräsentiert und in sich gigantisch viel Kapital gebunden hat. Die gesellschaftlichen Prozesse um Arbeit und Ausbeutung, Lohn und Profit sind in der Daewoo-Werft wie bei Airbus gleich. Auch findet in der Transportarbeit der Flugzeugbesatzung Ausbeutung statt.

Aber was ist mit dem Wert des Flugzeugs? Wird dieser auch auf das, was transportiert wird, die Reisenden, übertragen, findet also Wertbildung statt?

Ja, und zwar unabhängig davon, wer und wofür transportiert wird und ob es sich um  Angehörige der ArbeiterInnenklasse handelt oder nicht. Der Personentransport stellt eine Dienstleistung dar: die Ortsveränderung von Menschen. Ihre Produktion und ihr Konsum finden gleichzeitig statt. Der Wert des Flugzeugs verschwindet mit jedem Personenkilometer ein kleines bisschen in der Dienstleistung Fliegen. Er wird (wenn wir annehmen, dass ausschließlich Menschen befördert werden) nie in transportierten Dingen seinen Ausdruck finden, da der Endkonsum nicht in der Benutzung eines transportierten Dings, einer Ware besteht, sondern in der Ortsveränderung selbst. Hat das Flugzeug all seinen Wert durch Abermillionen zurückgelegter Personenkilometer verloren und wird verschrottet, existiert dieser ehemalige Wert der Flugmaschine bloß noch in der Erinnerung an ein Reiseerlebnis.

Das Gleiche gilt auch für den ArbeiterInnenberufsverkehr, nur dass hier eindeutig der Arbeitslohn die Quelle der Bezahlung ausmacht – wie für den Reise- und Urlaubsverkehr der Lohnabhängigen. Die Transportkosten dafür gehen in ihre Reproduktionskosten ein. Analog zur Güterproduktion (Verlängerung der Produktion in die Zirkulation) lässt sich von der Verlängerung der Arbeitszeit in die Freizeit gegenüber den KapitalistInnen und somit vortrefflich für die Bezahlung des Arbeitsweges argumentieren.

3. Autoindustrie und Kapitalmacht

Ca. 1,3 Milliarden Autos gibt es weltweit, bis 2030 könnten die 2 Milliarden längst erreicht sein (3). Wie kein anderes Gefährt steht es so sehr für die individuelle Mobilität des Menschen. In der Bundesrepublik allerspätestens seit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“, welches oft und nicht von ungefähr neben dem Wiederaufbau den VW-Käfer als Symbol trägt. Wohlstand und individuelle Freiheit werden mit dem privaten Kraftfahrzeug verbunden und zelebriert. Und es lässt sich auch nicht von der Hand weisen, dass für Teile der weltweiten ArbeiterInnenklasse der Besitz eines eigenen Autos eine historische Errungenschaft darstellt.

Dabei ist der private Pkw das gesamtgesellschaftlich irrationalste und ineffizienteste Verkehrsmittel. Die meiste Zeit nimmt er Raum ein, ohne ihn zu überwinden, verbringt den absoluten Großteil seiner Existenz im abgestellten Zustand. Auf keinen Bus oder Zug, kein Taxi trifft dies zu, da sie ja nur im bewegten Zustand für das Verkehrsunternehmen Geld verdienen können.

Mit relativ viel Material- und Energieaufwand kann das Auto nur wenig Mensch und Güter  transportieren. Wer sich täglich damit in den städtischen Berufsverkehr wagt, wird auch noch feststellen: Die meisten Autos sind mit einer Person besetzt. Dabei aber, immerhin, braucht sich niemand allein zu fühlen. Man steht als Kollektiv und wohlklimatisiert im Stau, was gut tut, wenn Ungeduld und Wut auf alle anderen aufsteigen.

Besucht man dann eine der klaffenden Lücken in der Natur, wo eine Autobahn durch einen Wald gezogen wird, und erinnert man sich dabei an den verallgemeinerten Gestank der Stadt, der nach Abgas riecht, so stellt sich die Frage:

Warum hat sich eine so destruktive Verkehrsweise im Personenverkehr in einem Großteil der Welt gegenüber dem öffentlichen Verkehr durchsetzen können?

Kehren wir dafür zurück zur ökonomischen Basis der Gesellschaft. An ihr lässt sich beweisen, dass der Siegeszug des Autos keinen Zufall oder bloße Willkür, böse List diverser Regierungen und Konzerne verkörperte, sondern vollkommen der Logik des Kapitalismus folgte. Innerhalb dieser war er mehr oder weniger zwangsläufig, auch wenn das Auto für die Menschheit als Ganzes natürlich keine Alternativlosigkeit darstellt und höchstens 1/8 aller Menschen es sein Eigen nennen kann.

Die moderne Auto-, zu der wir im weiteren Sinne auch die Nutzfahrzeugindustrie zählen wollen, a), der Einfachheit halber und b), weil beide intensiv miteinander verflochten sind – zu VW gehören mit MAN und Scania auch Lkw-Riesen –, ist das Ergebnis und eine der größten industriellen Nutznießerinnen des kapitalistischen Wertgesetzes und nimmt in diversen Nationalökonomien eine führende Stellung ein. Extraprofite, Begünstigung im Ausgleichsprozess nationaler Profitraten und damit erhöhte Mehrwertaneignung gegenüber anderen Sektoren aufgrund hoher organischer Kapitalzusammensetzung und -konzentration (Monopolisierung), daraus folgend Werttransfer in die Hände der Autokapitale (4) – all dies bringt der Autoindustrie enorme Vorteile allein wirtschaftlicher Natur ein, treibt sie aber angesichts der enormen Konkurrenz innerhalb der Branche wie auch generell auch zu immer neuen technischen Revolutionen.

Schauen wir uns das näher an und besuchen eine Autofabrik eines/r der auf dem Weltmarkt führenden HerstellerInnen. Wir treffen auf eine extrem hohe Technisierung und Automatisierung, Schweißrobotik, digitale Steuerung ganzer Fabriknetzwerke, hochpräzise Werkzeugmaschinen, Fließbandmontage; ökonomisch ausgedrückt: eine extreme Konzentration konstanten Kapitals. Das VW-Werk Wolfsburg ist die größte Fabrik der Welt. Bis zu 3 500 Autos verlassen sie täglich. Über 60 000 Menschen arbeiten hier (5). Und es mag verwundern, dass angesichts der mitunter vergleichsweise hohen Löhne  die Ausbeutungsrate teilweise über denen vieler prekär bezahlter Jobs liegt. Doch Ausbeutung misst sich mathematisch nicht an der Höhe des gezahlten Lohnes (variables Kapital), auch wenn  als ArbeiterIn natürlich zuerst darauf geschaut wird. Entscheidend ist der abgegriffene Mehrwert. Dieser dürfte, wenn er auch hinter dem Vorhang von Marktpreisen und Gewinn nur schemenhaft ersichtlich ist, enorm hoch sein. BranchenkennerInnen gehen davon aus, dass bei der Lohnarbeit in Stammwerken weniger als 20 Prozent der Arbeitszeit für den eigenen Lohn aufgewandt wird. Der Rest ist Mehrarbeitszeit für die AutomobilkapitalistInnen um Porsche, Piëch, Quandt und Co.

Gleichzeitig treibt die enorme Konkurrenz zwischen den HauptherstellerInnen zu immer weiteren Produktivitätssteigerungen, Beschleunigung und Technisierung der Produktion an.

Für die Autoindustrie und ihre Produkte hat das eine interessante Konsequenz und sie hängt direkt mit dem SUV-Boom der letzten Jahre zusammen. Bei gleichbleibendem Produkt, aber massiv gesteigerter Produktivität werden zwar kurzzeitig Vorteile gegenüber den KonkurrenzherstellerInnen erzielt (Extraprofit aufgrund modernerer, arbeitssparender Produktionsmethoden). Da die Konkurrenz dies aber bald aufgeholt haben wird, folgt schließlich, dass allgemein weniger Wert und Gewinn in die Ware Automobil eingehen als zuvor, weniger Arbeitskraft nötig ist, ein solches zu bauen. Nur diese kann aber (Mehr-)Wert schaffen. Die Lösung der Automobilindustrie liegt in einer Weiterentwicklung des Produkts hin zu einem Fahrzeug, das als Ware mehr Wert in sich gebunden hat, sprich größer, schwerer, stärker, schneller ist und vor lauter technischem Schnickschnack fast platzt. Der SUV wurde geboren, der dann auch jede Motorenentwicklung, die auf geringeren Verbrauch der Aggregate abzielte, ad absurdum führt.

Im Ganzen dürfte aber dennoch, trotz SUV-Booms und Auslagerung bedeutender Produktionsteile in Billiglohnbereiche (inländisch wie ausländisch) sowie gesteigerter Arbeitsintensität die Profitrate in der Autoindustrie in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesunken sein.

Dem entgegenwirken kann sie nur durch Ausweitung ihrer Produktion und das Erobern neuer Märkte. Und das ist die eigentliche Motivation hinter dem E-Mobilitätshype, wie auch schon die Legende vom sauberen Diesel dazu dienen sollte, als Türöffnerin in gewisse Märkte, nicht zuletzt den der USA, zu dienen.

Die harte Konkurrenz, der Druck der Profitrate führte und führt natürlich zu einem gnadenlosen Preiskampf, Produktions- und Marktpreis können stark voneinander abweichen. Mehr noch verschwinden in diesem Konkurrenzkampf eigenständige HerstellerInnen, werden vernichtet oder gehen in anderen Konzernen auf, die so ihre Macht ausbauen – Kapitalkonzentration, Monopolisierung. Im VW-Konzern sind auf diese Weise die ehemals eigenständigen HerstellerInnen Audi, Porsche, Skoda, Seat, MAN, Scania, Bentley, Lamborghini, Ducati und weitere aufgegangen.

Kommen wir zurück zur Frage, worauf die Autoindustrie ihre gesellschaftliche Stellung gründet. Auf der Hand liegt natürlich eine enorme Wirtschaftsleistung, die sich im BIP der jeweiligen Länder auffällig niederschlägt. Bei VW, dem 2019 weltweit größten Hersteller, stand in jenem Jahr ein Umsatz von 253 Milliarden Euro 17 Milliarden Euro Gewinn gegenüber (6). 2019 betrug das zusammengezogene Bruttowertschöpfungsvolumen der drei deutschen Konzerne VW, BMW und Daimler, die zugleich die drei Spitzenplätze der nach dieser Größe eingestuften deutschen Unternehmen besetzen, 102 Milliarden Euro (7).

Zudem ist mit dem Sektor eine herausstechende Anzahl an Arbeitsplätzen verbunden. Allein direkt in der BRD sind über 800 000 hier beschäftigt, wobei sich noch abertausende Jobs ringsum ansiedeln (ZuliefererInnen auch im weiteren Sinne; so z. B. die deutsche Chemieindustrie) und damit auch das politische Gewicht der Industrie verstärken (8).

Aber das allein erklärt noch nicht die Kapitalmacht dieser Konzerne in den Nationalökonomien Deutschlands, Japans, der USA, Frankreichs, Italiens, Südkoreas und anderer Länder. Als Kapitale mit einer Spitzenposition hinsichtlich hoher organischer Zusammensetzung (Anteil von konstantem gegenüber variablem Kapital) eignen sie sich über die Ausgleichsbewegung, die Tendenz zu einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate, bezogen auf die Gesamtökonomie, vermittelt durch den allgemeinen Warenmarkt einen größeren Teil des Mehrwerts an als Unternehmen mit geringer organischer Zusammensetzung, was sich als selbst verstärkendes Moment weiter fortsetzt.

Die Kapitale mit geringer organischer Zusammensetzung werden so außerdem verschärft dazu getrieben, ihrerseits das konstante Kapital zu erneuern. Die Autoindustrie ist zum wichtigen Zugpferd der Wertschöpfung eines Staates geworden, über die Branche hinaus.

Mehr noch führt die bereits angesprochene Zentralisierung und Monopolisierungstendenz im Automobilsektor VW und Co. in eine Position, in der ein Werttransfer in ihre Hände stattfindet zuungunsten nicht zentralisierter Bereiche der Gesamtökonomie aber auch der Branche selbst. Die Riesen VW und Co, aber auch ihre Zuliefergrößen wie Bosch, Mahle oder Continental profitieren somit direkt von einer großen Anzahl kleinerer bis mittelgroßer Unternehmen, die sich um die Autoindustrie angesiedelt haben, von ihr abhängig sind und unter denen eine große Konkurrenz herrscht (bspw. im Maschinen-, Formen- und Werkzeugbau).

Schließlich hat sich mit der Herausbildung des Imperialismus auch in der Autoindustrie eine Gesellschaftsform des Kapitals durchgesetzt. Aktiengesellschaften mit Streubesitz, Kredite, staatlicher Teilbesitz, Verflechtung mit dem Finanzkapital, all das ermöglicht der Autoindustrie als Ganzer, ihre Vormachtstellung nicht nur in einzelnen Ökonomien, sondern auch auf dem Weltmarkt zu behaupten.

Soweit zur heutigen Situation. Erklärt ist so aber noch nicht ihr historischer Siegeszug, insbesondere, da zu jenem Zeitpunkt, als das Auto auf den Markt trat, in den wirtschaftlich fortgeschrittensten Ländern der Welt bereits gut ausgebaute, flächendeckende Eisenbahnsysteme existierten.

Werfen wir deswegen einen Blick zurück.

Dass Kapital relevant überhaupt in diesen oder jenen produktiven Sektor fließt, hat erst mal gewisse technische Vorbedingungen. Im Fall der Autoindustrie war das die Entwicklung des Verbrennungsmotors (Otto- und Dieselmotor als Hubkolbenmotoren), der im Gegensatz zur bis dahin populären Dampfmaschine eine ausreichend kompakte Größe und Leichtigkeit bei ausreichender Kraftentfaltung aufwies, sodass er für den Verbau in Straßenfahrzeugen (zuerst umgebauten Kutschen) infrage kam. Gleichzeitig brauchte es auch massive Fortschritte im Bereich der Erdölförderung und -raffinierung, wobei die Durchsetzung von Diesel- und Benzinkraftstoff so nicht von Anfang an feststand. Ford wollte für seine Automobile ursprünglich Ethanol verwenden. Andere Erfindungen wie die Kautschukvulkanisierung spielen ebenfalls eine Rolle.

Final entscheidend für die Durchsetzung im Personenverkehr und die Stärke der Autoindustrie war und ist aber, dass das Auto im Gegensatz zu Eisenbahn, Tram, Bus und ganz zu schweigen von Schiff und Flugzeug ein Massenkonsumgut sein kann und dadurch massiv anlagesuchendes Kapital anzog – zu einem Zeitpunkt, als der Eisenbahnmarkt und seine Industrie schon weitgehend aufgeteilt waren.

Dass sich Kapital so verhält, es dahin drängt, wo es Profit erwartet, ist gewissermaßen eine allgemein gültige Regel. Elon Musks Tesla, vollgestopft mit spekulativ-fiktivem Anlagekapital mit höherem Börsenwert als Ford, GM und VW zusammen (9), und der E-Autohype geben ein modernes Beispiel dafür ab.

Das Auto erscheint hierbei wie gemacht für die kapitalistische Produktion. Für das Kapital lohnt sich die Massenabsatztauglichkeit und daraus abgeleitet eine Produktionsweise, die sich geradezu anbietet für eine immer weiter getriebene Arbeitsteilung, Automatisierung und fortwährende Produktivitätssteigerungen. Ford führte 1914 die Fließbandfertigung als zentrale Produktionsmaschinerie im Detroiter Autowerk ein und hob die Rationalisierung in der Produktion auf ein neues Niveau. Auch wenn Henry Ford weder der Erfinder noch erste Anwender dieses Verfahrens war, so hat er es doch derartig berühmt gemacht, dass es in Verbindung mit anderen Komponenten seiner Strategie als Fordismus in die Geschichte einging. Das Fertigungsprinzip Fließband findet bis heute bei Pkws, Lkws und Motorrädern Anwendung.

Weder im Flugzeugbau noch bei Eisenbahnen oder Schiffen finden derartige Produktivitätssteigerungen und eine solch verschärfte Jagd danach statt, auch wenn diese Industrien an sich natürlich danach suchen. Aber weder Absatzzahlen noch der Gegenstand der Produktion bieten das in einem Maß wie in der Kraftfahrzeugindustrie an.

Und es ist uns natürlich klar, dass der Vergleich von Auto und Schiff ein wenig an Äpfel und Birnen erinnert. Nichtsdestoweniger gilt: Im verallgemeinerten Konkurrenzkampf aller Kapitale, die sich alle auf dem Markt begegnen und einen Kampf um die Aneignung  gesamtgesellschaftlicher Mehrwertanteile führen, kommt die Kapitalmacht der Autoindustrie voll zum Tragen. In einem einzelnen Auto steckt verglichen mit einer Lokomotive wenig Wert. Aber bezogen auf den schieren Output an Autos werden in der Automobilbranche gigantische Kapitalmengen durchgeschleust, riesige Wertsummen produziert und ebensolche Mehrwertgrößen abgegriffen, die viel größer als in anderen Transportmittelindustrien sind.

Ein Blick auf Wirtschaftsgrößen in Geldform bestätigt das:

  Gewinn 2019 Umsatz 2019
Toyota (Japan, Auto) 16 946 Mrd. US-Dollar (netto) 272 031 Mrd. US-Dollar
VW (Deutschland, Auto) 14 948 Mrd US-Dollar (netto) 282 948 Mrd. US-Dollar
Airbus (EU, Flugzeugbau, inkl. Defence und Aerospace) 7,2 Mrd. US-Dollar (bereinigtes EBIT ohne abgezogene Strafzahlungen usw.); Verlust von 1,525 Mrd. US-Dollar (netto) 78 935 Mrd. US-Dollar
CRRC (China, größter Schienenfahrzeugbauer weltweit) 2 039 Mrd. US-Dollar (netto, 2018) 33 655 Mrd. US-Dollar (2018)
Hyundai Heavy Industries (Südkorea, größter Schiffsbauer weltweit) – 0,2 Mrd. US-Dollar (netto) 21,8 Mrd. US-Dollar

Tabelle 1 (10)

Ein anderes, schwergewichtiges Kapital darf dabei nicht in unserer Betrachtung fehlen. Historisch wuchs das ökonomische Gewicht der Auto- mit dem der erdölfördernden Industrie, beide bedingten sich gegenseitig. Heute wird das meiste geförderte Erdöl im Straßenverkehr verbrannt. Er ist der größte Einzelverbraucher. Allein in den OECD-Staaten liegt der Verbrauchsanteil bei 35 % (11). Global betrachtet ist das Ölfördermaximum (der Peak Oil) dabei noch nicht erreicht, auch wenn es irgendwann eintreten wird und in vielen erdölfördernden Staaten die jährliche Menge rückläufig ist.

Alternative Antriebsarten konnten sich im frühen 20. Jahrhundert nicht durchsetzen, entweder weil die Vormachtstellung von Ölkonzernen im Zusammenhang mit der Autoindustrie schon zu groß war oder die Techniken Nachteile gegenüber dem Verbrenner aufwiesen. In den USA verdrängte Standard Oil gezielt den E-Antrieb, der sich gegen das billige Benzin und dessen größere mögliche Reichweite nicht durchsetzen konnte. Der von Ford eigentlich angestrebte Ethanolkraftstoff für seine Modelle wurde in diesem Zuge ebenfalls durch Benzin ersetzt.

Es lohnt auch, einen statistischen Blick auf die Umsatz- und Gewinnzahlen des Ölsektors zu werfen, einfach um dessen Gewicht besser zu begreifen. Unter den Top Ten der umsatzstärksten Unternehmen der Welt finden sich mit Sinopec, China National Petroleum, Saudi Aramco und Exxon Mobil vier petrochemische Konzerne (2019: Gesamtumsatz 1 407 Mrd. US-Dollar, Gesamtgewinn 136 Mrd. US-Dollar, wovon allein 111 Mrd. US-Dollar auf Saudi Aramco entfallen, das börsennotiert 2 Billionen US-Dollar Unternehmenswert besitzt und zeitweise als wertvollstes Unternehmen der Welt galt (12)).

Naturgemäß hat der fossile Energiesektor mit dem Straßenverkehr als größtem Abnehmer ein Interesse an einer möglichst langen Fortführung der bestehenden Verkehrsweise. Für die Autoindustrie gilt, E-Auto hin oder her (derzeit liegt der Neuzulassungsanteil bei 4,3 % (13)), dass die Industrie als Ganze bis auf Weiteres voranging Verbrenner herstellen wird. Schließlich existieren hinsichtlich der Ladeinfrastruktur, -zeit und Reichweite nach wie vor strukturell große E-Mobilitätsnachteile (völlig davon abgesehen, dass das E-Auto ökologischer Unsinn ist, siehe dazu Kapitel 8.2).

Beide, Ölkonzerne und Straßenfahrzeugindustrie, bilden unterm Strich eine mächtige wirtschaftliche Phalanx der fossilen und irrationalen, gleichzeitig aber enorm kapitalintensiven Fortbewegungsweise, die natürlich auch ihren politischen Ausdruck finden muss.

4. Staat und Verkehrsindustrie

Verkehrspolitik wird auf den ersten Blick zunächst davon geleitet, welche geographische Struktur und Rolle ein Land prägen. Umgekehrt wirkt die Verkehrspolitik aber auch auf diese Faktoren ein. Sie bestimmt und verschärft den Unterschied zwischen Ballungsraum und Land, bindet Regionen besser an oder hängt sie ab.

Kapitalmacht drückt sich politisch aus. Tiefer gehend betrachtet ist der bürgerliche Staat ein ideeller Gesamtkapitalist, in dem sich die Interessen des jeweiligen, an den Nationalstaat gebundenen Kapitals kumulieren, politisch ausdrücken und rechtlich verwirklichen. Ihm liegt die Aufgabe zugrunde, die Verwertungsbedingungen für den Kapitalismus, seine Produktions- und Reproduktionsbedingungen aufrechtzuerhalten und gesamtgesellschaftlich zu entwickeln. Was heißt das? Unter anderem: Etablierung einer Währung, Organisation eines Bildungssystems und – Herstellen und Überwachen einer Transportinfrastruktur.

Staaten und ihre Nationalökonomien befinden sich in einem dialektischen Wechselspiel zueinander. Zudem sind sie Teil eines sich über seine Einzelbestandteile erhebenden Weltmarktes. Wie das alles in die Verkehrspolitik einzelner Länder eingeht, können wir angesichts der globalen Ungleichzeitigkeit und hohen Detailkomplexität daher nur partiell zeigen.

Grundsätzlich lassen sich fünf Faktoren um die Verkehrspolitik eines Staates ausmachen:

  • Stellung des Staates auf dem Weltmarkt (Halbkolonie, Regional- oder imperialistische Macht; vorhandene Rohstoffquellen, Transitposition, internationale Konkurrenz … )
  • Zusammensetzung und Erfordernisse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals des Landes (dieser Faktor bestimmt u. a. wesentlich die Verteilung der Bevölkerung auf seine Fläche  und welches Verkehrsaufkommen die Bevölkerung, insbesondere die ArbeiterInnenklasse braucht, darüber hinaus aber auch Kultur, Freizeit usw.)
  • Rolle der Transportindustrie im jeweiligen Land (in ihrer Gesamtheit: Verkehrswege, Bauindustrie, Fahrzeugbau, Transportkonzerne)
  • Einwirkung gesellschaftlicher Kräfte (Umweltbewegung, Initiativen für und wider Verkehrsprojekte, Gewerkschaften, … ); kommt besonders in bürgerlichen Demokratien zum Tragen
  • Geographie (physische Topographie, natürliche Verkehrswege, Seeanbindung, technischer Aufwand für Verkehrswegebau, … )

Zur weiteren Erläuterung betrachten wir nun im Ansatz die Verkehrspolitik Deutschlands und Chinas als imperialistischer Mächte sowie Pakistans als beispielhaft  halbkolonialem Land.

4.1. Deutschland: Autoland

Die Verkehrspolitik in der Bundesrepublik als imperialistischer Macht, die sich in hohem Maße auf eine Exportwirtschaft begründet, deren vordersten Plätze die drei großen AutoherstellerInnen einnehmen, weist einen dazu passenden extrem hohen Fokus auf den Straßenverkehr aus. Verkehrs- und Wirtschaftsministerium sind wesentliche Handlanger dieser Kapitalmacht und eng mit ihr verbunden.  Tradition hat das. Einst wurde unter der NS-Herrschaft mit den Geldern der verbotenen Gewerkschaften in Wolfsburg das Kraft-durch-Freude-Werk aus dem Boden gestampft, gebaut für den Kraft-durch-Freude-Wagen. Ersteres ist heute das VW-Werk, letzteres wurde schließlich der VW Käfer. Der VW-Konzern selbst gehört derweil zu 12 % dem Bundesland Niedersachsen (14). Staat (ob NS-Staat oder BRD) und Kapital fallen hier anteilig in eins. Der globale Konkurrenzkampf um Mehrwertaneignung und Profite wird direkt unter politischer Beteiligung geführt – ein für das imperialistische Stadium des Kapitalismus typisches Phänomen.

Während seit der Wiedervereinigung rund 6 000 km Bundesstraßen und Autobahnen neu gebaut wurden, verschwanden tausende Kilometer Schienenwege, insbesondere in der Fläche (15). Ironischer Weise ist die Autoindustrie mit ihrer riesenhaften Produktionsmaschine und Exportmenge eine der abhängigen Hauptkundinnen des Schienengüterverkehrs. Zugleich hegt sie für den inländischen Personenverkehr ein Interesse, die Eisenbahn zurückzudrängen.

Dabei besteht die deutsche Industrielandschaft natürlich nicht nur aus VW und Co. Mit Siemens und Airbus (EU-Konzern) existieren sogar zwei internationale Weltmarktspitzen des Eisenbahn- und Flugzeugsektors (die trotzdem in ihrer Kapitalmacht weit hinter die Straßenfahrzeugindustrie zurückfallen; siehe Tabelle 1).

Generell existiert ein sehr hoher Grad an Industrie und kapitalintensiver Wertschöpfung, welche zwingend auf ein funktionierendes Verkehrssystem angewiesen sind, wofür der Staat zu sorgen hat, der dieser Aufgabe nur ungenügend nachkommt. Der Investitionsstau und die Widersprüchlichkeit im bundesrepublikanischen Verkehrswegebau sind symptomatisch für die nicht deckungsgleichen Interessen einzelner Kapitale mit denen des ideellen Gesamtkapitalisten Staat. Dieser muss wesentlich für die Finanzierung von Wegen aufkommen, mittels derer die Maschinerie der privaten Aneignung am Laufen gehalten wird.

Eindrucksvoll bestätigt sich dies in der Just-in-time-Produktion. Einerseits versucht das private Kapital hiermit, den Umfang und die Kosten des konstanten Kapitals zu verschlanken (Abbau von Lagern und Lagerbeständen). Die Externalisierung der Lagerbestände auf die Straßen, Schienen und Wasserwege mitsamt ihrer Verstopfung sind die Folgen, was nun wiederum auf Seiten des Kapitals das Bedürfnis nach mehr Kapazitäten im Verkehrssektor hervorruft. Ergo: Der Staat, obwohl selbst eher bestrebt, die eigenen Kosten gering zu halten, hat für einen Ausbau der Kapazitäten sorgen, vor allem der Straßen, die den übergroßen Teil des Warentransportes tragen. In der Konsequenz ist gesamtgesellschaftlich damit vom Ausgangspunkt der Just-in-time-Produktion übrigens das Gegenteil erreicht worden. Das einzelne Unternehmen konnte sein konstantes Kapital zwar gegenüber dem wertschaffenden, variablen verringern. Gleichzeitig ist aber das Gesamtausmaß an konstantem Kapital durch neue Straßen und Fahrzeuge gestiegen. Das begünstigt die Bauindustrie und – die deutschen Autokonzerne, die unter ihren Dächern auch einige der größten Lkw-HerstellerInnen der Welt beherbergen.

Diese staatliche, chronische Bevorzugung der Straße und Benachteiligung der Schiene schlägt sich im Kontext des europäischen Kapitalismus und seiner inneren Konkurrenz dann ebenfalls in einer widersprüchlichen (und den Straßenverkehr letztlich weiter begünstigenden Entwicklung nieder): Einerseits ist der europäische Imperialismus geneigt, den europäischen Markt zu einen und Handelshürden zu beseitigen, andererseits führt die nationalstaatliche Konkurrenz (die selbst nur die Konkurrenz des Kapitals weiter zuspitzt) immer wieder zum Gegenteil. Während die Schweiz als Transitland ohne große eigene Automobilindustrie seit Jahrzehnten eine Verkehrspolitik betreibt, die den Fokus auf die Gleise setzt, passiert dies in der BRD nicht. Und so fahren, zeitaufwändig und die Produktion bremsend, die Güterzüge auf der Achse Rotterdam – Genua vergleichsweise zügig durch die Schweizer Berge, um dann von Basel bis Wesel permanent im Stau marodierender Infrastruktur und überlasteter Knoten zu stehen.

Zu erwähnen ist noch, dass es bei großen bundesdeutschen Verkehrsprojekten mittlerweile fast Standard ist, dass diese von mehr oder weniger großen Bürgerinitiativen (dafür oder dagegen) und der Umweltbewegung begleitet werden, die zudem über unterschiedliche Möglichkeiten verfügen, in die Planung (Raumordnungs-, Planfeststellungsverfahren, … ) einzugreifen. Als Folge haben sich hiesige Infrastrukturprojekte extrem verlangsamt – ein internationaler Konkurrenznachteil für das deutsche Kapital. Gleichzeitig kann der deutsche Staat durch die Einbeziehung der lokal betroffenen Bevölkerung und von Bewegungen selbige integrieren und Widerstände ins Leere laufen lassen. Großprojekte wie Stuttgart 21, Nordwestlandebahn Frankfurt oder jüngst die A49 zeigten genau das. Gebaut wurde am Ende natürlich trotzdem.

4.2. Imperialistischer Aufsteiger China

Das eigentliche Autoland: Mit der höchsten Neuzulassungsquote ist China der heiß begehrteste und umkämpfteste Markt der Welt (16). Dabei wetteifern nicht nur internationale Größen wie Toyota oder VW, sondern auch eine große Anzahl chinesischer HerstellerInnen wie Geely oder SAIC miteinander, die sonst international wenig zu melden haben. Um letztere zu stärken, hatte der chinesische Staat 2017 eine E-Autoquote beschlossen, die VW und Co unmöglich halten können. So ist der E-Autohype schließlich auch nichts anderes als ein Ausdruck der scharfen Konkurrenz im Automobilbereich (17).

Doch China ist nicht nur Autoweltmeister. Die größten Häfen der Welt, das längste Eisenbahnschnellfahrnetz und der größte Eisenbahnhersteller, der größte Flughafen nach Reisendenaufkommen (hier half Corona, Atlanta zu verdrängen), einige der größten petrochemischen Konzerne – und überhaupt, die größte industrielle Produktion der Welt, die nach einer ausgiebigen Exportinfrastruktur verlangt, prägen die Pekinger Verkehrspolitik.

Chinas Imperialismus wurzelt in der Geschichte als bürokratisch degenerierter ArbeiterInnenstaat und dessen kapitalistischer Restauration durch KP und Staatsapparat selbst (18).  Finanzkapital und Staat sind deutlich enger miteinander verschränkt als in klassisch imperialistischen Ländern. Zugleich herrscht die Regierung Xi Jinpings mit drakonischer Hand.  Gepaart mit den gigantischen, nach wie vor anwachsenden Produktivkräften betreibt der chinesische Staat so insbesondere seit der Globalisierung ein nie da gewesenes, hochsubventioniertes und schnelles Verkehrssystem-Infrastrukturprogramm und versucht, im Einklang mit der Transportindustrie klassische WeltmarktführerInnen auf allen Ebenen herauszufordern. Das Ergebnis ist ein aus ökologischer Sicht widersprüchliches: Einerseits erlebt die Eisenbahn in China eine mit Europa und den USA unvergleichliche Renaissance. Industrie und die große Fläche verlangen danach. 3 Millionen Menschen arbeiteten 2010 im staatlichen Eisenbahnbereich. Die Schnellfahrstrecke Peking – Shanghai ist mit umgerechnet 25 Mrd. Euro nicht nur Chinas größtes Einzelinfrastrukturprojekt gewesen, sie ermöglicht auch, die 1 300 km mit Strom aus Kohleenergie verschlingenden 350 km/h in unter fünf Stunden zu fahren und das billiger als im Flugzeug (19).

Andererseits, wie oben schon erwähnt, durchläuft China einen staatlich massiv beförderten Autoboom. Die Bilder von im Smog verschwindenden Städten sind Symbole schlechthin für Chinas intensiv fossile Energieträger verbrennende Industrie und Transportweise. 2018 emittierte der Gigant 29,7 % der weltweiten Treibhausgasemissionen, auch das – Weltspitze (20).

Was im Inneren entsteht, findet seine Erweiterung im Äußeren. Im imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat China mit der „Neuen Seidenstraße“ ein Transportinfrastrukturprojekt auf den Weg gebracht, das den halben Globus umspannt. Von Peking finanzierte, gebaute (teilweise mit eigens mitgebrachten Arbeitskräften) und betriebene Straßen und Schienen in Afrika, Europa und Asien, Containerzugverbindungen von Europa nach China und zurück, Häfen in Südeuropa und halb Asien, Pipelines von Russland und dem Arabischen Golf ausgehend ins Reich der Mitte – längst hat China damit begonnen, seine Einflussnahme in Asphalt, Beton und Stahl zu bauen. Die Relevanz verkehrstechnischer Erschließung von Regionen für den weltpolitischen Führungsanspruch hat es erkannt. Was für manche Naiven nach einer wohltätigen Förderung der halbkolonialen Welt aussieht, ist nichts anderes als Kapitalexport, geostrategische Erschließung von Märkten und Rohstoffquellen und eine Kampfansage an die globale Konkurrenz.

4.3. Pakistan und die Seidenstraße

Eingebunden in Chinas „Neue Seidenstraße“ ist die Halbkolonie Pakistan. Eine formal-politische Unabhängigkeit ordnet sich einer ökonomischen Überausbeutung und Abhängigkeit unter, die schließlich auch die Verkehrspolitik des Landes entschieden mit dominieren.

Die Gestaltung und der Betrieb zentraler Infrastrukturen erfolgen im Interesse und auf Druck internationaler Kapitale, z. B. als Teil einer internationalen Strategie der Pekinger Regierung, der wichtigsten Schutzmacht Pakistans, zur Eroberung der Welt, oder folgen Diktaten von Instituten wie dem IWF. Auf diese Weise stehen moderne Anlagen in Häfen und neue Straßen – im Dienste fremder Kapitale – krasser Rückständigkeit und massiven Mängeln gegenüber.

Für Pakistan sieht diese Strategie so aus, dass der Persische Golf über die Häfen Gwadar (Chinas eigener Hafen) und Karatschi auf dem Straßen-, Schienen- und Pipelineweg mit China verbunden werden soll, wobei Pakistan zwar an der Nutzung der Wege teilnehmen darf, aber bloß als Nebeneffekt. Bestimmt werden Verkehrsströme vom Indischen Ozean zum jungen Imperialisten China durch die Interessen des Letztgenannten, der zudem die Strom- und Internetversorgung des Landes aufzubauen versprochen hat.

Auch wenn er bisher weit hinter den angestrebten Erwartungen liegt, zeigt der China-Pakistan Economic Corridor (21) doch eindrucksvoll, wie brisant Kapitalexport in Verbindung mit den Wegen globaler Warenströme und geopolitischen Gemengelagen verknüpft sein kann. Denn einerseits liegt ein Motiv zum Abkürzen des Weges zwischen den ostchinesischen Industrieregionen und dem Indischen Ozean natürlich in der potentiellen Zeiteinsparung im Warenverkehr nach Europa. Viel eher dürfte es aber darum gehen, die von Piraterie gespickte Straße von Malakka zu meiden und vor allem jene Gewässer nicht durchfahren zu müssen, wo China in Streitigkeiten mit Japan und den USA verwickelt ist, die in der Vergangenheit schon zu gewetzten Säbeln zwischen den Kriegsflotten führten. Umgekehrt bekäme China über Pakistan einen direkten militärischen Zugang zum Persischen Golf und damit zu jener Region, die Chinas hauptsächliche Erdöllieferantin ist.

Doch damit nicht genug. Das durch Pakistan verlaufende Teilstück der „Neuen Seidenstraße“ verschärft auch den Konflikt zwischen den drei Atommächten Pakistan und China auf der einen und Indien auf der anderen Seite. So soll ein Teil der Handelsrouten doch durch Jammu und Kashmir verlaufen, die Region Kaschmir also, die sowohl Islamabad als auch Neu-Delhi für sich beanspruchen. Andere Routen, die direkt durch Indien führen, erzeugen kaum weniger Reibung. Der Kampf um die Neuaufteilung der Erde, der Druck auf die halbkoloniale Welt und ihre Abhängigkeit von imperialistischen Zentren, das gleichzeitige Mit- und Gegeneinander einzelner Nationen in der globalisierten Welt, die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung: exemplarisch ist all das auf pakistanischem Boden als Baustein im Seidenstraßenprojekt Chinas ausgedrückt. Es versucht, Kapitalexport, Warenexport und -import sowie die geopolitische Beherrschung des asiatischen Kontinents miteinander zu verbinden.

5. Imperialismus und Weltmarktrückgrat

Auseinandersetzungen um die globalen Transportwege sind natürlich nicht neu, auch wenn die „Neue Seidenstraße“ Pekings Niveau und Umfang der Konkurrenz gegenüber vergangenen Projekten deutlich in den Schatten stellen dürfte, sollte auch nur die Hälfte des Geplanten Wirklichkeit werden. Das Schicksal des Projekts hängt dabei grundsätzlich von der Krisenentwicklung der nächsten Periode ab. Denn: Mehr als durch technische oder geographische Hindernisse werden die Geschwindigkeiten, Wege und Abwicklungen der globalen Handelsströme durch die Bedingungen des Weltmarktes diktiert. Zugespitzte Handelskriege, Zollschranken und Protektionismus, neue Krisenverschärfungen oder Crashes auf den Finanzmärkten können die Transportketten, diese Blutbahnen der Globalisierung, zum plötzlichen und weitgehenden Erliegen bringen.

Schauplatz internationaler Zusammenstöße sind immer wieder Warenwege. Seeblockaden erdrosselten ganze Länder (England gegenüber Deutschland im Ersten Weltkrieg oder, in jüngerer Zeit, die Blockade Venezuelas oder Kubas durch die USA). Kanäle, die Ozeane verbinden und Seewege abkürzen, standen im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen (Suezkrise) oder wurden vom Imperialismus in Beschlag genommen (frühere US-Pachtung des Panamakanals). In Kriegen wie zu Friedenszeiten verfolgen Verkehrsinfrastrukturen immer auch einen, mal stärkeren, mal schwächeren militärischen Zweck. Jedoch das alles ist nur Ausdruck der Tatsache, dass sich der Welthandel und die Konkurrenz durch den globalen Güterverkehr verwirklichen, heute in einem nie dagewesenen Umfang.

Kehren wir daher nochmal zurück zu der Rolle, die der Verkehr in der kapitalistischen Produktion spielt und denken dies auf der Ebene weltumspannender Wertschöpfung weiter.

Der Kapitalkreislauf, die Mehrwertaneignung können nur real werden durch den Warentransport. Er ist ein physisch notwendiger Bestandteil dieser Zirkulation und geht als Teil der Produktionskosten in den Preis der Ware ein, so wie er ihr durch die Transportarbeit Wert hinzufügt. So weit waren wir schon.

Nun war der Kapitalismus aber nie nur auf einzelne Nationalökonomien beschränkt. Kapital hat von Anfang an versucht, die Grenzen der einzelnen Staaten zu überwinden und in die Welt zu drängen, sie zu erobern, wofür im Frühkapitalismus vor allem die Schifffahrt eine zentrale Rolle spielte. Die  koloniale Aufteilung und Ausbeutung der Welt durch west- und mitteleuropäische Mächte wäre ohne sie unmöglich gewesen. Später wurde sie ergänzt um Eisenbahn, Flugzeug, Lkw. Heute stellt im interkontinentalen Gütertransport nach wie vor das Schiff das Rückgrat schlechthin dar.

Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert trat der Kapitalismus in sein höchstes Entwicklungsstadium, den Imperialismus. Dieser bedeutete das Umschlagen von Quantität in Qualität. Der Kapital- erlangte die Oberhand gegenüber dem Warenexport. Zentralisierung und Monopole modifizierten und überhöhten die freie Konkurrenz. Banken und Industrie „verwuchsen“ zum Finanzkapital. Internationale Kapitalverbände bildeten sich, die Welt war fortan unter diese und die von ihnen dominierten Großmächte aufgeteilt. Über die Welt wird wesentlich in den imperialistischen Zentren, wo die größten Konzerne und Finanzhäuser sitzen, entschieden. Damit einher geht eine Tendenz zur „Verewigung“ der Machtverhältnisse. Diese reibt sich jedoch fortwährend daran, dass trotz einer Neigung zur Monopolbildung die kapitalistische Konkurrenz alles andere als überwunden ist, sondern, im Gegenteil, mit besonderer Intensität in Krisen, eine heftige Zuspitzung erfährt.

5.1. Kapitalzentralisierung und nochmal Autoindustrie

Beziehen wir nun die Totalität des Imperialismus auf die Verkehrsindustrie: Kapitalverflechtung und Monopolisierungstendenz führen zu einer empfindlichen Abhängigkeit einiger ImperialistInnen und Regionalmächte von der in ihr ansässigen Transportindustrie.

Dazu zählen natürlich jene Länder mit einer großen Autoindustrie, die mit Ausnahme Südkoreas und Indiens nahezu komplett auf die imperialistische Welt konzentriert ist. HerstellerInnen, die ihren Ursprung in Halbkolonien haben, gehören in der Regel längst Monopolkonzernen an. Letztere weisen in ihrer Besitzstruktur ein engmaschiges Geflecht aus Eigentümerfamilien, Banken, Staaten, Fonds und Vermögensverwaltungen auf.

Es ist aber nicht nur die Autoindustrie, die aus ihrer ökonomischen Position heraus in hohem Maße der Wirtschaft einiger Länder ihren Stempel aufdrückt. Bauindustrie, ReederInnen und LogistikerInnen, FlugzeugbauerInnen und EisenbahnherstellerInnen und vor allem die eng mit dem Sektor verwachsene Energieindustrie weisen allesamt eine hohe Wertschöpfung sowie einen enormen Grad an Zentralisierung und Verflechtung mit Banken und zinstragendem Kapital auf. Sie stehen zu einem guten Teil auf dem absoluten Spitzenplatz im Unternehmensranking einzelner Staaten und bestimmen drastisch über deren Wirtschafts-, Verkehrs- und Außenpolitik, heben somit ihre scharfen Verwertungs- und  Konkurrenzinteressen auf die Ebene der Staatspolitik.

Und trotz herausragender anderer Transportmonopole gilt wieder: Das Auto erobert die Welt. Es ist kein Zufall, dass mit dem Auftreten des Imperialismus sein Siegeszug in der Transportindustrie begann und vor allem die Eisenbahn und den öffentlichen Personen(nah)verkehr zurückdrängte. Denn in den fortgeschrittensten Industrienationen und dort besonders in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, der durch eine massive Zerstörung von Produktivkräften und Kapital den Weg für eine Erholung des Kapitalismus bereitete, brachte der Imperialismus eine Hebung des Lebensstandards und Löhne mit sich, die jahrzehntelang über den durchschnittlichen Reproduktionskosten lagen. Somit stellten (und stellen vielerorts) größer werdende Teile der ArbeiterInnenklasse wie auch des KleinbürgerInnentums einen Massenabsatzmarkt für Pkw dar, wobei das Produkt wie schon erwähnt als industriell gefertigtes Massenkonsumgut eine große Verbilligung erfuhr. (Übrigens: Vor der weiten Verbreitung des eigenen Autos für zumeist männliche Arbeiter in der Zeit von 1945 – 1970 waren günstigere Mopeds, Kleinkraft- oder Motorräder die zunächst für die ArbeiterInnenklasse im westlichen Imperialismus weiter verbreiteten eigenen motorisierten Fahrzeuge. In der halbkolonialen Welt dominieren motorisierte Zweiräder bis heute häufig das Bild.)

Die Hebung des Lohnniveaus und des Lebensstandards der ArbeiterInnenklasse in den westlichen Industriestaaten war und ist nicht nur das Ergebnis von Klassenkämpfen und Verbilligung der Produktion. Die überdurchschnittlichen Löhne über Jahrzehnte hinweg hängen direkt mit dem Imperialismus zusammen, mit den durch ihn realisierten Extraprofiten, die durch Überausbeutung der (halb)kolonialen Welt in einzelnen Industriesektoren erzielt werden. Diese erleichtert damit die Zahlung höherer Löhne in den imperialistischen Kernländern für große Teile der dort ansässigen ArbeiterInnenklasse – vereinfacht gesagt.

Der Rest ist Geschichte: Die Verbilligung des Individualverkehrs, die offensichtlichen Vorteile des Autos hinsichtlich der Flexibilität und eine ideologische Kampagne für die im gummibesohlten Blech verpackte Fortbewegung führten bald zu einer Abkehr von Schienenverkehr und ÖPNV, die auch staatlich massiv befeuert wurde: Rückbau von Gleisen, Ausbau der „autofreundlichen Stadt“, massiver Straßenausbau. Automobilkapitale wirkten dabei nicht nur vermittels des Staates, sondern auch selbst direkt mit. Das zeigte zum Beispiel die Episode um General Motors, Firestone und Standard Oil sowie in deren Hintergrund wirkende schwergewichtige Bankkapitale wie Rockefeller, welche über Jahrzehnte hinweg in US-Großstädten den schienengebundenen Verkehr aufkauften und im Nachgang zerstörten (22).

5.2. Billiger Gütertransport und Globalisierung

Die Jahrzehnte der Globalisierung führten eine schon immer im Kapitalismus angelegte Tendenz fort. Eine sich ausdehnende Sphäre der Akkumulation, der wachsende Haufen an Kapital und dessen Konzentration führen zu einer Steigerung des Verkehrsaufkommens.

Bedingt wird das in erster Linie natürlich durch die kapitalimmanente andauernde Ausdehnung der Produktion selbst: Wo ein größerer Berg an Waren, da braucht‘s auch mehr, um ihn zu bewegen.

Ebenso wenig führt die Kapitalkonzentration zu einer Einsparung von Transportwegen. Im Gegenteil, die zwischen einzelnen Produktionsstätten und zum/r EndverbraucherIn werden im Allgemeinen länger und ebenfalls die Arbeitswege von vielen Lohnabhängigen. Diese pendeln in den Industrienationen mitunter weit über 100 km. Aber noch häufiger folgen die TrägerInnen der Ware Arbeitskraft dem Ruf des Kapitals vom Land in die Stadt. Wie die weltweit größte Migrationsbewegung über die letzten 300 Jahre darstellt, wird die Kluft zwischen den Lebensräumen  größer.

Aber zurück zur Globalisierung, die ja eine Periode der imperialistischen Epoche beschreibt. Eines ihrer hervorstechendsten Merkmale sind die schon mehrfach angesprochenen globalen Warenströme. Sie vermitteln den Stofftransfer zwischen den imperialistischen Mächten untereinander sowie von und zur (halb)kolonialen Welt.

„Made in China, Taiwan, Vietnam, Bangladesh usw.“ sind auf dem Weltmarkt längst Standards. Aber wieso lohnt sich das für das Kapital? Warum wird überhaupt die Produktion für, sagen wir, den europäischen Markt ans andere Ende der Welt verlagert, wo sich dadurch die Transportzeit und scheinbar die Umschlagszeit des Kapitals doch um ein Vielfaches verlängern im Vergleich zur Vorratshaltung in den Montagefabriken, gerade wenn Produktionsabläufe auch noch auf unterschiedliche, weit auseinanderliegende Orte aufgesplittet sind? Das Kapital ist an der Verwertung seines vorgeschossenen Tauschwerts interessiert. Seine Zirkulationszeit und -kosten verringern sich eben durch die Just-in-time-Produktion (geringere Kapitalbindung in Warenform durch verringerte Lagerhaltung). Dies stellt eine Gegentendenz zum Fall der Profitrate dar. Sie wird „bezahlt“ durch prekäre Löhne und Arbeitsbedingungen in der „Dritten Welt“ wie im Logistikgewerbe einerseits, durch Auslagerung der Ersatzteillager auf die Autobahnen und Seewege andererseits. Das Kapital schert sich auch einen Dreck darum, was das für menschliche Nerven und das Klima bedeutet (CO2-Emission, Lärm, Stau). Hauptsache freie Fahrt fürs Monopolkapital.

Je niedriger die Transportkosten sind, desto attraktiver und rentabler wird die Auslagerung von Produktionsketten auf die ganze Welt, ausgehend von der imperialistischen. Tatsächlich sind die Kosten im Güterverkehr in den letzten Jahrzehnten im Durchschnitt immer weiter gesunken. Er bildet das günstige Rückgrat der Globalisierung. Voraussetzung dafür ist nicht nur das Größer, Schneller, Weiter von Schiff, Flugzeug, Lkw und Eisenbahn und deren gewaltige Kapazitäten. Die Externalisierung von Transportkosten in die Gesamtgesellschaft spielt eine ebenso wichtige Rolle.  Verkehrswegebau und somit die Gewinne der Transportindustrie und die billige Logistik für das Gesamtkapital werden beispielsweise massiv staatlich bezuschusst. Nur so kann sich die schon umrissene Just-in-time-Produktion wirklich für das einzelne Kapital lohnen, welches somit die „Lagerstätte“ Transportweg nicht entsprechend zu bezahlen braucht. Außerdem: Schifffahrt und Luftfahrt nutzen ihre Verkehrswege weitgehend unentgeltlich. Ihre Kosten werden zu übergroßen Teilen von der gesamten Menschheit getragen, während der in diesem Sektor anfallende Profit in die Hände der Unternehmen wandert. Bestimmte Fortbewegungsmittel und Verkehrsträger genießen also je nach Land ein unterschiedlich hohes Maß an Privilegien. Als Beispiel erinnern wir daran, dass die Fliegerei in der BRD von der Kerosinsteuer befreit ist.

Der größte externalisierte Kostenfaktor für die Menschheit im 21. Jahrhundert ist und wird in noch viel größerem Ausmaß aber unzweifelhaft der sein, die vom globalen Verkehrsaufkommen mit verursachten Folgen der Klimakatastrophe einzudämmen und zu bewältigen. Bisher hat noch kaum ein Energie-, Auto-, Luftfahrt- oder sonstiges Kapital direkt aus eigener Tasche für Überschwemmungen oder Waldbrände aufkommen müssen. Das muss wohl gegen diese und den Staat durch eine andere Kraft durchgesetzt werden.

6. ArbeiterInnenklasse, Bewusstsein und die „Kultur“ der Fortbewegung

Es wird nun ausschließlich um den Personenverkehr der Gegenwart gehen und um die Frage, was das Verkehrsverhalten der Individuen bestimmt. Außerdem werden wir uns aufgrund der Grenzen dieses Textes auf Mitteleuropa bzw. Deutschland fokussieren.

6.1 Mobilität – reiner Zweck?

Welches Fortbewegungsmittel der einzelne Mensch für sich wählt, wird durch vier Faktoren beeinflusst: den zurückzulegenden Weg und dessen Zweck; die dafür aufzuwendende Zeit; die Verfügbarkeit, worunter auch die finanziellen Mittel fallen; die Kultur.

Lebt ein Mensch auf dem Land oder in der Stadt? Besitzt er ein hohes oder niedriges Einkommen? Treibt ihn die Sozialisierung und verallgemeinerte Konkurrenz in mehr oder minderem Maß zur Jagd nach Statussymbolen und Selbstdarstellung? Vollzieht sich sein Alltag bestimmt durch Arbeit und Reproduktionsarbeit in geraffter Hast oder reichlich entspannter Freizeit? Das Fortbewegungsverhalten, der Konsum von Verkehr ist durch all das beeinflusst, in letzter Instanz also wesentlich bestimmt durch die gesellschaftliche Produktionsweise.

Es ist wichtig, das weiter auszuführen, weil es in der Umweltbewegung, ihrer sozialen wie ideologischen Prägung nach der Kleinbürgerlichkeit gehorchend, populär ist, sich der Verkehrswende nicht nur durch unzulängliche Reformpolitik, sondern auch vom Standpunkt der individuellen Konsumkritik aus anzunähern. An sich ist die Infragestellung von Ressourcen vernutzendem, umweltschädlichem Konsum auch keineswegs abzulehnen – wer auf Pkw oder Kurzstreckenflug verzichten kann, sollte dies tun.

Und natürlich bedingen sich Konsum und Produktion gegenseitig. Aber sind sie wirklich gleichwertig im gegenseitigen Wirken aufeinander? Nein. Es ist die Produktion, die nicht nur dem Verbrauch vorausgeht, sondern vor allem Angebote schafft oder eben nicht. Dass das Kapital aufgrund der riesigen Profite den fossilen motorisierten Individualverkehr hervorgebracht hat, versuchten wir bereits nachzuweisen. In der Folge ist der Straßenverkehr sehr oft für Privatleute schon von vorneherein deutlich günstiger als der öffentliche Nah- und Fernverkehr, dessen höhere Preise für die KonsumentInnen vor allem als politisch so gewollt betrachtet werden müssen. Im Zusammenhang mit der damit einhergehenden persönlichen Flexibilität, viel besseren Anbindungen abseits der großen Städte und der auf den meisten Strecken deutlich kürzeren Fahrzeit liegt es auf der Hand, warum Menschen die Fortbewegung im eigenen Pkw schon allein aus privat-ökonomischen Gründen bevorzugen, sofern letzterer denn leistbar ist.

Mobilität ist in der kapitalistischen Gesellschaftsformation aber weit mehr als eine nüchtern abgewogene Mittel-zum-Zweck-Betrachtung. Mobil sein ist Teil unserer Kultur geworden, ein Status. Dem eigenen Auto wird die Zauberkraft persönlich erreichbarer Freiheit („für freie BürgerInnen“) zugeschrieben in einer ansonsten für die Mehrheit der Menschen unfreien Welt. Wer ein Auto hat, dem steht es frei, wann immer es ihm/r beliebt, egal wohin und wie schnell zu fahren. Wer noch freier sein will – frei von Blechfahrgastzelle und Sicherheitsgurt und frei im Fahrtwind – fährt dann Motorrad. Fahren ist ein Erlebnis. Im Verkehr Zeit zu verbringen, wird zum Hobby.

Und es ist nicht egal, womit gefahren wird. Es muss schon ein Audi, Mercedes oder Porsche sein. Die Produkte der großen Industrie repräsentieren nicht nur den einfachen Gebrauchswert Auto. Nein, sie sind eine Marke, ein auf den/die BesitzerIn des Fahrzeugs abfärbendes und identitätsstiftendes Statussymbol, dem an sich schon die Attribute von billig und primitiv bis teuer und edel anhaften. Aus dem Auto wird ein Dacia oder eben ein Maybach. Sage mir, was du fährst, und ich sage dir, wer du bist.

Dieser Markenfetisch, diese gesellschaftlich vollzogene Überhöhung eines Gebrauchsgegenstandes, besitzt natürlich auch einen realen Bezug zu den Produkten –  dass Autos sich voneinander unterscheiden. Trotzdem ist der zusätzliche Effekt der Marke nicht zu verkennen. Sie geht mit in den Preis des Autos ein, erhöht real den Profit der HerstellerInnen. Deswegen leisten die Autokonzerne es sich, Millionen ihrer Einnahmen nicht in die eigentliche Produktion zu reinvestieren, sondern in Werbung, Sponsoring und extrem kostspieligen Motorsport (Prestige ist der Bourgeoisie ein treuer Begleiter) zu stecken.

Das ist die eine Seite des Markenfetischs. Auf der anderen finden wir den schnellen moralischen Verfall des Gebrauchswerts, der doch eigentlich soviel Ansehen bedeuten kann. Aber, es ist eben der Fluch aller Autos: gestern noch im Rampenlicht der HändlerInnen, morgen schon in die Jahre gekommen. Trotz voller Funktionsfähigkeit wird es ersetzt durch ein neues und glanzvolleres Statussymbol. Die bourgeoise Weise, sich fortzubewegen, bringt eine frivole Dekadenz mit sich, die umso überbordender ausfällt, je größer das Vermögen ist. Die Fortsetzung der Luxuslimousine sind Yacht und Privatjet.

6.2 Reproduktive Freizeit und Zerstreuung

Der beschriebene Kult um das Auto war gutbürgerlichen Ursprungs und von Anfang an männlich geprägt – bis heute. In den namhaften Motorsportkategorien gibt es immer noch kaum Frauen. Lange war der Führerscheinerwerb an die Zustimmung des Ehemanns gebunden. Mit Herausbildung einer ArbeiterInnenaristokratie und der Produktverbilligung wurden der Kauf eigener privater Kfz und überhaupt die Verbürgerlichung großer Teile der ArbeiterInnenklasse in imperialistischen Ländern und reicheren Halbkolonien erst möglich. Das eigene Fahrzeug suggerierte auch dem Proletariat Status, Geschwindigkeit und Scheinfreiheit.

Der Aspekt der Scheinfreiheit und überhaupt der Lebensstandardhebung spielte für den Fordismus eine wichtige Rolle zur Ruhigstellung der ArbeiterInnenklasse. Nach dem Motto: im Betrieb zwar ausgebeutet und unterdrückt, außerhalb aber alle „Freiheit“ des Konsums – des Autofahrens – als Ausgleich. Das Konzept Fords war auch Vorbild für den schon erwähnten  Kraft-durch-Freude- Wagen der NS-Diktatur. Das Auto befriedigt nicht nur Bedürfnisse des Transportkapitals, sondern befriedet in gewisser Weise auch den Klassenkampf. Die Hebung des Lebensniveaus der ArbeiterInnenklasse (im Generellen, das Auto ist natürlich nur ein Ausschnitt) bedeutete nicht nur eine materielle Errungenschaft für diese, sondern auch eine über den Reformismus vermittelte gestärkte ökonomische Grundlage für Passivität im Klassenkampf.

Überhaupt ist es so, dass das Freizeitvergnügen für die ArbeiterInnenklasse den ausgleichenden Gegensatz oder besser gesagt die logische Ergänzung zur Entfremdung und Verdinglichung in der Produktion verkörpert. Der Spaß und das Erleben im Urlaub und am Wochenende machen den mehr oder weniger allgemeinen Verdruss der Arbeit, dieses sich montags schon nach dem Freitag Sehnen, vergessen und reproduzieren die Arbeitskraft nicht zuerst physisch, sondern psychisch. Die täglichen Massenbewegungen der ArbeiterInnenklasse von und zur Arbeit werden ergänzt um die des erschwinglichen Tourismus’.

Kreuzfahrtschiffe übergeben täglich tausende Menschen in die zur Ware gewordene Kultur solcher Städte wie Barcelona oder Venedig, die davon nicht nur profitieren, sondern schon Proteste gegen den Gegenwartstourismus erlebten. Billigflieger machen auch jugendlichen geringer Verdienenden einmal im Jahr eine Woche Malle oder Goldstrand möglich, wo der Alltag unterschiedlicher Grauschattierungen feierlich im Partyrausch vergessen wird. Verlängerte Wochenenden fangen mit kilometerlangen Staus an und enden genauso auf der Fahrbahn der Gegenrichtung, ein Meer aus Blech auf dem Weg zum und vom Strand.

Es ist offensichtlich, dass Verkehr und Massentourismus – von Spaßfahrten und Spritztouren sowieso zu schweigen – miteinander eng verflochten sind. Das destruktive Potential, das sich daraus für die Umwelt ergibt, ist ebenso bekannt, wie es billigend in Kauf genommen wird. Für manche/n liegt es an dieser Stelle natürlich wieder nah, sich mit der bloßen Kritik des Konsums abzugeben. Aber, schon wieder, ist das leider nicht hinreichend. Der Massentourismus ist nicht nur Ergebnis seiner Erschwinglichkeit und seines eigenen Warencharakters. Er tritt auf, weil er wirklich ein Bedürfnis von individualisierten, entfremdeten Menschen nach Zerstreuung und Selbstaufwertung befriedigt, das unmittelbar aus der kapitalistischen Lebensrealität entspringt. Diese sorgt nicht nur für ein entfremdetes und auf Konkurrenz basierendes, sondern auch weitgehend bewusstloses Dasein, das kaum Selbstentfaltung in der Produktionssphäre, im täglichen Schaffen, zulässt. Den Massentourismus einfach nur zu beschränken, wird folglich als Einbuße an individueller (Schein-)Freiheit empfunden (werden). Wir wollen im Programm unten noch darstellen, dass die Lösung auch hierfür nur dort gefunden werden kann, wo die Menschen ihr Leben produzieren.

6.3 Was wird aus der (Auto-)ArbeiterInnenklasse?

Weltweit sind Millionen Menschen in der Kfz-Industrie beschäftigt. Allein hierzulande dürfte bei weit über einer Millionen Menschen ihre Existenz von der Arbeit im Autosektor abhängen, wenn wir bspw. Zulieferbetriebe, Werkstätten und Familienangehörige in unsere Betrachtung einbeziehen.

Sehr vielen der dort Beschäftigten dämmert mindestens, dass die Verkehrsweise, für die sie unter dem Kommando der Automobilkonzerne produzieren, einer zwingenden und dringenden Änderung bedarf. Einigen ist es sehr bewusst. Aber klar, falsch wäre es natürlich auch zu verleugnen, dass es bei einem Teil der IndustriearbeiterInnenschaft ebenfalls eine irrationale Tendenz zur Leugnung der Klimafrage gibt.

Völlig unbenommen davon, wie sich die Erfordernisse des Klimawandels für die einzelnen Beschäftigen darstellen – was so gut wie alle umtreibt, ist die Frage, wie es künftig um den eigenen Job steht, eine begründete Sorge, nicht nur spekulativ, sondern akut und real. 178 000 Stellen stehen allein in den Zentren der deutschen Autoindustrie für die nächsten vier Jahre zur Disposition, viele wurden in den letzten Jahren schon zerstört (23). Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt und andauernden Krise versuchen Kapital und Regierung, mit massiven Investitionen die deutsche Exportwirtschaft für die Zukunft fit zu machen. Im Zusammenhang mit der Klimakrise rückten „grüne Technologien“ in den Fokus der Industrie – als mögliches Vehikel im Rennen um neue Profite. Für die Autoindustrie bedeutet das ideologisch keineswegs die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr, sondern eine „ökologische“ Erneuerung der Privatflotte: E-Auto, alternative Antriebe, Carsharing usw. Das hält zwar den Klimawandel nicht auf, soll aber satt Profite bringen, die Konkurrenz ausstechen. Zuerst erfordert der Umbau des Autos nun den der Autofabriken und fällt hier in eins mit der längst real werdenden Industrie 4.0 (Digitale Revolution). Die Erneuerung des konstanten Kapitals und die geringere technische Komplexität des E-Auto-Antriebsstranges sollen eine Verringerung des variablen Kapitals ermöglichen.

Wahrscheinlich bedeutet dies die größte Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse im schwersten Bataillon der deutschen Industrie seit der Agenda 2010. Letztere hat dem deutschen Kapital nicht nur die Möglichkeit verschafft, im Zuge der Krise 2008 die Konkurrenz auszustechen und sich nach vorne zu exportieren, sondern erleichtert nun auch ein Absägen von Arbeitskräften zum Umbau und Auslagern der Automobilproduktion.

Dabei setzen IG Metall und die Sozialdemokratie heute den Kurs fort, der unter „Autokanzler“ Schröder schon den Großangriff der Agenda von Leih- und Zeitarbeit sowie Prekarisierung bedeutete. Sie halten dem Kapital den Rücken frei vor einer Gegenwehr aus der ArbeiterInnenklasse und greifen sie im Namen des Standorts Deutschland selbst an. Die Gewerkschaftsbürokratien ermöglichen in der brutalen Konkurrenz VW, Daimler und BMW und ihren ZuliefererInnen von Bosch bis Continental Wettbewerbsvorteile durch Stillhalten und Mitgestalten von Auslagerungen, Entlassungen und Werksschließungen.

Andererseits trottet die IG Metall im Grunde ohne ein eigenes, taugliches Mobilitätswendekonzept den Konzernen servil hinterher. Sie hofft dabei, dass bei allem industriellen Umbau der nächsten 10 Jahre eine sie stützende Stammbelegschaft übrig bleibt, die sie gegen alle anderen – ausländische Standorte, befristete Kräfte im Inland usw. – ins Feld führen kann. Bei der Umweltbewegung sieht es auch nicht besser aus, was die Beziehung zur ArbeiterInnenklasse angeht. Für die Gewerkschaftsbürokratie existiert eine doppelte Abhängigkeit – einerseits von der (Kern-)Belegschaft in den Fabriken, andererseits von gut bezahlten Posten beim Kapital im Aufsichtsrat. Sie muss die ArbeiterInnenklasse immer wieder verraten, aber für Teile von ihr ab und zu mal ein paar Krümel rausholen (und wenn‘s der vorübergehende Arbeitsplatzerhalt ist). Die Umweltbewegung von Grünen über FFF bis zu Ende Gelände oder Sand im Getriebe verfügt hingegen über so gut wie überhaupt keine (organische) Verbindung zur ArbeiterInnenklasse, was zur Folge hat, dass selbige in ihrer Umweltpolitik – wenn überhaupt – nur eine absolut untergeordnete Rolle spielt.

Während das Konzept der IG Metall den vermeintlichen Schutz von Arbeitsplätzen bei VW und Co vorschiebt, um darüber das umweltzerstörerische Profitspiel vom Individualverkehrskonzept dieser Konzerne fortzusetzen, und  die Beschäftigten ideologisch an diese bindet (ähnlich der IG BCE in Bezug auf RWE-Braunkohle), bleibt es bei der Umweltbewegung auf der Straße oft bei abstrakten Appellen bis hin zu einem ebenso abstrakten Antikapitalismus. Dies führt dazu, dass die (Auto-)ArbeiterInnenklasse die Umweltbewegung zwar vielleicht als an sich wichtig, aber ohne taugliches Zukunftskonzept versteht – womit sie nicht ganz Unrecht hat.

Die gesamte Umweltbewegung auf ihrem derzeitigen Stand verfügt kaum über tragfähige Gesamtmobilitätskonzepte. Bei den Grünen bestehen sie darin, das E-Auto zu subventionieren und die Bahn zu privatisieren und zu zerschlagen (so auf Betreiben der Grünen hin bei der S-Bahn Berlin bereits angestoßen), Herbert Diess (Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG) und die Quandts und Klattens (BMW-GroßaktionärInnen) wird es freuen, Zugreisende werden dadurch nichts gewinnen. In ihrer Realpolitik sind die Grünen sowieso keine Verkehrswendepartei. Sinnbildlich haben sie als Teil der hessischen Landesregierung den besetzten Dannenröder Wald für einen Autobahnbau räumen und roden lassen.

Auf der Straße ist seit 2019 FFF zur zahlenmäßig und in der Außenwirkung dominierenden Kraft der Klimabewegung geworden. Ihr Großteil befindet sich mittlerweile zumindest fühlbar in dem Widerspruch, dass die wesentliche Politik der Bewegung auf Appelle an BerufspolitikerInnen beschränkt ist, von denen immer wieder keine taugliche Klimapolitik kommt. Es fehlt die Einsicht, dass eine  Regierung keine neutrale Vertretung der Allgemeinheit ist, sondern integraler Bestandteil bürgerlicher Herrschaft. Deren wesentliche Aufgabe ist es, den politischen Willen der KapitalistInnen in rechtliche Formen zu gießen und den ökonomischen Wettbewerb zum politisch (und militärisch) zugespitzten Konkurrenzkampf der Staaten zu erheben, in dem jede wirklich nachhaltige Politik an der kapitalistischen Realität zerbricht. Eigene Konzepte bringt FFF kaum. Zwar wird mit Vehemenz die Einhaltung des 1,5 °C-Zieles gefordert, mitunter auch Konkretes wie der zügige Kohleausstieg oder kostenlose Nahverkehr, aber wie und durch wen das Realität werden soll (wenn es die Regierung – auch mit grüner Beteiligung – nicht umsetzt), bleibt völlig offen.

Konfrontiert mit der unmöglichen Nachhaltigkeit im kapitalistischen System hat sich mittlerweile die nichtssagende Abstraktion des „system change not climate change“ etabliert. Von der Klimabewegung der „Mitte“ abgewandt sucht der sich als radikaler und konsequenter verstehende Teil der Umweltbewegung nach Alternativen und Möglichkeiten des Systemwandels. Raus kam dabei bisher in erster Linie ein Wechsel der Aktionsform weg von Schulstreiks und Demonstrationen hin zu Wald- und Grubenbesetzungen und dem sogenannten zivilen Ungehorsam. Diese firmieren oft unter nunmehr offen antikapitalistischem Label und bringen vielen AktivistInnen wenigstens eine relativ ausgereifte Erkenntnis bei, dass die Rettung der Lebensgrundlage der Menschheit (und innerhalb dieser steht die Verkehrswende) nur gegen Staat und Kapital durchsetzbar ist. Allein, hier hört der Gedanke bei vielen gerade vom Anarchismus Beeinflussten auf. Der Antikapitalismus bleibt ein wesentlich abstrakter – ein starkes Gefühl mit viel Entschlossenheit zur Tat vielleicht. Doch leider fehlt somit, wirklich bewusst auf konkrete Ziele hinzusteuern, weil – im Geist ganz verwandt mit der Appellpolitik der freitäglichen Streiks – die entscheidenden Fragen auch in den Kronen der Bäume und Tiefen der Gruben offenbleiben: Wie sieht eine konkrete antikapitalistische Verkehrswende aus und wer setzt sie durch? So radikal und richtig die Aktionen von Sand im Getriebe bis Waldbesetzung sind, ausreichend sind sie bei weitem nicht. Den Klima- zum Klassenkampf zu machen, liegt ihnen fern.

Für die ArbeiterInnenklasse in den Fossilien fördernden Industrien oder solchen, die Erzeugnisse herstellen, die sie verbrennen– sei es in Wolfsburg, Untertürkheim oder Garzweiler –, stellt sich die Umweltbewegung im Groben so dar, dass sie bei ihr politisch kaum berücksichtigt wird. Die Frage, was aus den Jobs in Motorenwerken wird, wird schlicht nicht beantwortet. Sie spielt höchstens eine untergeordnete Rolle, worin sich in bestimmter Weise die kleinbürgerlich-akademische Klassenherkunft von Grünen bis radikalen AktivistInnen ausdrückt. Ihr Verhältnis zur ArbeiterInnenklasse ist nicht einfach nur ignorant, sondern auch paternalistisch.

Und das vereint dann auch alle: die KapitalistInnen und ihre klassischen Parteien, die Gewerkschafts- und Betriebsratsspitzen der IG Metall sowie die SPD- und Linksparteiführungen sowie die Mehrheit der Umweltbewegung mitsamt den Grünen und NGOs von BUND & Co. Sie alle schauen paternalistisch, also bevormundend, auf die ArbeiterInnenklasse als passives Teilelement innerhalb einer „sozialökologischen Transformation“ herab. Die einen wollen ihr eine CO2-Steuer auferlegen. Die anderen verweisen bei der Jobfrage auf E-Auto-Innovationen oder freie Arbeitsplätze im Nahverkehr. Wieder andere drehen sich um und sagen „There are no jobs on a dead planet.“

Was bleibt, ist die vielerorts umgehende Angst davor, morgen den Job los zu sein, und die Sorgen, dass man am Ende für die Kosten der Verkehrswende nicht nur selbst, sondern sogar in erster Linie blecht. Ein Programm, das die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt des ökologischen Umbaus stellt, das sie als Subjekt desselben begreift und die Kosten dafür jenen aufbürdet, die seit Jahrzehnten satte Profite mit einer fossilen und kapitalistisch gestalteten Mobilität einfahren, so ein Fahrplan findet sich fast nirgends.

7. Exkurs: Winfried Wolfs tugendhafte Verkehrsreform

Wir unternehmen noch einen kurzen Ausflug zu einem, der vielen deutschsprachigen Linken als Koryphäe der Mobilitätsfrage gilt: Winfried Wolf. Er war Bundestagsabgeordneter der PDS und ihr Verkehrsexperte. Er ist aktiv in Attac und Bürgerbahn statt Börsenbahn und in der Bewegung gegen Stuttgart 21 und hat diverse Bücher rund um Kapitalismus und Verkehr produziert, wobei „Verkehr. Klima. Umwelt.“ zu Recht als empfehlenswertes Standardwerk gilt, welches  einen guten Überblick über die Entwicklungen und destruktiven Absurditäten zu Land, zu Wasser und in der Luft seit der Industrialisierung gibt (24).

Aber, wir wollen an zwei Aspekten Kritik üben: Wolfs unzulänglicher Analyse und seinem noch unzulänglicheren, weil durch und durch reformistischen, Programm.

Wolfs Arbeiten bieten eine gute Einsicht darin, WIE sich Entwicklungen der Verkehrsindustrie (zusammen mit dem Ölsektor) und damit der globalen Mobilität vollziehen. Er stellt dar, wie das Autokapital die Eisenbahnen und den öffentlichen Personenverkehr zurückdrängte und zerstörte, wie die Globalisierung die Zunahme der Warenströme vervielfachte und welche Interessen der hiesigen Autoindustrie sich im E-Auto-Boom ausdrücken.

Gerade bei „Verkehr. Klima. Umwelt.“ hinterlässt Wolf jedoch entscheidende Lücken, denn WARUM sich diese Entwicklung der Mobilität so vollzog wie von ihm nachgezeichnet, bleibt an einem gewissen Punkt unbeantwortet. Während die Rolle von Staat und Kapital für den Aufstieg fossiler Verkehre und Individualmobilität detailliert beleuchtet wird, bleiben die dahinter liegenden Triebkräfte im Dunkeln. Maximal treten sie in einen schemenhaften Halbschatten. Nirgends werden die entscheidenden ökonomischen Motive völlig aufgedeckt. Konkurrenz und Profitjagd schwingen zwar irgendwo mit, Mehrwert und tendenzieller Fall der Durchschnittsprofitrate sowie die Modifizierung des Kapitalismus zum Imperialismus, und warum gerade wegen dieser Faktoren die Automobilproduktion so gut zum Kapitalismus passt und eine globalisierte Welt entstanden ist, werden dagegen nirgends ausführlich dargelegt.

Folglich erscheinen sämtliche Phänomene und Symptomatiken von Fordismus über Massenmotorisierung bis Billigkurzstreckenflüge nicht zuvorderst als Ergebnis integraler Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft, sondern irgendwo immer als Wahn und Fetisch. Sein Buch trägt nicht zufällig den Untertitel „Die Globalisierung des Tempowahns“. Und selbst wenn natürlich beim verallgemeinerten Schneller und Weiter Ideologie eine zentrale Rolle spielt: Woher kommt diese dann? Ist sie nicht vielleicht schon direkt eingeschrieben in die Genese des Kapitalismus mit seiner allgegenwärtigen Konkurrenz?

Vorzeitig gestoppt auf dem analytischen Weg zu den tieferen Ursachen der Verkehrsentwicklung, scheint es bei Wolf, als hätte es innerhalb des Kapitalismus immer auch eine alternative Entwicklung geben können, als wären Individualverkehr und Eisenbahnzerstörung zu guten Teilen Willkür und Wahnsinn des Kapitals. Dabei beschreibt Wolf selbst, welche ökonomische Macht, welche Unmengen an Kapital sich in diesem Bereich binden konnten. Warum also hätten der Kapitalismus und seine Staaten Verkehrskonzepte hervorbringen sollen, die vielleicht nachhaltiger, aber weniger profitträchtig sind?

Übrigens übertreibt Wolf die innige, fast schon als verewigt suggerierte stoffliche Bindung des Kapitals an den Sektor Auto und Öl. Seiner Natur nach ist Kapital erst mal flexibel und kann sich im Zuge seiner krisenhaften Zerstörung, des Klimawandels, technischen Entwicklungen und der imperialistischer Neuaufteilung der Welt auch andere Schwerpunkte suchen. Doch es wird immer zur Plünderung der natürlichen Ressourcen tendieren, weil sie in der Regel kostengünstiger sind als ihre Ersetzung durch nachhaltigere Alternativen, die zudem mehr Arbeitsaufwand erfordern mögen und zusätzlich unter Vermeidung von Abfall wieder in den natürlichen Kreislauf eingehen sollen. Kohle, Gas und Öl mögen bei weiterer Erschöpfung ihrer Lagerstätten eines Tages fürs Kapital zu teuer werden. Eine ökologische Alternative muss deshalb noch lange nicht an ihre Stelle treten. Das zeigt das E-Auto, für dessen Herstellung die Schweinerei bei der Lithiumgewinnung in Kauf genommen wird.

Nichtsdestoweniger gilt für heute erstmal weiterhin, dass der Verkehrswende eine starke Kapitalkonzentration auf nicht nachhaltige, fossile Transportarten entgegensteht. Wie geht Wolf programmatisch damit um?

Er setzt seine inkonsequente Analyse fort. Weit entfernt davon, tiefschürfend darzustellen, dass der Kapitalismus unabänderlichen, gebieterischen Gesetzen und Mechanismen unterliegt, landet er ein rein reformistisches Programm und präsentiert eine Aufstellung von „sieben Tugenden einer Verkehrswende“, die er in seiner Schrift zum E-Auto (25) dann zu 12 Punkten weiterentwickelt.

Grundsätzlich sind die in den sieben Tugenden angesprochenen Aspekte erst mal unterstützenswert. Sie umfassen kurz gesagt Verkehrsvermeidung, Förderung nichtmotorisierten Verkehrs, Ausbau des ÖPNV, autofreie Städte, Flächenbahnausbau, Verlagerung von Flugverkehr und Reduktion sowie Verlagerung des Gütertransports. Leider hört das Programm auch schon damit auf und geht über in das Kapitel „Entschleunigung als realistische Utopie (26)“.

Eine sich durchziehende Gegenüberstellung in Wolfs Tugenden stellt die sogenannte „SLOW – FAST“-Perspektive dar, wobei „FAST“ für ein Weiter so in der Verkehrsentwicklung steht und „SLOW“ für ein Moment der Verkehrswende.

Wolf verbindet diese Gegenüberstellung mit einer Kostenrechnung für die Gesamtgesellschaft, wobei er zu dem Schluss kommt, dass eine Verkehrswende („SLOW“) zwar großer Investitionen bedürfe, langfristig die Kosten aber deutlich unter jenen lägen, die bei Weiterführung der „FAST“-Verkehrsweise anfielen. So richtig das bezogen auf die Gesamtgesellschaft oder auch bezüglich der Staatsausgaben eventuell sein mag (erst recht in Anbetracht der Folgekosten klimatischer Veränderungen), so verkennt Wolfs Argumentationsweise doch den entscheidenden Punkt: Es geht im Kapitalismus Unternehmen und dem Staat nicht darum, was der Gesamtgesellschaft (schon gar nicht der Menschheit insgesamt) nützt oder für sie die rationale, richtige Mobilität ausmacht oder ob es am Ende sogar die Chance bietet, mehr Jobs zu schaffen, als vielleicht in der Straßenfahrzeugindustrie verlorengehen. Sondern es dreht sich alles Handeln und Trachten darum, ob es dem eigenen, national verwurzelten Kapital Vorteile bringt. Und da bezogen auf die BRD der schwerste Bolide des Kapitals eben in Gestalt der Autoindustrie die Wirtschaft durchpflügt, handelt auch die bürgerliche Politik dementsprechend so, dass hier die Profite und Rechnungen passen, völlig egal, ob wir demnächst am fossilen Individualpersonen- und Schwerlastverkehr zugrunde gehen. Finanzministerium und BetriebswirtschaftlerInnen denken aufgrund der zeitlich stets unmittelbar wirkenden Konkurrenz zuerst in Quartals- und Jahresabschlüssen, zuletzt an zukünftige Generationen.

Bei Wolf wiederum bleibt die Frage, wer für die Kosten der Verkehrswende aufkommen soll, einigermaßen offen. Die hauptsächlich Steuern zahlende ArbeiterInnenklasse und das KleinbürgerInnentum oder die, die die Erde mit Millionen Autos bewerfen? Zwar sprach er sich auf diversen Vorträgen auch schon mal für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien aus. In seinen beiden erwähnten Büchern spielt das jedenfalls so gut wie keine Rolle.

Eine weitere Lücke tut sich bei der internationalen Umsetzbarkeit auf. Wolfs Programm ist in erster Linie ein nationales. In vielen Aspekten stößt das erst mal an keine Grenze – der kostenlose, gut ausgebaute öffentliche Nahverkehr trägt seine Regionalität ja schon im Namen und mit dem Rad gehen auch nur die wenigsten auf Weltreise. Entscheidend ist jedoch, wie sich Wolf die Verkehrsreduktion im internationalen, expansiven und globalisierten Güterverkehr vorstellt. Wir haben gezeigt, warum dieser logisch aus der immanenten und fortwährenden, aber kombinierten und ungleichmäßigen Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise folgt, welche Rolle er für die imperialistischen Staaten spielt und wie zentral er ist für die Ausbeutung und Niederhaltung der halbkolonialen Welt. Abstrakt einfach die Verkehrsvermeidung zu fordern, wird sie nicht verwirklichen. Genauso wenig kommt die globale Mobilitätswende, indem man fordert, die fortgeschrittenen Industriestaaten mögen mit gutem Beispiel vorangehen, obwohl sie die größten ProfiteurInnen weltumspannender Just-in-time-Produktionsketten sind!

Schon landen wir wieder bei den grausam bestimmenden ökonomischen Faktoren der imperialistischen Welt, die Wolf im Halbdunkel belässt. Würde er sie beleuchten, fiele das Licht eigentlich schon fast von selbst auf das, was weltweite Verkehrsumstellung und Transportvermeidung bedeuten: nämlich eine weltweite antikapitalistische Umstellung der gesamten Produktion. Die aber braucht ein entsprechend international basiertes Programm.

Hier steckt dann auch der Karren im Dreck des Wünsch-dir-was-Utopismus, was Wolfs „SLOW“-Plädoyer für Entschleunigung und Rückbesinnung auf das Nahe und Lokale angeht. Eine allgemeine Rückbesinnung auf Langsamkeit in einer sich generell beschleunigenden Gesellschaft erreichen zu wollen, ohne letztere grundlegend zu ändern, bedarf entweder des entsprechenden Reichtums oder erinnert an den Versuch, die Vergänglichkeit der Zeit durch Verlangsamung der Uhren aufzuhalten. Denn, obwohl er für Entschleunigung, entspanntes Reisen und Nerven schonenden Verkehr eine Veränderung der Mobilitätsinfrastruktur voraussetzt, erscheint diese bei ihm doch losgelöst von einer Veränderung der Gesellschaftsformation selbst. Letztere aber ist, wie wir schon beschrieben haben, der eigentliche Faktor, der nicht nur das Verkehrswesen seitens staatlicher und privater Wirtschaft entscheidend bestimmt, sondern auch das (un-)bewusste Verkehrsverhalten der Menschen selbst.

Ob „FAST“ oder „SLOW“, ist gesellschaftlich bestimmt: Wie viel Zeit und Geld hat ein Mensch, um von A nach B zu kommen? Was produziert eine Nationalökonomie – und was nicht? Wie sieht die historisch gewachsene Verteilung der Bevölkerung auf Stadt und Land aus? Wie äußern sich gerade der seit dem Aufkommen des Neoliberalismus gestiegene Leistungsdruck und Stress, der Individualismus und die Konkurrenz im täglichen Weg von und zur Arbeit und im Freizeitverkehr?

Alles Fragen, die von der Symptomatik Verkehr als einer Erscheinungsform des Kapitalismus auf letzteren selbst als ursächlich verweisen – und damit eine andere Gesellschaft zu einer wesentlichen Voraussetzung einer globalen, umfassenden Mobilitätswende werden lassen. Eben das spricht er aber nicht aus, der Winfried Wolf.

So vernünftig seine tugendhaften Vorschläge zum Gutteil sind – Vernunft setzt sich nicht durch durchs bloße Aussprechen durch. Das weiß Wolf sicher. Trotzdem lässt er weit offen, wer diese Vernunft gegen eine für die Menschheit irrationale, von den Interessen des durchrationalisierten Privatkapitals beherrschte Verkehrspolitik nur durchsetzen kann. Er schreibt zwar, dass eine Bewegung von unten notwendig sei, aber wer diese ist, bleibt unausgesprochen. Wer führt sie an? Wofür steht sie ein? Wünscht sich Wolf eine Bewegung wie jene gegen Stuttgart 21, die zwar breit und mächtig auftrat, aber aufgrund ihrer kleinbürgerlichen Führung und staatsbürgerlichen Beschränktheit das profitträchtig-irrationale Beerdigen des effizientesten Kopfbahnhofs Deutschlands nicht aufzuhalten vermochte (jedenfalls bisher)? Hätten demgegenüber eine Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse und die Perspektive von politischen Streiks die Bewegung vielleicht hinreichend gestärkt, um Staat und Bahn zu stoppen?

Es bleibt offen. Einzig das Hereinziehen der Bewegung in die Schlichtung bezeichnet Wolf in „Abgrundtief + bodenlos – Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern“ (27) als wirklich großen Fehler –  nicht aber, dass der Kampf nicht in die Stellwerke, Meldestellen und Betriebswerke der Bahn, in die Hallen von Daimler und Co getragen wurde.

Und das überrascht auch nicht, weil Wolfs Einstellung zur ArbeiterInnenklasse am Ende hauptsächlich die gleiche paternalistische ist, die wir schon Gewerkschaftsbürokratien und Umweltbewegung attestierten. In seinen Programmen rechnet er vor, dass eine Verkehrswende mehr Jobs bringe, als in der Autoindustrie vernichtet würden. Er vergleicht die Größe der Automobil- mit der gesamten ArbeiterInnenklasse der BRD. Er verweist auf Tausende offene Stellen im Nahverkehr. Er sieht also die Problemstellung der Verkehrswende für die ArbeiterInnenklasse. Jedoch, er schlägt nicht vor, dass diese sich selbst bemächtigend des Problems annehmen soll und somit zum Subjekt der Verkehrswende werden kann. Angekommen an der Grenze seines Programms, zeigt uns Wolf den Weg in die Realität nicht. Die Antwort auf die Frage „WIE und durch WEN umsetzen“? verbleibt im Dunkel des Wolf‘schen Linksreformismus.

8. Der Fahrplan zur Verkehrswende

8.1. Zielsetzung

So breit der Konsens über die Notwendigkeit einer Verkehrswende, so unterschiedlich ist die Vorstellung, was darunter verstanden wird. Selbst in der Politik der CDU finden sich floskelhafte Versprechungen über die Verkehrsverlagerung auf die Schiene – wobei es dann auch bleibt. Von einer echten Verkehrswende kann hierzulande nicht gesprochen werden. In anderen Ländern sieht es nur geringfügig besser aus, international existiert die Verkehrswende sowieso nicht.

Jetzt ist das Wort schon einige Male gefallen: Was also verstehen wir unter einer wirklichen Verkehrswende?

Sie besteht vereinfacht gesagt im fortschrittlichen Auflösen der akuten Mobilitätskrise – der Verkehrsfrage –  welche wir nochmal kurz zusammenfassen:

  • Verkehr als Teil der Klimakrise: 15 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen werden in diesem Sektor emittiert (in der BRD 21 %). Mehr als die Hälfte des Erdöls wird in Flugzeugen (6 %), Schiffen (4 %) und auf den Straßen (40 %) verbrannt. Die Werte stammen aus Zeiten vor Corona und sind kritisch zu betrachten, da die Art der Stromerzeugung für den Schienenverkehr in den verwendeten Quellen vermutlich unberücksichtigt blieb.
  • Verkehr als Teil weiterer Umweltprobleme: Luftverschmutzung, Oberflächenversiegelung, Lärmemissionen, Abfälle von Fahrzeugen und Fahrwegen (z. B. Reifenabrieb ist erste Quelle des Mikroplastiks in den Meeren).
  • Ausgehend von den beiden Punkten Verkehr als Teil der Energie- und Ressourcenfrage – die Geschwindigkeit einer Verkehrs- wird zentral von jener der Energiewende abhängen.
  • Verkehr als unmittelbare Gefahr: 2018 starben weltweit 1 350 000 Menschen bei Unfällen im Straßenverkehr. Davon ist der überwiegende Teil in armen Ländern und unter Armen zu beklagen. Für Menschen von 5 – 29 Jahren ist der Verkehrstod die wahrscheinlichste Todesursache. Abgesehen davon existiert die Gefahr von Erkrankungen durch Lärm, Stress, Abgase.
  • Verkehr als Teil der Stadt-Land-Frage: Platznot durch städtischen (Individual-)Verkehr auf engstem Raum steht ländlichem Infrastrukturmangel gegenüber. Beides resultiert auf unterschiedliche Weise im Verlust von Lebensqualität (und ohnedies knapper Zeit).
  • Verkehr und Logistik als gesellschaftlich irrationale Konzeption: Warenketten um die ganze Welt, Wettbewerb als Verursacher von überflüssigem Verkehr (Leerfahrten usw.), abgestellte und Raum beanspruchende Massen an Privat-Pkws.
  • Verkehr als Teil der kapitalistischen Verwertungslogik. Krise und Kampf um die Neuaufteilung der Welt: (militärischer) Kampf um Absatzmärkte sowie Ressourcen (Lithium, Öl, Erdgas), Verkehrswegebau den Erfordernissen der imperialistischen Welt entsprechend, einsetzende Deglobalisierung werden mittelfristig die Konkurrenz im Güterverkehrssektor zuspitzen.
  • Relative Zurückdrängung öffentlichen, Bevorzugung des ineffizienten motorisierten Individualverkehrs.
  • Verkehr als Klassen- und Unterdrückungsfrage: Die Möglichkeit, von A nach B zu kommen, im Generellen sowie grenzüberschreitender Verkehr im Speziellen hängen ab von der gesellschaftlichen Stellung und Herkunft. Freiem Reisen für die Reichsten in alle Länder der Welt stehen fehlende sichere und legale Fluchtwege für Millionen Menschen gegenüber. Noch anschaulicher: Weitgehend ungehinderte Warenverkehre auf einem Weltmarkt stehen unfreien Bewegungsmöglichkeiten für Menschen gegenüber.
  • Abschließend: Klassenkampf unmittelbar im Sektor selbst – Ausbeutung der VerkehrsarbeiterInnen, Kampf um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsplatzerhalt usw.

Ausgehend davon und im Unterschied zu weiten Teilen der bürgerlichen Politik ist die Verkehrswende für uns daher keine vorrangig technologische, sondern zuallererst eine gesellschaftliche Frage. Die aktuelle Nichtexistenz einer Verkehrswende ist Ergebnis der gesellschaftlichen Konstellation. Zwar erkennt die bürgerliche Gesellschaft die Notwendigkeit tiefgreifender Änderungen, allein, sie ist unfähig, sie zu verwirklichen. Ihre Vorstellung von Nachhaltigkeit ist eine, die sich stets ihren eigenen ökonomischen Erfordernissen unterwerfen muss. Was „nachhaltig“ ist und was nicht, was eine Mobilitätswende ist und was nicht, richtet sich für das Kapital an den eigenen Klasseninteressen aus. Daher ist die Verkehrswende für uns ein integraler Teil antikapitalistischer, sozialistischer Politik, die die Frage der Nachhaltigkeit zuerst aus dem Blickwinkel des langfristigen Erhalts der Lebensgrundlagen der Menschheit betrachtet.

Eckpunkte:

  • Herstellen einer Produktions- und damit Verkehrsweise mit ausgeglichenem Mensch-Natur-Verhältnis vermittels einer ökologischen Kreislaufwirtschaft. Während dem/r ProduzentIn im Kapitalismus ab dem Verkauf der Ware naturgemäß egal ist, was mit ihr passiert – ergo auch bei oder nach ihrem Verbrauch – bedeutet eine ökologische Kreislaufwirtschaft eine möglichst große Langlebigkeit von z. B. Fahrzeugen und Nutzbarhaltung der in ihnen versammelten Ressourcen für die Menschheit, ohne die Natur in einem nicht nachhaltigen Maß auszubeuten oder sie als Senke zu vernutzen.
  • Bezogen auf das Verkehrsaufkommen muss der Leitsatz dabei lauten: „So wenig wie möglich, so viel nötig.“ Schon hierbei springt ins Auge, dass der Kapitalismus dazu nicht in der Lage ist, weil sein Kreislauf Geld – Produktion – Produkt – Ware – Geld + Gewinn – gesteigerte Produktion … zur fortwährenden Ausdehnung (des Verkehrsaufkommens) drängt und dessen Logistik insgesamt ineffizient organisiert ist.
  • Eine ökologische Kreislauf- kann weltweit daher nur als Planwirtschaft verwirklicht werden, die schon bei der Produktion von Fahrzeugen und Transportwegen den weiteren Verbleib nach Abnutzung mit einbezieht. Während für den/die KapitalistIn dieser Gedanke in der Konkurrenz tödlich ist, ist es bei einer Planwirtschaft umgekehrt: Nicht auf den Ressourcenkreislauf zu achten, wäre ihr Untergang (auf lange Sicht ist das allerdings auch für den Kapitalismus der Fall).

Andere populäre Konzepte – Postwachstum (Degrowth), Gemeinwohlökonomie etc. – sind schließlich zum Scheitern verurteilt. Sie kennen weder den Weg zu ihrer Verwirklichung, noch brechen sie offen mit dem Kapitalismus, von dem auch keine korrekte Analyse geleistet wird.

  • Eine Planwirtschaft im Interesse der gesamten Menschheit hat wiederum die Aufhebung der kapitalistischen Klassengesellschaft (in der die Profitinteressen des Kapitals über den Bedürfnissen der Gesamtheit der Menschen stehen) zur Voraussetzung. Notwendig hierfür ist der Sturz des bürgerlichen Staates und die Erreichung einer demokratischen Rätemacht der ArbeiterInnenklasse über die Gesellschaft, die z. B. das Verkehrswesen vermittels Enteignung der Transportindustrie und Entwicklung und Kontrolle der Produktion einem demokratischen Plan unterstellen kann.
  • Das aber erfordert, die ArbeiterInnenklasse nicht nur als zentrale Kraft der Mobilitätswende zu begreifen, sondern sie auch zum bewussten Subjekt selbiger zu „erziehen“, was in der Notwenigkeit mündet, revolutionäre ArbeiterInnenparteien und eine neue Internationale aufzubauen, die die Verkehrsfrage als Teil ihres Programms begreifen.

8.2 Verkehrsträgerbetrachtung

Einrahmen sollen diese Eckpunkte ein integrales Mobilitätsübergangsprogramm, ein Wegweiser, der von tagesaktuellen Forderungen aus auf die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft und damit des Verkehrs zeigt.

Dabei ist aus Sicht der Produktivkräfte und der technologischen Ausgestaltung der Verkehrswende die Voraussetzung jene, die der Kapitalismus geschaffen hat, sprich die heute bestehenden Transportwege und -mittel. Schauen wir also auf ihr Potential in einer Verkehrswende.

  • Eigene Körperkraft (v. a. Gehen und Radfahren): die ökologischste Art der Fortbewegung und die mit Abstand meist genutzte, oft sogar schnellste auf der Kurzstrecke.
  • Motorisierter Individualverkehr (v. a. Auto, Moped, Roller, Motorrad): die ineffektivste Art der Fortbewegung, gemessen an der Nutzungshäufigkeit und möglichen Personenkilometern, daneben zumeist fossil angetrieben. Das E-Auto ist demgegenüber aus gleich mehreren Gründen keine generell grüne Alternative. Seine Herstellung erfordert bisher einen Wasser verschlingenden Lithiumabbau (1 t Lithium erfordert 1 900 000 l). Seine Herstellung emittiert die doppelte Menge an Treibhausgasen ggü. Autos mit Verbrennungsmotoren und macht diesen Rückstand gegenüber ihnen bauartgleichen erst nach 8 Jahren wett. Der flächendeckende E-Auto-Rollout verzögert also die Energiewende (28). Weiterhin weisen E-Auto wie Verbrenner den gleichen ineffizienten Nachteil auf, ihr/en Treibstoff/depot als zusätzliches Gewicht mit sich führen zu müssen. Für die Anbindung kleiner Orte an den nächsten öffentlichen Anschluss bleibt dieser Rest an motorisiertem Individualverkehr  (mglw. als Sharingkonzept bzw. durch öffentliche (Ruf-)Taxis) sinnvoll.
  • Landgebundener öffentlicher Verkehr (v. a. Bus, Tram, U-Bahn, Bahn): Verkehrsmittel mit dem Potential, den Kern eines nachhaltigen Verkehrs darzustellen, sowohl im Nah- als auch Fernbereich. Busse (ggf. mit Oberleitung) machen dort Sinn, wo aus Schienenwegen zu wenig Nutzen entspringt oder diese aufgrund der Topographie unmöglich sind. Tramkonzepte können schon ab einigen tausend Menschen im Einzugsgebiet sinnvoll sein. U-Bahn-Konzepte, die ihrerseits vor allem aufgrund der „autofreundlichen Stadt“ einen Hype erfuhren, machen über ihren Erhalt hinaus keinen Sinn wegen Bauaufwands, Evakuierungsschwierigkeiten und der zusätzlichen Wege nach unten und oben.

Im Regional- und vor allem Fernbahnverkehr ist das Potential des Rad-Schiene-Systems noch lange nicht ausgeschöpft: Elektrifizierung, integrale Taktfahrpläne, internationaler komfortabler Nachtzugverkehr, Knoten- und Streckenentflechtung usw. können potentiell zu Land Flugzeug- und Fernautoverkehr ersetzen. Der Hochgeschwindigkeitsbetrieb ist zumindest zu prüfen, da über einer Geschwindigkeit um die 250 km/h Luftwiderstand und daher Energieverbrauch extrem steigen. Allerdings kann zumindest theoretisch auch ein Zug mit 350 km/h vollkommen ökologisch fahren, immer aber bleibt das eine Frage der Energieerzeugung. Das Konzept eines elektrisch getriebenen Fahrzeugs kann freilich nur wirklich umweltschonend sein, wenn die elektrische Energie auf entsprechende, z. B. erneuerbare Art gewonnen wird.

  • Luft- und Schifffahrt: im Personenverkehr zu Überquerung der Seen und Kontinente mehr oder weniger alternativlos, beide sehr energieaufwändig. Fähren machen vielerorts ökologisch möglicherweise mehr Sinn als lange Tunnel und Brücken zur Meeresunter/-überquerung. Bis heute existieren im Grunde keine massentauglichen alternativen, nicht fossile Antriebe für diese Verkehrsträger.
  • Straßengüterverkehr: im Fernverkehr extrem ineffektiv, nur auf die „letzte Meile“ und in der Kurzstrecke ohne großes Aufkommen mit alternativen Antrieben sinnvoll oder für die minimal notwendige Erschließung von abgelegenen Zielen.
  • Schienengüterverkehr: landgebundenes Transportmittel mit dem größten Potential, den Kern künftiger Transportketten zu bilden, sowohl national wie auch kontinental. Im Vergleich zum Lkw bei gleicher Last deutlich weniger Rollwiderstand zwischen Fahrzeug und Fahrweg bei leicht möglicher externer Energieversorgung (Oberleitung).
  • Luftfahrt: nur für absolut dringende und notwendige Güter vernünftig, extrem energieaufwändig.
  • Schifffahrt: sehr energieintensiv. Möglich sind statt Schweröl auch Gasantriebe (auch aus erneuerbaren Quellen, z. B. power-to-gas). Im interkontinentalen Verkehr nach wie vor notwendig, aber mit Änderung der Produktionsweise enorm reduzierbar im Aufkommen.

Soweit zu den Voraussetzungen technikseitig. Zwar haben in den vergangenen Jahrzehnten  immer wieder auch neue technische Entwicklungen Furore gemacht, seien es das autonome Fahren oder beispielsweise die Magnetschwebebahn in den Varianten deutscher Transrapid oder als Elon-Musk-Vakuumröhre Hyperloop. Diese sind aber bisher nie wirklich über das Erprobungsstadium hinausgekommen und bei denen stellt sich auch ganz grundsätzlich die Frage nicht unbedingt der Machbarkeit, aber der Sinnhaftigkeit hinsichtlich des aufwändigen Verkehrswegebaus. Freilich wäre es falsch, sich gegen die Erforschung neuer Verkehrskonzepte zu stellen. Entscheidend muss aber immer die Frage des Gesamtnutzens und -aufwands für die Menschheit als Ganzes sein, was schon in sich trägt, dass es eine demokratische Kontrolle und keine der Konzerne und MilliardärInnen braucht.

Die andere und wichtigste Voraussetzung, die der Kapitalismus für eine Verkehrswende geschaffen hat, sind die Abermillionen ArbeiterInnen einschließlich IngenieurInnen, die weltweit in dem Bereich arbeiten. Sie vereinen auf sich eine riesige Expertise darüber, wie ein schnellstmöglicher Umbau von Logistik und Transport überhaupt geschehen kann. Sie können das treibende Subjekt des Umbruchs darstellen.

8.3 Übergangsprogramm

Betten wir daher endlich die Verkehrswende in die aktuelle Lage einerseits und in eine sozialistische Perspektive andererseits ein! Gleich vorweg: Eine fortschrittliche Verkehrspolitik wird dabei, um der akuten ökologischen Notlage gerecht zu werden, nicht ohne repressive Einschränkungen gegenüber besonders umweltschädlichen Verkehrsweisen auskommen, die manch ein/e Privilegierte/r als Einschränkung ihrer/seiner individuellen (bürgerlichen) Freiheit empfinden wird. Auf der anderen Seite werden sich aber ganz andere, für die Masse der Menschheit ungleich größere Freiheiten ergeben.

  • Für ein ökologisches Notsofortprogramm! Massive Einschränkung des Flugbetriebs, Verbot von Inlandflügen und Flügen unter 3 000 km! Aufbau kontinentaler Fernzug- und Nachtzugnetze! Für den schnellstmöglichen, umfänglichen Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel und baulich getrennter Radwege in der Stadt und auf dem Land! Gleitende Anpassung der Fahrpreise hin zu einem kostenlosen Nah- und Berufsverkehr! Für eine Preisgestaltung, die Bahnreisen gegenüber dem Autoverkehr entscheidend günstiger macht! Einschränkungen und Verbote für bestimmte Fahrzeugklassen (Verbrauchsobergrenzen)! Schnellstmögliche Abkehr vom innerstädtischen Autoverkehr! Weitreichender Stopp der Automobilproduktion und sofortiger Umbau der Fabriken für andere Produkte, einem gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan entsprechend! Verbot des Motorsports – er ist das Aushängeschild individueller, fossiler rücksichtsloser Raserei!
  • Für eine Umweltbewegung, die sich zu einer konkret-revolutionären weiterentwickelt und die ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt einer Mobilitätswende stellt!
  • Für die demokratische (Fein-)Gestaltung und Kontrolle eines solchen Notfallplanes und des Verkehrswegebaus im Generellen durch Komitees der Beschäftigten im Transportbereich sowie AnwohnerInnen, PendlerInnen und Reisende! Für die Finanzierung eines solchen Notprogramms durch eine massive Besteuerung von VW, Shell, Lufthansa und alle die, die jahrzehntelang mit fossiler Mobilität riesige Gewinne getätigt haben!
  • Für die innige Verknüpfung der Energie- mit der Verkehrswende unter ArbeiterInnenkontrolle! Erforschung und Entwicklung von power-to-gas als möglicher Energiequelle alternativer Antriebe wie Speichermedium für Überschussstrom!
  • So oder so steht die ArbeiterInnenklasse nicht zuletzt in den Autokathedralen vor großen Umbrüchen. Aber statt sie als passiven Spielball von Politik und Konzernen zu betrachten, schlagen wir vor: Keine einzige Jobstreichung! Weiterbeschäftigung bei vollem Lohn! Entschädigungslose Enteignung und Verstaatlichung der Autoindustrie unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle! Ein Startpunkt kann schon in den kommenden Kämpfen liegen: Für Streiks und Besetzungen unter Kontrolle der ArbeiterInnen selbst, nicht der Gewerkschaftsbürokratie von IG Metall und Co!
  • Andererseits werden die Beschäftigten im direkten Transportbereich allzu oft gegeneinander ausgespielt: PilotInnen und Bodenpersonale, polnische und deutsche Lkw-FahrerInnen, EVGlerInnen und GDL-Mitglieder … Wir halten dem die Perspektive Neuordnung der Gewerkschaften entlang der Wertschöpfungsketten entgegen im Rahmen eines demokratisch erneuerten und fusionierten DGB (z. B. mit der GDL, die nicht zum DGB gehört)! Für eine internationale TransportarbeiterInnengewerkschaft unter direkter Kontrolle aller Logistik- und Transportbeschäftigten!
  • Für die generelle Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche bei vollem Lohn und Personalausgleich! Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle! Sämtliche Steigerungen und Entwicklungen der Produktivkraft ermöglichen eine weitere Ausweitung der Freizeit – und schaffen somit die Möglichkeit zur Verkehrsvermeidung!
  • Für die weltweite Restrukturierung von Stadt und Land, von Wohn- und Produktionsstätten und damit der Verkehrsinfrastruktur nach einem globalen Wirtschaftsplan! Aufbau von Infrastruktur, wo ihn der Imperialismus immer verhindert und sabotiert hat! Umbau, wo er eine unökologische Verkehrsweise erschaffen hat: Für die weitgehende Renaturierung von Autobahnen und anderen Asphaltwüsten, sofern sie nicht für anderes sinnvoll genutzt werden können! Für so wenig wie möglich, so viel wie nötig Transport in der Produktion! Weitgehende Trennung von Transportwegen und Wohnorten! Gleichmäßige Verteilung der Bevölkerung, Land- und Forstwirtschaft, Dienstleistungs- und Freizeitangeboten, Industrie nach einem Clustermodell (Wohnen im Mittelpunkt)! Vernetzung durch ein Verkehrskonzept, das öffentliche Schienenverkehre zum Kern hat!  Für die Vergesellschaftung der Hausarbeit – nicht nur als Teil der Frauenbefreiung, sondern auch als Möglichkeit zur Transportvermeidung unter Ausschaltung vieler sonst privat anfallender Einzelhandelseinkäufe!
  • Für offene Grenzen und einen freien internationalen Verkehr! Für das Recht, überall leben und arbeiten zu dürfen statt unachtsam-bewusstlosen Massentourismus’!

Das Programm ist bewusst grob gehalten. Die jeweilige lokale Ausgestaltung der Verkehrswende ist Aufgabe derer, die dort leben und arbeiten. Jedoch ist sie stets vom globalen Standpunkt, als Teil einer internationalen Perspektive zu betrachten.

Zu guter Letzt wollen wir darauf verweisen, dass eine gewisse Entschleunigung in einem revolutionären Programm einen konkret erreichbaren Fortschritt darstellen kann. Ein Mensch, der die alltägliche Konkurrenz, Bewusstlosigkeit und Erniedrigung des Kapitalismus nicht mehr kennt und im Gegenzug als Teil eines wirklichen, bewussten Kollektivs arbeitet und lebt und dabei auch noch über ein vielfach größeres Maß an Freizeit als heute verfügt, wird den Drang nach Flucht, Schnelligkeit, Zerstreuung und Besitz eines eigenen Fahrzeugs als Scheinfreiheit auf vier Rädern vermutlich kaum noch spüren. Seine Bewegung und sein Raum werden viel eher bewusstes Erleben statt Mühsal oder Ablenkung beinhalten. Voraussetzung dafür bleibt, heute einen konkreten Antikapitalismus zu entwickeln.

Endnoten

(1) Der Anteil des Straßenverkehrs an den globalen Treibhausgasemissionen betrug 2018 18 %. Siehe: Statista, Anteil der Verkehrsträger an den weltweiten CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe im Jahr 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/317683/umfrage/verkehrsttraeger-anteil-co2-emissionen-fossile-brennstoffe/ (abgerufen am 03.12.2021)

(2) Die hier angeführte These, dass ca. die Hälfte aller Gütertransporte aus unfertigen Produkten (sog. Vorleistungsgütern) besteht, ist abgeleitet aus der Welthandelsstatistik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Handel nicht deckungsgleich mit Transport ist, allerdings bringt der konkrete Handel von Dingen innerhalb der Wertschöpfung zumeist auch eine Ortsveränderung mit sich, weil nur in den wenigsten Fällen unterschiedliche Unternehmen einen Produktionsstandort teilen. Zum Hintergrund siehe: WTO, World Trade Statistical Review 2019, S. 42, https://www.wto.org/english/res_e/statis_e/wts2019_e/wts2019_e.pdf (abgerufen am 03.12.2021)

(3) Carsguide.com.au, How many cars are there in the world?, https://www.carsguide.com.au/car-advice/how-many-cars-are-there-in-the-world-70629 (abgerufen am 03.12.2021)

(4) Zum vertieften Verständnis des Imperialismus siehe: Suchanek, Martin: Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung, in: Revolutionärer Marxismus 53, global red, Berlin 2020, S. 11 – 128

(5) Ingenieur.de, Das sind die 10 größten Fabriken der Welt, https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/rekorde/die-10-groessten-fabriken-der-welt/ (abgerufen am 02.12.2021)

(6) Industrie.de, Volkswagen hat seinen Gewinn deutlich gesteigert, https://industrie.de/arbeitswelt/volkswagen-hat-seinen-gewinn-deutlich-gesteigert/ (abgerufen am 02.12.2021)

(7) Statista, Bruttowertschöpfung der deutschen Automobilindustrie von 2009 bis 2019,

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/290075/umfrage/bruttowertschoepfung-der-deutschen-automobilindustrie/ (abgerufen am 02.12.2021)

8) BMWi, Automobilindustrie: Branchenskizze, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Textsammlungen/Branchenfokus/Industrie/branchenfokus-automobilindustrie.html (abgerufen am 02.12.2021)

(9) Manager Magazin, 1 Kursgewinn von Tesla = 1 Gesamtwert von Daimler, https://www.manager-magazin.de/finanzen/boerse/tesla-aktie-tagesgewinn-uebersteigt-wert-von-daimler-elon-musk-anteil-auf-hoehe-von-toyota-a-59613c34-a222-4e06-8bf1-0bf3d5b66f0a (abgerufen am 03.12.2021)

(10) Für Daten der Tabelle 1 siehe: Macrotrends.net, Toyota Revenue, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/TM/toyota/revenue (abgerufen am 04.12.2021); Macrotrends.net, Toyota Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/TM/toyota/net-income (abgerufen am 04.12.2021);

Macrotrends.net, Volkswagen Revenue, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/VWAGY/volkswagen-ag/revenue (abgerufen am 04.12.2021);

Macrotrends.net, Volkswagen Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/VWAGY/volkswagen-ag/net-income (abgerufen am 04.12.2021)

Macrotrends.net, Airbus Revenue; https://www.macrotrends.net/stocks/charts/EADSY/airbus-group/revenue (abgerufen am 04.12.2021)

Flugrevue.de, Airbus macht Milliardenverlust, https://www.flugrevue.de/zivil/strafzahlungen-neubewertungen-und-a400m-abschreibungen-airbus-macht-milliardenverlust/ (abgerufen am 04.12.2021)

Macrotrends.net, Airbus Net Income, https://www.macrotrends.net/stocks/charts/EADSY/airbus-group/net-income, (abgerufen am 04.12.2021)

Wikipedia.en, CRRC, https://en.wikipedia.org/wiki/CRRC (abgerufen am 04.12.2021)

Wikipedia.en, List of largest companies of South Korea, https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_largest_companies_of_South_Korea#2020_Forbes_list (abgerufen am 04.12.2021)

(11)Statista, Distribution of oil demand in the OECD in 2019 by sector, https://www.statista.com/statistics/307194/top-oil-consuming-sectors-worldwide/ (abgerufen am 04.12.2021)

(12) Wikipedia, Liste der größten Unternehmen der Welt, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr%C3%B6%C3%9Ften_Unternehmen_der_Welt (abgerufen am 03.12.2021)

(13) Auto, Motor und Sport, Die weltweit meistverkauften Stromer – Europa führt, https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/elektroauto-verkaufszahlen-2020-weltweit-europa-top-20/ (abgerufen am 03.12.2021)

(14) Volkswagen AG, Aktionärsstruktur, https://www.volkswagenag.com/de/InvestorRelations/shares/shareholder-structure.html (abgerufen 02.12.2021)

(15) Siehe: BMVI, Statistik, https://www.bmvi.de/DE/Service/Statistik/statistik.html

(16) Statista, Anzahl der Neuzulassungen von Personenkraftwagen in ausgewählten Ländern in den Jahren 2019 und 2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181566/umfrage/neuzulassungen-von-personenkraftwagen-nach-laendern/ (abgerufen am 02.12.2021)

(17) Zu umfassenderen politökonomischen Hintergründen des E-Auto-Hype siehe: Wolf, Winfried: Elektro-Pkw als Teil der Krise der aktuelle Mobilität. Oder: Die Notwendigkeit einer umfassenden Verkehrswende, in: isw_REPORT_NR. 112 / 113, isw – Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e V., München 2018

(18) Zur Kritik des chinesischen Imperialismus siehe: Zora, Alex: China als Modell? Das isw München und der chinesische Imperialismus, in: Revolutionärer Marxismus 53, global red, Berlin 2020, S. 246 – 258

(19) Wikipedia, Schnellfahrstrecke Peking–Shanghai, https://de.wikipedia.org/wiki/Schnellfahrstrecke_Peking%E2%80%93Shanghai (abgerufen am 02.12.2021)

(20) CO2online, https://www.co2online.de/klima-schuetzen/klimawandel/co2-ausstoss-der-laender/ (abgerufen am 02.12.2021)

(21) China-Pakistan-Economic-Corridor Authority (CPEC), http://cpec.gov.pk/ (abgerufen am 02.12.2021). Zur Zusammenstellung des als „Großer amerikanischer Straßenskandal“ in die Geschichte eingegangenen Snell-Reports siehe: Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. Die Globalisierung des Tempowahns, Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien 2009, S. 126 ff.

(23) VDA, Arbeitsplatzverlust durch Transformation in Autoindustrie, https://www.vda.de/de/presse/Pressemeldungen/210506-Arbeitsplatzverlust-durch-Transformation-in-Autoindustrie (abgerufen am 02.12.2021)

(24) Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. …, a. a. O.

(25) Wolf, Winfried: Elektro-Pkw … , a. a. O.

(26) Wolf, Winfried: Verkehr. Klima. Umwelt. … ., a. a. O.

(27) Siehe: Wolf, Winfried: Abgrundtief + bodenlos – Stuttgart 21 und sein absehbares Scheitern, PapyRossa Verlag, Köln 2017

(28) Zur Kritik des E-Autos als unökologischer Alternative zum Verbrenner siehe: Wolf, Winfried: Elektro-Pkw … , a. a. O.




Der Ökosozialismus bei Michael Löwy und seine Revision des Marxismus

Michael Märzen, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Mit diesem Artikel möchten wir unsere bisherige Kritik des Ökosozialismus zur Diskussion stellen.1 Dabei ist es schwierig, von dem Ökosozialismus zu sprechen, da es sich um einen politisch breit besetzten Begriff handelt. Eine der ausgeprägteren politischen Darstellungen lieferte Michael Löwy, Mitglied der Vierten Internationale (ehemals Vereinigtes Sekretariat), in seinem Buch „Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe“2, weshalb wir uns vor allem darauf beziehen. Das bedeutet aber auch, dass dieser Artikel nicht schon unser letztes Wort zu diesem Thema sein kann. Die zunehmende Bedeutung der Ökologie, welche durch die Umweltbewegung eine beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat, wird eine marxistische Auseinandersetzung mit den Ideen des Ökosozialismus auch in Zukunft erfordern.

Hintergrund unserer Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus war die Tatsache, dass im Dezember 2018 das Netzwerk „Aufbruch – für eine ökosozialistische Alternative“ in Österreich gegründet worden war. Die beteiligten Organisationen Aufbruch Salzburg, Aufbruch Innsbruck, Revolutionär-Sozialistische Organisation (RSO), Sozialistische Alternative (SOAL) und Solidarische Linke Kärnten (SLK) bekannten sich damit zum gemeinsamen Aufbau einer antikapitalistischen und ökosozialistischen Organisation, ohne ihre eigenen Strukturen aufzulösen. Dieser Gründung war ein Austausch über eine antikapitalistische und ökosozialistische Kooperation vorangegangen, an dem wir uns zwar nicht personell beteiligen konnten, aber zu dem wir in einem Diskussionsbeitrag3 unsere Offenheit gegenüber einer antikapitalistischen Kooperation klarstellten. Zur Frage des Ökosozialismus konnten wir damals noch keine fundierte Position beziehen. Deshalb schrieben wir: „Ist der Begriff des ‚Ökosozialismus‘ wirklich noch so offen oder stehen hinter dem Begriff teilweise nicht schon seit längerer Zeit linke Strömungen, die sich damit bewusst vom ‚orthodoxen‘ Marxismus abzugrenzen versuchten? Wir halten eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem Ökosozialismus im Rahmen einer Kooperation jedenfalls für vernünftiger, als diesen als Ausgangspunkt einer solchen zu setzen.“ Unsere Bedenken wurden jedenfalls bei der Gründung dieser Kooperation nicht berücksichtigt. Auch haben wir von keiner Seite eine Antwort auf unseren Beitrag erhalten.

Zum inhaltlichen Einstieg möchten wir klarstellen, dass sich unsere Kritik des Ökosozialismus nicht auf die hervorgehobene Bedeutung der Ökologie bezieht. Der Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten in einem immer drastischeren Ausmaß und gefährdet damit nicht nur die Möglichkeit einer zukünftigen egalitären Gesellschaft, sondern die Existenz menschlicher Zivilisation überhaupt. Dementsprechend kann man der Umweltfrage gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Unsere Kritik bezieht sich vielmehr auf die Revisionen, die zum Teil und unter anderen bei Löwy an den revolutionären Auffassungen des Marxismus vorgenommen werden und zu gefährlichen politischen Schlussfolgerungen verleiten. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich zu erwähnen, dass einige dieser Revisionen – zumindest für den deutschsprachigen Raum – bis in die historischen Ursprünge des Ökosozialismus in entsprechenden Debatten innerhalb der deutschen Grünen in den 1980er Jahren zurück reichen. Eine lesenswerte Kritik an den damaligen ökosozialistischen Führungsfiguren Rainer Trampert und Thomas Ebermann findet sich schon bei Dieter Elken4. Nun aber zu Michael Löwy.

Warum Ökosozialismus?

Löwy geht davon aus, dass die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf dem Planeten unvereinbar ist mit der „expansiven und zerstörerischen Logik des kapitalistischen Systems“ (S. 7). An dessen Stelle brauche es über den Weg einer Revolution eine nachhaltige Gesellschaft auf Grundlage einer demokratisch geplanten Wirtschaft. Soweit können wir ihm folgen. Aber schon beim eigentlichen Ausgangspunkt für seine Theorie des Ökosozialismus wird es schwierig: Löwy unterstellt der ArbeiterInnenbewegung sozialdemokratischer und stalinistischer Tradition eine „Fortschrittsideologie“ und eine „Ideologie des Produktivismus“. Er definiert nicht klar, was er darunter versteht. Aber sofern er damit die Unterordnung der Ökologie unter die quantitative Ausweitung der Produktion meint, können wir ihm zustimmen – allerdings sind wir nicht wie er bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten und sogleich die Idee des Fortschritts zu verwerfen, sondern würden diese vielmehr unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verteidigen. Wie dem auch sei, aufgrund des „Produktivismus“ müsse es eine „Konvergenz“ (S. 37) der ArbeiterInnen- und der Umweltbewegung zum Ökosozialismus geben. Dabei handle es sich um eine „ökologische Theorie- und Aktionsströmung, die sich die grundlegenden Errungenschaften des Marxismus zu eigen macht und sich dessen Schlacken entledigt“ (S. 28). Man muss ihm zugutehalten, dass er entgegen anderen ÖkosozialistInnen Marx und Engels gegen den „Produktivismus“-Vorwurf letztlich verteidigt. Warum es daher abseits der noch zu diskutierenden Schlacken nicht ausreiche, den Marxismus gegen sozialdemokratische und stalinistische Entstellungen zu verteidigen und die Umweltbewegung für den Marxismus zu gewinnen, bleibt an dieser Stelle noch etwas unverständlich.

Zur Herrschaft über die Natur

Einen Teil der Antwort findet man in Löwys Auseinandersetzung mit Marx‘ und Engels‘ Bemerkungen zur Herrschaft über die Natur, die sich immer wieder in ihren Werken finden und die immer wieder kritisiert wurden. So verweist er beispielhaft auf Engels‘ Aussage, dass die Menschen im Sozialismus zum ersten Male bewusste, wirkliche Herren der Natur werden. Anschließend verweist er wohlwollend darauf, dass Marx den Mensch als Teil der Natur gesehen habe (was hier nicht als Widerspruch zu Engels gemeint ist). Er zitiert eine bedeutende Textstelle bei Engels selbst, die da lautet: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. ( … ) Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außerhalb der Natur steht (…) und dass unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“5 Trotz dieser Klarstellung und Verteidigung von Marx und Engels gesteht er den falschen KritikerInnen zu, dass die marxistischen Schriften Anlässe für unterschiedliche Interpretationen des Verhältnisses von Mensch und Natur böten. Und schlussendlich behauptet er, dass Marx am Ende den Sozialismus nicht mehr als „Herrschaft“ oder „Kontrolle“ des Menschen über die Natur gesehen habe, sondern eher als „Kontrolle des Stoffwechsels mit der Natur“ und offenbart zumindest seine Distanzierung zur marxistischen Terminologie – wozu man einwendend fragen könnte, wie der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur denn (nachhaltig) kontrollieren könne ohne Kontrolle und Beherrschung der Natur im Engels‘schen Sinne, sprich dem Erkennen und Anwenden ihrer Gesetze.

Zur Frage der Produktivkräfte

Kommen wir aber zum eigentlichen Kritikpunkt von Löwy am Marxismus. Diesen verortet er in einer bestimmten Formulierung des historischen Materialismus von Marx selbst, im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in einen Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ( … ). Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“6 Dazu meint Löwy: „Diese Konzeption scheint den Produktivapparat als ,neutral’ zu betrachten: und wenn er einmal von den durch den Kapitalismus auferlegten Produktionsverhältnissen befreit sei, könne er sich unbegrenzt entwickeln. Der Irrtum dieser theoretischen Konzeption muss heute nicht einmal mehr bewiesen werden. ( … ) [Der Produktivapparat ist] nicht neutral, er dient der Akkumulation des Kapitals und der unbegrenzten Expansion des Marktes. Er steht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Umweltschutzes ( … ). Man muss ihn daher ‚revolutionieren‘ ( … ) Das kann für bestimmte Produktionsbranchen bedeuten, sie zu ‚brechen‘ ( … ).“ (S. 33 f.) Und gegen Ende des Buches erklärt er, dass „eine sozialistisch-ökologische Transformation zugleich sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Produktivkräfte, und damit verbunden, die Konsummodelle, die Transportsysteme sowie letztlich die gesamte kapitalistische Zivilisation umwandeln muss.“ (S. 139)

Die ökologische Frage fordere laut Löwy daher von den MarxistInnen eine Revision der traditionellen Konzeption der Produktivkräfte und er zitiert wohlwollend den italienischen „Ökomarxisten“ Tiziano Bagarolo, der meint: „Die Formel, nach der sich eine Transformation potenzieller Produktivkräfte in reale Destruktivkräfte vor allem in Bezug auf die Umwelt vollzieht, erscheint uns [für den Entwurf eines ‚differenzierten‘ Fortschrittkonzepts] angemessener und bedeutsamer als das altbekannte Schema des Widerspruchs zwischen (dynamischen) Produktivkräften und (den sie in Ketten haltenden) Produktionsweisen.“ (S. 25 f.) Zum besseren Verständnis sei hier Marx selbst zu den Destruktivkräften zitiert: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (… ).“7

Dass Löwy Marx‘ und Engels‘ Konzeption des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Irrtum (ohne Beweis!) einfach beiseiteschiebt, ist höchst problematisch. Immerhin bildet sie den Kern der materialistischen Geschichtsauffassung im Marxismus. Der Verweis, dass eben alles revolutioniert werden müsse, bietet dafür keinen Ersatz, denn dabei handelt es sich nur um eine Schlussfolgerung und um keine materialistische Herleitung gesellschaftlicher Veränderung. Obendrein basiert diese Schlussfolgerung auf der falschen Unterstellung, dass die Veränderung der Produktionsweise nicht auch eine qualitative Veränderung der Produktivkräfte nach sich ziehe und impliziert eine „produktivistische“ Deutung. Was die Entwicklung von Produktivkräften tatsächlich bedeutet, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, was Marx eigentlich unter Produktivkräften verstanden hat – was Löwy in seinem Buch unterlässt. Im ersten Band von „Das Kapital“ schreibt Marx: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel und durch Naturverhältnisse.“8 Die Produktivkräfte umfassen also nicht nur Wissenschaft, Technik oder Maschinerie, sondern (wie an anderer Stelle formuliert) die Naturbedingungen, unter denen produziert wird, und die menschliche Arbeitskraft selbst, die es natürlich beide zu bewahren gilt. Somit wird klar, dass Umweltzerstörung bei Marx Zerstörung von Produktivkraft ist!

Somit teilt Löwy ein gutes Stück die undialektische Interpretation eines Großteils der Sozialdemokratie und des Stalinismus vom Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie. Demzufolge laufe in der Geschichte ein unilinearer Entwicklungsprozess der Produktivkräfte vom Niederen zum Höheren ab, der auf einer bestimmten Stufe an die Schranke der Produktionsverhältnisse stoße. Somit wird der dialektische Charakter von Produktionsweisen, welche die Vermittlung des Gegensatzpaares von Produktivkräften (Inhalt) und Produktionsverhältnissen (Form) verkörpern, reduziert auf die Frage, ob die Produktivkräfte im quantitativen Sinn weiter wachsen können oder nicht, um den Übergang zu einer neuen Produktionsweise zu begründen. Es wird also nicht thematisiert, inwieweit der Gegensatz objektiv revolutionäre Möglichkeiten schafft, ja dieser gerade in der letzten aller Klassengesellschaften, dem Kapitalismus, mit der Entwicklung der Produktivität der Arbeit immer heftiger eklatieren muss. Vielmehr wird die Überlebtheit der jeweils aktuellen Produktionsweise, die notwendig die Überlebtheit bestimmter Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse beinhalten muss, verflacht so definiert, als ob die Produktivkräfte aufgehört haben müssen zu wachsen. Die Dynamik des Kerns der materialistischen Geschichtsauffassung wird somit eingeebnet. Leugnen die ÖkologInnen den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen und machen für die ökologische Katastrophe einseitig erstere verantwortlich, so entstellen AutorInnen wie Löwy und zumindest ein Teil der Öko-SozialistInnen den Marxismus ebenso wie die sozialdemokratischen und stalinistischen ApologetInnen. Für diese stellt sich die Frage der revolutionären Aufhebung einer Produktionsweise durch eine andere als eine objektivistische in Gestalt des Waltens und Wachsens der Produktivkräfte, nicht des subjektiven Faktors der revolutionären ausgebeuteten Klasse. Bagarolo fasst zudem den Widerspruch falsch als einen zwischen Produktivkräften und Produktionsweisen, nicht -verhältnissen. Die Sozialdemokratie, Stalinismus und Ökosozialismus letztlich gemeinsame einseitige Interpretation, die sie Marx und Engels unterschieben, ist streng genommen nur für den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus im engeren Sinne richtig. Weder auf den Übergang von klassenlosen zu Klassengesellschaften noch auf den zwischen vorkapitalistischen, auf dem Grundeigentum beruhenden Produktionsweisen ist diese enge Auslegung so ohne Weiteres anwendbar. Die Übergänge zwischen mykenischem Griechenland und den Stadtstaaten der klassischen Antike bzw. zwischen antikem Rom und europäischem Mittelalter waren oft mit langen Phasen des Rückgangs von Produktivkräften und Kultur verknüpft. Im weiteren und dialektischen Sinn bleibt natürlich die Aussage des Vorwortes hier richtig, weil gerade der Niedergang der Produktivkräfte zu anderen Produktionsverhältnissen führen muss, will sich die Gesellschaft weiterentwickeln. Gemäß den revisionistischen Entstellungen der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung müssten dagegen von der asiatischen Produktionsweise über die Antike bis zum Feudalismus sich die Produktivkräfte von Stufe zu Stufe stets gesteigert haben. Der Übergang zwischen diesen Produktionsweisen, so er denn überhaupt stattgefunden hat, muss nach diesem Konzept dann die Bremsen jeweils gelöst haben.

Doch der Geschichtsverlauf gleicht nicht einem mit zunehmender Geschwindigkeit stets vorwärts rollenden Fahrzeug, das ab und an abgebremst wird, um danach seine Fahrt umso zügiger fortzusetzen. Manchmal geht ihm der Sprit aus, wechselt es die Richtung, baut einen Unfall und die Besatzung wechselt es gegen ein anderes aus.

Zur ökosozialistischen Ethik

Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass es sich bei der Frage der Produktivkräfte nur um ein belangloses Missverständnis handelt. Tatsächlich folgen aus der falschen Theorie aber irreführende Folgerungen für die Praxis. Löwy problematisiert die Hemmung der Produktivkräfte durch den Kapitalismus nämlich kaum, sondern vorwiegend deren falsche Entwicklung und Handhabung. Dementsprechend spielt der offensichtlichste Ausdruck von Produktivkrafthemmung und -zerstörung, die Wirtschaftskrise, keine zentrale Rolle in seiner politischen Konzeption. Wirtschaftskrisen werden bei ihm vor allem aufgrund der darauf folgenden hemmungsloseren Ausbeutung der Natur als Verschärfung der Umweltkrise thematisiert. Natürlich gibt es auch Menschen, die darunter leiden und sich gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur wehren, aber er skizziert keine revolutionäre Situation, in der die herrschende KapitalistInnenklasse in eine politische Krise gerät und die ausgebeutete und unterdrückte ArbeiterInnenklasse die bestehenden Verhältnisse nicht mehr ertragen möchte. Stattdessen widmet er ein eigenes Kapitel einer „ökosozialistischen Ethik“ (S. 91 – 99), die der nicht-ethischen Logik des Kapitals radikal entgegengesetzt sei. Dabei wird noch einmal der genannte Zusammenhang zur Revision der Marx‘schen Auffassung der Produktivkräfte deutlich: „Der Sozialismus und die Ökologie beinhalten beide qualitative soziale Werte, die nicht auf den Markt reduzierbar sind. ( … ) Diese Konvergenz der Empfindsamkeiten wird nur möglich, wenn die MarxistInnen ihr traditionelles Konzept der ‚Produktivkräfte‘ einer kritischen Analyse unterziehen – und wenn die ÖkologInnen mit der Illusion einer im Grunde natürlichen ‚Marktwirtschaft‘ brechen.“ (S. 94)

Die ökosozialistische Ethik müsse sozial, egalitär und demokratisch sein und der Ökosozialismus würde letztendlich als Ethik der Verantwortung zum humanistischen Imperativ: „Die ökologische Krise, die das natürliche Gleichgewicht der Umwelt bedroht, gefährdet nicht nur Fauna und Flora, sondern auch und vor allem die Gesundheit, die Lebensbedingungen und das Überleben unserer Spezies. Der Kampf für die Rettung der Umwelt, der notwendigerweise zugleich ein Kampf für einen Zivilisationswandel ist, wird zum humanistischen Imperativ, der nicht nur diese oder jene Klasse betrifft, sondern die Gesamtheit der Individuen und jenseits davon auch die kommenden Generationen.“ (S. 95) „Ein Paradigmenwechsel wird benötigt, ein neues Zivilisationsmodell, kurz: eine revolutionäre Umwälzung.“ (S. 97) Hier verlässt Löwy nicht nur den Boden des wissenschaftlichen Sozialismus, der sich von seinen utopischen Vorläufern dadurch abgrenzte, dass er ihn aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Entwicklung begründete und nicht aus moralischen oder sonstigen Prinzipien, nach denen sich die Welt zu richten habe. Mit dem Verweise auf die Betroffenheit „nicht nur dieser oder jener Klasse“ bereitet er implizit einer „ökologischen Volksfront“ den Boden, sprich einer klassenübergreifenden Strategie zur Abwendung der ökologischen Katastrophe.

Zur Revolution

Im Marxismus ist es die ArbeiterInnenklasse, die aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess den Kapitalismus nicht nur beseitigen kann, sondern daran auch ein objektives Interesse hat. Wer ist das „revolutionäre Subjekt“ bei Michael Löwy? Eine wirklich eindeutige Antwort bleibt er schuldig. Natürlich bezieht sich Löwy implizit beim Ökosozialismus als Konvergenz von ArbeiterInnen- und Umweltbewegung auf die ArbeiterInnenklasse. Auch spricht er davon, die Produktionsmittel in die Hände der ArbeiterInnen zu geben. Aber die Rolle der ArbeiterInnenklasse wird nicht weiter ausgeführt und wo es um politische AkteurInnen geht, hebt er vor allem indigene Gemeinschaften hervor und als besonders entscheidend die globalisierungskritische Bewegung. Aufschlussreicher ist die „Internationale ökosozialistische Erklärung von Belém/Brasilien (2008)“, die Löwy am Ende des Buches anfügt. Dort heißt es: „Die am stärksten unterdrückten Schichten der menschlichen Gesellschaft, die Armen und die indigenen Bevölkerungsgruppen, müssen ein prägender Teil dieser ökosozialistischen Revolution werden ( … ) Gleichzeitig ist die Geschlechtergerechtigkeit eine grundlegende Komponente des Ökosozialismus ( … ) In allen Gesellschaften gibt es darüber hinaus noch weitere mögliche TrägerInnen für eine revolutionäre ökosozialistische Veränderung. ( … ) Die Arbeiterkämpfe, die Kämpfe der Bauern und Bäuerinnen, die Kämpfe der Landlosen und der Arbeitslosen für soziale Gerechtigkeit sind untrennbar mit den Kämpfen für Umweltgerechtigkeit verbunden.“ (S. 169 f.) Es ist unbestreitbar, dass all die genannten sozialen Gruppen wichtig sind im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber zumindest in der Erklärung von Belém, die Löwy unterzeichnet hat, sind die Kämpfe der ArbeiterInnen nur ein Teil vieler Kämpfe, ohne herausragende Rolle. Wir wollen hier keinen rein ökonomischen ArbeiterInnenkampf beschwören – es geht um die Frage, wer die notwendige revolutionäre Umgestaltung tatsächlich vollziehen kann und auf wen sich eine sozialistische Organisation daher orientieren und stützen muss.

Diese Frage wird in Löwys Buch allerdings nicht gestellt. Überhaupt findet sich bei ihm keine wirkliche Begründung einer politischen Organisation, geschweige denn Partei. In der marxistischen Tradition müssen sich die klassenbewussten Teile des Proletariats zur ArbeiterInnenpartei formieren, zum politischen Subjekt werden, um die Mehrheit der Lohnabhängigen (und unter ihrer Führung auch Teile des KleinbürgerInnentums) für den Sozialismus zu gewinnen. Auch bleibt in diesem Zusammenhang bei ihm die Frage offen, wie ein revolutionäres Klassenbewusstsein in der ArbeiterInnenklasse befördert werden soll. Die ÖkosozialistInnen haben sich in einem internationalen Netzwerk organisiert, der Aufbau einer Partei gehört nicht zu dessen Zielen.

Zu guter Letzt wollen wir noch auf eine zentrale Frage eingehen, nämlich die programmatische Methode. Löwy kommt wie wir aus einer politischen Tradition, die sich die Methode von Trotzkis Übergangsprogramm auf die Fahnen schreibt. Er stellt richtig fest, dass die Notwendigkeit der Revolution nicht bedeutet, auf den Kampf für Reformen, also für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus zu verzichten. Allerdings geht er dabei so weit, dass er die Übergangsdynamik vom Kapitalismus zum Sozialismus im Kampf für (ökosoziale) Reformen verortet: „Der Kampf für ökosoziale Reformen zeichnet sich dadurch aus, dass er zugleich Träger einer Veränderungsdynamik ist, des Übergangs von Minimalforderungen zu einem Maximalprogramm, unter der Bedingung, dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft ( …).“ (S. 37) Mit Minimalforderungen werden im Marxismus Reformen bezeichnet, die den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stellen, während Maximalforderungen die nach einer zukünftigen Gesellschaft bezeichnen. Übergangsforderungen wie zum Beispiel diese, dass die ArbeiterInnen in ihren Betrieben Komitees schaffen, mit denen sie eine Kontrolle über die kapitalistische Produktion ausüben, sollen am Kampf um Verbesserungen im Hier und Jetzt anknüpfen (in diesem Beispiel könnte es um die Umweltverträglichkeit des Unternehmens gehen), aber die ArbeiterInnenklasse zur Eroberung der politischen Macht befähigen. Löwy formuliert in Wahrheit keine solchen Übergangsforderungen. Stattdessen scheint es, als ob er darunter nur solche versteht, die in der kapitalistischen Profitlogik nicht umsetzbar sind („dass man sich nicht dem Druck der herrschenden Interessen unterwirft“), etwa die öffentliche Umgestaltung des Verkehrssystems, und somit über den Kapitalismus hinausweisen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Übergangsforderungen, weil sie in ihrer Konsequenz nicht zur Selbstermächtigung der ArbeiterInnen gegen das Kapital führen und nicht mit der Intervention einer revolutionären Vorhutpartei zum Zweck der Lösung der Machtfrage verbunden werden. Aber lassen wir Trotzki im Namen der IV. Internationale selbst zu Wort kommen:

„Man muß der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muß in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewußtsein breiter Schichten der Arbeiterklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat. ( … ) Die Kommunistische Internationale hat den Weg der Sozialdemokratie in der Epoche des faulenden Kapitalismus beschritten, wo nicht mehr die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen; ( … ) wo jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede fortschrittliche Forderung des Kleinbürgertums unausweichlich über die Grenzen des kapitalistischen Eigentums und des bürgerlichen Staates hinausführt.

Die strategische Aufgabe der IV. Internationale besteht nicht darin den Kapitalismus zu reformieren, sondern darin, ihn zu stürzen. Ihr politisches Ziel ist die Eroberung der Macht durch das Proletariat, um die Enteignung der Bourgeoisie durchzuführen. ( … )

Die IV. Internationale verwirft nicht die Forderungen des alten ‚Minimal‘-Programms, soweit sie noch einige Lebenskraft bewahrt haben. ( … ) Aber sie führt diese Tagesarbeit aus im Rahmen einer richtigen, aktuellen, d. h. revolutionären Perspektive. In dem Maße, wie die alten partiellen ‚Minimal‘-Forderungen der Massen auf die zerstörerischen und erniedrigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus stoßen – und das geschieht auf Schritt und Tritt –, stellt die IV. Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, dessen Sinn es ist, sich immer offener und entschlossener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst zu richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird ständig überholt vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“9

Übergangsforderungen bestehen eben nicht nur im Kampf für (ökosoziale) radikale Reformen, sondern zielen auf einen Bruch mit der kapitalistischen Herrschaft, im Besonderen durch den Aufbau proletarischer Gegenmacht. Im Gegensatz dazu weist der Ökosozialismus von Michael Löwy programmatisch nicht über einen Kampf um Minimalforderungen, gepaart mit einem ökologischen Maximalismus, hinaus.

Endnoten

1 Dieser Beitrag ist eine Ausweitung und Überarbeitung des im Jahr 2019 erschienenen Artikels „Ökosozialismus: Kritik der Konzeption von Michael Löwy“ (siehe http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=3957). Insbesondere der Abschnitt zu den Produktivkräften wurde zugespitzt und jene zur ökosozialistischen Ethik sowie zur Übergangsmethode mit Zitaten versehen.

2 Löwy, Michael: Ökosozialismus – Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe, LAIKA Verlag, Hamburg 2016

3 http://www.oekosoz.org/wp-content/uploads/2018/08/AST_-Diskussionbeitrag-zur-antikapitalistischen-Kooperation.pdf

4 http://marxismus-online.eu/display/dyn/paf1276a7-5407-4e3f-9299-eaedaed2660d/content.html

5 Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Dialektik der Natur, MEW 20; Berlin/O. 1962, S. 452 f.; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 67

6 Marx, Karl: Vorwort zu ders.: Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 9; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 69

7 Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, MEW 3, Berlin/O. 1969, S. 69; zitiert nach Löwy, a. a. O., S. 70

8 Marx, Karl: Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW 23, Berlin/O. 1971, S. 54

9 Trotzki, Leo: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (1938). In: Ders.: Das Übergangsprogramm der 4. Internationale. 1938 – 1940 – Schriften zum Programm, Verlag Ergebnisse und Perspektiven, Essen o. J., S. 7 f.




Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

„Imperialismus“ war im 19. Jahrhundert ursprünglich einer jener historisierenden Begriffe, mit denen das Bürgertum seinem Agieren den Glanz antiker Größe zu verleihen versuchte. So das napoleonische „Empire français“ mit Bezug auf das römische Cäsarentum im ersten und zweiten Kaiserreich in Frankreich. So aber auch mit Rückbezug auf das römische Imperium die ArchitektInnen des „British Empire“ wie Premierminister Disraeli in seiner berühmten Crystal-Palace-Rede 1872. Als der britische Kapitalismus seine industrielle Überlegenheit mit den „Kanonen“ des Freihandels nicht mehr konkurrenzlos ausspielen konnte, wurde die Absicherung seiner Weltmarktdominanz über ein straff organisiertes Kolonialreich und mit echten Kanonen zum Gebot der Stunde – und die „zivilisatorische Mission“ des Empire zur ideologischen Rechtfertigung dieser imperialistischen Politik. Schon lange vor der Veröffentlichung der Schrift „Imperialism – A Study“ (1902) des englischen Liberalen John A. Hobson erkannte auch die politische Ökonomie im Königreich, dass das Überleben des eigenen Kapitalismus an die Weltmarktdominanz und die Beherrschung immer größerer Territorien auf dem Globus gebunden war.

Diese Offenheit und Positivität im Umgang mit ihrer Rollenverteilung im Weltkapitalismus ist den heutigen AkteurInnen der Verbreitung von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ in ihrem „weltweiten Kampf gegen den Terror“ zur Aufrechterhaltung einer „offenen Weltwirtschaft“ (in wessen Interesse wohl?) längst abhandengekommen. Wenn überhaupt, war „Imperialismus“ lange nur noch ein Kampfbegriff der Linken, der durch allzu hölzern-plakative Verwendung im Stalinismus weltweit an Glanz verloren hat. Auch wenn angesichts der heutigen Weltsituation der Begriff wieder seine Auferstehung feiert, so wird er in der verwendeten Terminologie  mit Umschreibungen wie „globaler Norden“, „Metropolenkapitalismus“, „postkoloniale Verhältnisse“ und ähnlichem selbst in der Linken gern umschifft.

Dabei wird vergessen, dass die Entwicklung der marxistischen Imperialismustheorie sicher die wichtigste Weiterentwicklung auf dem Gebiet politischer und ökonomischer Theorie nach dem Abtreten der „Gründerväter“ des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, darstellte. Die noch junge ArbeiterInnenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts war sich des Umbruchs, der im Kapitalismus jener Zeit vor sich ging, sehr wohl bewusst. Die Zeit zwischen 1873 und 1895 sah mehrere schwere weltwirtschaftliche Depressionen, gefolgt von schwachen Erholungsphasen – eine Situation, auf die das Kapital einerseits mit einer immer stärkeren Konzentration und Finanzkapitalbildung reagierte, andererseits mit einer immer aggressiveren Expansionsbewegung auf den Weltmärkten, begleitet vom Aufstieg des Militarismus. Als einer der ersten MarxistInnen bemerkte der in der deutschen Sozialdemokratie wirkende russische Revolutionär Alexander Helphand (genannt Parvus), bald gefolgt von Kautsky, dass mit dem Aufschwung nach 1895 eine neue Qualität von kapitalistischer Expansion auf Weltebene vor sich ging, getragen z. B. von der monopolistischen Expansion der Kohle-, Stahl-, Chemie- und Rüstungskonzerne. „Imperialismus“ wurde vom politischen Kampfbegriff der Bourgeoisie zu einer marxistischen Charakterisierung einer neuen Epoche und Qualität von Kapitalismus. In der Zweiten Internationale entbrannte eine Diskussion über die Fragen von Überproduktion, Kapitalexport, Kolonialismus und darüber, ob Imperialismus und Militarismus notwendiger Ausdruck des gegenwärtigen Kapitalismus seien oder sich die wachsende Monopolisierung und wachsende Rolle des Staates für einen friedlichen Übergang zu einer sozialistischen Staatswirtschaft nutzen ließen. Kautsky schwankte stets zwischen diesen beiden Möglichkeiten – und schon in den 1890er Jahren sagte er voraus, dass die widersprüchliche Expansionsbewegung entweder zu einem schrecklichen Vernichtungskrieg der Großmächte führen würde oder zu einer ausgleichenden Föderation der Industriestaaten (später von ihm als „Ultraimperialismus“ bezeichnet).

Es waren Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem zwei Werke, die die Wegmarken zur Theoriebildung setzten: Einerseits „Das Finanzkapital“ (1910) des österreichischen Marxisten Rudolf Hilferding – das von so unterschiedlichen Autoren wie Kautsky und Lenin als das bedeutendste Werk der politischen Ökonomie seit dem „Kapital“ von Marx bezeichnet wurde. Tatsächlich wurden in diesem Buch analytisch viele später bekannt gewordene Elemente der Imperialismustheorie entwickelt wie die Verschmelzung von Industrie- und Bankenkapital, die Rolle des Kapitalexports, des Währungsregimes, des Anwachsens der Staatsintervention, der Verbindung von Staat und Konzernen etc. Neben vielen theoretischen Schwächen von Hilferdings Kapitalanalyse waren aber seine politischen Schlussfolgerungen folgenreich. Seine Redeweise vom „organisierten Kapitalismus“, von der „Ablösung des Konkurrenzkapitalismus“ etc. erzeugten den Eindruck einer Aufhebung bestimmter Grundtendenzen des Kapitalismus, seiner Steuerbarkeit, der Möglichkeit des Übergehens vom „Staatskapitalismus“ in eine sozialistische Staatswirtschaft.

Das zweite einflussreiche Werk war Rosa Luxemburgs Schrift zur „Akkumulation des Kapitals“ (1913), das den Untertitel „Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ trägt. Das Werk muss an dieser Stelle vor allem aus zweierlei Gründen genannt werden. Erstens erklärt Luxemburg hier sehr klar, dass der Kapitalismus nicht einfach wie eine „Nationalökonomie“ analysiert werden kann, sondern Kapitalakkumulation immer schon im Rahmen sowohl von Nationalstaaten als auch eines Weltmarktes vor sich geht, in dem unterschiedlich entwickelte Kapitale konkurrieren – und damit Kapitalakkumulation auf dem Weltmarkt immer schon eine Tendenz zum Imperialismus beinhaltet. Zweitens aber, dass die steigende Rolle des Weltmarktes und der imperialistischen Widersprüche damit auch eine internationale Bewegung der Unterdrückten zur Zerschlagung des Imperialismus hervorbringe. Insbesondere damit war Luxemburgs Werk  (trotz der Schwächen in der Krisentheorie)  im Unterschied zu Hilferdings für die revolutionäre Perspektive der sich entwickelnden Imperialismustheorie weitaus bahnbrechender. Auch wenn Luxemburgs Buch seinerzeit bedeutsam war, wurden beide Aspekte später wesentlich systematischer und politisch folgenreicher von Leo Trotzki in seiner Theorie von der „ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung“ und der Strategie der „permanenten Revolution“ formuliert.

Der Anspruch von Rosa Luxemburg, „daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet werden … muß“ (Gesammelte Werke Bd. 5, S. 431) wurde 1914/15  speziell vom russischen Revolutionär Nikolai Bucharin in seinem Werk „Imperialismus und Weltwirtschaft“  aufgegriffen, das sowohl Elemente von Hilferding wie von Luxemburg kombiniert. Insbesondere entwickelt er den Widerspruch zwischen einem auf Weltebene von Wertgesetz und anarchischer Konkurrenz getriebenen Kapitalismus auf der einen Seite zu einem auf Ebene der imperialistischen Nationalstaaten regulierten Monopolkapitalismus auf der anderen Seite, der seine Überakkumulationskrisen durch Kapitalexporte zu beherrschen versucht. Dies führe in den imperialistischen Staaten zur vermehrten Integration von Teilen der ArbeiterInnenklasse (ArbeiterInnenaristokratie) und zu Aufrüstung, Nationalismus und Militarismus – und zum mörderischen Kampf um die Aufteilung der Welt unter die kapitalistischen Großmächte.

Wie man an diesem kurzen historischen Überblick ersehen kann, war der berühmte „gemeinverständliche Abriss“, wie Lenin sein 1916 verfasstes Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ selbst bezeichnete, einerseits eine Zusammenfassung von sehr bekannten Elementen der marxistischen Diskussion zur Imperialismustheorie. Neben einer sehr ausführlichen statistischen Untermauerung der von Hobson, Hilferding und Bucharin übernommenen Charakterisierungen des Imperialismus, sind es aber vor allem die Herstellung des Gesamtzusammenhangs und die politischen Schlussfolgerungen, die das Werk so wirksam und bedeutsam machten. Insbesondere in Bezug auf den Opportunismus in den ArbeiterInnenbewegungen imperialistischer Länder (auf Grundlage der ArbeiterInnenaristokratie) und die Rolle des Staates im Monopolkapitalismus hat das Werk unmittelbare Konsequenzen, was den Bruch mit der Zweiten Internationale, Kampf gegen die „eigenen“ imperialistischen Regierungen (auch in Kriegszeiten), Notwendigkeit der Zerschlagung des imperialistischen Staates (auch und gerade in seiner Form im Rahmen des „organisierten Kapitalismus“), Ausrichtung der ArbeiterInnenbewegung auf eine Epoche der Kriege und Revolutionen, die nur mit der sozialistischen Revolution beendet werden kann, beinhaltet. Gerade die Erkenntnis der Totalität seiner Elemente als Grundlage für eine neue Epoche des Kapitalismus, die aber weiterhin den von Marx beschriebenen Grundbestimmungen dieses Systems folgt, machten Lenins Bestimmung des Imperialismus zu einem Meilenstein in der marxistischen Imperialismustheorie. Insofern stellt das Werk bis heute den wesentlichen politischen Kern jeder revolutionär-marxistischen Imperialismustheorie dar.

Dies heißt aber nicht, dass Lenins „Abriss“ die großen Schwächen in den ökonomischen Ableitungen der Imperialismustheorien, die er von Hilferding und Bucharin wesentlich übernommen hat, dabei auch im Detail überwunden hätte. Letztlich wurde auch von Lenin der Auftrag von Rosa Luxemburg, den Imperialismus aus der Bewegung der Kapitalakkumulation auf dem Weltmarkt abzuleiten, nicht erfüllt. Hier bleibt er selbst gegenüber Bucharin, der zumindest in Bezug auf den Zusammenhang von kapitalistischer Krise und Kapitalexport einige Beiträge geleistet hat, sehr vage. Selbiges gilt auch in Bezug auf den „Monopolbegriff“ und die analytische Ableitung von „Finanzkapital“, bei denen er einerseits historischen Erscheinungsformen (Rolle der Banken im deutschen Industriekapitalismus) aufsitzt, andererseits widersprüchliche Aussagen zur Rolle von Konkurrenz und Monopol aufstellt. Dies ist aber auch nicht verwunderlich für ein Werk, das nicht beansprucht, ökonomische Theorie zu entwickeln, sondern versucht, eine gemeinverständliche Zusammenfassung der marxistischen Imperialismustheorie zu bieten und daraus vor allem die politischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Lenins Imperialismustheorie kann daher auch nicht nur aus dem „Abriss“ verstanden werden, sondern muss (wie hier versucht) auf sein Gesamtwerk und dessen Entwicklung bezogen werden.

Es hat in unmittelbarer Nachfolge von Lenin nicht an Versuchen gefehlt, die Lücken und Widersprüche in der ökonomischen Erklärung des Imperialismus zu füllen, von Grossmann, Pollock, Sternberg, Mattick bis Varga – um nur einige zu nennen. Mit der Degeneration der Sowjetunion unter Stalin schwand jedoch auch das Interesse an einer Fortentwicklung der Theorie. Stattdessen wurde Lenins „Abriss“ ohne Berücksichtigung auch nur der breiten Debatte, die es davor und danach gegeben hatte, zu einer endgültigen „Theorie“ des Imperialismus kanonisiert, samt ihrer Schwächen. In Folge wurde von einem „Konkurrenzkapitalismus“ gesprochen, wie ihn Marx analysiert habe. Davon vollkommen zu unterscheiden sei der „Staatsmonopolkapitalismus“, der die von Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeiten ersetzt habe durch diejenigen, die Lenin angeblich als deren „Aufhebung“ erkannt habe. Einzige Neuerung war die von Eugen Varga „entdeckte“ permanente Krisenhaftigkeit des Imperialismus, die zu einer systematischen Organisation des staatsmonopolistischen Kapitalismus zur Abwälzung von Risiken von den Monopolen auf die nichtmonopolistischen Sektoren der Gesellschaft und andere Staaten führe. Dazu kam im Rahmen von „Stamokap“- und später „Finanzmarktkapitalismus“-Theorie eine immer stärkere Tendenz zu einer Rückkehr zur Kautsky’schen Theorie des Ultraimperialismus.

In Abgrenzung zu dieser Degeneration der „offiziellen“ Imperialismustheorie entstanden sowohl in imperialistischen Ländern wie in den vom Imperialismus beherrschten Regionen alternative Theorieansätze, die eine ernsthafte ökonomische Begründung der nach dem Zweiten Weltkrieg sich neu entwickelnden imperialistischen Verhältnisse versuchten. Hier sind die „Weltmarkttheorie“, die Theorie des „ungleichen Tausches“, neue Monopoltheorien in der „Spätkapitalismus“-Theorie, die „Dependenztheorie“ und ähnliches zu nennen. In unterschiedlicher Weise versuchen diese Debatten, Schwächen in der „offiziellen“ Imperialismustheorie zu überwinden. Teilweise wurden dabei richtige Kritikpunkte an der Dogmatisierung der klassischen Theorie gesetzt, die aber mit vielen neuen Defiziten verbunden sind und vor allem zumeist auch die politischen Schlussfolgerungen Lenins über Bord warfen.

In dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ versuchen wir, das Spektrum dieser Debatten um die Imperialismustheorie durchzuarbeiten. Im Artikel „Imperialismus und Imperialismustheorie“ wird systematisch versucht, die Lücken in der klassischen Imperialismustheorie zu schließen, insbesondere was die oben genannten Kontroversen um Monopoltheorie, Epochenbegriff, „neue Qualität von Kapitalismus“, Verhältnis von Krisen- und Weltmarkttheorie etc. betrifft. Dies wird auch kombiniert mit einer Skizze für die Ableitung der Weltmarktbewegungen des Kapitals aus den Wertbestimmungen der Kapitalakkumulation. Der Artikel „Neokolonialismus und Imperialismustheorie“ geht aus von einer Kritik der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Theorien zu einer Modifikation der Imperialismustheorie aufgrund der neuen „neokolonialen“ Organisierung des globalen Kapitalismus und der Veränderungen in den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den imperialistischen Ländern und den (Halb-)Kolonien. Daraus wird versucht, auf Basis der Marx’schen Kapitalanalyse eine Darstellung der gegenwärtigen neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse abzuleiten.

Diese theoretischen Auseinandersetzungen werden abgerundet durch konkrete Analysen des chinesischen und des US-Imperialismus, deren Gegensatz heute sicherlich das prägende Moment des gegenwärtigen Imperialismus ist. Dazu passend veröffentlichen wir in diesem RM auch die politisch-ökonomischen Perspektiven der GAM, in denen es um unsere aktuelle Einschätzung der Lage des deutschen Imperialismus geht.

Außerdem setzen wir uns in diesem RM auch mit einer wichtigen Debatte in der gegenwärtigen weltweiten Frauenbewegung auseinander: der „Social Reproduction Theory“. Der Imperialismus ist nicht nur beständig durch neue Formen von Rassismus, Chauvinismus und Militarismus geprägt. Er ist auch eine Globalisierung von Frauenunterdrückung und Sexismus, entwickelt immer neue Formen der Überausbeutung aller nicht cis-männlichen Geschlechter. Informelle Arbeit und Unterbewertung von Reproduktionsarbeit sind in der imperialistischen Epoche eine wichtige Quelle zur Absicherung globaler Mehrwertaneignung. Daher ist es kein Wunder, dass ökonomische Theorien um diese Fragen eine wichtige Rolle in der heutigen Frauenbewegung spielen. Eine marxistische Kritik der Hauptströmungen dieser Debatte ist daher ein wichtiger Bestandteil dieses RM zur Imperialismustheorie.




Marxistische Imperialismustheorie: Bestandsaufnahme und Aktualisierung

Martin Suchanek, Revolutionäre Marxismus 53, November 2020

1. Einleitung

Der Begriff Imperialismus ist wieder modern geworden. Nach dem Zusammenbruch des Stalinismus und der Restauration des Kapitalismus in den ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten [i], mit dem Beginn der Globalisierung und dem scheinbar endgültigen, wenn auch kurzlebigen Triumph der Bourgeoisie schien er in der Öffentlichkeit marginalisiert. Die Möchtegern-ChefideologInnen des Weltkapitalismus schwärmten vom „Ende der Geschichte“ [ii], proklamierten naiv wie seit über einem Jahrhundert nicht mehr den angeblich endgültigen Triumph der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft. Nicht nur die reformistischen Führungen der ArbeiterInnenbewegung passten sich dem Zeitgeist an, sondern auch die „radikale“ Linke stimmte teils zähneknirschend, teils euphorisch in den Kanon ein.

In dieser Periode des scheinbar endgültigen Triumphs des Kapitalismus wirkten auch alle Theorien überholt, die von den inneren Widersprüchen dieser Produktionsweise ausgehen, die darauf pochen, dass dieses System auf der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, der Aneignung der Reichtümer der sog. „Dritten Welt“ und der Natur beruht. Die bürgerliche Gesellschaft hätte in den Zeiten der kapitalistischen Globalisierung auch ihre inneren Krisen hinter sich gelassen, so jedenfalls die vorschnelle Hoffnung ihrer ApologetInnen bis hinein ins vormals linke Lager.

Der Sieg des Kapitalismus im Kalten Krieg manifestierte sich notwendigerweise auch als ideologischer. In den 1990er Jahren und am Beginn dieses Jahrhunderts schien also jede Theorie „veraltet“ und „überholt“, die von einer materialistischen Analyse des Kapitalismus als Klassengesellschaft und des Imperialismus als ökonomisch-politischer Ordnung ausging. Ihre Widerlegung bedurfte im journalistischen wie im bürgerlich-wissenschaftlichen Diskurs eigentlich keiner Argumente. Es reichte der Verweis auf die vordergründige „Macht des Faktischen“.

An die Stelle der Klassentheorie traten oft geradezu reaktionäre weltanschauliche und geistige Strömungen wie der Postmodernismus, die bis heute in der akademischen Welt, vor allem in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften eine dominierende Rolle spielen. Auch wenn sich diese Strömungen oftmals als „links“ präsentieren und die Überwindung des angeblich überholten Gegensatzes von bürgerlicher Wissenschaft und marxistischer Theorie proklamieren, stellen sie ideologisch eine Kapitulation dar, eine Regression zum subjektiven Idealismus und Irrationalismus. Die verschiedenen Spielarten des Postmodernismus eint letztlich, dass sie jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik einer Gesellschaftsformation, deren innere Triebkräfte, Widersprüche und Gesetzmäßigkeiten zu entschlüsseln, als bloß subjektives „Narrativ“, also bloße gedankliche Konstruktion verwerfen. Allein dieser Anspruch einer objektiven Fundierung linker Politik wird als Form der „Unterwerfung“ der Menschen unter eine „Konstruktion“ und als „Herrschaftsanspruch“ denunziert. Damit verwirft der Postmodernismus zugleich jeden Versuch, die Entwicklungsdynamik von Geschichte und Gesellschaft zu entschlüsseln, die der Menschheit bisher als blinde, außerhalb ihrer Kontrolle liegende Macht entgegentraten. Nichts demonstriert den reaktionären, antiemanzipatorischen Charakter der neumodischen „kritischen“ bürgerlichen Antitheorie deutlicher als ihr vehementes Bestreiten auch nur der Möglichkeit, dass die Menschheit gesellschaftliche Beziehungen und ihr Verhältnis zur Natur bewusst gestalten könnte.

Aus der behaupteten Unmöglichkeit und Verwerflichkeit einer materialistischen Theorie der Gesellschaft folgt die kategorische Ablehnung jeder objektiven Fundierung revolutionärer und notwendigerweise auch jeder proletarischen Klassenpolitik. Wie kritisch sich die IdeologInnen postmoderner Theorie gegenüber den Normen und Sitten der bürgerlichen Gesellschaft, ja gegenüber dieser selbst wähnen mögen, steht doch der Marxismus (oder was sie dafür halten) im Mittelpunkt ihrer Kritik und Polemik. Dies ist kein Zufall. Die bürgerlichen Theorien der Gesellschaft und die Erkenntnistheorie haben längst den Anspruch auf eine rationale, historische Erklärung und Rechtfertigung der Geschichte sowie auf die Ausarbeitung einer wissenschaftlich fundierten, umfassenden Weltanschauung aufgegeben [iii]. Im Gegensatz dazu versucht der Marxismus, nicht nur die Gesellschaft, ihre inneren Widersprüche und damit auch ihre Historizität zu verstehen. Er begründet auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer rationalen, von den Menschen bewusst gestalteten Produktion und Reproduktion der Gesellschaft und des Verhältnisses von Mensch und Natur.

Die marxistische Kapitalismus- und Imperialismustheorie mündet daher notwendigerweise immer in einer Revolutionstheorie, untrennbar verbunden mit der Frage der Subjektbildung und der rationalen Neugestaltung der Gesellschaft auf Basis einer Planwirtschaft.

Wo der Imperialismusbegriff in den neuen postmodernen oder auch in den postkolonialen Theorien auftaucht, ist er seines Bezugs zur marxistischen Kapitalismustheorie, zum Klassenbegriff und auch zur Theorie Lenins und anderer RevolutionärInnen vollständig beraubt [iv].

Neben diesen direkt reaktionären Auffassungen brachte die Globalisierungsperiode jedoch auch Konzeptionen hervor, die bestimmte Aspekte der Entwicklung des globalen Kapitalismus hervorhoben und oft genug auch einseitig überbetonten. Dazu gehören zum Beispiel Werke wie Negris und Hardts „Empire“ [v] und dessen Behauptung, dass der Gegensatz von Empire und Multitude den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital abgelöst habe, dass an die Stelle des Imperialismus ersteres getreten sei[vi]. Die häufigen und heftigen Kriegszüge und Interventionen der Großmächte seit dem Beginn des Jahrtausends ließen die eklektische Theorie, die ihrerseits zahlreiche Anleihen beim Postmodernismus gemacht hatte, zunehmend empirisch fragwürdig erscheinen. Etliche ihrer Gedanken wirken jedoch bis heute nach. Einerseits schwingt die Konzeption der Multitude weiter in der postautonomen Theorie und Politik fort, andererseits knüpfen z. B. Postkapitalismustheorien wie jene von Paul Mason mehr oder minder offen an Hardt und Negri an – so z. B. mit der Vorstellung, dass der Mehrwert „unmessbar“ werde und aufgrund der enorm gestiegenen Arbeitsproduktivität verschwinde.

Schon im ersten Jahrzehnt der Globalisierungsperiode wurde dieser ideologische Schein mehr und mehr durch die reale Entwicklung desavouiert. Die historische Krise der Weltwirtschaft und der Globalisierung trat für alle, die sich noch einen Funken klaren Verstandes bewahrt hatten, spätestens seit 2008 immer deutlicher zutage. Ihre krisenhafte Eruption hatte sich schon lange davor vorbereitet.

Eine Folge dieser realen Entwicklung bestand und besteht darin, dass die Begriffe Kapitalismus und Imperialismus wieder ins öffentliche Bewusstsein rückten. Allein das weist schon darauf hin, dass der Mainstream der bürgerlichen Wissenschaft über kein begriffliches Instrumentarium verfügt, auch nur einigermaßen tief unter die Oberfläche der Erscheinungsformen des realen Wirtschaftslebens, des Weltmarktes und des darauf aufbauenden globalen politischen Systems zu dringen und die realen Bewegungsgesetze dieser Ordnung, ihre innere Dynamik zu fassen. Nicht nur der Neoliberalismus, alle anderen mehr oder weniger obskuren bürgerlichen sozialwissenschaftlichen Theorien des letzten halben Jahrhunderts haben sich bis auf die Knochen blamiert. Das offenbart – nebenbei bemerkt –, dass die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft in der imperialistischen Epoche im Wesentlichen stagnierte oder regredierte, zu einer ideologischen Magd einer historisch überfälligen, reaktionär gewordenen imperialistischen Bourgeoisie verkam.

Die Krise manifestiert sich  nicht nur als eine ökonomische und politische. Sie begann auch, die Köpfe durchzurütteln. Begriffe wie Kapitalismus haben nun Konjunktur, insbesondere im linken Diskurs. Kaum eine Neuerscheinung auf dem Markt der Ideen, die nicht auch wieder vom Imperialismus spricht. Autoren wie David Harvey bemühen sich um den „neuen“ Imperialismus [vii]. In einer seiner letzten Arbeiten, „Konkurrenz für’s Empire“ [viii] , rekurriert Elmar Altvater, jahrzehntelang Ideengeber des akademischen Marxismus, auf den Imperialismusbegriff, dessen Bedeutung er und die Berliner Weltmarktschule lange relativiert hatten. Auch Joachim Bischoff, der den Lenin’schen Imperialismusbegriff eigentlich verwirft, kommt in seinem Buch „Die Herrschaft der Finanzmärkte“ nicht umhin, das Vordringen des Finanzkapitals zu konstatieren, auch wenn er dies für eine atypische Entwicklung des Kapitalismus hält [ix]. Die Zeitschrift Prokla widmet mehrere Schwerpunkte der Imperialismustheorie und neueren Entwicklungen [x]. Die indischen AutorInnen Patnaik [xi] versuchen eine alternative Fundierung der Imperialismustheorie. Bei zentristischen, also zwischen Reformismus und revolutionärem Marxismus schwankenden Strömungen und TheoretikerInnen finden wir eine Hinwendung und verstärkte Rezeption der Imperialismustheorie, auch wenn sie zentrale Erkenntnisse der Lenin’schen Theorie ablehnen, insbesondere die Konzeption der ArbeiterInnenaristokratie.

In diesem Artikel können wir die verschiedenen Ansätze keiner detaillierten Kritik unterziehen, das wird weiteren Arbeiten vorbehalten sein. An dieser Stelle geht es uns vielmehr darum aufzuzeigen, dass der zunehmende Rekurs auf den Begriff Imperialismus – einschließlich der Debatten zu seiner theoretischen Fundierung – die Realität einer globalen Krise ausdrückt.

Deren umfassender Charakter drängt geradezu zur Bezugnahme auf eine Theorie, die die Totalität der internationalen Entwicklung, ja, auch des Mensch-Natur-Verhältnisses zu fassen vermag. Die Hinwendung oder wenigstens Reflexion auf die Marx’sche Kapitalismuskritik und auf die Imperialismustheorie stellt daher keine zufällige Entwicklung dar, sondern liegt schlichtweg daran, dass diese überhaupt das Problem auf eine umfassende Art zu erklären versuchen. Eine der wenigen linksbürgerlichen ökonomischen Theorien, auf die daher in Krisenperioden auch verstärkt rekurriert wird, stellt  der Keynesianismus dar, gerade weil er die Krisenhaftigkeit der Marktwirtschaft anerkennt und nach einer makroökonomischen und gesamtgesellschaftlichen, wenn auch bürgerlichen Antkrisenpolitik sucht.

Nur die Marx’sche Analyse des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze ermöglicht jedoch ein tiefgehendes und radikales Verständnis der aktuellen Krise, ihrer Erscheinungsformen wie ihrer tieferen Ursachen. Eine materialistische Theorie muss versuchen, den Begriff des Imperialismus, die Besonderheiten dieser Epoche sowie einzelne Entwicklungsstadien oder Perioden innerhalb dieser Formation aus den Begriffen der Marx’schen Kapitalanalyse herzuleiten und zu erklären.

Diesen Anspruch versuchten so unterschiedliche AutorInnen wie Lenin, Luxemburg, Hilferding, Bucharin, Trotzki – um nur einige zentrale zu nennen – einzulösen. Im folgenden Text werden wir sie einer kurzen kritischen Würdigung unterziehen. Im Zentrum des Interesses steht jedoch die Theorie Lenins, weil sie die Gesamtheit des Imperialismus am besten zu fassen vermag. Ihr entscheidender Vorzug besteht gerade darin, dass Lenin den Imperialismus nicht bloß als ökonomisches und schon gar nicht als rein politisches Phänomen verstand, sondern als politisch-ökonomische Totalität, als Entwicklungsstadium einer Gesellschaftsformation.

Die Stärke seiner Theorie besteht, wie wir sehen werden, darüber hinaus darin, dass er den Imperialismus als globales Verhältnis begriff, also von der Realität eines Weltmarktzusammenhangs und einer darauf basierenden Weltordnung, eines globalen Systems, ausging. Dies bildet im Übrigen auch eine Schnittstelle zu der Theorie der permanenten Revolution Leo Trotzkis, gewissermaßen das Alter Ego von Lenins Theorie.

Eine an Lenin und Trotzki anknüpfende Imperialismustheorie erlaubt bei aller Kritik im Einzelnen, die gegenwärtige Periode im Rahmen der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu verstehen. Nur die darauf basierenden programmatischen und politischen Schlussfolgerungen und die darin verkörperte Methode, wie sie von Marx und Engels grundgelegt und später im Kampf der internationalistischen Linken der Zweiten Internationale, vom Bolschewismus, von der Dritten Internationale unter Lenin und Trotzki, dem Kampf der ILO und der frühen Vierten Internationale entwickelt wurden, liefern eine Grundlage für die politische Bewaffnung, das unverzichtbare Werkzeug der Führung der kommenden Revolution, einer neuen, Fünften Internationale, deren Aufbau die große Aufgabe unserer Zeit ist.

Wenn wir von der historischen Bestätigung des Marxismus sprechen, so heißt das natürlich nicht, dass wir es mit einer Sammlung überhistorischer Wahrheiten, einer abgeschlossenen Wissenschaft zu tun hätten, die nur wie ein Tableau über aktuelle Ereignisse gestülpt werden müsse, um dann das „richtige“ Ergebnis zu erhalten. Wie wir weiter unten zeigen werden, war die Lenin’sche Imperialismustheorie allen anderen Theorien auch in der II. und III. Internationale aufgrund ihres Epochenbegriffs zwar qualitativ überlegen, keineswegs jedoch frei von eigenen begrifflichen Schwächen. Noch weniger konnte sie natürlich alle weiteren Entwicklungen einfach „vorwegnehmen“.

Dass die Imperialismustheorie seit den 1920er Jahren trotz einiger Versuche wenig weiterentwickelt wurde, dass wir bis heute – und sei es auch noch so „kritisch“ – auf die AutorInnen des Beginns des 20. Jahrhunderts mehr als auf andere rekurrieren, bedarf einer Erklärung. Die Degeneration der ArbeiterInnenbewegung, die Verbürgerlichung der Sozialdemokratie, die Bürokratisierung der Sowjetunion und das Verkommen dieses „Marxismus“ zu einer Herrschaftsideologie der Staatsbürokratie und ihrer Gefolgsleute in Ost und West stellen dafür eine zentrale Ursache dar. Die revolutionäre Minderheit der ArbeiterInnenbewegung, die sich in den 1930er Jahren und 1940er Jahren um den Aufbau einer neuen, revolutionären Vierten Internationale und die Verteidigung des kommunistischen Programms formierte, blieb marginalisiert und versackte selbst in Opportunismus und/oder SektiererInnentum.

Dies hatte unvermeidlich auch theoretische Konsequenzen. Die Weiterentwicklung der Lenin’schen Theorie blieb auf der Strecke. Sie wurde wie z. B. in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus vereinseitigt, entstellt und zur Begründung klassenübergreifender Bündnisse wie der antimonopolistischen Demokratie missbraucht. Andere AutorInnen wie z. B. Mandel in seiner Theorie des „Spätkapitalismus“ knüpften zwar an Lenins Theorie an, aber ihr Versuch, die Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären, enthielt wichtige Revisionen des Marxismus (z. B. eine eklektische Krisentheorie oder Zugeständnisse an die Theorie der langen Wellen) und oft genug ein eklektisches Nebeneinander. Nichtsdestotrotz bilden Arbeiten wie jene von Mandel einen Referenzpunkt bis heute, weil er sich als einer der wenigen überhaupt die Aufgabe stellte, eine umfassende Theorie der Entwicklung des Kapitalismus bis in die 1980er und 1990er Jahre auszuarbeiten.

Zweifellos lassen sich auch in den Arbeiten anderer AutorInnen wichtige Elemente finden, an denen es anzuknüpfen gilt. Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle nur Henryk Grossmann [xii], Paul Mattick [xiii] und Roman Rosdolsky [xiv].

Insgesamt zeichnet die Entwicklung der marxistischen Theorie nach 1945 jedoch aus, dass Imperialismus- und Krisentheorie weitgehend voneinander getrennte Wege gehen, dass viele, die an der Marx’schen Krisentheorie festhalten, keinen Bezug zur Imperialismustheorie herstellten oder herstellen wollten. Umgekehrt verwerfen zahlreiche nach 1945 entwickelte Imperialismustheorien die von Marx entwickelten grundlegenden Gesetzmäßigkeiten, die die Krisen im Kapitalismus erklären, insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Schließlich mutierte die Imperialismustheorie bei etlichen „marxistischen“ und linksradikalen Strömungen und Gruppierungen von einer Theorie der Analyse der konkreten Situation zu einer rein formellen Selbstvergewisserung, als ob die wesentliche Leistung einer revolutionären Theorie einzig darin bestünde, den „Charakter“ einer bestimmten Entwicklungsphase zu bestimmen. Wir wollen das Problem im folgenden Absatz verdeutlichen.

So ist es zweifellos richtig, „die Globalisierung“ als einen Abschnitt der imperialistischen Epoche zu charakterisieren, in dem die Wesensmerkmale des Imperialismus hervortreten. Ich habe damit aber noch gar nichts ausgesagt, was diese Periode von anderen, in ihrer Erscheinungsform sehr verschiedenen Abschnitten der Epoche unterscheidet. Ich habe daher auch gar nichts ausgesagt darüber, welche Formen des Klassenkampfes, welche politischen und sozialen Fragen im Vordergrund stehen, geschweige denn über die spezifische Entwicklungsdynamik innerhalb der Periode, das Zusammenwirken von Politik und Ökonomie, von Basis und Überbau, über die konkrete Verlaufsform der Zuspitzung der Widersprüche. Vor allem habe ich damit gar nichts ausgesagt über die Programmatik, über Strategie und Taktik. Das Ganze wird vielmehr zu einer mehr oder weniger dürren und sterilen „allgemeinen Wahrheit“ – die auch äußerst begrenzt ist, weil sie über die konkrete Lage keine konkrete Aussage zu treffen vermag, weil sie eben nicht hilft, eine konkrete Situation genauer zu verstehen und somit zielgerichteter zu handeln. Eine solche Herangehensweise verurteilt also nicht nur zu Sterilität gegenüber der aktuellen Periode oder Situation. Sie macht letztlich auch den Epochenbegriff oder den Begriff des Imperialismus (oder, wenn dieselbe Herangehensweise verwendet wird, auch jenen des Kapitalismus) zu einer schalen Angelegenheit. Dies insbesondere, weil so auch nicht geklärt wird, warum sich der Imperialismus als historische Epoche in so unterschiedlichen Formen präsentieren kann, welche Faktoren nicht nur die Entwicklung innerhalb einer Periode bestimmen, sondern auch, welche ihre krisenhaften Übergänge determinieren.

Wir haben uns mit diesem Punkt so lange aufgehalten, weil die Bestimmung des Verhältnisses von Epoche zu längeren und kürzeren Perioden der Entwicklung, zu den zyklischen Bewegungen der Kapitalakkumulation einen zentralen Problempunkt bildete, um den die Debatten über die Imperialismus- und Krisentheorie nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Zusammenbruch und Degeneration der Vierten Internationale kreisten.

2. Kapitalismus als historische Gesellschaftsformation

Wie alle MarxistInnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchte auch Lenin, den Imperialismusbegriff aus den Kategorien der Marx’schen Kapital- und Gesellschaftstheorie herzuleiten. Die Überlegenheit seiner Auffassung lässt sich nur schwer verstehen, wenn wir nicht auf letztere eingehen. So wird auch verständlich, worin eigentlich die Schwächen konkurrierender Theorien z. B. jener Hilferdings, Luxemburgs oder Bucharins liegen. Bevor wir uns mit den Konzeptionen des linken Flügels der II. Internationale und der frühen III. Internationale beschäftigen, müssen wir jedoch auf für unsere Darlegung wesentliche Besonderheiten und Schlussfolgerungen der Marx’schen Theorie zu sprechen kommen.

Im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ (1859) gibt Marx einen kurzen und bekanntgewordenen Abriss über das Verhältnis von ökonomischer Basis einer Gesellschaft zu ihrem politischen, ideologischen, geistigen, staatlichen etc. Überbau.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. (…)

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. (…)

Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ [xv]

Für unsere weitere Betrachtung der Imperialismustheorie entscheidend ist, dass Marx eine historische Gesellschaftsformation als Einheit von ökonomischer Basis und dem entsprechenden politischen und ideologischen, ideellen usw. Überbau betrachtet.

Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bestimmen die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft, ganz so wie die feudalen die Feudalgesellschaft oder die Kaufsklaverei die Antike. Marx verweist darauf, dass die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse die ökonomische Basis der Gesellschaft bildet. So existieren z. B. im Kapitalismus neben den kapitalistischen noch weitere Formen. Je mehr die dominante Produktionsweise expandiert, jeden Winkel der Erde erreicht, jede chinesische Mauer überwindet, den Weltmarkt weiterentwickelt, je mehr die Unterordnung der Lohnarbeit unter das Kapital voranschreitet, werden andere Produktionsverhältnisse entweder aufgelöst und zerstört oder mehr und mehr der kapitalistischen untergeordnet, dieser funktional einverleibt. Hinsichtlich bestimmter Produktionsformen lassen sich beide Phänomene beobachten, z. B. beim Kleineigentum an Produktionsmitteln und damit der Reproduktion des KleinbürgerInnentums als auch bei der privaten Hausarbeit.

In bestimmten Phasen der Entwicklung entstehen sogar Formen vorhergehender Ausbeutungsverhältnisse neu. So war z. B. die Sklaverei in den Amerikas ein Resultat und Mittel der kapitalistischen Durchdringung und Expansion, wobei sich diese grundlegend von der antiken unterscheidet, weil sie immer schon auf den kapitalistischen Weltmarkt bezogen war, ja ein entscheidendes Mittel zu dessen Herstellung. Daher bezeichnet Marx den/die SklavInnen ausbeutende/n PlantagenbesitzerIn auch zu Recht als KapitalistIn. „Daß wir jetzt die Plantagenbesitzer in Amerika nicht nur Kapitalisten nennen, sondern daß sie es sind, beruht darauf, daß sie als Anomalien innerhalb eines auf der freien Arbeit beruhenden Weltmarkts existieren.“ [xvi] Ebenso entstehen feudale Formen der Ausbeutung in Indien erst als direkte Folge des Kolonialismus und der Integration in das britische Welt- und Handelsimperium.

Schließlich bildet die private Hausarbeit der LohnarbeiterInnen eine, dem Kapitalverhältnis untergeordnete und von diesem bestimmte Produktionsweise, die zwar Ähnlichkeiten mit der Subsistenzproduktion aufweist, sich von dieser jedoch grundlegend unterscheidet. Sie ist nämlich – ähnlich der Sklaverei in den Amerikas – fest in die Welt der Warenproduktion und des Warentausches eingebunden, weil die LohnarbeiterInnen ihre Lebensmittel, ihre Wohnung … als Waren kaufen und dazu ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.

Für Marx bedeutet die ökonomische Struktur also keineswegs die Existenz nur einer Produktionsweise. Entscheidend ist vielmehr, dass in den jeweiligen historischen Gesellschaftsformationen eine bestimmte Produktionsweise die gesamte ökonomische Struktur der Gesellschaft bestimmt. Große historische Umbrüche stellen auch dieses Verhältnis in Frage. So entwickelt sich die kapitalistische Produktionsweise schon in der Übergangsepoche der Neuzeit und drängt die feudale immer mehr zurück. Politisch entspricht dem der Absolutismus als Übergangsregime. Die bürgerliche Revolution kann sich also auf die Herausbildung wesentlicher Elemente einer ihr entsprechenden Produktionsweise schon vor ihrem Sieg stützen, die ökonomische Vorherrschaft der Bourgeoise beginnt sich bereits mehr und mehr zu entwickeln, bevor sie die politische endgültig erringt.

Für die proletarische Revolution ist das unmöglich, weil sich keine sozialistische Produktionsweise im Kapitalismus entwickelt, ja nicht entwickeln kann. Wohl aber bilden sich die Voraussetzungen für eine bewusste, rationale, globale Planung. Um dies zu erreichen, muss aber das Proletariat zuerst die politische Macht erobern.

Darum ist auch die Kapitalismustheorie, die Analyse des antagonistischen Charakters der Produktionsweise für Marx und Engels so eng mit der Revolutionstheorie verflochten. Für sie besteht der ganze Zweck der Kritik der politischen Ökonomie schließlich darin, die Bedingungen, die Notwendigkeit und das Programm der proletarischen Machtergreifung wissenschaftlich zu unterfüttern.

Wenn wir – wie alle MarxistInnen – von Imperialismus sprechen, so meinen wir eine bestimmten Epoche der kapitalistischen Entwicklung, genauer der Entwicklung der kapitalistischen oder bürgerlichen Gesellschaftsformation.

Der Imperialismus wird bestimmt als Epoche des Übergangs und Niedergangs des Kapitalismus und zwar in einem spezifischen Sinn. Die Produktionsverhältnisse sind zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte, der Entwicklung der Gesellschaft geworden. Der Kapitalismus hat aufgehört, eine fortschrittliche Produktionsweise zu sein und zwar in den beiden Bestimmungen:

1. Die Zerstörung vorkapitalistischer Produktionsweisen und sich darauf erhebender politischer Formen ist im globalen Maßstab vollzogen. Wo sie fortbestehen, existieren sie entweder weiter als in den Weltmarkt eingebettete, funktionale Formen oder als Marginalien.

2. Die Bildung der zentralen Voraussetzungen für eine globale, bewusst gelenkte Produktionsweise – große Industrie und ArbeiterInnenklasse – ist auf globaler Ebene erfolgt.

Keineswegs darf diese Bestimmung damit verwechselt werden, dass in der imperialistischen Epoche die Produktivkräfte dauerhaft stagnieren würden oder überhaupt dauerhaft stagnierten könnten. Diese, oft katastrophistisch konnotierten Interpretationen finden sich teilweise im Stalinismus der Dritten Periode, teilweise im zentristischen Nachkriegstrotzkismus. Sie gehen davon aus, dass die Stagnation der Produktivkräfte Voraussetzung für den revolutionären Charakter einer bestimmten Epoche oder Geschichtsperiode wäre.

Geht man nämlich einmal davon aus, dass die Möglichkeit der proletarischen Revolution von der Stagnation der Produktivkräfte abhängt, so muss diese geradezu ständig „bewiesen“ werden, will man nicht gegen den eigenen revolutionären Willen zum Utopismus abgleiten. Dann muss – was jeder revolutionären Theorie schlecht zu Gesicht steht – die reale Entwicklung umgedeutet werden. Die gigantische Entwicklung der Produktivkräfte seit 1945 wird geleugnet und zur „Entwicklung“ von „Destruktivkräften“ umbenannt. Dass damit nichts gewonnen ist, liegt auf der Hand.

Methodisch betrachtet wurde ein dialektisches Widerspruchsverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf die Betrachtung einer Seite reduziert. Für die kapitalistische Produktionsweise ist es jedoch gerade kennzeichnend, dass sie die Produktivkräfte ständig, wenn auch auf Kosten von ArbeiterInnen und Natur (insofern natürlich destruktiv!) umwälzen muss. Die Umwälzung erfolgt notwendig krisenhaft, gelingt, historisch betrachtet, immer schwieriger und geht daher tendenziell mit immer größeren gesellschaftlichen Konflikten einher.

Der Begriff der Gesellschaftsformation inkludiert darüber hinaus neben den Produktionsverhältnissen auch den gesamten Überbau – und somit auch das Verhältnis zwischen allen Klassen, sowie die staatlichen und internationalen Verhältnisse.

Gesellschaftsformation und Staat

Marx und Engels verwiesen in ihren Untersuchungen und Analysen von Staats- und Herrschaftsformen, Ideologien usw. immer wieder darauf, dass die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der verschiedenen Nationalökonomien, deren historisch bedingte Unterschiede, ihre verschiedenartige Integration in den Weltmarktzusammenhang usw. eine enorme Formenvielfalt und Kombinationen des staatlichen, ideellen, institutionellen und gesellschaftlichen Überbaus hervorbringen.

So entfaltete sich die kapitalistische Produktionsweise über einen langwierigen und blutigen Prozess des Klassenkampfes bekanntlich zuerst in England. Die epochemachende, weltgeschichtliche Umwälzung vollzieht sich jedoch im ökonomisch eigentlich rückständigeren Frankreich – ein früheres Beispiel für das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung. Andererseits bildet Deutschland, das Land der gescheiterten Revolutionen, ein Musterbeispiel für die Umwälzung der Produktionsweise durch eine Klassenallianz von aufstrebendem Großkapital und Aristokratie. Bonapartismus und Verpreußung bilden die entsprechende staatliche und ideologische Überbauform. Der US-amerikanische Kapitalismus hingegen brauchte weder feudale Überreste hinwegzufegen, noch bedurfte es eines Kompromisses mit tradierten herrschenden Klassen und Herrschaftsformen. Die bürgerliche Gesellschaft entwickelte sich ohne Rücksichtnahme auf diese, zugleich jedoch auf Basis von Sklaverei, Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung.

Unbeschadet dieser enormen Unterschiede des gesellschaftlichen Lebens, der Öffentlichkeit wie der gesamten ideologischen Sphäre können, wie Marx und Engels immer wieder hervorheben, diese berechtigterweise als bürgerliche Staaten und Gesellschaften charakterisiert und begriffen werden, weil sie auf derselben ökonomischen Grundlage, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruhen.

„Und nun gar der wüste Mißbrauch, den das Programm mit den Worten ‚heutiger Staat’, ‚heutige Gesellschaft’ treibt, und den noch wüsteren Mißverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!

Die ‚heutige Gesellschaft’ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der ‚heutige Staat’ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. ‚Der heutige Staat’ ist also eine Fiktion.

Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von ‚heutigem Staatswesen’ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.“ [xvii]

Die Institutionen des Überbaus dienen nicht nur der gewaltsamen wie auch ideologischen, über bürgerliche Medien, Wissenschaft und Öffentlichkeit vermittelte Sicherung der Herrschaft des Kapitals. Der Staat muss auch als Garant der Reproduktion des Kapitalverhältnisses, als Sachwalter des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, als ideeller Gesamtkapitalist fungieren.

Um diese Rolle erfüllen zu können, muss er als über den Klassen und einzelnen Kapitalfraktionen stehend erscheinen, als Sachwalter des gesellschaftlich Allgemeinen. Schon bei Betrachtung der Oberflächenerscheinungen der Gesellschaft – z. B. empirisch der Resultate staatlicher Entscheidungen, Gesetze und auch des konkreten Handelns von Gerichten, Behörden, Polizei und anderen ehrwürdigen Institutionen – wird rasch klar, dass  die Ideologie der Gleichheit, die die kapitalistische Warenproduktion notwendigerweise erzeugt und reproduziert und als deren Sachwalter der Staat erscheint, mit der Reproduktion und Verstärkung der reellen Ungleichheit einhergeht, wenn auch in einer durchaus elastischen Form.

Das liegt einerseits an den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten, die progressive Reformen und eine Ausdehnung demokratischer Rechte erzwingen können, freilich ohne dass dabei die klassenspezifische Substanz des Staatsapparates berührt wird. Nicht zuletzt durch diesen Druck erweist sich der bürgerliche Staat als  überaus wandlungs- und anpassungsfähig, wenn es darum geht, solche erzwungenen Reformen in das Gesamtsystems zu integrieren und seine Herrschaftsform zu modifizieren. Fast alle bedeutenden gesetzlichen und sozialen Reformen gingen aus sozialen und politischen Konflikten hervor, einschließlich von revolutionären Kämpfen oder BürgerInnenkriegen. Rosa Luxemburg bringt diese Dialektik von Reform und Revolution als eine der Ersten auf den Punkt, wenn sie die gesetzliche Reform als Nebenprodukt, als Resultat des revolutionären Klassenkampfes bestimmt. [xviii]

Die Tatsache, dass solche Reformen durchsetzbar sind, verweist nicht nur darauf, dass der Kampf um Verbesserungen ein notwendiges, wenn auch beschränktes Moment des Klassenkampfes darstellt. Diese Form der Veränderung bildet – ganz ähnlich wie der erfolgreiche gewerkschaftliche Kampf um Verbesserungen – zugleich auch eine Wurzel von Illusionen in die Reformierbarkeit des Gesamtsystems. Die relativ elastische demokratische Herrschaftsform des Kapitals erweist sich als Mittel zur Integration vor allem der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums, aber auch der ArbeiterInnenklasse oder jedenfalls ihrer privilegierteren Schichten ins politische und institutionelle System. Wie Marx und Engels immer wieder verdeutlichen, ändert das jedoch nichts am Klassencharakter des Staates. Auch die demokratischste Republik bleibt eine Form der demokratisch verhüllten Diktatur des Kapitals.

Gerade dass in der demokratischen Republik Unterschiede des Besitzes und des Reichtums offiziell keine Ungleichheit ausmachen sollen und LohnarbeiterInnen und KapitalbesitzerInnen als gleich erscheinen, erweitert die Möglichkeiten zur Integration von Ausgebeuteten und Unterdrückten. So wie das Lohnarbeitsverhältnis selbst eine gewisse „Elastizität“ aufweist, so fließt in die Ausgestaltung des bürgerlichen Staates immer auch ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis ein, das seinerseits auch die Vorstellung von dessen scheinbarer Klassenneutralität verstärkt. Damit hängt außerdem zusammen, dass der Staat selbst die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals sichern muss, und zwar auch gegen widerstreitende Teile der herrschenden Klasse. Weil sich die Hauptklassen der Gesellschaft aus freien, formell gleichen Individuen, aus WarenbesitzerInnen zusammensetzen, deren Mitglieder selbst in einem Konkurrenzverhältnis stehen (wenn auch in einem für die Klasse der KapitalistInnen und der LohnarbeiterInnen jeweils spezifischen), so muss der Staat notwendigerweise als scheinbar über den Klassen erscheinen.

Ideeller Gesamtkapitalist

Damit der Staat als ideeller Gesamtkapitalist agieren kann, muss er bis zu einem gewissen Grad auch unterschieden sein von der KapitalistInnenklasse oder selbst von deren dominierenden Fraktionen. Mandel führt dies in der Einleitung zu Trotzkis „Schriften über Deutschland“ [xix] recht plastisch anhand der Politik des New Deal aus:

„Die artikulierte Mehrheit der amerikanischen Großbürger schrie Zeter und Mordio über Roosevelts ,New Deal’; sogar Trumans ‚Fair Deal’ wurde mit nicht wenig Geschrei über ‚schleichenden Sozialismus’ beantwortet. Aber kein objektiver Beobachter der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft der letzten 35 Jahre könnte heute bestreiten, daß sich in dieser Epoche die Akkumulation des Kapitals erweitert und nicht eingeschränkt hat; daß die amerikanischen Großkonzerne unvergleichbar reicher und mächtiger geworden sind, als sie in den zwanziger Jahren waren; daß die Bereitschaft anderer Gesellschaftsklassen – hauptsächlich der Industriearbeiterschaft – die Herrschaft dieser Konzerne unmittelbar gesellschaftlich und politisch in Frage zu stellen, geringer geworden ist, als sie während und sofort nach der großen Wirtschaftskrise war.“ [xx]

Ob der New Deal dem Interesse des US-amerikanischen Gesamtkapitals entspricht, zeigt sich nicht daran, ob alle oder selbst die Mehrheit der Konzerne diesem von Beginn an zustimmt. Im Gegenteil. Da das Kapital als konkurrierende Einzelkapitale in Erscheinung treten muss, erfordert die Herausbildung eines Gesamtinteresses der Klasse einen politischen, staatlichen Vermittlungsprozess, der notfalls auch gegen die unmittelbaren Einzelinteressen durchgesetzt werden muss.

Internationaler Charakter

Abschließend müssen wir beim Marx’schen Begriff der bürgerlichen Gesellschaftsformation darauf eingehen, dass diese (auch im Unterschied zu vorhergehenden) immer schon als globale betrachtet und gedacht werden muss. Dieser Gedanke wird bereits im Kommunistischen Manifest betont, wo Marx und Engels darauf verweisen, dass eine Besonderheit des Kapitalismus und dessen historisch fortschrittliche Mission gerade darin bestehen, dass sich die Bourgeoisie im Unterschied zu vorhergehenden herrschenden Klassen revolutionär gegenüber vorkapitalistischen Produktionsweisen verhält. Es gehört zum Wesen des Kapitals, diese zurückzudrängen, zu zerstören. Es drängt zur globalen Expansion, nistet sich ein, überwindet chinesische Mauern.

„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ [xxi]

In den Grundrissen legt Marx dar, dass der Weltmarkt im Begriff des Kapitals eingeschrieben ist, von diesem vorausgesetzt und geschaffen wird. „Wie das Kapital daher einerseits die Tendenz hat, stets mehr Surplusarbeit zu schaffen, so die ergänzende, mehr Austauschpunkte zu schaffen; d. h. hier vom Standpunkt des absoluten Mehrwerts oder Surplusarbeit aus, mehr Surplusarbeit als Ergänzung zu sich selbst hervorzurufen, au fond (im Grunde) die auf dem Kapital basierte Produktion oder die ihm entsprechende Produktionsweise zu propagieren. Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben.“ [xxii]

Die Tendenz zur Schaffung des Weltmarktes, das „propagandistische“ Wirken des Kapitals prägt seine Entwicklung von Beginn an. Die koloniale Expansion, die „Entdeckung“ Lateinamerikas und von dessen Reichtümern verleiht der Ausbreitung des Kapitalismus in England einen mächtigen Impuls, der durch die bloß innere Akkumulation viel langsamer und langwieriger erfolgt wäre. Im Unterkapitel „Genesis des industriellen Kapitalisten“, Teil der Abhandlung über die sog. ursprüngliche Akkumulation im Ersten Band des „Kapital“, verweist Marx darauf, dass sich die Genesis der/s industriellen KapitalistIn in einem engen Zusammenhang mit dem Weltmarkt vollzog:

„Die Genesis des industriellen Kapitalisten ging nicht in derselben allmählichen Weise vor wie die des Pächters. Zweifelsohne verwandelten sich manche kleine Zunftmeister und noch mehr selbständige kleine Handwerker oder auch Lohnarbeiter in kleine Kapitalisten und durch allmählich ausgedehntere Exploitation von Lohnarbeit und entsprechende Akkumulation in Kapitalisten sans phrase (schlechthin). In der Kindheitsperiode der kapitalistischen Produktion ging’s vielfach zu wie in der Kindheitsperiode des mittelaltrigen Städtewesens, wo die Frage, wer von den entlaufnen Leibeignen soll Meister sein und wer Diener, großenteils durch das frühere oder spätere Datum ihrer Flucht entschieden wurde. Indes entsprach der Schneckengang dieser Methode in keiner Weise den Handelsbedürfnissen des neuen Weltmarkts, welchen die großen Entdeckungen Ende des 15. Jahrhunderts geschaffen hatten.“ [xxiii]

Vielmehr erlaubt die koloniale Plünderung, also die Herausbildung eines Weltmarktes – vermittelt über die Entwicklung des Wucher- und Handelskapitals – eine extreme Beschleunigung der Akkumulation der Industrie, die Schaffung der eigentlichen kapitalistischen Produktionsweise in jenen Ländern wie England, wo die feudalen Verhältnisse auf dem Land bereits aufgelöst oder jedenfalls in Auflösung begriffen waren, eine disponible Klasse doppelt freier LohnarbeiterInnen zur Verfügung stand. Marx bringt die Verhältnisse sarkastisch auf den Punkt:

„Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. Er wird eröffnet durch den Abfall der Niederlande von Spanien, nimmt Riesenumfang an in Englands Antijakobinerkrieg, spielt noch fort in den Opiumkriegen gegen China usw.

Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.“ [xxiv]

Die Schaffung einer universellen, die Partikularität vorhergehender Produktionsweisen überwindenden, auf den Weltmarkt bezogenen Produktionsweise stellt für Marx und Engels einen historischen Fortschritt dar – trotz des von ihnen geschilderten, notwendigerweise extrem brutalen und gewalttätigen Prozesses in Bezug auf die Herausbildung der ArbeiterInnenklasse und der kolonialen Ausbeutung. Der Kern des geschichtlichen Fortschritts besteht für Marx nämlich nicht in der Schaffung einer kapitalistischen Ökonomie und der bürgerlichen Gesellschaft als solcher, sondern darin, dass dies eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer zukünftigen universellen Entwicklung der Menschen ist. [xxv]

Die Frage der Expansion des Kapitalverhältnisses und des Weltmarkts inkludiert daher auch in einem anderen Sinn ein grundlegend historisches Moment. Sobald es sich gemäß seiner eigenen technischen Grundlage – der großen Industrie – durchgesetzt hat und der Weltmarkt etabliert ist, hört die Bourgeoisie auf, eine fortschrittliche Klasse zu sein. Die Welt ist unter die großen Kapitale und Mächte aufgeteilt, die ihrerseits auch den Eintritt und die Form der Weltmarktintegration der sog. Dritten Welt bestimmen.

Alle marxistischen Imperialismustheorien beziehen sich im Grunde auf ein solches, historisches Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, mögen ihre Erklärungsansätze auch sehr verschieden sein. Auch eine Aktualisierung und Weiterentwicklung der Lenin’schen Imperialismustheorie muss vom internationalen Charakter des Kapitalismus ausgehen – oder sie ist im Voraus zum Scheitern verurteilt.

Obiges Zitat enthält schließlich auch die zentralen Elemente der Marx’schen Revolutionstheorie und den historisch-spezifischen Charakter der proletarischen Revolution. Die bürgerliche Gesellschaft bildet den Abschluss der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“, die kapitalistische die letzte antagonistische Form des Produktionsprozesses. Damit ist auch die zentrale Rolle der klassenbewussten Organisierung des Proletariats grundgelegt – die Formierung der revolutionären Partei.

3. Kapitalbegriff, Krisentheorie und Imperialismus

Marx’ politischer Ökonomie geht es u. a. darum, die Notwendigkeit der Verschärfung der inneren Widersprüche des Kapitalismus darzulegen, die Notwendigkeit der Krise, der Lösung, Aufhebung dieser inneren Widersprüche der Gesellschaftsformation.

Dem Kapitalbegriff von Marx ist daher die Möglichkeit und Notwendigkeit der Krise immanent, nichts von außen Hineingetragenes. Vielmehr legt er nicht nur die Unvermeidbarkeit der Krisen, sondern auch die in der widersprüchlichen Kapitalbewegung angelegten Tendenzen zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise dar.

Im ersten Band leitet er die historischen Entwicklungstendenzen des Kapitals her:

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [xxvi]

In diesem Zitat wird schon deutlich, dass das Kapital selbst die eigentliche Schranke der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise ist.

„Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen.

Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinen Zwecken anwenden muß und die auf die unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel – unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte – gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“ [xxvii]

In diesen wie in vielen anderen Passagen von Marx und Engels zeigt sich, dass die Marx’sche Theorie im Kern eine Krisentheorie darstellt. Die Produktionsweise strebt auf das Eklatieren ihrer inneren Widersprüche zu. Entscheidend ist dabei, dass die Entwicklung der Produktivkräfte an einem bestimmten Punkt selbst zu einer Schranke für die weitere Verwertung des Kapitals wird, dass sie, wie es Marx in den Grundrissen ausdrückt, „die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.“ [xxviii]

Der tendenzielle Fall der Profitrate führt dazu, dass ab einem bestimmten Punkt der Stachel der Akkumulation erlahmt, die Verwertung des neu geschaffenen Profits nicht mehr profitabel erscheint für das Gesamtkapital – Stagnation und Krise sind die Folge, deren einziger Ausweg in der Vernichtung überschüssigen Kapitals besteht. Dies zeigt für Marx zugleich die historischen Grenzen, die Überholtheit der kapitalistischen Produktionsweise selbst an und die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Produktion der Kontrolle der Bourgeoisie zu entreißen und in bewusster Form zu gestalten.

„In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice (Rat) gegeben wird, to be gone and to give room to a higher stage of social production (abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben).“ [xxix]

In diesem Sinne vertritt Marx durchaus eine Zusammenbruchstheorie oder kann man von einer Tendenz zum Zusammenbruch sprechen, die immer wieder historische Krisen nicht nur der Akkumulation, sondern der gesamten Gesellschaftsformation hervorbringt. In seiner Arbeit „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ würdigt Roman Rosdolsky nicht nur zu Recht die Verdienste von Luxemburg und Grossmann bei der Verteidigung der Marx’schen Theorie und verweist auf die Ursachen der Angriffe auf die „Zusammenbruchstheorie“: „Die Behauptung, Marx hätte keine ‚Zusammenbruchstheorie’ aufgestellt, ist wohl vor allem auf die revisionistische Auslegung des Marxschen ökonomischen Systems vor und nach dem ersten Weltkrieg zurückzuführen.“ [xxx]

Zweifellos wurde die „Kritik“ an der sog. Zusammenbruchstheorie auch dadurch gerechtfertigt, dass ihren VertreterInnen unterstellt wurde, dass sie nicht nur von einer Krisentendenz ausgegangen seien, sondern auch deren Unüberwindbarkeit oder eine unvermeidliche Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus unterstellen würden.

Im marxistischen Verständnis bedeuten solche Krisen oder Krisenperioden jedoch keinesfalls, dass es einen rein ökonomisch fixierbaren Endpunkt des Kapitalismus gibt oder auch nur geben könne. Ein Zusammenbruch stellt immer eine zeitlich begrenzte Phase dar, die auf verschiedenen Wegen möglich ist. Erstens durch eine massive Kapitalvernichtung und eine Neuordnung der Verhältnisse durch die herrschende Klasse – und sei es durch den Gebrauch barbarischer Mittel wie Krieg, Eroberung, diktatorische oder gar faschistische Herrschaft. Zweitens die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch eine sozialistische Weltrevolution, also die fortschrittliche Aufhebung der inneren Widersprüche, wie sie Marx skizziert. Drittens kann eine historische Krise mit der Vernichtung der Hauptklassen der Gesellschaft und deren Regression in die Barbarei (oder im Extremfall der Vernichtung der Menschheit oder ihrer natürlichen Lebensgrundlagen) enden. Allein das verweist auf die entscheidende Bedeutung des subjektiven Faktors, der Entwicklung von revolutionärer Organisation und des Klassenbewusstseins für eine gesellschaftliche Umwälzung.

Daher kann sich eine revolutionäre Theorie der Gesellschaft niemals nur auf die Enthüllung der inneren Bewegungsgesetze der Kapitalismus beschränken, sondern sie muss die Notwendigkeit ihrer Verschärfung und der schließlichen revolutionären Aufhebung dieser Widersprüche ins Zentrum rücken. Jede marxistische Imperialismustheorie ist daher notwendig eine Theorie über die Niedergangsepoche des Kapitalismus, der Verschärfung seiner inneren Widersprüche.

Alle Imperialismustheorien, die revolutionären und marxistischen Anspruch erheben, müssen daher an der von Marx im Kapital entwickelten inneren Krisenhaftigkeit des Kapitalismus festhalten. Alle AutorInnen der klassischen Imperialismustheorie der II. und III. Internationale erheben diesen Anspruch, verteidigen ihn und versuchen, ihn zur Geltung zu bringen. Aber alle offenbaren auch bedeutende Schwächen, wenn es darum geht, diesen Anspruch einzulösen. So vermag z. B. keine der klassischen Imperialismustheorien, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zu integrieren, geschweige denn seinen zentralen Charakter für die Marx’sche Krisentheorie aufzunehmen. Im Folgenden wollen wir auch daher noch einmal einige zentrale Momente des Kapitalbegriffs darstellen, die auch Ansatzpunkte für ein Verständnis des Imperialismus bilden.

Zentrale Momente des Kapitalbegriffs

Erstens ist im Marx’schen Kapitalbegriff, wie wir gesehen haben, immer schon inkludiert, dass der Kapitalismus seinem Wesen nach eine internationale, auf den Weltmarkt bezogene Produktionsweise darstellt. In der Schaffung des Weltmarktes, dem Niederreißen vorhergehender Produktionsweisen, der Verwandlung aller Nationen in bürgerliche besteht schließlich eine der unbestritten progressiven Leistungen der kapitalistischen Produktionsweise und die weltgeschichtlich revolutionäre Rolle der Bourgeoisie in der Früh- und Blütezeit des Kapitalismus.

Zweitens verhält sich das Kapital, anders als vorhergehende Produktionsweisen, zur technischen Grundlage der Produktion und zu den Produktivkräften revolutionär, wälzt diese im Hunger auf die Aneignung von Mehrwert ständig um. Marx zeigt, dass sich dieser Mechanismus aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, aus der Begrenztheit der Möglichkeiten zur Steigerung der absoluten Mehrwertrate und der Notwendigkeit der Steigerung des relativen Mehrwerts ergibt. Daraus folgt notwendigerweise auch immer, dass die ArbeiterInnenklasse selbst beständig „umgewälzt“ wird und permanenter Veränderung unterliegt. Der Klassenkampf, der Kampf um die Höhe des Mehrwerts bildet ein integrales Element des Kapitalbegriffs selbst und nichts von außen, „exogen“ Hineingetragenes.

Die ständige Erhöhung der Produktivität der Arbeit drückt sich in einer fortschreitenden höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals und einer Tendenz zum Fallen der Profitrate aus – selbst ein Ausdruck der historischen Tendenzen der Akkumulation.

Drittens – und als ein Resultat davon – führt die Entwicklung des Kapitalismus zu einer ständigen größeren Anhäufung des Kapitals, zu seiner fortschreitenden Zentralisation und Konzentration. Ein/e KapitalistIn schlägt die/den andere/n tot. Die Konkurrenz ist die Form, in der sich die inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitals manifestieren müssen.

Viertens entdeckt Marx die Bedeutung des industriellen Zyklus für die ständige Umwälzung und Erneuerung der technischen Grundlage der Produktion, als Basis einer neuen, erweiterten Grundlage der Akkumulation, einer dynamischen Form der Reproduktion der Widersprüche im Kapitalismus. Das „Bett“ der Dynamik des industriellen Zyklus bildet die Reproduktionsdauer der Masse des fixen Kapitals, die auch eine durchschnittliche Länge des Zyklus von 7 bis 10 Jahren konstituiert.

Das Marx’sche Verständnis des industriellen Zyklus enthält ein wichtiges Spezifikum, das es von bürgerlichen Theorien unterscheidet. Die verschiedenen Momente des Zyklus kulminieren in der Krise, dem „Ende eines Zyklus und Ausgangspunkt eines neuen“ [xxxi], dem bestimmenden Moment des Zyklus. In ihr zeigt sich die Einheit der in den anderen Phasen des Zyklus gegeneinander verselbstständigten Elemente. In ihr konzentrieren sich die Widersprüche der Kapitalbewegung und kommen eruptiv zum Ausbruch.

Fünftens muss das Kapital zur „Lösung“ seiner inneren Widersprüche, zum Entgegenwirken gegen den Fall der Profitrate, zur Aufrechterhaltung der Akkumulationsdynamik und zur weiteren Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion im Kapitalismus Rechnung tragen. Es muss selbst mehr und mehr zu gesellschaftlichen Formen – Formen, die das Kapital auf dem Boden des Kapitalismus negieren – zurückgreifen: Aktienkapital, Kredit, Verstaatlichung.

Dahinter manifestiert sich nichts anderes als der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise: gesellschaftliche Produktion bei fortgesetzter privater Aneignung. Oben genannte Formen „gesellschaftlichen Kapitals“ lösen diesen Widerspruch nicht, sondern treiben ihn vielmehr auf die Spitze. Sie rufen nach ihrer Überwindung durch die proletarische Revolution.

Marx und Engels arbeiten nicht nur in der Analyse des Kapitals, sondern auch in den konkreten Betrachtungen der Entwicklung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern heraus, dass die innere Entwicklung des Kapitals wie auch die Politik der herrschenden Klasse mehr und mehr zu solchen „Übergangsformen“ führen, dass sich eine Veränderung der Entwicklungsrichtung des Kapitalismus selbst abzeichnet. Scharfsinnig beobachten sie deren Ausprägungen im 19. Jahrhundert.

Für Marx und Engels stellen die Ausdehnung des Aktienkapitals und andere gesellschaftliche Formen des Kapitals, seine weitere Konzentration und Zentralisation sowie die Entstehung des Finanzkapitals Zeichen dieser Entwicklung dar, um Schranken für die Entwicklung der Produktivkräfte zu überwinden. Sie sind nicht nur Ausdruck dafür, dass das Kapital auf Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten trifft, sondern bilden zugleich Austragungsformen dieses Widerspruchs. Sie verweisen darauf, dass die Bourgeoisie selbst mehr und mehr auf den Staat und solche gesellschaftlichen Formen des Kapitals zurückgreifen muss, die dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion indirekt Rechnung tragen. In der imperialistischen Epoche schlagen sie in ihrer Gesamtheit in ihr Gegenteil um. Das Finanzkapital wird selbst zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte und der Gesellschaft.

Sechstens sind das Finanzkapital und seine immer ausufernder werdende Bedeutung genauso wenig ein „Abirren“ der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte wie Finanzkrisen zufällige Spekulationsverirrungen darstellen, die mit den sonstigen Krisentendenzen nicht verbunden wären. Vielmehr stellt das zinstragende Kapital die höchste Stufe der Entwicklung der Wertform der Arbeitsprodukte dar: Der Titel auf verwertbares Eigentum selbst wird zum Grund der Aneignung von Mehrwert, unbeschadet des unmittelbaren Kommandos über den zugrundeliegenden Produktionsprozess. Die Verwandlung von Geld in mehr Geld (G – G‘), die Bewegungsform des zinstragenden Kapitals, drückt in praktischer Weise die widerspruchsvolle Schrankenlosigkeit der Kapitalverwertungsbewegung aus, die sich von ihren materiellen Bedingungen in realen, produktiven Kapitalverwertungsbedingungen zu lösen versucht. Mit der notwendigen Dopplung von Kapital in Geldkapital und Unternehmensführung wird ein bestimmter Teil der Kapitalistenklasse, trotz seiner besonderen Verwertungsinteressen als Finanzkapital, gleichzeitig in gesellschaftlicher Form zum Vertreter der Verwertungsinteressen des Gesamtkapitals:

„Es kommt hinzu, daß mit Entwicklung der großen Industrie das Geldkapital mehr und mehr (…) nicht vom einzelnen Kapitalisten vertreten wird, (…) sondern als konzentrierte, organisierte Masse auftritt, die ganz anders als die reelle Produktion unter die Kontrolle der das gesellschaftliche Kapital vertretenden Bankiers gestellt ist“. [xxxii]

In der imperialistischen Epoche erscheinen die Finanzkapitale wie riesige „Planungsagenturen“, die auf Basis der Renditeziele ihrer AnlegerInnen mit ihrem Buchgeld riesige Industrie- und Handelsunternehmen auf- und abbauen, umstrukturieren, neu zusammensetzen etc. Selbst wenn die realen Verwertungsbedingungen es nicht mehr hergeben, können mit Hilfe ihrer Kreditmacht noch lange Renditen simuliert werden, im Versprechen auf sagenhafte zukünftige Profite. Auf diese Weise kann das Finanzkapital die industriellen Zyklen und Krisenperioden überlagernde Finanzmarktzyklen initiieren, die den zugrundeliegenden Krisentendenzen zeitweise entgegenwirken. Damit wird die Finanzkrise (Kreditklemme, Geldkrise, Banken- und Firmenzusammenbrüche in großem Umfang,…) zum notwendigen Moment der Krisen- und Zusammenbruchstendenz im Imperialismus. Mit der Finanzkrise wandelt sich der Finanzmarktzyklus von einer entgegenwirkenden, zu einer verstärkenden Tendenz der Kapitalverwertungsprobleme. Im Allgemeinen kündigen daher Finanzkrisen einen Periodenwechsel an (auch wenn dies nicht unmittelbar erfolgen muss).

Siebtens entwickeln sich mit dem Weltmarkt auch Weltmarktzyklen und -krisen. Ihre Bedeutung kann schwerlich überschätzt werden. „Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden.“ [xxxiii]

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, des internationalen Handels und des Kapitalverkehrs nimmt auch das Gewicht der Weltmarktbewegungen für die industriellen Zyklen der jeweiligen Nationalökonomien zu, die selbst integrale Bestandteile des Weltmarktes bilden. Dieser stellt dabei nicht bloß eine Summe nationaler Märkte und Ökonomien dar, sondern bildet eine seine Teile bestimmende Realität. Wie sehr die nationalen industriellen Zyklen synchronisiert werden und einen einheitlichen Weltmarktzyklus bilden, stellt einen widersprüchlichen Prozess dar, weil das Kapital zwar einerseits zur Überwindung nationaler Barrieren drängt, andererseits die Kapitalbildung jedoch immer auf einen Nationalstaat bezogen ist. Mit der Entwicklung des Imperialismus verstetigt sich zudem die von den Metropolen und dort gebildetem Großkapital dominierte, hierarchische Ordnung der internationalen Ökonomie – ein Widerspruchsverhältnis, das auf Basis des Kapitalismus nicht überwunden werden kann, sondern vielmehr selbst Ausdruck der zunehmenden globalen Vergesellschaftung (internationale Produktionsketten, Ausweitung des Handels, des Austausches zwischen den Nationen, …) des Kapitals einerseits und seiner privaten Aneignung und damit einhergehender bornierter Zwecksetzung andererseits ist.

Achtens geht die Entwicklung der Akkumulation des Kapitals immer mit der Unterminierung und tendenziellen Zerstörung der beiden Quellen des gesellschaftlichen Eigentums einher – der lebendigen Arbeit und der natürlichen Lebensgrundlagen der Gattung Mensch. Dem Kapitalismus ist die Tendenz zur Verelendung der ausgebeuteten Klasse der Lohnabhängigen immanent. Ohne ökonomischen Kampf und den politischen Kampf um gesetzliche Schranken der Ausbeutung könnte die ArbeiterInnenklasse auf Dauer nicht einmal den Preis der Ware Arbeitskraft und somit ihre eigene Reproduktion sichern. Doch nicht nur sie ist einer ständigen Tendenz zur Zerstörung ihrer eigenen Lebensbedingungen unterworfen.

Der Kapitalismus untergräbt notwendigerweise auch die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit selbst – und zwar nicht erst seit der, spätestens in den 1970er Jahren immer offenkundiger gewordenen, Drohung einer ökologischen Katastrophe. Marx weist diesen immanenten, zerstörerischen Charakter der Produktionsweise schon im Kapital nach. [xxxiv] Er verweist aber auch schon darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die Klasse hervorbringt, die die zunehmend gesellschaftliche Produktion rational organisieren kann, sondern auch die Voraussetzungen für eine vernünftige Ausgestaltung des Mensch-Natur-Verhältnisses schafft – die Entwicklung der großen Industrie und der Naturwissenschaft. Doch so wie die Produktivkräfte der Menschheit letztlich von den Schranken der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse befreit werden müssen, so kann auch nur auf Grundlage einer bewusst gesellschaftlichen Planung ein rationales Verhältnis der Menschheit im Umgang mit ihren natürlichen Lebensgrundlagen etabliert werden.

Neuntens ist die gesamte Kapitalismustheorie von Marx untrennbar mit seiner Revolutionstheorie verbunden. Die Analyse des Kapitals und seiner inneren Bewegung zeigt die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution. Zu ihr drängt die kapitalistische Entwicklung selbst, weil der Sozialismus die einzige Lösungsform ist, in der die gesellschaftliche Entwicklung, die der Kapitalismus mit sich gebracht hat, überhaupt rational gebändigt und auf eine höhere Stufe gehoben werden kann.

In ihrer Analyse des Kapitals und der bürgerlichen Gesellschaft weisen Marx und Engels zugleich die spezifischen Elemente der proletarischen, der sozialistischen Umwälzung nach. Bekanntlich sind die vorherrschenden Gedanken – auch der beherrschten Klassen – in jeder geschichtlichen Formation jene der Herrschenden.

Im Kapitalismus werden diese auf besondere Weise geprägt. Die Wertform bringt auch eigene Formen der Ideologie hervor, objektive ideologische Gedankenformen. Die Lohnform, die Vorstellung vom „gerechten Lohn“ etc. prägen das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse unwillkürlich. In ihr verschwindet scheinbar die Mehrarbeit, der Mehrwert. Es erscheint, als würde der/die KapitalistIn nicht nur die notwendige, sondern die ganze Arbeit bezahlen. Auf solchen Formen – selbst Resultat der formalen rechtlichen Gleichheit des/r ArbeiterIn und KapitalistIn als WarenbesitzerInnen – baut eine ganze weitere Kette von Ideologien, Fetischformen auf. So z. B. den Staats- und Demokratiefetisch, also den Schein, dass „die Demokratie“, der „Staat“, „die Menschenrechte“ keine Herrschaftsformen oder Ideologien einer bestimmten Klasse wären, sondern über diesen stünden.

Während die Bourgeoisie als „Mittelklasse“ der feudalen Gesellschaft ihre Produktionsweise schon in deren Poren hervorbringt, in der Periode der absoluten Monarchie, sich in einer geschichtlichen Übergangsepoche im Bund mit dem Monarchen mehr und mehr herausbildet und mit dieser Entwicklung ihre spezifische Produktionsweise entfaltet, während der Adel mehr und mehr in Abhängigkeit und eine miserable Lage gerät, kann die ArbeiterInnenklasse „ihre“ zukünftige Produktionsweise nicht im Rahmen des Kapitalismus etablieren. Entwickelt, vorbereitet werden „nur“ die Produktivkräfte, die Technik, Verkehrsformen und vor allem nicht zuletzt die gesellschaftliche Gesamtarbeit selbst, die reale Lenkung der Produktion und Reproduktion der Gesellschaft durch die ArbeiterInnenklasse selbst.

Im Kapitalismus – und in der imperialistischen Epoche wird das sozusagen auf die Spitze getrieben – geht diese Entwicklung einher mit immer stärkerer Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, immer manifester werdender Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit. Diese Hülle, dieses Hemmnis der gesellschaftlichen Entwicklung kann nur durch die bewusste revolutionäre Aktion der Klasse gesprengt werden.

Anders herum, die Frage des Bewusstseins hat eine qualitative andere Bedeutung in der proletarischen Revolution als in der bürgerlichen. Natürlich bildeten auch die revolutionären VertreterInnen der Bourgeoisie (oft sozial gesehen radikale Angehörige des KleinbürgerInnentums) gegen den Feudaladel und seine AnhängerInnen revolutionäre Organisationen (Clubs, Parteien, Vereinigungen usw.) und brachten radikale, bürgerlich-revolutionäre Ideologien hervor, indem sie an Reformation und Aufklärung anknüpften. Aber sie konnten sich der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie kämpften, keinesfalls voll bewusst werden, ja, sie bedurften, wie Marx in „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“[xxxv] anmerkt, einer gewissen (Selbst-)Täuschung, um die weltgeschichtliche Umwälzung überhaupt durchführen zu können, die zum Sieg des Kapitals führte.

Sie mussten sich diese notwendigerweise ideologisch verkleistern, weil die gesellschaftlichen Bedingungen und ihr eigenes gesellschaftliches Sein dafür noch zu unreif waren – was natürlich auch auf die mehr oder minder utopischen oder radikalen, über die bürgerlichen Kräfte hinausgehenden Ideologien und gesellschaftlichen Visionen der Unterklassen, der Verbündeten der Bourgeoisie zutrifft. Die weltgeschichtliche Selbsttäuschung, der Heroismus der bürgerlichen Revolutionen, ihr Bezug auf imaginierte oder stilisierte Idole der Vergangenheit – seien es das Alte Testament in der Englischen oder die römische Republik in der Französischen Revolution – waren notwendig, damit die Volksmasse, die plebejischen Schichten der Bevölkerung überhaupt mobilisiert werden konnten. Mit der Konsolidierung der bürgerlichen Verhältnisse und der notwendigen Enttäuschung darüber, dass sie sich nicht als Befreiung der Menschheit, sondern als Herrschaft des Kapitals entpuppten, verschwand regelmäßig das Pathos.

Die proletarische Revolution bedarf solcher Verkleisterungen nicht mehr, ja, sie sind für sie schädlich, blenden sie doch nur die eigene Klasse und ihre besten KämpferInnen.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ [xxxvi]

Die ArbeiterInnenklasse kann sich nur befreien, wenn sie selbst die gesamte Gesellschaft von einem mehr oder weniger blinden, scheinbar automatischen, sich als wirtschaftlicher „Sachzwang“ manifestierenden Reproduktionszusammenhang befreit, das Verhältnis der Menschen zueinander und zur Natur bewusst und vernünftig reguliert. Zum Sozialismus und erst recht zum Kommunismus kann das Proletariat nur bewusst kommen, nur indem es sich als Klasse für sich konstituiert, sein eigenes Verschwinden als besondere Klasse vorbereitet und bewusst herbeiführt.

Diese Umgestaltung kann nur durchgeführt werden, wenn sich das Proletariat aller zentralen Produktionsmittel der Gesellschaft bemächtigt, die Staatsmacht ergreift und seine eigene Herrschaft ausübt. Nur so kann es den kapitalistischen Produktionsprozess umstrukturieren und zugleich konterrevolutionären Umstürzen vorbeugen.

Daraus ergibt sich aber auch, dass es eine ganze Periode der proletarischen Herrschaft, der Umwälzung zu einer sozialistischen Gesellschaft braucht, der Diktatur des Proletariats, in der „alte“ und „neue“, sich erst entwickelnde, Gesellschaftsformation im Überlebenskampf stehen, in der der Entscheidungskampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus ausgefochten wird.

Wie aber kann nun das Proletariat als Klasse, dessen Dasein zwar tagtäglich zum Kampf mit dem Kapital zwingt und zum Sozialismus drängt, dessen Bewusstsein jedoch „spontan“ bürgerlich ist, zu einer revolutionären Klasse werden, von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich?

Indem seine bewusstesten Elemente, also die TrägerInnen des Gesamtinteresses der Klasse, zu einer politischen Kampforganisation verschmelzen. Eine solche Partei muss auf einem wissenschaftlich fundierten Programm basieren. Sie muss den anderen Parteien der ArbeiterInnenklasse die Einsicht in die historischen Ziele, den allgemeinen Werdegang usw. der Bewegung voraushaben. Sie selbst stellt die Verbindung von revolutionärer Theorie und Avantgarde dar. Die Partei ist das Vermittelnde in der Bewegung der Klasse von einer Klasse an sich zu einer für sich. Ohne revolutionäre Partei kann diese Verbindung nicht geschaffen werden und ist damit auch die Herausbildung einer in der ArbeiterInnenklasse wirkenden und verwurzelten Trägerin von Klassenbewusstsein, einer bewussten Vertreterin von revolutionärer Strategie, Taktik, Programmatik unmöglich. Ohne Herausbildung dieses bewussten Elements bleibt freilich auch die proletarische Revolution und die Transformation zum Sozialismus eine Utopie, eine Unmöglichkeit.

Schließlich geht Marx’ Revolutionstheorie – wie schon seine Kapitalanalyse – immer vom internationalen Charakter des Klassenkampfes aus. Die zukünftige sozialistische (und kommunistische) Gesellschaft kann nur international sein, oder sie ist nicht. Daher geht es vom Bund der Kommunisten, über die Erste Internationale bis zur Zweiten Internationale nie um die Formierung bloß nationaler Parteien, sondern immer um den Aufbau einer Internationale der ArbeiterInnenklasse.

4. Lenins Imperialismustheorie und die Bedeutung seines Begriffs der Epoche

Grundsätzlich liegt Lenins Imperialismustheorie das Marx’sche Kapitalismus- und Revolutionsverständnis zugrunde. Die Politik des Bolschewismus, der Kampf der internationalistischen Linken in der Zweiten Internationale, die revolutionären GegnerInnen der Burgfriedenspolitik und vor allem die frühe Dritte Internationale versuchen bewusst, an einen „unverfälschten“, vom Schematismus der Zweiten Internationalen befreiten Marxismus anzuknüpfen und diesen in einer neuen weltgeschichtlichen Lage herauszuarbeiten und weiterzuentwickeln.

Lenins Theorie kann also nicht isoliert von der geistigen Situation der damaligen internationalen ArbeiterInnenbewegung verstanden werden. Sein Werk kennzeichnet grundsätzlich ein Ringen um marxistische Prinzipien und Theorie, das selbst in Wechselwirkung zu den Arbeiten anderer MarxistInnen der Zweiten Internationale steht, ja, von diesen auch inspiriert ist. So  hebt er selbst an etlichen Stellen, durchaus mit Recht, Hilferding und seine Arbeit „Das Finanzkapital“ [xxxvii] als inhaltlichen Bezugspunkt hervor.

Schon Rosa Luxemburg hatte gefordert: „Daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet und mit ihnen in Einklang gebracht werden muß“. [xxxviii] Doch so groß Luxemburgs Verdienste in der Verteidigung der marxistischen Theorie und Positionen in vielen Fragen – nicht zuletzt auch auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie – sind, muss festgehalten werden, dass ihre Imperialismustheorie grundlegende methodische Schwächen aufweist und ihrer eigenen Zielsetzung, die „ökonomischen Wurzeln (…) aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation“ herzuleiten, gerade nicht erfüllt.

Darauf haben u. a. Roman Rosdolsky in „Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’“ und Henryk Grossmann in „Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems“ [xxxix] hingewiesen. Grossmann fasst seine Kritik wie folgt zusammen:

„Nicht aus den immanenten Gesetzen der Kapitalakkumulation, aus einer bestimmten Höhe derselben, leitet sie die Notwendigkeit des Untergangs des Kapitalismus ab, sondern aus der transzendenten Tatsache des Fehlens nichtkapitalistischer Länder. War für Marx die Problematik des Kapitalismus mit dem Produktionsprozeß verknüpft, so verlegt Rosa Luxemburg die für die Existenz des Kapitalismus entscheidenden Probleme aus der Produktionssphäre in die Zirkulationssphäre.“ [xl]

Hilferdings „Finanzkapital“ kommt das Verdienst zu, überhaupt den Begriff geprägt, die Formveränderungen des Kapitals und die Entstehung des Finanzkapitals ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt zu haben. Aber seine falsche Geldtheorie, die mit der Marx’schen Werttheorie bricht und unvereinbar ist, führt auch zu eine Blindheit gegenüber den sich weiter verselbstständigenden Formen des fiktiven Kapitals, zu einer Unterschätzung der Bedeutung der Börsen und Aktienmärkte. Nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale treten auch die offen reformistischen und harmonistischen politischen Schlussfolgerungen zutage, die als theoretische Schwächen schon in seinem Werk angelegt sind.

Die Grundfehler, die sich exemplarisch bei Hilferding und Luxemburg zeigen, hängen mit zwei Faktoren zusammen. Erstens einer falschen Erschließung und Interpretation des Marx’schen Kapitals bzw. zentraler Kategorien; bei Hilferding die Geldtheorie (und damit auch eine Revision der Werttheorie); bei Luxemburg auch ihre Kritik am Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, ein falsches Verständnis der Reproduktionsschemata und die Ablehnung der Marx’schen Geldtheorie. Diese Fehler stehen in Verbindung mit einem ungenügenden Verständnis der Bedeutung der Abstraktionsebenen in der Methode des „Kapital“, wenn sie z. B. die Reproduktionsschemata des Zweitens Bandes als „leblose“ Darstellung missversteht, weil sie von der Existenz eines Dritten, also anderer Klassen absähen. In Wirklichkeit verkennt Luxemburg, dass es Marx bei den Reproduktionsschemata nicht um einer Darstellung der geschichtlichen Realität, sondern um einen Aspekt in der Entfaltung des Kapitals im Allgemeinen geht.

Für unseren Zusammenhang jedoch noch gewichtiger ist aber der Umstand, dass Hilferding und Luxemburg – sowie der Großteil der nachleninschen Imperialismus- und KrisentheoretikerInnen – keinen umfassenden Begriff der Epoche entwickeln.

Bei Lenins Theorie handelt es sich zweifellos um die reifste und entwickeltste Imperialismustheorie, gerade weil sein Begriff des Imperialismus auf die Totalität der Gesellschaftsformation zielt.

In seiner Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“ [xli] wie auch in zahlreichen anderen Arbeiten entwickelt er den Begriff des Imperialismus aus der inneren Entwicklungslogik des Kapitals. Bekanntlich arbeitet Lenin in seinem Buch Merkmale dieser neuen Formation des Kapitalismus heraus – Konzentration der Produktion und Monopol, neue Rolle der Banken, Finanzkapital (Verschmelzen von Industrie und zinstragendem Kapital), Kapitalexport, Aufteilung der Welt unter die Kapitalistenverbände und Aufteilung der Welt unter die Großmächte.

Der Begriff des Finanzkapitals und des Monopols stehen dabei im Zentrum von Lenins ökonomischer Bestimmung des Imperialismus.

„Konzentration der Produktion, daraus erwachsende Monopole, Verschmelzung oder Verwachsen der Banken mit der Industrie – das ist die Entstehungsgeschichte des Finanzkapitals und der Inhalt dieses Begriffs.“ [xlii]

Oder an anderer Stelle: „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Eine solche Definition enthielte die Hauptsache, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das Bankkapital einiger weniger monopolistischer Großbanken, das mit dem Kapital monopolistischer Industriellenverbände verschmolzen ist, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf noch von keiner kapitalistischen Macht eroberte Gebiete ausdehnt, zu einer Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung des Territoriums der restlos aufgeteilten Erde.“ [xliii]

Lenin erklärt diese Entwicklung im Anschluss an Marx und Engels aus der zunehmenden Zentralisation und Konzentration des industriellen Kapitals und der Ausdehnung „gesellschaftlicher Formen“ des Kapitals (Banken, Kredit, …). So Marx z. B. in den Grundrissen dazu:

„Solange das Kapital schwach ist, sucht es selbst noch nach den Krücken vergangner oder mit seinem Erscheinen vergehnder Produktionsweisen. Sobald es sich stark fühlt, wirft es die Krücken weg und bewegt sich seinen eigenen Gesetzen gemäß. Sobald es anfängt, sich selbst als Schranke der Entwicklung zu fühlen und gewußt zu werden, nimmt es zu Formen Zuflucht, die, indem sie die Herrschaft des Kapitals zu vollenden scheinen, durch Züglung der freien Konkurrenz zugleich die Ankündiger seiner Auflösung und der Auflösung der auf ihm beruhenden Produktionsweise sind.“ [xliv]

Marx und Engels erkennen, dass mit der Entwicklung des Kapitalismus die „freie Konkurrenz“ selbst ihr gegenläufige innere Tendenzen – eine Tendenz zum Monopol – hervorbringt. Allerdings – und darauf werden wir im nächsten Abschnitt näher eingehen müssen – inkludiert der Monopolbegriff bei Lenin eine problematische und theoretisch unklare Seite, wenn er im Anschluss an Hilferding von einer Ablösung der Konkurrenz durch das Monopol spricht.

So richtig Lenin die Tendenz zur Monopolbildung erkennt, so enthält der Begriff des „monopolistischen Stadiums“ ein grundlegendes Problem, als sein Verhältnis zur Konkurrenz als regulierendem Zwangsgesetz, das den einzelnen Kapitalen die Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation aufzwingt, unausgearbeitet und unklar bleibt. Bei TheoretikerInnen wie Hilferding, Bucharin oder später im Stalinismus zeigen sich diese Probleme nur zu klar, da in diesem Verständnis des Imperialismus andere Gesetzmäßigkeiten das Verhältnis der Kapitale zueinander regulieren als in der „freien Konkurrenz“. Wird dies einmal als dauerhaft gegeben unterstellt oder anerkannt, hängen auch die Marx’sche Krisentheorie und insbesondere das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate in der Luft.

Wie wir weiter unten zeigen werden, bedarf die Lenin’sche Theorie an dieser Stelle einer begrifflichen und theoretischen Korrektur, um die Imperialismustheorie auf dem Boden der Marx’schen Krisentheorie ausformulieren zu können.

Hier nur soviel: Monopol und Finanzkapital wirken ähnlich wie andere „gesellschaftliche Formen“ des Kapitals Krisen entgegen, indem diese zeitweilig die Ausgleichsbewegung der Profitrate modifizieren.

Die privaten Kapitale, die eine monopolistische Stellung als Einzelkapital oder als eine Gruppe dominierender Unternehmen eines Wirtschaftszweiges erzielen, können diese Position zeitweilig nutzen, um sich auf Kosten anderer Kapitalgruppen, der imperialisierten Länder und der Gesellschaft einen höheren Anteil am Gesamtmehrwert anzueignen.

Dieser Monopolprofit geht also zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate ein und erlaubt so, das Abladen von eigenen Krisen auf imperialisierte Länder, die ArbeiterInnenklasse und schwächere, nicht monopolistische Kapitale, deren Profitraten im Durchschnitt sinken.

Imperialismus als politisch-ökonomische Totalität

Der Imperialismus stellt – wie wir sehen werden, auch für Lenins Theorie – jedoch keineswegs nur ein rein ökonomisches Verhältnis, sondern eine historische Stufe dar, wo der Kapitalismus den Weltmarkt nicht nur geschaffen, sondern auch alle Länder, Regionen, Gebiete in diesen eingegliedert hat. Vorgefundene vorkapitalistische Produktionsweisen wurden zerstört oder der kapitalistischen untergeordnet. Die Aufteilung der Welt unter die großen Mächte und Kapitale ist abgeschlossen und kann, innerhalb gewisser Grenzen, nur durch einen Weltbrand, Krieg, Revolutionen, Konterrevolutionen verändert werden.

Zugleich sind zugeteilte Gebiete, Länder – ob nun Kolonien oder Halbkolonien – fest in diese Ordnung eingebunden. Eine „nachholende“, die fortgeschrittenen Länder einholende Entwicklung ist, von außergewöhnlichen, einzelnen Ausnahmen abgesehen, unmöglich geworden. Im Gegenteil: Die Entwicklung des Weltmarktes und der internationalen Arbeitsteilung verfestigt die von den Zentren der Kapitalakkumulation abhängige Entwicklung dieser Länder. Dass sich China als imperialistische Weltmacht etablieren konnte, hängt ironischer Weise auch eng damit zusammen, dass es für eine ganze Periode als bürokratische Planwirtschaft und degenerierter ArbeiterInnenstaat nicht von der Weltmarktkonkurrenz bestimmt war.

Grundsätzlich sind jedoch die Länder der sog. Dritten Welt in der Epoche des Finanzkapitals zur halbkolonialen oder kolonialen Einbindung in ein Weltsystem verdammt, das ihnen einen untergeordneten Platz auf dem Weltmarkt zuweist, diesen über die Institutionen des Finanzkapitals reproduziert und verfestigt und durch die diplomatische und militärische Macht der imperialistischen Staaten absichert. Nur durch die Verbindung der demokratischen (antiimperialistischen) Revolution mit der proletarischen können diese Länder befreit werden. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution[xlv] bringt diese Entwicklung auf den Punkt. Auch aus diesem Grund stellte sie eine, an den Grundtendenzen der imperialistischen Epoche anknüpfende revolutionäre Konzeption dar, das Alter Ego von Lenins Imperialismus- und Revolutionstheorie.

Der Begriff des Finanzkapitals inkludiert auch korrekterweise, dass eine bestimmte, die fortgeschrittenste Kapitalfraktion, die Gesellschaft, einschließlich anderer Kapitalgruppen, beherrscht. Diese Herrschaft prägt und verändert auch die gesamte Klassenformierung und den gesellschaftlichen Überbau.

Daher ist Imperialismus nicht bloß eine bestimmte reaktionäre, aggressive Politik, sondern die Politik des Finanzkapitals. Eine nichtimperialistische Politik der Weltmächte ist unmöglich.

Die Unterordnung der gesamten Welt unter ein imperialistisches System und die Vorherrschaft des Finanzkapitals und Monopols bedeuten auch notwendig eine enorme Zunahme von Fäulnis, Parasitismus. Zweifellos haben diese Charakterisierungen oft auch eine missverständliche Seite, weil sie – durchaus entgegen Lenins eigenen Anmerkungen – dazu verleiten, die imperialistische Epoche als eine Jahrzehnte andauernde ökonomische Stagnations- oder Niedergangsphase zu betrachten. Wenn wir diesen Irrtum einmal geklärt haben, erweisen sich Lenins Verweise, insbesondere auf den Parasitismus als durchaus zutreffend. Der Imperialismus steigert erstens eine Tendenz, die die kapitalistische Entwicklung auch schon im 19. Jahrhundert kannte, nämlich das Auseinandertreten von Eigentum und Leitung des kapitalistischen Betriebes. Ein Teil der KapitalistInnenklasse (und ihr angelagerter kleinerer Schichten von AnlegerInnen) wird faktisch zu einer Gruppe von Menschen, die den geschaffenen Reichtum in Form der Revenue einstreifen und die operativen Geschäfte des Managements, die Überwachung der Produktion, deren Kontrolle usw. anderen Teilen der KapitalistInnenklasse oder den lohnabhängigen Mittelschichten überlassen. Die Bourgeoisie wird ökonomisch eigentlich längst überflüssig, wie schon Marx und Engels bemerken. Das verändert aber auch die Klassenstruktur des globalen Kapitalismus, sowohl in den Zentren als auch in den von den imperialistischen Staaten beherrschten Ländern, ob diese nun als Kolonien oder Halbkolonien existieren.

Lenins selbst gibt nicht nur eine knappe ökonomische Definition und Darlegung der grundlegenden Merkmale des Imperialismus. Er geht mit gutem Grund weiter:

„Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muß, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich bemerkt, dass der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefasst, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt.“ [xlvi]

Dieser Abschnitt über die historische Stellung des Imperialismus bildet in seinem Buch keinen „Anhang“, keinen willkürlichen Zusatz, sondern einen essenziellen Bestandteil seiner Konzeption. Für Lenin bedeutet Imperialismus „Übergangskapitalismus“. Immer wieder verwendet er auch den Terminus „sterbender Kapitalismus“ – eine Bezeichnung, die hinsichtlich der historischen Einordnung des Imperialismus und erst recht angesichts der revolutionären Lage treffend ist, die der Erste Weltkrieg schuf und die mit der Russischen Revolution einen ersten Höhepunkt fand. Auch wenn sie in der Folge  dahingehend falsch interpretiert wurde, dass der Kapitalismus „automatisch“ abtreten oder „absterben“ müsse/werde oder dass die Tendenz um Absterben bzw. Übergang in jeder Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche gleich ausgeprägt wäre. Im weltgeschichtlichen Sinn stellt sie jedoch eine Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus dar, daher eine von Kriegen und Revolutionen (und somit auch von Konterrevolutionen).

Lenins Epochenbegriff bezieht sich hier nicht nur auf die Ökonomie, sondern auf die Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Hier liegt die eigentliche, entscheidende Stärke seine Konzeption. Imperialismus wird nicht nur allgemein als Epochenbruch verstanden, sondern in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension (Klassenstruktur, Politik, Kultur etc.) erfasst.

Imperialistische Kette

Lenins Imperialismustheorie, insbesondere in ihren politischen Schlussfolgerungen, hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

Bei aller Kritik an ihr (siehe dazu weiter unten) gibt es in seiner Theorie einen damit zusammenhängenden Aspekt, der diesen Ansatz von allen anderen klassischen Imperialismustheorien positiv unterscheidet und zu politisch bedeutsamen Konsequenzen führt: Das ist der Gedanke der „imperialistischen Kette“. Während vor und im 1. Weltkrieg bei den TheoretikerInnen der Linken der 2. Internationale gewissermaßen „der Weltkapitalismus“ die Analyseebene war, sozusagen der Kapitalismus als sozioökonomische Struktur auf Weltebene gesehen wurde, führt Lenin die Differenzierung der „imperialistischen Kette“ ein (ein Gedanke, der ihm – dies nur nebenbei – auch seine einzigartige Position zur „nationalen Frage“ ermöglicht).

Der Begriff der imperialistischen Kette beinhaltet, dass die einzelnen Glieder nicht einfach als Nationalökonomien innerhalb eines globalen Weltkapitalismus begriffen werden, sondern als Staaten. D. h., es geht nicht nur um ökonomische, sondern auch um politische und militärische Faktoren, ja um die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Landes. Revolutionen fänden nicht zunächst in den Ländern statt, die am weitesten entwickelt sind, sondern die imperialistische Kette bricht am schwächsten Glied. Dieser Gedanke stellt einen grundlegenden Bruch mit dem ökonomistischen Marxismusverständnis der II. Internationale dar.

Der Kapitalismus bilde auf globaler Ebene keine einheitliche Struktur. Er stelle eine Verbindung verschiedener Ebenen nationalstaatlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen dar, wobei die „Kette“ als kapitalistische Kette reproduziert werden müsse. Die ökonomische Stärke bilde nur einen Faktor für den Handlungsspielraum eines imperialen Staates. Es ist jedoch die Gesamtheit der Klassenbeziehungen eines Staates, die diesen Handlungsspielraum determiniert (wobei diese wiederum durch internationale Konstellationen beeinflusst wird).

Veränderungen der Klassenstruktur

Die ökonomischen Merkmale – Monopol, Finanzkapital –, auf deren Boden der Imperialismus basiert, gehen nicht nur mit einem „Weltsystem“ einher. Sie führen natürlich auch zu einer grundlegenden Umwälzung der inneren Beziehungen jeder Nation, jedes Staates, der imperialistischen wie der vom Imperialismus beherrschten Länder.

Herrschaft des Finanzkapitals wäre undenkbar ohne eine massive Ausdehnung des repressiven Staatsapparates in allen imperialistischen Ländern, des Militarismus, der Überwachung, Durchdringung der Gesellschaft. Wie die Erfahrung zeigt, sind diese Entwicklungen durchaus auch mit der Ausdehnung formaler Demokratie und der Ausweitung demokratischer Rechte (Wahlrecht, formale Gleichheit etc.) vereinbar.

Damit geht eine viel engere Verquickung politischer und ökonomischer Macht einher als in der vorimperialistischen Epoche. Die Lenkung aller wesentlichen Geschäfte wird über Kanäle, „Netze“ von Abhängigkeitsverhältnissen mitbestimmt, die alle Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft umspannen.

Das Finanzkapital strebt, so Lenin, nach „Herrschaft“, nicht nach „Freiheit“. D. h., der Widerspruch zwischen demokratischen Forderungen und deren reaktionären Einschränkungen nimmt in der Epoche des Finanzkapitals zu. Generell geht der Imperialismus mit der Einschränkung der Demokratie einher, er ist „Reaktion auf ganzer Linie“. Auch wächst die Bedeutung reaktionärer Ideologien wie Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus in der imperialistischen Epoche.

Das führt zu einer Transformation des bürgerlichen Staates zur Formierung eines imperialistischen Staates/Staatapparats. Das sichert zugleich, dass die Vertiefung und viel stärkere Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat einhergehen mit der Ausdehnung der formalen parlamentarischen Demokratie in bestimmten Perioden der Entwicklung, insbesondere in den imperialistischen Staaten.

Die Ursache dafür liegt neben der Entwicklung des imperialistischen Staatsapparates auch in der Auswirkung des Imperialismus auf die Klassenformierung der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang können wir eine weitere Stärke von Lenins Imperialismustheorie festhalten: Mit der theoretischen Herausarbeitung der Entstehung und Existenz einer privilegierten Schicht der ArbeiterInnenklasse, der „ArbeiterInnenaristokratie“ in den imperialistischen Ländern gelingt es ihm, eine materialistische, klassenanalytisch fundierte Erklärung für den Opportunismus in der ArbeiterInnenbewegung und die Existenz einer ArbeiterInnenbürokratie zu geben.

Schon Engels beobachtete die Entstehung einer solch privilegierten Schicht im Britannien der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und bemerkte, dass sie eine soziale Basis des Opportunismus und bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik bilde. Er führt diese Entwicklung auf das Welthandelsmonopol des britischen Kapitalismus und dessen industrielle Überlegenheit zurück. Mit deren Niedergang verknüpft er die Erwartung, dass die sozialen Grundlagen für eine ArbeiterInnenaristokratie erodieren und damit auch der Opportunismus zurückgedrängt würde.

Entgegen seiner Prognose verallgemeinerte sich diese Entwicklung jedoch in allen imperialistischen Ländern. Selbst in den Halbkolonien entwickeln sich mehr oder weniger große Schichten der ArbeiterInnenaristokratie. Deren Entstehung (und das Wachstum bestimmter Teile der lohnabhängigen Mittelschichten) bedeutet in den imperialistischen Ländern auch eine wichtige Verbreiterung der sozialen Basis des Imperialismus. Zu Recht charakterisiert Lenin die ArbeiterInnenaristokratie als eine „soziale Hauptstütze“ des Imperialismus, deren Existenzquelle wesentlich die Extraprofite aus der kolonialen Ausbeutung bilden.

„Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der „Arbeiteraristokratie“, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie.“ [xlvii]

Die Etablierung und Reproduktion einer relativ stabilen ArbeiterInnenaristokratie wird in der imperialistischen Epoche zu einem Kennzeichen aller wichtigen kapitalistischen Länder. Erst auf dieser Grundlage kann sich eine ArbeiterInnenbürokratie auf politischer und gewerkschaftlicher Ebene festigen und über Jahrzehnte halten. Die Gewerkschaften wie die gesamte reformistische ArbeiterInnenbewegung werden durch die institutionelle Regulation des Lohnarbeitsverhältnisses (Tarifsystem, Betriebsräte, …) und dessen Verlängerung auf politischer Ebene (Reformen, Systeme der Inkorporation) eingebunden. Diese Institutionalisierung des Klassenverhältnisses geht mit einer Entpolitisierung und Formalisierung einher, die die bürokratische Kontrolle einer solcherart verknöcherten ArbeiterInnenbewegung befördert und verstärkt.

Hinzu kommt die Tendenz zur Inkorporation der Gewerkschaften und reformistischen ArbeiterInnenbewegung in den bürgerlichen Staat – insbesondere seit dem New Deal und mit Entwicklung der Nachkriegsordnung. Wie Trotzki in seinen Arbeiten über die Gewerkschaften nachgewiesen hat, war diese Tendenz auch in der tiefen Krise der 1920er und 1930er Jahre manifest. Kurz rekapituliert, Lenins Imperialismustheorie hatte erwiesenermaßen eine ausreichende Tiefe, um daraus richtige, revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen.

5. Lenins Imperialismustheorie und ihr Alter Ego – Trotzkis Theorie der permanenten Revolution

Der Beginn der imperialistischen Epoche läutet eine wichtige Transformation der internationalen sozialistischen Bewegung ein, die Entstehung vergleichsweise stabiler bürgerlicher Agenturen in der ArbeiterInnenklasse, die nicht nur eine spontane Tendenz zum bürgerlichen Bewusstsein in der Klasse zum Ausdruck bringen, sondern auch eine soziale Basis im imperialistischen System haben, einer ArbeiterInnenaristokratie (sowie die Ausweitung lohnabhängiger Mittelschichten) v. a. in den imperialistischen Ländern,  später auch in den Halbkolonien.

Zugleich war es auch eine Periode, in der das theoretische, programmatische und taktische Rüstzeug der ArbeiterInnenbewegung, wie es in der vorimperialistischen Epoche entwickelt und kodifiziert wurde, einem geschichtlichen Test unterzogen wurde.

Es waren große historische Ereignisse – darunter die erste Russische Revolution, der imperialistische Krieg –, die zur Zuspitzung der politischen Kämpfe in der Zweiten Internationale und ihren Parteien führten und zu einer Weiterentwicklung und zunehmend zu einer systematischen Abrechnung mit den inneren Schwächen der Zweiten Internationale zwangen.

Zweifellos haben nicht nur Lenin und Trotzki Anteil an den theoretischen und programmatischen Fortschritten dieser Periode. Aber sie stehen für zwei miteinander verbundene bahnbrechende Fortentwicklungen der marxistischen Theorie.

Trotzkis „Theorie der permanenten Revolution“, die zuerst anhand der Russischen Revolution 1905 entwickelt und später im Zuge des Kampfes gegen die stalinistische Degeneration und in deren Gefolge anhand der Erfahrungen der chinesischen Revolution weiterentwickelt und verallgemeinert wurde, gilt es hier besonders hervorzuheben.

In seiner Analyse der Russischen Revolution knüpft Trotzki (wie viele andere russische Revolutionäre) an Marx’ und Engels’ Charakterisierung der Rolle der Bourgeoisie in der 1848er Revolution und folgenden an. Die KapitalistenInnenklasse hätte die Revolution verraten, weil sie die sich entwickelnde ArbeiterInnenklasse und deren Bestrebungen, die Revolution „zu weit“ zu treiben, schon mehr fürchtete als die Reaktion der alten Feudalklassen, zumal sie auch erkannt hatte, dass letztere zwar das politische Regime, keineswegs aber die Produktionsverhältnisse, also die Gesellschaftsordnung selbst zurückzudrehen vermochte.

Diese Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie, die demokratische Revolution zu führen und ein ihr gemäßes politisches Regime gegen den Zarismus zu erkämpfen, erkannten auch Lenin und die Bolschewiki. Doch der entscheidende Schritt Trotzkis bestand darin, dass er erkannte, dass die Forderungen der Demokratie nur durch die Herrschaft der ArbeiterInnenklasse, nur durch das Weitertreiben der demokratischen Revolution zur sozialistischen erfüllt werden konnten – und dass umgekehrt, die ArbeiterInnenklasse diese Aufgabe nur lösen kann, wenn sie selbst an die sozialistische Umgestaltung der Produktion geht und die Russische Revolution untrennbar mit der sozialistischen Revolution im Westen verbindet.

Diese Konzeption wurde von der Geschichte spektakulär bestätigt. Anders als von den StalinistInnen und teilweise auch den SozialdemokratInnen später behauptet, stellte sie überhaupt keinen Bruch mit der Marx’schen Theorie dar. Im Gegenteil, schon im Kommunistischen Manifest oder vor allem in der Märzansprache an den Bund der Kommunisten vom März 1850 findet sich die Vorstellung der permanenten Revolution:

„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.“ [xlviii]

In den Briefen an Sassulitsch [xlix] entwickelt Marx in einer genialen Skizze den Gedanken der Verbindung der Russischen Revolution mit der des Westens – ein Beleg unter vielen, der zeigt, wie fremd Marx und Engels das Schema einer „Etappentheorie“ war, die in der „Orthodoxie“ der Zweiten Internationale Einzug gehalten hatte und zum politischen Credo des Stalinismus geworden war.

Die Fassung der Theorie der permanenten Revolution, die Trotzki im Laufe der Revolution 1905 entwickelt und in  „Ergebnisse und Perspektiven“ [l] darlegt, bricht entschieden mit der Vorstellung, dass die Russische Revolution nur einen bürgerlichen Charakter annehmen könne. Im Vorwort zur Neuauflage der Schrift 1919 fasst er den Standpunkt der Theorie der permanenten Revolution knapp zusammen:

„Der Standpunkt, den der Autor damals einnahm, kann in schematischer Weise folgendermaßen formuliert werden: Gemäß ihren nächsten Aufgaben beginnt die Revolution als bürgerliche, bringt dann aber sehr bald mächtige Klassengegensätze zur Entfaltung und gelangt nur zum Sieg, wenn sie die Macht der einzigen Klasse überträgt, die fähig ist, an die Spitze der unterdrückten Massen zu treten – dem Proletariat. Einmal an der Macht, will und kann sich das Proletariat nicht auf den Rahmen eines bürgerlich-demokratischen Programms beschränken. Es kann die Revolution nur dann zu Ende führen, wenn die russische Revolution in eine Revolution des europäischen Proletariats übergeht. Dann wird das bürgerlich-demokratische Programm der Revolution zugleich mit seinem nationalen Rahmen überwunden werden, und die zeitweilige politische Herrschaft der russischen Arbeiterklasse wird sich zu einer dauernden sozialistischen Diktatur weiterentwickeln. Wenn sich aber Europa nicht vom Fleck rührt, dann wird die bürgerliche Konterrevolution die Regierung der werktätigen Massen in Rußland nicht dulden und das Land weit zurückwerfen – weit hinter die demokratische Republik der Arbeiter und Bauern. An die Macht gekommen, darf sich das Proletariat daher nicht auf den Rahmen der bürgerlichen Demokratie beschränken, sondern muß die Taktik der permanenten Revolution entfalten, d. h. die Grenzen zwischen dem Minimal- und dem Maximalprogramm der Sozialdemokratie aufheben, zu immer tiefgreifenderen sozialen Reformen übergehen und einen direkten und unmittelbaren Rückhalt in der Revolution des europäischen Westens suchen. Diese Position soll die jetzt wieder herausgegebene Arbeit, die 1904 – 1906 geschrieben wurde, entwickeln und begründen.“ [li]

In diesem Vorwort verweist Trotzki zugleich auf eine objektivistische Schwäche seiner Position und der Schriften aus den Jahren 1904 – 1906, nämlich die Vorstellung, dass alle Flügel der russischen Sozialdemokratie – Bolschewiki wie Menschewiki – unter dem Druck der Revolution „gezwungen“ wären, eine ArbeiterInnenregierung zu bilden, die bürgerliche Revolution permanent zu machen und in eine sozialistische Richtung zu treiben. Er schreibt:

„Der Autor hat anderthalb Jahrzehnte den Standpunkt der permanenten Revolution verteidigt, er erlag aber bei der Einschätzung der miteinander kämpfenden Fraktionen der Sozialdemokratie einem Irrtum. Da sie damals beide von den Perspektiven einer bürgerlichen Revolution ausgingen, nahm der Autor an, daß die Meinungsverschiedenheiten nicht so tief wären, als daß sie eine Spaltung rechtfertigten. Zur gleichen Zeit hoffte er darauf, daß der weitere Gang der Ereignisse einerseits die Kraftlosigkeit und Ohnmacht der russischen bürgerlichen Demokratie, andererseits die Tatsache, daß es für das Proletariat objektiv unmöglich sei, sich im Rahmen eines demokratischen Programms an der Macht zu halten, allen deutlich zeigen und so den Meinungsverschiedenheiten der Fraktionen den Boden entziehen würde.“ [lii]

Spätestens 1917, mit dem Übergang zum Bolschewismus bricht Trotzki mit diesem versöhnlerischen Verständnis der Partei und der objektivistischen Vorstellung, die durchaus den spontaneistischen Schwächen Luxemburgs ähnelte, dass die Macht der Ereignisse auch die OpportunistInnen wider Willen und Bewusstheit zum revolutionären Handeln zwingen würde.

Für unseren Zusammenhang – also das Verständnis der Bedeutung des Imperialismusbegriffes – noch wichtiger ist, dass Trotzki in den 1920er Jahren die Verallgemeinerung der Theorie mit dem Verständnis der Epoche knüpft.

Den kolonialen und halbkolonialen Ländern ist keine „aufholende“, die fortgeschritteneren Länder nachahmende Entwicklung mehr möglich, weil das kapitalistische Weltsystem bereits etabliert und unter einer Reihe imperialistischer Großmächte aufgeteilt ist. Die demokratische Revolution kann daher in den halbkolonialen Ländern nur unter Führung der ArbeiterInnenklasse im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft durchgeführt, also nur durch das Hinüberwachsen zur sozialistischen Revolution durchgeführt werden.

„In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, daß die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.“ [liii]

Auch wenn das Proletariat daher in den „rückständigeren“ Ländern leichter an die Macht kommen mag, so kann die Umwälzung zum Sozialismus im nationalen Rahmen nicht geleistet werden. Diese Möglichkeit hängt vielmehr von Beginn an von der internationalen Entwicklung entscheidend ab.

Schließlich verweist Trotzki immer wieder darauf, dass von einer endgültigen sozialistischen Umwälzung überhaupt nur im internationalen Rahmen gesprochen werden kann. Ein „nationaler Aufbau“, der „Sozialismus in einem Land“ ist nirgendwo möglich, selbst im fortgeschrittensten kapitalistischen Land der Welt nicht.

„Der Abschluß einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, daß die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluß nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planenten.“ [liv]

Trotzkis Theorie der permanenten Revolution stellt für die Entwicklung des revolutionären Marxismus einen Meilenstein des 20. Jahrhunderts dar. Für die theoretische und programmatische Fortentwicklung des Kommunismus steht sie auf einer Stufe mit Lenins Imperialismustheorie oder mit der Marx’schen Analyse des 18. Brumaire des Louis Bonaparte und später der Commune [lv].

Dass Lenin selbst zur Theorie der permanenten Revolution überging, die er vor dem Ersten Weltkrieg scharf bekämpft hatte (wenn auch keineswegs in der „Schärfe“, wie die StalinistInnen gern darstellen), bedarf aber einer Erklärung. Sicherlich mag Trotzkis Übergang zum bolschewistischen Parteiverständnis dabei geholfen haben, erklärt dies aber nicht.

Wichtiger ist vielmehr erstens, dass Lenins Verständnis der Russischen Revolution und der Losung der „demokratischen Diktatur der ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen“ immer eine eingeständige Klassenpolitik des Proletariats inkludierte. Hierin liegt übrigens ein substantieller Unterschied zur Verwendung dieses Terminus durch den Stalinismus, bei dem diese Formel zu einer der Unterordnung der ArbeiterInnenklasse unter die nationale Bourgeoisie führt. Insofern hatte sie einen, wie Trotzki richtig bemerkt, „algebraischen“ Charakter, was zur Folge hatte, dass jede zukünftige Revolution eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft, des Inhalts dieser Klassenpolitik und des Klassencharakters der Regierungsform, die die Revolution hervorbringen sollte, erfordern würde. In den Aprilthesen hatte sich Lenin anhand der Erfahrungen der Russischen Revolution diesem Problem gestellt – und war, wie Kamenew und andere rechte Bolschewiki zu dieser Zeit richtig bemerkten, zur Position Trotzkis übergangen, ein Übergang, ohne den der Sieg des Proletariats in der Oktoberrevolution, ja, die Oktoberrevolution selbst unmöglich gewesen wäre.[lvi]

Diese Wende hatte sich jedoch schon länger vorbereitet, nämlich in der Analyse des imperialistischen Krieges, der Entwicklung der Politik des revolutionären Defätismus und der politischen Schlussfolgerung, dass die Aufgabe des Proletariats im Kriege darin bestünde, den imperialistischen Krieg zu einem „Bürgerkrieg gegen die eigene Bourgeoisie“ umzuwandeln und zur Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse zu nutzen. Darin zeigt sich im Grunde schon ein Übergang zur Theorie der permanenten Revolution. Es ist kein Zufall, dass Lenin die politischen und programmatischen Konsequenzen, überhaupt die revolutionäre Politik im Krieg gründlicher und klarer als jede/r andere MarxistIn seiner Zeit ausarbeitete.

Ein Verdienst dieser Arbeit bestand gerade darin, dass Lenin in der Kritik des „imperialistischen Ökonomismus“[lvii] das Verhältnis von demokratischen (insbesondere des Rechts auf nationale Selbstbestimmung) und ökonomischen Forderungen im Kampf für die sozialistische Revolution präzise darlegte.

Lenin geht im Anschluss an seine Imperialismustheorie, und auch hier im Grunde in einer Parallele zur Theorie der permanenten Revolution, davon aus, dass die imperialistische Epoche generell eine der Einschränkung demokratischer Rechte bedeutet, dass die Entrechtung unterdrückter Nationen und Nationalitäten verschärft wird usw. Daraus folgert er, dass die demokratischen Fragen einen überaus explosiven Charakter erhalten werden, dass sich daher das Proletariat, will es die nichtproletarischen Massen in den Kolonien und Halbkolonien gewinnen, als Verbündeter auf die Seite der Unterdrückten stellen und um die politische Führung im Kampf um die demokratischen Aufgaben kämpfen müsse.

Andersherum: Lenin zeigt, dass in der imperialistischen Epoche eine systematische Verknüpfung der Aufgaben der bürgerlichen Revolution mit dem sozialistischen Kampf möglich ist. Er verweist dabei schon gelegentlich darauf, dass ebenso eine systematische Verknüpfung der ökonomischen Tagesaufgaben mit dem Kampf um die sozialistische Revolution notwendig ist.

6. Der programmatisch-methodische Durchbruch der Kommunistischen Internationale und des Übergangsprogramms

Diese beiden theoretischen Errungenschaften, untrennbar mit Lenin und Trotzki verknüpft, sind freilich nicht einfach nur das Werk zweier großer Theoretiker und Revolutionäre. Sie bilden vielmehr Teil einer kollektiven Anstrengung und lebendigen Debatte, gründlichen Forschung und scharfer Polemik, die die Entwicklung der Linken in der Zweiten Internationale und die Frühphase der Kommunistischen Internationale prägte.

In der Zweiten Internationale war – auch bei den Linken – das programmatische Verständnis vom Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie geprägt. Diese klassische Fassung eines Minimal-/Maximalprogramms stand als Blaupause für die Programme vieler sozialdemokratischer, formell marxistischer Parteien, darunter auch der österreichischen, der Parteien auf dem Balkan oder der russischen.

Es wäre eine ahistorische Verkürzung, das Erfurter Programm mit den reformistischen Programmen unserer Epoche nur textlich zu vergleichen. Gerade der von Kautsky verfasste und von Engels begrüßte einleitende Teil stellt einen großen Fortschritt gegenüber dem Gothaer Programm dar und verortet den Grundsatzteil auf den Boden des Marxismus. Der Minimalteil war schon 1891 von Engels heftig kritisiert worden wegen seines opportunistischen Charakters.[lviii]

Die Trennung von Minimal- und Maximalprogramm stellte außerdem nicht einfach eine politische und theoretische Abweichung dar, sondern spiegelte den Charakter einer ganzen Entwicklungsphase, vor allem nach der Niederschlagung der Pariser Commune, wider, einer relativ stetigen Entwicklung, die auch einer ebensolchen Entwicklung der Politik von Partei und Gewerkschaften entsprach.

„Der Begriff der revolutionären Strategie hat sich erst in den Nachkriegsjahren durchgesetzt, ursprünglich zweifellos unter dem Einfluß der militärischen Terminologie. Aber er hat sich keineswegs zufällig durchgesetzt. Vor dem Krieg sprachen wir nur von der Taktik der proletarischen Partei, und dieser Begriff entsprach genau genug den damals herrschenden gewerkschaftlichen und parlamentarischen Methoden, die nicht über den Rahmen alltäglicher Anforderungen und Aufgaben hinausgingen. Die Taktik bezieht sich auf ein System von Maßnahmen, die auf eine besondere, naheliegende Aufgabe oder oder auf ein besonderes Feld des Klassenkampfes bezogen sind. Die revolutionäre Strategie hingegen umfaßt ein kombiniertes System von Aktionen, die in ihrer Kombination und Konsequenz darauf abzielen, das Proletariat zur Eroberung der Macht zu führen.“ [lix]

Doch mit dem Beginn der imperialistischen Epoche werden die Grenzen des sozialdemokratischen Programms deutlicher, die innerparteilichen Gegensätze in der sozialistischen Bewegung verschärften sich. Der rechte Flügel schritt praktisch zur Tat bis hin zum Ministerialismus in Frankreich, verfocht dies organisatorisch, z. B. im Ruf nach der Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Partei und in jeder Zurückweisung verpflichtender – als zu radikal begriffener –, Fragen, wie sich z. B. in der Generalstreikdebatte oder auch bei den Kongressen der II. Internationale zeigte. Interessanterweise versuchten zuerst TheoretikerInnen des rechten Flügels der opportunistischen Praxis höhere Weihen zu verleihen und eine Revision des Marxismus vorzunehmen. Beispielhaft dafür steht der theoretische Angriff Bernsteins auf die revolutionäre Theorie.

Schon diese Tatsache ist bezeichnend, weil sie die veränderte, zunehmend rein ökonomisch reduzierte Arbeit der Gewerkschaften und die parlamentarische, reformistische Ausrichtung vieler Parteien widerspiegelt. Noch mehr zeigt sich eine wachsende Differenz zwischen dem formell marxistischen (zentristischen) Zentrum der Zweiten Internationale und der internationalen Linken, die die zuerst um Fragen der Parteitaktik hervorbrechenden Differenzen als Grundsatzfragen zu begreifen beginnt und einen entschlosseneren Kampf gegen die Rechten fordert.

Die historischen Errungenschaften dieser Kämpfe – oft mit dem Namen Luxemburgs verbunden – bestehen darin, die marxistische Orthodoxie auf theoretischer Ebene (z. B. in Sozialreform oder Revolution) zu verteidigen und zur Entwicklung der revolutionären Taktik der ArbeiterInnenbewegung neue Anstöße zu geben. Die Linke greift in ihren Polemiken und Aktivitäten nicht zufällig Themen auf, die auch heute oft den Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen gemäßigtem und radikalem Flügel der ArbeiterInnenbewegung bilden – Fragen der Unterdrückung der Frauen und der Jugend; die Kolonialfragen und Fragen der Migration; Militarismus und Kriegsfrage; Verhältnis von Kampfmethoden zu Reform und Revolution (siehe Generalstreikdebatte).

Aber ihre Kritik bewegt sich selbst noch wesentlich auf der Ebene des Minimal-/Maximalprogramms, sprich auf der der grundsätzlichen Revision des Marxismus durch die Rechten, oder auf der Ebene der Taktik. Die Frage der Strategie, ja, den Begriff der Strategie im Unterschied zur Taktik kennt die Zweite Internationale nicht.

In den Revolutionen 1917/1918 wird die Notwendigkeit des Bruchs mit den alten Programmen der sozialdemokratischen Parteien offensichtlich (wie die Neugründung Kommunistischer Parteien). Das trifft nicht nur auf Russland und die Bolschewiki zu. Es zeigt sich auch in Deutschland.

Auf dem Gründungsparteitag der KPD bezieht sich Luxemburg direkt auf die Notwendigkeit, das Erfurter Programm, das Minimal-/Maximalprogramm hinter sich zu lassen. In der Programmrede auf dem Gründungspartei der KPD erklärt sie zum Programm:

„Es befindet sich im bewußten Gegensatz zu dem Standpunkt, auf dem das Erfurter Programm bisher steht, im bewußten Gegensatz zu der Trennung der unmittelbaren, sogenannten Minimalforderungen für den politischen und wirtschaftlichen Kampf von dem sozialistischen Endziel als einem Maximalprogramm. Im bewußten Gegensatz dazu liquidieren wir die Resultate der letzten 70 Jahre der Entwicklung und namentlich das unmittelbare Ergebnis des Weltkrieges, indem wir sagen: Für uns gibt es jetzt kein Minimal- und kein Maximalprogramm; eines und dasselbe ist der Sozialismus; das ist das Minimum, das wir heutzutage durchzusetzen haben.“ [lx]

Ihre Lösung ist freilich ungenügend, zum Teil problematisch: Das Maximalprogramm sei nun das Minimalprogramm, das Minimalprogramm gleich der Diktatur des Proletariats. Diese Aussage mag für eine revolutionäre Lage angehen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass sich Luxemburg sehr wohl der Notwendigkeit bewusst war, dass die neu gegründete KPD Tages- und Übergangslosungen brauchte, um die Revolution zu vertiefen, und Taktiken entwickeln musste, um überhaupt erst in der Avantgarde der Klasse, geschweige denn in der Masse des Proletariats Fuß zu fassen.

Bei Luxemburgs Formulierung erhebt sich jedoch auch die Frage, wie sich das Verhältnis von Minimal- und Maximalteil gestaltet, sollte die ArbeiterInnenklasse den revolutionären Ansturm nicht zur Machtergreifung nutzen können, sollte die herrschende Klasse neues Selbstvertrauen gewinnen und die Lage zeitweilig stabilisieren können. Musste dann das alte Minimal-/Maximalprogramm doch wieder herhalten? Oder sollte die revolutionäre Lage künstlich durch die permanente Offensive der revolutionären Minderheit wiederhergestellt werden, wie es die Ultralinken vorschlugen?

Genau auf diese Frage gibt die Kommunistische Internationale auf ihren ersten vier Kongressen (v. a. auf dem zweiten, dritten und vierten) eine Antwort – die Entwicklung der Übergangsforderungen, genauer: der Methode des Übergangsprogramms. Auch wenn die KI letztlich nie ein solches Programm annahm, so hat sie auf den ersten vier Kongressen einen historischen Beitrag dazu geleistet. Ihre Debatten, Thesen und Resolution sind bis heute eine unerlässliche Schule der kommunistischen Strategie und Debatte. Die ersten vier Kongresse waren auch eine wichtige Quelle für die Bestimmung nicht nur des Charakters der Epoche, sondern auch konjunktureller Entwicklungen des Klassenkampfes.

„Revolutionäre Politik ist ohne revolutionäre Theorie undenkbar. Hier wenigstens müssen wir nicht von vorn anzufangen. Wir stehen auf dem von Marx und Lenin geschaffenen Fundament. Die ersten Kongresse der Kommunistischen Internationale haben uns ein unschätzbares programmatisches Erbe hinterlassen. Die Charakterisierung der gegenwärtigen Epoche als der Epoche des Imperialismus, d. h. einer Epoche des kapitalistischen Niedergangs; das Wesen des gegenwärtigen Reformismus und die Methoden zu seiner Bekämpfung; die Beziehung von Demokratie und proletarischer Diktatur; die Rolle der Partei in der proletarischen Revolution; die Beziehungen zwischen Proletariat und Kleinbürgertum, insbesondere zwischen Proletariat und Bauernschaft (die Agrarfrage); die nationale Frage und der Befreiungskampf der Kolonialvölker; die Arbeit in den Gewerkschaften; die Einheitsfront-Politik; das Verhältnis zum Parlamentarismus usw. – all diese Fragen sind von den ersten vier Kongressen in bisher unübertroffener Weise prinzipiell geklärt worden.“ [lxi]

Natürlich bildete auch die beste Debatte keine Garantin gegen Fehler. Das Ausbleiben der Weltrevolution und Niederlagen hatten natürlich schon vor der Degeneration der Russischen Revolution und der Komintern zu Bürokratisierungstendenzen geführt, die ihrerseits durch politische Fehler und daraus folgende Niederlagen verschlimmert wurden.

Ohne Zweifel war das Versäumnis, die revolutionäre Situation im Sommer 1923 in Deutschland überhaupt als solche wahrzunehmen, ein Kardinalfehler nicht nur der KPD, sondern auch der gesamten Komintern. Die Niederlage des deutschen Oktober warf das Proletariat in ganz Europa weit zurück und stabilisierte die bürgerliche Herrschaft (gemeinsam mit der Wirksamkeit des Dawes-Plans).

Die „Analyse“ der Niederlage durch die KPD und die Komintern signalisieren freilich auch einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der KI, auch ihrer Analyse. In  „Die neue Etappe“ [lxii] aus dem Jahr 1921 nimmt Trotzki auf dem dritten Weltkongress eine genaue, konkrete Analyse der Weltlage und der Frage revolutionärer Strategie und Taktik vor. Er begnügt sich nicht damit, den Charakter der imperialistischen Epoche als solchen nachzuweisen, sondern zeigt, warum ein dauerhaftes „kapitalistisches Gleichgewicht“ nicht wiederhergestellt werden konnte (einschließlich der hypothetischen Betrachtung, auf welcher Grundlage das im Verlauf von zwei bis drei Jahrzehnten  möglich wäre). Er zeigt, warum „die Weltsituation und die Perspektiven“ einen „tiefen revolutionären Charakter“ tragen. Zugleich stellt er aber in Rechnung, dass das „Gleichgewicht“ des Kapitalismus „sehr elastisch“ ist und „große Widerstandskraft“ besitzt, auch wenn die Lage, wie er selbst wiederholt betont, nach wie vor „äußerst revolutionär ist“.

Schließlich weist er – und das ist in gewisser Weise das Thema des KI-Kongress – darauf hin, dass die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse und Fehler der revolutionären ArbeiterInnenbewegung auch die Herrschaft der Bourgeoisie gefestigt hätten, ihr Selbstvertrauen, ihren Apparat, die konterrevolutionäre Rolle der ArbeiterInnenbürokratie stärkten. Statt einer ultralinken, abenteuerlichen Politik wäre daher eine Politik der Eroberung der Massen notwendig. Trotzki verweist dabei darauf, dass es keine mechanische Ableitung aus ökonomischen Krisenphänomenen zu ihrer politischen Ausformung gibt, dass daher die taktischen Aufgaben der revolutionären Parteien nicht mechanisch aus dem Charakter einer Epoche oder der „fundamentalen“ Betrachtung der Widersprüche, die zu einer weiteren Auflösung relativer Stabilität (oder überhaupt zu deren Verhinderung) führen, „abgeleitet“ und deduziert werden können. Die Sphären der Politik und des Verhältnisses zwischen den Klassen sind sehr viel vermittelter und wirken auch ihrerseits auf die Möglichkeit (oder Nicht-Möglichkeit) der herrschenden Klasse ein, das Gesamtsystem weiter zu stabilisieren.

Ganz anders verhält sich die Dritte Internationale nach dem 4. Weltkongress. Angeführt von Sinowjew setzt eine impressionistische und sterile Politik ein.

Nach ganz offensichtlichen und schweren Niederlagen wie im Oktober 1923 in Deutschland hieß es auf dem 5. Kominternkongress dazu lapidar: „Die Fehler in der Einschätzung des Tempos der Ereignisse [was für Fehler? L. T.], begangen im Oktober 1923, haben der Partei viele Schwierigkeiten gebracht. Dies ist trotz allem nur eine Episode. Die grundlegende Einschätzung bleibt bestehen.“ [lxiii]

Statt die Ursachen der Niederlage zu analysieren und eine entsprechende Neuausrichtung der deutschen Sektion zu beschließen, wurde die falsche Politik der Komintern als „im Prinzip richtig“ fortgeschrieben und nur die verantwortlichen „Umsetzer“ in Deutschland – die damalige Parteiführung um Heinrich Brandler – als „Parteirechte“ abgesetzt. Hier zeigte sich die Komintern-Führung bereits als typisch bürokratische Maschinerie, der die Selbstbeweihräucherung wichtiger ist als eine wirklich revolutionäre Führung.

Auch wenn der 5. Kongress noch eine Reihe richtiger Positionen gegen prinzipienlose Blockpolitik, falsch verstandene Einheitsfrontpolitik und andere rechte Abweichungen beschloss, so gab er auf die entscheidenden Fragen der internationalen Politik keine Antworten: auf die der neuen strategischen Orientierung nach dem Ende der revolutionären Nachkriegsperiode in Europa wie auch auf die immer drückender werdende von Bürokratisierung der Sowjetunion und ihrer weiteren ökonomischen Entwicklung angesichts des Ausbleibens der Revolution im Westen. Wie Trotzki es formulierte, wurde auf dem Kongress „jede Mücke eingehend beschaut und die Kamele glatt“ übersehen. [lxiv]

Der fünfte Kongress begann außerdem auch mit einer Abkehr von der Methode der Übergangsforderungen – beispielsweise in der falschen Identifizierung von ArbeiterInnenregierung und Diktatur des Proletariats. Die Ultralinken in der KI (in der KPD z. B.) nutzten die Gelegenheit, Übergangsforderungen wie jene nach ArbeiterInnenkontrolle überhaupt als „reformistisch“ und „sozialdemokratisch“ zu denunzieren.

Diesen Kurs setzte die stalinisierte Komintern mit Siebenmeilenschritten fort. Mit der Proklamation einer neuen, „Dritten Periode“, die eine Vertiefung der kapitalistischen Krise proklamierte, wurde der Grundstein für eine ultralinke Wendung vollzogen. Das Programm der Komintern, entworfen von Bucharin und angenommen auf dem 6. Kongress, ersetzte die konkrete Analyse vollends durch eine Sammlung allgemeiner Wahrheiten und eine Kanonisierung der „richtigen Linie“, der ihr Verfasser kurz darauf selbst zum Opfer fiel.

Die Stalinparteien führten in der „Dritten Periode“ den Kampf gegen jede Form von Übergangsforderungen – ein historisches Erbe, das jeder Form von Stalinismus bis heute anhaftet. Unwillkürlich bereitete der Stalinismus wie auf vielen anderen Ebenen die Rückkehr zur Theorie und Programmatik der Sozialdemokratie – in diesem Fall zum Minimal-/Maximalprogramm vor. Auch die „Krisentheorie“ wurde unter Stalin zu einer Rechtfertigungsideologie.

Nur Trotzki und die Vierte Internationale verteidigten die Methode der frühen Komintern und kodifizierten sie im Übergangsprogramm von 1938, dessen Methode bis heute Grundlage für das Herangehen von RevolutionärInnen an die Fragen des Programm ist.

7. Partei als Kampforganisation, Internationale als internationaler Kampfverband

Ebenso wie die Frage des Charakters des Programms und der politischen Praxis der ArbeiterInnenbewegung stellt die imperialistische Epoche die vorherrschende Parteiform der Zweiten Internationale auf den Prüfstand der Geschichte.

Die Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Debatten in der russischen Sozialdemokratie und insbesondere das Scheitern der Zweiten Internationale im Krieg verdeutlichten die Notwendigkeit einer Partei und Internationale „neuen Typs“.

Es waren revolutionäre Kampforganisationen, die auf einer gemeinsamen, wissenschaftlich fundierten Programmatik, gemeinsamer Disziplin, einer aktiven, klassenbewussten Mitgliedschaft und verantwortlichen Führung, auf einem durch die Prinzipien des demokratischen Zentralismus regulierten Parteileben beruhten.

Anders als für bürgerliche oder reformistische Parteien war und ist das Programm für KommunistInnen keine Sammlung von Wünschen oder beliebigen Zielen. Es stellt eine Anleitung zum Handeln dar, ist eine Grundlage, die die Partei nicht nur ideell verbindet, sondern auch für die Aktion, zum Kampf ausrichtet und ihren Weg weist, überprüfbar und auch korrigierbar macht.

Anders als die Zweite Internationale, die letztlich eine Föderation nationaler Parteien darstellte, bildete die Dritte bis zu ihrer stalinistischen Degeneration eine Internationale, der nationale Sektionen angegliedert und ihrer revolutionären Disziplin untergeordnet waren – ein Prinzip, auf dem auch die revolutionäre, frühe Vierte Internationale basierte.

Die Bestimmung der Partei als Kampforganisation stellt das zentrale und unverzichtbare Instrument dar, die Klasse zum Sturz des Kapitalismus zu führen. Das schließt notwendigerweise nicht nur den Kampf gegen die unmittelbaren VertreterInnen und Parteien der herrschenden Klasse ein, sondern auch gegen ihre AgentInnen in der ArbeiterInnenklasse – Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Im Unterschied zu frühen OpponentInnen des Marxismus in der ArbeiterInnenbewegung des 19. Jahrhunderts, die keine feste soziale Basis in der Gesellschaft hatten oder oft den Standpunkt historisch überholter Klassen vertraten, besitzt die ArbeiterInnenbürokratie im imperialistischen System eine strukturelle, soziale Basis – die Absonderung der ArbeiterInnenaristokratie als privilegierte Schicht der Klasse –, die erst mit dem Untergang des Imperialismus selbst verschwinden wird, und auch das nicht mit einem Schlag, sondern nur während einer längeren oder kürzeren Übergangsperiode.

Umgekehrt bedeutet das aber, dass eine revolutionäre Avantgardepartei und Internationale in der imperialistischen Epoche umso unverzichtbarer sind: Ein Zurückweisen der leninistischen Partei und Führung als Voraussetzung jeder erfolgreichen, genuin proletarischen Revolution ist daher nicht nur mit dem marxistischen Revolutionsverständnis, sondern auch mit einem revolutionären Verständnis der imperialistischen Epoche unvereinbar.

8. Schwächen der Theorie Lenins

Nach der Darstellung von zentralen Errungenschaften der Lenin’schen Imperialismustheorie und ihres damit einhergehenden programmatischen Erbes, das bis heute eine unverzichtbare Grundlage jeder revolutionären Politik darstellt, müssen wir jedoch auch auf Schwächen seiner Theorie eingehen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden diese vom revolutionären wie vom akademischen Marxismus zwar immer wieder thematisiert, ohne jedoch zu einer befriedigenden Lösung, also zu einer Erweiterung und Reformulierung der Imperialismustheorie geführt zu haben. Im Gegenteil, viele KritikerInnen Lenins, die durchaus zu Recht auf die fehlende Integration der Marx’schen Krisentheorie, des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und auf Schwächen des Monopolbegriffs hinwiesen, kippten selbst das Kind mit dem Bade aus. Erstens identifizierten sie oft fälschlich die Theorie Hilferdings mit der Lenins, zweitens verwarfen sie auch gleich jede Imperialismustheorie – damit auch den Antiimperialismus.

Um die Schwierigkeiten von Lenin zu begreifen, seine Imperialismustheorie konsequent auf den Boden der Marx’schen Kapitalanalyse zu stellen, müssen wir diese im Kontext der theoretischen Entwicklung und Diskussion der 2. Internationale und der verschiedenen theoretischen Erklärungen sehen.

In seiner Broschüre definiert Lenin den Imperialismus ökonomisch als das monopolistische Stadium des Kapitalismus. „Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist.“ [lxv]

Oder ausführlicher:

„Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist die Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, daß daraus das Monopol entstand und entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten. Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.“ [lxvi]

Lenin leitet hier die Entstehung des Imperialismus und neuer, vorherrschender Kapitalformen im wesentlichen aus dem Zentralisations- und Konzentrationsprozess des Kapitals ab, der eine neue, qualitative Stufe der Vorherrschaft großer Kapitalgruppen in den Zentren eingenommen hätte. Lenin führt dies auch recht plastisch anhand der wichtigsten Großmächte seiner Zeit – insbesondere anhand der Entwicklung des deutschen Imperialismus aus. Er verweist in seiner Kritik am Utopismus der kleinbürgerlichen Antitrustbewegung in den USA darauf, wie hoffnungslos unmöglich und reaktionär die Rückkehr einer romantisierten Marktwirtschaft, kleiner, scheinbar unabhängiger ProduzentInnen geworden sei. Hoffnungslos und unmöglich, weil die höhere Konzentration und Zentralisation des Kapitals eine höhere Entwicklung der Produktivität und Technik, einen gesellschaftlich höher stehenden Stand der Produktion und Verteilung darstellt. Reaktionär wäre die Zerschlagung der Großunternehmen oder Monopole, weil sie einen Rückschritt bedeuten würde, da mit ihrer Zerschlagung auch ein integrierter, wenn auch für die bornierten Zwecke des Kapitals zurechtgestutzter, planmäßig abgestimmter, Arbeitsprozess zerstückelt würde.

Der rasche Konzentrations- und Zentralisationsprozess und darüber die Verwandlung der Konkurrenz in Monopole, besonders, aber nicht nur, im Bank- und Kreditwesen stellen zweifellos historische Entwicklungstendenzen und empirisch nachvollziehbare Fakten dar.

Problematisch erweist sich jedoch die Gegenüberstellung von Konkurrenz und Monopol. Wenn wir das Monopol oder  Trusts, Kartelle und anderen Organisationsformen der Monopole betrachten, so zeigt sich ein ungelöstes Spannungsverhältnis bei Lenin. Die „freie Konkurrenz“ wird einerseits als Grundeigenschaft des Kapitalismus und der Warenproduktion überhaupt bestimmt. Andererseits wird mit dem Monopol nicht nur eine bestimmte Kapitalgruppe gebildet, sondern eine, in deren innerem Bereich die Konkurrenz weitgehend verschwunden und aufgehoben sei, selbst wenn es sich beim Monopol um mehrere Kapitale handle. Das Monopol tritt nicht einfach neben die Konkurrenz, sondern anstelle der Konkurrenz, was das Verhältnis der dominierenden Kapitalgruppen in einer Nationalökonomie zueinander betrifft.

Zweifellos liegt eine gewisse Stärke von Lenin darin, dass er diese Tendenz wie im obigen Zitat auch relativiert und darauf verweist. „Zugleich aber beseitigen die Monopole nicht die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, sondern bestehen über und neben ihr und erzeugen dadurch eine Reihe besonders krasser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte.“

Um welche Widersprüche, welche Reibungen und Konflikte es sich dabei handelt, bleibt jedoch unklar. Bei diesen Formulierungen zeigt sich aber auch der Einfluss von Hilferdings „Das Finanzkapital“ aus dem Jahr 1910, wo dem Verhältnis von Finanzkapital und freier Konkurrenz sowie dem von Finanzkapital und Krisen zwei Abschnitte gewidmet sind.

Hilferding verweist zwar an einigen Stellen auf die Bedeutung der Marx’schen Krisentheorie und des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, zugleich stellt er zum Verhältnis von Kartellierung und Konkurrenz Folgendes fest:

„Die Kartelle bewirken, daß die Konkurrenz innerhalb eines Produktionszweiges aufhört oder, besser gesagt, latent wird, daß die preissenkenden Wirkungen der Konkurrenz innerhalb dieser Sphäre nicht zur Geltung kommen; sie bewirken zweitens, daß die Konkurrenz der kartellierten Sphären auf Grund einer höheren Profitrate vor sich geht gegenüber den nichtkartellierten Industrien. Aber sie können nichts ändern an der Konkurrenz der Kapitalien um die Anlagesphären, an den Wirkungen der Akkumulation auf die Preisgestaltung und deshalb die Entstehung von Disproportionalitätsverhältnissen nicht verhindern.“ [lxvii]

Für Hilferding kann zwar die Kartellierung oder Monopolisierung einzelner Branchen die Konkurrenz nicht ausschalten. Entscheidend ist jedoch, dass – anders als bei Marx – die Ausgleichsbewegung der Profitraten zwischen den Branchen, genauer zwischen kartellierten und nichtkartellierten Sektoren nicht stattfindet. Diese bilden vielmehr beständig, der Tendenz nach zunehmend, unterschiedliche Profitraten heraus. Das Kartell kann sich der Ausgleichsbewegung einer einheitlichen Profitrate des Gesamtkapitals nicht nur entziehen, es breitet seine Sphäre beständig aus, vergrößert also den Bereich, in dem die Konkurrenz außer Kraft gesetzt ist. Damit kann die Ausgleichsbewegung zur gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate logischerweise nicht die Bewegungen des nationalen Gesamtkapitals regulieren. Sie wirkt allenfalls im nichtkartellierten Sektor. Dasselbe gilt für das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Hilferdings Verweise darauf, die sich im „Finanzkapital“ durchaus finden, wirken als Fremdkörper.

Anders als in den 1920er Jahren wird die Bildung eines Generalkartells, das die gesamte kapitalistische Ökonomie planmäßig regulieren könne und solle, von Hilferding 1910 noch als „soziale und politische Unmöglichkeit“ verworfen, auch wenn es rein ökonomisch möglich wäre. Die Ursachen für die Krise des Kapitalismus bilden freilich nicht die Überakkumulation von Kapital und der tendenzielle Fall der Profitrate, sondern die Disproportionen zwischen den verschiedenen Branchen, die aus dem anarchischen Charakter der Produktion erwüchsen und sich im Imperialismus aufgrund des Gegensatzes von kartellierten und nichtkartellierten Sektoren massiv steigerten.

Lenin übernahm Hilferdings „Finanzkapital“ keineswegs kritiklos, sondern er polemisierte durchaus heftig gegen bedeutende theoretische Schwächen, so z. B. gegen dessen falsche Geldtheorie und die damit verbundene Unterschätzung von Finanz- und Bankenkrisen in der imperialistischen Epoche. Zugleich schimmert jedoch auch bei Lenins Konzeptualisierung der Konkurrenzfrage Hilferding durch. Die Konkurrenz, Reibungen und Widersprüche erwachsen wesentlich aus den nichtmonopolisierten Sphären und ihrem Verhältnis zu den monopolisierten. Daher findet sich auch bei ihm keine Behandlung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate, daher auch keine Integration der Marx’schen Krisentheorie in seinem Werk.

Sicherlich hängt das damit zusammen, dass der zentrale Zwecke seiner Imperialismustheorie darin bestand, eine politische und theoretische Orientierung zu geben und eine revolutionäre Programmatik (Defaitismus, internationale Strategie, Programm für die Russische Revolution, zur nationalen Frage, …) herzuleiten und nicht 1916 „nebenbei“ sämtliche Fragen zu beantworten, die MarxistInnen in den letzten mehr als 100 Jahren umtrieben. Dass seine Theorie nicht primär an Fragen orientiert war, die sich im Laufe der Entwicklung als problematisch erwiesen, kann ihm daher, wenn überhaupt, nur sehr bedingt angekreidet werden.

Dennoch müssen wir nach diesen Ausführungen zu einem Kernpunkt der Schwäche kommen, der erklärt, warum die Integration von Krisen- und Imperialismustheorie bis heute solche Probleme bereitet. Lenins Konzeptualisierung des Verhältnisses von Monopol und Konkurrenz bleibt hinter einem wesentlichen Moment des Marx’schen Kapitalbegriffs zurück. Lenin gelingt es nicht, die Erscheinungsformen der Kapitalbewegung auf der Grundlage der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Produktion und Reproduktion zu begründen.

Bei den Marx´schen Ausführungen (im „Kapital“) ist zu unterscheiden zwischen den allgemeinen Bestimmungen bzw. abstrakten Bewegungsgesetzen des Kapitals und den realen historischen Formen, in denen sie sich darstellen.

Im Band 3 des „Kapital“ geht es eben nicht um eine konkrete Phase der „freien Konkurrenz“ des Kapitalismus, sondern die „freie Konkurrenz“ ist hier eine Abstraktion. Marx will aufzeigen, wie die Bewegungsgesetze des Kapitals sich dem Einzelkapital aufzwingen. Es ist die Form, in der sich das Einzelkapital verwertet und auf das Gesamtkapital bezieht.

Marx abstrahiert hier von allem, was die Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate in der Realität behindert (in der Wirklichkeit setzt sich die Durchschnittsprofitrate immer nur tendenziell durch).

Marx betont, dass sich die dem Kapitalismus inhärenten Eigenschaften über die „Zwangsgesetze“ der Konkurrenz durchsetzten. In den Grundrissen formuliert das Marx so: „Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander, die innre Tendenz als äußerliche Notwendigkeit.) (Kapital existiert und kann nur existieren als viele Kapitalien, und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander.)“ [lxviii]

Dadurch, dass die Einzelkapitale über die Konkurrenz und die Bildung einer Durchschnittsprofitrate die Ausbeutung „vergesellschaften“, zu einem nationalen Gesamtkapital werden, werden sie zu einer Macht, die der ArbeiterInnenklasse entgegentritt.

Natürlich ändern sich historisch die Formen, in denen die Einzelkapitale versuchen, (mindestens) einen Durchschnittsprofit abzuwerfen. Aber: „Das Monopol ist nur eine Form dieses Versuchs, ist eine Erscheinungsform der Konkurrenz und ist außer durch die Konkurrenz auch nicht zu erklären. Die Aussage, das Monopol löse die ,freie Konkurrenz’ ab … impliziert, daß die ,freie Konkurrenz’ nicht eine logische Abstraktion, sondern eine tatsächliche historische Phase der Kapitalentwicklung ist, daß also Marx im 3. Band nicht die allgemeinen Bestimmungen des Kapitals als Kapital entwickelt habe, sondern eine Phase des Kapitalismus real analysiert habe … “ [lxix]

Als Folge dieser Verwechslung der Analyseebenen steht dann bei Lenin das Monopol außerhalb und/oder neben der „freien Konkurrenz“. „Man stellt in seiner Schrift durchgängig fest, daß Lenin das Verhältnis der Konkurrenz der vielen Kapitale und der Monopole nur auf der Ebene der realen Beziehungen der Einzelkapitale zueinander analysiert.“[lxx]

Es müssen zwei Ebenen unterschieden werden: a) die bei Marx abstrakt entfalteten, dem Kapitalbegriff inhärenten Bestimmungen und b) die Durchsetzung kapitalistischer Bewegungsgesetze auf der konkreten Ebene. Aus der auch von Marx vermerkten Tendenz des Kapitals zur Konzentration und Zentralisation kann nicht unmittelbar die Existenz von Monopolen abgeleitet werden, um dann auf dieser Grundlage sämtliche (oder zumindest die wesentlichen) Bewegungsformen der Kapitalakkumulation zu begreifen. Die ökonomische Basis für die Analyse des Imperialismus kann (zumindest) nicht im Konzentrationsprozess allein liegen, sondern in der Entfaltung aller Widersprüche, die im Kapital angelegt sind.

9. Kapitalbegriff und Epochenwechsel

An dieser Stelle müssen wir jedoch auch auf einen fundamentalen methodischen Schwachpunkt vieler Lenin-KritikerInnen eingehen. Ihre durchaus wichtigen Kritikpunkte gebrechen freilich an einer Schwäche – sie schütten das Kind mit dem Bade aus und verwerfen mit ihrer Kritik an Schwächen des Monopolbegriffes und der Fassung des Finanzkapitals bei Hilferding und Lenin, sofern er Hilferding übernimmt, auch die Imperialismustheorie als solche. Allenfalls taucht der Begriff in einer letztlich kautskyanischen Fassung auf, also als expansive, militärisch vorgetragene Eroberungspolitik.

Die methodische Schwäche dieser AutorInnen liegt in einer letztlich rein begriffslogischen Bestimmung der Kategorien der Kapitalanalyse. Sie verfehlen dabei jedoch gerade das Spezifische an der Marx’schen Gesellschaftstheorie und seines Bruchs mit dem Hegel’schen Systemgedanken.

Im Buch „Die ontologischen Grundprinzipien von Marx“ [lxxi], Teil der „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“, beschäftigt sich Lukács sehr ausführlich mit dem Verhältnis von logischer und historischer Analyse des Kapitals oder generell der Gesellschaft und ihre Entwicklung. Er verweist darauf, dass die einfache Gegenüberstellung von „logischer“ oder „historischer“ Herleitung z. B. des Kapitalbegriffs zu einer ungewollten Wiederkehr des Systemgedankens Hegels führt, sei es in Form einer letztlich idealistischen Illusionen, dass verschiedenste Formen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Staat etc.) einfach nur aus den Kategorien des Kapitals „abgeleitet“ werden müssten, oder sei es in Form eines Geschichtsobjektivismus, demzufolge wie z. B. in der stalinistischen Geschichtsphilosophie und der Etappentheorie alle Länder und alle Regionen dieselben Gesellschaftsformationen in der „richtigen“ Reihenfolge zu durchlaufen hätten.

Das Entscheidende an Marx’ neuer, revolutionärer Methode besteht gerade in der Überwindung des Gegensatzes:

„Nicht umsonst hat Marx im ‚Kapital’ den Wert als erste Kategorie, als primäres ‚Element’ untersucht. Besonders durch  die Art, wie dieser hier in seiner Genesis erscheint: Diese Genesis zeigt einerseits abstrakt, auf ein entscheidendes Moment reduziert, den allgemeinsten Abriß einer Geschichte der gesamten ökonomischen Wirklichkeit, andererseits erweist die Auswahl sogleich ihre Fruchtbarkeit, indem diese Kategorien selbst, zusammen mit den Verhältnissen und Beziehungen, die aus ihrer Existenz notwendig folgen, das Wichtigste an der Struktur des gesellschaftlichen Seins, die Gesellschaftlichkeit der Produktion zentral erhellen. Die Genesis des Werts, die Marx hier gibt, beleuchtet sofort die Doppelheit seiner Methode: Diese Genesis selbst ist weder eine logische Deduktion aus dem Begriff des Werts noch eine induktive Beschreibung der einzelnen historischen Etappen seiner Entfaltung, bis er seine reine gesellschaftlichen Gestalt erhält, sondern eine eigenartige, neuartige Synthese, die die historische Ontologie des gesellschaftlichen Seins mit dem theoretischen Aufdecken seiner konkret und real wirksamen Gesetzlichkeiten theoretisch-organisch vereint.“ [lxxii]

Marx selbst reflektiert diese Zusammenhänge immer wieder in den methodischen Überlegungen zu den Grundrissen oder im Kapital. Entscheidend für unsere Diskussion der Imperialismustheorie erweist sich, dass auch der Kapitalbegriff von Marx notwendigerweise ein historisches Moment, ein Entwicklungsmoment enthält. Wenn Marx die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals zusammenfasst: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ [lxxiii]

Marx’ und Engels’ häufige Hinweise darauf, dass das Kapital in seinem Entwicklungsprozess mehr und mehr  gesellschaftliche Formen (Aktienkapital, Rolle von Banken und Börse, Staatsintervention, … ) annehme, verbinden sie korrekterweise damit, dass sich darin unbewusst und auf Basis des Privateigentums der zunehmende gesellschaftliche Charakter der Produktion artikuliert. Die von Hilferding und Lenin konstatierten Monopolisierungstendenzen und die Herausbildung eines Finanzkapitals, also die enge Verbindung oder gar Verschmelzung von Banken- und Industriekapital sind selbst ein Teil dieser Tendenz zur Vergesellschaftung. Insofern kommt beiden das Verdienst zu, eine reale Veränderung der Kapitalbewegung mit dem Epochenwechsel in Verbindung zu bringen.

Der Monopolbegriff enthält jedoch entscheidende Schwächen, wie wir gesehen haben, als das Verhältnis von Monopol und Konkurrenz falsch bestimmt wird, als wären sie auf derselben Ebene der Abstraktion angesiedelt – übrigens ein ähnlicher Fehler wie die Ansiedelung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und der entgegenwirkenden Ursachen auf derselben.

Vielmehr setzen die entgegenwirkenden Ursachen das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate logisch und geschichtlich voraus. Sie heben es nicht auf oder setzen es auch nicht zeitweilig „außer Kraft“, als ob einmal jene geschichtliche Tendenz und einmal die andere dominieren würde, sie sind vielmehr Modifikationen einer grundlegenden Gesetzmäßigkeit und zugleich auch Formen, über die sich diese Gesetzmäßigkeit durchsetzt. Dasselbe kann von der Konkurrenz im Verhältnis zum Monopol gesagt werden, was Lenin in gewisser Weise auch andeutet und weit mehr als  Hilferding u. a. betont, aber begrifflich nicht zu fassen kriegt.

Die begriffliche Schwäche hat aber nicht nur Auswirkungen auf den Monopolbegriff, Hilferdings „kartellierte Sphäre“, sondern auch auf den des Finanzkapitals. Die wachsende Bedeutung des zinstragenden Kapitals und seiner Institutionen diskutierten bekanntlich schon Marx und Engels. Diese Entwicklung konstatiert Lenins sicher zu Recht:

„Die Trennung des Kapitaleigentums von Anwendung des Kapitals in der Produktion, die Trennung des Geldkapitals vom industriellen oder produktiven Kapital, die Trennung des Rentners, der ausschließlich vom Ertrag des Geldkapitals lebt, vom Unternehmer und allen Personen, die an der Verfügung über das Kapital unmittelbar teilnehmen, ist dem Kapitalismus überhaupt eigen. Der Imperialismus oder die Herrschaft des Finanzkapitals ist jene höchste Stufe des Kapitalismus, wo diese Trennung gewaltige Ausdehnung erreicht. Das Übergewicht des Finanzkapitals über alle übrigen Formen des Kapitals bedeutet die Vorherrschaft des Rentners und der Finanzoligarchie, bedeutet die Aussonderung weniger Staaten, die finanzielle ‚Macht’ besitzen.“ [lxxiv]

Lenins Begriff des Finanzkapitals enthält jedoch zwei wichtige Probleme. Einerseits schwebt ihm die spezifische Organisationsform des Verhältnisses von Industrie und Geldkapital nicht nur als Beispiel zur Veranschaulichung dieser Tendenz vor, sondern geradezu als Muster einer globalen Entwicklungstendenz. Die extrem enge Verbindung von Industrie und Banken im Deutschen Reich, die im Ersten Weltkrieg noch massiv verstärkt wurde, stellte jedoch eine Besonderheit des deutschen Imperialismus dar, während sie insbesondere in den USA immer andere, losere Formen annahm. Erst recht trifft das auf die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu.

Sicherlich ist Lenins Vorstellung einer Verallgemeinerung des Verhältnisses von industriellem und Geldkapital nach dem Modell des deutschen Imperialismus historisch nachvollziehbar. Angesichts der real viel stärkeren Integration von staatlichem Kommando und verschiedenen Kapitalgruppen im imperialistischen Weltkrieg drängte sie sich geradezu auf. Angesichts der historischen Entwicklung bedarf dies jedoch einer Korrektur. Sein Begriff des Finanzkapitals ist zu konkret auf spezifische historische Formen fokussiert.

Damit verbunden ist ein weiteres Problem, das das innere Verhältnis des Finanzkapitals betrifft. Die Konkurrenz erscheint bei Hilferding und Lenin im Wesentlichen außerhalb des monopolisierten oder kartellierten Sektors zu bestehen, d. h. auch außerhalb des Finanzkapitals. Die darin zusammengefassten Einzelkapitale erscheinen faktisch tendenziell als ein vereintes Kapital, jedenfalls als eines, dessen Binnenbeziehungen nicht durch die Konkurrenz vermittelt werden. Betrachten wir die Entwicklung des Finanzkapitals in der gesamten imperialistischen Epoche, erweist sich diese Vorstellung als unhaltbar. Selbst in ihren Frühphasen ist sie fragwürdig, auch wenn eine solche Entwicklungstendenz gerade im Ersten Weltkrieg durchaus plausibel gewesen sein mag.

Im Rückblick, also angesichts einer ein ganzes Jahrhundert  umfassenden weiteren Entwicklung, erweist sich Lenins Fassung des Begriffs des Finanzkapitals als zu wenig abstrakt, und wir müssen ihn allgemeiner bestimmen.

Korrekt ist zweifellos (a) die Tendenz zur engeren Verbindung von Industrie und Finanzsektor und (b) die Dominanz des Geldkapitals bzw. des zinstragenden Kapitals. Die Dominanz des Letzteren ergibt sich daraus, dass es an keine stoffliche Basis gebunden ist, dass es rascher und freier von einer Anlagesphäre zur anderen geleitet werden kann. Zweitens bedarf jede große industrielle Unternehmung enormer zusätzlicher Aufwendungen für Investitionen über den im eigenen Betrieb erwirtschafteten Akkumulationsfonds hinaus, die über Aktienmärkte, Anlagefonds, Unternehmensanleihen, Kredite etc. gefunden werden müssen.

Marx selbst beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Kredits auf das industrielle Kapital, insbesondere im Kapitel „Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion“ und konstatiert dabei bedeutende Phänomene, die auf die Entstehung eines Finanzkapitals im Sinne Lenins durchaus hinweisen. Neben der Vermittlung der Ausgleichsbewegung der Profitrate, der Beschleunigung der Zirkulation und der Verringerung der Zirkulationskosten verweist er mit der Bildung des Aktienkapitals – wenn man so will, einer Form von Finanzkapital – auf folgende Auswirkungen:

„1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche.

2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst.

3. Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremdes Kapitals, und der Kapitaleigentümer in bloße Eigentümer, bloße Geldkapitalisten. Selbst wenn die Dividenden, die sie beziehn, den Zins und Unternehmergewinn, d. h. den Totalprofit einschließen (denn das Gehalt des Dirigenten ist, oder soll sein, bloßer Arbeitslohn einer gewissen Art geschickter Arbeit, deren Preis im Arbeitsmarkt reguliert wird, wie der jeder andren Arbeit), so wird dieser Totalprofit nur noch bezogen in der Form des Zinses, d. h. als bloße Vergütung des Kapitaleigentums, das nun ganz so von der Funktion im wirklichen Reproduktionsprozeß getrennt wird wie diese Funktion, in der Person des Dirigenten, vom Kapitaleigentum. Der Profit stellt sich so dar (nicht mehr nur der eine Teil desselben, der Zins, der seine Rechtfertigung aus dem Profit des Borgers zieht) als bloße Aneignung fremder Mehrarbeit, entspringend aus der Verwandlung der Produktionsmittel in Kapital, d. h. aus ihrer Entfremdung gegenüber den wirklichen Produzenten, aus ihrem Gegensatz als fremdes Eigentum gegenüber allen wirklich in der Produktion tätigen Individuen, vom Dirigenten bis herab zum letzten Taglöhner. In den Aktiengesellschaften ist die Funktion getrennt vom Kapitaleigentum, also auch die Arbeit gänzlich getrennt vom Eigentum an den Produktionsmitteln und an der Mehrarbeit.“ [lxxv]

Darüber hinaus verweist er auch darauf, dass diese bestimmten Formen des zinstragenden Kapitals zeitweilig dazu führen können, dass diese Gesellschaftsunternehmungen von der Ausgleichsbewegung der Profitrate ausgenommen werden können [lxxvi] und auch auf die Tendenz zur Monopolbildung.

Allerdings bleibt die Bewegung, diese Tendenz zur Aufhebung des Kapitalismus auf Basis des Kapitalismus, in inneren Widersprüchen befangen:

„Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie (anscheinend, offensichtlich; d. Red.) als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus. Er reproduziert eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektenmachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel. Es ist Privatproduktion ohne die Kontrolle des Privateigentums.“ [lxxvii]

Und weiter: „In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlicher und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus.“ [lxxviii]

Daraus erklärt sich auch, warum die Bewegungen des zinstragenden Kapitals, zumal wenn wir den Kredit nicht nur auf das industrielle, sondern auf Kapitaleigentum selbst, auf Kapital als Ware beziehen, dass sich – ähnlich wie das Monopol – das zinstragende Kapital von den Schranken der Ausgleichsbewegung der Durchschnittsprofitrate zu „befreien“ versucht, was die Form von Spekulation, Finanzblasen, abgeleiteten Geschäften, Glücksritterei annimmt. In jedem Fall geht diese mit einer Zunahme des Parasitismus einher, weil eine ganze Schicht von VermögensbesitzerInnen geschaffen wird, die keine Rolle für die eigentliche Produktion spielt, wohl aber eben, weil sie Kommando über das gesellschaftliche Gesamtkapital immer wesentlicher mit ausübt, sich daran bereichert.

Letztlich bleibt aber auch das Finanzkapital an die Ausgleichsbewegung der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate und die Mehrwertproduktion gebunden – so sehr es sich auch über längere Zeitabschnitte davon zu befreien scheint (oder den AnlegerInnen ein solche Befreiung mit ständig steigenden Renditeversprechen verheißt). Daher bleibt letztlich auch das Verhältnis der verschiedenen Seiten des Finanzkapitals – von industriellem und zinstragendem, der verschiedenen Profitabilitätserwartungen auch der Großkapitale – über die Konkurrenz vermittelt.

Eine solche Korrektur des Begriffs des Finanzkapitals erscheint uns notwendig, weil er so für die gesamte Epoche nutzbar gemacht werden kann und weil er so gerade der Phase nach 1945 weitaus mehr entspricht.

10. Vereinseitigungen der Theorie und ihre Folgen

Wir haben gesehen, dass im Monopolbegriff von Hilferding, aber auch von Lenin bereits ein grundlegendes Problem angelegt ist – die Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Konkurrenz und Monopol.

Bei Hilferding kommt dies schon im „Finanzkapital“ zum Ausdruck, wenn er die theoretische Möglichkeit eines organisierten, regulierten Kapitalismus ins Auge fasst. Hinzu kommt, dass er – unter anderem auch eine Folge seiner falschen Geldtheorie, die dieses wesentlich als Zirkulationsmittel auffasst und die Wertbestimmung des Geldes in die Zirkulation verlagert – die Ungleichgewichte (Disproportionen) in den Tauschbeziehungen als eigentliche Krisenursache im Kapitalismus betrachtet. Es ist daher in seinem Sinne nur folgerichtig, dass, je stärker monopolisiert eine Ökonomie, je mehr sie über Kartelle oder staatliche Intervention reguliert und staatskapitalistisch geplant wird, die Krisen in den Hintergrund treten –  jedenfalls bei einer richtigen staatlichen Lenkung.

„Mit der Entwicklung des Bankwesens, mit der immer enger werdenden Verflechtung der Beziehungen zwischen Bank und Industrie verstärkt sich die Tendenz, einerseits die Konkurrenz der Banken untereinander immer mehr auszuschalten, anderseits alles Kapital in der Form von Geldkapital zu konzentrieren und es erst durch die Vermittlung der Banken den Produktiven zur Verfügung zu stellen. In letzter Instanz würde diese Tendenz dazu führen, daß eine Bank oder eine Bankengruppe die Verfügung über das gesamte Geldkapital erhielte. Eine solche ‚Zentralbank’ würde damit die Kontrolle über die ganze gesellschaftliche Produktion ausüben.“ [lxxix]

Von hier ist es nicht mehr weit zum „Generalkartell“, das bei Hilferding die kapitalistische Ökonomie umfasst:

„Es entsteht aber die Frage, wo die Grenze der Kartellierung eigentlich gegeben ist. Und diese Frage muß dahin beantwortet werden, daß es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden. Die unabhängigen Industrien geraten, wie wir gesehen haben, immer mehr in Abhängigkeit von kartellierten, um schließlich von ihnen annektiert zu werden. Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewußt geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell und bedeutet nur mehr die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits. Der Preis ist dann nicht Resultat einer sachlichen Beziehung, die die Menschen eingegangen sind, sondern eine bloß rechnungsmäßige Art der Zuteilung von Sachen durch Personen an Personen. Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten. Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwindet die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. Das Kartell verteilt das Produkt. Die sachlichen Produktionselemente sind wiederproduziert worden und werden zu neuer Produktion verwendet. Von dem Neuprodukt wird ein Teil auf die Arbeiterklasse und die Intellektuellen verteilt, der andere fällt dem Kartell zu beliebiger Verwendung zu. Es ist die bewußt geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung. Die Verteilung selbst ist bewußt geregelt und damit die Notwendigkeit des Geldes vorüber. Das Finanzkapital in seiner Vollendung ist losgelöst von dem Nährboden, auf dem es entstanden. Die Zirkulation des Geldes ist unnötig geworden, der rastlose Umlauf des Geldes hat sein Ziel erreicht, die geregelte Gesellschaft, und das Perpetuum mobile der Zirkulation findet seine Ruh’.“ [lxxx]

Im „Finanzkapital“ betrachtet Hilferding das Generalkartell jedoch noch als bloß theoretische Möglichkeit, weil es nur aus enormen Klassenkämpfen und Erschütterungen der Gesellschaft entstehen könne. Die reformistischen und harmonistischen Schlussfolgerungen liegen jedoch schon in der „Hypothese“ klar auf der Hand. Mit seinem Übergang  vom marxistischen Zentrum der II. Internationale zum offenen Reformismus und Sozialpatriotismus geht Hilferding auch in seinen politischen Schlussfolgerungen nach rechts. Das „Generalkartell“ soll, mit ihm als sozialdemokratischem Finanzminister, als „organisierter Kapitalismus“ Wirklichkeit werden.

Auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927 präsentierte Hilferding seine Theorie und stellte fest, dass wir „zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten Wirtschaft. (…) Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip der planmäßigen Produktion.“ [lxxxi]

Hier zeigt sich, welche fatalen Schlussfolgerungen in der Theorie Hilferdings angelegt sind. Natürlich sind es nicht einfach seine Schwächen, die dazu führen. Der Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager bildet die Triebkraft, die Hilferding nach rechts treibt und damit das Generalkartell von einer theoretischen Möglichkeit in eine Form des „organisierten Kapitalismus“ zur theoretischen Rechtfertigung bürgerlicher ArbeiterInnenpolitik verwandelt.

Natürlich wird nicht jede/r ReformistIn, der/die einen falschen oder unzureichenden Begriff von Monopol, Finanzkapital und ihrem Verhältnis zu den allgemeinen Gesetzen des Kapitalismus hat. Aber unabhängig vom Willen Einzelner enthalten die Theorien und Begrifflichkeiten immer eine Eigenlogik, deren innere Probleme früher oder später als politische Fehler, im schlimmsten Fall als Revisionismus zum Vorschein treten.

Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Hilferding’sche falsche Konzeption von Krisen, Geldtheorie und der geschichtlichen Tendenzen des Finanzkapital zu reformistischen Schlussfolgerungen führte, ja führen musste.

Lenin war sich dieser Tatsache durchaus bewusst – und zwar nicht nur, weil sich Hilferding als Sozialpazifist im Weltkrieg erwies und, ähnlich Kautsky, die Rolle eines Versöhnlers gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie spielte, in deren Schoß er schließlich zurückkehrte. Lenin bemerkt und kritisiert in den Exzerpten zum „Finanzkapital“ [lxxxii] wie in seinen Schriften Hilferdings idealistische philosophische Anschauungen (seinen „Machismus“), die Vorstellung, dass Geld ohne Wert in die Zirkulation eingehe, seine harmonistische Vorstellung, dass die zunehmende Konzentration und Zentralisation von Banken die Krise abschwäche. Lenin notiert in den Exzerpten auch, dass „von den einzelnen Kartellen eine Aufhebung der Krisen erwarten“ einer „Einsichtslosigkeit“ [lxxxiii] auf Seiten Hilferdings gleichkomme.

Im Unterschied zu Letzterem geht Lenin auch nicht von einer Beseitigung der Konkurrenz und der Krisen aus – er betrachtet die zunehmende Tendenz zum Monopol durchaus auch als etwas, das gegenläufige Tendenzen mit hervorbringt. Aber wie wir gesehen haben, greift hier Lenins Kritik gegenüber Hilferding zu kurz. Seine ausgewogenere, offenere und dialektischere Position unterscheidet sich daher jedoch durchaus grundsätzlich vom Reformismus als Kernelement der Hilferding’schen Auffassung.

Doch gerade dessen Fehler wirken bis heute nach. Einerseits greifen sehr viele reformistische Konzeptionen auf eine falsche Krisentheorie, sei es eine Disproportionalitätstheorie oder eine Unterkonsumtionstheorie zurück. Letztere Auffassung findet sich bei Kautsky (und auch bei Rosa Luxemburg). Die Krisen werden nicht aus der Akkumulation des Kapitals, also seiner inneren Bewegung hergeleitet, sondern aus der Zirkulationssphäre oder dem beschränkten Konsum, sodass es naheliegt, dass sie mithilfe staatlicher Regulierung und Intervention beseitigt, durch Umverteilung gelöst werden können. Während die Sozialdemokratie (und die von ihr dominierten Gewerkschaften) nach dem Ersten Weltkrieg die Theorie des „organisierten Kapitalismus“ in eine bürgerlich-harmonistische Politik einbetteten und nach 1945 mit bürgerlichen Theorien wie dem Keynesianismus kombinierten, griffen einige kommunistische TheoretikerInnen, vor allem Bucharin, die Hilferding’sche Vorstellung einer Ausschaltung der Konkurrenz im Rahmen einer Nationalökonomie auf und radikalisierten sie gewissermaßen, wenn auch zuerst mit ultralinken und keineswegs mit harmonischen Vorstellungen der Weltwirtschaft.

Für Bucharin entwickelt sich, wie er in „Imperialismus und Weltwirtschaft“ [lxxxiv] darlegt, die nationale kapitalistische Ökonomie zu einem einzigen staatskapitalistischen Trust. Auch wenn das noch nicht ganz vollzogen sein mag.

„Das Finanzkapital schlägt das gesamte Land in eiserne Fesseln. Die „Volkswirtschaft“ verwandelt sich in einen einzigen gewaltigen kombinierten Trust, dessen Teilhaber die Finanzgruppen und der Staat sind. Solche Bildungen nennen wir staatskapitalistische Trusts. Es ist natürlich unmöglich, ihre Struktur mit der Struktur eines Trusts im engeren Sinne des Wortes zu identifizieren; dieser ist eine mehr zentralisierte und weniger anarchische Organisation. Aber bis zu einem gewissen Grade und besonders im Vergleich zu der vorhergehenden Phase des Kapitalismus haben die wirtschaftlich entwickelten Staaten sich in einem bedeutenden Grade bereits dem Punkt genähert, wo man sie als eine Art von trustähnlichen Organisationen oder, wie wir sie genannt haben, als staatskapitalistische Trusts betrachten kann. Deshalb kann man jetzt von einer Konzentration des Kapitals in staatskapitalistischen Trusts als den Bestandteilen eines viel bedeutenderen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Feldes, der Weltwirtschaft, sprechen.“ [lxxxv]

Anders als bei Hilferding hebt diese Entwicklung jedoch die Konkurrenz nicht auf, sie beseitigt sie nur im Rahmen des nationalen gesellschaftlichen Gesamtkapitals, um sie umso heftiger und in Permanenz auf dem Weltmarkt und in der Weltpolitik zum Ausbruch kommen zu lassen.

„Der Kapitalismus hat versucht, seine eigene Anarchie dadurch zu überwinden, daß er ihr die eiserne Fessel der staatlichen Organisation anlegte. Indem er aber die Konkurrenz innerhalb des Staates aufhob, ließ er alle Teufel im internationalen Kampf los.“ [lxxxvi]

Oder an anderer Stelle: „Die Konkurrenz erreicht die höchste und letzte denkbare Entwicklungsstufe: die Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts auf dem Weltmarkt. In den Grenzen der ,nationalen’ Wirtschaften wird sie auf ein Minimum reduziert, aber nur, um in gewaltigem, in keiner der vorhergehenden Epochen möglichen Umfange aufs neue zu entbrennen.“ [lxxxvii]

Diese enge Verschmelzung von Staat und Kapital bedeutet aber auch, dass die Konkurrenz eine andere Form annimmt:

„Hier feiert die Konkurrenz ihre wildesten Orgien, und zugleich mit ihr verwandelt sich der Prozeß der Zentralisation des Kapitals und erreicht eine höhere Phase. Die Aufsaugung kleiner Kapitale, die Aufsaugung schwacher Trusts, ja sogar die Aufsaugung großer Trusts tritt in den Hintergrund und erscheint als ein Kinderspiel gegenüber der Aufsaugung ganzer Länder, die gewaltsam von ihren wirtschaftlichen Mittelpunkten losgerissen und in das wirtschaftliche System der siegreichen ,Nation’ einbezogen werden. Die imperialistische Annexion ist somit ein Sonderfall der allgemeinen kapitalistischen Tendenz zur Zentralisation des Kapitals, zu seiner Zentralisation in dem maximalen Umfang, der der Konkurrenz der staatskapitalistischen Trusts entspricht.“ [lxxxviii]

Der Begriff der kapitalistischen Konkurrenz bezieht sich hier nicht darauf, wie die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals im Allgemeinen den Einzelkapitalien aufgezwungen werden können, sondern wird eigentlich zu einer politischen Kategorie. Es stehen sich Staatenkapitale als Konkurrenten gegenüber, die mit allen Mitteln um die Vorherrschaft auf der Welt kämpfen. Krieg wird, wie Bucharin weiter ausführt, zum Mittel das Anschlusses eines Trusts an einen anderen (z. B. Eroberung Belgiens durch Deutschland) oder eines Agrargebietes an einen Trust (Eroberung Ägyptens durch Britannien).

Bucharins Fehler besteht nicht darin, dass er auf die zentrale Bedeutung bestimmter Eroberungen von Kolonien und Krieg im Rahmen des imperialistischen Systems und der Verfolgung von Interessen nationaler Kapitalgruppen hinweist. Im Gegenteil, angesichts des Flächenbrands des imperialistischen Weltkrieges rückt diese Form der Verfolgung des Kapitalinteresses wie auch die Zentralisierung der Ökonomien im Krieg in den Mittelpunkt des Interesses.

Bucharin begeht hier aber den Fehler, die kapitalistische Konkurrenz als ökonomische Kategorie mit den Aktionen des bürgerlichen Staates, des konzentrierten Gesamtkapitalisten zu identifizieren. Die Tendenz zur staatlichen Zwangsregulierung (und damit auch zum Monopol) während des Krieges interpretiert Bucharin fälschlicherweise als lineare geschichtliche. Die Krise wird für ihn permanent, weil der ständige Kampf um die Neuaufteilung der Welt ständig zur brutalsten Austragungsform, zu Eroberung, Plünderung, Krieg drängt.

Die konzeptionelle Nähe zu Hilferding ist bei den theoretischen Grundvorstellungen (Generalkartelle und Staatstrust) offenkundig, die Schlussfolgerungen sind jedoch entgegengesetzt.

Jedoch problematisch und politisch falsch sind  die Schlussfolgerungen von Bucharin auch. Seine „linksradikale“ Weiterführung von Hilferding kennt im Grunde keine Stabilisierung mehr. Wenn, dann sei diese  nur vorübergehend, nebensächlich angesichts der Permanenz der „Krise“, der ständig sich verschärfenden innerimperialistischen Widersprüche, die eigentlich keine Atempause für die herrschende Klasse erlauben.

In der „Ökonomik der Transformationssperiode“ [lxxxix] radikalisiert er dieses Ansicht noch:

„Die kapitalistische ,Volkswirtschaft’ ist aus einem irrationalen System zu einer rationalen Organisation geworden, aus einer subjektlosen zu einem wirtschaftenden Subjekt. Diese Umwandlung ist durch das Wachstum des Finanzkapitalismus und die Verschmelzung der wirtschaftlichen und politischen Organisation der Bourgeoisie gegeben. Zugleich aber wurde weder die Anarchie der kapitalistischen Produktion überhaupt, noch die Konkurrenz der kapitalistischen Warenproduzenten aufgehoben. Diese Erscheinungen sind nicht nur geblieben, sondern haben sich vertieft, indem sie sich im Rahmen der Weltwirtschaft reproduzieren.” [xc]

Der Kapitalismus sei insgesamt in eine Phase der „negativen erweiterten Reproduktion“ getreten, also eines permanenten Niedergangs, einer Dauerkrise:

„Wir sahen bereits deutlich, daß der Zerfallsprozeß mit absoluter Unvermeidlichkeit einsetzt, nachdem die erweiterte negative Reproduktion den gesellschaftlichen Mehrwert (m) verschluckt hat … Die konkrete Sachlage in der Wirtschaft Europas in den Jahren 1918 – 1920 zeigt deutlich, daß diese Verfallsperiode bereits eingetreten ist und daß Anzeichen für eine Auferstehung des alten Systems der Produktionsverhältnisse fehlen. Umgekehrt. Alle konkreten Tatsachen weisen darauf hin, daß die Elemente des Zerfalls und der revolutionären Auflösung der Verbindungen mit jedem Monat fortschreiten.” [xci]

Und daraus folgt die Schlussfolgerung:

„Aber jetzt dürfen wir behaupten, daß eine Wiederherstellung des alten kapitalistischen Systems unmöglich ist … Die Menschheit steht also vor dem Dilemma: entweder ,Untergang’ der Kultur oder Kommunismus, nichts Drittes ist möglich.[xcii]

Diese theoretische Konzeption führte Bucharin und andere zu mehreren, potentiell fatalen politischen Schlussfolgerungen. Erstens einer sektiererischen Haltung zu demokratischen Fragen (siehe z. B. die nationale Frage) und Teilforderungen. Zweitens machte es ihn zu einem Befürworter einer voluntaristischen Offensive, bei der das konkrete Kräfteverhältnis eine nachrangige Rolle spielte. Hier lässt sich der innere Zusammenhang zwischen einer ultralinken Lesart der Endkrise und „negativen erweiterten Reproduktion“ mit seiner Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk und seiner Befürwortung eines revolutionären Krieges leicht erkennen. Diese politischen Differenzen zwangen Lenin schließlich auch, selbst die Vereinseitigungen der Bucharin’schen Theorie kritisch in den Blick zu nehmen. So kritisiert er in der Diskussion um ein neues Parteiprogramm die Tendenz, den Imperialismus als mehr als eine Entwicklungsstufe des Kapitalismus zu sehen:

„Der Imperialismus gestaltet in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus um, und er kann es auch nicht. Der Imperialismus kompliziert und verschärft die Widersprüche des Kapitalismus, er ‚verknotet’ die Monopole mit der freien Konkurrenz, aber den Austausch, den Markt, die Konkurrenz, die Krisen usw. beseitigen kann der Imperialismus nicht. ( … ) Nicht reine Monopole, sondern Monopole neben dem Austausch, dem Markt, der Konkurrenz, den Krisen – das ist überhaupt die wesentlichste Eigenart des Imperialismus.

Darum ist es theoretisch falsch, die Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. überhaupt zu streichen und sie durch die Analyse des Imperialismus als eines Ganzen zu ‚ersetzen’. Denn ein solches Ganzes gibt es nicht. Es gibt einen Übergang von der Konkurrenz zum Monopol, und daher wird ein Programm, das die allgemeine Analyse des Austauschs, der Warenproduktion, der Krisen usw. beibehält und eine Charakteristik der heranwachsenden Monopole hinzufügt, viel richtiger sein, die Wirklichkeit viel exakter wiedergeben. Gerade diese Verkoppelung der einander widersprechenden ‚Prinzipien’ – Konkurrenz und Monopol – ist für den Imperialismus wesentlich, gerade sie bereitet den Zusammenbruch, d. h. die sozialistische Revolution vor.“ [xciii]

In den Diskussionen um den VIII. Parteitag der KPR(B) im Jahr 1919 wendet sich Lenin explizit gegen Bucharins Vorstellungen und deren Untauglichkeit für eine Neufassung des Programms:

„Theoretisch begreift das Gen. Bucharin vollkommen, und er sagt, das Programm müsse konkret sein. Aber etwas begreifen ist eins, es tatsächlich durchführen ist etwas anderes. Das Konkretsein des Gen. Bucharin – das ist eine büchergelehrte Darlegung des Finanzkapitalismus. In der Wirklichkeit beobachten wir verschiedenartige Erscheinungen. In jedem landwirtschaftlichen Gouvernement beobachten wir neben der monopolisierten Industrie freie Konkurrenz. Nirgendwo in der Welt hat der Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen existiert und wird er je existieren. Ein solches System aufstellen heißt ein vom Leben losgelöstes, ein falsches System aufstellen. (…) Auf dem Standpunkt stehen, es gäbe einen einheitlichen Imperialismus ohne den alten Kapitalismus, heißt das Gewünschte für die Wirklichkeit nehmen.“ [xciv]

Lenins Bemerkungen verweisen auf zwei wichtige Aspekte. Erstens wendet er sich gegen die „leblose“ Vorstellung, dass das Monopol und Finanzkapital die Konkurrenz stetig mehr und mehr verdrängen oder gar ersetzen und die Gesetze des „alten Kapitalismus“ aufheben würden, auch wenn er selbst keine korrekte begriffliche Bestimmung von Konkurrenz und Monopolkapital leistet. Gerade Lenins Insistieren auf der „konkreten Analyse der konkreten Situation“ wappnet gegen den Versuch, komplexe historische Verhältnisse in starre Schemata zu pressen.

Zweitens verweist Lenin in obigen Passagen und seinen längeren Ausführungen darauf, dass Schematismus leicht dazu führt, sich anstelle eines konkreten Aktionsprogramms für eine bestimmte Situation oder Phase des Klassenkampfes mit Generalisierungen, allgemeinen Erwägungen zu begnügen und in einen abstrakten Maximalismus und Pseudoradikalismus abzugleiten.

Unglücklicherweise knüpfte jedoch die Kommunistische Internationale nach Lenins Tod wesentlich an die Methode Bucharins an – das betrifft sowohl den von Sinowjew inspirierten V. Weltkongress als auch Bucharins Programmentwurf für den VI.

Einerseits wurden die programmatischen Errungenschaften der ersten vier Weltkongresse, also die gesamte Methode der Übergangsforderungen, mehr und mehr über Bord geworfen und entweder durch opportunistische (Anglo-Russisches Gewerkschaftskomitee, Chinesische Revolution) oder durch ultralinke Fehler („Dritte Periode“, Ablehnung der Einheitsfrontpolitik, Sozialfaschismustheorie) ersetzt. Vor allem aber verabschiedete sich die Komintern vom Internationalismus und ersetzte diesen durch die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, einer reaktionären Rechtfertigungsideologie der sich mehr und mehr verfestigenden Herrschaft der Bürokratie in der Sowjetunion unter Stalin.

Die schematische Fassung des Monopolkapitals durch Hilferding und dann auch durch Bucharin ging jedoch in mehrfacher Hinsicht in die theoretische Begründung der Politik der kommunistischen Parteien nach der Wende zur Volksfrontpolitik ein.

Insbesondere die Theorie des „staatsmonopolistischen Kapitalismus“ wurde zur Leitideologie von Parteien wie der DKP oder KPÖ. Diese Konzeption knüpfte an Vorstellungen von Hilferding und Bucharin an, namentlich, dass die großen Kapitalgruppen und der Staat miteinander verschmolzen wären und die gesamte Wirtschaft und sozialen Verhältnisse dominieren würden. Dies würde das Monopolkapital und die von ihm dominierten politischen Institutionen in einen Gegensatz zu allen anderen Teilen der Gesellschaft, ArbeiterInnenklasse, KleinbürgerInnentum bis hin zum „nichtmonopolistischen“ Kapital, bringen. Gegen die Herrschaft des Monopols bräuchte es ein Bündnis all dieser Klassen, die gemeinsam eine „antimonopolistische Demokratie“ errichten sollten, die ihrerseits irgendwann auf wundersame Weise zur Diktatur des Proletariats führen würde, ganz so, wie die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung irgendwann in den friedlichen Übergang zum Sozialismus münden sollte.

Im Grunde war und ist die „antimonopolistische Demokratie“ nur eine Neuauflage reformistischer Politik und der Volksfrontpolitik, die über ein Bündnis mit einem „fortschrittlichen“, in diesem Fall dem „nichtmonopolistischen“, also eigentlich ökonomisch rückständigsten, Teil des Kapitals realisiert werden sollte. Auch wenn es nie zu einer solchen Regierung kam – am ehesten wurden noch Regierungsbeteiligungen westlicher KPen an sozialdemokratischen Regierungen in diesem Sinn interpretiert –, so waren die Wirkungen dieser Strategie auf die ArbeiterInnenklasse dieselben wie bei jeder reformistischen. Um „antimonopolistische“ Bündnisse überhaupt herstellen zu können, mussten selbstverständlich auch die Interessen des „nichtmonopolistischen“ Kapitals berücksichtig werden, im Klartext also die der ArbeiterInnenklasse mit jenen dieser Kapitalfraktion in Einklang gebracht, also letztlich untergeordnet werden.

Anders jedoch als die Theorie Bucharins – von Lenin ganz zu schweigen – bildete in der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der internationale Klassenkampf allenfalls eine Nebenrolle. Das „antimonopolistische“ Bündnis war immer als eines in einem Nationalstaat gedacht. Dies drückte sich auch in den Programmen der eigentlich reformistischen „Kommunistischen Parteien“ der Nachkriegsperiode aus, die einen „britischen“, „italienischen“ usw. Weg zum Sozialismus versprachen. Die KPÖ nannte ihr Programm gar „Sozialismus in rot-weiß-roten Farben“. Rückblickend erscheint das fast schon wie eine unfreiwillige Selbstparodie. Nichtsdestotrotz sollten die verheerenden Auswirkungen dieser Theorien, zu deren Rechtfertigung reihenweise Leninzitate herangezogen und oft genug auch entstellt wurden, nicht unterschätzt werden. Die sogenannte „Stamokaptheorie“ und ähnliche Vorstellungen über den zeitgenössischen Imperialismus prägten die Politik der westlichen Kommunistischen Parteien und etlicher linker AktivistInnen für ganze Generationen – und banden sie letztlich an eine reformistische Theorie und Praxis.

Die Kritik dieser Theorie bildete daher eine wichtige Aufgabe von RevolutionärInnen, genauso wie jeder Rückbezug darauf, jede Rehabilitierung dieser Konzeption bekämpft werden muss.

Dies erfordert freilich nicht nur Kritik, sondern auch eine ständige Aktualisierung der Imperialismustheorie selbst.

11. Wertgesetz auf dem Weltmarkt

11.1 Wertbildung und gesellschaftliches Gesamtkapital

Die Diskussionen über die Modifikation des Wertgesetzes und dessen generelle Wirkungsweise auf dem Weltmarkt, die in der deutschsprachigen Linken Anfang der 1970er Jahre geführt wurden, versuchten, einige dieser Probleme und offene Stellen der Lenin’schen Theorie und ihre Entstellungen zu überwinden. Bei allen Schwächen, die eine Reihe dieser Beiträge auch hatte – insbesondere die mit einer rein begriffslogischen Betrachtung der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und der damit einhergehenden Verwerfung des Imperialismus- und Epochenbegriffs –, warfen sie wichtige Fragen auf, die jede Imperialismustheorie auch zu beantworten hat.

Schließlich hatten sich die Erscheinungsformen des Imperialismus seit dem Tod Lenins und seit der frühen Kommunistischen Internationale nach dem 2. Weltkrieg fundamental verändert, und dies bedurfte daher einer theoretischen Erklärung und Begründung. Die Frage der werttheoretischen Fundierung der internationalen Beziehungen oder generell des Imperialismus drängte sich geradezu auf. Wie eigentlich das Wertgesetz auf dem Weltmarkt wirkt, wie es modifiziert wird, wie Extraprofit aus den halbkolonialen Ländern gezogen werden kann usw. usf. musste notwendigerweise beantwortet werden. Mit dem Zusammenbruch der großen Kolonialreiche und der folgenden Entkolonialisierung, also dem Übergang zur halbkolonialen Form der imperialistischen Durchdringung und Ausbeutung der sog. Dritten Welt, musste notwendigerweise auch die Frage der Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eine größere Bedeutung einnehmen als in der Ära des Kolonialsystems.

Die Behandlung dieser Fragestellung schließt notwendigerweise eine Betrachtung der Wertbestimmung selbst ein, die wir auch an den Beginn der folgenden Ausführungen stellen werden. Hier liegt zweifellos ein Verdienst verschiedener AutorInnen dieser Strömung, die sich um Zeitschriften wie „Probleme des Klassenkampfes“ gruppierte. [xcv] Die folgende Darstellung verdankt diesen Beiträgen wichtige Anregungen, insbesondere Wolfgang Schoellers „Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals“ [xcvi].

Um die Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt genauer darstellen zu können, müssen wir kurz wesentliche Momente der Wertbestimmung im Rahmen einer Nationalökonomie, genauer die Herstellung eines nationalen Gesamtkapitals betrachten.

a) Wertbestimmung der Ware

Wenn wir der Marx’schen Theorie folgen, so bereitet die Wertbestimmung einer Ware zunächst keine weiteren Schwierigkeiten. „Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“[xcvii]

Der Wert einer Ware wird durch die Menge der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit bestimmt, die dem vorherrschenden Entwicklungsgrad einer Ökonomie zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht. Dies kann, ja wird mit dem Fortschritt der Produktionsbedingungen wechseln, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt kann sie als gegeben betrachtet werden. Den Durchschnitt darf man außerdem auch nicht einfach als „statistisches Mittel“ ansehen, sondern als vorherrschende Produktionsbedingung.

In einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft – also einer, deren Produktion auf der großen Industrie beruht – erfolgte die Reduktion der verschiedenen Arbeiten auf den jeweiligen gesellschaftlichen Durchschnitt, vermittelt durch die Zirkulation der Waren und des Kapitals.

In diesem Zusammenhang erhalten auch ergänzende Bemerkungen von Marx, die sich auf die Realisierung des Werts beziehen und Gebrauchsquanten der Arbeit in die Wertbestimmung einfließen lassen, ihre Bedeutung:

„Wie es Bedingung für die Waren, daß sie zu ihrem Wert verkauft werden, daß nur die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in ihnen enthalten, so für eine ganze Produktionssphäre des Kapitals, daß von der Gesamtarbeitszeit der Gesellschaft nur der notwendige Teil auf diese besondre Sphäre verwandt sei, nur die Arbeitszeit, die zur Befriedigung des gesellschaftlichen Bedürfnisses (demand) erheischt. Wenn mehr, so mag zwar jede einzelne Ware nur die notwendige Arbeitszeit enthalten; die Summe enthält mehr als die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, ganz wie die einzelne Ware zwar Gebrauchswert hat, die Summe aber, unter den gegebnen Voraussetzungen, einen Teil ihres Gebrauchswerts verliert.“ [xcviii]

Diese ergänzende und untergeordnete Bestimmung bildet einen notwendigen Bestandteil jeder Gesellschaft, die auf Warenproduktion basiert, da sich immer erst im Nachhinein, also im Kauf/Verkauf der Waren herausstellt, ob eine bestimmte Arbeit auch wirklich einen Gebrauchswert für andere darstellt, also KäuferIn findet. Findet sie diese nicht, wird das Resultat der Arbeit entwertet, bleibt als nutzlose Ware liegen, wird vernichtet. Gesamtgesellschaftlich erzwingt dies eine Anpassung der Produktion und der Verteilung der Arbeit auf die verschiedenen Branchen. Insofern stellt dieser zweite Aspekt der Wertbestimmung eine Form dar, die gesellschaftliche Durchschnittsarbeit immer wieder neu zu bestimmen.

b) Extramehrwert

Die Steigerung der Produktivität der Ware reduziert den Wert der Ware. Im selben Zeitraum werden zwar mehr Waren, also auch mehr Gebrauchswerte geschaffen, es wird aber kein zusätzlicher Wert gebildet, weil keine zusätzliche Arbeitsmenge verbraucht wird.

Der/die einzelne KapitalistIn jedoch, der/die zu überdurchschnittlichen gesellschaftlichen Bedingungen produziert, also in der Regel über höhere organische Zusammensetzung seines Kapitals verfügt, was zumeist einer fortgeschritteneren technischen Ausstattung entspricht, kann gegenüber der Konkurrenz, die zu durchschnittlichen Bedingungen schafft, einen Extramehrwert erzielen. Diesen eignet sich der/die produktivere KapitalistIn einer Branche an, indem er/sie seine/ihre Waren entweder über ihren individuellen Kosten verkaufen kann und damit mehr Mehrwert aneignet. Oder er/sie kann die Waren zum Wert verkaufen und damit die Konkurrenz unterbieten, da der Wert seiner Waren unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt. Diese wird dann ihrerseits gezwungen, entweder unter Wert zu verkaufen oder den Verlust von Marktanteilen zu riskieren. In jedem Fall wird sie versuchen müssen, den Produktivitätsvorsprung des/r fortgeschritteneren WarenproduzentIn einzuholen.

Höhere Intensität der Arbeit bedeutet, dass z. B. durch Verdichtung der Arbeit in derselben Zeit mehr Arbeit verausgabt wird. Das heißt, es werden/wird nicht nur mehr Gebrauchswerte, also Warenquanta, geschaffen, sondern auch größerer Wert. Auch das Kapital, das eine höhere Intensität der Arbeit einsetzt als der Durchschnitt, kann sich Extramehrwert aneignen.

Es findet in diesen Fällen jedoch kein Werttransfer statt, sondern das Einzelkapital nutzt zeitweilig günstigere Bedingungen, die solange bestehen, wie es über den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen produzieren kann.

Schoeller beschreibt das als „ungleichen Tausch von Arbeitsquanta“: „Die ‚Substanz’ des Extramehrwerts beruht nicht auf einer Umverteilung von Werten innerhalb einer Branche, sondern darauf, daß das produktivste Kapital pro aufgewendeter Menge Arbeitszeit ein vergleichsweise umfangreicheres Mehrprodukt erhält und sich somit durch einen ungleichen Tausch von Arbeitsquanta in der Zirkulation mehr Ansprüche auf fremde produzierte Warenwerte aneignen kann, als dieses selbst in die Zirkulation gegeben hat.“ [xcix]

c) Marktwert und Marktpreis

Die Veränderungen der Produktivität sowohl innerhalb einer Branche wie zwischen den Branchen werden über die Bewegungen des Marktpreises um den Marktwert vermittelt. Nehmen wir z. B. eine Branche mit Unternehmen verschiedener Produktionsbedingungen an. Bei relativ ausgeglichen Verhältnissen bestimmen die Unternehmen mittlerer Produktionsbedingungen den Marktwert, um den die Preise bei kurzzeitigen Schwankungen von Angebot und Nachfrage oszillieren.

Bei anhaltenden Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage jedoch kann es auch zu einer Verschiebung des Marktwertes kommen. Wenn z. B. die Unternehmen mit mittleren und überdurchschnittlichen Produktionsbedingungen die Bedürfnisse der (zahlungsfähigen) Nachfrage nicht mehr bedienen können, kann der Marktwert von Unternehmen mit den schlechtesten Produktionsbedingungen bestimmt werden. Auch dies kann eine Quelle von Extramehrwert sein, wie oben beschrieben, indem Unternehmen mit höheren oder durchschnittlichen Produktionsbedingungen ihre Waren unter Wert verkaufen können.

Ein weiterer Aspekt tritt hier hinzu, der jedoch von den TheoretikerInnen der „Ableitungsschule“ wenig behandelt wird, nämlich dass Zentralisations- und Monopolisierungstendenzen des Kapitals eine solche Situation auch verlängern können, wie natürlich das große Kapital generell auf Verstetigung solcher Bedingungen drängt. Dies kann durchaus unterschiedlich behauptet werden, einerseits durch Anhalten von gesellschaftlicher Entwicklung (z. B. indem wie etwa im Energiesektor Innovation zurückgehalten wird, um auf fossilen Energieträgern basierende Produktion weiterzuführen), andererseits auch durch die Jagd nach Extramehrwert (indem die marktbeherrschenden Konzerne Innovationen monopolisieren, ihre Konkurrenz faktisch von diesen ausschließen und ihnen überhaupt erst keinen Marktzugang ermöglichen. Solche Fälle, wo faktisch Monopolpreise durchgesetzt werden, finden wir im heutigen Kapitalismus zuhauf, z. B. im Energiesektor, wo wenige Konzerne, die die Märkte unter sich aufgeteilt haben, durchsetzen, dass der „Übergang“ zu anderen Energieträgern von der Gesellschaft subventioniert wird und Preise für die KonsumentInnen entstehen, die einen Monopolprofit für faktisch jede/n ProduzentIn garantieren.

d) Durchschnittsprofit, Werttransfer

Die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Waren wird über die Durchschnittsprofitrate und die Transformation der Werte zu Produktionspreisen vermittelt. Das Kapital mit einer höheren organischen Zusammensetzung eignet sich über die Ausgleichsbewegung der Profitrate und die Herstellung einer gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate einen größeren Teil des Mehrwerts an. Es findet also ein Werttransfer statt innerhalb der KapitalistInnenklasse selbst.

Die Ausgleichsbewegung der Profitrate konstituiert auch einen Druck zur Angleichung der Produktionsbedingungen innerhalb verschiedener Branchen sowie die Tendenz zum Fluss von Kapital in neue Anlagesphären.

Sie zwingt die Kapitale mit geringerer organischer Zusammensetzung zur Erneuerung des konstanten Kapitals, um ihren Konkurrenznachteil auszugleichen. Schließlich konstituiert sich mit der Ausgleichsbewegung der Profitrate auch ein gemeinsames Interesse der KapitalistInnenklasse hinsichtlich der Steigerung der Ausbeutungsrate. Wie auch immer der Gesamtprofit zwischen verschiedenen Branchen und Formen des Kapitals, ob als industrieller Gewinn, Handelsprofit oder Zins, verteilt sein mag: Die Masse, die verteilt werden kann, steigt natürlich mit der Masse der Mehrarbeit, die sich das Gesamtkapital aneignet.

e) Zentralisation, Monopolisierungstendenzen und Finanzkapital

Unter den einzelnen konkurrierenden Kapitalen versuchen jene, die eine marktbeherrschende Stellung erlangt haben, die z. B. Kartelle, Trusts, Monopole oder Oligopole in einer oder mehreren Branchen bilden, ihre Stellung zu verewigen. Dies  liegt schon in der Logik der Zentralisation des Kapitals.

In der Diskussion um die Bewegung der Profitrate führt Marx auch eine Reihe von Faktoren an, die dem Fall der Profitrate entgegenwirken. Einige betreffen direkt die Erhöhung der Mehrwertrate, andere die Herausbildung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals (Aktiengesellschaft, Kredit), schließlich die Ausdehnung der Operationen des Kapitals auf dem Weltmarkt (Waren- und Kapitalverkehr; Reduktion des Wertes der Ware Arbeitskraft infolge des Imports günstigerer Waren).

Die Entwicklung von gesellschaftlichen Formen des Kapitals inkludiert zugleich auch eine Tendenz, die Bewegung der Profitrate zu modifizieren. Nicht zuletzt vermittelt das Finanzkapital (in Form des Kredits, in Form der Verbindung der großen industriellen oder auch kommerziellen Kapitale mit Banken und Finanzinstitutionen) die Neuinvestitionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

Daraus entstehende Zentralisation und Monopolisierungstendenzen führen daher immer wieder dazu, die Ausgleichsbewegung der Profitrate zu modifizieren oder einschränken zu können. Durch die Sicherung von Monopolprofiten können sich die stärker zentralisierten, dominierenden Sektoren der Industrie der Ausgleichsbewegung der Profitrate zeitweilig entziehen. Es findet ein Werttransfer vom nichtmonopolisierten Sektor zum zentralisierteren statt.

Diese Bewegung darf jedoch nicht als eine lineare Entwicklung hin zu einem Staatskapitalismus missverstanden werden. Das Monopol stellt nicht „die“ Form des vergesellschafteten Kapitals dar, sondern nur eine von ihnen. So war z. B. die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg  in den imperialistischen Zentren in der Regel von der Konkurrenz verschiedener Großkapitale auf den nationalen Märkten geprägt, und zwar sowohl in der Phase des „langen Booms“ als auch im Neoliberalismus. Staatlich monopolisierte Sektoren, die privatkapitalistisch lange als unrentabel galten (z. B. Infrastruktur, Eisenbahnen, Gesundheitssektor, Bildungswesen) wurden privatisiert und zur Quelle privater Akkumulation. Ein ähnlicher Prozess kann bei der Privatisierung ehemaliger staatlicher Monopole (z. B. Post, Telekommunikation) beobachtet werden, die sich zu riesigen privatwirtschaftlichen Konzernen (teilweise auch zu privaten Monopolen) transformierten.

Die Zentralisationstendenz freilich ist am größten im Bereich des zinstragenden Kapitals, wo sie zugleich, die imperialistische Epoche in ihrer Gesamtheit betrachtet, mit großen Formveränderungen einhergeht. Damit verändert sich die relative Bedeutung von Banken, Börse, Fonds, Versicherungen in den verschiedenen Entwicklungsphasen.

Gemeinsam ist der Herausbildung des Finanzkapitals jedoch, dass das zinstragende Kapital, wie auch immer das Verhältnis zum industriellen Kapital sei, letzteres dominiert, weil ersteres die Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals vermittelt. Mit der wachsenden Mindestgröße an Kapital, die für industrielle Unternehmungen erforderlich ist, um überhaupt am Markt agieren zu können, kann dieses Startkapital nur über Kapitalmärkte aufgebracht werden, muss also  über das Finanzkapital laufen.

Seine dominierende Rolle hängt ferner damit zusammen, dass  es die abstrakteste Form des Kapitals darstellt, dass seine Bewegung die Form G – G’ annimmt, in der jeder Bezug zur Mehrwertproduktion als Basis dieser Bewegung ausgelöscht scheint. Mit seiner eigenen Entwicklung nimmt diese Bewegung immer bizarrere, abgeleitetere Formen an. Das Kapital versucht, sich gewissermaßen von den Schranken seiner Expansion loszureißen, die mit der Produktion und Realisierung des Mehrwerts unvermeidbar einhergehen, z. B. durch die Fixierung des Kapitals in Produktionsmittel und Arbeitskraft während der Produktion oder in Warenform beim kommerziellen Kapital.

Die Reduktion der Lagerhaltung, Just-in-Time-Produktion, Verringerung der Umschlagszeit sind Mittel, nicht nur den Wert des konstanten Kapitals zu reduzieren, sondern auch die Bindung des Kapitals an die Produktion möglichst zu verringern. Wie gering diese Transaktionszeit und Kosten auch werden mögen, wie sehr die Produktion auch „verschlankt“ werden mag, letztlich kann sie nie eine zeitliche Fixierung des konstanten Kapitals gänzlich überwinden. Im Gegenteil, alle diese Versuche gehen oft auch mit einer Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und des im Kapitalstock gebundenen Teils des Gesamtkapitals einher. So sehr das Finanzkapital auch versucht, sich von diesen Fixierungen freizumachen, letztlich kann es dieser Bindung nicht entfliehen.

Als herrschendes Kapital weist das Finanzkapital die stärksten Tendenzen zur Monopolisierung, zur Verewigung seiner beherrschenden Stellung auf und verfügt dazu auch über enorme Hebel. Umgekehrt ist seine Bewegung, sind seine Investitionsentscheidungen selbst an Profitabilitätserwartungen orientiert und damit über die Konkurrenz vermittelt. Wo sie selbst bestimmte Operationen für Nationalökonomien vornehmen (z. B. Schulden in der sog. Dritten Welt finanzieren oder auf monopolisierten Märkten wie dem Wohnungsmarkt agieren), können sie natürlich auch reinste Formen von Parasitismus und Plünderung annehmen.

Mit der Entwicklung des Außenhandels und der zentralen Bedeutung des Kapitalexports vervielfacht sich die Macht des Finanzkapitals.

f) Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und der allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion

Bevor wir jedoch auf die globalen Verhältnisse eingehen, müssen wir uns noch mit einer Kategorie beschäftigen, die für das Verständnis des Imperialismus von zentraler Bedeutung ist: dem Begriff des gesellschaftlichen Gesamtkapitals.

In jeder imperialistischen Ökonomie entwickelt sich ein gesellschaftliches Gesamtkapital, das die allgemeinen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion sichert. Diesem kommt eine eigenständige Realität zu.

Marx zeigt in den drei Bänden des Kapitals in verschiedenen Schritten, wie das Kapital selbst solche allgemeinen Durchschnittsbedingungen der Reproduktion erzeugt, die den einzelnen Kapitalien aufgezwungen werden, bzw. über welche Mechanismen eine solche Ausgleichung erfolgt (z. B. bei der Diskussion von Metamorphosen des Kapitals im 2. Band, bei den Reproduktionsschemata, bei der Diskussion um Profit, Profitrate, Zins, …).

Den „Durchschnittsbedingungen“ kommt eine Realität zu, die nicht bloß eine Addition einzelner Kapitale darstellt oder deren Ausgleichung. Das gesellschaftliche Gesamtkapital erstreckt sich auf mehr als die Summe der Einzelkapitale. Es schließt vielmehr auch die Sicherung allgemeiner Reproduktionsbedingungen ein.

Dazu gehören allgemeine gesellschaftliche Produktivkräfte, ob diese nun privat oder staatlich geleistet werden wie z. B. Kommunikation, Infrastruktur, Verkehr, Wissenschaft. In diesen Bereich fallen auch die Sicherung der Geldstabilität, die Festlegung einer allgemeinen Zinsrate oder die Währungspolitik. Ein weiteres, für die Kapitalakkumulation wesentliches, Moment besteht in der Sicherung eines bestimmten Niveaus der Reproduktion der Arbeitskraft, so dass genügend hinreichend ausgebildete Arbeitskräfte für die Erfordernisse des Kapitals und die Institutionen zur Sicherung der gesellschaftlichen Gesamtreproduktion produziert und reproduziert werden.

Hier tritt der Staat als ideeller Gesamtkapitalist auf den Plan, eben nicht bloß als passiver Garant des Privateigentums, sondern als Verfechter des Interesses des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, nicht bloß einzelner Kapitale oder einiger Kapitalgruppen. Der Staat des Kapitals ist zwar über verschiedene Institutionen staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Art (Stiftungen, Unternehmerverbände, Parteien, Medien) mit dem Kapital verbunden. Er muss aber zugleich bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den konkurrierenden Einzelkapitalen bleiben, um seine Rolle als Vermittler des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse überhaupt nach innen wie nach außen erfüllen zu können.

Um die Bedeutung der Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals zu verstehen, wollen wir daher noch einmal schematisch seine wesentlichen Leistungen für die Sicherung und Reproduktion des Kapitalverhältnisses anführen:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der   Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Intensität und Produktivität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und Reproduktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Die Herausbildung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals kennzeichnet die Entwicklung praktisch aller imperialistischer Staaten. Wie wir sehen werden, ist sie jedoch wesentlich verschieden, wenn wir die von imperialistischen Mächten beherrschte Welt, – sei sie kolonial oder halbkolonial verfasst – betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir auf die Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt eingehen und dieses kurz umreißen. Anders als in der Nationalökonomie existiert kein „Weltstaat“, keine Weltwährung, die unabhängig von den nationalen Währungen wäre, und auch keine Ausgleichsbewegung der Profitraten.

11.2 Weltmarkt und kapitalistisches System

Der Weltmarkt ist für Marx und Engels, wie wir schon gesehen haben, im Begriff des Kapitals eingeschlossen. Wir dürfen daher die Betrachtung des Weltmarktes, auch wenn wir oben den Rahmen eines nationalen Gesamtkapitals skizziert haben, nicht so auffassen, als würden Wert, Preis, Produktion, Profitrate, Akkumulation usw. „zuerst“ auf nationaler Basis entstehen und bestimmt werden und erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium auf den Weltmarkt „expandieren“.

Dieser stellt vielmehr von Beginn an eine Realität dar, in deren Rahmen sich das Kapital bewegt und entwickelt. Der Weltmarkt ist also etwas von Beginn an Gesetztes, Vorhandenes – zugleich entwickelt er sich aber auch. Die Entdeckung der Amerikas, der sog. Dreieckhandel zwischen Afrika, den Amerikas und Europa, v. a. Britanniens, belegen, wie eng die Entwicklung des Kapitalismus mit dem Weltmarkt verbunden ist.

Dessen Realität und damit auch jene eines globalen Austauschs zeigen sich zudem auch an der Bestimmung der Bedürfnisse einer Gesellschaft und der verschiedenen Klassen, die notwendigerweise von der vorherrschenden, entwickeltsten kapitalistischen Ökonomie bestimmt werden.

Schließlich verändert sich auch die Bedeutung des Weltmarktes für die nationale Kapitalentwicklung mit Entwicklung und Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise. So erweist sich beispielsweise im 19. Jahrhundert, dass Schutzzölle und eine Abschottung des nationalen Marktes eine nachholende und aufholende industrielle Entwicklung v. a. Deutschlands und der USA, später auch Japans, ermöglichten.

Auch die Hauptformen der Bewegung am Weltmarkt ändern sich mit der Entwicklung der Produktionsweise, wie die von Hilferding, Lenin und anderen konstatierte zunehmende und zentrale Bedeutung des Kapitalexports, im Verhältnis zum Warenexport, in der imperialistischen Epoche veranschaulichen.

Nun aber zur Frage der Modifikationen des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt. Im ersten Band des „Kapital“ verweist Marx selbst darauf  bei der Diskussion der nationalen Verschiedenheit der Arbeitslöhne und richtet die Aufmerksamkeit auf die  Frage von Intensität und Produktivität der nationalen Durchschnittsarbeiten auf dem Weltmarkt:

„In jedem Lande gilt eine gewisse mittlere Intensität der Arbeit, unter welcher die Arbeit bei Produktion einer Ware mehr als die gesellschaftlich notwendige Zeit verbraucht, und daher nicht als Arbeit von normaler Qualität zählt. Nur ein über den nationalen Durchschnitt sich erhebender Intensitätsgrad ändert, in einem gegebnen Lande, das Maß des Werts durch die bloße Dauer der Arbeitszeit. Anders auf dem Weltmarkt, dessen integrierende Teile die einzelnen Länder sind. Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt.

Noch mehr aber wird das Wertgesetz in seiner internationalen Anwendung dadurch modifiziert, daß auf dem Weltmarkt die produktivere nationale Arbeit ebenfalls als intensivere zählt, sooft die produktivere Nation nicht durch die Konkurrenz gezwungen wird, den Verkaufspreis ihrer Ware auf ihren Wert zu senken.

Im Maß, wie in einem Lande die kapitalistische Produktion entwickelt ist, im selben Maß erheben sich dort auch die nationale Intensität und Produktivität der Arbeit über das internationale Niveau. Die verschiedenen Warenquanta derselben Art, die in verschiedenen Ländern in gleicher Arbeitszeit produziert werden, haben also ungleiche internationale Werte, die sich in verschiedenen Preisen ausdrücken, d. h. in je nach den internationalen Werten verschiednen Geldsummen. Der relative Wert des Geldes wird also kleiner sein bei der Nation mit entwickelterer kapitalistischer Produktionsweise als bei der mit wenig entwickelter. Folgt also, daß der nominelle Arbeitslohn, das Äquivalent der Arbeitskraft ausgedrückt in Geld, ebenfalls höher sein wird bei der ersten Nation als bei der zweiten; was keineswegs besagt, daß dies auch für den wirklichen Lohn gilt, d. h. für die dem Arbeiter zur Verfügung gestellten Lebensmittel.“[c]

Diese Passage nimmt eine bedeutende Stellung in den gesamten Debatten  um die Modifikation des Wertgesetzes ein, weil hier jedenfalls eine entscheidende Form,  nämlich wie Ungleichheit zwischen verschiedenen Nationalökonomien unterschiedlicher Entwicklungsstufen auf dem Weltmarkt reproduziert und verstärkt wird, in den Blick genommen wird.

Wenn wir von einer Wertbildung im nationalen Rahmen und deren Erscheinen auf dem Weltmarkt ausgehen, so wirft Marx hier zuerst die Frage auf, wie unterschiedliche, im nationalen Rahmen gebildete Durchschnittsarbeit auf dem Weltmarkt auftritt. Höhere Intensität der Arbeit wie auch höhere Produktivität werden auf eine Stufenleiter der „universellen Arbeit“ bezogen.

Dies hat zur Folge, dass die Waren aus den Ländern mit unterschiedlicher Durchschnittsintensität und höherer Produktivität auf dem Weltmarkt verschieden „gewichtet“ sind, sich also in mehr oder weniger Geld darstellen. Die Waren jener aus der entwickelteren kapitalistischen Nation werden also billiger sein und daher auf dem Weltmarkt einen Vorteil genießen, solange die andere Nation nicht an dieses Niveau anschließen kann. Dies bedeutet, dass zwar kein Werttransfer von einem Kapital/Land in das andere analog zum Werttransfer bei der Ausgleichsbewegung der Profitrate stattfindet, wohl aber kann das Land mit höherer Durchschnittsproduktivität einen Extramehrwert erzielen, analog zum Wertbildungsprozess auf dem nationalen Markt.

Im Rahmen einer nationalen Ökonomie kann sich ein Kapital den Extramehrwert in der Regel nur vorübergehend aneignen. Anders im System der universellen Arbeit. Natürlich kann auch dort immer wieder eine Angleichung in bestimmten Entwicklungsphasen stattfinden und bis zu einem gewissen – aber auch nur bis zu einem gewissen – Grad können die weniger entwickelten Ökonomien dem Nachteil durch Abwertungen der nationalen Währung entgegenwirken. Aber generell zeichnet die Weltwirtschaft auf Grund der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der Nationalökonomien und aufgrund der internationalen Arbeitsteilung, in die „abhängige Länder“ verspätet und immer schon auf den Weltmarkt bezogen eintreten, eine viel größere Festigkeit dieser Ungleichheit. Sie wird im imperialistischen System nicht rasch überwunden, sondern auf Dauer gestellt und bildet daher eine bedeutende Form der Aneignung von in den Halbkolonien geschaffenem Reichtum durch die (Gesamt-)Kapitale der imperialistischen Metropolen.

Auf internationaler Ebene findet – wie wir an anderer Stelle gezeigt haben und im Gegensatz zu den theoretischen Grundnahmen verschiedener Theorie des ungleichen Tauschs – keine Ausgleichung der Profitraten zu einer internationalen Durchschnittsprofitrate statt. Diese findet auch in der imperialistischen Epoche im nationalstaatlichen Rahmen statt. Umgekehrt dürfen wir uns aber die Entwicklung des Weltmarktes, die Entstehung internationaler Wertschöpfungsketten usw. nicht so verstellen, dass das Verhältnis zwischen nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft hinsichtlich der Bildung von Profitraten ein konstantes, unveränderliches wäre.

Der Nationalstaat stellt nicht nur einen Garanten des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und einen Rahmen zur Bildung nationaler Profitraten dar, er bildet auch eine Schranke für die Internationalisierungstendenzen des Kapitals, einen inneren Widerspruch. Mit seiner eigenen Entwicklung versucht das Kapital immer wieder,  die Enge des Nationalstaates zu überwinden, was sich z. B. in der Ausdehnung des Weltmarktes und der Entstehung globaler Produktionsketten zeigt bis hin zur Herausbildung regelrechter Weltmarktbranchen. In diesen Branchen können wir durchaus eine Tendenz zur Herausbildung internationaler Produktionspreise und zu einer Ausgleichung von Profitraten auf Branchenebene beobachten, die jedoch immer prekär bleibt, weil  es keine globale Ausgleichung zu einer Durchschnittsprofitrate gibt oder geben kann.

Wo sich solche Tendenzen zur Ausgleichung einer branchenübergreifenden internationalen Profitrate herausbilden, entwickeln sich logischerweise auch Formen des Werttransfers auf globaler Ebene, ähnlich jener im nationalen Rahmen. Aber diese werden nicht nur durch andere Formen des Weltmarktes (Währungsbewegungen etc.) durchkreuzt, sondern bleiben im Rahmen des kapitalistischen Gesamtsystems letztlich partiell, weil es zu einer Angleichung der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der nationalen Gesamtkapitale nicht kommt und auch  nicht kommen kann.

Entscheidend für unsere Betrachtung ist daher, dass wir diese Tendenzen als Widerspruch fassen müssen, der im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie nicht aufgelöst werden kann, sondern nur im Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Bisher haben wir die Fragen des Tausches von Waren auf dem Weltmarkt behandelt. Marx verweist auf einige andere, folgenreiche Wirkungen des Welthandels auf die nationalen Profitraten und Akkumulationsbewegungen, die in der imperialistischen Epoche eine wichtige Rolle spielen.

Im dritten Band des „Kapital“ geht er direkt auf den Außenhandel ein, wo er diesen unter den „entgegenwirkenden“ Ursachen zum Fall der Profitrate behandelt.

„Soweit der auswärtige Handel teils die Elemente des konstanten Kapitals, teils die notwendigen Lebensmittel, worin das variable Kapital sich umsetzt, verwohlfeilert, wirkt er steigernd auf die Profitrate, indem er die Rate des Mehrwerts hebt und den Wert des konstanten Kapitals senkt. Er wirkt überhaupt in diesem Sinn, indem er erlaubt, die Stufenleiter der Produktion zu erweitern. Damit beschleunigt er einerseits die Akkumulation, andrerseits aber auch das Sinken des variablen Kapitals gegen das konstante und damit den Fall der Profitrate. Ebenso ist die Ausdehnung des auswärtigen Handels, obgleich in der Kindheit der kapitalistischen Produktionsweise deren Basis, in ihrem Fortschritt, durch die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterm Markt, ihr eignes Produkt geworden. Es zeigt sich hier wieder dieselbe Zwieschlächtigkeit der Wirkung.“ [ci]

Der Import billigerer Lebensmittel und Konsumgüter für die ArbeiterInnenklasse führt zur Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft und damit, bei sonst gleichbleibenden Bedingungen, zur Erhöhung des relativen Mehrwerts und der Profitrate. Diese Faktoren haben bis heute enorme Bedeutung, weil sie ein Stück weit die Senkungen der Löhne, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, Ausweitung von Billiglohnsektoren im Zuge neoliberaler Angriffe abfedern und zugleich eine Erhöhung der Ausbeutungsrate erlauben. Der Aufstieg Chinas und anderer asiatischer Ökonomien als industrieller Produktionsstandort von Konsumgütern spielte für die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft v. a. in den USA in den letzten Jahrzehnten eine wesentliche Rolle.

Zweitens erfüllt der Außenhandel auch eine Funktion hinsichtlich der Akkumulationsbedingungen des nationalen Gesamtkapitals. Der akkumulierte Mehrwert kann so zur Erweiterung der Produktion für den Weltmarkt oder in anderen Ländern investiert werden und Anlage suchen, die das Kapital sonst auf dem begrenzten nationalen Markt nicht mehr finden kann. Kapitalexport stellt in diesem Zusammenhang einen Weg dar, auf die Überakkumulation im imperialistischen Zentrum zu reagieren und überschüssiges Kapital im Ausland zu investieren.

Drittens findet das Kapital aus den fortgeschrittenen (imperialistischen) Ländern aufgrund der höheren Produktivität der gesellschaftlichen Durchschnittsarbeit gegenüber jenem aus Kolonien und Halbkolonien Konkurrenzvorteile vor und kann sich so einen Extramehrwert aneignen (siehe oben).

Viertens erlaubt die geringere organische Zusammensetzung des Kapitals in der Halbkolonie dem investierten Kapital mit höherer organischer Zusammensetzung aus dem imperialistischen Land, einen höheren Extraprofit/Wertanteil aus der Ausgleichung der Durchschnittsprofitrate in der Halbkolonie zu ziehen. Es findet hier ein Werttransfer innerhalb der KapitalistInnenklasse (wie bei jeder Ausgleichsbewegung der Profitrate), und zwar von den halbkolonialen zu den imperialistischen Unternehmen statt. Dieser bildet nicht nur eine wesentliche Quelle von Extraprofiten, sondern erklärt auch, warum im halbkolonialen System die Sicherung der Freiheit des Kapitaltransfers eine so große Rolle spielt, sowohl hinsichtlich der Abschaffung aller Investitionsbeschränkungen des imperialistischen Kapitals als auch zur Sicherung der Repatriierung der Profite. (Gleichzeitig unterliegt der Zugang der imperialistischen Märkte für halbkoloniale ProduzentInnen und InvestorInnen in der Regel viel größeren Beschränkungen.)

Die Dauerhaftigkeit und Reproduktion ungleicher Verhältnisse auf dem Weltmarkt wären jedoch vollkommen unerklärlich, wenn wir nicht die Frage des Währungs-, des Finanzsystems und sein Verhältnis zum Staatensystem betrachten würden. Dem einzelnen Nationalstaat ist es durchaus möglich, das nationale Kapital gegenüber ungünstigeren Bedingungen auf dem Weltmarkt zu schützen. Aber diese Fähigkeit ist beschränkt, wie die Geschichte zeigt, und hängt letztlich von der wirtschaftlichen Stärke des jeweiligen Landes ab.

Im Rahmen der Nationalökonomie wird Geld von der Zentralbank emittiert. Der Staat tritt als dessen Garant auf. Auf dem Weltmarkt existiert kein Weltstaat oder auch nicht irgendeine Staatengemeinschaft als Garant der allgemeinen Verhältnisse der Kapitalreproduktion.

Im Weltgeld, so Marx, kommt das Geld eigentlich zu sich, hier wird seine Daseinsweise seinem Begriff adäquat, weil es direkt als Verkörperung abstrakter Arbeit fungiert (während bestimmte Geldfunktionen immer nur auf eine nationale Währung bezogen sind oder sein können). Aber das Weltgeld braucht, wenn es keinen Weltstaat gibt, einen Garanten. Auch wenn Gold und Silber weiter als Geldware fungieren, so monopolisiert in einem entwickelten kapitalistischen System entweder eine Währung den internationalen Zahlungsverkehr und vor allem das Kredit- und Schuldensystem, oder es besteht Konkurrenz zwischen den Leitwährungen der dominierenden Großmächte. So fungierte in der Phase der britischen Weltmarktdominanz im 19. Jahrhundert das Pfund Sterling als Weltwährung. Selbst im Niedergang versuchte der britische Imperialismus, weiter an der Goldparität und der Dominanz des Pfunds in der Weltmarktkonkurrenz gegenüber den USA festzuhalten.

Nach 1945 setzte sich der US-Dollar als Leitwährung durch. Mit dem Aufstieg Deutschlands und Japans, der Bildung der EU und vor allem mit der Etablierung Chinas als imperialistischer Macht wurde natürlich auch die Vorherrschaft der USA auf diesem Gebiet unterminiert, ein Prozess, der im Grunde schon seit den 1970er Jahren mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems vor sich geht. Dieses legte einen festen Wechselkurs zwischen der Ankerwährung Dollar und den Währungen der Teilnehmerländer zugrunde und verpflichtete die US-Notenbank zum Umtausch von Dollar aus deren Zentralbanken zu einem festen Kurs in Gold (flexibler Goldstandard). Dennoch fungiert der Dollar bis heute als die entscheidende internationale Währung, in der die Mehrheit aller Finanztransaktionen notiert wird, in der Börsengeschäfte abgewickelt werden, in der Schulden auf den internationalen Kreditmärkten aufgenommen und bedient werden müssen. Der Dollar stellt bis heute faktisch Weltgeld dar, auch wenn er mit dem Euro und dem Aufstieg Chinas unter Druck geraten ist. Der als Weltgeld fungierenden Leitwährung treten also allenfalls die Währungen imperialistischer KonkurrentInnen als annähernd gleichwertig hinzu.

Die Frage, welches Geld sich als Weltgeld durchsetzt, ist somit Ausdruck des Stellenwertes eines nationalen Gesamtkapitals im Verhältnis zu den anderen. In bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung vermögen einzelne Staaten aufgrund ihrer weltmarktbeherrschenden Stellung, die auf überlegener Produktion beruht und von militärischer und politischer Vormacht begleitet wird, als „Demiurgen“ (Hervorbringer, Schöpfer) des Weltmarktes zu fungieren.

Das Monopol auf Weltgeld macht zwischen den nationalen Währungen einen enormen Unterschied aus. Es bringt die unterschiedliche Stellung der verschiedenen Staaten in der weltweiten Arbeitsteilung und in der geopolitischen Ordnung nicht nur zum Ausdruck, sondern reproduziert und verfestigt sie zugleich.

Im Kolonialsystem waren Geld und Geldfunktionen in der Regel ohnedies vom jeweiligen Mutterland bestimmt, da keine politisch-staatliche Unabhängigkeit der Kolonie existierte. Im halbkolonialen System der imperialistischen Herrschaft monopolisieren die imperialistischen Mächte das Weltwährungssystem, bestimmen das Weltgeld. Die Währungen der imperialistischen Mächte, die nicht als Demiurgen des Weltmarktes fungieren, gelten als relativ stabil tauschbare Währungen zur Leitwährung. Ein großer Teil des Warenverkehrs wird über die zentrale Leitwährung oder andere imperialistische Währungen vermittelt. Noch viel wichtiger ist freilich, dass die Währungen der imperialistischen Staaten, besonders der Leitwährung, auch gehortet werden, z. B. als Schatzpapiere. Währungen halbkolonialer Länder üben  diese und andere Geldfunktion außerhalb ihres Landes faktisch nicht aus.

Kapitalverkehr, Anlagen, Börsen, Staatsschulden usw. werden also faktisch ausschließlich in Dollar oder einer anderen harten Währung notiert (Euro, Pfund, Renminbi/Yúan, Yen). Das bedeutet aber auch, dass die halbkolonialen, ökonomisch schwächeren Länder im Voraus zu den Bedingungen und in Währungen der imperialistischen Zentren  ihre Geld- und Kapitalgeschäfte abwickeln müssen.

Um am internationalen Kapitalmarkt agieren zu können, muss das halbkoloniale Land über Weltgeld oder eine leicht gegen dieses tauschbare Währung verfügen. Nur so kann es Investitionen anziehen, Güter importieren oder Schulden bedienen und aufnehmen. Je mehr ein halbkoloniales Land von den Finanzmärkten abhängig wird, desto drückender auch die Abhängigkeit von deren Institutionen (IWF, Weltbank) und den Bedingungen, die diese diktieren.

Schon die Bezugspunkte zu Marx hinsichtlich der Modifikation des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt verweisen darauf, dass unterschiedliche Intensität und Produktivität nicht bloß als unterschiedliche Produktivität oder Intensität eines Einzelkapitals, sondern eines gesellschaftlichen Durchschnitts begriffen werden müssen. Dies reflektiert schon die unterschiedliche Entwicklung des Kapitalstocks, der Produktivkräfte, der Stellung in der internationalen Arbeitsteilung.

Offenkundig war es für – im Vergleich zu Großbritannien – später gekommene Nationen auf dem Weltmarkt (z. B. Frankreich, Deutschland, USA, Japan) unter bestimmten Bedingungen möglich, im 19. Jahrhundert eine Ökonomie zu entwickeln, die mit der fortgeschrittensten kapitalistischen gleichzog.

Dies verweist darauf, dass es durchaus eine Wirkung des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt zur Ausgleichung der Produktions- und Verkaufsbedingungen gibt, d. h., es gibt auch eine Angleichung verschiedener „nationalen Werte“ auf dem Weltmarkt. Wichtig ist hier aber zu betonen, dass diese keineswegs nur spontan, sondern unter kräftiger Zuhilfenahme des Staates erfolgt, insgesamt mit dem Ziel, im Rahmen der Weltmarktkonkurrenz ein wettbewerbsfähiges nationales Gesamtkapital zu schaffen. Ab einem bestimmten Punkt schlug das in ein Zurückbleiben der ursprünglich führenden Macht (Britannien) um. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch im Verhältnis USA-Europa-Japan ab den späten 1960er Jahren beobachten, als sich letztere zu Weltmachtkonkurrenten entwickelten.

Heute versucht sich China als Konkurrent zu etablieren, was unter anderem auch bedeutet, dass die KP-geführte Regierung sich als Sachwalterin „ihres“ gesellschaftlichen Gesamtkapitals (nicht „nur“ als Geburtshelferin weltmarktfähiger Einzelkapitale und Monopole) zu erweisen versucht.

Wenn wir aber auf die dauerhafte, systematische Unterordnung von kolonialen und halbkolonialen Ländern und deren Ausbeutung eingehen und diese erklären wollen, so kann das nicht einfach durch eine modellhafte „Ableitung“ von internationalen Marktbeziehungen erfolgen.

Die Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt – nehmen wir z. B. die Kredit- und Geldgeschäfte – reproduziert und verschärft die Unterschiede zwischen den imperialistischen und den vom Imperialismus beherrschten Ländern.

Die Ursache dafür kann freilich nicht einfach auf dem Weltmarkt gefunden werden. Wir müssen uns vielmehr vor Augen halten, dass die kolonialen und später die halbkolonialen Länder unter Bedingungen in den Weltmarkt gezogen wurden und werden, die ihnen einen Platz im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung unter den Bedingungen zuweisen, die von den entwickelten Kapitalen der Metropolen geschaffen wurden und in diesem System reproduziert werden. Anders als in den „entwickelten“, imperialistischen Ländern gestaltet sich die Konstituierung eines gesellschaftlichen Gesamtkapitals von Beginn an prekär.

Daher wollen wir uns noch einmal seine wesentlichen Funktionen vor Augen halten:

  • Ausgleichsbewegung zu ideellem Durchschnitt, Werttransfer zwischen Branchen, damit überhaupt erst Ausgleichung der Profitrate möglich ist
  • Etablierung eines durchschnittlichen Grades der Produktivität und Intensität der Arbeit
  • Etablierung einer nationalen Währung, Sicherung des Geldwerts
  • Sicherung der allgemeinen Produktions- und produktionsbedingungen des Kapitals
  • Staat als ideeller Gesamtkapitalist; Vermittlung des Gesamtinteresses des Kapitals.

Betrachten wir die halbkolonialen Staaten hinsichtlich der Erfüllung dieser Funktionen, so zeigt sich rasch, dass sie diese nur eingeschränkt, wenn überhaupt, einhalten können.

Die Etablierung einer durchschnittlichen nationalen Intensität der Arbeit findet oft nicht oder nur sehr beschränkt statt (z. B. in Indien). Extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung kennzeichnet die halbkoloniale Ökonomie und sie wird über Jahrzehnte oft genug reproduziert.

Das betrifft daher auch den Werttransfer zwischen den Branchen, also die Ausgleichsbewegung der Profitrate. Die halbkolonialen Ökonomien sind – gerade in ihren kapitalistisch entwickelteren Teilen – in der Regel auf den Weltmarkt bezogen. Das Gesetzt der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung begegnet uns in den halbkolonialen Ländern in besonders drastischer Form auf Schritt und Tritt.

Die geschichtlichen Voraussetzungen der Arbeitsteilung, die selbst Folge des Kolonialismus und Imperialismus sind und zugleich von ihm reproduziert werden, bedeuten daher die Etablierung einer ungleichen internationalen Arbeitsteilung, die die innere Struktur, wie sie von der tradierten Abhängigkeit herrührt, aufgreift, reproduziert und festigt.

In den halbkolonialen Ländern drückt sich das in der Reproduktion einer einseitigen Kapitalentwicklung, die von den Akkumulationsbedürfnissen des Kapitals im imperialistischen Land bestimmt wird, aus. Daher begegnen uns in Ländern wie Indien moderne, auf den Weltmarkt bezogene Hightechindustrien neben extremer Rückständigkeit, sei es in den städtischen Armutsvierteln, bei der Wanderarbeit oder auf dem Land.

Die Industrialisierung und Entwicklung der Ökonomie war in der Regel auf Exporte bestimmter Branchen (Rohstoffe, Nahrungsmittel), später auch bestimmte selektive Produktion von Zwischenprodukten, bezogen. Für diese Sparten äußert sich die extreme Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in der Kombination besonders ausbeuterischer, rückständiger Formen (Kontraktarbeit, … ) mit der Produktion für den Weltmarkt.

Wir haben es bei der Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt daher einerseits mit einer widersprüchlichen Tendenz zur Angleichung der Nationalökonomien (beobachtbar insbesondere im Verhältnis zwischen imperialistischen Staaten) und andererseits mit der Reproduktion einer internationalen Hierarchie der Kolonien und Halbkolonien zu tun.

Deren Quelle muss auch in der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals gesucht werden, genauer: in der Blockade von dessen Herausbildung in der Halbkolonie.

Das halbkoloniale Ausbeutungsregime des Finanzkapitals bildet somit  die eigentlich angemessene Form der abhängigen Akkumulation der „Dritten Welt“  unter der Dominanz einer entwickelten imperialistischen Weltwirtschaft.

12. Epoche, Periode, Zyklus, Metazyklen, Klassenkampfperiode

Weiter oben haben wir die imperialistische Epoche grundsätzlich als ein bestimmtes Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation, als Übergangskapitalismus oder sterbenden Kapitalismus charakterisiert.

Die zyklische industrielle Krise besteht zweifellos nicht nur in der vorimperialistischen, sondern auch in der imperialistischen  Epoche. Aber der industrielle Zyklus wird modifiziert durch die Vorherrschaft des Finanzkapitals.

Erstens dahingehend, dass die Zyklen in der Regel einen flacheren Verlauf annehmen, weil a) der monopolistische Charakter des Finanzkapitals die Perioden für Ersatzinvestitionen des fixen Kapitals dehnt, b) das Monopolkapital zeitweilig nicht in die Ausgleichsbewegung der Profitrate eingeht und daher in seinem Investitionsrhythmus von den Bewegungen des industriellen Zyklus teilweise freigespielt ist. Dies wird noch durch den parasitären Charakter des Monopols und seine Tendenz zur Stagnation verstärkt.

Zweitens führt die Krise dazu, dass die Monopolisierungstendenzen, die Dominanz des Finanzkapitals weiter verstärkt werden (Aufkäufe, Abwälzung der Krisenkosten auf nichtmonopolistische Kapitale etc.). D. h., jeder neue industrielle Zyklus findet nicht nur einfach auf mehr oder minder neuer technischer Basis, auf Grundlage einer neuen Zusammensetzung des Gesamtkapitals, sondern auch auf Grundlage eines im Vergleich zum vorherigen Zyklus und im Verhältnis zu anderen Kapitalen gestärkten Finanzkapitals statt.

Neben den einzelnen industriellen Zyklen lassen sich auch Reihen von ihnen mit ähnlicher Akkumulationsdynamik konstatieren. Ihre gemeinsame Basis findet sich – wie jene des einzelnen industriellen Zyklus – in der vorhergegangenen Krise, sprich: ob diese die Bedingungen für eine expansive Akkumulationsdynamik herstellen konnte oder nicht, also in letzterem Fall zu einer stagnativen oder gar depressiven Entwicklungsdynamik geführt hat.

Die Frage ist jedoch, was eine bestimmte Dynamik, die verschiedene Zyklen umfasst, in Gang setzt. Im Folgenden nennen wir diese Reihen von Konjunkturzyklen Akkumulationsperioden. Im Anschluss an Trotzkis „Kurve der kapitalistischen Entwicklung“ unterscheiden wir zwischen solchen mit expansivem, stagnativem und depressivem Charakter.

Perioden mit stagnativem oder gar depressivem Charakter sind immer durch eine, ihrer Krisenhaftigkeit ökonomisch zugrundeliegenden strukturellen Überakkumulation von Kapital geprägt. Die industriellen Zyklen in den Stagnationsperioden tendieren außerdem  dazu, „flacher“ auszufallen, da aufgrund geringer Profitraten und -erwartungen relativ geringe Kapitalmengen in den industriellen, Mehrwert schaffenden Sektor fließen und damit auch in die Neuausstattung des fixen Kapitals.

Auch die vorherrschende Form der Mehrwertaneignung ändert sich – nämlich von der relativen Mehrwertproduktion, die in expansiven Perioden vorherrscht, zur Produktion absoluten Mehrwerts – eine logische Folge der geringeren Erneuerungs- und Erweiterungsinvestitionen, der „Flucht“ in spekulatives Kapital.

Die Ausweitung des Kreditsystems im Zeitalter des Finanzkapitals ermöglicht es speziell den imperialistischen Zentren, die Wirkungsweise von industriellen Zyklen und längerfristigen Krisentendenzen eine gewisse Zeit aufzuhalten. Diese Behinderung der bereinigenden Wirkungen der kapitalistischen Krise führt umgekehrt dazu, dass der folgende Kriseneinbruch umso heftiger und einschneidender wird. Auf diese Weise überlagert den normalen Krisenzyklus ein scheinbar eigenständiger Finanzmarktzyklus, der in der imperialistischen Epoche zum wesentlichen Bestimmungsmoment von Akkumulationsperioden wird. Der Finanzmarktzyklus ist wesentlich bestimmt durch die Organisierungsformen des Finanzkapitals, der Steuerungsmechanismen des Produktivkapitals, seiner Verbindungen zu staatlichen Strukturen sowohl im ökonomischen als auch im politischen Sinn etc. Vor allem aber ist er bestimmt durch die Formen internationaler Kapitalströme, ob in Direktinvestitionen, Kredite, Beteiligungen, Geldmarktbewegungen etc. Gerade in Bezug auf internationale Kapitalströme sind in der imperialistischen Epoche klare Auf- und Abwärtsbewegungen von großem Ausmaß festzustellen, die jeweils mit dem Wechsel wesentlicher AkteurInnen bzw. Institutionen verbunden sind: z. B. Goldstandard und Vorherrschaft von Staatskredit in der „klassischen“ imperialistischen Periode; institutionelle Kredite (Privatbanken unter Schirmherrschaft des IWF), Bretton-Woods-System und System direkt beherrschter Tochterunternehmen in der Zeit des „langen Booms“; fondsgestütztes Investmentbanking, Dollar als Weltwährung und durch den Finanzmarkt organisiertes Unternehmensbeteiligungssystem in der „Globalisierungs“periode. Diese unterschiedlichen Strukturen des Finanzkapitals bedingen unterschiedliche Krisendynamiken am Ende des Finanzmarktzyklus, die sich auch unterschiedlich auf die Krisentendenz der Akkumulationsperiode als Ganze auswirken. Finanzmarktkrisen können auch eingedämmt werden oder nur den Auftakt einer sich entwickelnden Krisenphase der Periode bilden, so z. B. die Börsenkräche 1907 und 1986 (mitsamt der Krise des US-Hypothekenbanksystems) oder die Asienkrise der 1990er Jahre und die folgende Internetblase.

Die Ausgangsbasis für diese Akkumulationsperioden wird jedoch nicht einfach durch die ökonomische Entwicklung der Kapitalbewegung bestimmt, sondern durch Klassenkämpfe zwischen Lohnarbeit und Kapital, geopolitische Verschiebungen, imperialistische Konkurrenz und Kriege, Revolutionen und Konterrevolutionen. In der Tat bildet die Herstellung einer bestimmten Weltordnung die Basis (resp. der Zusammenbruch einer vorhergehenden aufgrund politischer Ereignisse – z. B. Erster Weltkrieg, Zusammenbruch des Weltmarktzusammenhangs etc.), auf der sich längerfristige, mehrere Zyklen umfassende Akkumulationsperioden überhaupt bilden können.

Kurzum, wenn wir von geschichtlichen Perioden im Rahmen der imperialistischen Entwicklung sprechen, können diese nicht einfach durch Referenz auf eine Folge von industriellen Zyklen  ökonomisch bestimmt werden. Die Akkumulationsperioden bilden vielmehr die ökonomische Basis für geschichtliche Perioden im Rahmen der imperialistischen Epoche.

Um den Gesamtcharakter geschichtlicher Perioden zu bestimmen, müssen wesentlich auch andere Fragen des Verhältnisses zwischen den imperialistischen Mächten und zwischen den Klassen einfließen. Während Akkumulationsperioden (oder metazyklische Perioden) ökonomische Kategorien darstellen, bezieht sich der Begriff der historischen Periode – ebenso wie jener der Epoche selbst – auf die Gesamtheit der Entwicklung der Gesellschaftsformation.

Ihr Beginn oder Ende können, müssen aber keinesfalls, mit dem Beginn ökonomischer Zyklen zusammenfallen. Ja, in der Regel werden sie das nicht tun. Vielmehr sind für den Beginn (oder das Ende) einer Periode einschneidende weltpolitische Ereignisse konstitutiv, die eine grundlegende Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und den imperialistischen Mächten markieren.

Die Akkumulationsdynamik einer bestimmten historischen Periode (und auch andere Faktoren wie die historisch spezifische Form der Kapitalbildung, das innerimperialistische Verhältnis usw.) führt notwendig dazu, dass bestimmte Merkmale und Wesenszüge der Epoche stärker oder weniger stark in den Vordergrund treten. So ist z. B. in der Periode des „langen Booms“ – selbst eine außergewöhnliche Periode – die Tendenz zum Niedergang und zur Stagnation vergleichsweise gering ausgeprägt. Das hat ja auch viele RevisionistInnen zur Annahme geführt, dass es gar keine imperialistische Epoche mehr gäbe.

In der ersten Phase der Globalisierungsperiode wiederum erscheint die innerimperialistische Konkurrenz eliminiert. Dies wird noch durch die Formierung gigantischer Konzerne verstärkt, deren Terrain der Weltmarkt ist, und die, so die „moderne“ revisionistische Argumentation, zur Bildung eines „transnationalen Kapitals“ geführt hätten, das nicht mehr mit bestimmten imperialistischen Staaten verbunden wäre, dass es nur noch „globalen Norden“ und „globalen Süden“ gäbe, dass der „Imperialismus“ einer neuen Form des Ultraimperialismus gewichen sei.

In diesen längeren historischen Perioden sind kürzere „Klassenkampfperioden“ inkludiert. In der kommunistischen Literatur werden diese auch öfter als „Situationen“ oder „Lagen“ bezeichnet. Wir haben dafür gelegentlich den Begriff „Phasen“ verwendet.

Die Klassenkampfperioden werden durch politische Ereignisse von globaler Bedeutung bestimmt, sowohl was ihren Beginn als auch ihr Ende betrifft. Das sind politische Phasen, die in der Regel nur wenige Jahre umfassen.

Die Bestimmung dieser kurzen Klassenkampfperioden ist umgekehrt erstens sehr wichtig, weil sie grundlegende Auswirkungen auf die Strategie und Taktik des revolutionären Proletariats in einer bestimmten Periode mit sich bringen. Zweitens sind insbesondere Perioden von revolutionärem oder vorrevolutionärem Charakter von größter Wichtigkeit, weil sich in ihnen der allgemeine Charakter der Epoche sowie der historischen Periode konzentriert ausdrückt.

Auch wenn die Dauer der Klassenkampfperioden relativ kurz ist – einige Jahre, vielleicht bis zu einem Jahrzehnt umfassend –, so können wir generell davon ausgehen, dass der Wechsel zwischen verschiedenen Klassenkampfperioden umso rascher vonstattengeht, je instabiler und revolutionärer der Charakter der historischen Periode ist, deren Bestandteil sie  verkörpert. Der vergleichsweise rasche Wechsel zwischen revolutionären und konterrevolutionären Klassenkampfperioden, jenen relativer Stabilität mit jenen größerer revolutionärer (und konterrevolutionärer) Erschütterungen, konstituiert ein Wesensmerkmal von historischen Perioden der sozialen Revolution,  revolutionären Perioden wie, in klassischer Form, jener von 1914 – 1948.

Es macht außerdem Sinn, zwischen Klassenkampfperiode und -situation zu unterscheiden, auch wenn dies keineswegs einfach und immer trennscharf ist. Das ist kein Zufall. Erstens handelt es sich in beiden Fällen um politische Kategorien. Zweitens tendieren diese in revolutionären historischen Perioden (z. B. in der Zwischenkriegszeit) dazu zusammenzufallen. Das ist  durch den Charakter der historischen Periode, den raschen Wechsel der Weltlage usw. bedingt.

In anderen historischen Perioden macht es einen offenkundigen Sinn, zwischen der Klassenkampfperiode und einer Situation zu unterscheiden (wobei letztere einen Wechsel des Charakters der Klassenkampfperiode einläuten kann, aber nicht muss). So kann der Beginn des Krieges gegen Afghanistan nach dem 11. September 2001 durch die globale „Allianz der Willigen“ durchaus als konterrevolutionäre Situation beschrieben werden, in der, allerdings nicht für allzu lange Zeit, der Widerstand, die Antiglobalisierungs-, die ArbeiterInnenbewegung usw. paralysiert wurden.

Die längeren, historischen Perioden in der imperialistischen Epoche lassen sich in sechs Abschnitte einteilen:

a) Entstehungsperiode des klassischen Imperialismus bis 1914

b) Revolutionäre Krisen- und Zusammenbruchsperiode 1914 – 1948

c) Periode des langen Booms und der konterrevolutionären Nachkriegsordnung 1948 – 1968

d) Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung 1968 – 1989

e) Globalisierungsperiode seit 1989 – 2007/2008

f) Periode einer neuen globalen Krise des Kapitalismus seit 2007/2008 – Periode der Krise der Globalisierung.

13. Perioden der imperialistischen Epoche, ihre grundlegenden Charakteristika und die in ihnen inkludierten Klassenkampfperioden

Im Folgenden wollen wir einen kurzen Abriss der geschichtlichen Perioden der imperialistischen Epoche liefern. Wir werden darin auch beispielhaft wichtige Klassenkampfperioden darstellen, freilich ohne jedes Jahr und jeden Tag der letzten hundert Jahre zuzuordnen. Ein besonderes Augenmerk wollen wir auf die Übergänge von einer Periode zur anderen legen.

13.1 Die Entstehungsperiode des Imperialismus bis 1914

Die Periode bis 1914 kann im Anschluss an Trotzki als eine der Herausbildung der Widersprüche des Imperialismus charakterisiert werden. Die Krise von 1873 stellte einen wichtigen Bruchpunkt in der Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert dar. [cii] Verglichen mit den vorhergehenden zyklischen Krisen trat der internationale Charakter besonders stark hervor, die Krise traf alle wichtigen Nationalökonomien. In den jüngeren kapitalistischen Ländern oder Mächten (Vereinigte Staaten, Deutschland, Österreich-Ungarn) war sie besonders ausgeprägt, wirkte sich aber auch auf England and Frankreich stark aus. Vordergründig erschien sie durch ein massives „Spekulationsfieber“ indiziert, aber das verschleierte eher ihre Ursachen und vor allem ihre Auswirkungen.

Rückblickend können wir feststellen, dass sie eine wirkliche Weltmarktkrise darstellte, in allen Ländern zu einer massiven Vernichtung von überschüssigem Kapital und zu einer massiven Erneuerung des Kapitalstocks, vor allem im Bereich der Herstellung von Produktionsmitteln, führte. Die Krise signalisierte und verstärkte also eine Durchsetzung der industriellen Großproduktion in allen wichtigen Sektoren, sie gab der Zentralisation und Konzentration von Kapital einen mächtigen Schub und damit auch der Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals.

Natürlich lässt sich der Übergang von einer Epoche des Kapitalismus zur nächsten nicht genau datieren, wohl aber können wir vom Beginn einer neuen Epoche beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen.

Mit ihr fallen auch die Herstellung des Weltmarktes und der Abschluss der Aufteilung der Welt unter die großen Kapitale und Großmächte zusammen. Es ist die Periode des Übergangs zum Imperialismus. Es ist die Periode, in der die Verschmelzung von industriellem und zinstragendem Kapital unter Dominanz des Letzteren zur Bildung und Durchsetzung des Finanzkapitals führte. Die wesentliche Form dieser Verschmelzung ist in jener Periode sowie auch in der folgenden jene von industriellem Kapital mit den Banken. Die Börse und die Finanzmärkte spielten in vielen Ländern in dieser Periode eine relativ geringe Rolle.

Die Aufteilung der Welt ist zu Beginn der imperialistischen Epoche faktisch bereits abgeschlossen. Britannien bildete die dominierende, hegemoniale Macht aufgrund der Funktion des Pfunds als Weltgeld, des riesigen Kolonialreiches und der überlegenen militärischen Schlagkraft der britischen Flotte. Während Frankreich als zweitgrößte Kolonialmacht zwar einen globalen, geopolitischen Rivalen darstellte, wurde es von anderen aufsteigenden Mächten bedrängt und in vieler Hinsicht bereits überflügelt.

Die USA und Deutschland als größte industrielle Mächte etablierten sich als wichtigste aufstrebende RivalInnen des britischen Hegemons. Hinzu kam Japan. Während die USA über einen gigantischen Binnenmarkt verfügten und frühe Formen der halbkolonialen Dominanz in den Amerikas entwickelten, waren Deutschland und Japan bei der kolonialen Aufteilung der Welt „zu kurz“ gekommen. Drei Imperien befanden sich schon in der frühen imperialistischen Epoche in äußerst prekärer Lage. Das traf vor allem auf das Osmanische Reich zu, das praktisch in Schuldknechtschaft der imperialistischen Banken gezwungen wurde. Der Widerspruch zwischen imperialer Ambition und einer Ökonomie, die einem halbkolonialen oder kolonialen Gebiet entspricht, trat hier am deutlichsten hervor. Aber auch in der Habsburger Monarchie und im zaristischen Russland zeigte sich der Gegensatz zwischen imperialer Stellung und Ambition einerseits und extremer Rückständigkeit andererseits in äußerst widersprüchlicher Form. Beide entwickelten im Gegensatz zum Osmanischen Reich neben Formen der Rückständigkeit auch modernste und gigantische Großindustrien (Russland) oder ein bedeutendes Bankkapital (Österreich), für das die unterdrückten Länder der Doppelmonarchie bevorzugte Ziele des Kapitalexports darstellten.

Kleinere oder schwächere imperialistische Staaten, wie z. B. Belgien oder Portugal, fungierten faktisch als Mitpartizipierende einer globalen Arbeitsteilung und politischen Ordnung, als Pufferstaaten oder untergeordnete Vasallen einer Großmacht.

All das verdeutlicht schon am Beginn der imperialistischen Epoche, dass Imperialismus vor allem eine globale politische und ökonomische Ordnung ist und nicht einfach eine Ansammlung von Eigenschaften voneinander isoliert betrachteter Ökonomien und Staaten darstellt. Ob  ein Land als imperialistisch zu charakterisieren ist oder nicht, kann daher nur im Rahmen einer Betrachtung der Totalität der ökonomischen und politischen Weltordnung erfasst werden, die den Ländern ihren Platz in der globalen Hierarchie der kapitalistischen Ökonomien und Mächte zuweist.

Die technologischen Neuerungen in Schwerindustrie, Chemie, Transport und Kommunikation bildeten ein weites Feld für rasante Akkumulation. Gleichzeitig war genug Anlagekapital zu günstigen Zinsen verfügbar. Mit dem Aufschwung der Monopolindustrien ging eine „Explosion“ der Kapitalexporte einher. Wie Lenin ausführlich zeigt[ciii], konzentrierte sich dieser Kapitalexport auf die Jahre 1900 – 1914. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in England, Frankreich und Deutschland ein Niveau erreicht, das jenes von Mitte des 19. Jahrhunderts fast um das Hundertfache übertraf.

Dabei wurde der Kapitalexport vor allem durch Staatsanleihen und Kredite organisiert, die über Regierungen und Bankenkonsortien vermittelt wurden. Dieser Kapitalfluss war an die Bedingungen geknüpft, Infrastrukturaufträge an große Industriemonopole der imperialistischen Staaten zu vergeben. Zur Sicherung dieser Kapitalbeziehungen wurde in bestimmten Regionen in bisher ungekanntem Ausmaß zum Mittel des direkten Kolonialismus gegriffen, während anderswo die „Unabhängigkeit“ formal bestehen blieb, aber de facto der Status von „Halbkolonien“ entstand.

Die USA und Deutschland als aufstrebende industrielle und finanzielle Mächte gerieten mehr und mehr an die Grenzen der unter britischer Vorherrschaft vorgenommenen Aufteilung der Welt. Das traf vor allem auf Deutschland zu, das, im Kolonialsystem zu kurz gekommen, an die Grenzen eines für die Akkumulationsbedürfnisse des Großkapitals zu klein gewordenen Binnenmarkts stieß. Die USA befanden sich in einer weit besseren Situation wegen des größeren und noch nicht entwickelten inneren Marktes und ihrer Dominanz über Lateinamerika als halbkoloniale Einflusssphäre.

Ökonomisch war diese Periode von 1900 – bis 1914 expansiv, da Monopol- und Finanzkapital mit der enormen Ausdehnung der Produktion, den großen industriellen und sonstigen Unternehmungen auch fortschrittliche Potenzen an den Tag legten.

Aber das Monopol verschärft die krisenhaften Tendenzen gerade auch deshalb, weil es entwertende und damit expansive Voraussetzungen wiederherstellende Wirkungen der industriellen Krise modifizieren kann – z. B. indem die Vernichtung überschüssigen Kapitals aufgeschoben wird und die Kosten seiner Erhaltung der Gesellschaft aufgebürdet werden.

Das sich entwickelnde Finanzkapital begann  in dieser Periode, sich alle Aspekte des Wirtschaftslebens unterzuordnen. Überaus wichtige Beispiele dafür waren Forschung und Wissenschaft, die mehr und mehr auf die Bedürfnisse des Großkapitals bezogen wurden, immer größere Kapitalauslagen brauchten oder staatlich organisiert werden mussten. Daher nahm logischerweise auch die Bedeutung des Eigentums und exklusiven privatkapitalistischen Anspruchs auf Resultate der Forschung und Wissenschaft (inkl. Patentrecht) zu. Insgesamt verschärfte all das die Dominanz des Finanzkapitals gegenüber nichtmonopolistischem Kapital und der Gesellschaft insgesamt.

Die industriellen Krisen trieben die Monopolisierungstendenzen mit voran, führten zur Verschärfung der internationalen Konkurrenz, schließlich zum Krieg.

Politisch ging diese Periode einher mit einer ökonomischen Vertiefung des Kolonialsystems und damit auch der Notwendigkeit seiner militärischen Absicherung und Durchsetzung. Der Militarismus bildete ein immer stärker werdendes Kennzeichen aller imperialistischen Mächte. Seine Durchsetzungsformen reichten von der Kanonenbootpolitik bis hin zu größeren, ins Landesinnere ausgreifenden kolonialen „Missionen“.

Der Russisch-Japanische Krieg, die erste Russische Revolution, die Marokkokrise und die Balkankriege signalisierten schon den Übergang zur nächsten Periode, verdeutlichten, dass sich die inneren Widersprüche zuspitzten.

Die Periode bis zum Ersten Weltkrieg stellte eine der Entwicklung der Widersprüche auch in dem Sinne dar, dass sich die gesellschaftlichen Hauptklassen (auch mit inneren Kontroversen) des Epochenbruchs zum Imperialismus bewusst wurden.

Die ArbeiterInnenbewegung machte in dieser Periode mit der Vergrößerung der ArbeiterInnenaristokratie, Veränderungen des Gewerkschaftswesens und der Entwicklung einer ArbeiterInnenbürokratie als Resultat erfolgreicher gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe für Reformen einen wichtigen Formwandel durch.

Auch die sozialen Verhältnisse in den Kolonien und Halbkolonien wurden dahingehend umgewälzt, dass eine, wenn auch kleine, aber oft hoch konzentrierte moderne ArbeiterInnenklasse entstand. Zugleich war ihnen eine, gegenüber dem Westen, einfach „nachholende Entwicklung“ aufgrund des kolonialen oder halbkolonialen Charakters ihres Landes im Rahmen des imperialistischen Weltsystems nicht möglich. Gerade was die Entwicklung dieser, vom imperialistischen Finanzkapital beherrschten Länder betrifft, zeigte sich der hemmende Charakter der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse in der imperialistischen Epoche, was die Entwicklung der Produktivkräfte der Menschheit betrifft, und zwar für ihren weitaus größeren Teil.

In dieser Periode spitzten sich in der ArbeiterInnenbewegung auch die inneren politischen Gegensätze zu. Die reformistische Alltagspraxis, die in den westlichen ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften mehr und mehr dominierte, suchte mit den Vorstößen des Revisionismus auch nach einem theoretischen Ausdruck ihrer Politik.

Insgesamt kann man jedoch konstatieren, dass sich das Bewusstsein der sich formierenden Fraktionen in der internationalen Sozialdemokratie hinsichtlich des Charakters ihrer Meinungsverschiedenheiten und deren politischer und organisatorischer Konsequenzen erst allmählich entwickelte und dieser von allen Fraktionen an bestimmten Punkten unterschätzt wurde.

Der imperialistische Weltkrieg und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale zwangen die RevolutionärInnen dazu, sich die Frage nach den materiellen Wurzeln des Verrats der Zweiten Internationale in allen Aspekten zu stellen und grundlegende, radikale Konsequenzen daraus zu ziehen, d. h., den konsequenten Bruch mit dem reformistischen Sozialchauvinismus zu vollziehen sowie die Notwendigkeit einer Dritten Internationale zu proklamieren und diese schließlich als Weltpartei der proletarischen Revolution zu gründen.

13.2  1914 – 1948: Periode des Zusammenbruchs der imperialistischen Ordnung – Revolution und Konterrevolution

Die Periode von 1914 bis 1948 entsprach offensichtlich in ihrer Erscheinungsform am deutlichsten den klassischen Imperialismustheorien der revolutionären ArbeiterInnenbewegung.

Mit dem Ersten Weltkrieg traten die inneren Widersprüche, die sich in der vorhergehenden Periode aufgeladen hatten, explosiv hervor. Doch der Weltkrieg löste diese nicht. Die Frage der imperialistischen Führung und der Neuaufteilung der Welt blieben ungelöst, ja, verschärfte sich. Die USA wurden zur führenden Wirtschaftsmacht, zur Industriellen der Welt. Auch Japan verzeichnete einen starken industriellen Aufschwung.

Britannien und Frankreich konnten jedoch ihr Kolonialmonopol behaupten, aber auf ungleich schwächerer industrieller Grundlage. Das Pfund blieb Leitwährung. Seine Weltmarktfunktion als Weltgeld vermochte es jedoch nicht mehr recht auszufüllen, was den britischen Imperialismus vielmehr von innen aushöhlte. In der prekärsten Lage befand sich jedoch der deutsche Imperialismus.

Die unmittelbare Nachkriegsperiode war neben den politischen auch durch massive ökonomische Erschütterungen, v. a. in Deutschland, charakterisiert – bis hin zur Hyperinflation 1923. Diese konnte durch eine Änderung der US-Politik und deren Weltmachtrolle (neben dem für das Kapital positiven Scheitern der Revolution) ab Ende 1923 relativ stabilisiert werden. Aber die Probleme blieben.

Die 1920er Jahre sahen einen enormen Anstieg von privaten Investitionen, speziell aus den USA in Form von Anleihen in lateinamerikanischen und osteuropäischen Staaten sowie in Deutschland, die durch US-Investmentbanken gebündelt und vermittelt wurden. Diese Anlagen wiederum dienten als Deckung für eine Kreditausdehnung auf Basis niedriger Zinsen. Mit dem Steigen der US-Zinsen Ende der 1920er Jahre und den wachsenden Problemen bei der Schuldentilgung durch die Schuldnerstaaten platzte die Spekulationsblase in der ausgedehnten Finanzkrise nach 1929. Die nächsten Jahre sahen einen gewaltigen Rückfluss an Schuldentilgung, Auflösung von Reserven, sinkenden Wechselkursen und stark ungünstige „Terms of  Trade“ auf Seiten der betroffenen Länder. Insbesondere in Lateinamerika war „Importsubstitution“ eine logische Antwort auf diese Probleme. Ebenso wechselte damit die vorherrschende Form des Kapitalexports in die der Direktinvestition, insbesondere in Landesgesellschaften der US-Konzerne in Lateinamerika.

Gleichzeitig bedeutete das Kolonialsystem für die USA, Deutschland und Japan aus unterschiedlichen Gründen enorme Einschränkungen. Das US-Kapital investierte auch wegen des Kolonialsystems in den 1920er Jahren v. a. in Deutschland, Lateinamerika und Osteuropa, während ihm die britischen und französischen Kolonialgebiete oft verschlossen waren.

Das deutsche Monopolkapital war zu groß für den inneren Markt. Zugleich verhinderten Schutzzölle und andere Auflagen des französischen und britischen Imperialismus den Zugang zum Weltmarkt, v. a. für die Stahl- und Chemieindustrie.

Damit verschärfte sich der Gegensatz zwischen den größten Kolonialmächten sowie den USA, Deutschland und Japan weiter. Der Gegensatz musste sich, sofern nicht die proletarische Revolution zuvorkommen würde, in einem weiteren Weltbrand, dem Zweiten Weltkrieg, entladen.

Insgesamt waren weite Teile dieser Periode gekennzeichnet durch die Erschütterungen, ja, den Zusammenbruch der imperialistischen Ordnung und des Weltmarktes. Die imperialistische Vormachtstellung Britanniens ist in offenen und akuten Gegensatz zu seiner ökonomischen Potenz getreten. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach gab es keine imperialistische Hegemonialmacht, die als „Weltmarktgarantin“ hätte fungieren können.

Gerade deshalb stellen die kurzen, fieberhaften wirtschaftlichen Aufschwungsperioden von 1923 – 29 ökonomische Entwicklungen dar, die große Katastrophen vorbereiteten, weil die globalen geopolitischen Verhältnisse und die klassenmäßigen Voraussetzungen nicht in der Lage waren, eine anhaltende Stabilisierung herbeizuführen.

Das zeigte sich auch in der Entwicklung der Technik. So bereiteten die 1920er und 1930er Jahre viele Entwicklungen vor, die später, in der Periode des langen Booms (s. u.), verallgemeinert wurden und wichtige Elemente der ökonomischen Grundlagen dieser Periode darstellten (Anwendung des Taylorismus in der US-Autoindustrie ab 1913 und dessen beginnende Ausbreitung nach dem Ersten Weltkrieg, Zentralisation des Kapitals im Handelssektor, „Entdeckung“ der ArbeiterInnenklasse als Massenkonsumentin, „Entdeckung“ der kolonialen oder halbkolonialen Länder für Direktinvestitionen).

Doch all diese Entwicklungen konnten ihr ökonomisches Potential in dieser Periode unmöglich realisieren, weil die globalen Bedingungen dafür, d. h. massive Vernichtung bestehender Kapitale, Neuaufteilung der Welt und Etablierung einer imperialistischen Hegemonialmacht, über Jahrzehnte fehlten.

Die Zwischenkriegsperiode und der Zweite Weltkrieg markierten auch aus einem anderen Grund einen Wendepunkt., eine globale Durchsetzung des Imperialismus. Anders als in jeder vorhergehenden Periode waren die Kolonialländer und die Halbkolonien direkt in die Weltpolitik, in das globale politische System im Rahmen der globalen Auseinandersetzung eingefügt, in der diesen Ländern, respektive den sich bildenden, in ihrer Formierung durch das imperialistische Weltsystem letztlich blockierten, modernen Gesellschaftsklassen in diesen Ländern (ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie), eine ungleich größere Rolle zukam als in der vorimperialistischen Epoche oder in der ersten Periode des Imperialismus. Die Kolonialvölker wurden in viel größerem Maße als je zuvor AkteurInnen im revolutionären Kampf.

Wir können also von einer globalen Periode des Zerfalls des Kapitalismus, seines Niedergangs sprechen, in der der Übergang zum Sozialismus den einzigen möglichen Ausweg bildete, um historische Katastrophen – Krieg, Faschismus, Barbarei –  abzuwenden. In dieser insgesamt revolutionären Geschichtsperiode, einer von Revolution und Konterrevolution, kam dem subjektiven Faktor, der Frage des Bewusstseins, der Reife, Organisiertheit, der strategischen und taktischen Richtung der kommunistischen Bewegung, eine bis dahin nie dagewesene geschichtliche Bedeutung zu.

Die Periode von 1914 bis 1948 muss also auch von dieser Seite charakterisiert werden, und zwar als eine revolutionäre Periode, weil sie wiederholt einen Ansturm der WeltarbeiterInnenklasse auf die politische Macht im Weltmaßstab mit sich brachte. Der Sieg und das Behaupten der Russischen Revolution, die Errichtung der Sowjetunion usw. belegen auch den Charakter der imperialistischen Epoche als „Übergangskapitalismus“.

Zugleich offenbart sich der Charakter der weltgeschichtlichen Periode keineswegs immer in derselben Form. In seiner Kritik des 6. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale verwies Trotzki auf dieses Problem folgendermaßen:

„Der revolutionäre Charakter der Epoche besteht nicht darin, dass er es in jedem gegebenen Augenblick gestattet, die Revolution durchzuführen, d. h. die Macht zu ergreifen, sondern in scharfen Schwankungen und abrupten Übergängen von einer unmittelbar revolutionären Situation, in der die Kommunistische Partei Anspruch auf die Macht erheben kann, zu einem Sieg der faschistischen oder halbfaschistischen Konterrevolution, und von letzterem zu einem provisorischen Regime der goldenen Mitte (dem „Linken Block“, der Einbeziehung der Sozialdemokraten in die Koalition, dem Übergang der Macht an die Partei MacDonalds usw.), um gleich darauf wieder die Gegensätze auf die Spitze zu treiben und in aller Schärfe die Machtfrage zu stellen.“ [civ]

Wenn wir einmal beiseitelassen, dass Trotzki hier die geschichtliche Periode mit der gesamten imperialistischen Epoche identifiziert, so zeigt das für diese Zeit sehr deutlich, welche zentrale Bedeutung die Einschätzung der Klassenkampfperiode oder der konkreten Lage für die konkrete revolutionäre Politik, für die Bestimmung ihrer konkreten Taktik, der Losungen, Forderungen, die in den Mittelpunkt ihrer Agitation und Propaganda gerückt werden, hat. Eine Politik, die der jeweils konkreten Lage nicht Rechnung trägt, ist, unbeschadet aller guten Vorsätze und des Heroismus ihrer AnhängerInnen, letztlich zum Scheitern verurteilt. Sie führt unvermeidlich zur politischen Desorientierung der Klasse. Darin liegt eben eine der großen Tragödien des Linksradikalismus, ultralinker politischer Ungeduld oder auch opportunistischer Passivität. Wenn die sich verändernden Situationen nicht rechtzeitig erkannt werden, wird die revolutionäre Organisation notwendigerweise unangemessene Taktiken verwenden oder die falschen Losungen in den Mittelpunkt stellen. Ein solches Unvermögen wirkt sich bei allen Wendungen im Klassenkampf – sowohl bei revolutionären Zuspitzungen als auch nach grundlegenden Niederlagen – verheerend aus. Trotzki verdeutlicht das Problem unter anderem nach der Niederlage des deutschen Oktober 1923, als sich die Komintern weigerte, die Niederlage zur Kenntnis zu nehmen:

„Nach der Periode der Sturmflut während des Jahres 1923 begann die Periode einer langdauernden Ebbe. In der Sprache der Strategie bedeutete das einen geordneten Rückzug, Nachhutgefechte, die Befestigung der Stellungen innerhalb der Massenorganisationen, die Überprüfung der eigenen Reihen und die Reinigung und Schärfung der theoretischen und politischen Waffen. Diese Haltung wurde als Liquidatorentum gebrandmarkt. Mit diesem, wie auch mit anderen Begriffen aus dem Wörterbuch des Bolschewismus wurde in den letzten Jahren der allergrößte Missbrauch getrieben. Man lehrte und erzog nicht mehr, sondern säte nur Zwietracht und Verwirrung. Liquidatorentum bedeutet die Zurückweisung der Revolution, es ist der Versuch, deren Wege und Methoden durch die Wege und Methoden des Reformismus zu ersetzen. Die leninistische Politik hat nichts mit Liquidatorentum gemein. Doch genausowenig hat sie mit einer Mißachtung der Veränderungen in der objektiven Lage zu tun, damit, den Kurs des bewaffneten Aufstands in Worten aufrechtzuerhalten , wenn die Revolution uns bereits den Rücken gekehrt hat und es notwendig ist, wieder den langwierigen Weg hartnäckiger, systematischer und mühseliger Arbeit unter den Massen einzuschlagen, um die Partei auf eine neue Revolution vorzubereiten .

Um eine Treppe hinaufzusteigen, braucht der Mensch eine andere Art der Bewegung, als wenn er sie hinuntergeht. Am gefährlichsten wird es, wenn der Mensch, nachdem er das Licht gelöscht hat, den Fuß zum Hinaufsteigen hebt, während es vor ihm die Stufen hinuntergeht. Stürze, Verletzungen und Verrenkungen sind  dann unvermeidlich. Die Führung der Komintern hat im Jahre 1924 alles getan, um die Kritik der Erfahrungen des deutschen Oktobers und jede Kritik überhaupt zu unterdrücken. Sie wiederholte halsstarrig: Die Arbeiter steuern unmittelbar auf die Revolution zu – die Treppe führt hinauf. Kein Wunder, daß die Direktiven des 5. Kongresses, angewandt während des Zurückflutens der Revolution, zu schweren politischen Stürzen und Verrenkungen führten!“ [cv]

Die Bedeutung einer konkreten Analyse der politisch-ökonomischen Lage, der kurzfristigen Klassenperiode oder Situation ergibt sich daraus, dass diese jeweils unterschiedliche, konkrete Politik erfordern. Daher bilden die Einschätzung und Charakterisierung der aktuellen Lage ein unterlässliches Moment revolutionärer Tätigkeit. Ohne diese agiert eine Organisation oder Gruppe blind. Die Einschätzung der Veränderung solcher Perioden und von deren Übergängen bereiten naturgemäß oft Schwierigkeiten, weil diese nur aus einer Gesamteinschätzung der Lage gewonnen werden können, deren alternative Entwicklungsmöglichkeiten durchaus offen sein mögen – nicht zuletzt, weil sie selbst im Klassenkampf und nicht am Kopf des/r Analysierenden entschieden werden. Das relativiert ihre Bedeutung und die ständige kritische Überprüfung von Prognosen und Einschätzungen jedoch nicht. Im Folgenden wollen wir zur Illustration kurz die politischen Klassenkampfperioden in dieser längeren Periode von 1914 – 1948 skizzieren.

1914 – 1916: Imperialistische Schockwelle, Phase der Defensive und Vorbereitung

Die historische Katastrophe des Ersten Weltkrieges und des Zusammenbruchs der II. Internationale eröffnete eine Periode der nationalistischen Verhetzung der ArbeiterInnenklasse und der Masse der Unterdrückten. Die sozialpatriotische, tatkräftige Hilfe der Sozialdemokratie und der bürokratischen Gewerkschaftsapparate bildeten dabei in den meisten Ländern eine wesentliche soziale Stütze, die den Einfluss nationalistischer Ideologien und der Kriegshetze in der ArbeiterInnenklasse verstärkte.

Viele Untersuchungen zeigen, dass die Kriegsbegeisterung im Proletariat, anders als bürgerliche, aber auch viele sozialdemokratische IdeologInnen verbreiten, keineswegs allgemein war, sondern ein bedeutender Teil der Klasse dem Krieg von Beginn an skeptisch bis offen ablehnend gegenüberstand. Der Verrat der Sozialdemokratie bedeutete aber gerade die Illegalisierung, Isolierung und gezielte Marginalisierung dieser Teile.

In dieser weltgeschichtlichen Lage stellte der Kampf der Bolschewiki und anderer internationalistischer Linke für einen Bruch mit der II. Internationale, einschließlich des unversöhnlichen Kampfes gegen das Versöhnlertum, eine unerlässliche Voraussetzung für die Neuformierung der ArbeiterInnenklasse.

1917 – 1919: Periode des offen revolutionären Ansturms

Diese Periode des revolutionären Ansturms wurde durch politische Ereignisse, erste internationalistische Massendemonstrationen gegen den Krieg und v. a. die Februarrevolution, eingeläutet. Gegen Ende des Krieges und danach  stellte sich in einer Reihe europäischer Länder unmittelbar die Machtfrage bis hin zur Errichtung von landesweiten oder städtischen bzw. lokalen Räterepubliken und Doppelmachtorganen. Doch in Deutschland, Italien, Deutsch-Österreich, Ungarn, der Slowakei usw. wurde die Revolution geschlagen durch das Zusammenwirken von Reaktion und Sozialdemokratie. Mit den Niederlagen dieser Revolutionen wurde diese Klassenkampfperiode beendet.

1920 – 1923: Instabile Periode der Defensive und des Kampfes um die Massen

Dies war die Periode, die vor allem dadurch gekennzeichnet war, dass das revolutionäre Proletariat aus der Organisierung von Abwehrkämpfen heraus die Offensive vor dem Hintergrund einer nach wie vor turbulenten und höchst instabilen Weltlage organisieren musste.

Aber aufgrund der Niederlagen des unmittelbar revolutionären Ansturms konsolidierten sich die bürgerliche Herrschaft und die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbürokratie einigermaßen.

Ökonomisch und politisch blieb diese Periode jedoch weiter äußerst instabil. Sie zeigte enorm große Zuspitzungen des Klassenkampfes in einzelnen Ländern (z. B. Kapp-Lüttwitz-Putsch, Ruhrkrise). Sie kulminierte und endete 1923 im deutschen Oktober, der einer strategischen Niederlage der WeltarbeiterInnenklasse gleichkam.

Diese Periode erforderte von den KommunistInnen, die Lehren aus dem Scheitern des ersten Ansturms zu ziehen und ihr strategisches Ziel mit dem Kampf um die Massen in Phasen der Defensive, der leicht in den um die Macht umschlagen konnte, zu verbinden. Auch wenn die kommunistische Bewegung in dieser Phase viel Lehrgeld zahlen musste, wurden entscheidende politische, taktische und programmatische Schlussfolgerungen entwickelt (Einheitsfront, Übergangsforderungen), die bis heute ihren Wert behalten haben.

1924 – 1929: Periode der relativen Stabilisierung

Die Niederlage im Oktober 1923 ging Hand in Hand mit einer politischen Kursänderung der imperialistischen Mächte, v. a. mit einer stärkeren und die Lage in Europa stabilisierenden Rolle des US-Imperialismus (Zurückdrängen des rabiaten französischen Revanchismus, Währungsreform und Stabilisierung in Deutschland durch die USA). Diese Periode der relativen Stabilisierung der bürgerlichen Herrschaft kannte auch wichtige verpasste Chancen der ArbeiterInnenbewegung (Britannien), vor allem aber die Niederlage der chinesischen Revolution und die Stärkung der Stalinbürokratie sowie das massive Voranschreiten der Degeneration der Kommunistischen Internationale nach 1924.

Diese veränderte ihren Charakter von einer revolutionären zu einer zentristischen Organisation. Diese Degeneration stellte selbst einen Faktor dar, der den Spielraum der Weltbourgeoisie vergrößerte.

1929 – 1936: Weltwirtschaftskrise, große Depression, Zuspitzung der Klassenkämpfe

Die Weltwirtschaftskrise, die verschiedene Länder ab 1929 zeitversetzt traf, führte zu massiven inneren Erschütterungen, einer Reihe von Revolutionen und Konterrevolutionen.

Verschiedene Länder (Deutschland, Frankreich, Spanien) bildeten in dieser Phase den Schlüssel zur internationalen Lage, weil die Klassenkämpfe derartig intensive Formen angenommen hatten, dass deren Ausgang wesentlich nicht nur über Revolution und Konterrevolution im Inneren entschied, sondern auch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen auf weltweiter Ebene prägte.

Deutschland bildete am Beginn der 1930 Jahre in mehrfacher Hinsicht das Zentrum des Klassenkampfes. Erstens warf die tiefe Krise die Alternative Faschismus oder sozialistische Revolution und damit die zentrale Frage der ArbeiterInneneinheitsfront gegen die drohende Naziherrschaft und deren Verknüpfung mit dem Kampf um die Macht auf. Während die Sozialdemokratie die Klasse an das Bündnis mit der „demokratischen“ Bourgeoisie zu binden versuchte, einschließlich der Unterstützung bonapartistischer Herrschaftsformen, erlebte die ultralinke Politik der KDP und der von Stalin geführten Komintern ihren historischen Bankrott. Sie erwies sich  als unfähig, ja, als Hindernis, die sozialdemokratischen ArbeiterInnen zu gewinnen und so überhaupt die Grundlage zu schaffen, den Nationalsozialismus zu schlagen.

Mit dieser historischen Niederlage und der Weigerung, dieses Fiasko selbstkritisch überhaupt nur zu diskutieren, war auch das Schicksal der Kommunistischen Internationale als revolutionärer Kraft besiegelt.

Die Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise, aber auch die Schockwirkungen des Versagens der deutschen ArbeiterInnenbewegung eröffneten vorrevolutionäre und revolutionäre Möglichkeiten in Frankreich und Spanien, die jedoch von Sozialdemokratie und Stalinismus durch die Politik der Volksfront konterrevolutionär gestoppt wurden bzw. dem Sieg der Reaktion (Franco in Spanien) den Weg bereiteten.

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936 und eröffnete eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die vom Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war.

1936 – 1943: Vormarsch der Konterrevolution

Die Niederlage in Spanien vollzog sich im Grunde schon 1936, und sie eröffnete, wie oben gesagt, eine neue Periode im internationalen Klassenkampf, die von einem Vormarsch der Konterrevolution auf allen Ebenen geprägt war. In Deutschland festigte sich die Nazidiktatur. Doch auch viele andere Länder griffen mehr und mehr zu bonapartistischen Herrschaftsformen. Die Vorbereitungen eines neuen Weltkriegs und dessen Ausbruch prägten diese Phase.

Für die ArbeiterInnenklasse waren das denkbar ungünstige Bedingungen. Nach dem Übergang der Sozialdemokratie ins bürgerliche Lager muierte eine weitere Internationale, die Komintern, zum Instrument einer reaktionären Bürokratie und zu einem Hindernis für die Revolution. Die Politik des Kreml nahm einen offen konterrevolutionären Charakter an, der sich direkt gegen das Proletariat bzw. die kommunistische Avantgarde richtete (spanischer Bürgerkrieg, Moskauer Prozesse, Hitler-Stalin-Pakt).

1943 – 1948: Revolutionäre Periode

Mit der Wende für den deutschen Imperialismus im Russlandfeldzug nach Stalingrad, der Konferenz von Jalta, aber vor allem auch mit der Entwicklung des Partisanenkriegs in Italien, Frankreich, Griechenland, Jugoslawien zeichnete sich der abschließende offene Kampf um die Neuordnung der Welt ab.

Die innerimperialistischen Kräftefragen waren im Grunde schon zu diesem Zeitpunkt bereits gelöst. Der Gegensatz einer zukünftigen US-dominierten Weltordnung zur Sowjetunion trat mehr und mehr in den Vordergrund. Zugleich führten das kommende Kriegsende und die Nachkriegsperiode zu Doppelmachtsituationen in halb Europa. Die ehemaligen Kolonialmächte standen außerdem Aufstands- oder jedenfalls Massenbewegungen der Kolonialbevölkerungen gegenüber. Die Frage des Kampfes um die Macht stand insbesondere in Europa auf der Tagesordnung, und zwar in Gestalt des Ringens zwischen proletarischer Revolution und bürgerlicher Konterrevolution (wenn auch oft in „demokratischer“ Form, mitunter aber auch äußerst blutig, z. B. Griechenland).

Das waren die zentralen Voraussetzungen, damit andere ökonomische und politische Resultate des Zweiten Weltkriegs wirken konnten: die massive Vernichtung überschüssigen Kapitals, die Revolutionierung der Technik der US-Wirtschaft, die Ausdehnung der Konsumgüterindustrie in den USA, die damit verbundene Erhöhung der „Produktionsweise“ des relativen Mehrwerts und die Integration der ArbeiterInnenschaft als KonsumentInnen, die Etablierung einer globalen, vom US-Imperialismus bestimmten und garantierten globalen Finanz- und Wirtschaftsordnung, u. a. in Form der Gründung von IWF und Weltbank (Bretton Woods), der Zusammenbruch des Kolonialsystems (auch wenn die Entkolonialisierung noch mehr als ein Jahrzehnt brauchte und blutiger und heroischer Befreiungskämpfe bedurfte) und damit die Durchsetzung der US-Hegemonie (Open Door Policy).

Die Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in Frankreich, Italien, Griechenland, kurzum die konterrevolutionäre Befriedung wären unmöglich gewesen ohne die Kollaboration von Sozialdemokratie, Stalinismus und Gewerkschaftsbürokratie.

Schon im Zweiten Weltkrieg und im Aufbau der Nachkriegsordnung wurden die britischen und US-amerikanischen Gewerkschaften, die Labour Party und die schwedische ArbeiterInnenbewegung als zuverlässige, antikommunistische Bollwerke aufgebaut. Diese unterstützten tatkräftig die Rekonstruktion der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften in der westlichen Einflusssphäre im Sinne des Imperialismus. Nicht minder wichtig war die Kooperation des Stalinismus mit seiner Politik der „friedlichen Koexistenz“, die zwar einerseits als Gegnerin der US-geführten imperialistischen Welt im Kalten Krieg auftrat, zugleich aber unverzichtbare, konterrevolutionäre Garantin der Nachkriegsordnung war.

Die Degeneration der Vierten Internationale 1948 und ihr organisatorischer Zerfall 1953 waren ein wichtiges, wenn auch keineswegs unvermeidliches Resultat der historischen Niederlagen der ArbeiterInnenklasse in der Nachkriegsperiode und der darauf aufbauenden konterrevolutionären Stabilisierung. Die Vierte Internationale war trotz ihrer geringen Größe – ähnlich wie die InternationalistInnen am Beginn des Ersten Weltkriegs – ein gewichtiger Faktor der Weltpolitik. Die Tatsache, dass sie zu keinem Generalstab der Weltrevolution wurde, ihre Degeneration und ihr Zerfall und der damit verbundene Abbruch der revolutionären Kontinuität, das Fehlen einer revolutionären Internationale seit Jahrzehnten verkörpern ebenfalls einen wesentlichen Faktor der Weltpolitik und Weltordnung, der die kommenden Perioden mit charakterisierte.

Allein die Tatsache, dass die verschiedenen Reste der Vierten Internationale, dass der Trotzkismus nach 1948 bei allen wichtigen Wendepunkten des Klassenkampfes versagt hatte, verdeutlicht, dass die Vierte Internationale für die Revolution gestorben ist, dass der Aufbau einer neuen, revolutionären Fünften Internationale die drängende Aufgabe unserer Zeit schlechthin bedeutet. Ein wesentlicher Grund für dieses Versagen bestand darin, dass die Vierte Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage war, eine veränderte Weltlage konkret zu analysieren, die relative Stabilisierung des Weltkapitalismus spätestens nach 1948 lange bestritt. Dies führte tragisch-ironisch mit dazu, dass zugleich zentrale revolutionäre Momente des programmatischen Verständnisses der Vierten revidiert wurden (Stalinismus, Bedeutung der revolutionären Partei).[cvi]

13.3 1948 – 1968: Periode des Langen Booms und der unumstrittenen US-Vorherrschaft

Die USA waren die eindeutige Hegemonin, die den Dollar als Weltgeld durchgesetzt hat. Mit dem Abkommen von Bretton Woods war ein System fester Wechselkurse gegenüber dem Dollar, seine Goldanbindung und ein Mechanismus des Gegensteuerns gegen Währungsungleichgewichte (IWF = Internationaler Währungsfonds) geschaffen. Die Struktur der Kapitalströme im Nachkriegsboom kennzeichnete ein großer Anstieg von Kapitalexporten zwischen den imperialistischen Zentren USA, Deutschland und Japan, die gleichzeitig ökonomische Netze von Landesgesellschaften in den Halbkolonien aufbauten.

Die wichtigsten Voraussetzungen für mehrere Zyklen erweiterter Reproduktion des Kapitals in allen imperialistischen Zentren waren folgende:

  • Die massive Vernichtung fixen Kapitals in Europa und Japan im und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Erneuerung des Kapitalstocks.
  • Die Öffnung der britischen und französischen Kolonien für den Weltmarkt des Kapitals.
  • Die Etablierung einer auf die fast absolute Hegemonie des US-Imperialismus gestützten internationalen Finanzordnung
  • – Damit verbunden die Herstellung zentraler Felder für den Export des US-Kapitals nach 1945 und somit die Überwindung seiner eigenen inneren Expansionsschranken.
  • Die hohen Profitraten im industriellen Sektor und die damit verbundene Expansionsdynamik.
  • Die dramatische Erhöhung der Ausbeutungsrate der ArbeiterInnenklasse in allen imperialistischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges und weitere Entwertung der Einkommen der Lohnabhängigen durch die Währungsreformen nach 1945.
  • Die größere Bedeutung der Arbeitsmigration (v. a. halbkoloniale Arbeitsmärkte, aber in Deutschland auch Vertriebene) nach 1945 und ein damit verbundener „Neustart“ der Akkumulation in Japan und Westeuropa unter Einschluss von Arbeitskräften, deren Preis weit gedrückt wurde oder deren Herstellung das eigene Kapital nichts gekostet hat (und damit verbunden Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft).
  • Weitaus stärkere Einbeziehung von Frauen in die Lohnarbeit, was umgekehrt auch eine Veränderung der privaten Hausarbeit erforderte.
  • Die Vernichtung von Kapital und die relativ billige Arbeitskraft nach 1945 gingen einher mit einer massiven, über mehrere Zyklen laufenden Ausdehnung der Produktion.
  • Ein wesentlicher Aspekt der Ausdehnung der Produktion bildete die Ausdehnung des Konsumgütersektors, die stetige Steigerung der Produktivität der zu ihrer Herstellung verwandten Arbeitskraft und damit die Kombination von erweiterter Reproduktion des Kapitals, steigenden Profitmassen, Erweiterung der Nachfrage nach Arbeitskraft sowie Aneignung von Mehrwert, v. a. durch relative Mehrwertproduktion.

Auf der Grundlage der zyklenübergreifenden erweiterten Reproduktion des Kapitals haben die USA und ihre Verbündeten eine ganze Reihe globaler Institutionen geschaffen, die diese Ordnung zugleich absichern: Bretton Woods und Goldstandard; Dollar als Weltgeld; internationaler Währungsfonds und Weltbank; die UNO als Institution, die alle imperialistischen Staaten und alle degenerierten ArbeiterInnenstaaten umfasst. Hinzu kamen die imperialistischen Allianzen wie die NATO, die Gründung der EG usw. Zum Teil existieren diese Institutionen, wenn auch mit großen Veränderungen bis hin zu veränderten Zielsetzungen (z. B. EG – EU), bis heute.

All das erlaubte eine ganze Periode mehrerer expansiver industrieller Zyklen, eine Akkumulationsperiode der erweiterten Reproduktion. Die Produktivkraft der Arbeit wuchs über mehrere Zyklen.

Die USA fungierten in dieser Periode faktisch als Demiurgin des Weltmarktes. Sie stellten nicht nur das Weltgeld (Dollar), der US-Konjunkturzyklus bestimmte nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Weltmarktzyklus, der faktisch parallel zur US-Konjunktur verlief.

„Innerhalb des Welthandels dominieren die USA nach dem 2. Weltkrieg absolut. Gemessen an den Weltexporten bestritten sie in den 1950er Jahren eine Quote von rund 20 %. Dies war doppelt so viel wie die der nächstfolgenden Nation Großbritannien, die trotz der fortbestehenden Begünstigung durch Handelsschranken nur auf 10 % kam. Wiederum die Hälfte des britischen Anteils konnte Frankreich in diesem Zeitraum auf sich vereinigen (5 %), sodass die westlichen Siegermetropolen des 2. Weltkriegs in dem dem Krieg folgenden Jahrzehnt mehr als ein Drittel der Weltexporte bestreiten. ( … )

Diese ausgeprägte Ungleichheit der Welthandelsanteile zwischen den führenden kapitalistischen Weltmarktmetropolen, wie  sie sich als Ergebnis langfristiger ökonomischer Entwicklungstendenzen sowie politischer Konstellationen im Anschluss an den 2. Weltkrieg ergab, verschaffte dem zyklischen Verlauf der Kapitalakkumulation in den USA zunächst den prägenden Einfluss auf die Konjunkturen des Weltmarkts. Obwohl das US-Nationalkapital aufgrund seines großen Binnenmarkts nur eine vergleichsweise niedrige Außenhandelsverflechtung ausweist, war die prägende Kraft des USA-Zyklus für die Konjunkturen des Welthandels und in weiterer Instanz für die nationalen industriellen Zyklen der nachgeordneten kapitalistischen Metropolen evident.“ [cvii]

Die 20 % müssen ins Verhältnis zum Gewicht der US-Ökonomie nach dem Zweiten Weltkrieg in der Weltwirtschaft gestellt werden. Rund 40 % der Industrieproduktion entfielen auf die USA, ihr Markt stellte den mit Abstand größten und bedeutendsten Binnenmarkt dar. Sie verfügten im eigenen Land und in Venezuela über Zugang zu relativ günstigem Öl als dem entscheidenden Energieträger, die US-Landwirtschaft erzeugte Überschüsse. Europa und die Öffnung des Weltmarktes erlaubten dem US-Kapital zu expandieren, faktisch als Monopolist hinsichtlich von Industriewaren- und Kapitalexport zu fungieren und sich gleichzeitig auf die den Weltmarkt prägende Binnenökonomie zu stützen.

Es sind also Sonderbedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg, nach erfolgter Neuaufteilung der Welt und der faktisch absoluten Hegemonie der USA gegenüber ihren imperialistischen RivalInnen durchgesetzt wurden, die die Grundlage für den außergewöhnlichen Charakter der Nachkriegsperiode bildeten und deren Sonderstellung für die gesamte imperialistische Epoche erklären.

Bestimmte Aspekte der Epoche traten jedoch sogar stärker hervor. Zugleich etablierte das Finanzkapital mit der halbkolonialen Neuordnung der Welt die dem Kapitalismus eigentlich entsprechende Form der Unterordnung und Abhängigkeit der von den imperialistischen Mächten beherrschten Teile der Welt.

Die Vorherrschaft des Finanzkapitals festigte sich noch mehr durch die enge Bindung zwischen Banken, Industriekapital und staatlicher Politik. In jenen imperialistischen Ländern, wo die großen Monopole der vorherigen Periode z. T. zerschlagen wurden (z. B. IG Farben in Deutschland) etablierten sich rasch neue Großkonzerne, die in Summe eine nicht minder marktbeherrschende Stellung im globalen Rahmen einnahmen (Bayer, Höchst, BASF). Gerade im Agrar- und Konsumgütersektor erreichte die Tendenz zur Monopolisierung oder eine oligarchische Aufteilung der Märkte einen Umfang, der vor dem Zweiten Weltkrieg nicht oder nur ausnahmsweise bekannt war. Dies reflektiert nicht nur die Zentralisations- und Konzentrationstendenzen in den Metropolen, sondern vor allem auch die Erweiterung der Operationen dieser Kapitale in den halbkolonialen Ländern und die Umwälzung der landwirtschaftlichen Produktion nach 1945 überhaupt.

Zweitens wurden die kolonialen und die halbkolonialen Länder stärker als vor 1945 qualitativ stärker in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Die kolonialen Befreiungsbewegungen und der Übergang der Länder Asiens und Afrikas von einer kolonialen zur indirekten, halbkolonialen Herrschaftsform und Einbindung in den Weltmarkt spiegelten einerseits den Druck demokratischer und revolutionärer Bewegungen wider. Andererseits brach auf diese Weise nicht nur der privilegierte Zugang der alten Kolonialmächte zu diesen Märkten auf. Die staatliche, formale Unabhängigkeit entsprach auch der Verbreiterung des kapitalistischen Verhältnisses in den Ländern, was zu ihrer auf den Weltmarkt bezogener Teilindustrialisierung und zu einem Wachstum des Proletariats führte, aber auch zur Umwälzung der Verhältnisse auf dem Land und der prekären Einbindung der Agrarproduktion in den Weltmarkt. Die sog. Grüne Revolution in Indien illustriert diese Veränderung, indem sie Millionen und Abermillionen von Bauern abhängig machte von Saatgut und Pestiziden, die von wenigen Agrarkonzernen der imperialistischen Zentren monopolisiert werden. Die für Halbkolonien typische Form der Weltmarktabhängigkeit bedeutete auch, dass die formale Unabhängigkeit der Länder mit einer Verstärkung der Abhängigkeit vom Weltmarkt einherging. An die Stelle formeller Fremdbestimmung trat auch in diesen Ländern die stumme Macht der Verhältnisse, die im Zweifelsfall durch direkte Interventionen abgesichert wurde und wird.

Drittens war die Periode auch von einer Ausdehnung der degenerierten ArbeiterInnenstaaten nach 1948 geprägt (China, Osteuropa, Nordkorea, Kuba, Vietnam). Der polare Gegensatz von USA und UdSSR kennzeichnete die Weltpolitik, der aufgrund der Politik der stalinistischen Bürokratie selbst eine stabilisierende Funktion für die Gesamtperiode mit sich brachte –  ja, ohne deren Politik wäre die relative Stabilität der Weltordnung unmöglich gewesen.

Die stalinistische Bürokratie unterdrückte nicht nur die ArbeiterInnenklasse in den von ihr beherrschten Staaten, sie stellte zugleich ein Haupthindernis für die Revolutionierung der antikolonialen Befreiungsbewegungen und des Proletariats dar. Sie offenbarte hier deutlich ihren Charakter als Agentur des Weltimperialismus.

Die erweiterte Reproduktion in den kapitalistischen Ländern ging auch mit einer Ausdehnung der industriellen und produktiven Basis in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten, v. a. der UdSSR und Osteuropas auf Basis der Erneuerung der Industrie infolge der Zerstörungen des Krieges, einher. Dies führte mit zu einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft nach 1953 – 1956, aber auch zu einer Festigung des globalen Status quo.

Die Zunahme von degenerierten Arbeiterstaaten nach 1948 verdeutlicht den Übergangscharakter der imperialistischen Epoche, aber auch, dass diese selbst in das imperialistische Weltsystem zeitweilig integriert werden können und die Politik der Bürokratie zu deren Stabilität funktional beiträgt.

Schließlich erlaubten die Expansion des Kapitalismus und die geopolitische Frontstellung zwischen dem US-Imperialismus und der Sowjetunion den halbkolonialen Ländern auch einen gewissen Spielraum. Die UdSSR versuchte, verbündete Staaten wie Kuba nach der Revolution zu stützen. Eine Reihe linksnationalistischer Regime verfolgte eine staatskapitalistische oder eine, jedenfalls über bedeutende staatliche Interventionen vermittelte, Strategie zur industriellen Entwicklung, was jedoch letztlich scheiterte. Interessanterweise konnten ähnliche Phänomene auch bei Ländern beobachtet werden, die von den USA gestützt wurden (z. B. Türkei, Israel, Südkorea, Taiwan), die zeitweilig günstige Bedingungen zur Kapitalakkumulation eingeräumt erhielten, weil sie als wichtige geostrategische Verbündete gegen  „Kommunismus“ und Befreiungsbewegungen fungierten.

Damit wären wir bei einem weiteren zentralen Charakteristikum der Periode des Langen Booms und der uneingeschränkten US-Hegemonie unter den imperialistischen Staaten angekommen: die qualitativ stärkere Einbindung der ArbeiterInnenaristokratie und der ArbeiterInnenbürokratie in die bürgerliche Gesellschaftsordnung. Die Gewerkschaften und die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wuchsen nicht nur zu bislang unüblichen und ungeahnten Größen, sie wurden auch in die Formen staatlicher Herrschaft und die Regulation des Kapitalverhältnisses eingebunden. Die bürgerliche Herrschaft wurde in diese Organisationen verlängert. Die Gewerkschaftsbürokratie, die Führungen und der Apparat der Sozialdemokratie oder der Labourparteien agierten als politische Polizei in der ArbeiterInnenklasse.

Die Expansion des Kapitalismus führte in den 1960er Jahren zu einer massiven Ausdehnung der privilegierten Schichten des Proletariats in den imperialistischen Ländern, wobei auch in den Halbkolonien und in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten solche Phänomen, wenn auch in geringerem Maße und auf einer schwächeren ökonomischen Grundlage, beobachtbar waren. Die Akkumulationsdynamik zog aber auch für einige Zeit die mittleren und selbst unteren Schichten der Klasse in ihren Bann, da die Masse der Gebrauchswerte zunahm, die die  ArbeiterInnenklasse konsumieren konnte. Diese reale Ausdehnung der Konsummöglichkeiten und eine partielle Öffnung von Bildungschancen (aufgrund der Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft) untermauerten das soziale Aufstiegsversprechen des Langen Booms. Schließlich schuf dieser auch die Basis für eine viel tiefere Durchdringung der ArbeiterInnenklasse mit bürgerlicher Ideologie und „Massen“kultur.

All das darf keineswegs zur falschen Einschätzung führen, dass diese geschichtliche Periode frei von massiven Klassenkämpfen und Krisen gewesen wäre. An dieser Stelle verweisen wir nur auf den Koreakrieg, antikoloniale Befreiungsbewegungen wie z. B. in Algerien, (StellvertreterInnen-)Kriege, Vertreibung der PalästinenserInnen, Aufstände und Revolutionen in der DDR, in Polen und Ungarn, die bolivianische und die kubanische Revolution, um zu verdeutlichen, dass auch diese Abschnitte reich an Kämpfen waren. Aber die expansive Dynamik der Kapitalakkumulation, die Vorherrschaft der USA und die konterrevolutionären Rolle von Stalinismus und Sozialdemokratie bildeten die Grundlage für eine längere Periode relativ stabiler Herrschaft in den imperialistischen Zentren, die auch Erschütterungen in anderen Regionen vergleichsweise unbeschadet überstand.

Das Fehlen einer revolutionären Alternative zum bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus, zu Stalinismus und Sozialdemokratie, also zu den vorherrschenden Kräften in der ArbeiterInnenklasse und unter den Unterdrückten in dieser Periode, verstärkte diese Dynamik.

13.4 1968 – 1989: Periode des Niedergangs der Nachkriegsordnung

Das Ende des Langen Booms kündigte sich bereits mit dem Niedergang der Profitraten, dem Erlahmen der Akkumulationsdynamik an. Auch wenn der Akkumulationszyklus nach dem Zweiten Weltkrieg, streng genommen, bis Anfang der 1970er Jahre, bis zur Krise 1973/74 dauerte, so begann die neue geschichtliche Periode schon 1968. Gleichwohl müssen wir uns kurz mit der ökonomischen Entwicklung beschäftigten, die ihr zugrunde lag.

Die Profitraten in den imperialistischen Staaten entwickelten sich dabei schon vor der Krise ungleichmäßig. Im Folgenden stützen wir uns auf Berechnungen von Stefan Krüger.[cviii] Auch wenn die Zahlen verschiedener marxistischer AutorInnen im Einzelnen abweichen, so geben sie wieder, was für uns an dieser Stelle entscheidend ist: nämlich die gleiche Entwicklungslinie. Die Profitrate von US-Kapitalgesellschaften lag nach dem Krieg (bis 1954) auf ihrem höchsten Niveau (12 %), sank in den 1950er Jahren, um sich in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre auf einem niedrigen Niveau von 6 bzw. 5 % einzupendeln. Die Profitrate des westdeutschen und japanischen Kapitals lag seit den 1950er Jahren deutlich höher als jene des US-Kapitals. Anfang der 1950er Jahre lag die des BRD-Kapitals bei über 25 % und sank in den folgenden Zyklen stetig, fiel aber langsamer als jene der USA, um sich in den 1970er Jahren bei unter 10 % einzupendeln. Die Kurve der Profitratenentwickelung des japanischen Gesamtkapitals zeigte eine wichtige Besonderheit. Sie erreichte in den 1960er Jahren mit rund 35 % ihren Höhepunkt, fiel in den siebziger Jahren deutlich ab und erreichte 10 – 15 % für die späten 1970er und 1980er Jahre.[cix]

Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine Diskussion der Profitraten in einzelnen Ländern, wohl aber um einen internationalen Trend. Die Entwicklung des deutschen und japanischen Kapitals (Profitraten, Wachstumsraten ihrer Nationalökonomien, Weltmarktanteile) reflektieren das wachsende Gewicht der beiden wichtigsten und ökonomisch dynamischsten Rivalen der USA. Sie entwickelten sich für die USA zu Herausforderern ihrer ökonomischen Vorherrschaft, die Ende der 1960er Jahre ihren absoluten Charakter eingebüßt hatte. Auch der Weltmarktzyklus wurde nun nicht mehr bloß von einer Nation bestimmt, vielmehr gingen v. a. die Bewegungen des japanischen und westdeutschen Kapitals in diese ein. Beide konnten, was den Anteil am Welthandel betrifft, zu den USA in den 1970er und 1980er Jahren aufschließen oder diese gar überholen. Dass sich die USA gezwungen sahen, den Goldstandard aufzugeben, brachte die Verschiebung der Weltwirtschaft schlagend zum Ausdruck.

Zweitens verweisen die niedergehenden Profitraten in imperialistischen Weltökonomien wie auch eine Untersuchung für Frankreich, Britannien, Italien und Kanada darauf, dass die Weltwirtschaft insgesamt in eine lang andauernde strukturelle Überakkumulationsperiode des Kapitals geriet. Diese prägt die Weltwirtschaft bis heute entscheidend, auch wenn die verschiedenen Entwicklungsphasen seit den 1970er Jahren immer von bestimmten ökonomischen und geopolitischen Konstellationen geprägt sind, die dieses Problem überwinden oder zumindest  kompensieren sollen.

Insofern markierte 1968 den einschneidenden, eigentlichen Periodenwechsel hinsichtlich der politisch-ökonomischen Gesamtentwicklung. Die Krisentendenzen des globalen Systems äußerten sich in der wachsenden, globalen Protest- und Widerstandsbewegung gegen den US-Imperialismus wie auch im „Prager Frühling“. Den entscheidenden Wendepunkt markierte jedoch der Mai 1968 in Frankreich und damit die Entwicklung einer revolutionären Situation in einem imperialistischen Kernland.

1968 – 1974/75: Revolutionäre Klassenkampfperiode

Anders als die Klassenkämpfe während des Langen Booms trug die Entwicklung nach 1968 einen globalen Charakter, die in allen wichtigen Regionen der Welt zu einem massiven Anwachsen von Klassenkämpfen bis hin zu revolutionären Erschütterungen und Krisen führte: revolutionäre Situationen in Frankreich und Italien 1968 und 1969, die Radikalisierung in den USA, das allgemeine abrupte Anwachsen der radikalen Linken wie der ArbeiterInnenbewegung weltweit, die bolivianische und chilenische Revolution, die Nelkenrevolution in Portugal, der Prager Frühling.

Bei aller Unterschiedlichkeit war den Kämpfen gemeinsam, dass sie die Aktualität der Revolution auf die Tagesordnung setzten – bis hin zur Entwicklung von Doppelmachtorganen, die die Machtfrage praktisch aufwarfen.

1968 bis 1974/75 stellte eine revolutionäre Klassenkampfperiode im Weltmaßstab dar. Die Tiefe der Führungskrise des Proletariats zeigte sich freilich auch darin, dass weit über die einzelnen Länder hinausgehende Niederlagen den Sieg der Konterrevolution markierten – sei es auf extrem blutige, diktatorische Art wie z. B. in Chile 1973 oder durch die konterrevolutionären Befriedung wie in der portugiesischen Revolution 1974/75, deren Niederlage auch den Endpunkt dieser Klassenkampfperiode darstellte.

1975 – 1979: Die sozialdemokratische Befriedungsperiode

Die Niederlage des US-Imperialismus in Vietnam, der Aufstieg europäischer und japanischer Rivalen und die Unfähigkeit der imperialistischen Bourgeoisie, einerseits die ArbeiterInnenklasse in der ersten großen Nachkriegskrise „direkt“ zu schlagen sowie  die Unreife und politische Schwäche der subjektiv revolutionären StudentInnen und ArbeiterInnen andererseits  riefen die Sozialdemokratie als eine zentrale Agentur zur Rettung und Stabilisierung auf den Plan. Sie versuchte dabei auch, auf Reserven zur Befriedung und sozialpolitischen Abfederung der Krise zurückgreifen. Ihre ökonomische Hauptmethode bildete der Keynesianismus und die damit einhergehende enorme Ausweitung der Staatsschulden.

Schon Anfang der 1970er Jahre war die Goldbindung des Dollars längst Fiktion, ebenso das System fester Wechselkurse. Mit dem Zusammenbruch von Bretton Woods verlor die US-Zentralbank die Kontrolle über einen Teil der weltweiten Dollarguthaben. Durch das Entstehen der großen Offshore-Dollarguthaben („Petrodollars“ genannt, da ihre Quelle oft in ölexportierenden Ländern lag) in den 1970ern wurde mit dem Ende des Nachkriegsbooms eine neue Periode der Kreditvergabe in großem Stil an lateinamerikanische und asiatische Staaten eingeleitet. Diesmal waren es vor allem Geschäftsbanken in den imperialistischen Zentren, sofern sie über diese Dollarreserven verfügten, die diese Verschuldungswelle in Gang hielten.

Das Problem der sozialdemokratischen Politik war letztlich, dass sie keine Hauptklasse der Gesellschaft befriedigen konnte. Die Einkommen der ArbeiterInnenklasse erodierten schon aufgrund der Inflation und der geforderten „Zurückhaltung“ angesichts der krisenhaften Entwicklung. Zugleich war die ArbeiterInnenbewegung oft noch zu stark, um eine bürgerliche Krisenpolitik einfach zu schlucken. Konnte und wollte die Sozialdemokratie schon den Lohnabhängigen nicht geben, was diese erwarteten, so konnte ihre Politik der Vermittlung zwischen den Klassen erst recht nicht das Kapital zufriedenstellen.

1979 – 1989: Periode der neoliberalen Offensive

Die Bildung der Regierung Thatcher 1979 und ihr offensives, neoliberales Kampfprogramm markierten den Bruch mit der sozialdemokratischen Politik und bildeten den politischen Einschnitt in dieser geschichtlichen Periode. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die neoliberalen IdeologInnen ihre Strategie nur in Halbkolonien, am blutigsten in Chile, umgesetzt. Der Thatcherismus präsentierte einen strategischen Angriff auf allen Fronten, einen regelrechten Krieg gegen die ArbeiterInnenklasse und ihre Avantgarde, die BergarbeiterInnen. Auf dem Weg dazu brach Thatcher aus gutem Grund den Malwinenkrieg vom Zaun, um damit ihre unangefochtene Führung im bürgerlichen Lager zu festigen, KleinbürgerInnentum und rückständige ArbeiterInnen an den Nationalismus zu binden. Gleichzeitig offenbarte sie auch die sozialpatriotische Ohnmacht der Labour-Führungen, die den reaktionären Krieg unterstützten und damit Thatcher in die Hände spielten. Die Niederlage der BergarbeiterInnen nach einem rund einjährigen Streik stellte eine historische Niederlage für die britische ArbeiterInnenklasse dar, die auch international nachhaltige, demoralisierende Auswirkungen hatte.

Der Reaganismus folgte auf dem Fuß. Er markierte nicht nur eine klare strategische Neuausrichtung des US-Imperialismus hin zu einem aggressiven Kurs gegenüber der UdSSR, sondern auch zur Reetablierung verlorengegangener US-Hegemonie und Dominanz. Ökonomisch gesehen hatten sich die keynesianischen Maßnahmen erschöpft. Ähnlich wie Thatcher in Britannien führte auch Reagan einen regelrechten Klassenkrieg gegen wichtige Sektoren der US-ArbeiterInnenklasse. So hatte z. B. die Niederlage des Fluglotsenstreiks eine weit über diesen Bereich hinausgehende Bedeutung.

Die veränderte US-Zinspolitik trug maßgeblich zur Ausbreitung der massiven Schuldenkrisen Anfang der 1980er Jahre bei, die durchaus auch als Kampfmittel, v. a. des US-Finanzkapitals, genutzt wurde. Das Resultat ist bekannt: Die Interessen der betroffenen Gläubigerstaaten wurden kombiniert durch den IWF vertreten und führten mindestens ein Jahrzehnt zu einem harten „Entschuldungsregime“ in Lateinamerika und Asien. Als Konsequenz des Endes von Bretton Woods und der Verschuldungskrise müssen halbkoloniale Länder nun einerseits große Währungsreserven in Dollar oder anderen harten Währungen (Yen; DM, später Euro) halten, andererseits restriktive Haushaltspolitik betreiben, um nicht zu Opfern massiver Spekulationswellen gegen ihre Währung oder ihren Anleihemarkt zu geraten.

Insgesamt markierten Thatcherismus und Reaganismus eine globale Offensive des US-Imperialismus gegen:

  • die eigene ArbeiterInnenklasse. Ähnliche Angriffe wurden in anderen imperialistischen Ländern gefahren, wenn auch nicht in vielen und nicht mit demselben durchschlagenden Erfolg wie in Britannien. So blieb Kohls „geistig-moralische Wende“ in Ansätzen stecken;
  • die halbkoloniale Welt durch die Politik der strukturellen Anpassungsprogramme und die Benutzung der Schulden und der Finanzpolitik als Instrumente, diese für imperialistisches, anlagesuchendes, überschüssiges Kapital zu öffnen;
  • die degenerierten ArbeiterInnenstaaten durch die Hochrüstungspolitik der 1980er Jahre und zugleich die Schuldenfalle, in die v. a. die osteuropäischen Länder in den 1970er Jahren getappt sind;
  • und schließlich einen erfolgreichen Versuch, die wichtigsten, auf den Plan getretenen imperialistischen Rivalen Japan und BRD dazu zu zwingen, einen Teil der Rettungskosten für die US-Ökonomie zu übernehmen (Volcker-Schock).

Der Reaganismus und der Thatcherismus stießen in den 1980er Jahren auf den Widerstand großer und starker Massenbewegungen, einschließlich des einjährigen Streiks der britischen BergarbeiterInnen, der Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung, des Widerstands von Sandinismus und Bürgerkrieg in Nicaragua, der Kämpfe der brasilianischen und südafrikanischen ArbeiterInnenklasse, die zu militanten, klassenkämpferischen gewerkschaftlichen Bewegungen und zur Formierung einer zentristischen Massenpartei im Falle der PT führten.

Generell endete diese Periode der imperialistischen Offensive trotz heroischer Abwehrkämpfe mit einer Reihe wichtiger Niederlagen der ArbeiterInnen und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der imperialistischen Bourgeoisien. Die neoliberalen Reformen, die in den 1990er Jahren verallgemeinert wurden, bedeuteten für die Massen, insbesondere in Lateinamerika, ein „verlorenes Jahrzehnt“.

Vor allem aber erschütterte der Rüstungswettlauf die UdSSR und Osteuropa nachhaltig, da sie die seit den 1970er Jahren immer stärker hervortretende wirtschaftliche Stagnation weiter verschärften. Die stalinistische Bürokratie versuchte, auf die Offensive der USA mit einer Mischung aus „offensiver Friedenspolitik“ (Gorbatschows „Unser Haus Europa“), marktwirtschaftlichen Reformen (Perestroika) und begrenzter politischer Öffnung unter bürokratischer Kontrolle (Glasnost) zu antworten. Diese schlug fehl, ja, verschärfte die innere Krise der stalinistischen Staaten und führte zur zunehmenden Fragmentierung der Bürokratien selbst. Die Todeskrise des Stalinismus und damit der politischen Nachkriegsordnung war eingeläutet.

13.5 1989 – 2008: Globalisierungsperiode unter US-Hegemonie

Die Periode nach 1989 stellt in vieler Hinsicht eine Verallgemeinerung der neoliberalen Agenda dar. Doch sie bildet nicht einfach deren Fortsetzung, weil die Erfolge von Reagan und Thatcher auch die gesamte imperialistische Nachkriegsordnung erschütterten, als sie zur Todeskrise des weltpolitischen und geostrategischen Konkurrenten (der UdSSR und ihres Lagers) führten und, nach der Phase des Umbruchs 1989 – 1991, eine qualitativ andere Weltlage entstehen ließen.

1989 – 1991: Todeskrise des Stalinismus

Die Globalisierungsperiode begann mit einer kurzen, weltgeschichtlich revolutionären Klassenkampfperiode, die sich von 1989 bis spätestens 1991, dem Sturz Gorbatschows und der Etablierung eines bürgerlich restaurativen Staates in Russland erstreckte.

Aufgrund der Führungskrise der ArbeiterInnenklasse, der Passivität und ideologischen Schwäche wie auch akkumulierten Niederlagen des Proletariats im Westen dauerte diese jedoch nur sehr kurz an. Als die großen Siegerinnen dieser Periode gingen die imperialistischen Mächte, allen voran die USA und zu einem bedeutenden, wenn auch geringeren Teil, Deutschland hervor. Sie schaffte die politischen, klassenmäßigen Vorbedingungen für die Reetablierung der US-Hegemonie in einem noch in den 1980er Jahren für unmöglich gehaltenen Ausmaß.

Der deutsche Imperialismus ging als Sieger aus der ersten, kurzen Klassenkampfperiode der Globalisierung hervor a) wegen der Inkorporation eines ganzen Staates (der DDR) in ein Land, dessen Wiedervereinigung die Gestalt einer Ausweitung des Systems der BRD annahm, b) wegen des Abstreifens zentraler Einschränkungen der Handlungsfähigkeit des deutschen Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg, c) wegen der Verschiebung des ökonomischen Kräfteverhältnisses zugunsten Deutschlands in Europa.

1992 – 1998: Blüte der Globalisierung, demokratisch-konterrevolutionäre Periode

Als unbestrittener Sieger des Kalten Kriegs und der Restauration des Kapitalismus versuchte der US-Imperialismus, sowohl die ökonomischen als auch politischen Früchte des Sieges zu ernten und dauerhaft zu nutzen. Die Niederlagen der ArbeiterInnenklassen in den USA und Britannien in den 1980er Jahren und die Restauration des Kapitalismus haben Anfang der 1990er Jahre die Kapitalistenklasse in die Offensive gebracht.

Gestützt auf eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der herrschenden Klasse aufgrund realer materieller Erfolge sowie einer beginnenden Restrukturierung des Kapitals erleben wir seit Beginn der 1990er Jahre eine neue Entwicklungsphase der imperialistischen Epoche, welche gemeinhin „Globalisierung“ genannt wird.

In den 1970er Jahren hatten die imperialistischen Länder versucht, des Problems der Überakkumulation durch keynesianische Wirtschaftspolitik Herr zu werden. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war dieses Mittel erschöpft. Statt einer Lösung kam es zu einer krisenhaften Zuspitzung in Form des weltweiten Schuldenproblems. Daher änderte sich auch die politische Strategie in allen großen kapitalistischen Ländern, wobei die USA unter Reagan und Britannien unter Thatcher eine Vorreiterrolle spielten.

Durch den Zusammenbruch des Stalinismus, den Sieg der USA und ihrer Verbündeten im Kalten Krieg erhielten diese Strategien auf dem Feld der internationalen Beziehungen einen enormen zusätzlichen Schub.

Was waren die entscheidenden Entwicklungen?

Erstens wurden Schranken des internationalen Handels, vor allem des Kapitalverkehrs seit den 1980er Jahren und besonders zu Beginn der 1990er in rasender Geschwindigkeit außer Kraft gesetzt. Auch wenn diese Internationalisierung notwendigerweise selektiv vor sich ging, auf die imperialistischen Länder und einige Halbkolonien konzentriert war, so hatte diese Ausdehnung des Welthandels insgesamt eine stützende Funktion für die kapitalistische Weltwirtschaft.

Wichtiger als diese waren und sind jedoch die Ausdehnung von Direktinvestitionen und der Spekulation.

Diese stellen selbst einen Ausdruck verschärfter Konkurrenz unter den großen Nationalökonomien und stärkerer Dominanz des Banken- und Fondskapitals über das industrielle dar. Schließlich spekulieren die großen Banken und Konzerne nicht, weil sie die Spekulation an sich der Profitmacherei in der Produktion vorzögen. Vielmehr ergibt sich die „Flucht“ in Aktienmärkte, Währungsspekulation, Termingeschäfte usw. selbst aus relativ geringen Profiterwartungen in der Industrie.

Die verschärfte Konkurrenz führt gleichzeitig zu immer größerer Zentralisation. Investiert wird nur zum geringen Teil in die Erweiterung bestehender Anlagen. Viel wichtiger sind die Fusion, die Übernahme, die Ballung des Kapitals in einer Hand oder Rationalisierungsinvestitionen, die rasche Einführung neuester Technik.

So können sich die größten Konzerne die entsprechenden Konkurrenzvorteile, nämlich Präsenz auf allen Märkten sowie Monopolpreise und Extraprofite aus kurzfristigen technologischen Vorsprüngen, sichern.

Es ist in diesem Zusammenhang nur folgerichtig, dass die großen multinationalen Konzerne nicht mehr wie noch Anfang der 1980er Jahre Diversifikation (also die Präsenz auf möglichst vielen Geschäftsfeldern) anstreben, sondern die Konzentration auf bestimmte Sparten, in denen die Weltmarktführerschaft oder zumindest Position zwei oder drei anvisiert oder verteidigt werden sollen.

Insgesamt führte das zu einer enormen Zentralisation des Kapitals (weniger der Konzentration), die selbst wiederum nur durch eine riesige Ausdehnung des Kredites und der Aktienmärkte möglich war, um das für die „Übernahmeschlacht“ notwendige Kapital bereitstellen zu können. Die stärker gewordene Dominanz der größten „multinationalen“ Konzerne lässt sich an allen Indikatoren der Weltwirtschaft ablesen.

Alle großen, die Weltwirtschaft (und in letzter Instanz die Welt) beherrschenden Konzerne beanspruchen den Weltmarkt als ihr Operationsfeld. Anders als noch vor 20 oder 30 Jahren brauchen sie sich aufgrund ihrer Größe nicht auf eine Region zu beschränken. Sie müssen wirklich „global“ agieren – oder sie werden früher oder später nicht mehr existieren, jedenfalls nicht unter den Top 100 oder Top 500 der Welt des Großkapitals.

Hier können wir tatsächlich von einer neuen Entwicklung innerhalb der imperialistischen Epoche sprechen, die aus dem quantitativen Anwachsen der großen Kapitale entstand, die jedoch auch durch die nach wie vor nationalstaatliche Gebundenheit der einzelnen Kapitale gebrochen wird. In den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz sehr stark entwickelt, weil die USA als einzige Weltmacht die Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt und die geopolitische Ordnung bestimmen.

Der Heißhunger nach Profit treibt – gestützt auf nationale und internationale Organisationen – das Kapital außerdem in Sphären, die über Jahrzehnte staatlich oder halbstaatlich organisiert waren. Die kapitalistische Globalisierung wäre jedoch ohne Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und ohne technische und arbeitsorganisatorische Basis nicht möglich gewesen.

Die Mischung aus technischen Innovationen, die Reorganisation von Arbeitsabläufen und des Arbeitsprozesses sowie die Schaffung internationaler Produktionsketten ermöglichten die Reduktion der Kosten für Lagerhaltung und die Verkürzung der Umlaufzeit. Die Restrukturierung der Arbeitsorganisation und die Zentralisation im internationalen Maßstab führten in einigen Branchen auch zur Herausbildung einer internationalen Profitrate (Autoindustrie).

Zusammen mit einer massiven Erhöhung der Ausbeutungsrate (aufgrund der Niederlagen der ArbeiterInnenbewegung) konnte so in einigen Ländern – insbesondere in den USA – in den 1990er Jahren zeitweilig die industrielle Profitrate in die Höhe getrieben werden, wenn auch bei weitem nicht auf das Niveau des Langen Booms.

Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie viel davon auf eine Revolutionierung der Technik und der Arbeitsorganisation, wie viel auf die Kürzung der Löhne, die Intensivierung der Arbeit und die Flexibilisierung zurückzuführen ist. Wichtig ist vielmehr, dass sich das US-amerikanische Modell nicht weltweit ausdehnen ließ und lässt, weil es die grundlegenderen Probleme der Überakkumulation des Kapitals nicht lösen konnte und kann.

In dieser Periode änderten sich auch die Strukturen der Kapitalflüsse wie jene des Finanzkapitals selbst.

Mit der Erholung der US-Konjunktur Anfang der 1990er Jahre setzte eine Welle sehr hoher Portfolio- und Direktinvestitionen, speziell in Asien, aber auch z. B. in Mexiko, ein und eröffnete die „Globalisierung“. Diesmal waren es wieder vor allem Privat- bzw. institutionelle AnlegerInnen aus den internationalen Finanzzentren, die in Aktien, Wertpapiere bzw. Derivate von Basiswerten in den halbkolonialen Ländern investierten. Daher konnte mit den in der IWF-Periode einstudierten Maßnahmen das Platzen der Spekulationsblase 1995 in Mexiko („Tequila-Krise“) und 1997 in Thailand (als Auslöser der „Asienkrise“) nicht verhindert werden.

In der Kapitalzuflussperiode 1990 – 1994 spielten „offizielle“ Schulden (z. B. Staatsanleihen) kaum mehr eine Rolle (nur noch 11 % des Kapitalzuflusses). Auch die Geschäftsbanken spielten eine weitaus geringere Rolle als in der Periode 1978 – 1981. Entscheidend waren einerseits Deregulierungen in den Halbkolonien (z. B. Privatisierungen), die Direktinvestitionen in die Höhe schnellen ließen.

Andererseits war es die wachsende Verbriefung internationaler Kapitalschulden (also die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte), die es ermöglichte, Offshore-Anlagen auch ohne staatliche Absicherung gegen Risiken abzuschirmen (z. B. Ausweitung des Derivate- und Devisenmarktes).

Als die Phase der niedrigen Zinsen und des niedrigen Dollarkurses Mitte der 1990er Jahre zu Ende ging, ebbten sowohl der Kapitalzufluss ab, wie auch das exportorientierte Wachstum z. B. in Asien durch die Anbindung der Währungen an den Dollar in Schwierigkeiten geriet. Da half keine restriktive Haushalts- bzw. Hochzinspolitik mehr. Offshore-Banken, Investmentbanken, Hedgefonds, Derivate- und DevisenhändlerInnen erzeugten eine massive Spekulationsblase, die letztlich die betroffenen Währungen in die Knie zwang und tief verschuldete Privatunternehmen in den Halbkolonien hinterließ. Der Kapitalfluss bewegte sich fortan massiv in Richtung USA, während in den von der Finanzkrise betroffenen Ländern eine neue Welle von Firmenübernahmen bzw. Kapitalvernichtung durch das imperialistische Finanzkapital vor sich ging.

Die US-Konjunktur der 1990er Jahre beruhte schon stark auf einer Ausdehnung fiktiven Kapitals und war auch durch Kapitalabfluss aus anderen imperialistischen Staaten und Stagnation in Japan und Fast-Stagnation in Deutschland erkauft.

Die Ausdehnung des Weltmarktes, die viel stärkere Durchdringung der Halbkolonien und der ehemaligen degenerierten ArbeiterInnenstaaten wirkten dem Fall der Profitrate entgegen und halfen bei der Aneignung von Extraprofiten für das imperialistische Finanzkapital.

Zugleich ging die Periode der „Hochblüte“ mit massiver Kapitalvernichtung in Osteuropa und der ehemaligen UdSSR einher. Die osteuropäischen Länder wurden als Halbkolonien in den Einflussbereich des deutschen Kapitals und, in Konkurrenz dazu, anderer europäischer Länder und der USA einbezogen. Russland machte eine permanente Krisenperiode durch, die mit einer historisch fast einzigartigen Deindustrialisierung des vormals zweitgrößten Industrielandes der Erde einherging, die, würde sie nicht gebremst werden, auch die Zukunft Russlands als imperialistischen Staat in Frage stellen würde.

Modernes Finanzkapital

Die eigentliche Triebkraft der kapitalistischen Globalisierung stellt das imperialistische Finanzkapital dar. Das Monopolkapital – jedenfalls sein stärkster und konkurrenzfähigster Teil – tritt als multinationaler oder transnationaler Konzern auf und ist der eigentliche Herrscher des globalen Kapitalismus.

Multinational oder transnational hat hier nichts mit einer Entbindung der nationalstaatlichen „Verankerung“ bestimmter Kapitale zu tun. Es bedeutet nur, dass wir es mit einem wichtigen Wandel des wirtschaftlichen Operationsgebietes des Großkapitals zu tun haben.

Das Finanzkapital macht jedoch gleichzeitig einen wichtigen Formwandel durch. Wir erleben eine Neuorganisation des Verhältnisses von Geldkapital und produktivem Kapital. Es ist dabei keineswegs so, dass die „SpekulantInnen“ und „Finanzhäuser“ dem produktiven Kapital entgegengestellt wären. Wir haben es vielmehr mit einer anderen Form der Verschmelzung von Industrie- und Geldkapital zu tun.

In der Geschichte des Imperialismus bildeten sich immer wieder unterschiedliche Formen mehr oder weniger enger, direkter Verschmelzungen (z. B. unmittelbarer Besitz der Unternehmen durch Banken und vice versa, wie lange Zeit in Deutschland vorherrschend) oder – wie in den USA – als eine über Aktienmärkte regulierte, „losere“ Verbindung von zinstragendem zu industriellem Kapital. Der Unterschied besteht darin, dass das Kapital in der zweiteren Form stärker versucht, sich von bestimmten stofflichen Schranken der Expansion zu befreien, nämlich den konkreten Produktionsmitteln, in denen das industrielle Kapital vergegenständlicht ist.

Eine gänzliche Befreiung des Kapitals aus dem inneren Widerspruch zwischen einer bestimmten stofflichen (und damit die Expansion des Kapitals begrenzenden) Form und dem schrankenlosen Trieb zur ständigen Selbstverwertung ist selbstverständlich unmöglich. In den 1990er Jahren, ja, bis hin zur Krise 2007/2008 und darüber hinaus erlebten wir in allen westlichen imperialistischen Ländern eine Verschiebung zu dieser Form.

Dies liegt an mehreren Faktoren. Erstens stellt es eine Weise dar, wie die dominierenden Fraktionen des gesellschaftlichen Gesamtkapitals der Überakkumulation entgegenwirken wollen, die sie umgekehrt zu dieser Formveränderung unter den Bedingungen der Globalisierung treibt. Zweitens bringt diese Entwicklung eine innere Tendenz des Kapitals selbst zum Ausdruck, sich von seiner stofflichen Basis freizumachen. Drittens hängt sie jedoch auch mit bestimmten historischen Bedingungen, der Erneuerung und versuchten Festigung der US-Hegemonie zusammen, weshalb die USA auch versuchten, die Operationen dieser Form von Finanzkapital durch ihr gemäße Regularien der Weltwirtschaft (WTO, Freihandelsabkommen … ) zu stärken.

Der Aufstieg Chinas und die Festigung Russlands im 21. Jahrhunderts verdeutlichen jedoch, dass diese Form keineswegs die einzige ist, wie Finanzkapital auf dem Weltmarkt auftritt. Eine Verstärkung der imperialistischen Konkurrenz, somit auch die Tendenz zur Bildung von Blöcken bis hin zur Fragmentierung des Weltmarktes, bedeutet wahrscheinlich auch, dass die Formen des Finanzkapitals, die eine direktere Bindung an den Staat kennzeichnen, verstärkt, teilweise auch parallel und in Konkurrenz zu anderen auftreten können.

Weltimperialismus

Die globale Struktur des Finanzkapitals erfordert in dieser geschichtlichen Periode eine, natürlich immer auch selektive, Open Door Policy bei gleichzeitigem Schutz des „Heimatblocks“. Sie erfordert internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) oder die Weltbank bzw. ihre regionalen Entsprechungen (z. B. Europäische Entwicklungsbank).

Sie erfordert von den imperialistischen Mächten, global interventionsfähig zu sein, und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und militärisch, um eigene Interessensphären gegen die Massen der Halbkolonien oder missliebige Regime, aber auch gegen imperialistische Konkurrenten absichern zu können. Politisch wird der Weltimperialismus durch folgende Faktoren geprägt:

• Politische, militärische und ökonomische Vorherrschaft des US-Imperialismus;

• Institutionen wie IWF, Weltbank, WTO, G 7/8 agieren als ideelle GesamtimperialistInnen unter US-Hegemonie;

• Massive Verelendung der Halbkolonien, stärkere direkte imperialistische Kontrolle;

• Suche nach neuen, der „Globalisierung“ adäquaten Formen politischer, diplomatischer und militärischer imperialistischer Herrschaft, was zu einer Wiederkehr der Kanonenbootpolitik (in einigen Aspekten ähnlich jener am Beginn der imperialistischen Epoche) führt.

Die Widersprüche zwischen den imperialistischen Ländern sind keineswegs verschwunden, sondern verschärfen sich unter der Oberfläche, teils auch offen. Alle potentiellen Rivalen der USA achten darauf, den Gegner nicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt herauszufordern. Vielmehr müssen unter dem Deckmantel der Kooperation eigene Positionen gegen die USA gehalten oder neue erobert werden. Das geht umso leichter, als es immer auch ein reales Element gemeinsamer Interessen der imperialistischen Mächte gegenüber den Massen und den Halbkolonien gibt.

Die Herausbildung transnationaler Monopole führt keineswegs zu einem „Ultraimperialismus“ oder zu einer kollektiven imperialen Friedensordnung. Sie verringert auch nicht die Rolle des bürgerlichen Staates als Sicherer und Garant der nationalstaatlich verwurzelten Großkapitale. Aber sie treibt zunehmend den Widerspruch zwischen internationaler Produktion und internationalisiertem Austausch einerseits und nationalstaatlicher oder blockmäßiger Verwurzelung des Kapitals andererseits auf die Spitze. Die Blockbildung (oft missverständlich als „Regionalisierung“ bezeichnet) stellt selbst eine Form der Internationalisierung des Kapitals dar.

Die Neuzusammensetzung des Kapitals verändert auch die ArbeiterInnenklasse. Damit Kapital rascher die Wandlung von einer Form in die andere vollziehen kann, Stockungen im Produktionsprozess vermieden werden, muss sich auch das variable Kapital uneingeschränkt bewegen können und zugleich in seiner Bewegung kontrolliert werden. Alle kollektiven Sicherungsrechte der ArbeiterInnenklasse, die die möglichst unbeschränkte Flexibilität der Arbeitskraft einschränken, stehen daher notwendigerweise auf der Abschussliste. Der Vorsprung der USA, die Vorherrschaft des am meisten entwickelten Kapitals, d. h. einer Form des Kapitals, die mehr seinem Begriff entspricht als in anderen Ländern, wäre ohne die Niederlagen der US-ArbeiterInnenklasse in den 1980er Jahren undenkbar.

Die Schaffung einer „neuen Weltordnung“ bildete über fast drei Jahrzehnte, also bis zu Trump, Leitideologie und Doktrin des US-Imperialismus. Schon in den frühen 1990er Jahren formulierten US-IdeologInnen, aber auch deren geostrategische Doktrin offen das Ziel, die durch den Zusammenbruch des Stalinismus gewonnene Rolle als einzige Weltmacht möglichst zu verewigen, mit dem Ziel keine potentiellen Rivalen – Deutschland, Frankreich, China, Russland – emporkommen zu lassen.

Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater mehrerer US-Präsidenten, stellte die Konzeption in seinem 1997 erschienenen Buch „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ wie folgt dar: „Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird.“[cx]

Schon 1992 formulierte das Pentagon in einem strategischen Papier (Defense Planning Guidance) den sog. „No Rivals-Plan“, in dem es u. a. heißt: „Wir müssen versuchen zu verhüten, dass irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen – unter gefestigter Kontrolle – ausreichen würden, eine Weltmachtposition zu schaffen. Solche Regionen sind Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der früheren Sowjetunion und Südwestasien.“ [cxi]

Die US-Strategie unterschied zwischen den vermeintlichen und wirklichen Herausforderern. Die europäischen Mächte und die EU sollten durch Bündnispolitik, Allianzen und PartnerInnenschaft eingehegt werden. China und Russland gelten als mögliche Konkurrenten und als besonders gefährlich, weil sie auch eine Systemalternative zur westlichen „Wertegemeinschaft“ verkörpern könnten. Aus diesem Grund tauchte auch schon zu diesem Zeitpunkt der islamische Fundamentalismus als Bedrohung auf, obwohl dieser weder eine militärische noch eine staatliche Macht darstellte – sich aber umso besser als ideologischer Gegner zur inneren, rassistischen Mobilisierung als auch zum Angriff auf diverse „Schurkenstaaten“ und zur Rechtfertigung asymmetrischer Kriege eignet. Dass der antimuslimische Rassismus zur vorherrschenden Form des Rassismus in den meisten westlichen Staaten geriet, stellt keinesfalls eine Reaktion auf islamistische Anschläge im 21. Jahrhundert dar, sondern wurde in den 1990er Jahren bewusst forciert und popularisiert (z. B. in Huntingtons 1996 erschienenem  Bestseller „Krieg der Kulturen“).

Wandel der ArbeiterInnenklasse

Die letzten Jahrzehnte sahen einen starken Wandel der ArbeiterInnenklasse als Resultat der Restrukturierung des Kapitals und der Angriffe der herrschenden Klasse. Worin bestehen deren wichtigsten Elemente?

  • Anwachsen der Klasse in einigen imperialistischen Ländern und wichtigen, fortgeschrittenen Halbkolonien;
  • Schrumpfen der produktiven Arbeit, Ausdehnung der unproduktiven Arbeit;
  • Proletarisierung lohnabhängiger Mittelschichten aus ehemaligen höheren“ Berufen (z. B. IngenieurInnen) oder dem Staatsdienst (z. B. LehrerInnen);
  • Schaffung einer gigantischen Masse nicht- oder unterbeschäftigter ProletarierInnen, prekär Beschäftigter und von „working poor“, teilweises Absinken dieser Schichten ins Lumpenproletariat, Millionen und Abermillionen, die in ständiger Armut leben;
  • Verringerung und Schwächung des Proletariats in dramatischem Ausmaß in Osteuropa, Russland und vielen Halbkolonien; Ausdehnung der langfristig überausgebeuteten Schichten der ArbeiterInnenklasse, die unter ihren Reproduktionskosten bezahlt werden (Kontraktarbeit, …);
  • Verringerung, teilweise auch Auflösung der tradierten ArbeiterInnenaristokratie im industriellen Sektor bei gleichzeitiger Schaffung einer neuen ArbeiterInnenaristokratie (oft aus ehemaligen lohnabhängigen Mittelschichten);
  • Schaffung eines zunehmend international kooperierenden Proletariats in den großen Konzernen (im Sinne der realen Kooperation in international integrierten Produktionsprozessen), Teile davon gehören gleichzeitig Kernschichten der ArbeiterInnenaristokratie in verschiedenen Ländern an.

In den relativ entwickelten Halbkolonien in Ostasien und Lateinamerika sowie im kapitalistischen China wachsen die ArbeiterInnenklassen in dieser Periode. Letztere nimmt zunehmend eine strategische Bedeutung für das Weltproletariat ein. In Kontinentaleuropa und zumal in (West-)Deutschland haben wir es damit zu tun, dass die ArbeiterInnenklasse zwar in ihrer Kampfkraft geschwächt, jedoch noch nicht strategisch geschlagen ist.

Diese Veränderungen haben auch die historisch gewachsenen Organisationen des Proletariats, insbesondere die Gewerkschaften, die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien massiv beeinflusst – und die Veränderungen sind seither in Riesenschritten weitergetrieben worden. Die Gewerkschaften sind in den Zentren zunehmend Organisationen der traditionellen ArbeiterInnenaristokratie. Ihr Überleben hängt davon ab, ob und wie sie neuen proletarisierten Schichten, insbesondere aber den nichtarbeiteraristokratischen Teilen der Klasse, eine Perspektive bieten können.

Die sozialdemokratischen Parteien haben in den letzten Jahrzehnten einen Wandel hin zu neu entstehenden arbeiteraristokratischen Schichten und lohnabhängigen Mittelschichten gemacht. Ein Teil der Gewerkschaftsbürokratie ist diesen Schritt mitgegangen, ein anderer hat sich auf die „Kernschichten“ konzentriert. Für die nichtorganisierten Teile des Proletariats (und dabei geht es keineswegs nur um abfällig als „Randschichten“ bezeichnete Sektoren) haben alle Flügel der ArbeiterInnenbürokratie immer weniger zu bieten. Die stalinistischen Parteien haben in Europa weitgehend an Bedeutung verloren, nicht jedoch in wichtigen Halbkolonien. Sie unterscheiden sich jedoch oft nur im Namen von der Sozialdemokratie.

Die Hinwendung des Reformismus zur neuen ArbeiterInnenaristokratie und zu den neuen Mittelschichten hat sich politisch-programmatisch in der Neuen Mitte (oder im „Dritten Weg“) manifestiert. Sie drückt auch einen stärkeren Einfluss der Mittelschichten (und über diese der Bourgeoisie) auf die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien, aber auch auf die Gewerkschaften aus.

1998 – 2007: Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung

Die Asienkrise und die Börsenkrise Ende der 1990er Jahre verdeutlichten schlagartig die Krisenhaftigkeit der Globalisierung. Sie brachten zum Ausdruck, dass die grundlegenden Probleme der Weltwirtschaft nicht gelöst wurden, sondern die fiktive Blüte der 1990er Jahre erkauft wurde um den Preis einer weiteren Vertiefung und Zuspitzung der Widersprüche.

Spiegelbildlich zur Asienkrise und zur Entwicklung der Schuldenblase in den USA begann das chinesische „Exportwunder“. Dessen Voraussetzung bildete die nur beschränkte, kontrollierte Öffnung für Direktinvestitionen, bei einem weiterhin stark regulierten chinesischen Finanzmarkt. Damit konnten lange Zeit sowohl eine Aufwertung der chinesischen Währung verhindert als auch Exportüberschüsse in großen Dollarreserven in China gehalten werden. Zugleich floss Kapital nach der Asienkrise von den Börsen hin zum US-Immobilienmarkt, wo es über die folgenden Jahre einen neuen, spekulativen Zyklus entwickelte.

Diese Faktoren führten dazu, dass die Krise um die Jahrhundertwende relativ flach blieb und aufgeschoben wurde.

Aber zugleich eröffnete sie schon wichtige, vorbereitende Elemente des Niedergangs und der folgenden Krise der Globalisierung:

a) Die Dynamik der Weltwirtschaft konnte im Wesentlichen nur durch die Ausweitung fiktiven Kapitals angeschoben und aufrechterhalten werden, der eine Stagnation des industriellen Sektors gegenüberstand, insbesondere in den imperialistischen Kernländern.

b) Die Ausweitung der Finanzmärkte, der Spekulation und der Verschuldung in den USA waren wesentliche Mittel, die Expansion des Welthandels sicherzustellen sowie des US-Konsums als „Lokomotive“ vor der Weltwirtschaft.

c) Auch wenn die ökonomischen Auswirkungen der Krise relativ abgemildert werden konnten, so wurden ihre Ursachen nicht beseitigt, sondern verstärkten vielmehr die Krisentendenzen, die jetzt zum Ausbruch kommen.

d) Untrüglich zeichnete sich eine kommende Schwächung der US-Hegemonie auf ökonomischer Ebene – Einführung des Euro, Voranschreiten der EU-Integration (trotz alle Schwächen ist sie nun der größte Wirtschaftsraum der Erde), Aufstieg Chinas und Restabilisierung Russlands – ab.

e) Der sog „permanente Krieg“ Bushs – eine Neuformulierung der US-Doktrin – stand im engen Verhältnis zur ökonomischen Basis des US-„Booms“ – sprich Kriegskeynesianismus, Eroberung, Sicherung von Rohstoffen und Reichtümern anderer Länder als Faustpfande gegenüber imperialistischen und anderen potentiellen Rivalen.

f) Die imperialistische Politik des US-Imperialismus sicherte in dieser Periode nicht nur die US-Hegemonie, sondern auch, dass das Wachstum der US-Binnenwirtschaft auf Kosten anderer Staaten und Rivalen weiter aufrechterhalten werden konnte. Allerdings geschieht das schon (anders als in den 1990er Jahren unter Clinton) auf Kosten der US-Industrie, also bei gleichzeitiger Unterminierung ihrer Wettbewerbsfähigkeit.

g) Entscheidend für die veränderte politische Lage und den Beginn einer neuen Klassenkampfperiode sind jedoch nicht nur die ökonomische Stagnationstendenz und die zunehmende Aggressivität des US-Imperialismus, sondern auch die nachhaltige Erschütterung der neoliberalen Hegemonie. Auch wenn der Neoliberalismus vorherrschende Ideologie der herrschenden Klassen in den imperialistischen Staaten und in den meisten Halbkolonien bleibt, auch wenn er in Form des „Neuen Realismus“ und „Dritten Weges“ in den großen, bürokratisierten Gewerkschaften der imperialistischen Welt sowie in den sozialdemokratischen Parteien faktisch anerkannt wird, so entstand nach der Asienkrise auch eine globale Gegenbewegung.

h) Diese Gegenbewegung, ihre Entstehung und Geschichte stellte keinen Nebenaspekt, sondern einen prägenden Faktor der Periode von 1998 – 2007/8 als Periode der Zuspitzung der inneren Widersprüche der Globalisierung dar.

i) Diese äußerte sich:

– in revolutionären Bewegungen und Situationen (Indonesien … )

– der riesigen Antikriegsbewegung

– im Widerstand gegen EU/Euro, in vorrevolutionärer Situation in Frankreich

– dem entschlossenen und heroischen Widerstand in Afghanistan, Irak, Libanon und seinen Erfolgen gegen den Imperialismus (wenigsten in dem Sinne, dass die Ziele des Imperialismus nicht erreicht werden konnten)

– der Entstehung linkspopulistischer und/oder linksbonapartistischer Regime und Bewegungen – insbesondere Chávez und Morales – inkl. ihrer kontinentalen und internationalen Ausstrahlung

– der Entstehung einer globalen internationalen Bewegung, der Antiglobalisierungs- oder auch antikapitalistischen Bewegung. Implizit warf diese die Frage einer neuen Internationalen auf und mit den Sozialforen schuf sie bei all ihren Schwächen eine Form des globalen Austausches von AktivistInnen der radikalen Linken, der ArbeiterInnenbewegung, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, rassistisch und national Unterdrückter, die die Internationalisierung des Kapitals und des Klassenkampfes reflektierten. Diese spontane Entwicklung konnte ihr fortschrittliches Potential jedoch aufgrund der politischen Hegemonie von linkem Reformismus, Populismus und kleinbürgerlichem Radikalismus in der Bewegung nicht realisieren.

13.6 Seit 2007/2008: Historische Krisenperiode und Krise der Globalisierung

Mit dem Platzen der Immobilienblase, Finanzkrise, weltweiten Wirtschaftskrise begann eine neue historische Periode.

Diese kennzeichnet erstens eine tiefe, historische Weltwirtschaftskrise. Im Unterschied zu früheren Umschlägen der globalen Lage markierte sie jedoch nicht ein politisches Ereignis, sondern einen globalen ökonomischen Einbruch, einen Periodenwechsel. Dies reflektiert die viel größere Bedeutung des Weltmarktes, die zu einer viel rascheren Verbreitung eines großen wirtschaftlichen Zusammenbruchs im Gesamtsystem führt. Dies gilt übrigens noch viel stärker für die aktuelle globale Krise, deren Kombination mit der Corona-Pandemie zu einer Unterbrechung der Kapitalzirkulation in weiten Teilen der Weltwirtschaft führt und somit die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat.

Doch zurück zu 2007 und folgenden Jahren. Schon die damalige Rezession erforderte eigentlich eine Vernichtung überschüssigen Kapitals von geschichtlichem Ausmaß und zugleich eine riesige Steigerung der Ausbeutung des Proletariats und der Unterdrückten, um den ihr zugrundeliegenden geringen Profitraten und der strukturellen Überakkumulation entgegenzuwirken. Dem standen aber enorme innere Hindernisse des Kapitals selbst und auch des Klassenverhältnisses entgegen.

Die imperialistische Bourgeoisie verfolgte eine Politik der Rettung des Finanzkapitals – und insbesondere seines zinstragenden Teils. Diese schob zugleich die eigentlich notwendige Vernichtung von Kapital auf oder wälzte sie auf schwächere Teile ab (industrielles Kapital, kleinere und mittlere Unternehmen, Halbkolonien usw.). Anders als z. B. in der Großen Depression der 1930er Jahre fand jedoch kein „Ausbluten“ des Finanzsektors, also keine strukturelle Vernichtung von fiktivem Kapital statt. Im Gegenteil, gerade diese Teile wurden gerettet und diese Politik fand schon Mitte des Jahrzehnts vor dem Hintergrund sich formierender imperialistischer Konkurrenz der Blöcke (EU) und der aufstrebenden Weltmacht China und einzelner Regionalmächte statt (Indien, Brasilien … ).

Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich von der Weltwirtschaftskrise 1929 und folgenden in einem wichtigen Punkt: Der Weltmarktzusammenhang war nicht zusammengebrochen, der Dollar weiter die wichtigste Währung der Welt.

Die USA agierten weiter als Hegemonialmacht. Der US-Imperialismus organisierte im Bund mit der EU, auch mit China, die Welt so weit, dass ökonomische Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, um die Weltwirtschaft wieder zum Laufen zu bringen (Politik des billigen Geldes). Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode streifen die USA dafür aber keine ökonomische Dividende mehr ein.

Die hegemoniale Rolle ließ sich nur aufrechterhalten durch die weitere, zwangsläufige Unterminierung ihrer wirtschaftlichen, industriellen Basis. Die anderen ImperialistInnen und potentiellen KonkurrentInnen „stützten“ die USA, doch wollten sie sich diese Stützung durch größere Anteile am Weltmarkt, mehr „Mitsprache“rechte und größeren Einfluss auf die Weltordnung „bezahlen“ lassen, sprich durch weitere Aushöhlung der US-Hegemonie.

Aber die USA können die Einheit unter den großen Mächten, den G 20, vor allem noch dadurch herstellen, dass ihr Zusammenbruch die ganze Welt in den Untergang mitreißen würde. Ein positives Programm für eine neue Periode der „Expansion“ haben sie nicht.

Allerdings fürchten auch die RivalInnen den Zusammenbruch der Weltwirtschaft, des Terrains, auf dem sie die USA zugleich zu besiegen oder jedenfalls weiter zurückzudrängen versuchen.

Daher kommt die Konferenzkonjunktur, der Neuordnungs- und Regulierungshype in den herrschenden Klassen, permanentes Krisenmanagement, das immer mehr auf die Grenzen verstärkter gegensätzlicher Interessen trifft.

Die „Ratlosigkeit“, das Fehlen eines gemeinsamen „Plans“ oder Programms, einer klaren Wirtschaftsdoktrin der herrschenden Klasse ist jedoch nicht nur ein Resultat verschärfter innerer Gegensätze des Kampfes, wer innerhalb der Kapitalistenklassen und unter den imperialistischen Bourgeoisien die Krisenkosten tragen soll.

Es ist auch ein Zeichen für die Überlebtheit der bürgerlichen Herrschaft selbst – so wie jede Krise auch die Zusammenbruchstendenzen des Systems selbst in Erinnerung ruft. Die herrschende Klasse kann ihr System nur retten, wenn sie bestehende Formen der Vergesellschaftung und Produktivkräfte zurückdrängt, weitere Kriege vorbereitet und zugleich die Welt einem ökologischen Desaster entgegenführt.

Gerade die Globalisierung hat als ein Moment, um dem Fall der Profitraten und dem Problem der Überakkumulation entgegenzuwirken, den Weltmarkt massiv ausgedehnt und auch die Produktionsabläufe in enormem Ausmaß international  vorangetrieben. Doch die nationalstaatliche Form erweist sich als unüberwindbare Schranke, eine Barriere, auf die die herrschende Klasse zur Rettung ihrer nationalen Interessen und imperialen Ambitionen zugleich mehr und mehr zurückgreifen muss.

Schon die Krise ab 2007 verdeutlichte schlagartig, dass ihre Überwindung eigentlich eine globale, bewusste Planung erfordert, um die weitere Entwicklung, die Entwicklung der Produktivkräfte zu gewährleisten und den Fortbestand und die Schaffung wahrlich menschlicher Lebensverhältnisse überhaupt zu sichern. Dazu ist die herrschende Klasse nicht in der Lage.

Diese widersprüchliche Situation, historisch tiefe Krise des Produktionsverhältnisses und  zugleich Bestehen einer untergehenden Hegemonialordnung und innerimperialistischen Kooperation, die die Herrschenden noch hoffen lässt, dass sie „das Schlimmste“ verhindern können, eröffnete eine längere Periode des „permanenten Krisenmanagements“, der Kooperation auf ökonomischer, politischer und diplomatischer Ebene, um „den Zusammenbruch“ (oder verschiedene, jäh auftauchende Zusammenbruchsszenarien) zu verhindern. Zugleich aber werden sich die inneren Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten (und jenen, die solche werden möchten) weiter zuspitzen.

Bei aller Unterschiedlichkeit und „Schwankungen“ der herrschenden Klassen, wenn es um eine „pragmatische“ Lösungsstrategie für das Kapital geht, so bedeutet die Krise für die ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten eine Periode des Frontalangriffs, bis in die ArbeiterInnenaristokratie und Mittelschichten hinein, von dramatischem, weltweit verallgemeinertem Ausmaß.

In jedem Fall führte die historische Krise, die 2007 begonnen hatte, rasch zu großen Kämpfen: Hungerrevolutionen und Massenproteste in einem Viertel aller Länder der Erde, vorrevolutionäre Situationen, Aufstände usw. Sie eröffnete eine Periode, in der die Frage, wer herrscht, wer bestimmt den weiteren Gang der geschichtlichen Entwicklung, also die Machtfrage, direkt gestellt wurde, auch wenn sich die Gesellschaftsklassen erst allmählich des Charakters der Entwicklung bewusst wurden. Das traf auch auf die herrschenden Klassen zu, die von der Krise „überrascht“ wurden, aber auch die SozialimperialistInnen in der ArbeiterInnenbürokratie, die noch bis Ende 2008 die Existenz der Krise zu leugnen versuchten und behaupteten, dass doch alles beim Alten geblieben sei (eine jener tröstlichen „Wahrheiten“, mit denen die Bürokratie sich selbst über jeden historischen Wendepunkt zu „retten“ versucht).

Zweifellos hatte die spezifische Form des Wendepunktes – eine ökonomische Krise – damit zu tun. Ein Weltkrieg oder eine Revolution in einem bestimmten Land stellen per se die Machtfrage. Eine Wirtschaftskrise trägt einen zeitlich ausgedehnteren Charakter. Außerdem erscheint sie als „Sachzwang“, als „Verhängnis“, als fast natürliche Katastrophe, die alle „gleichermaßen“ trifft. D. h., selbst wo sie am tiefsten wirkt, erscheint ihre Ursache nicht direkt, offen als notwendiges Resultat des Kapitalverhältnisses, sondern ihre Oberflächenerscheinungen prägen des Bewusstsein. Daher bleibt das Bewusstsein in solchen historischen Umbrüchen auch oft zurück, wodurch die Führungskrise und die konterrevolutionäre Rolle der bürgerlichen Apparate in der ArbeiterInnenklasse noch verstärkt werden.

Schließlich wurde die gegenwärtige Periode von Beginn an auch davon geprägt, dass die ökologische Frage zu einer Menschheitsfrage geworden ist, dass die Fortexistenz des Kapitalismus das Überleben der Menschheit selbst in Frage stellt. Diese Bedrohung wird selbstredend in der aktuellen Krise dramatisch verschärft.

Klassenkampfperioden seit 2008

Die ersten Jahre der Krise waren von einer Erschütterung des bürgerlichen Systems gekennzeichnet, die die Legitimität der kapitalistischen Ordnung in Frage stellte. Die bürgerlichen Medien und die herrschenden Klasse trieb die Furcht um, dass die globale Linke, die ArbeiterInnenklasse von der Krise profitieren würden. Schließlich hatten alle Kräfte links von der Sozialdemokratie immer schon auf die Krisenhaftigkeit des Systems verwiesen. Seit Beginn der Antiglobalisierungsbewegung hatte sich eine, wenn auch reformistisch und populistisch geführte, Bewegung gegen den Neoliberalismus gebildet, deren linker Flügel offen, wenn auch theoretisch und programmatisch sehr heterogen, direkt antikapitalistisch auftrat.

Die Kämpfe gegen die große Krise konnten nicht nur daran, sondern auch an wichtige Mobilisierungen und Massenkämpfe anknüpfen, an Bewegungen wie Blockupy und die Platzbesetzungen im Süden Europas, die, gewissermaßen als Vorbotinnen der historischen Krise, eine tief sitzende Unzufriedenheit, aber auch Handlungsbereitschaft großer Bevölkerungsschichten zum Ausdruck brachten.

Dabei stellten sie selbst nur das Vorspiel zu den revolutionären Erhebungen des Arabischen Frühlings oder der vorrevolutionären Krise in Griechenland dar, die scheinbar fest etablierte Regime stürzten und Millionen im Kampf um eine andere Gesellschaftsordnung in Bewegung brachten. In anderen Ländern wie Indien oder China erwachten hunderte Millionen von Lohnabhängigen zum gewerkschaftlichen und politischen Leben. In Brasilien, in den USA oder in Frankreich unter Hollande demonstrierten Millionen ihren Willen, sich einem putschistischen Regime (Temer), einem rassistischen Präsidenten oder knallharter Austeritätspolitik in den Weg zu stellen. Die sog. „Flüchtlingskrise“, also der zeitweilige Zusammenbruch der rassistischen Grenzen der EU, hat zu Beginn auch eine Solidarisierung unter großen Teilen der Bevölkerung hervorgebracht.

Aber die meisten dieser Bewegungen endeten in bitteren Niederlagen. Insbesondere der faktische Sieg der Konterrevolution im Arabischen Frühling (Ägypten, Syrien, Libyen) bis spätestens 2016, Kapitulation und Verrat von Syriza gegenüber der Troika aus EU-Kommission, EZB und dem IWF im Jahr 2015 markierten einen Wendepunkt der internationalen Lage. Die antirassistische Solidarität am Beginn der massiven Fluchtbewegungen aus dem Nahen Osten und Afrika verwiesen zwar auf das Potential für eine fortschrittliche Bewegung, aber erlitten auch eine Niederlage mit dem Aufstieg des Rassismus und der Formierung einer europaweiten und internationalen rechtspopulistischen Welle. So verschob sich das Kräfteverhältnis auf der ganzen Welt zugunsten der herrschenden Klassen oder gar Elementen der extremen Reaktion – zu rassistischen, rechtspopulistischen, autoritären und diktatorischen Regimen und Kräften.

Diese Niederlagen verdichteten sich 2016. Innerhalb der aktuellen globalen Krisenperiode, deren grundlegende Ursachen längst nicht gelöst sind, begann eine Phase, die vom Vormarsch der Reaktion, der Konterrevolution auf allen Ebenen und von einer weiteren dramatischen Verschärfung des Kampfes um eine Neuaufteilung der Welt gekennzeichnet ist. Die politische Klassenkampfperiode, die damals begann, wird vom Vormarsch der Konterrevolution, des Rechtspopulismus und des Irrationalismus geprägt. Dies bedeutet keineswegs, wie wir bei den Kämpfen der letzten Jahre sehen können, dass es keine Massenbewegungen, ja selbst Generalstreiks oder Aufstandsbewegungen geben kann. Aber diese werden in der Regel durch vorhergehende Angriffe der Rechten, als Reaktion aus einer Situation der Defensive ausgelöst. Beispiele finden sich zuhauf: die befristeten Generalstreiks in Brasilien oder in Indien gegen Modi, die Aufstände im Sudan oder im Libanon, die Massenbewegungen des internationalen Frauen*streiks, die auch durch die extreme Reaktion eines Trumps entfacht wurde, antirassistische Massenbewegungen wie Black Lives Matter und die Rebellionen in den USA, die globale internationale Umweltbewegung, die mit den Schulstreiks von Fridays for Future einen ersten Höhepunkt erreichte.

Zugleich verdeutlichen diese Kämpfe die Führungskrise auch von einer anderen Seite. Linkspopulistische, linksbürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte prägen oft und zunehmend auch die politische Ausrichtung dieser Bewegungen. Das Erstarken dieser Ideologien stellt selbst einen Ausdruck der Defensive dar, eines zunehmenden Einflusses von bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Bewegungen unter den Unterdrückten und selbst in der ArbeiterInnenklasse. Diese Entwicklung wurde durch die Niederlagen in Griechenland oder in den Arabischen Revolutionen und durch die klassenkollaborationistische Politik der Führungen von Gewerkschaftsbürokratie und Reformismus begünstigt, ja, in diesem Ausmaß überhaupt erst ermöglicht. Ebenso wie der Kampf gegen Reformismus und NurgewerkschafterInnentum einen unverzichtbaren Teil des ideologischen und theoretischen Klassenkampfes bildet, muss dieser auch gegen die klein- und linksbürgerlichen Kräfte geführt werden, deren theoretischen Ausdruck z. B. Linkspopulismus, Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postmodernismus oder kleinbürgerlicher Ökologismus bilden.

Die innerimperialistischen Gegensätze, der Kampf zwischen „alten“, tradierten Mächten (den USA, Japan, den europäischen Mächten wie Deutschland) und „neuen“ Imperialismen (China und Russland) machten sich zugleich bei jedem globalen Konflikt, in jeder „Krisenregion“ bemerkbar. Der Vormarsch der Reaktion im Nahen Osten, die Dauerkrise in Zentralasien, der neue „Run um Afrika“ usw. können nur im Rahmen dieser Konkurrenz verstanden werden. Dasselbe gilt für die US-Offensive gegen missliebige „linke“, also linkspopulistische oder reformistisch geführte Regierungen in Lateinamerika, ebenso für Chinas Jahrhundertprojekt der neuen „Seidenstraße“.

Die verschärfte Ausbeutung der sog. „Dritten Welt“, Interventionen der führenden Großmächte, aber auch regionaler, in der imperialistischen Ordnung untergeordneter Staaten führen dazu, dass die Weltlage immer explosiver wird. Die Kriegsgefahr steigt. Sog. „Stellvertreterkriege“ oder nukleare Drohungen wie gegen Nordkorea können unter diesen Umständen zu einem Weltenbrand werden.

Gerade weil die strukturellen Probleme der kapitalistischen Weltwirtschaft ungelöst sind, müssen sich sowohl die Angriffe auf die Massen als auch die innerimperialistische Konkurrenz weiter verschärfen.

Die Ursache der Finanzkrise, der tiefen Rezession und des Rückgangs der Produktion in allen tradierten imperialistischen Staaten war und ist die Überakkumulation von Kapital. Eine immer größere Masse an Kapital kann im produktiven Sektor nicht mehr mit ausreichend hohen Gewinnerwartungen angelegt werden. Die „Flucht“ in den Finanzsektor, das Entstehen spekulativer Blasen war und ist die unvermeidliche Folge.

Innerkapitalistisch kann das nur durch zwei miteinander verbundene Wege gelöst werden – einerseits die Vernichtung „überschüssigen“ Kapitals, andererseits durch eine Neuaufteilung der Welt, bei der auch entschieden wird, wessen Kapital zerstört wird, welcher Imperialismus (oder welcher Block) sich letztlich durchsetzt. Daraus ergibt sich auch, warum die Frage der Formierung Europas für den deutschen Imperialismus so entscheidend ist.

Daraus ergibt sich aber auch, warum eine Lösung der grundlegenden Menschheitsprobleme wie z. B. der ökologischen Krise, also der drohenden und rapide fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, von Hungerkatastrophen, Armut und Verelendung immer größerer Massen unter dem kapitalistischen System zunehmend unmöglich wird. Die Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfen vielmehr notwendigerweise diese Probleme, gerade und vor allem in den von imperialistischen Staaten beherrschten Ländern. Die gegenwärtige Krisenperiode umfasst alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wie des Mensch-Natur-Verhältnisses.

Zugleich bestätigt sie auch die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms. Losungen wie die nach Aufteilung der Arbeit auf alle, Enteignung der Banken und Konzerne, Notpläne unter ArbeiterInnenkontrolle, Generalstreik, Besetzungen, die Frage der ArbeiterInnenregierung – also alles Losungen, die zur Machtfrage führen und zum Übergang zur proletarischen Diktatur, sind zentral  für jedes Aktionsprogrammen, das einen Weg zur Lösung der entscheidenden Fragen bietet, vor denen nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern die gesamte Menschheit steht.

Der Sturz des Imperialismus, das Programm der proletarischen Machtergreifung, der sozialistischen Reorganisation der Weltwirtschaft wird auch strategisches Ziel zur Rettung der Menschheit vor sozialem Verfall und zur Rettung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen.

14. Imperialismus, Weltwirtschaftskrise und der Übergang zum Sozialismus

Die gegenwärtige Krisenperiode bestätigt Lenins Analyse des Imperialismus als Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, als Epoche, die weltgeschichtlich die Alternative Sozialismus oder Barbarei aufwirft.

Der Imperialismus ist eine Epoche, in der die Bourgeoisie aufgehört hat, eine fortschrittliche Klasse zu sein, in der die weitere Herrschaft der Kapitalistenklasse, in der die kapitalistische Produktionsweise insgesamt reaktionär ist, weil sie zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte und Gesellschaft geworden ist.

Es geht nicht einfach um die Epoche der Herrschaft „des Kapitals“, sondern des Finanzkapitals, der Fusion von industriellem und zinstragendem (financial) Kapital, einer schon gesellschaftlichen Form des Kapitals, die, historisch betrachtet, immer schon beinhaltet, dass das Kapital zu Mitteln seiner eigenen Negation greifen muss, um sich selbst als herrschendes gesellschaftliches Verhältnis zu behaupten.

Die Epoche des Imperialismus ist nicht nur eine Epoche, wo die Produktionsweise reaktionär wurde, wo der Kapitalismus zu Niedergang und Stagnation tendiert, wo zur Sicherung der Herrschaft des Finanzkapitals die gesamte Welt unter wenige große Kapitale und Mächte aufgeteilt ist (resp. immer wieder neu aufgeteilt werden muss). Mit der Bildung des Finanzkapitals, der Entstehung riesiger, weltumspannender Monopole wird gleichzeitig auch die direkte, bewusste Vergesellschaftung der sich jetzt in den Händen einer kleinen Gruppe von Konzernen, Banken und Finanzinstitutionen befindenden Produktionsmittel zu einer unmittelbaren Möglichkeit und Notwendigkeit.

Im Kapitalismus ist das natürlich unmöglich. New Deal, keynesianischer Sozialstaat, Staatskapitalismus in den Halbkolonien, aber auch die weniger augenscheinliche staatliche Protektion des nationalen Finanzkapitals unter Globalisierung/Neoliberalismus sind Zeichen dafür, dass der bürgerliche Staat ein weit wichtigeres Element der Ökonomie des Kapitalismus darstellt, als dies in der vorimperialistischen Epoche der Fall war.

Der reaktionäre Charakter der Epoche zeigt sich wohl am sinnfälligsten darin, dass sich die Herrschaft des Finanzkapitals nur durch äußerst barbarische Mittel (Völkermord, faschistische Herrschaft samt industrieller Massenvernichtung des jüdischen Volkes, zwei Weltkriege, nukleare Auslöschung von Hiroshima und Nagasaki, generell Krieg als großindustrielles Vernichtungsunternehmen) überhaupt halten konnte. Ohne Vernichtung solchen Ausmaßes hätte es die Prosperitätsphasen des Imperialismus, insbesondere den Langen Boom, nicht geben können.

Doch auch der „Normalzustand“ des Imperialismus grenzt an Barbarei. Die systematische „Unterentwicklung“ der Halbkolonien, täglicher Hungertod Tausender, Hunger und Elend für Milliarden Menschen sind Erscheinungen, die sich durch alle Perioden seiner Entwicklung ziehen.

Zeichen für den reaktionären Charakter der Epoche sind diese Perioden jedoch nicht nur wegen der barbarischen Ausmaße von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen und ihres gigantischen Blutzolls. Reaktionär sind sie v. a., weil sie von einem Großteil der Staaten und Menschen der Erde erzwingen, in einem Zustand der „Unterentwicklung“, der sozialen Paralyse zu verharren.

Zugleich war der Kapitalismus in seiner langen Entstehungsphase wie in seiner Blüte und industriellen Durchsetzung im 19. Jahrhundert keineswegs „nichtbarbarisch“ gewesen. Die Kolonisierung, die Schaffung von Märkten für die Arbeitskraft der SklavInnen und Kulis gingen einher mit der Ausradierung eines Großteils der indianischen Bevölkerung Amerikas und einer Stagnation der Bevölkerungsentwicklung Afrikas im 18./19. Jahrhundert.

Sie gingen aber auch einher mit eine Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse, der Zerstörung vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen und mit der Schaffung globaler moderner Produktions- und Klassenverhältnisse. Doch dieses Werk ist längst vollendet.

Der Imperialismus des 20. und 21. Jahrhunderts zerstört im Wesentlichen keine vorkapitalistischen Verhältnisse mehr, er hat den Weltmarkt schon verallgemeinert. Er verunmöglicht dem Großteil der Menschheit, aus halbkolonialer Abhängigkeit samt Unterentwicklung zu entfliehen, und hat zugleich die vorkapitalistischen Produktionsweisen als relativ stabile Verhältnisse zerstört. Zugleich schafft er immer wieder auch „hybride“ Produktionsweisen, die die Nachteile beider verchmelzen.

Die Wiederherstellung des Kapitalismus in Osteuropa, Russland, China, Vietnam hat der imperialistischen Bourgeoisie politisch wie auch wirtschaftlich Mittel zur Expansion oder jedenfalls zur Abfederung der Krisentendenzen des Systems geliefert. Aber sie hat das in einer ganz anderen Form getan als bei der Zerstörung vorkapitalistischer Eigentumsverhältnisse im 19. Jahrhundert. Der Kapitalismus hat in Russland, Osteuropa China, Vietnam keine rückständige Produktionsverweise zerstört, zurückgesetzt oder inkorporiert. Er hat vielmehr einen gesellschaftlichen Rückschritt mit sich gebracht: bürokratische Planwirtschaften durch halbkoloniale Staaten oder schwache Imperialismen ersetzt und/oder  äußerst autokratische Formen der Herrschaft des Kapitals und Formen, die der ursprünglichen Akkumulation ähneln (mafiose Strukturen, kriminelle Formen der Aneignung … ), errichtet.

Noch dramatischer ist das Bild im Großteil der halbkolonialen Länder. In der sog. „Subsistenzwirtschaft“ der „Dritten Welt“, in den Megastädten und Slums, aber auch in den Ghettos der großen imperialistischen Metropolen sammelt sich ein immer größerer Teil der Weltbevölkerung, der nicht vor und nicht zurück kann, der in der permanenten Krise einer Gesellschaftsformation gefangen ist.

Zugleich ist diese Abhängigkeit eine unvermeidliche Funktion der Herrschaft des Finanzkapitals. Bis auf wenige Ausnahmeperioden ist das Fortschreiten der Unterentwicklung notwendige Kehrseite der fortschreitenden Zusammenballung und Bereicherung des Finanzkapitals. Die Globalisierung hat dies auf bisher ungeahnte Spitzen getrieben.

Dabei musste das Finanzkapital auch auf Mittel zurückgreifen, die die Produktion und den gesellschaftlichen Verkehr über die bestehenden nationalstaatlichen Grenzen und Formen hinaustreiben: die Zunahme internationaler, koordinierter Produktionsketten und Planungszusammenhänge in Konzernen mit 100.000en Beschäftigen samt einem Vielfachen von ArbeiterInnen in Zulieferindustrien. Die logistischen Leistungen auf dem Gebiet des Transportwesens usw. bezeugen alle auch, zu welchem Ausmaß globaler Wirtschaftsplanung die Menschheit, d. h. die gesellschaftliche Arbeit, fähig geworden ist. Selbst die Einführung des Euro bezeugt nicht nur die imperialen Ambitionen Deutschlands und Frankreichs – sie bezeugt auch, wenn auch im Rahmen des Kapitalismus, dass die modernen Produktivkräfte über den Nationalstaat hinausdrängen.

Programm der herrschenden Klasse

Aber worin besteht das Programm der herrschenden Klasse angesichts dieser Problemstellung in der gegenwärtigen Krise?

Um der schärfsten Explosion vorzubeugen, besteht die unmittelbare Reaktion v. a. der US-Bourgeoisie darin, der Krise durch Staatsverschuldung, also Ausdehnung des Kredits und damit der „Vorbereitung“ der nächsten spekulativen Blase, zu begegnen.  Das wird den Prozess einer Kapitalvernichtung nicht aufheben, auch wenn es diesen verzögern oder sogar zu einem kurzfristigen Aufschwung führen kann.

Angesichts der gigantischen Massen  fiktiven Kapitals, das in den letzten Zyklen angehäuft wurde, angesichts der gigantischen Massen von Kapital, das in Industrien vergegenständlicht ist, die von chronischer Überproduktion betroffen sind, angesichts der gigantischen Widersprüche droht  nach wie vor eine „Bereinigung“, die bisherige Ausmaße dramatisch übersteigt – und die keineswegs sicherstellt, dass danach „der Kapitalismus“ wieder seinen Lauf nimmt.

Die gegenwärtige Krise kann und wird zwar nach einer bestimmten Phase einem zeitweiligen konjunkturellen Aufschwung Platz machen. Die Frage ist jedoch: Werden neue Bedingungen geschaffen, die eine ganze, längerfristige Periode der Expansion ermöglichen? Wird ein relativ stabiles Gleichgewichtig zwischen den großen Kapitalen und Mächten hergestellt werden können, auf dessen Basis auch ein politisches, zwischenimperialistisches Gleichgewicht neu aufbauen kann? Die Frage zu stellen, heißt schon die Probleme zu benennen, die dem gegenüberstehen: Ein neuer tieferer Aufschwung des industriellen Zyklus müsste schließlich nicht nur eine Vernichtung bestehender Kapazitäten, sondern auch eine grundlegende technische Erneuerung des Produktionsapparates oder wenigstens der Zirkulationskosten (wie z. B. Ende der 1980er Jahre und dann v. a. in der Globalisierungsperiode durch die Computerisierung) beinhalten.

Hinzu kommt, dass Kapitalvernichtung ein ungleicher Prozess sein wird und im Rahmen des imperialistischen Gesamtsystems sein muss. Manche kapitalistischen und imperialistischen Staaten und Kapitale gewinnen auf Kosten anderer. Das verschärft wie schon in früheren Phasen die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft und die Konkurrenz untereinander. Der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht hat diese weiter angeheizt, er hat die Weltwirtschaft und die internationale Politik nicht stabilisiert, sondern bringt sie längerfristig aus dem Gleichgewicht.

Die Konkurrenz zwischen den alten imperialistischen Staaten und aufstrebenden Mächten wie China führt dazu, dass das Hauen und Stechen verschärft wird, dass Blockbildung und Protektionismus voranschreiten werden.

Die Lösung der herrschenden Klasse in der aktuellen Krise besteht also letztlich darin, schon erreichte Formen des globalen Austausches, der Produktion zu vernichten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen – ein Beleg mehr dafür, dass die Bourgeoisie eine reaktionäre Klasse ist. Das ist auch der Grund, warum wir es heute mit einer historischen Krise des gesamten Systems zu tun haben.

Wie wenig die herrschende Klasse Herrin ihrer eigenen Produktionsweise ist, wie sehr ihr die gesellschaftlichen Probleme über den Kopf gewachsen sind, zeigt die drohende ökologische Katastrophe. Der Kapitalismus war, wie schon oben dargestellt, immer mit der Zerstörung der menschlichen Umwelt, neben der lebendigen Arbeit die andere große Quelle des Reichtums, verbunden. Von sich aus vermag der Kapitalismus – wie alle früheren Gesellschaftsformationen – keinen rationalen, bewussten Umgang mit der Natur, kein vernünftiges Mensch-Natur-Verhältnis zu etablieren. Als verallgemeinerte Warenproduktion stellt sich eben immer erst im Nachhinein heraus, welche Arbeit gesellschaftlich nützlich war, welche vergebens etc. Die „Umwelt“ tritt in diesem Verhältnis immer nur als Kostenfaktor auf, der individuelle Unternehmens- und Investitionsentscheidungen gemäß ihrer Profiterwartungen modifizieren mag, dessen gesamtgesellschaftliche Folgen aber immer unbewusst bleiben müssen.

Ein rationales Verhältnis zur Natur kann nur vorausschauend, auf Basis von Wissenschaft und rationaler Planung gemäß den Bedürfnissen der Menschen und den Reproduktionserfordernissen ihrer natürlichen Lebensgrundlagen (selbst auch ein menschliches Bedürfnis), verankert werden. Mit dem Kapitalismus ist das unvereinbar. Er treibt vielmehr das Problem als Produktionsweise, die auf den Weltmarkt bezogen ist, also immer schon global bestimmt ist, auf die Spitze.

Ebenso wie die modernen Produktivkräfte dem Nationalstaat entwachsen sind, so ist die Frage der Schaffung eines vorausschauenden und nachhaltigen Verhältnisses zur Natur (inkl. der Wiederherstellung menschengerechter Bedingungen) im nationalstaatlichen Rahmen nicht machbar. Es erfordert internationale Planung, offene und transparente Bestandsaufnahme, offenen Austausch von Erfahrung, Wissen, Wissenschaft, Technologie usw. – alles Dinge, die mit einer Weltgemeinschaft imperialistischer Staaten und der großen Monopole, die im immer schärfer werdenden politischen und ökonomischen Wettstreit liegen, einfach unmöglich sind.

Imperialismus und Sozialismus

Doch die imperialistische Epoche hat nicht nur die inneren Widersprüche, die Probleme auf die Spitze getrieben. Sie hat auch den Weg zu ihrer Lösung sichtbar gemacht.

Die imperialistische Epoche ist somit nicht nur die Epoche des Niedergangs, der Tendenz zu Stagnation. Sie stellt auch den Sturz des Kapitalismus und den Übergang zum Sozialismus, zur zukünftigen klassenlosen Gesellschaft auf die Tagesordnung.

Die imperialistische Epoche ist daher auch die Epoche der proletarischen Diktatur. Die Oktoberrevolution 1917 hat nicht von ungefähr die Welt des 20. Jahrhunderts geprägt wie kein anderes Ereignis.

Die Oktoberrevolution und der revolutionäre Ansturm nach 1917 sowie die Gründung der Dritten Internationale, die zahllosen Revolutionen, Krisen, ja, auch die Entstehung der degenerierten ArbeiterInnen0staaten haben bewiesen, dass die sozialistische Revolution ein gesellschaftliches Bedürfnis geworden ist in der imperialistischen Epoche. In seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie verweist Marx zu Recht darauf, dass die Menschheit, die Geschichte nur solche Probleme und Fragen aufwerfen, die sie auch zu lösen vermögen. Die Häufung revolutionärer Krisen, Situationen, ja, die Entstehung von Übergangsgesellschaften, die sich auf der Basis bürokratischer Planung über Jahrzehnte behaupten und reproduzieren konnten, zeigen auch, dass die gesellschaftliche Entwicklung objektiv über den Kapitalismus hinausdrängt.

Die Russische Revolution hat außerdem auch bewiesen, dass die ArbeiterInnenklasse, auch wenn sie unter äußerst schwierigen Bedingungen an die Macht kommt, diese behaupten und beginnen kann, die Gesellschaft in ihrem Sinne bewusst umzugestalten. Die ersten Jahre der Russischen Revolution sind, ohne dass wir unkritisch zu Schwächen und Fehlern sein wollen, eine heroische Periode der größten revolutionären Umwälzung der bisherigen Geschichte, die auch für zukünftige Transformationen reich an Erfahrung und Lehren ist.

Die Erfahrung zeigt aber auch die Grenzen des Weges. Die Isolierung der Oktoberrevolution hat zu ihrer bürokratischen Entartung und Degeneration, zum Stalinismus, der Liquidierung der revolutionären Partei und zur Machtergreifung der Bürokratie geführt. Trotz aller Unterschiede waren sie durch die Herrschaft einer bürokratischen Kaste und die politische Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse charakterisiert.

Stalinismus bedeutete auf dem Feld der Theorie einen vollständigen Bruch mit dem Marxismus, in der Praxis wandte er  nicht nur barbarischste Mittel des „Aufbaus“ bis hin zum Massenmord und Zwangsarbeit an. Die bürokratische und letztlich national fixierte Planung ging auch bis hin zu absurden Formen der Nichtkooperation zwischen den Staaten des Ostblocks, zur Spaltung in feindliche „sozialistische Lager“ um China und die Sowjetunion herum, zum Bruch von Tito und Stalin, zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit der ArbeiterInnenklasse selbst im Landesinneren (also nicht nur bezüglich des „eisernen Vorhangs“, sondern auch in der SU und China).

All diese Auswüchse waren und sind in den verbleibenden degenerierten ArbeiterInnenstaaten Resultat der Herrschaft der Bürokratie und ihrer reaktionären, konterrevolutionären Politik. Die Politik des „Aufbaus in einem Land“ bedeutet nicht Überwindung der Fesseln, die der Kapitalismus der Entwicklung der Produktivkräfte auflegt, sondern stellt selbst eine Fesselung der Produktivkräfte in das Zwangsbett des Nationalstaates dar.

Diese Politik führt keineswegs nur zur technologischen Rückständigkeit, überflüssiger selbstgenügsamer Anstrengung, jede Erfindung oder Neuerung im „eigenen Land“ parallel zu entwickeln. Vor allem bedeutet sie auch ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit. Nicht nur die Technik und die ökonomischen Kreisläufe, auch die ArbeiterInnenklasse bleiben zwanghaft „national“.

Die politische Unterdrückung durch die Bürokratie heißt aber vor allem, dass sich die ArbeiterInnenklasse nicht als Klasse für sich konstituieren kann (das wäre nur möglich, wenn sie die bürokratische Herrschaft selbst stürzt). In den stalinistischen Regimen wurde gewissermaßen der „Versuch“ unternommen, eine sozialistische Umgestaltung bei gleichzeitiger zwangsweiser Verhinderung der Bildung von Bewusstsein der revolutionären Klasse über diese Umgestaltung durchzuführen. Eine solche Utopie kann nur reaktionär sein und enden. Sie musste scheitern, und sie ist gescheitert – und das mit vollem Recht.

Die sozialistische Umwälzung muss aber ihrem Wesen nach international sein und muss bewusst durchgeführt werden. Die Frage der ArbeiterInnendemokratie, der in Räten und anderen Formen der direkten und aktiven Demokratie als Staatsmacht und Selbstverwaltung der Gesellschaft organisierten ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten ist keineswegs eine bloß politische, sondern auch ökonomische Frage der Übergangsperiode.

Die Frage der Räte und ihrer Demokratie darf daher niemals nur negativ gefasst werden – z. B. als Mittel, die Etablierung einer Bürokratie, die Verselbständigung neuer „Eliten“ zu verhindern und diese an gesellschaftliche Kontrolle, Verantwortlichkeit und Abwählbarkeit zu binden. Sie ist auch unbedingt positiv zu fassen als unverzichtbares Mittel, wie sich die Gesellschaft in der Epoche des Übergangs, der Diktatur des Proletariats mit sich selbst über ihre eigenen Bedürfnisse, wirtschaftliche (und politische) Prioritäten, Schwerpunkte verständigen kann. Sie ist das Mittel, wie die technischen Notwendigkeiten der Planung mit den gesellschaftlichen Zielen, Schwerpunkten, Teilzielen usw. in Einklang gebracht werden können, so dass die einzelnen ArbeiterInnen, ja, alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend bewusster in diesen Prozess eingreifen.

Nur so kann das Proletariat zu einer bewusst herrschenden Klasse werden und zugleich das Überflüssigmachen seiner Herrschaft vorbereiten und durchsetzen.

Die Tendenz dazu, die Produktivkräfte bewusst nach den Zielen der gesamten Gesellschaft auszurichten, wurde nicht nur im Stalinismus blockiert (bei gleichzeitiger Einführung bestimmter Voraussetzungen dafür). Sie wird noch viel mehr im Kapitalismus blockiert, auch wenn (oder gerade weil) die Entwicklung der Produktivkräfte in diese Richtung drängt. Das trifft nicht nur auf die internationale Arbeitsteilung und Produktion zu, die auf die Möglichkeit, ja Notwendigkeit internationaler Planung verweisen.

Es trifft auch darauf zu, dass im Kapitalismus die Steigerung der Produktivität der ArbeiterInnen immer wieder auch auf dem  zwiespältigen Prozess der Enteignung ihres Wissens basiert. So muss das Kapital selbst in bestimmten Phasen auf „modernere“, scheinbar „partizipativere“ Formen der Arbeitsorganisation (wie Gruppenarbeit) zurückgreifen, um dieses Wissen über den Produktionsprozess besser inkorporieren zu können. Alle großen Kapitale kennen mehr oder weniger haarsträubende Formen des „Verbesserungswesens“. Aber dies geht immer auch mit einem gewissen Konflikt in Bezug auf die Erfordernisse des Ausbeutungsregimes einher. So werden Gruppen in der Gruppenarbeit von den Vorgesetzten nach bestimmter Zeit regelmäßig zerschlagen, weil diese nicht nur die Arbeitsorganisation verbessern, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt auch dazu tendieren, den Zusammenhalt unter den ArbeiterInnen gegen ihre Vorgesetzten zu stärken. Hinzu kommt z. B., dass auch viele Lohnabhängige sehr genau wissen, wie eigentlich besser, schonender produziert werden kann oder einfach bessere Produkte gefertigt werden könnten, dass dies jedoch den Profitinteressen des/r jeweiligen KapitalistIn entgegensteht. Kurzum, die lebendige Arbeit wird einerseits befähigt, immer mehr Reichtum hervorzubringen, und die ArbeiterInnen wie die Gesamtarbeit werden im Zuge der technischen Entwicklung oft auch viel qualifizierter, aber sie werden zugleich immer drakonischer und offensichtlicher den bornierten Zwecken des Kapitals unterworfen.

Schließlich verweist die Frage der Ökologie, die drohende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, aber auch andere große Menschheitsfragen wie jene nach der Bekämpfung von Hunger und Seuchen, die Frage der Umgestaltung der Landwirtschaft darauf, dass auch durchdacht werden muss, wofür was produziert wird.

Stalinismus und Sozialdemokratie haben die Frage nach der Umwandlung der Gesellschaft, nach dem Sozialismus, nach dem Fortschritt nicht von ungefähr technisch und organisatorisch behandelt: Sicherung von Arbeitsplätzen, von Einkommen, eines bestimmten Lebensstandards.

Die Umwandlung des Verhältnisses der ProduzentInnen zu ihren Arbeitsmitteln und zum Produkt waren für sie keine Fragen, weil sie mit ihrer „Vision“ von „Sozialismus“ nichts zu tun hatten und auch nicht haben konnten. Für beide war die ArbeiterInnenklasse im Grunde nicht Subjekt, sondern Objekt einer „Umwandlung“.

Wenn sie jedoch nicht zum bewussten Subjekt der Umwandlung wird und das Verhältnis zwischen den Menschen zunehmend bewusst zu gestalten beginnt, so ist natürlich auch ein bewusstes, rationales Verhältnis zur Natur unmöglich.

Die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung der Weltwirtschaft bestehen schon seit über einem Jahrhundert. Sie ist heute brennend aktuell und notwendig, weil sowohl die aktuelle Weltwirtschaftskrise und alle größeren, tieferen Probleme der Menschheit danach drängen. Ohne diese sind massive Zerstörung, Vernichtung, Heraufbeschwören neuer „natürlicher“ und zivilisatorischer Katastrophen unabwendbar. Die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ droht – und weist zugleich auf den Ausweg.

Doch so dramatisch zugespitzt die Verhältnisse sind, so sehr nicht nur moderne Technik, Produktions- und Kommunikationsmittel und eine wissenschaftlich und technisch hochqualifizierte ArbeiterInnenklasse vorhanden sind, die schon jetzt die Fähigkeit hat, unter ihrer Regie die ganze Weltwirtschaft neu, rational und vernünftig zu reorganisieren, so ist sie sich dieser Fähigkeiten als Klasse  aber nicht bewusst.

Ein solches Bewusstsein kann in ihr freilich nicht spontan entstehen – so wie revolutionäres Klassenbewusstsein nicht. „Spontan“ erscheint es den ArbeiterInnen so, dass ihr Zugewinn an Wissen und Fähigkeiten, den Gesamtprozess zu organisieren, zusätzliche Potenzen für das Kapitals wären.

Dieser Schleier, diese Umkehrung der realen Verhältnisse, die der Kapitalismus aber notwendig als „falsches Bewusstsein“ hervorbringt, kann nur durch den revolutionären Kampf um Kontrolle, Enteignung des Kapitals, gesellschaftliche Planung, also den Kampf um ein Programm von Übergangsforderungen durchbrochen werden.

Was dazu fehlt, ist eine politische Strategie, ein Programm der sozialistischen Revolution und wirtschaftlichen Umgestaltung zum Sozialismus, eine Partei, eine Führung.

Auch in diesem Sinne ist die Krise der Menschheit die Krise der proletarischen Führung. Es gibt nur ein Mittel, diese Krise zu überwinden: die Schaffung einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revolution – einer neuen, Fünften Internationale.


Endnoten

[i] Degenerierte ArbeiterInnenstaat sind Staaten, in denen zwar das Kapital enteignet wurde, die politische Herrschaft jedoch nicht von der ArbeiterInnnenklasse ausgeübt wird, sondern von einer bürokratischen Kaste, einer privilegierten Schicht. Während die Sowjetunion erst durch die stalinistische Konterrevolution zu einem solchen Staat degenerierte, stellten jene Osteuropas, China, Nordkorea, Kuba, Vietnam oder Kambodscha von Beginn an degenerierte, von einer ihrem Wesen nach konterrevolutionen Bürokratie beherrschte ArbeiterInnenstaaten dar.

[ii] Francis Fukayama, Das Ende der Geschichte, Kindler, München 1992

[iii] Siehe dazu: Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1984 bzw. Lukács, Existenzialismus oder Marxismus? Aufbau-Verlag, Berlin 1951

[iv] Siehe die Kritik der Postkolonialismustheorie in diesem RM und die Kritik von Chibber, Vivek: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Dietz Verlag, Berlin 2018

[v] Michael Hardt undAntonio Negri, Empire – Die neue Weltordnung, Campus Verlag, Frankfurt/M. 2020

[vi] Rodney Edvinsson und Keith Harvey, „Empire“: Jenseits des Imperialismus?, in: Revolutionärer Marxismus 33, Theoretisches Journal der Liga für die Fünfte Internationale, Global Red, Berlin 2003, und Martin Suchanek, Das reformistische Schaf im autonomen Wolfspelz, in: Revolutionärer Maxismus 41, Global Red, Berlin 2010

[vii] David Harvey, Der neue Imperialismus, VSA Verlag, Hamburg 2005 und ders., Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, VSA Verlag, Hamburg 2014

[viii] Elmar Altvater, Konkurrenz für das Empire, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2007

[ix] Joachim Bischoff, Die Herrschaft der Finanzmärkte, VSA Verlag Hamburg 2012

[x] Siehe insbesondere PROKLA 194: Welmarktgewitter: Politik und Krise des globalen Kapitalismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 195: Umkämpfe Arbeit – reloaded, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster/Westf. 2019, PROKLA 198: Globale Stoffströme und internationale Arbeitsteilung, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020; PROKLA 199: Politische Ökonomie des Eigentums, Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2020

[xi] Utsa Patnaik und Prabhat Patnaik, A Theory of Imperialism, Columbia University Press, New York 2017

[xii] Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1970; ders., Aufsätze zur Krisentheorie, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1971

[xiii] Paul Mattick, Economic Crisis and Crisis Theory, The Merlin Press, London, 1981; ders., Kritik der Neomarxisten, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/M. 1974

[xiv] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ,Kapital’, Bd. I und II, EVA, Frankfurt/M. 1973

[xv] Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 8

[xvi] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1983, S. 420

[xvii] Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 28

[xviii] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke, Band 1, 1. Halbband, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 367ff.

[xix] Trotzki, Schriften über Deutschland, Band 1, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xx] Mandel, Trotzkis Faschismusanalyse, Einleitung zu Schriften über Deutschland, in: a. a. O., S. 14.

[xxi] Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 463

[xxii] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 321

[xxiii] Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 777 f.

[xxiv] Ebenda, S. 779

[xxv] Siehe dazu z. B. Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 95

[xxvi] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., S. 790f.

[xxvii] Marx, Kapital Band 3, MEW 25, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1969, S. 260

[xxviii] Marx, Grundrisse, a. a. O.,  S. 641

[xxix] Ebenda, S. 642

[xxx] Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital’, Bd. 2, a. a. O., S. 449, FN 38

[xxxi] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 662 (in Einschaltung 1* aus der autorisierten französischen Ausgabe)

[xxxii] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., S. 381

[xxxiii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2,  MEW 26.2, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 510

[xxxiv] So zum Beispiel im Abschnitt „Große Industrie und Agrikultur“ im 1. Band des Kapitals, siehe: Das Kapital, Band 1, a. a. O., S. 527 – 530

Zur ausführlichen Darstellung unserer Position: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Umwelt und Kapitalismus. Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und kapitalistischer Produktionsweise, Berlin 2019, http://arbeiterinnenmacht.de/2019/06/26/umwelt-und-kapitalismus/

[xxxv] Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 111 – 207

[xxxvi] Ebenda, S. 117

[xxxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1955

[xxxviii] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik, in: Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 5, Dietz Verlag Berlin 1975, S. 431

[xxxix] Grossmann, a. a. O.

[xl] Ebenda, S. 21

[xli] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß, in: LW Band 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1988, S. 189 – 309

[xlii] Ebenda, S. 230

[xliii] Ebenda, S. 270

[xliv] Marx, Grundrisse, a. a. O., S. 551

[xlv] Trotzki, Die permanente Revolution, in: ders.: Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution, EVA, Frankfurt/M. 1971

[xlvi] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 271

[xlvii] Ebenda, Vorwort zur französischen Ausgabe, a. a. O., S. 198

[xlviii] Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW 7, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1964, S. 247f.

[xlix] Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch, MEW 19, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1974, S. 384 – 406

[l] Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Mit Einleitungen von Helmut Dahmer und Richard Lorenz, a. a. O.

[li] Ebenda, S. 122f.

[lii] Ebenda, S. 123f.

[liii] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution? Grundsätze, These 2, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 158

[liv] Trotzki, Was ist nun die permanente Revolution; Grundsätze, These 10, in: ders., Ergebnisse und Perspektiven … , a. a. O., S. 161

[lv] Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, in: MEW 17, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1973, S. 313 – 365

[lvi] Zur Ausführlichen Darstellung der Entwicklung der bolschewistischen und Lenin’schen Konzeption siehe: Martin Suchanek, Bruch und Wandel des Bolschewismus. Das Programm der Russischen Revolution, in: Revolutionärer Marxismus 49, global red, Berlin 2017, S. 5 – 82

[lvii] Lenin, Über die aufkommende Richtung des „imperialistischen Ökonomismus“, in: LW Band 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 1 – 10; ders., Antwort auf P. Kijewski (J. Pjatakow), ebenda, S. 11 – 17; ders., Über eine Karikatur auf den Marxismus oder über den „imperialistischen Ökonomismus“, ebenda, S. 18 – 71

[lviii] Engels, Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891, in: MEW 22, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1977, S. 225 – 240

[lix] Trotzki, Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale, Zweiter Teil: Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche; in: ders., Kritik des Programmentwurfs für die Kommunistische Internationale (29.6.1928), Schriften Band 3.2, Linke Opposition und IV. Internationale 1927 – 1928, Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 1997, S. 1251; auch in: ders., Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 89

[lx] Luxemburg, Gründungsparteitag der KPD 1918/19, III: Unser Programm und die politische Situation, 31. Dezember 1918, in: dies., Gesammelte Werke Band 4, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1987, S. 494

[lxi] Trotzki, Der Zusammenbruch der beiden Internationalen. Erklärung der Bolschewiki-Leninisten auf der Pariser Konferenz (17.8.1933), in: ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928 – 1934, Neuer ISP Verlag, Köln 2001, S. 440

[lxii] Trotzki, Die neue Etappe. Die Weltlage und unsere Aufgaben, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1921, Reprint

[lxiii] Inprekorr vom 24. April 1924, zitiert nach Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 111

[lxiv] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 113

[lxv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 270

[lxvi] Ebenda, S. 269f.

[lxvii] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 439

[lxviii] Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a. a. O., S. 327; in der deutschen Erstausgabe, noch außerhalb der MEW, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1953, findet sich das Zitat nahezu gleich auf S. 317

[lxix] Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs Nr. 8/9, Berlin/West 1973, S. 24

[lxx] Joachim Schubert, Die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus – Kritik der zentralen Aussagen, in: Mehrwert (Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie) Nr. 4, Berlin/West 1973, S. 8

[lxxi] Lukács, Ontologie – Marx, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die ontologischen Grundprinzipien von Marx, Sammlung Luchterhand 86, Darmstadt/Neuwied 1972

[lxxii] Lukács, Ontologie – Marx, a. a. O., S. 45

[lxxiii] Marx, Das Kapital Band 1, a. a. O., S. 791

[lxxiv] Lenin, Der Imperialismus … , a. a. O., S. 242

[lxxv] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O.,  S. 452f.

[lxxvi] Ebenda, S. 453

[lxxvii] Ebenda, S. 454

[lxxviii] Ebenda, S. 456

[lxxix] Hilferding, Das Finanzkapital, a. a. O., S. 258

[lxxx] Ebenda, S. 349

[lxxxi] Zitiert nach Oelßner, Vorwort zur Neuausgabe von „Das Finanzkapital“, a. a. O., S. XXXIII

[lxxxii] Lenin, Heft Hilferding. „Das Finanzkapital“, LW 39, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1965, S. 330 – 336

[lxxxiii] Ebenda, S. 334

[lxxxiv] Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft, Archiv Sozialistischer Literatur 13, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1969

[lxxxv] Ebenda, S. 131

[lxxxvi] Ebenda, S. 191

[lxxxvii] Ebenda, S. 133

[lxxxviii] Ebenda, S. 133

[lxxxix] Bucharin, Ökonomik der Transformationsperiode, Texte des Sozialismus und Anarchismus, rororo Klassiker 261 – 263, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1970

[xc] Ebenda, S. 19

[xci] Ebenda, S. 50

[xcii] Ebenda, S. 54f.

[xciii] Lenin, Einige Erwägungen zu den Bemerkungen der Kommission der gesamtrussischen Aprilkonferenz, LW 24, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1972, S. 465f.

[xciv] Lenin, VIII. Parteitag der KPR (B), 18. – 23. März 1919, Bericht über das Parteiprogramm, 19. März, LW 29, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1971, S. 153

[xcv]Busch/Schoeller/Seelow, Weltmarkt und Weltwährungskrise, Bremen 1971; Christel Neusüss, Imperialismus und Weltmarktbewegung des Kapitals, Verlag POLITLADEN, Politladen-Druck Nr. 4, Erlangen 1972; Wolfgang Schoeller, Werttransfer und Unterentwicklung – Bemerkungen zu Aspekten der neueren Diskussion um Weltmarkt, Unterentwicklung und Akkumulation des Kapitals in unterentwickelten Ländern (anhand von E. Mandel, Der Spätkapitalismus), in: Probleme des Klassenkampfes 6, März 1973, S. 99 – 120, Verlag Politladen, Erlangen1973; Margaret Wirth, Zur Kritik der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Klassenkampfs 8/9, S. 17 – 44, Verlag Politladen, Erlangen 1973; Klaus Busch, Ungleicher Tausch – Zur Diskussion über internationale Durchschnittsprofitrate, Ungleichen Tausch und Komparative Kostentheorie anhand der Thesen von Arghiri Emmanuel (1), Probleme des Klassenkampfs 8/9, a. a. O., S. 47 – 88; Ders., Die multinationalen Konzerne. Zur Analyse der Weltmarktbewegung des Kapitals, Suhrkamp Verlag, edition suhrkamp 741, Frankfurt/M., 1974

[xcvi] Wolfgang Schoeller, Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals, EVA, Frankfurt/M., Köln 1976

[xcvii] Marx, Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 53

[xcviii] Marx, Theorien über den Mehrwert Band 2, a. a. O., S. 521

[xcix] Schoeller, Weltmarkt und … , a. a. O., S. 23

[c] Marx, Kapital Band 1, a. a. O., , S. 583f.

[ci] Marx, Das Kapital Band 3, a. a. O., 247

[cii] Zur Darstellung der Krise von 1973 und ihrer Bedeutung siehe: Oelßner, Die Wirtschaftkrisen. Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Reprint Frankfurt/Main 1973, S. 244 – 262

[ciii] Lenin, Der Imperialismus … , a. a.O., S. 246

[civ] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., S. 94f.

[cv] Ebenda, S. 125f.

[cvi] Zu einer ausführlichen Darstellung siehe: Gruppe ArbeiterInnenmacht, Der Letzte macht das Licht aus. Die Todesagonie des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale http://arbeitermacht.de/broschueren/vs/index.htm

[cvii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft. Arbeits- und Betriebsweisen seit dem 19. Jahrhundert und der bevorstehende Epochenwechsel, VSA Verlag, Hamburg 2019, S. 117f.

[cviii] Stephan Krüger, Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft … , a. a. O.

[cix] Ebenda, S. 119 – 122

[cx] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer Verlag (7. Auflage), Frankfurt/M. 2003, S. 57

[cxi] Zitiert nach Leo Mayer und Fred Schmid: Welt-Sheriff  NATO. Weltwirtschaftsordnung und neue NATO-Doktrin, isw report 40, München 1999, S. 22




Imperialismustheorie und Neokolonialismus

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Ausgangspunkt der klassischen Imperialismustheorie war die Aufteilung der Welt unter große Kolonialimperien. Auch wenn sich diese als nicht so langlebig erwiesen wie von vielen erwartet, so war ihr Erscheinen ein wesentlicher Wendepunkt in der Globalgeschichte, der noch bis heute in Formen nachwirkt, die sich als „Neokolonialismus“ bezeichnen lassen. Die Analysen der Imperialismustheorie können daher mit gewissen Modifikationen in der Ära der postkolonialen Welt fortgeschrieben werden.

Kolonialismus und „Dekolonisation“

Der Imperialismus als System der politischen und ökonomischen Weltordnung des Kapitals hat eine lange Vorgeschichte, in der die von Anfang an im Begriff des Kapitals gegebene Weltmarktorientierung [i] zur materiellen Wirklichkeit wurde. Der Handelsimperialismus [ii], der seit der frühen Neuzeit die Grundlagen eines kapitalistischen Weltmarktes unter europäischer Dominanz schuf, hatte zuvor im Wesentlichen ein Netz von Handelsstützpunkten und Siedlerkolonien hervorgebracht. Die ersten großen Aktiengesellschaften, wie die niederländische und britische Ostindiengesellschaft, organisierten ihre präkolonialen Aktivitäten sogar in militärischen Fragen noch selbst. Umfangreicher werdende Geschäfte, Durchbrechen der Monopolstellung dieser Gesellschaften, wachsende Konkurrenz und Widerstände der Betroffenen auf der einen Seite und die Schaffung „moderner“ Staatsapparate im Zeitalter des Merkantilismus auf der anderen Seite führten zu einer wachsenden Rolle staatlicher Strukturen in der europäischen Kolonialpolitik des 18. Jahrhunderts. In den Siedlerkolonien des amerikanischen Kontinents löste der Versuch einer strikteren kolonialen Kontrolle (z. B. in Verwaltung und Steuerpolitik) heftigen Widerstand der dort bereits sich entwickelnden starken bürgerlichen Kräfte aus, der letztlich in die Unabhängigkeit der USA und der lateinamerikanischen Republiken (rund 50 Jahre später) führte [iii]. In Asien, wo die Kräfte der bürgerlichen Selbstständigkeit nicht so weit entwickelt waren, gelang den dort intervenierenden europäischen Großmächten jedoch die Umwandlung von Handelsdominanz in direkte koloniale Kontrolle. Im Lauf des 19. Jahrhunderts zwang die Dynamik der Kapitalakkumulation im Rahmen der Entstehung eines industriellen Kapitalismus und der Konkurrenz auf dem Weltmarkt die großen Kapitale zu einer Form der direkteren Kontrolle ihrer Absatz- und Rohstoffmärkte in Form von „Kolonialreichen“, die ihren Höhepunkt in der Aufteilung Afrikas fand. Gleichzeitig wurden formal unabhängige Regionen, wie Lateinamerika oder Ostasien, dort in der Gestalt des „Freihandelsimperialismus“ [iv] in dieses System der Aufteilung der Welt eingegliedert und seit Mitte des 19. Jahrhunderts de facto zu „Halbkolonien“. Den USA gelang es, durch ihre starke eigenständige kapitalistische Entwicklung gegen Ende des Jahrhunderts aufzuschließen und sich am bröckelnden kolonialen Erbe Spaniens zu bedienen (Philippinen, Kuba) bzw. Großbritannien in der halbkolonialen Dominanz Lateinamerikas abzulösen.

Im 19. Jahrhundert brachte also eine kleine Zahl europäischer Staaten (später gefolgt von den USA) den Rest der Welt in geradezu „lachhaft leichter Weise“ [v] unter ihre Kontrolle. Sofern sie die anderen Länder nicht unmittelbar besetzten und beherrschten, garantierten ihre ökonomischen, technischen und militärischen Möglichkeiten eine unangefochtene Vormachtstellung. Große alte Kulturregionen wie Indien wurden zu Anhängseln eines kleinen nordatlantischen Inselstaates, so wie China als ältestes Reich Asiens zu einem Spielball europäischer Mächte verkam. Nur im äußersten Nordwesten des Pazifiks gelang es mit Japan, einer Region sich der imperialistischen Expansion „des Westens“ entgegenzusetzen und eine eigenständige kapitalistische Entwicklung einzuschlagen. Aber selbst diese Ausnahme bestätigte die anscheinende Überlegenheit des westlichen „Entwicklungsmodells“ und einer „Modernisierung“ auf der Grundlage von Kapital, westlicher Wissenschaft und staatlicher Organisation. Später wirkte sogar die bürokratisch degenerierte Sowjetunion in der kolonialen Welt wie ein alternatives Vorbild staatlich dominierter Modernisierungspolitik zwecks „nachholender Entwicklung“.

Die Entwicklungen vom Beginn des Ersten bis Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten die Bedingungen dieses Kolonialimperialismus wesentlich. Ähnlich wie im Fall von Lateinamerika während und nach den napoleonischen Kriegen bedeutete die Schwächung der zentralen Kolonialmächte im Rahmen der Weltkriege ein Fenster für mehr ökonomische und politische Eigenentwicklung. Zudem boten der Aufstieg der USA und die Stabilisierung der Sowjetunion Perspektiven für eine Überwindung der europäischen Kolonialreiche, indem von dort Unterstützung für neue, „unabhängige“ Staaten erwartet wurde. Letztlich waren Ereignisse, wie die Weltwirtschaftskrise nach 1929, wesentliche Einschnitte: Bis dahin hatten die Kolonialregime zumindest für stabile Wachstumsraten gesorgt, durch die zumindest die Eliten in den Kolonialländern gesicherte Vermögen aufbauen konnten. Kriegskonjunkturen und Weltwirtschaftskrise führten dazu, dass in den Kolonialländern die Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen speziell ab den 1930er Jahren immer mehr Auftrieb bekamen. Der Zusammenbruch des Goldwährungssystems und der von Britannien dominierten Welthandelsordnung führte schließlich dazu, dass auch die führenden Kolonialmächte mit einem Ende des alten Kolonialregimes rechnen mussten. Dass dies kein friedlicher und an der eigenständigen Entwicklung der ehemaligen Kolonien interessierter Prozess werden würde, ist klar. Wenn man die Kolonien schon nicht halten konnte, so wurden genug Vorkehrungen getroffen, damit der globale Norden unter der neuen US-amerikanischen Führung die Verhältnisse in den neuen Ländern wesentlich mitbestimmt, insbesondere was die „Offenheit der Märkte“ betrifft. Wie man an der belgischen Börse angesichts der Unabhängigkeit des Kongos bemerkte: „Wir gehen, um zu bleiben“ [vi].

Mit dem zweiten Weltkrieg hatten die USA Großbritannien als Hegemon unter den kapitalistischen Mächten abgelöst, während Frankreich und Britannien weiterhin riesige Kolonialreiche unter immer größeren Kosten aufrechterhielten. Noch 1943 hatte die US-Regierung für die Nachkriegszeit eine rasche Dekolonisation angekündigt und dafür ein „Treuhandschaftsprogramm“ entworfen [vii]. Dabei sollten die damals geplanten „Vereinten Nationen“ die Treuhandschaft über die Kolonien übernehmen und diese letztlich auch über den Zeitpunkt der vollständigen Unabhängigkeit entscheiden. Im Gefolge des Siegs im Pazifikkrieg hintertrieben die USA selbst rasch diese Perspektive, indem sie den Pazifik in eine US-kontrollierte Zone mit Militärstützpunkten und abhängigen Regierungen verwandelten. Im Gefolge des sich entwickelnden Kalten Krieges schwächten die USA schnell ihr Dekolonisationsprogramm ab. Nur die ehemaligen Völkerbundmandate endeten im Treuhandprogramm (mit „Erfolgen“ wie in der Palästina-Frage sichtbar). Für die restlichen Kolonien wurde „Selbstverwaltung“, nicht Unabhängigkeit zum Ziel erklärt – wobei der Prozess zur Entwicklung der Selbstverwaltung den Kolonialmächten selbst überlassen wurde! Somit wurde ein langwieriger Prozess zumeist gewaltsamer Konflikte in Gang gesetzt, der die UNO bloß zur Bühne des Interessenausgleichs zwischen den Großmächten machte. Algerien, Südkorea, Indochina waren die Spitze dieses äußerst blutigen Prozesses, in dem die alten Kolonialmächte ihre Privilegien mit Zähnen und Klauen verteidigten, während die USA (wie in der Suez-Krise und Vietnam deutlich zu sehen), politisch-militärisch längst ihre Stelle eingenommen hatten. Eine „Unabhängigkeit“, die unter diesen Bedingungen erworben wurde, war von vornherein ein schlechter Ausgangspunkt.

Der Prozess der „Dekolonisation“ änderte jedenfalls zwischen 1945 und Anfang der 1960er Jahre die politische Landkarte des Globus dramatisch. Die Zahl der unabhängigen Staaten in Asien verfünffachte sich, in Afrika stieg sie von gerade einem auf ungefähr 50. Dazu kamen noch mehrere in Lateinamerika und der Karibik, zusätzlich zu den „unabhängigen“ Republiken aus Bolivars Zeiten. Einerseits hatte sich damit die europäische Form staatlicher Organisierung in Form des „Nationalstaates“ global durchgesetzt – mitsamt den damit verbundenen „Nationalitätenkonflikten“. Andererseits führten der Aufbau moderner Gesundheitssysteme und die ersten Phasen der Unabhängigkeitskonjunkturen zu einer Verschiebung der globalen Demographie: Im Zeitalter der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es Europa, das eine Bevölkerungsexplosion im Vergleich zum Rest der Welt aufwies (von 20 % der Weltbevölkerung 1750 auf etwa ein Drittel um 1900); im Zeitalter der Dekolonisation verschob sich das Epizentrum der Bevölkerungsexplosion nach Asien und Afrika – Ende der 1980er Jahre lebten in den „entwickelten“ OECD-Staaten nur noch 15 % der Weltbevölkerung.

Trotz dieser quantitativen Verschiebung, was Zahl der Staaten und der Bevölkerung betraf, änderte sich an den ökonomischen Verhältnissen während des „großen Booms“ der Nachkriegszeit zunächst wenig. Noch 1960 (und heute unvorstellbar) produzierten die industriellen Kernzentren in Westeuropa und Nordamerika über 70 % des globalen realen Sozialprodukts und 80 % des industriellen Mehrwerts. Die neuen „unabhängigen“ Staaten wurden wie zu Zeiten des Kolonialismus weiterhin auf ihre Rolle als Rohstofflieferanten, Agrarländer und Absatzmärkte reduziert, was sich durch mehrere gescheiterte Projekte zum Aufbau eigenständiger Industrien in vielen dieser Länder noch verstärkte – das Industriemonopol des „Westens“ schien sich sogar noch zu verstärken. Nicht zuletzt deswegen erschien der Weg der Sowjetunion oder Chinas für eine wachsende Zahl politischer Kräfte in der postkolonialen Welt seit den 1960er Jahren, insbesondere im Gefolge der kubanischen Revolution, als einziger Ausweg aus der „Unterentwicklungsfalle“ der neuen, durch die USA bestimmten Weltwirtschaftsordnung.

Dabei ist das weiterbestehende Ungleichgewicht auf den Weltmärkten nur eine der Folgen des ungerechten Dekolonisationsprozesses. Die staatlichen Strukturen und Verwaltungen wurden wesentlich von den Kolonialmächten übernommen, mitsamt geringen Mitteln für soziale Sicherung, Bildung, Gesundheit, Renten, etc., aber genug für Militär und Korruption. Dazu kamen nicht gelöste nationale Konflikte, gut genutzt als Herrschaftsmittel der KolonialherrInnen, nun Mittel zum Aufbau neuer Unterdrückungsapparate. Dazu kam eine Klassenstruktur mit mehr oder weniger schwacher Bourgeoisie (entsprechend dem Grad der Kapitalentwicklung außerhalb des staatlichen Sektors) und geringer Entwicklung eines qualifizierten Industrieproletariats. Darüber hinaus wurden die internationalen Institutionen von der UNO bis zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds nicht die versprochenen Fördererinnen der Entwicklung der neuen unabhängigen Staaten. Vielmehr sind sie Sicherungsorgane der internationalen Ordnung im Interesse der großen Mächte und der mit ihnen verbundenen Kapitalgruppen. Militärisch gesehen zogen die alten Kolonialmächte zwar ab – dafür aber wird die Welt von einem Netz von Stützpunkten der USA (und ihrer Verbündeten) überzogen, von überall einsetzbaren Flottenverbänden und Einsatzkräften genutzt, die immer wieder letztlich für die Aufrechterhaltung der imperialen Ordnung sorgen. Diese Weltordnung, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nunmehr alleinig von den USA dominiert wird, ist zwar kein unmittelbares Kolonialreich mehr – es kann aber nur als neokolonialistischer Imperialismus bezeichnet werden.

Theorie der „abhängigen Entwicklung“

Theoretisch gesehen stellte sich die Frage, ob Lenins Imperialismustheorie, die auf die Kritik des Kolonialsystems bezogen war, für das Zeitalter der Dekolonisation noch ausreichend ist. Insbesondere zur Erklärung der wachsenden Kluft der dekolonisierten Welt zu den herrschenden „Industrienationen“ entstand, zunächst vor allem in den Amerikas, eine ökonomische Theorie der „Dependenz“, von nachkolonialer Entwicklung als einer vor allem von Abhängigkeit (aufgrund des spanischen Originals oft auch als Dependencia-Theorie bezeichnet). Diese Strömung in den ökonomischen Wissenschaften umfasste sowohl marxistische AutorInnen, wie André Gunder Frank, wie auch ÖkonomInnen, die in bürgerlichen Institutionen tätig waren (wie der argentinische UN-Ökonom Raúl Prebisch oder der spätere brasilianische Staatspräsident Cardoso).

Ein wichtiger Ausgangspunkt war das Prebisch-Singer-Theorem. Die beiden Ökonomen waren nach 1945 wichtige ökonomische Berater der UN-Institutionen, die für Lateinamerika und Afrika die internationalen „Entwicklungsprojekte“ koordinierten bzw. in den wissenschaftlichen Debatten dazu eine wichtige Rolle spielten [viii]. Das Prebisch-Singer-Theorem geht von einer Unterscheidung von „Industrienationen“ und „Entwicklungsländern“ aus und untersucht statistisch die Veränderung der Außenhandelsbeziehungen zwischen diesen beiden Blöcken in Form der „Terms of Trade“ (ToT), der realen Austauschverhältnisse. Dabei werden die Preise von Export- und Importgütern (nach Währungsumrechnung) im Verhältnis zur Masse des Warenaustausches gesetzt – also wird z. B. berechnet, wieviel Tonnen Kaffee ein Entwicklungsland im Austausch zum Import eines Autos aus einem Industrieland exportieren muss. Die These, zu der die beiden Ökonomen kamen, war, dass sich auf lange Sicht die ToT von Entwicklungsländern systematisch verschlechtern. Diese These widerspricht fundamental einem der wichtigsten Theoreme der klassischen politischen Ökonomie und Freihandelstheorie, dem von den „komparativen Kostenvorteilen“ David Ricardos. Danach müsste die Öffnung des Handels zwischen zwei Staaten (oder Blöcken) zu einer internationalen Arbeitsteilung führen, von der beide profitieren, indem sich beide jeweils auf das Gebiet konzentrieren, dass sie am besten beherrschen. Dagegen bedeutet die kontinuierliche Verschlechterung der ToT, dass die Entwicklungsländer immer mehr von ihren Produkten, z. B. mehr Tonnen Kaffee, exportieren müssen, um die gleiche Menge an Industrieprodukten, z. B. Anzahl von Autos, importieren zu können. Dies bedeutet, dass sie immer mehr ihrer Arbeitskräfte und natürlichen Ressourcen einsetzen müssen, um ihre Entwicklung vorantreiben zu können. Die internationale Arbeitsteilung durch ihre Öffnung zum Weltmarkt wird für sie daher zum Hemmnis, nicht zum Antrieb ihrer Entwicklung.

Die Prebisch-Singer-These kennt in ihren Begründungszusammenhängen zwei Versionen. Einerseits was die Gütermärkte betrifft: Peripherieländer sind vor allem von Primärgütermärkten abhängig. Diese sind von der Nachfrageseite her „unelastischer“ als die Industriegütermärkte, so dass mit wachsenden Einkommen die Nachfrage nach Primärgütern hinter derjenigen nach Industriegütern hinterherhinkt. Andererseits ist in Bezug auf die Angebotsseite die Konkurrenz unter Primärgüter-LieferantInnen vielfach größer als in der mehr monopolisierten Industriegüterproduktion. Preiserhöhungen sind im letzteren Sektor also viel leichter durchzusetzen. Zudem führen Produktivitätsfortschritte zu einer relativen Absenkung der Nachfrage nach Rohstoffen, während Industrieprodukte sogar in größerer Zahl angeboten und nachgefragt werden können (bessere Qualität, neue Produktsparten).

In ihrer zweiten Version bezieht sich die These auf die „Faktormärkte“ Kapital und Arbeit: Sinkendes Volumen des Primärsektors und geringe andere Arbeitsmöglichkeiten (aufgrund des niedrigeren Grades an Industrialisierung) führen zu einem Arbeitskräfteüberangebot, das zu einem langfristig niedrigen Lohnniveau führt. Gleichzeitig wird so das periphere Kapital in Niedriglohnsektoren und Primärgüterbereiche gedrängt oder findet in den Industrieländern profitablere Anlage als in einheimischer höherwertiger Produktion. Auch damit kommt es zu einer langfristig schlechteren Entwicklung der Exportpreise der Peripherieländer gegenüber den Importpreisen, also zu einer Verschlechterung der ToT.

Die Konsequenzen der „Entwicklungsökonomen“ aus diesen Zusammenhängen liegen damit auf der Hand:

Die Peripherieländer müssen eine bewusste, staatlich gesteuerte Industrialisierungspolitik betreiben, die einerseits auf den Export ausgerichtet ist, andererseits Importe aus den Industrieländern durch einheimische Produkte ersetzt. Diese Politik muss einerseits durch protektionistische Maßnahmen (Zölle, Einfuhrbeschränkungen, Subventionen, Steuerpolitik etc.) unterstützt werden. In bestimmten Sektoren wurde auch eine Verstaatlichung für notwendig angesehen (z. B. in der Ölindustrie). Andererseits wurde auf „internationale Institutionen“, wie die UNO und die Weltbank, gehofft, um die nötige Anschubfinanzierung in Form von günstigen Krediten zu leisten, einer Art Marschallplan für die dekolonialisierte Welt.

Dieses Programm erwies sich schon in den 1960er Jahren, spätestens aber seit der Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre als illusorisch. Ein solches Programm stieß auf entschiedenen Widerstand der US-geführten Industrienationen. Protektionismus oder gar Nationalisierungen wurden mit harten Gegenmaßnahmen beantwortet (man denke an den Wirtschaftskrieg gegen den Iran in den 1950er Jahren, als dieser seine Erdölindustrie nationalisierte, gefolgt vom Sturz der Mossadegh-Regierung durch US-Intervention). Und natürlich wurde Kreditvergabe an die weitere „Öffnung“ der Märkte gebunden. Das führte letztlich dazu, dass die Industrialisierungspolitik der Nachkriegsperiode in den Peripherieländern zu einer extremen Verschuldung führte, ohne dass konkurrenzfähige Industrien entstanden waren. Mit der weltweiten Rezession nach 1974 und der ausbrechenden „Schuldenkrise“ in den meisten Peripherieländern musste dann umso mehr unter schlechten Bedingungen für den Export gearbeitet werden, um die Entschuldungspläne der „internationalen Institutionen“ zu erfüllen. Was von den aufgebauten Industrien bzw. der entsprechenden IndustriearbeiterInnenschaft übrig blieb, wurde so wiederum zu einem für die Konzerne des Nordens billig aufkaufbaren Element für die internationalen Produktionsketten, die danach aufgebaut wurden. So hatte sich auch die „Industrialisierungspolitik“ letztlich für die Peripherieländer als Falle erwiesen.

Abgesehen von dieser Kritik an den wirtschaftspolitischen Konsequenzen der Grundthesen der „Entwicklungsökonomie“ gab es schon in Bezug auf die Prebisch-Singer-These selbst eine langwierige Diskussion. Neoliberale ÖkonomInnen leugneten bzw. leugnen bis heute die Tatsache einer Tendenz zur Verschlechterung der ToT für periphere Länder. Dies wurde im Wesentlichen als „lateinamerikanische Häresie“ an der Ricardo’schen Lehre angesehen, die man durch einige Modifikationen in die neue Epoche zu retten suchte. Tatsächlich gab es einige Mängel in der statistischen Methode von Prebisch und Singer (nicht zuletzt waren die Welthandelsstatistiken für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bei weitem nicht so genau wie heute). Sicherlich war auch die Vereinfachung – Entwicklungsländer = Primärsektor / entwickelte Länder = Industriesektor – eine Verzerrung der Realität. Tatsächlich ging es aber um eine Tendenz, die Länder, die auf bestimmte Gütermärkte angewiesen sind, gegenüber anderen Ländern benachteiligen. Noch dazu gibt die zweite Version der Prebisch-Singer-These, die sich auf die Faktormärkte bezieht, auch die Möglichkeit, industrialisierte Peripherieländer in die ToT-Berechnung mit einzubeziehen – hier geht es dann um den Vergleich von Industrieproduktion in unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette (von Hochtechnologieprodukten bis herunter zu Teilezulieferung).

In einem Aufsatz [ix] von Ocampo und Parra (beides aus Kolumbien stammende ÖkonomInnen, die in jüngerer Zeit die UN-Posten von Prebisch und Singer einnahmen) wird die jahrzehntelange Debatte um die These ausführlich zusammengefasst. Erstaunlich ist insbesondere, dass die meisten statistischen Untersuchungen über längere Zeiträume im 20. Jahrhundert die These weitgehend bestätigt haben (Ocampo/Parra diskutieren 25 dieser Studien). Dies trifft auch auf eine großangelegte Studie zu, die ausgerechnet von der Weltbank (die ja gleichzeitig eine Politik der Handelsöffnung betreibt) initiiert wurde, und mit den Statistiken dieser Institution arbeitete. Diese Studie von Grilli/Yang hat Zeitreihen von 24 Weltmarktgütern und 7 darauf basierenden Marktindizes aufgestellt und dabei festgestellt, dass es zwischen 1900 und 1986 zu einer jährlichen durchschnittlichen Verschlechterung von 0,6 % der ToT zwischen Peripherie- und Zentrumsländern kam.

Ocampo/Parra stellen aber zu Recht fest, dass diese Verschlechterung der ToT keineswegs so linear erfolgt, wie dies die Prebisch-Singer-These erwarten ließe. Vielmehr gibt es bestimmte „Wendepunkte“, an denen diese generelle Tendenz hervortritt und für längere Zeit zu einer solchen Verschlechterung führt, um dann wieder für eine Periode „ausgesetzt“ zu sein. Dies wird an der Aggregation von Preisindizes zu den Austauschverhältnissen zwischen „entwickelten“ und „peripheren“ Ökonomien gezeigt (Abbildung 1). Hier wird einerseits deutlich, dass die Austauschverhältnisse bis zum Ersten Weltkrieg durchaus günstig waren, vor allem durch die Fortschritte im Transportsektor. Dies ist sicherlich mit einer der Gründe, warum sich bis dahin direkter Kolonialismus zur Sicherung von Handelsüberschüssen lohnte bzw. Teile Lateinamerikas auf dem aufsteigenden Ast zu sein schienen. Mit dem Ersten Weltkrieg, der sowohl einen weltwirtschaftlichen Niedergang, Währungskrisen und Rohstoff sparende Produktivitätsfortschritte nach sich zog, sehen wir den ersten langfristigen Bruch in den Austauschverhältnissen. Offensichtlich war der Zweite Weltkrieg bis hin zum „Korea-Boom“ (Ende des Korea-Kriegs) mit Hoffnungen auf Verbesserungen in den Bedingungen auf dem Weltmarkt für die „dekolonialisierte“ Welt verbunden. Dagegen folgte aber während des sogenannten „Nachkriegsbooms“ für die periphere Welt eine langwierige Stagnation, gefolgt vom nächsten strukturellen Bruch: Mit der Verschuldungskrise der 1980er Jahre fielen die Austauschverhältnisse nochmals auf ein längerfristig niedrigeres Niveau. Interessant ist, dass sich Ähnliches auch von den industriellen Sektoren in den peripheren Ländern sagen lässt. Die Abbildung zeigt ab den 1980er Jahren das Verhältnis von Preisen in der verarbeitenden Industrie in den beiden Hemisphären, das sich parallel mit dem für die Gütermärkte ebenso zu Lasten der peripheren Seite verschlechterte – ein deutliches Zeichen dafür, dass die wachsenden Industriesektoren dort Auslagerungen in den untergeordneten Bereichen der internationalen Produktionsketten darstellen. Schließlich mach sich Ende der 1990er Jahre eine Stabilisierung der Gütermärkte durch den Aufstieg der chinesischen Ökonomie bemerkbar. Die statistischen Daten für die Periode, die der großen Rezession von 2009 gefolgt ist, deuten jedoch auf einen neuerlichen strukturellen Bruch hin, der viele der peripheren Länder unter starken ökonomischen Druck gesetzt hat.

Abbildung 1 Relative Preisindizes auf dem Weltmarkt

Die Prebisch-Singer-These bleibt also empirisch relevant auch in einer Periode, in der die peripheren Ökonomien nicht mehr einfach auf das Etikett „Rohstofflieferantinnen“ reduziert werden können. Dabei muss betont werden, dass trotz „Tigerstaaten“ und Aufstieg der „Newly Industrialized Countries“ (NICs) für einen großen Teil der peripheren Welt der Export von Rohstoffen und natürlichen Ressourcen weiterhin wesentlich ist: Ostasien ausgenommen, machen für Südostasien, Lateinamerika, Nordafrika und den Nahen Osten diese weiterhin 40 % ihres Exports aus, während es für das subsaharische Afrika und die „Least Developed Countries“ (LDC) sogar noch über 50 % sind. Mit der Ausnahme Chinas und Südkoreas fallen jedoch auch die meisten in der Globalisierungsperiode geschaffenen Industriesektoren in der peripheren Welt in die Kategorie der oben dargestellten ungünstigen Austauschverhältnisse.

Tatsächlich aber bleibt das Prebisch-Singer-Theorem auch in seinen Erklärungsversuchen an der Oberfläche der (Welt-)Marktbewegungen haften, ohne auf die Wurzeln der abhängigen Entwicklung auf der Grundlage einer Kapitalismusanalyse einzugehen. Dies versuchten die linken VertreterInnen der Dependenztheorie, insbesondere durch einen Bezug auf eine Theorie des „Monopolkapitalismus“. Diese soll deshalb als Nächstes behandelt werden.

„Monopolkapitalismus“ und die „Entwicklung von Unterentwicklung“

Im Jahr 1965 erschien in der legendären „Monthly Review“[x] das Buch „Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika“[xi] von André Gunder Frank. Frank war, wie er im Vorwort selbst schreibt, als Sohn einer US-Mittelstandsfamilie und Doktorand bei dem erzliberalen Milton Friedman, in ökonomischer Beraterfunktion Anfang der 1960er Jahre nach Afrika und Lateinamerika gekommen. Dort bemerkte er schnell die Funktion dieser „Beratertätigkeit“ und das Ungenügen von Erklärungen der Entwicklungsprobleme über „vormoderne“ Investitions- und Mentalitätshemmnisse, die mit Liberalisierung (insbesondere in Bezug auf den Außenhandel) und „Bildungspolitik“ zu überwinden seien. Erkennend, dass weder die weltwirtschaftlichen Institutionen noch die einheimische Bourgeoisie in der Lage waren, die systematische Benachteiligung dieser Länder zu überwinden, kam er zu dem Schluss: „Die historische Aufgabe der Bourgeoisie in Lateinamerika – die darin bestand, die Unterentwicklung ihrer Gesellschaft und ihrer eigenen Lage zu fördern und zu überwachen – diese Rolle ist ausgespielt. In Lateinamerika wie auch sonst wo ist nun die Rolle der geschichtstreibenden Kraft den Massen des Volkes selbst zugefallen“ [xii]. Um eine politisch wirksame Theorie der Unterentwicklung aufzustellen, meint Frank, „musste ich meine liberalen Lebensformen und meine Metropolenumgebung aufgeben und in die unterentwickelten Länder gehen. Dort nur konnte ich die tatsächliche politische Wissenschaft und politische Ökonomie im klassisch vorliberalen und marxistisch postliberalen Sinn begreifen lernen“ [xiii].

Zentraler Ausgangspunkt für Franks These von der „Entwicklung der Unterentwicklung“ sind die weltweiten Strukturen des Monopolkapitalismus. Dies wird schon aus den Erklärungsmustern der Prebisch-Singer-These verständlich: Wenn die Austauschverhältnisse zwischen den Metropolen und der Peripherie durch die ungünstige Branchenstruktur in letzteren gegenüber ersteren derart nachteilig sind, was verhindert die Veränderung dieser Struktur? Eine Erklärung ist die zähe Verteidigung dieser Strukturen durch die großen wirtschaftlichen Konglomerate in den Metropolen, mitsamt deren Satelliten in den untergeordneten Ländern [xiv] (hier am Beispiel von Chile): „Wie wettbewerbsorientiert die Wirtschaftsstruktur in den Metropolen in allen ihren Entwicklungsstadien auch gewesen sein mag, so war doch die Struktur des weltkapitalistischen Systems als Ganzes, während der ganzen Geschichte der kapitalistischen Entwicklung in höchstem Grad monopolistisch. Deshalb hat das externe Monopolwesen immer zur Enteignung … eines bedeutenden Teils des in Chile produzierten Surplus geführt … Die kapitalistische Monopolstruktur … durchdringt die gesamte chilenische Wirtschaft der Vergangenheit und der Gegenwart. Gerade diese ausbeuterische Beziehung ist es, die kettengleich den kapitalistischen Konnex zwischen der kapitalistischen Welt und den nationalen Metropolen bis zu den regionalen Zentren (dessen Surplus sie sich teilweise aneignen) ausdehnen, und von denen weiter zu den lokalen Zentren, und so fort bis zu den Landbesitzern oder Kaufleuten, die den Surplus von den kleinen Bauern/Bäuerinnen und PächterInnen aneignen, manchmal bis hin zu den landlosen Arbeitern, die wiederum von letzteren ausgebeutet werden. Auf jeder Stufe üben relativ wenige Kapitalisten Monopolgewalt über viele unter sich aus … So bringt an jedem Skalenpunkt das internationale, nationale und lokale kapitalistische System die wirtschaftliche Entwicklung für wenige und die Unterentwicklung für viele mit sich“ [xv].

Neu an Franks Theorie ist erstens die Behauptung, dass Kapitalismus in der (post)kolonialen Welt immer schon stärker von monopolistischen Strukturen gekennzeichnet war. Zweitens, dass das kapitalistische Weltsystem durch eine kettengleiche Hierarchie von Zentrum und Peripherie (mit mehreren Zwischenstufen) gekennzeichnet ist, in der ein Werttransfer zur jeweils höheren Stufe stattfindet, erzwungen durch die jeweiligen monopolistischen Strukturen und ihre Beziehung aufeinander. Drittens, dass dies in den untergeordneten Stufen dieser Hierarchie zu einer systematischen Unterentwicklung führt, die die Entwicklung der übergeordneten Struktur befördert (daher ist es laut Frank auch die Bourgeoisie in der Peripherie, die die „Unterentwicklung fördert und überwacht“, da sie genau dafür ihren Teil am Surplus im Gesamtsystem bekommt).

Zentrale Schwäche in Franks Analyse ist der Mangel an einer werttheoretischen (also auf der Analyse der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse beruhenden) Begründung dieser Zusammenhänge, die rein auf der Verteilungsebene zwischen „Monopolen“ beschrieben werden. Dabei bleibt der Monopolbegriff selbst schwammig. Allerdings beruft sich Frank hier explizit und häufig auf seinen Lehrer Paul Baran, dessen Theorie des „Monopolkapitalismus“ er dabei unverändert übernimmt. Da diese eine wesentliche Revision der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und der klassischen Imperialismustheorie darstellt, muss sie jetzt an dieser Stelle behandelt werden.

Baran/Sweezy

Paul Baran war einer der wenigen marxistischen WirtschaftstheoretikerInnen, die es in den 1950er Jahren schafften, ihre akademische Funktion zu behalten, in seinem Fall als Professor an der Stanford University. Schon Anfang der 1950er Jahre entwickelte Baran eine Theorie der Unterentwicklung, die Analysen wie die von Prebisch mit der Monopoltheorie in Verbindung brachten [xvi]. In systematischer Form wurde diese Theorie in seinem Buch „The Political Economy of Growth“ von 1957 entwickelt, dass entscheidenden Einfluss auf AutorInnen wie Frank hatte. Zusammengefasst und popularisiert wurde seine Theorie letztlich in dem gemeinsam mit Paul Sweezy geschriebenen Buch „Das Monopolkapital“ [xvii], das in der 68er-Bewegung zu so etwas wie die allgemeine „Ökonomie-Bibel“ wurde [xviii].

In der Einleitung gehen Baran/Sweezy von einer Krise der marxistischen Analyse aus, die die „moderne Überflussgesellschaft“ und die Integration der ArbeiterInnen in den USA des Nachkriegsbooms nicht hinreichend erklären könne. Sie sehen den Grund dafür darin, dass man im Wesentlichen Marx nur zitiere, der den Kapitalismus und seine Bewegungsgesetze in einer ganz anderen Epoche analysiert habe. Hilferding und Lenin haben zwar mit dem Finanzkapital- und Imperialismusbegriff Korrekturen angebracht, ohne jedoch die grundlegend neuen Bewegungsmuster, vor allem was die langfristigen Akkumulationsgesetze wie die Tendenz zur Krise, betrifft. „Wir halten es an der Zeit, mit dieser Situation aufzuräumen, und zwar rücksichtslos und radikal“ [xix]. Während Marx aus dem Konkurrenzkampf der Kapitale eine Tendenz zum Fall der Profitrate, zur periodischen Entstehung großer Arbeitslosenheere und zu Zusammenbruchskrisen abgeleitet habe, würde dies so für das Zeitalter des Monopolkapitals nicht mehr gelten.

Das Monopolkapital wird nicht mehr durch die Preisbewegungen auf den Märkten bestimmt, sondern diktiert die Preise auf den Märkten in seinem Interesse. Daraus würden aber neue Widersprüche erwachsen: Baran/Sweezy ersetzen Marx‘ Mehrwertbegriff (der sich auf Gewinneinkommen wie Profit, Rente und Zins beziehen würde) durch den „Surplus“ (den sie als Überschuss der gesellschaftlichen Produktion gegenüber den Produktionskosten definieren). Das Grundgesetz des Monopolkapitalismus sei nicht mehr der Fall der Profitrate, sondern eine Tendenz zur ständigen Steigerung des Surplus (durch die monopolkapitalistisch kontrollierte beständige Erhöhung der Arbeitsproduktivität). Da gleichzeitig die Profite einen schrumpfenden Teil dieses Surplus ausmachten, bestehe eine Tendenz zur Stagnation. Es entstünde der Wiederspruch zwischen dem tatsächlich realisierten und dem potentiell möglichen Surplus. Das Wachstum des Monopolkapitals hat unter den Bedingungen der Monopolpreise ein ständiges Problem mit der „effektiven Nachfrage“, was zu einem permanenten Kampf um die Realisierung des Surplus führe. Die Folge wären eine ungeheure Ausdehnung unproduktiver Arbeit, von Werbe- und Vertriebsmechanismen, der Rüstungsindustrie und der Staatstätigkeit.

Baran/Sweezy betonen an mehreren Stellen die wesentliche Rolle der Hierarchie von Ländern im System der Enteignung/Aneignung von Surplus. Darauf bezieht sich Frank wesentlich, wenn er in der monopolistischen Struktur der Weltwirtschaft den Hauptgrund für die Unterentwicklung in der Peripherie sieht: Die Aneignung von Surplus aus der Peripherie ist den Realisierungsbedingungen der großen zentralen Monopole untergeordnet. Von daher ist der Widerspruch von tatsächlicher und potentieller Surplusproduktion in der Peripherie besonders ausgeprägt. Frank zeigt an der Wirtschaftsgeschichte Chiles, wie an verschiedenen Punkten (z. B. dem Salpeterboom) eine eigenständige Industrialisierungsdynamik hätte entstehen können, deren Potential jedoch durch die monopolitischen Interessen systematisch unterbunden wurde. „Deshalb kann man essentiell die Nichtrealisierbarkeit und das Nicht-zur-Verfügung-Stehen von ‚potentiellem‘ wirtschaftlichem Surplus für Investitionszwecke der Monopolstruktur des Kapitalismus zuschreiben“ [xx]. Die Konsequenz für die Peripherie ist daher immer schon eine stagnative Gesamtentwicklung bei gleichzeitiger Konzentration auf die Entwicklung derjenigen Sektoren, die für die Surplusrealisierung der übergeordneten Metropolenökonomien wichtig sind.

„Monopolkapitalismus“ versus marxistische Krisentheorie

Das Erscheinen von Baran/Sweezys Revision der Marx‘schen Kapitaltheorie blieb nicht ohne Kritik von Seiten „orthodoxer“ MarxistInnen wie etwa Ernest Mandel oder Robert Brenner. Eine der treffendsten und brillantesten Kritiken jedoch ist Paul Matticks [xxi] „Marxismus und ‚Monopolkapital‘“, die 1967 erschien [xxii]. Matticks Kritik, die zugleich eine Verteidigung einer werttheoretisch begründeten Krisen- und Klassenkampftheorie ist, kann stellvertretend für eine immer klarer werdende Auseinanderentwicklung im „Neomarxismus“ nach 1968 gesehen werden: einerseits Baran/Sweezy, wo die Behauptung, dass die von Marx im „Kapital“ entwickelte Analyse für den „Spätkapitalismus“ nicht mehr gelte, dazu führt, diese durch eine Variante des Neo-Keynesianismus in der Ökonomie und von Subalterne-Theorien in der Klassenanalyse zu ersetzen; andererseits Mattick, wo eine sehr viel strengere Ableitung marxistischer Krisen- und Klassentheorie aus den zugrundeliegenden Analysen von Wertbestimmungen zu einer methodisch sehr viel anspruchsvolleren Rekonstruktion der Marx’schen Krisentheorie führte. Während die „Spätkapitalismus“-Theorien im akademischen Marxismus immer mehr dominierten, waren „Wertkritik“ und „fundamentalistischer“ Rückbezug auf die Marx’sche Krisentheorie Ausgangspunkt für eine Wiederaneignung der Kritik der politischen Ökonomie für einige Organisationen der radikalen Linken – auch in unserer Theorietradition.

Die Auseinandersetzung zwischen Baran/Sweezy und Mattick geht aus von der Frage einer marxistischen Bestimmung des Monopolbegriffs. Baran/Sweezy formulieren diesen Begriff im Sinne der bürgerlichen politischen Ökonomie als reine Marktdominanz, d. h. durch Elemente wie Marktbeherrschung oder der Möglichkeit des Monopols, die Preise für ihre Produkte zu diktieren. Dies würde die Preisbestimmung vom Wert lösen und damit Grundkategorien wie Einkommen, Gewinne und effektive Nachfrage von den Wertbildungsprozessen in der Produktion immer mehr ablösen. Mattick dagegen betont, dass der Ausgangspunkt bei Marx die Analyse der Wertakkumulation des Gesamtkapitals ist, ganz gleich wie dieses in den Marktsegmenten in mehr oder weniger konkurrierende Teile zerfällt. Solange das Kapital-Lohnarbeitsverhältnis [xxiii] besteht, wird die Akkumulation des Gesamtkapitals durch die Bestrebung zur Ersparung von Arbeit, durch den Zwang zur Produktivitätssteigerung geprägt, der die Dynamik der Wertbestimmung in Gang setzt. Die Umverteilung des Mehrwerts zu Gunsten der jeweils produktivsten Kapitale verändert immer wieder die an der Oberfläche des Marktes scheinbar feststehenden Relationen zwischen den Kapitalen und macht so auch jedes „Marktmonopol“ zu einer räumlich und zeitlich relativen Erscheinung. In dieser Sicht wird das Monopol zu einer widersprüchlichen Erscheinung: Es ergibt sich aus dem Akkumulationsprozess als Zentralisierungs- und Konzentrationstendenz, die zugleich die Konkurrenz auf eine immer höhere und schärfere Ebene hebt. Große Unternehmen werden zeitweise für bestimmte Regionen marktbeherrschend, um morgen aufgespalten zu werden und in einer Kette noch größerer Unternehmen aufzugehen. Insofern besteht Mattick darauf, dass Marx sehr wohl eine Theorie des kapitalistischen Monopols hatte, allerdings sei seine „Theorie des Kapitalwettbewerbs (…) zugleich eine Theorie des Monopols; das Monopol in diesem Sinne bleibt immer im Wettbewerb, denn ein Konkurrenzkapitalismus ohne Wettbewerb würde das Ende der Marktbeziehungen bedeuten, die den Privatkapitalismus am Leben erhalten“ [xxiv]. Der Monopolprofit ist so nicht einfach ein willkürlicher Aufschlag auf die Produktionskosten, genauso wenig wie „die Konkurrenz“ einen „marktgerechten“ Profit schafft. Vielmehr ist es ein gesamtgesellschaftlicher Ausgleichprozess zwischen allen Kapitalen, der zu einer Aufteilung des Gesamtmehrwerts zwischen den Sektoren führt – bedingt durch die Akkumulationsbewegung, die über Investitionen, Beschäftigungsnachfrage, Produktivitätsveränderungen etc. und ihre Rahmenbedingungen (z. B. mehr oder weniger „Monopolisierung“) erst die Marktverhältnisse (z. B. Angebot und Nachfrage, Marktbeherrschung) schafft. Daher ist auch bei stärkerer Monopolisierung bestimmter Sektoren, der geschaffene Gesamtwert und damit der Wertbildungsprozess als Ganzes, die Grundlage und Grenze für jegliche Preisbildung. Der Monopolpreis kann sich in diesem Kontext nicht von seiner Grundlage im Arbeitswert lösen – er führt nur zu einer Umverteilung des Mehrwerts, der notwendigerweise zu Reaktionen der anderen Kapitalsektoren führen muss. Marx spricht hier von einer „lokalen Störung“, die im Gesamtprozess ausgeglichen wird, wie bei der Entstehung der Grundrente, hier als Monopolrente [xxv].

Die Dynamik der der Kapitalakkumulation ergibt sich bei Marx nicht aus der Verteilung von Gewinneinkommen, sondern durch die Wertzusammensetzung des Kapitals und ihre Veränderung. In dieser spiegelt es sich als gesellschaftliches Verhältnis wider, nicht in der Bildung der Preise am Markt. Bei Baran/Sweezy dagegen wird der Monopolpreis zu einer Schranke der Akkumulation, da es zu einer Differenz von „effektiver Nachfrage“ und dem Absatz der möglichen Produktionskapazitäten komme. Tatsächlich kommt es aber dem Kapital nicht auf den Absatz der Produktmasse an, sondern um die Realisierung des darin verkörperten Mehrwerts. Dies kann z. B. durch die Senkung der notwendigen Arbeitszeit (Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft) oder Steigerung der Nachfrage nach Investitionsgütern auch unter Bedingungen von Masseneinkommen geschehen, die hinter der Entwicklung der Monopolpreise zurückbleiben. Auch ein von großen Konzernen geprägter Kapitalismus entgeht daher nicht dem Zwang zu beständiger Steigerung der Arbeitsproduktivität – und muss daher aber auch nicht in die Stagnation verfallen, die Baran/Sweezy ihm konstatieren.

Dabei bedeutet Produktivitätssteigerung im Kapitalismus immer Ersparung der Anwendung von lebendiger Arbeit durch Einsatz von „kostensparender“ Produktionstechnologie. Daher geht mit der Produktivkraftsteigerung im Kapitalismus, die aus dem Zwang zur Verwertung und Vermehrung des Mehrwerts resultiert, zweierlei hervor: einerseits eine relative Abnahme der in der Produktion angewandten Arbeitskraft gegenüber einem dabei gleichzeitig steigenden Kapitaleinsatz. Während diejenigen, die diese Innovationen zuerst anwenden, dabei große Gewinne machen können, führt dies durch die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals zu einer Tendenz zum Fall der Profitrate. Da die Produktivitätssteigerung aber zugleich auch die Ausdehnung der Produktion ermöglicht, kann diese Tendenz durch Steigerung der absoluten Masse an realisierbarem Mehrwert ausgeglichen werden. Produktivitätssteigerungen, relative Zunahme der Kapitalkosten, daher relatives Fallen der Profitrate, gehen dabei einher mit Ausdehnung der Produktion, Steigerung der Beschäftigung (wenn auch wertmäßig mit geringerer Steigerung als das konstante Kapital), Anwachsen der Profitmasse und so in der gewöhnlichen Akkumulationsbewegung eine widersprüchliche Verbindung ein – relatives Fallen der Profitrate bei Steigerung der Profitmasse.

Mattick weist zu Recht darauf hin, dass Baran/Sweezy diesen Doppelcharakter des Marx’schen Akkumulationsgesetzes verkennen, wenn sie meinen, Marx‘ Gesetz vom Profitratenfall durch das Gesetz des „steigenden Surplus“ ersetzen zu können. Marx spricht dagegen vom „zwieschlächtige(n) Gesetz der aus denselben Ursachen entspringenden Abnahme der Profitrate und gleichzeitigen Zunahme der absoluten Profitmasse“ [xxvi]. Dies ist eine Gesetzmäßigkeit, die sich nicht aus den Preisbestimmungen auf den Güter- und Kapitalmärkten ergibt, sondern aus dem Grundcharakter der kapitalistischen Produktion als Ausbeutungsverhältnis, wie es sich in der kapitalistischen Form der Steigerung der Arbeitsproduktivität ausdrückt. Die Konkurrenz der Kapitale (neben der Auseinandersetzung von Kapital und Lohnarbeit) ist eine Form, die Zwänge dieser Gesetzmäßigkeit durchzusetzen, z. B. durch Werttransfer hin zu produktiverem Kapital. Tatsächlich sind aber auch „Monopole“ im Kapitalismus, also sehr große, konzentrierte Kapitale mit gewisser Marktbeherrschung, nicht in der Lage, diesen Mechanismen langfristig auszuweichen: Ob in den Innenbeziehungen (z. B. verschiedene Zulieferbereiche, konkurrierende Abteilungen) oder in der Marktumgebung (andere große Konzerne, nicht-monopolisierte Sektoren) können produktivere Kapitale den sowieso vorhandenen Zwang zur Produktivitätssteigerung durchsetzen, da sonst auf lange Sicht die marktbeherrschende Stellung in Gefahr zu kommen droht.

Der Punkt ist nicht, dass trotz aller Probleme der Untergrabung der Profitrate auf lange Sicht, wie sie Marx analysiert, nicht zugleich eine beständige Ausdehnung von Ausbeutung und Mehrwertaneignung stattfinden kann. Das Entscheidende, das Marx in dieser Analyse erkannt hat, ist vielmehr, dass diese widersprüchliche Bewegung immer wieder an eine Schranke kommt, in der die Ausdehnung des Mehrwerts nicht mehr ausreicht, um die relativ sinkende Profitratenbewegung auszugleichen, dass also an einem bestimmten, nicht vorhersehbaren Punkt die Akkumulationsbewegung den tatsächlich synchronen Fall von Profitmassen hervorbringt – und daher in ihre Krisenphase eintritt. Das von Baran/Sweezy dargelegte Modell der durch Staat und Monopole modifizierten Akkumulation als permanente Stagnation ist daher nichts anderes als ein grundlegender Bruch mit der Marx’schen Analyse von den aus dem kapitalistischen Produktionsprozess herrührenden stürmischen Auf- und Abwärtsbewegungen der wirtschaftlichen Entwicklung und ihres grundlegend krisenhaften Charakters. Baran/Sweezy behaupten eine angeblich immer mehr stagnierende Kapitalakkumulation in den produktiven Sphären z. B. der Industrie, die im „Monopolkapitalismus“ durch eine rein monetäre Akkumulation nicht-produktiver, „verschwenderischer“ Ersatzsegmente (Rüstung, Werbung, Staat …) ersetzt würde, die immer mehr „Surplus“ hervorbringen würden. Ihre Akkumulationstheorie ist daher logisch mit der Abkehr von der Wertanalyse verbunden. Nur damit kann auch die scheinbar terminologische Ersetzung des Mehrwertbegriffs durch den des Surplus verstanden werden.

Mattick weist zu Recht darauf hin, dass der angeblich präzisere Begriff des „Surplus“ bei Baran/Sweezy eine Vermischung mehrere Ebenen der Analyse ist: Bei Marx ist der Mehrwert auf der Ebene des Gesamtkapitals das Ergebnis des Verwertungsprozesses bestehenden variablen und konstanten Kapitals. Auf der Ebene des Zirkulationsprozesses geht eine Vielzahl von wirtschaftlichen Aktivitäten in die Realisierung des Mehrwerts ein, die große Teiledavon auch auf nicht-produktive Wirtschaftssektoren verteilen. Erst auf der Ebene des Einzelkapitals bzw. des Grundeigentums, des Staates etc. erscheint der Mehrwert dann als Geldeinkommen in Form von Profit, Zins, Grundrente, Steue etc. Die Behauptung von Baran/Sweezy, bei Marx wäre der Mehrwert im Wesentlichen Profit und Zins, der Surplus dagegen umfasse auch Staatseinkommen und Einkommen für unproduktive Arbeiten, geht an einer Analyse des Mehrwerts und seiner Realisierung/Verteilung vorbei. Sie dient offensichtlich der theoretischen Begründung für ein angeblich jenseits des Produktionsprozesses zu betrachtendes „Wertprodukt“ – so wie die bürgerlichen Kategorien von „Sozialprodukt“ und „Nationaleinkommen“ die eigentliche Wertbildung verschleiern. Die Tatsache, dass in den imperialistischen Ländern ein wachsender Teil des Sozialprodukts auf unproduktive (z. B. Finanzsektor) und öffentliche Sektoren entfällt, ändert nichts an der Tatsache, dass deren Einkommensquellen letztlich nur auf einer Umverteilung des Gesamtmehrwerts beruhen können, der in den (im kapitalistischen Sinn) produktiven Sektoren der Ökonomie entsteht. Baran/Sweezy folgen mit ihrer Surplustheorie im Wesentlichen dem Schein der Marktoberfläche, der auch die bürgerliche Ökonomie aufsitzt.

Weder unproduktive Sektoren und Arbeiten durch Aufblähen von Staatsapparat, Rüstungsindustrie, Marketing etc. können langfristig die Probleme eines stagnierenden Produktionssektors lösen, noch kann es, wie Baran/Sweezy behaupten, ein Rückgriff auf Verschuldung, besonders der Staatsverschuldung. Dies verschiebt das Problem nur auf den Zwang, diese durch eine spätere Ausdehnung des Mehrwerts zu finanzieren. Die Ausdehnung von unproduktiven Sektoren und von „Verschwendung“ oder Staatsverschuldung wird daher (anders als Baran/Sweezy tatsächlich behaupten) nicht das Programm der herrschenden Klasse sein: „Alle sozialen Schichten, die vom Mehrwert leben, sind ebenso wie die Expansion des Kapitals als Kapital von diesem Mehrwert abhängig, der zwar durch die wachsende Arbeitsproduktivität noch so gesteigert werden kann, aber gleichzeitig abnimmt, weil der unrentable Sektor der Wirtschaft verhältnismäßig schneller wächst als der rentable“ [xxvii].

Das Problem im Kapitalismus bleibt daher, dass ab einem gewissen Punkt es gerade nicht so ist, dass „zu viel Mehrwert“ im Überfluss vorhanden ist, sondern dass das Kapital immer wieder an seine eigene Grenze stößt: dass Mehrwert fehlt, der zur Verwertung von produktivem Kapital eingesetzt werden kann; dass vielmehr Kapital in großer Masse in Bereichen festsitzt, die angesichts des tendenziellen Falls der Profitrate nicht mehr genug Profitmasse für profitable Anlage abwerfen. Daher der beständige Zwang im Rahmen der Dynamik der Kapitalakkumulation zur Erhöhung der Ausbeutung (der Mehrwertrate), zur Vernichtung von Kapital, Freisetzung von Arbeitskraft, Erschließung neuer Akkumulationsmöglichkeiten (z. B. durch Kapitalexport).

Für die Weltwirtschaft als Ganzes bedeutet dies, dass nicht Monopolisierung und Surplus-Überfluss das Hindernis für Entwicklung sind, sondern:

  • Einerseits ist Entwicklung immer davon abhängig, ob bei gegebener Zusammensetzung des Kapitals und gegebener Arbeitsproduktivität genug Kapital (Mehrwert) vorhanden ist, um Kapitalexpansion zu ermöglichen: „Wenn man die Welt als Ganzes betrachtet, liegt es jedoch auf der Hand, dass sie nicht an Überschuss, sondern an Knappheit leidet. Der potentielle Surplus des Monopolkapitals wird mehr als ausgeglichen durch den effektiven Mangel an allem in den kapitalschwachen Ländern. Die Überproduktion an Kapital in einem Teil der Welt steht der Unterkapitalisierung in dem anderen gegenüber. Wenn man den Kapitalismus als ganzes, als ein Weltmarktsystem, betrachtet, verschwindet der Surplus; statt dessen findet sich ein großer Mangel an Mehrwert“ [xxviii].
  • Der Kapitalexport wirkt einerseits dem Fall der Profitrate in den Metropolen entgegen, als er Produktion in Länder mit geringerer organischer Zusammensetzung des Kapitals verlagert und andererseits wirkt er dem Kapitalmangel in den peripheren Ländern entgegen. Dies bedeutet aber gleichzeitig eine Verfestigung der Verhältnisse unterschiedlicher Arbeitsproduktivität, eine von den Verwertungsinteressen des Zentrums abhängige Entwicklung wie auch einen Werttransfer in die Region mit höherer Arbeitsproduktivität. Durch die weltweit geringere als mögliche Gesamtproduktivität wird auch der Mehrwert weniger als möglich ausgedehnt und damit der Knappheit, insbesondere an relativem Mehrwert, zu wenig entgegengewirkt. Der Zwang zur Erhöhung des absoluten Mehrwerts (Arbeitszeit, -intensität …) in der Peripherie bleibt bestehen.
  • Schließlich ist der Akkumulationsprozess „gleichzeitig ein Prozess der Kapitalkonzentration, der ebenso das Weltkapital auf wenige Länder wie in jedem einzelnen Land in die Hände von immer weniger Leuten zu konzentrieren sucht. Denn allein die Wertexpansion des vorhandenen Kapitals zählt, nicht dessen räumliche Ausdehnung“ [xxix]. Die untergeordnete Funktion der räumlichen Ausdehnung führt dazu, dass Monopolisierung vor allem auch die Einteilung der Welt in Regionen mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung des Kapitals bedeutet. Dies wiederum bedeutet, dass die Schranken der Kapitalexpansion durch Überakkumulation langsamer erreicht werden – die Hinauszögerung der Krise wird mit Unterentwicklung der Peripherie erkauft.

So ungenügend die Monopoltheorie von Baran/Sweezy (und im Gefolge von Frank) auch war, so politisch folgenreich war sie doch innerhalb der „Neuen Linken“. Während Matticks werttheoretische Ableitung des Monopolkapitalismus diesen weiterhin elementar durch den Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit auch auf Weltebene bestimmt versteht, sind die zentralen Widersprüche bei Baran/Sweezy und Frank diejenigen zwischen den monopolistischen ProfiteurInnen der tatsächlichen Surplusrealisierung (Monopole, Staat, unproduktive Schichten, weite Teile der ArbeiterInnenklasse der Metropolen) und denjenigen, denen die Versprechungen der potentiellen Surplusproduktion vorenthalten werden. Dies sind verschiedenste „periphere“ Schichten und Regionen. In den imperialistischen Ländern zählen Baran/Sweezy vor allem die rassistisch Unterdrückten, die Randschichten in den großen Städten und die durch die Überflussgesellschaften krank Gemachten auf. In der peripheren Welt sind große Teile der Bevölkerung dagegen als Ganzes von der Unterentwicklung des Surplus betroffen, die von den Monopolen aufgezwungen wird. Die proletarische Weltrevolution als politische Perspektive wird also durch die Perspektive des „Aufstands der Peripherie“ ersetzt. Mit der Dependenztheorie einher ging die Auffassung eines einheitlichen Blocks der „Dritten Welt“ (oder auch „Trikont“, da sie vor allem auf Asien, Afrika und Lateinamerika bezogen wurde), der einerseits durch gleiche Abhängigkeitsökonomien gekennzeichnet sei, andererseits aber auch überall einen dagegen gerichteten revolutionären Prozess, die Trikont-Bewegung, begonnen hätte.

Wenige Jahre später wurde offensichtlich, dass weder der imperialistische Block so krisenfrei und frei von breiteren (nicht nur periphere Schichten betreffenden) gesellschaftlichen Widersprüchen war noch dass die Krisen- und Entwicklungsverläufe der „3. Welt“ so einheitlich waren, wie angenommen. Zusätzlich bewahrheitete sich auch nicht die Hoffnung der meisten Dependencia-AnhängerInnen, dass dem Beispiel Kubas (und später Vietnams) eine Welle von Revolutionen folgen würde, die die politische Macht des Monopolkapitalismus brechen und die Sowjetunion (oder China) zum Vorbild ihrer Entwicklung machen würde (wie kritisch auch immer der Bezug auf diese „Modelle“ war). Aus der Dependencia-Theorie erwuchsen weder eine klare revolutionäre Strategie zur Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse vor Ort noch einheitliche wirtschaftliche Forderungen im unmittelbaren Kampf noch eine internationalistische Strategie jenseits der Hoffnung auf Unterstützung durch die stalinistischen Staaten. Deren Bezug auf die Trikont-Bewegungen war jedoch längst im Rahmen der „friedlichen Koexistenz“ fern jeder Perspektive eines zu unterstützenden weltrevolutionären Prozesses (selbst kontinental beschränkt) beerdigt worden.

In den folgenden Abschnitten werden wir daher den Anregungen von Mattick zur Analyse der Akkumulationsbewegung des Kapitals auf Weltmarktebene folgen, wie er sie in Abgrenzung zu Dependenz- und Monopolkapitalismustheorie entwickelt hat. Dies beginnt mit der Frage der Wertzusammensetzung des Kapitals auf Weltebene, ihrer Auswirkung auf die globale Akkumulationsbewegung, um zu den Modifikationen des „doppelgesichtigen Gesetzes“ von relativem Profitratenfall und Ausdehnung der Profitmasse auf Weltebene zu gelangen. Insbesondere wird sich zeigen, dass die Akkumulations- und Krisenbewegung des globalen Kapitals zu sehr unterschiedlichen „Entwicklungsmodellen“ („ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung“) und einer spezifischen Verteilung von Krisentendenzen zwischen Peripherie und Metropolen führt. Auf dieser Grundlage lässt sich auch die Frage der Wirkungsweise und Modifikation des Wertgesetzes im globalisierten Kapitalismus konkreter fassen, insbesondere in der kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie des „ungleichen Tausches“. Auf dieser Grundlage wird sich erweisen, dass das Verständnis des modernen „dekolonialisierten“ Imperialismus weiterhin auf der Grundlage der Marx’schen Akkumulations- und Krisentheorie sehr viel besser gewonnen werden kann als durch Revisionen rund um „Spätkapitalismus-“, „Monpolkapitalismus“- oder Theorien des „ungleichen Tausches“ (heute: „imperiale Lebensweise“) oder „Postkolonialismus“.

Das globale Kapital nach dem Ende der Kolonialreiche

Wir beginnen mit einer mehr statistisch ausgerichteten Analyse der weltweiten Kapitalzusammensetzung. Für statistische Berechnungen gut geeignet sind die „Extended Penn World Tables“, von denen aus Zeitreihen (bis in die 1960er Jahre) zu 31 Indikatoren für 176 Länder abgerufen werden können [xxx]. Sie werden unter anderem von Michael Roberts in seinem stets lesenswerten Blog zur Lage des globalen Kapitalismus verwendet [xxxi].

Einen guten Überblick über das Problem der unterschiedlichen Kapitalisierung gibt zunächst das von Piketty so zentral benutzte Kapital/Einkommensverhältnis, d. h. die langfristige Entwicklung des Verhältnisses von „Vermögen“ (auf Ebene der Nationalökonomien ein Amalgam aus Anlagevermögen, Grundbesitz, Finanzvermögen) zum Nationaleinkommen (das Bruttoinlandsprodukt – Einkommen der AusländerInnen im Inland + Einkommen der InländerInnen im Ausland = Bruttonationaleinkommen abzüglich der Abschreibungen = (Netto-)Nationaleinkommen). Diese Verhältniszahl entspricht also etwa der an Jahren, die in einer Nationalökonomie gearbeitet werden müssten, um das bestehende Vermögen zu erzeugen. Es ist also ein Maßstab für das angehäufte Kapital. Auffällig ist einerseits, dass in den „reichen Ländern“ trotz langfristig sinkenden BIP-Wachstums, die Vermögen trotzdem ungebremst wachsen, was zu einem säkularen, langfristigen Anstieg des Kapital/Einkommens-Verhältnisses führt (Abbildung 2).

Das BIP, Bruttoinlandsprodukt (englisch: Gross Domestic Product; GDP), gibt den Gesamtwert aller Güter, d. h. Waren und Dienstleistungen an, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden, nach Abzug aller Vorleistungen. Als Vorleistungen gelten in der Wirtschaftswissenschaft die im Produktionsprozess verbrauchten, verarbeiteten oder umgewandelten Güter und Dienstleistungen (vgl. Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen – ESVG). Die Vorleistungen unterscheiden sich von den Investitionen dadurch, dass ein Investitionsgut über mehrere Abrechnungsperioden hinweg im Produktionsprozess eingesetzt und allmählich abgeschrieben wird.

Abbildung 2: Kapital/Einkommensentwicklung Europa und USA 1870-2010 [xxxii]

Auffällig ist der schwere Einschnitt in die europäische Kapitalentwicklung nach dem 1. Weltkrieg und dem Ende des direkten Kolonialismus, der sich auch in einer realen Staatsverschuldung (Staatsschulden gegenüber dem Staatsvermögen) ausgedrückt hat. Seither haben sich die europäische und US-amerikanische Wirtschaft wieder auf ein Niveau hochbewegt, wo die Vermögen das Nationaleinkommen um das 4- bis 6-Fache übersteigen. Um das angehäufte Kapital zu verwerten (EigentümerInnen erwarten eine Mindestkapitalrendite von 4 – 5 % auf ihre Vermögensgegenstände als „Kapitaleinkommen“), muss ein beträchtlicher Teil des jedes Jahr neu geschaffenen Werts wieder akkumuliert werden (zumeist über 10 % des BIP). So wächst die Masse des akkumulierten Mehrwerts auch trotz sinkenden Wachstums der Gesamtproduktion immer weiter. Wie Piketty zeigt, ist dies notwendig mit einem Wachsen des Anteils der Kapitaleinkommen am Nationaleinkommen (d. h. Sinken der „Lohnquote“) und einer wachsenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen verbunden, die zu einer immer extremeren Konzentration des Reichtums auch in den „reichen Ländern“ führt.

In unserem Zusammenhang ist interessant, wie sich diese Entwicklung weltweit jenseits der traditionellen Industrieländer darstellt. Hier kann man insbesondere auf die Daten des „Global Wealth Reports“ [xxxiii] der Credit Swiss zurückgreifen. Hier wird beispielsweise für das „zukunftsträchtige“ Brasilien für 2012 ein Gesamtvermögen von 3,3 Billionen US-Dollar ausgewiesen – zum Vergleich: für Frankreich mit etwa einem Drittel der Bevölkerung sind es im selben Jahr über 12 Billionen. Dem steht in Brasilien 2012 ein Nationaleinkommen von 3 Billionen (in internationaler Kaufkraftparität) gegenüber, in Frankreich jedoch eines von 2,7. Während Frankreich also eine Kapital/Einkommensrelation (KER) von etwa 5 erreicht, liegt sie in Brasilien gerade mal bei über 1! Noch extremer stellt es sich in Indien dar, das trotz seiner Milliardenbevölkerung ebenso nur ein Vermögen von 3,2 Billionen US-Dollar meldet, aber sogar ein Nationaleinkommen von über 6,1 Billionen. Erst 2019 wurde in Indien ein KER von 1 erreicht (bei 12 Billionen Vermögen). In Brasilien dagegen wuchsen im Vergleich die Vermögen nur auf 3,5 Billionen (Frankreich 13,7), während das Nationaleinkommen bei 3,2 stagnierte. Dieses geringe Kapital/Einkommensverhältnis ist für viele Länder außerhalb der „reichen“ typisch, was dazu führt, dass die „capital formation“ (d. h. die Kapitalakkumulation) aus „inländischen Quellen“ auf sehr viel geringerem Niveau vor sich geht, wenn auch mit zumeist höherem Anteil am BIP.

Insgesamt ist diese „Unterkapitalisierung“ im „globalen Süden“ (auch wenn Australien und Neuseeland auf der Südhalbkugel liegen) letztlich auch sehr deutlich auf der Weltkarte der Vermögensverteilung zu sehen.

Abbildung 3: Globale Vermögensverteilung [xxxiv]

Noch deutlicher wird dies, wenn man den regionalen Anteil der Vermögen am Weltgesamtvermögen betrachtet. Während die „klassischen“ imperialistischen Länder in Nordamerika, Europa, Japan und auf der Südhalbkugel (Australien, Neuseeland) nur noch ein Viertel der Weltbevölkerung beherbergen, konzentrieren sie aktuell weiterhin 70 % des weltweiten Kapitals. Rechnet man noch die fast 20 % Anteil von China und Russland hinzu, so wird deutlich, wie wenig Kapital im Vergleich in der nicht-imperialistischen Welt zur Verfügung steht. Dazu kommt, dass das vorhandene Vermögen in den ärmeren Ländern auch noch extrem ungleich verteilt, d. h. jeweils unter der Kontrolle einer sehr kleinen Oberschicht konzentriert ist (siehe die weltweiten Aufstellungen zum Gini-Indikator).

Für die Kapitalakkumulation, insofern sie Verwertung des bestehenden Kapitals bedeutet, ist jedoch nicht das Gesamtvermögen entscheidend, sondern der „Kapitalstock“, d. h. das in produktiver Weise in Anlagevermögen angelegte Kapital. Die Statistiken weisen seit den 1980er Jahren für die „reichen Länder“ ein weitaus langsameres Wachstum des Kapitalstocks als für das Vermögen insgesamt aus. Dagegen wächst der Anteil an Anlagen in „Finanzvermögen“ bzw. Immobilien. Da letzteres zumeist auch über Finanzagenturen läuft, kann man es unter „Finanzkapital“ zusammenfassen. Während z. B. in der BRD der Anteil des produktiven Anlagevermögens 1983 noch bei fast 60 % des Vermögens lag, lag er 2010 bei nur noch 48 % (Berechnung der Größe des Kapitalstocks mit Penn-Reihe und des Gesamtvermögens nach Piketty jeweils gemäß PPP von 2005).

In Ländern wie Brasilien dagegen ist bis heute das Kapital weit direkter mit der unmittelbaren Anlage verbunden, so dass der Kapitalstock 75 % des Vermögens entspricht. In vielen Ländern, wie Indien oder Indonesien, liegt auch noch der Anteil an „real property“, also vor allem Grund- und Boden, bei über 20 % des Vermögens. Insgesamt ist die Kategorie des „Finanzvermögens“ kritisch zu betrachten: Das Kapital verwandelt sich in seinem Verwertungsprozess beständig in die Formen von Waren-, Produktiv- und Geldkapital. Die Zirkulationsformen des Geldkapitals ermöglichen die Aneignung eines Teils des Profits in der Form des Zinses (G-G‘). Der Handel mit Anteilseigentum an Kapital wiederum erzeugt andere Formen der Aufteilung des Profits und die Entstehung eines Kapitalmarktes, der zinsähnliche Gewinne verspricht. Im „Finanzvermögen“ wird Zinskapital, Anteilseigentum und Kapitalmarktinvestition vermengt. Dies verschleiert die jeweilige Nähe zur unmittelbaren produktiven Anlagesphäre. Der gestiegene Anteil des Finanzvermögens am Kapital ist jeweils nur ein Indikator für die „Abstraktheit“ des Kapitals gegenüber der unmittelbaren Verwertungsebene bzw. seiner Beweglichkeit, was die Anlagesphären betrifft. Dass die peripheren Länder hier weitaus weniger „Finanzkapital“ aufweisen, ist eine deutliche Konkretisierung von Lenins Thesen zur Rolle des Finanzkapitals im Imperialismus. Es sind globale Akteure, wie BlackRock Inc. oder Allianz Global Investors (AGI), die weltweit „Finanzvermögen“ einsammeln, um mit ihren Anlagen in Anteilseigentum und auf den Kapital- und Anleihemärkten wesentlichen Einfluss auf alle wichtigen Unternehmen aber auch auf Staaten auszuüben. Es ist klar, dass alle diese Hauptagenturen des modernen Kapitalismus in den imperialistischen Zentren zu finden sind.

Als säkularer Trend ist zu beobachten, dass auch der Kapitalstock gegenüber dem BIP seit den 1960er Jahren begonnen hat, schneller zu steigen als das BIP, wenn auch nicht im selben Tempo wie das Gesamtvermögen. Hier die Entwicklung in den USA, die von einem Verhältnis von fast 1:1 zu einem Verhältnis 1:0,6 geführt hat (Abbildung 4):

Abbildung 4: Entwicklung BIP und Kapitalstock – USA [xxxv]

Dies heißt aber auch, dass immer mehr Anlagekapital notwendig ist, um noch eine weitere Steigerung des Gesamtprodukts hervorzubringen. Diese Tendenz zum Sinken der „Kapitalproduktivität“ ist in allen Industrieländern gleichermaßen ausgeprägt (auf derzeit etwa 60 %). In der Welt jenseits der alten Industrienationen jedoch finden sich sehr unterschiedliche Werte und Historien der Kapitalproduktivität. So folgte Brasilien in den 1960er/1970er Jahren (während der Industrialisierungspolitik der Militärdiktatur) dem Trend eines raschen Aufbaus des Kapitalstocks. Mit der Krise Ende der 1970er Jahre brachen sowohl das Wachstum des Kapitalstocks wie des BIP ein. Letzteres wuchs mit der Stabilisierung in den 1990er Jahren wieder, ohne im selben Tempo zum Aufbau des Kapitalstocks zu führen. Damit verbleibt in Brasilien die Kapitalproduktivität heute bei 75 % (siehe: Abbildung 5).

Abbildung 5: Entwicklung BIP und Kapitalstock in Brasilien [xxxvi]

Abbildung 6: Verhältnis Kapitalstock zu BIP in Südkorea [xxxviii]

Betrachtet man andere Peripherieländer, so ergeben sich je nach den historischen Entwicklungen ganz unterschiedliche Kategorien in Bezug auf die Kapitalstockentwicklung. So gibt es in afrikanischen Ländern (südlich der Sahara) zumeist weiterhin eine Parallelentwicklung von Kapitalstock und BIP. So liegt die Kapitalproduktivität von Kenia heute noch bei 98 %, wenig geringer als in der Zeit kurz nach der Unabhängigkeit 1963. Ganz im Unterschied dazu die Entwicklung in Algerien: Insbesondere die Verstaatlichung der Erdöl- und Erdgasunternehmen aus französischem Besitz 1971[xxxvii] und die darauf aufgebaute „sozialistische“ Industrialisierungspolitik führte bis in die 1980er Jahre zu einem großen Kapitalstock, verglichen mit immer geringer werdendem wirtschaftlichen Wachstum. Daher sank schon in den 1970er Jahren die Kapitalproduktivität unter 50 %, um in den 1980er Jahren sogar unter 40 % zu fallen. Anders als in Lateinamerika konnten die Öl- und Gas-Einnahmen die damit verbundenen Probleme noch bis Ende der 1980er Jahre auffangen. Mit dem Sinken der Ölpreise Ende der 1980er Jahre brach eine schwere wirtschaftliche und in deren Gefolge auch politische Krise aus (Bürgerkrieg). Die von Bouteflika durchgesetzte „Befriedungspolitik“ beinhaltete in den 2000er Jahren eine gegen den heftigen Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzte „Privatisierungspolitik“, die an den Kapitalabbau während der Krise anknüpfte und das Land stark für Auslandsinvestitionen öffnete. Damit wurde die Kapitalproduktivität auf heute wieder über 50 % gehoben.

Solche Geschichten wie für Algerien könnten für viele Länder erzählt werden, die auf der Grundlage des Exports ihres Rohstoffreichtums eine vor allem staatliche Industrialisierungspolitik betrieben haben. Eine ganz andere Entwicklung sehen wir in Ländern, die wenig Möglichkeiten hatten, ihre Industrialisierung auf Rohstoffexport zu begründen. Insbesondere die auf Export ausgerichteten „Entwicklungsdiktaturen“, die sich als Standorte für „Billiglohnfertigung“ den großen Konzernen des Zentrums anboten, folgten einem Muster, das sich wohl am extremsten in Südkorea zeigt:

Ohne Rohstoffbasis und geschwächt durch die Verheerungen des Koreakrieges war Südkorea in den 1950er Jahren am unteren Ende der Entwicklung und wurde seit den frühen 1960er Jahren durch eine brutale Militärdiktatur unter Park-Chung-hee regiert. Park begründete die südkoreanische Industriestruktur, die zugleich mit einer strikten Unterdrückung von ArbeiterInnenrechten verbunden war. Wie an der Entwicklung des Kapitalstocks zu erkennen ist, gab es jedoch erst nach der globalen Krise 1974 eine explosionsartige Änderung der Situation. Seither ist das Wachstum des Kapitalstocks gegenüber dem Wachstum des BIP entfesselt: Während das Verhältnis noch in den 1960er Jahren bei über 100 % lag, sank es 1996 erstmals unter 40 %. Erst die Asienkrise 1997 hat zu einer Verlangsamung im Tempo des Aufbaus des Kapitalstocks geführt. Heute liegt die Kapitalproduktivität Südkoreas bei etwa 36 %.

Hier bestätigt sich Matticks These, dass die Aufhebung von Akkumulationsschranken für das Kapital (die die „Globalisierungsperiode“ für viele, insbesondere asiatische, „Tigerstaaten“ mit sich gebracht hat) zugleich auch die Überakkumulation aus dem Zentrum in die Peripherie trägt – und damit auch die Überakkumulationskrise auf eine globalere Ebene hebt. Mit der Aufhebung der „Sphäre geringerer organischer Zusammensetzung des Kapitals“ für immer mehr Regionen der Welt, wird zugleich ein wichtiger krisenhemmender Faktor in der Weltakkumulation des Kapitals abgebaut. Häufigere Krisenanfälligkeit und Tendenz zu schnellerer Entwicklung von überregionalen zyklischen Abschwüngen sind ein Merkmal der Globalisierungsperiode seit Mitte der 1990er Jahre.

Was Südkorea betrifft, gibt es natürlich auf Grund der Kapitalisierung und der Weltbedeutung mehrerer ihrer großen Kapitale Argumente für den Aufstieg in den Klub des Imperialismus. Allerdings deutet schon die äußerst hohe Kapitalzusammensetzung (bzw. niedrige Kapitalproduktivität) darauf hin, dass es sich hierbei auch um eine andere Form der Abhängigkeit handelt. Viele der asiatischen Staaten, die einen ähnlich raschen Aufstieg in der Globalisierungsperiode durchgemacht haben, wie Malaysia oder Indonesien, haben eine ähnliche Entwicklung ihrer Kapitalproduktivität hinter sich (85 % auf 48 % bzw. 91 % auf 55 %), die sie über die üblichen Peripheriestaaten stellt. Diese Überkapitalisierung kann – neben Druck auf die Löhne –nur durch starkes Exportwachstum ausgeglichen werden. Das macht diese Länder abhängig von Welthandel und der Entwicklung in den zentralen Industrieländern (inklusive China). Jeder globale Einbruch führt dazu, dass die Folgen der Überakkumulation sofort gespürt werden. Dazu kommt, dass in der Globalisierungsperiode die kapitalistische Produktion stark entlang internationaler Produktionsketten von Komponenten und Dienstleistungen organisiert wurde. Dies hat eine „Wertschöpfungskette“ von den hochspezialisierten bis zu den niedrig bewerteten Tätigkeiten eingeführt, in denen der Großteil der „Wertschöpfung“ tatsächlich an der Spitze der Produktionsketten abgegriffen wird.

Globale Produktion als Produktions- und Aneignungsprozess von Mehrwert

Zu den globalen Wertschöpfungsketten („global value chains“; GVC) gibt es inzwischen umfangreiche Studien und statistische Indikatoren, die speziell auch als „Entwicklungsindikatoren“ dienen[xxxix]. Insgesamt ist in der Globalisierungsperiode der Anteil an GVCs am Welthandel stark gestiegen: Während der Anteil der nur im Inland produzierten und konsumierten Güter an der Weltproduktion von 85 % (1995) auf heute 80 % zurückgegangen ist, wuchs der traditionelle Exporthandel nur moderat – entscheidend war das Wachstum des Handels mit Zwischenprodukten oder produktionsbezogenen Dienstleistungen. Diese machen inzwischen zwei Drittel des Welthandels aus. Die GVCs reichen dabei von einfachen Zulieferproduktionen (nur 1-2 Grenzüberquerungen bis zum fertigen Produkt) bis zu komplexen Netzwerken von sehr vielen über viele Länder verstreuten AkteurInnen.

Die WTO hat hierzu die etwas unübersichtlichen, aber informativen „Smile-Kurven“ entwickelt. In Abbildung 7 wird die Smile-Kurve für die Industrien für elektrische und optische Apparate dargestellt, in der die Daten von 35 Industrien, die über 41 Ökonomien zerstreut sind, aus den Input-Output-Tabellen der WTO kombiniert wurden. Dabei stellen die Zahlen neben den Ländernamen Kennzahlen für Industrien nach den WTO-Tabellen dar (z. B. steht „14“ für Elektro- und Optik-Industrie, „28“ für Finanzdienstleistungen, „12“ für Metallverarbeitung). Um die Ländernamen werden Kreise gezeichnet, die den „Wertanteil“ der jeweiligen Länderindustrien in der Produktstufe darstellen (außer bei China in der Abbildung schwer zu erkennen). Die schraffierte Fläche um die Kurve stellt das Ausmaß der Kompensationen dar, wie die einzelnen Stufen im Produktleben in die Preisbildung eingehen, bevor es zum Endprodukt für die KundInnen kommt. Deutlich wird, dass dieses am Beginn (Planung, Entwicklung, Finanzierung, etc.) und am Ende (Verkauf, Service, etc.) der GVC am größten ist (das „obere Ende“ der Wertschöpfungskette). Da die senkrechte Achse die Lohnkompensation (pro Stunde) in den jeweiligen Stufen darstellt, wird deutlich, dass die Stufen, die am meisten mit Produktion zu tun haben, auch die mit der geringsten Kompensation sind. Bei der Kette handelt es sich also eigentlich weniger um eine „Wertschöpfungskette“ als vielmehr um eine Wertaneignungskette – die produktive Arbeit wird in der Senke der Kurve geleistet, deren Wertproduktion aber vor allem an den beiden Enden der Kette in Preise transformiert. Ein Großteil des Preises machen offensichtlich die Preiszuschläge der großen Handelskonzerne aus („20“ steht für den Großhandel).

Abbildung 7: Wertschöpfungskette für elektrische und optische Apparate 2005 [xl]

Die traditionell ungünstigen Beziehungen zwischen Peripherie und Zentrum über die Terms of Trade nach Prebisch/Singer erweitern sich somit heute zusätzlich durch die Zuordnung zu ungünstigen Positionierungen in den GVCs. In der Smile-Kurve wird dies deutlich einerseits an der kaum mehr lesbaren Wolke an Länderindustrien am Minimum der Kurve, wo vor allem asiatische Zulieferbetriebe zu finden sind. Alle zeichnen sich durch ein auf niedrigen Löhnen basierendes Exportmodell aus. China konzentriert einen großen Anteil am Ende der eigentlichen Produktionskette, also nahe der Endmontage. Ein kleinerer Teil der Produktion wird weiter „hochpreisig“ in Ländern wie Deutschland, den USA und Japan durchgeführt. Auch Südkorea ist eher im Aufstieg in diesem Segment, d. h. verlässt die Region der Billiglohnländer. Inzwischen kann man bei vielen dieser Branchenuntersuchungen feststellen, dass China in der „Wertschöpfungskette“ aufsteigt und selber Stufen zu Beginn und am Ende der Produktkette übernimmt. Auf jeden Fall hat sich ein weltweites Muster herausgebildet, das für die globale Produktion wenige große Zentren aufzeigt, um die ein Netz von Satelliten gruppiert sind. Die zentralen Player dabei sind die USA, China, Deutschland (mit Frankreich und Italien als Co-Zentren), Japan und Südkorea (siehe Abbildung 8).

Dabei ist auffällig, dass die Produktionsnetzwerke im Jahr 2000 noch sehr lose zusammengefügt waren und vor allem in den europäischen und den asiatisch-pazifischen Raum getrennt waren. Um 2005 wird klar, dass China ein eigenes Zuliefernetzwerk in Asien aufgebaut hat, in dem Taiwan eine zentrale Rolle spielt. Aber auch Japan und Südkorea begannen im Windschatten des China-Booms mit dem Aufbau ihrer tieferen internationalen Produktionsketten, während das europäische Netzwerk auf lateinamerikanische Industrien und Russland ausgriff. 2011 stellt den Punkt der größten Annäherung der drei Blöcke dar, in der es zunehmend auch vor allem zwischen asiatischen und europäischen Industrien Vernetzungen gab.

Abbildung 8: Netzwerk der GVCs [xli]

Mit der großen Rezession und der folgenden Stagnationsperiode kam es zu einem Rückbau der Internationalisierung (zum Teil wurde durch Insourcing wieder Verlagerungstiefe zurückgenommen). Insbesondere haben sich die USA inzwischen wieder stärker auf protektionistische Politik und Rückfluss von Kapital orientiert, was sich auch im Abbau von internationalen Produktionsketten außerhalb Nordamerikas/Mexikos ausdrückt. Auch in der EU sind seit der Euro-Krise und der Stagnation in den zentralen Ökonomien Rückbautendenzen zu erkennen. Davon und durch das geringere Wachstum des Welthandels insgesamt blieben auch der Block um China, Japan und Südkorea nicht unberührt.

Hierarchien in der globalen Ökonomie

Was das Schicksal der neu industrialisierten Länder betrifft, so spricht auch die WTO-Studie von einer in der Entwicklungsökonomie viel besprochenen „middle-income trap“ [xlii]. Damit wird gemeint, dass einige der sich besonders rasch industrialisierenden Länder zwar eine Zeitlang zu Treibern globaler Aufschwünge werden, dabei auch beträchtliches Kapital und Know-how ansammeln, dann aber von der nächsten Krise besonders getroffen und wieder zurückgeworfen werden. Sie scheinen bereits an der „Schwelle“ zu einer Ökonomie wie die „reichen Länder“ zu sein, schaffen es aber nicht, deren Krisenbewältigungsfähigkeiten zu erlangen. Exemplarisch führt die WTO-Studie folgende „Entwicklungsstufen“ ein:

  • Stufe 0: Abhängigkeit von Agrar- und Rohstoffexporten und Kapitalimport
  • Stufe 1: Einfache Zulieferindustrien (Beispiel: Vietnam)
  • Stufe 2: Konzentration von Industrien, eigene Zulieferketten (z. B.: Malaysia, Thailand)
  • Stufe 3: Fähigkeit zur Produktion von hochtechnischen Produkten (z. B.: Südkorea, Taiwan)
  • Stufe 4: „Global leader“ (z. B.: USA, EU, Japan, China)

Wie auch die WTO-Studie feststellt, sind es Probleme in der Kapitalbildung, der Struktur der Ökonomie und Faktoren der globalen politischen Ordnung, die auf Stufe 2 und 3 gegenüber der jeweils nächsten Stufe wie „gläserne Wände“ den weiteren Aufstieg zu verhindern scheinen.

Für die Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen ist neben der Kapitalmasse, der Kapitalproduktivität, der Position im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten, die Einkommensentwicklung entscheidend, insbesondere insofern sie das langfristige Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit widerspiegelt. Grundlegende Indikatoren dafür sind die Verhältnisse von BIP-Wachstum und Anteil der Löhne dabei. Das Volumen des Nationaleinkommens (als Maß des produzierten Neuwerts pro Jahr), abgeleitet aus dem BIP, stellt dabei das maximal zu verteilende Einkommen auf die Masse der Bevölkerung dar. Das Wirtschaftswachstum im Vergleich zwischen den Ländern von unterschiedlichen Entwicklungsstufen stellt damit einen ersten Anhaltspunkt dar:

Abbildung 9 Reales BIP in KKP von 2005 [xliii]

In der Abbildung wird klar, dass das starke Wachsen des Kapitalstocks in Algerien zugleich mit einem im Vergleich sehr schwachen Wachstum gekoppelt war, das erst in den 2000er Jahren leicht nach oben ging. Das Wachstum eines wenig spektakulären Zentrumlandes wie Frankreich stellt sich dagegen fast linear dar, mit kaum wahrnehmbaren „Dellen“ 1974, 1981, 1991 und 2000. Das gesamte BIP von Brasilien, das dreimal mehr Menschen als Frankreich bevölkern, liegt die ganzen Jahre hinter dessen BIP zurück (Algerien, mit der Hälfte der Bevölkerung, hat dagegen ein kaum wahrnehmbares BIP). Dagegen waren die Wachstumseinbrüche Ende der 1970er Jahre, Mitte der 1980er Jahre und (wenn auch nicht so ausgeprägt) Ende der 1990er Jahre jeweils dramatisch, mit schwerwiegenden Folgen für das Einkommen vieler. War das Wachstum in Algerien viel zu gering, um der zunehmenden Bevölkerung ein erträgliches Einkommen zu garantieren, so waren es die Einbrüche im Wachstum, die der stark wachsenden brasilianischen Bevölkerung große Einkommensprobleme bescherten. Schließlich zeigt das Beispiel Südkoreas, mit einem Viertel der Bevölkerung Brasiliens, ein BIP-Wachstum, das ein Einholen des großen Brasiliens fast möglich erscheinen ließ. Angesichts der steigenden Kapitalzusammensetzung der südkoreanischen Industrie ist dieses Wachstum aber auch erforderlich (wie später bei der Profitratenbetrachtung noch zu sehen sein wird). Allerdings führte die Wirtschaftsentwicklung 1997 in der „Asienkrise“ zu einem starken Einbruch (– 5,5 %), der jedoch in den 2000er Jahren wieder wettgemacht werden konnte. Ersichtlich ist auch, dass Brasilien ebenfalls in den 2000er Jahren auf den starken Wachstumspfad zurückzukehren schien und parallel zu Südkorea wuchs. In der gegenwärtigen Stagnationsphase der Weltwirtschaft werden beide Länder wieder von Wachstumsproblemen gebeutelt (Wachstumsraten von unter 3 % sind für Südkorea angesichts des großen Kapitalstocks problematisch, und werden wesentlich durch das Geschäft mit China und Japan aufrechterhalten).

Diese BIP-Veränderungen müssen noch in Beziehung gesetzt werden zu einem Bevölkerungswachstum, das in demselben Zeitraum Brasilien und Algerien fast verdreifacht hat, Südkorea verdoppelt, während Frankreich nur um etwa 50 % wuchs. Selbst bei einer fiktiven Gleichverteilung der Einkommen muss es daher negative Effekte auf die möglichen Einkommen in den unterschiedlichen Regionen geben. Piketty stellt folgende Gesamtrechnung für die Welt angesichts der unterschiedlichen Proportionen von Bevölkerung und BIP in den Hauptregionen auf:

Abbildung 10: Weltweite Verteilung von BIP und Nationaleinkommen pro Kopf [xliv]

Trotz mehrerer Jahrzehnte, in denen einige „Schwellenländer“ große ökonomische Wachstumsraten gegenüber dem alten Zentrum aufwiesen, produzieren die auf 13 % der Weltbevölkerung geschrumpften EinwohnerInnen EU-Europas und Nordamerikas weiterhin 41 % des Welt-BIP (zur Erinnerung: Bei den Vermögen ist es noch einseitiger mit 62 % des Weltvermögens). Die Wachstumsverschiebung hat angesichts des jeweiligen Bevölkerungsanstiegs daher nur geringe Veränderungen im Verhältnis BIP pro Einwohner gebracht. Vom BIP müssen Abschreibungen und die Außenbilanz abgerechnet werden, so dass sich daraus das monatlich verfügbare Einkommen pro Einwohner ergibt (bei Gleichverteilung). Dieses ist in der Tabelle in der äußersten rechten Spalte in Euro zu ersehen. Es ist nicht erstaunlich, dass sich Afrika mit 200 Euro weiterhin am untersten Level der Einkommensniveaus befindet (wobei Algerien mit 450 Euro noch über dem nordafrikanischen Durchschnitt liegt!). Trotz des großen Aufholprozesses in Asien liegt es weiter nur bei 520 Euro. Dabei ist dies auch in Asien weiterhin stark ungleich verteilt, mit Japan bei 2.250 Euro und Südkorea bei 1.700 Euro. Die Megaländer China mit 520 Euro, aber vor allem Indien mit 240 Euro finden sich weiter bei den „mittleren“ bzw. unteren Einkommen. Trotz der krisenhaften Entwicklung in Lateinamerika liegt dieses mit 780 Euro noch darüber. Auch hier gibt es große Unterschiede: von Chile mit 960 Euro über Brasilien mit 660 Euro bis Bolivien mit 275 Euro. Die Einkommen der „reichen Länder“ in Europa, Nordamerika, Japan und auf der Südhalbkugel liegen dagegen 3-4 mal über dem Weltdurchschnitt (760 Euro).

Die Weltbank verwendet das Verhältnis von Bruttonationaleinkommen zu EinwohnerIn als „Entwicklungsindikator“ und teilt dabei die Länder in die vier Kategorien „niedriges“, „unteres mittleres“, „oberes mittleres“ und „hohes“ Einkommen. Diese entsprechende Kategorisierung wird jährlich veröffentlicht und ist auch als historische Zeitreihe erhältlich [xlv]. Auch wenn die Grenzziehungen stark willkürlich sind (für das oben betrachtete Jahr war die Grenze zu „oberen mittleren“ Einkommen bei 320 Euro, zu „hohem“ bei etwa 1.000 Euro), so lassen sich doch langfristige Trends erkennen. Brasilien gehört zwar generell zu den „oberen mittleren“, fiel aber mehrfach kurzfristig in die „unteren mittleren“ (Ende der 1980er Jahre, Anfang der 2000er). Algerien fiel Ende der 8190er Jahre vom oberen Mittel ins untere, um erst wieder 2008 ins obere Mittel zu steigen. Indien stieg erst 2007 überhaupt von der Kategorie „niedrig“ zur Kategorie „unteres Mittel“ auf, um dort seither zu verharren. China dagegen stieg 1997 zu „unterem Mittel“ auf, um 2010 ins „obere Mittel“ zu gelangen. Schließlich stieg Südkorea 1995 zur Kategorie „Hoch“ auf, um 1998 wieder zu „oberes Mittel“ abzufallen, aber verharrte dann ab 2001 in „Hoch“. Insgesamt sind 78 Länder heute in den beiden unteren Kategorien zu finden, also als „arme“ zu bezeichnen. Die 60 Länder in der dritten Kategorie sind zwar rund um den Durchschnitt des Welteinkommens gruppiert und werden heute allgemein als „middle income countries“ bezeichnet, sind aber im Vergleich zu den reichen Ländern in Europa und Nordamerika tatsächlich auch nur an der „Schwelle“ zur Überwindung von Armut, nicht auf dem Sprung zu „reichen Ländern“ wie oft mit dem Begriff „Schwellenländer“ suggeriert wird.

Die Größe des Neuwerts, der in einem Land produziert wurde, sagt noch nichts darüber aus, wieviel davon tatsächlich bei denen ankommt, die ihn produziert haben – den Lohnabhängigen. Dies ist abhängig letztlich von der jeweils spezifischen Klassenauseinandersetzung, aber auch dem Entwicklungsstand und der Stellung im Weltkapitalismus insgesamt. In Abbildung 11 wird die Lohnquote (der Anteil der Lohnsumme am Nationaleinkommen) von vier verschiedenen Ländern wiedergegeben, diesmal mit der USA als Repräsentantin der „reichen Länder“ (leider sind die Daten für Brasilien, Südkorea und Algerien aus den Penn-Reihen etwas unvollständig).

Abbildung 11: Lohnquote am Nationaleinkommen im Vergleich [xlvi]

Grob gesagt werden kann, dass in den 1960er Jahren in den reichen Ländern Lohnquoten um die 60 % üblich waren gegenüber 30 % im Rest. Dies drückt einerseits die größere gewerkschaftliche Organisation und andererseits die Integration der ArbeiterInnenklasse, insbesondere durch das aus, was Lenin die „ArbeiterInnenaristokratie“ genannt hat. Letzteres fehlte in den Halbkolonien, während die gewerkschaftliche Organisation zumeist mit repressiven Maßnahmen bis hin zur Militärdiktatur unterdrückt wurden. In der Krisenperiode der 1970er und frühen 1980er Jahre konnten die Lohnquoten in den Halbkolonien zumeist auf um die 40 % verbessert werden, während diejenige in den imperialistischen Zentren zumeist auf um die 55 % sank. Danach verlief die Entwicklung in der „Globalisierungsperiode“ sehr unterschiedlich. In den imperialistischen Zentren sank die Lohnquote weiter kontinuierlich gegen 50 % aufgrund der geschwächten Position der Gewerkschaften und neoliberaler „Reformpolitik“. Andererseits wurde das Wachstum in Asien kaum tatsächlich in höhere Löhne umgesetzt, so dass der Anteil der Lohneinkommen am Nationaleinkommen trotz des „Wirtschaftswunders“ sogar im Allgemeinen sank.

In Südkorea fiel während des ersten großen Exportbooms Mitte der 1980er Jahre die Quote von 40 auf 30 %, ein Fall der erst durch das Ende der Militärdiktatur etwas abgebremst wurde. Der nächste Exportboom in den 1990er Jahren und dessen Einbrüche (vor allem die Asienkrise) brachten die Quote weiter auf gegen 20 % herunter, wo sie heute verharrt. Angesichts des hohen Kapitalanteils (geringe Kapitalproduktivität) ist es klar, dass das südkoreanische Kapital weiterhin auf relativ geringe Löhne im Verhältnis zum Output angewiesen ist – nur so lässt sich das große angehäufte Kapital verwerten.

Auch wenn die Bewegung in Algerien einem ähnlichen Trend wie Südkorea zu folgen scheint, hat sie ganz andere Ursachen. Die stagnative, von Öl- und Gasexporten abhängige Ökonomie mit hoher Staatsquote konnte politische Stabilität nur durch Einkommensverbesserungen erzielen, die zu einem Anwachsen der Lohnquote bei einem wenig gestiegenen BIP führten (über 40 % bis Ende der 1980er Jahre). Damit gab es notwendig immer weniger Spielraum für Gewinneinkommen, was zum Ausbruch der Krise Ende der 1980er Jahre führte, als die Einnahmen aus dem Ölexport sanken. Im Verlauf der Krise stellte das algerische Kapital seine Profitabilität vor allem zu Lasten der Lohneinkommen wieder her, so dass im Gefolge der „Privatisierungspolitik“ die Lohnquote ebenfalls auf an die 20 % sank. Erst der große Generalstreik der UGTA konnte 2003 die weitere Abwärtsbewegung stoppen.

In Lateinamerika waren nach dem „verlorenen Jahrzehnt“ der 1980er Jahre die neoliberalen „ReformerInnen“ und ihre Militärdiktaturen weitgehend an den Rand gedrängt. Politische und ökonomische Konsolidierung konnten nur mit Hilfe von „linken“ und populistischen Kräften zusammen mit Konzessionen an die Gewerkschaften erzielt werden. So war das wiederaufkommende Wachstum in den 1990er Jahren mit einer Stabilisierung der Lohnquote bei 40 % in den meisten Ländern (wie auch in Brasilien) verbunden.

Insgesamt bleibt aber eine deutliche Lücke zwischen den Lohnquoten in den imperialistischen Zentren und im Rest der Welt, insbesondere was Asien betrifft. Nur China, das aus der planwirtschaftlichen Vergangenheit mit einer relativ hohen Lohnquote gestartet ist, liegt etwa im Bereich der alten Zentren (bei 48 %). Bei den niedrigen Löhnen, von denen zu Beginn der Globalisierungsperiode gestartet wurde, ist von dem großen Wachstumsboom also wenig in Lohnsteigerungen eingegangen. Das Weltkapital profitiert weiterhin von niedrigen Löhnen, insbesondere in Asien.

Tendenzen der globalen Profitratenentwicklung

Die Indikatoren Lohnquote und Kapitalproduktivität führen nun direkt zum zentralen Indikator für die Kapitalakkumulation aus marxistischer Sicht: der Profitrate. Für das Marx’sche Verständnis der Dynamik der Wachstumsbewegung ist entscheidend das Verhältnis von Entwicklung der Produktivkräfte (vergegenständlicht im Kapitalstock und einer disponiblen Lohnabhängigenmasse) und dem kapitalistischen Imperativ, das bestehende Kapital (in allen seinen Formen) zu verwerten. Die kapitalistische Form der Produktivkraftentwicklung verläuft unter dem Primat der Einsparung von Arbeitskosten und Erhöhung des Produktausstoßes (Produktivitätssteigerung). Dies führt zu einem Steigen des Anlagekapitals gegenüber der eingesetzten Arbeitskraft und bei gleichbleibender Mehrwertrate daher zu einem Sinken der Profitrate, gleichzeitig aber zu einer Erhöhung des produzierten Neuwerts und damit (Mehrwertrate!) auch der absoluten Profitmasse. Sofern das Mehr an Profit ausreichend ist, den gewachsenen Kapitalstock weiter zu verwerten, kann die Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter fortgesetzt werden. Ist dies nicht der Fall, muss der überakkumulierte Kapitalstock in einer der Formen der kapitalistischen Krise entwertet werden. Bevor es soweit kommt, können „entgegenwirkende Ursachen“ wirken: Einerseits können Teile des Kapitalstocks (wie auch immer) schon vor der Krise entwertet und verbilligt werden. Weiter kann das Kapital auf verschiedene Weise die Mehrwertrate erhöhen (relativ, absolut; Umstrukturierung der Beschäftigung). Verwertungsprobleme können durch Schulden bzw. Umwandlung von Schulden in Kapital (Kapitalmarkt) zeitweise aufgeschoben werden und letztlich dient der Weltmarkt als Ventil (worauf noch näher eingegangen wird). Helfen alle diese Mittel (die im Wesentlichen nur aufschiebende Wirkung zeitigen bzw. sogar verschärfende) nicht, ist der zyklische Abschwung unvermeidlich. Im Krisenzyklus setzen sich die von den produktiveren Kapitalen (die die Krise überleben) eingesetzten Neuerungen allgemein durch, führen zu einem gesamtwirtschaftlichen Ausgleich der Profitrate auf niedrigerem Niveau, womit der nächste Zyklus einsetzt. Auf diese Weise kommt es zu einer langfristigen Tendenz zum Fallen der Durchschnittsprofitrate wie einer beständigen Ausdehnung der Produktion, begleitet von einem noch größeren Wachstum des Kapitalstocks.

In den 1960er Jahren wurde die Profitratentheorie von Marx nicht nur von Baran/Sweezy (die dies mehr auf empirischer Ebene taten), sondern auch von theoretischer Seite in Frage gestellt. Der japanische Wirtschaftstheoretiker Nobuo Okishio stellte 1961 Berechnungen an, nachdem bei gleichbleibenden Reallöhnen und einer Verbilligung von Produktionsmitteln im Gefolge von Produktivitätssteigerungen die Profitrate steigt und nicht sinkt. Dieses „Okishio-Theorem“ wurde auch von „MarxistInnen“ als Widerlegung des Profitratenfalls angesehen, da damals eine Reduktion von Wertkategorien auf Preiskategorien allgemein anerkannt wurde. In ausführlichen Kontroversen um das Okishio-Theorem wurde insbesondere auf wertanalytischem Hintergrund dieses Theorem widerlegt. Ohne auf die Details eingehen zu können, hat z. B. Andrew Kliman gezeigt, dass es darauf ankommt, wie die Kapitalzusammensetzung (Verhältnis von Lohnarbeit und Kapitalstock) bestimmt wird, die in die Profitratenberechnung eingeht. Marx selbst hat zwischen der „technischen Zusammensetzung“ (materielles Verhältnis von Produktionsmitteln als Vergegenständlichung vergangener Arbeit und der benötigten gegenwärtigen Arbeitszeit) und der „organischen Zusammensetzung“ (Wertausdruck der technischen Zusammensetzung aus konstantem und variablem Kapital) unterschieden. Für das Kapital, das einen alten durch einen neuen Produktionsprozess ersetzt, ändert sich die technische Zusammensetzung, ohne dass sich dadurch im gesamten Sektor (der diese Neuerung noch nicht eingeführt hat), die Wertzusammensetzung geändert hat. Umgekehrt führen technische Neuerungen, die Produktionsmittel verbilligen, die einige Kapitalisten zuerst einsetzen, ebenfalls noch nicht zu einer Änderung der Wertzusammensetzung. Schließlich führt die Durchsetzung, Verallgemeinerung der Wertänderung dazu, dass große Teile des bestehenden Kapitals entwertet werden, wodurch gerade die Teile des Kapitals, die noch die alte technische Zusammensetzung verwenden, Profit verlieren. Was also auf der Ebene des Einzelkapitals in Preiskategorien als Profitratensteigerung erscheint, ergibt sich auf der Ebene des Gesamtkapitals im Verhältnis von technischer und organischer Zusammensetzung des Kapitals als Profitratenminderung für das Gesamtkapital. Betrachtet werden muss daher die Profitrate nicht als Verhältnis von Profitmasse zum Kapitalstock in seinen gegenwärtigen, auf modernster Technik beruhenden Preisen, sondern in dessem „historischen“ Wert (eine Differenz, die sich für das Kapital in größer werdender „Abschreibung“ ausdrückt).

In der statistischen Auswertung ist es daher wichtig, für die Profitratenberechnung vom „historischen“ Wert des Kapitalstocks auszugehen und nicht die Wiederbeschaffungspreise, sondern die historischen Preisreihen zu verwenden. Außerdem ist in den vorhandenen Statistiken oft eine Vermengung von produktivem Kapital und anderen Kategorien (z. B. Handel, Banken, Dienstleistungen etc.) gegeben. Ein richtiger Ausgangspunkt für die Profitratenberechnung ist daher, z. B. zunächst eine „sichere“ Ausgangsbasis zu wählen, z. B. die nicht-finanziellen Gesellschaften („non-financial corporate business“) in den USA. Dieser ist bedeutend genug, um Sondereffekte und Nischenbereiche zu umgehen und ist weltweit so bestimmend, dass er als Leitindex für alle anderen Profitratenbetrachtungen dienen kann. Zur Berechnung wird zumeist die Rendite auf den Kapitalstock herangezogen. Die Profitrate nach Marx vergleicht zwar Profitmasse zu eingesetztem Kapital PLUS Lohnsumme. Die Kapitalrendite ist jedoch offensichtlich eine obere Grenze für letzteren Bruch – und solange die Lohnsumme nicht sinkt, hat diese auch keinen dämpfenden Effekt auf die Gesamtrate. Daher ist diese Vereinfachung akzeptabel. Schließlich kann noch die Art der Bemessung der Profitmasse diskutiert werden (vor oder nach Steuer- und/oder Zinsabzügen auf verschiedenen Stufen in der Bilanzierung von Gewinnen). Eine übersichtliche Darstellung mit entsprechenden Berechnungen findet sich bei T. Kalogerakos [xlvii]. Seine Berechnung des Verlaufs der Profitrate für nicht-finanzielle Gesellschaften in den USA von 1945 bis 2008 findet sich in Abbildung 12.

Abbildung 12: Profitrate nicht-finanzieller Gesellschaften in den USA, 1946-2011 [xlviii]

Die oberste Kurve (TSVR) bezeichnet das Verhältnis von „Gross Profit“ (also dem Gewinn ohne jegliche Abzüge außer Lohn- und Produktionskosten) und Kapitalstock (in historischen Preisen). Die unteren Kurven beziehen sich auf unterschiedliche Abzüge vom Bruttogewinn (Steuern auf Produktionskosten, Zinsen und Dividenden, Gewinnsteuern). Die durchgezogenen Linien sind Anwendungen von statistischen Filtern, die zyklische Abweichungen begradigen.

Erkennbar ist jedenfalls der langfristige absteigende Trend, insbesondere der Bruttoprofitrate, der sich allerdings stark zyklisch durchsetzt. So sieht man ein scheinbares Abheben der Profitrate Mitte der 1950er Jahre, dem ein Einbruch Mitte der 1960er Jahre folgt. Diese kann erst in den 1980er Jahren auf niedrigerem Niveau wieder stabilisiert werden. Es folgt ein neuerliches scheinbares Abheben Anfang der 1990er Jahre, das schon in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wieder stark einbricht. Die Erholung Anfang der 2000er kennen wir heute als von den Finanzmärkten aufgeblähten Scheinaufschwung, der in der großen Rezession von 2008/2009 mündete. Die Fortsetzung der Geschichte kann man regelmäßig aktualisiert im Blog von Michael Roberts nachlesen. Danach gab es zwar bis 2012 wiederum eine Erholung der Profitrate bis fast auf Vorkrisenniveau, um dann ab 2014 bis 2018 auf einen Wert unter 23 % zu fallen (mit langfristigem Trend zu weiterem Fallen).

Auffällig ist auch, dass das, was letztlich bei den Unternehmen an Gewinn verbleibt (nach allen Abzügen) relativ konstant ist – außer einem leichten Absinken in den 1970er Jahren. Dies ist offensichtlich vor allem auf Steuererleichterungen für die Unternehmen zurückzuführen. Andererseits drückt vor allem die Öffnung zwischen den beiden mittleren Kurven den Anstieg der Einnahmen des Finanzkapitals aus den Unternehmensgewinnen aus, deutlich zu Lasten der Steuerabgaben.

In einem lesenswerten Artikel [xlix] aus dem Jahr 2009 hat Dave Zachariah wichtige Anstöße für ein genaueres, auch mathematisches Verständnis der Profitratentheorie von Marx geliefert. Durch seine wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung der Werttheorie (die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit stellt sich ja immer erst „im Nachhinein“ her), kommt er zu weit präziseren Akkumulationsmodellen als solche, die Wertbegriffe durch neoklassische Variablen (in Preiskategorien) simulieren. Hierbei wird die Profitrate zu einem Erwartungswert, der sich aus verschiedenen möglichen Verteilungen von Kapital und Arbeit gemäß unterschiedlicher technischer Zusammensetzung des Kapitals ergibt. Ohne hier näher auf die Hintergründe einzugehen, sei nur gesagt, dass die Ausarbeitung Zachariahs dazu führt, dass es im Wesentlichen drei Komponenten gibt, die die Richtung der Entwicklung der Profitrate bestimmen:

„über dem Bruchstrich“: Wachstum von Beschäftigung (mehr ArbeiterInnen)

„über dem Bruchstrich“: Wachstum der Arbeitsproduktivität (mehr Wert pro ArbeiterIn)

„unter dem Bruchstrich“: Wachstum der Bruttoinvestitionen (Ersatz-/Neuanschaffung von Kapital)

Letzteres ist insofern wesentlich, da mit größer werdendem Kapitalstock, das Ausmaß der Ersatzinvestitionen enorm zunimmt und mit den geringer werdenden Neuinvestitionen der Spielraum für Steigerungen der Arbeitsproduktivität und Neubeschäftigung abnimmt. Die folgende Abbildung zeigt, dass in den alten Industrienationen das Gewicht der Ersatzinvestitionen gegenüber der Profitmasse (ganz wie Marx es vorausgesagt hat) immer stärker ansteigt:

Abbildung 13: Brutto- und Nettoinvestitionen in Relation zum BIP [l]

In den USA ist ersichtlich, dass die Gesamtinvestitionen seit den 1980er Jahren bei etwa 80 % der Profitmasse liegen, aber nur noch unter 20 % für Neuinvestitionen zur Verfügung stehen. In Japan übersteigen die Bruttoinvestitionen schon seit Mitte der 1970er Jahre die Eigenfinanzierung aus dem Profit, was längerfristig auch das relativ hohe Niveau von Neuinvestitionen seit den 1990ern zurückgehenlässt. Die Lücke zwischen Bruttoinvestitionen und Neuinvestitionen, die hier aufgeht, bedeutet letztlich, dass immer mehr akkumuliert wird, um bestehendes Kapital zu verwerten und der Spielraum für Steigerungen der Produktivität (als wesentliche entgegenwirkende Ursache zum Profitratenfall) geringer wird. Dieses Moment ist insbesondere seit Beginn der 2010er Jahre v. a. in den USA bestimmend.

Die genannten Faktoren machen für die Betrachtung von armen bzw. „mittleren“ Ländern klar:

  • Das Akkumulationspotential ist durch großes Arbeitskräfteangebot, geringeren Kapitalstock und große Möglichkeiten zu Produktivitätssteigerung hoch (Start mit hohen Profitraten)
  • Mangel an Kapital, Restriktionen zu Technologiezugang und fehlende „Mobilität“ von Arbeitskräften („rasch Beschäftigte mit richtigen Qualifikationen finden“) sind interne entgegenwirkende Faktoren.

Deswegen waren die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in allen diesen Ländern sehr verschieden, je nachdem wie die Potentiale für die Steigerung der Profitrate einerseits und den Kapitalaufbau andererseits genutzt werden konnten. Die folgende Abbildung zeigt einen Vergleich der Kapitalrenditen(Vorsicht: die Berechnung mithilfe von Kapitalproduktivität und Gewinnquote aus den Zahlen der Gesamtökonomie liefert nur einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Profitrate; außerdem ist die Penn-Reihe wieder lückenhaft und liefert für China natürlich erst seit 1995 Zahlen):

Abbildung 14: Profitratenberechnung auf Basis der EPWT

Für viele „Entwicklungsländer“ galt in den 1960er Jahren, dass sie von wesentlich höheren Profitraten als die imperialistischen Zentren starteten (z. B. Südkorea bei 70 %, Brasilien zwischen 50 und 60 %, gegenüber unter 40 % in den USA). Dies entspricht mehr den Erwartungen in Investitionsmöglichkeiten als tatsächlichen großen Fortschritten in der damaligen Zeit. Länder wie Algerien, die durch die Erdöl- und Erdgasindustrie schon einen großen Kapitalstock „geerbt“ hatten, fingen naturgemäß mit einer weitaus geringeren Profitrate an (hier 40 %).

Südkorea folgt dem klassischen Akkumulationsmodell: mit sehr schnell steigendem Kapitalstock sinkt sogar bei sinkender Lohnquote die Profitrate, bis sie sich um 2000 auf niedrigem Niveau stabilisiert. Wie gesehen hängt dies vor allem an einem langsameren Wachstum des Kapitalstocks gegenüber dem Wirtschaftswachstum, aber auch einem weiteren Sinken der Lohnquote. Beides deutet darauf hin, dass es Südkorea gelungen ist, seine Arbeitsproduktivität wesentlich zu verbessern.

In Brasilien wiederum führte der rasche Aufbau des Kaitalstocks während der Militärdiktatur (Halbierung der Kapitalproduktivität) schneller zu einem Sinken der Profitrate. Hier wirkte die Krise der 1980er Jahre, die den Aufbau des Kapitalstocks bremste, hin zur Wiederherstellung einer höheren Profitrate in den 1990er Jahren. Das wiederum befeuerte erneute Investitionen in Brasilien bis zum Einbruch nach 2014.

In Algerien ist der Fall der Profitrate in den 1970er Jahren kein Zeichen der Überakkumulation wie in Südkorea, sondern Ergebnis von geringer Veränderung von Arbeitsproduktivität und Beschäftigung im produktiven Sektor gegenüber einem aufgeblähten Kapitalstock der Energiewirtschaft. Das Sinken der Profitrate unter 20 % in den 1980er Jahren war zusammen mit der Krise der Ölindustrie der Auslöser einer schweren Wirtschaftskrise. In deren Verlauf wurde die Profitabilität offensichtlich wiederhergestellt. Wie an den zuvor dargestellten Daten ersichtlich, gelang dies vor allem durch ein extremes Senken der Lohnquote, d. h. von Löhnen und staatlichen Leistungen.

Wie ersichtlich, folgt der Verlauf der Profitraten in den Ländern mit abhängiger Entwicklung weniger eindeutigen Trends als die der US-Gesellschaften. Verschiedene Faktoren führen zu sehr unterschiedlichen Verläufen in den Ländern und Regionen. Außerdem sind die Ausschläge und Veränderungen weitaus dramatischer (auch im Volumen der Veränderung). Während sich die Entwicklung der Profitrate der US-Gesellschaften weitgehend aus endogenen Faktoren erklären lässt, sind für die nachholende Entwicklung exogene Faktoren, die als positive oder negative Einflüsse erscheinen (Abhängigkeit von Rohstoffexport oder -import, fehlende Arbeitskräfte, fehlendes investives Kapital, Verschuldungsproblem, … ), zusätzlich wichtig.

Architektur des Weltmarktes nach 1945

Die beschriebenen Momente in der Akkumulationsbewegung des Kapitals erklären nun auch Besonderheiten in der Entwicklung des Weltmarktes für Kapital und Waren. Die Überakkumulation von Kapital (wie sie oben insbesondere beim Verhältnis von Investitionen und Profit in der japanischen Ökonomie deutlich wurde) zwingt die großen Kapitale notwendigerweise, über Grenzen verschiedener Art hinauszugehen. Dies betrifft einerseits die Grenzen des Kapitals selbst (hin zu Finanz- und fiktivem Kapital), andererseits die tatsächlichen nationalen Grenzen. Es ist durchaus wichtig, beide Aspekte im Zusammenhang zu betrachten – und offensichtlich spielt bei beidem auch der Staat bzw. die „internationale Ordnung“ eine wichtige Rolle.

Die jeweilige nationale Sphäre des Kapitals ist zunächst auch eine Zirkulationssphäre, mit eigenem Geld, Finanzinstitutionen, staatlich geregelten Märkten und Grenzen für Zu- oder Abwanderung von Arbeitskräften. Zwischen den Zirkulationssphären vermittelt zuerst das Verhältnis des Geldes als Währung mit bestimmten Tauschverhältnissen. Nach der Theorie der ökonomischen Klassik ergibt sich das Tauschverhältnis zwischen den Währungen zweier Nationen aus den unterschiedlichen Verhältnissen ihrer Arbeitsproduktivität. Darauf basiert Ricardos Lehre von den „komparativen Kostenvorteilen“: Länder mit schwächerer Arbeitsproduktivität sind aufgrund von Handelsdefiziten zur Währungsabwertung gezwungen, wodurch in Folge bestimmte ihrer Sektoren konkurrenzfähig zu denen der produktiveren Länder würden. So sorge der Währungsmechanismus für eine internationale Arbeitsteilung zum Vorteile aller („Win-Win-Situation“). Offensichtlich ist Ricardos Lehre verbunden mit der Hypothese eines Freihandelsregimes und eines auf dem Goldstandard beruhenden internationalen Währungssystems: Ein Land mit Handelsüberschüssen sammelt Fremdwährung, die es zu Fälligkeitsterminen in „Goldziehungsrechten“ von den Ländern mit Handelsdefiziten begleichen kann. Die geringere reale Goldmenge dort bedeutet dann im internationalen Zahlungsverkehr eine Abwertung von deren Währung. Dieses Ideal des kapitalistischen Weltmarktes wird schon dadurch modifiziert, dass selbst im „Freihandelskapitalismus“ eine Unmenge an Handelsbeschränkungen und Zollschranken bestanden. Außerdem gibt es Ausgleichsbewegungen mit Einfluss auf die Arbeitsproduktivität durch die Zu- und Abwanderung von Arbeitskräften (oft mit folgenden Transferzahlungen in der stärkeren Währung).

Vor allem jedoch fließt Geld zwischen Ländern nicht nur in der Vermittlung des Austausches von Waren. In Ländern mit größerer Kapitalakkumulation entsteht die Tendenz, überakkumuliertes Kapital, das sich im Inland nicht mehr produktiv (mit entsprechenden Profitraten) anlegen lässt, im Währungsausland zu investieren. Dies kann sowohl in Form von zinstragendem Kapital, von Anlage auf Kapitalmärkten, als auch in direkter produktiver Anlage geschehen. Die stärkere Währung verbilligt noch zusätzlich die Anlage, die aber nur produktiv sein kann, wenn die Währungsverluste beim Rücktransfer durch entsprechend höhere Profitraten ausgeglichen werden. Die Masse des Rückflusses wird zusätzlich die Währung des Landes mit höheren Verbindlichkeiten schwächen. Da die Kreditfinanzierung immer mehr zum Standard internationaler Zahlungsvorgänge wurde, hat auch längst das Kreditgeld den Goldstandard ersetzt. Seit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods (benannt nach einem Ort in New Hampshire, USA) Anfang der 1970er Jahre ist der US-Dollar (jenseits der Goldbindung), mit dem Euro (seit den 2000ern) als Reservewährung, zur Basis des internationalen Zahlungsverkehrs geworden. Jedes Land muss entsprechende US-Dollar- (und Euro-) Reserven vorhalten, die bei langfristigen Handels- oder/und Kapitalbilanzdefiziten abschmelzen – oder eben die Währung abwerten. Mit Währungsabwertung ist sofort Verteuerung der Importe (d. h. zumeist Inflation) und eine Verbilligung ausländischer Kapitalanlage verbunden. Nur die USA (und in beschränkterer Weise auch die EU und Japan) können eine expansive Geldpolitik betreiben, ohne Folgen für die eigene Währung. Die Handelsbilanzdefizite der USA werden so durch eine hohe Inlandsverschuldung gedeckt, ohne auf die Stärke des US-Dollar zu wirken (entgegen der Lehre von den gegenseitigen Kostenvorteilen). Die Rolle des US-Dollar als Weltgeld gibt den USA einen quasi unbeschränkten Kreditrahmen, solange alle anderen Länder ihre Währungspolitik über den US-Dollar abwickeln.

Geschichtlich gesehen war der spanische Silberdollar seit dem 16. Jahrhundert das erste Weltgeld. Die jahrhundertelange Ausbeutung der bolivianischen und mexikanischen Silberminen und der „Silberhunger“ in China und Indien schufen eine globale Zirkulation von Silbergeld und „Welthandelswaren“ (SklavInnen, Zucker, Baumwolle, Tabak, Gewürze, Textilien, Porzellan, Transportleistungen, Waffen, … ), die in verschiedenen „Dreiecksbeziehungen“ internationale Handelszentren mit lokalen Märkten verbanden – und überall galt der spanische Silberdollar als anerkanntes Zahlungsmittel. Zugleich war der spanische Staat nicht in der Lage, eine entsprechende imperiale Rolle zu spielen, sondern versank sehr schnell in enormer Verschuldung (mehrere Staatsbankrotte schon im 17. Jahrhundert) und induzierte in Europa eine säkulare Inflation (schon allein dadurch, dass es eine große Differenz zwischen nominalem und realem Silbergehalt der in Umlauf gebrachten Münzen gab). Der Großteil des real durch europäischen Welthandel angeeigneten Mehrwerts wurde so in den nordeuropäischen Ökonomien (vor allem in den „7 unabhängigen Provinzen der Niederlande“ und England) akkumuliert, deren Handelsgesellschaften zu großen Welthandelsoperationen und frühindustrieller Fertigung in der Lage waren. Erst die industrielle Revolution mit konkurrenzlosen Billigwaren für den schon vorbereiteten Weltmarkt und der folgenden Verbilligung der Transportkosten schuf auch die Grundlagen für ein neues Weltgeld. Die ökonomische, politische und militärische Dominanz Großbritanniens auf „dem Weltmarkt“ brachte zum ersten Mal auch eine Macht hervor, die einen Weltwährungsmechanismus durchsetzen konnte. Nach der starken Entwertung des Silbers zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der bis dahin geltende Gold/Silber-Mix durch einen reinen Goldstandard ersetzt, wobei der Ausgleich des internationalen Zahlungsverkehrs in Bezug auf Gold, gemessen in „Pfund Sterling“, in letzter Instanz durch die Londoner Banken geregelt wurde. Der Zusammenbruch der britischen Hegemonie und die enorme Ausdehnung des Welthandels, aber auch der Finanzmärkte machten diese Bindung der Weltleitwährung an den Goldstandard immer unmöglicher. Auch wenn der US-Dollar als neue Weltleitwährung nach Bretton Woods zunächst wieder an den Goldstandard angebunden wurde, so ließ sich dies nicht lange halten: Wie Spanien waren die USA aufgrund ihrer Weltmachtrolle zu hoher Verschuldung gezwungen und eine Tendenz zur Stagnation der US-Industrie wurde begleitet von hohem Industriewachstum in Deutschland und Japan.

Inflation, Verschuldungsprobleme und die Überakkumulationskrisen der 1970er und frühen 1980er Jahre führten zu einer Phase des Übergangs zu einem neuen Weltwährungsmechanismus, der viel langwieriger und voller an Wendungen war, als es die Phrase vom „Zusammenbruch von Bretton Woods“ erscheinen lässt. Die Lösung, die Durchsetzung von auf Kredit basiertem Weltgeld in Form der Währungen zentraler imperialistischer Staaten (US-Dollar als Hauptwährung und von D-Mark, später Euro, und Yen als Reservewährungen) hat mehrere Voraussetzungen und Folgen: Sie ist stark an einen permanenten Aufschwung von globalen Handels- und Finanzmärkten gebunden, der Gewinne wieder in die Finanzierung der zugrundeliegenden Kreditformen (längst nicht mehr nur Staatsanleihen) zurückfließen lässt. Gelang dies zunächst über die Anerkennung von Offshore-Vermögen in diesen Leitwährungen (z. B. „Petrodollars“), so hat sich dies in eine starke Abhängigkeit von den deregulierten internationalen Finanzanlagemärkten hinein vervielfacht. Die oben entwickelte Vermögensinflation (gegenüber dem BIP-Wachstum) in den imperialistischen Ländern führt zu einer starken Anfälligkeit des Weltwährungssystems von den Anlagetendenzen dieser großen VermögenseignerInnen. Dazu kommt, dass die Verschuldungsprobleme außerhalb der imperialistischen Zentren damit genauso wenig gelöst sind wie die Fragen der Geldwertstabilität. Institutionen, die in Bretton Woods vorgeblich zum Ausgleich bei zeitweisen Handelsbilanzungleichgewichten oder zum Entwicklungsanschub gegründet wurden, nämlich IWF und Weltbank, wurden damit jetzt zu Instrumenten der Schuldenmoderation und des damit verbundenen Diktats von Wirtschaftspolitik im Interesse der GläubigerInnen.

Es wird somit klar, dass die Währungsrelationen nicht einfach auf unterschiedlichen Niveaus von Arbeitsproduktivität beruhen, sondern ebenso auf der Größe und Ausdehnungsfähigkeit der Kapitale der unterschiedlichen Länder und letztlich auch auf dem Währungsregime (heute dem US-Dollar als Weltkreditgeld). Was die unterschiedliche Verteilung des Kapitals weltweit, seine Zusammensetzung (Anteil des Finanzkapitals) und Überakkumulation (Zwang zur Suche nach produktiver Anlage betrifft), wurde oben schon einiges ausgeführt. Zusätzlich zur Neuordnung des internationalen Währungssystems während der 1970er und 1980er Jahre kommt jedoch auch noch die Veränderung der Weltmarkt- und Finanzmarkt-(De-)Regulierung hinzu. Entscheidendes Kriterium für „Kreditwürdigkeit“ sind seit den Verschuldungskrisen der 1970er und 1980er Jahre die von den „internationalen Institutionen“ geforderten Deregulierungen oder „Öffnungen“ des entsprechenden Landes in Bezug auf Waren- und Finanzmärkte. D. h. etwa Unterwerfung unter die Regularien der WTO, was Handelspolitik betrifft, Aufhebungen von Investitionsbeschränkungen, Verkauf wichtiger inländischer Industrien, keine Einschränkungen in Bezug auf Anlage auf dem inländischen Kapitalmarkt, Abverkauf der inländischen Banken etc. Das betrifft aber auch die Deregulierung der Finanzmärkte selbst: Abschwächung von Eigenkapitaldeckung und Regeln für die Besicherung von Finanzgeschäften, Aufhebung von internationalen Beschränkungen für Finanzgeschäfte, Verbriefung von fast allem (vor allem von Schulden aller Art), Erleichterung internationaler Finanzgeschäfte durch immer größere Fortschritte in der IT-Industrie, etc.

In Folge der „Entfesselung“ der internationalen Finanzmärkte in der Globalisierungsperiode ergab sich parallel zur Steigerung der globalen Akkumulation eine noch rascher wachsende von fiktivem Kapital. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargestellt haben, handelt es sich dabei (wie Marx schon im dritten Band des Kapitals entwickelt hat) um eine nur scheinbare Verdoppelung von Kapital: Tatsächlich Profit abwerfendes Kapital erscheint in Wertpapieren, die seine Verwertung repräsentieren, nochmals als „Kapital“. Durch die Berechnung eines fiktiven Kapitalpreises (wie etwa in der Wertpapierdiskontierung) scheint es, seine eigene Verwertung, losgelöst von seinem produktiven Ursprung, zu ermöglichen. Anders als beim Zins, der an bestimmte Fälligkeitstermine gebunden ist, und damit viel schneller an die Profitentwicklung rückgekoppelt ist, kann fiktives Kapital weiterwachsen, solange seine VerkäuferInnen immer wieder auch AbnehmerInnen finden. Die modernen Finanzmarktkrisen zeigen, dass die Profitabilitätsprobleme des Realkapitals irgendwann eben dazu führen, dass sich in genügend großer Zahl keine KäuferInnen mehr finden und es dann zum Crash kommt. In den 2000er Jahren waren die bürgerlichen ÖkonomInnen allgemein der Auffassung, dass eine Ausdehnung des Kredits, eine darauf basierende Verbriefung von Schulden und astronomisch wachsende Finanzmärkte letztlich auch das realwirtschaftliche Wachstum durch „Multiplikatoreffekte“ zum Abheben bringen würden. Tatsächlich führte dies zur Finanzkrise 2007, der Krise des internationalen Zahlungsverkehrs, dem Fast-Zusammenbruch des Welthandels und in Folge zu der schweren weltweiten Rezession 2008/2009. In Folge setzte man aber im Wesentlichen dieselbe Politik fort (wenn auch mit ein paar leichten Regulierungen in Bezug auf Sicherheiten und Eigenkapitaldeckung). Auch heute wird wieder auf das Wachstum der Finanzmärkte gesetzt und verdutzt darauf gesehen, dass das realwirtschaftliche Wachstum nicht vom Fleck kommt – um dann verwirrt zu erklären, dass sich vielleicht etwas fundamental am „Funktionieren der Märkte“ verändert habe, das man nicht versteht.

Es ist klar, dass sich diese „Explosion der Finanzmärkte“ vor allem in den imperialistischen Zentren abgespielt hat, wo nicht nur die größten Vermögen angehäuft, sondern auch die Institutionen beheimatet sind, die die weltweiten Vermögen für die Weiterinvestition einsammeln. Andererseits waren neben dem Immobiliengeschäft und den Investitionen in die neoliberale Privatisierung aber auch die Investitionen in die „emerging markets“, die „aufstrebenden“ Entwicklungsökonomien, vor allem in Asien, Ziel der globalen Anlagestrategien dieser Institutionen. Mit der wachsenden privaten Verschuldung in den USA wuchs zugleich der Import an immer billigeren Waren aus Asien. Die starke Akkumulation in Asien schien somit durch die Verschuldungspolitik in den Zentren die notwendige Nachfrage zu finden, während gleichzeitig die Masse der Bevölkerung auf beiden Seiten Wohlstandsgewinne erziele (eine neue „Win-Win“-Story). Allein die Geldmarktfonds in den USA (in deren Titeln der Großteil des internationalen Zahlungsverkehrs abgewickelt wird und die meist mit einem Mix an Schuldtiteln gesichert werden) wuchsen bis 2005 auf ein Verhältnis von 145 % gegenüber dem US-BIP (Geldmenge M3). Anders als in den 1970er Jahren führte diese extreme Ausdehnung von Kredit- und Geldmenge nicht zur Inflation, da dies durch die immer mehr sinkenden Erzeugerpreise ausgeglichen wurde. Andererseits führte die Finanzkrise 2007 durch das Übergreifen auf die Geldmarkfonds unmittelbar zu einer Geldkrise, die den Fast-Kollaps 2008 besonders dramatisch machte.

Finanzmarktkrisen (rasche Entwertung von fiktivem Kapital) führen damit sofort zu einer Kette von Zahlungsproblemen für die nicht einbringbaren Schulden, zu einer Masse an Pfändungen auf Vermögenswerte, allgemein zu Liquiditätsproblemen (Geld als Zahlungsmittel). Die Finanzmarktkrise geht damit unmittelbar in eine Bankenkrise über, sofern Schulden in großer Zahl tatsächlich abgeschrieben werden müssen und die Eigenkapitaldeckung für die Begleichung der eigenen Verbindlichkeiten auch nicht mehr ausreicht. Dem folgt unmittelbar eine „Kreditklemme“ für das produktive Kapital, das seine Überakkumulation nicht mehr durch Finanzmärkte und Schuldenausdehnung finanzieren kann. Die Krise kehrt dann zu ihrem Ausgangspunkt zurück und äußert sich in Produktionsstillegung, Abschreibung von produktivem Kapital und Massenentlassungen. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den imperialistischen Zentren und der Peripherie ist nun die Rolle des bürgerlichen Staates in diesem Krisenmechanismus. In den imperialistischen Staaten stehen genug Vermögenswerte auch im öffentlichen Sektor zur Verfügung, um bei schweren Finanzmarktkrisen eine Bankenkrise durch Übernahme (quasi Verstaatlichung) von nicht einbringbaren Schulden abzubremsen (z. B. durch die Bildung von „bad banks“ in öffentlicher Hand, direkte Umwandlung in Staatsschulden etc.). Gleichzeitig können die Zentralbanken imperialistischer Staaten (durch die Rolle von US-Dollar, Yen und Euro im Weltwährungssystem) ihre Geldmengen trotz Krise sogar ausweiten (Niedrigzinspolitik), um Liquiditätsprobleme zu überwinden. Damit werden Kreditklemmen im Allgemeinen rasch überwunden und Auswirkungen auf das produktive Kapital abgefedert.

Ganz anders die Rolle des Staates bei Krisen in Halbkolonien: Hier muss zur Sicherung der eigenen Finanzmärkte und des Zuflusses an Kapital der Staat zumeist eine aggressive Austeritätspolitik (Schuldenabbau) und eine restriktive Geldpolitik (Hochzinspolitik) durchführen, um gleichzeitig bei der „Bankenrettung“ insbesondere die ausländischen Verbindlichkeiten derselben zu bedienen – was selbst wieder zu einer noch größeren Vermögensübertragung an ausländisches Kapital führt (bzw. den Staat als Schuldner eben zu der Austeritätspolitik zwingt). An dieser Stelle wirken dann die bekannten internationalen Institutionen, insbesondere der IWF und die Weltbank, als die Hebel zur Durchsetzung einer entsprechenden „Krisenpolitik“. Während der Staat in den imperialistischen Zentren als Abfederung im Krisenfall dient, wirkt er in den Halbkolonien als Verstärker, dessen Hauptfunktion die Rettung des Werts der ausländischen Direktinvestitionen ist.

Eine weitere Kehrseite des großen Kapitalzuflusses in die „emerging markets“ ist einerseits die Verstärkung der Finanzierungsprobleme derjenigen Länder, die entweder sich nicht an die vom Finanzkapital definierten Regeln halten (siehe Argentinienkrise) oder keine entsprechenden Investitionsmöglichkeiten bieten (siehe vor allem große Teile Afrikas). Auch diejenigen, die von den Investitionen „begünstigt“ werden, haben bestimmte Konsequenzen zu tragen: Viele der Investitionen werden tatsächlich im Rahmen von Privatisierungen oder dem Aufbau von GVCs getätigt. Bei beidem handelt es sich um eine Form der abhängigen Entwicklung. Vor allem ist diese darauf ausgerichtet, die günstigen Ausbeutungsbedingungen in den betroffenen Ländern auszunützen. Insbesondere die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse wird dabei sowohl quantitativ (starker Anstieg der Proletarisierung) als auch in der Form von Kontrolle und Repression gefördert. Dies wird nicht zuletzt auch durch die Zahlen zu Anstieg der Beschäftigung, Wachstumsraten und gleichzeitigem Sinken der Lohnquote, die wir schon angeführt haben, deutlich.

Zusätzlich wird auch der Handel von Primärgütern immer stärker von den Finanzmärkten dominiert. Ein Faktor, der sich in den letzten Jahrzehnten dabei in den Vordergrund geschoben hat, ist die Bedeutung der Waren- und Terminbörsen. Rohstoffe und Agrargüter werden immer weniger direkt gehandelt, sondern vermittelt über diese Agenturen. So wird das Kilo Kaffee schon lange vor seiner Ernte an einer Terminbörse verkauft, zu einem Preis, der auf Annahmen beruht, wie diese tatsächliche Ernte ausfällt. Zumeist tragen damit die ErzeugerInnen das Risiko für Ernteausfälle bzw. erhalten damit oft unerfüllbare Vorgaben. Denn viele kleine AnbieterInnen stehen hier der geballten Handelsmacht des großen Kapitals gegenüber, das damit das ganze Risiko der Marktschwankungen auf die Menschen in den armen Ländern abschiebt. Auf der Produktionsseite dagegen sind es auch immer größer werdende Konzerne, die z. B. weltweit Saatgut oder Düngemittel monopolisieren und so ebenfalls die kleinen ErzeugerInnen in ihre Abhängigkeit bringen. So setzt sich auch im Agrarsektor die Smile-Kurve durch: Am Beginn und am Ende stehen große Konzerne und Finanziers im „Norden“, die den Löwenanteil an der „Wertschöpfung“ abbekommen, während die eigentlichen ProduzentInnen im „Süden“ kaum etwas vom Endpreis erhalten.

Insgesamt kann man daher die Funktionsweise des modernen Neokolonialismus so zusammenfassen:

  • Die weltweite Verteilung des Kapitals konzentriert die Massen des verfügbaren Finanzkapitals im globalen Norden
  • Die Deregulierung der globalen Finanzmärkte und das gegenwärtige Welthandelsregime zwingen die Länder des globalen Südens zur Öffnung ihrer Märkte für globalen Kapitalzufluss, ohne den die eigene Wirtschaft unterkapitalisiert und krisenhaft wäre
  • Der Zwang zum Aufbau von US-Dollarreserven und der Zufluss von US-Dollar-Kapital führen zu starker Ausrichtung der Wirtschaft auf Exportsektoren und die Sektoren, für die ausländische Direktinvestitionen sich interessieren könnten; eine eigenständige Wirtschaftspolitik und Entwicklung sind so nicht möglich, ganz gleich welche Regierung an die Macht kommt
  • Die Entwicklung der eigenen Industrie gliedert sich ein in „globale Wertschöpfungsketten“ (GVCs) nach dem Muster der Smile-Kurven, mit den ProduzentInnen im Süden im Bereich des Minimums der Kurve
  • Der Welthandel wird durch Finanzkonzerne, Waren- und Terminbörsen und die Regeln der WTO strukturiert – alles Elemente, die die ungünstigen Terms of Trade zwischen Norden und Süden verewigen
  • Die Durchsetzung des US-Dollar (und als Reserve Euro, Yen) als Weltwährung ermöglicht zusammen mit den niedrigen Erzeugerpreisen aus dem Süden einen Aufschub von Überakkumulationskrisen im Norden auf Grundlage einer auf Schulden basierten Akkumulation von fiktivem Kapital; dies führt einerseits zum Verschieben der Krisenrisiken in den globalen Süden, andererseits zur Gefahr von Finanzmarktkrisen, die die ganze Welt erschüttern (um dann besonders im Süden ausgebadet zu werden)
  • Im Krisenfall wirken die imperialistischen Staaten als Abfederung von Finanzierungs- und Liquiditätsproblemen für ihre eigenen Ökonomien, während sie in den Halbkolonien als Verstärker dieser Probleme wirken und die Sicherung der ausländischen Investitionen als primäre Aufgabe verfolgen; dies wird durch Institutionen wie IWF und Weltbank abgesichert; die Krise schlägt in den Halbkolonien notwendig auf Einbrüche in Produktion und Massenkaufkraft durch

Natürlich haben sich unter diesen Bedingungen einige halbkoloniale Ökonomien stark „entwickelt“, d. h. haben große Kapitalstöcke und ArbeiterInnenklassen aufgebaut. Andere Ökonomien sind dabei jedoch auf der Strecke geblieben (bis hinunter zu den „failed states“). Andere verblieben auf dem Status, wesentlich Rohstofflieferantinnen zu sein, andere wiederum sind gegenüber schon erreichten Ständen stark zurückgefallen (wie Argentinien, Algerien/Nordafrika, Südafrika). Auch dort wo Entwicklung stattfand, ist diese primär im Interesse des globalen Kapitals vor sich gegangen, ist also weiterhin „abhängige Entwicklung“. Richtig ist aber, dass sich das Bild heute sehr viel uneinheitlicher als noch in den 1960er Jahren darstellt. Dazu kommt, dass mit China und Russland neue imperialistische Großmächte beim Kampf um die Regulierung und Aufteilung der Weltmärkte dazugekommen sind und einige Halbkolonien, wie Südkorea und Taiwan, rein ökonomisch gesehen zu den „reichen Ländern“ aufgeschlossen haben. Dies führt insgesamt zu einer schärferen Konkurrenzsituation zwischen den großen Kapitalen, was insbesondere die hegemoniale Position des US-Kapitals in der imperialen Ordnung, wie sie seit dem 2. Weltkrieg bestand, untergräbt. Damit werden auch die Verhältnisse und Mechanismen, mit denen bislang neokoloniale Kontrolle ausgeübt wurde, verändert. Investitionen und Kredite aus China und dessen eigene imperiale Projekte (wie die „neue Seidenstraße“) scheinen als „Alternative“ zu den bisherigen Vorgaben aus den anderen imperialistischen Zentren. Die Antwort der USA in Form von scharfen Konflikten um Handelspolitik ließ nicht lange auf sich warten. Der Kampf um die Neuordnung des Weltmarktes und des Weltwährungssystems hat längst begonnen.

Aus der Darstellung der Durchsetzung von „Entwicklung als Entwicklung von Abhängigkeit“ wird deutlich, dass die primäre Funktion der „neokolonialen Beherrschung“ die Erschließung der Halbkolonien für die Akkumulationsbedürfnisse des imperialen Kapitals ist. Insbesondere für die Überakkumulationstendenzen dieses Kapitals stellt die halbkoloniale Ökonomie eine wesentliche entgegenwirkende Ursache für Profitabilitätsprobleme, Nachfrageschranken und Verengung von Investitionsmöglichkeiten dar. Sekundär folgt dann auch ein Profitabfluss (für die Erträge von Direktinvestitionen) und ein Handelsgewinn (aufgrund der Terms of Trade). Dies sind auch in Preisen messbare Werttransfers in die imperialistischen Zentren. Doch sind die Preiskategorien hierbei stark irreführend. Wie an den Beispielen der GVCs und der Agrarpreise dargestellt wurde, werden Weltmarktpreise in diesen Sektoren so gebildet, dass in Bezug auf die Wertschöpfung die in den Halbkolonien geleistete Arbeit systematisch unterbewertet wird gegenüber den Finanz- und Handelsspannen der Weltmarktkonzerne. Das heißt, hinter den in US-Dollar messbaren Geldtransfers in die Metropolen steht noch ein weitaus größerer Werttransfer, der sich hinter der Bildung von Weltmarktpreisen verbirgt.

Werttransfers und Kapitalexport

Doch zunächst sollte auch der in den offiziellen Kapitalbilanzen messbare Werttransfer erwähnt werden. Eine Form der Darstellung, die z. B. Piketty verwendet, ist die Differenz von Inlandsprodukt und Nationaleinkommen. Die Größe der Inlandsproduktion wird zunächst aus dem BIP durch Abrechnung der Abschreibungen auf Vermögenswerte berechnet – davon wird dann zur Bildung des Nationaleinkommens der „Außenbeitrag“ ab- bzw. zugerechnet. Dies ist das Netto aus den Kapitaleinkünften (bzw. auch Transferzahlungen, die aber dagegen zu vernachlässigen sind) zwischen In- und Ausland. Ein Land, in dem es einen größeren Zufluss an Zinsen, Dividenden, Erträgen aus Kapitalanlagen bzw. Verkäufen derselben als einen Abfluss davon gibt, hat einen positiven Außenbeitrag. Die Weltbank verwendet den Prozentsatz des Außenbeitrages mit positivem oder negativem Vorzeichen als Indikator für „Entwicklung“ und Kreditwürdigkeit eines Landes. Zumeist wird hier das Verhältnis von Bruttoinlandsvermögen (GNI) zu Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrachtet (d. h. es wird bei beiden Werten die Abschreibung nicht berücksichtigt). Die folgende Abbildung zeigt an drei Beispielen den typischen Vergleich zwischen imperialistischer und halbkolonialer Welt (der Achsenwert „1“ bedeutet keine Auswirkung des Außenbeitrags; „1,xx“ bedeutet, dass xx % zusätzliche Werte aus dem Ausland in das im Inland zu Verfügung stehende Einkommen eingehen; „0,yy“ bedeutet, dass (100-yy) % des eigenen Inlandsprodukts an Werten ins Ausland abfließen).

Abbildung 15: Verhältnis von Nationaleinkommen und Sozialprodukt [li]

Die Kurve für Japan zeigt seit den 1980er Jahren konstant nach oben und wurde auch durch die Finanzmarktkrise nicht wesentlich gebremst. Japan hat heute einen positiven Außenbeitrag von um die 3 %. D. h. etwa 10 % der Profiteinnahmen des japanischen Kapitals kommen aus dem Saldo von Auslandsinvestitionen und Investitionen von ausländischem Kapital in Japan. Auch bei dem geringen Wachstum der japanischen Ökonomie der letzten Jahre sind so weitere Gewinnsteigerungen möglich. Japan und Deutschland (das heute bei gewöhnlich über 2 % Außensaldo liegt) sind dabei von den großen imperialistischen Ländern die größten Profiteure von Kapitaleinkommen aus dem Weltmarkt (was auch mit der Rolle von Finanzgeschäften entlang der GVCs zu tun hat). Spitzenreiter ist allerdings Norwegen, dass durch seine Ölfonds und deren weltweite Anlagen heute über 4 % Außenbeitrag erzielt. Die USA bieiben mit 1 % eher im unteren Feld der ImperialistInnen, was angesichts der steigenden Verschuldung sogar erstaunlich ist. Dies liegt daran, dass die USA trotz riesigen Handelsbilanzdefizits und hoher Staats- und Privatschulden weiterhin beständige Kapitalzufuhr (in den „sicheren Hafen“ des Zentrums des US-Dollars) erfahren. Die riesigen Vermögen und diese Kapitalzufuhr erlauben es wiederum den USA, als größte Kapitalexporteurin zu agieren und so die eigenen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland mehr als nur bedienen zu können. Während und um die Finanzmarktkrise von 2006-2012 sank der Außenbeitrag allerdings auf nur knapp über 0 %.

Ganz anders halbkoloniale Ökonomien: Das Beispiel Argentiniens zeigt, wie unmittelbar ökonomische Krisen auch in Kapitalabfluss und einen negativen Außenbeitrag durchschlagen. Anfang der 1980er Jahre, während der „Verschuldungskrise“ in Lateinamerika, stieg der abzuliefernde Außenbeitrag sogar auf über 5 %. Dies ist im Übrigen der Wert, der im Durchschnitt heute für Afrika gilt. Ein solcher Wert bedeutet, dass etwa ein Sechstel des Profits abzuliefern ist bzw. bei langfristiger Dauer ein entsprechender Teil des Kapitals direkt von ausländischem Kapital beherrscht sein wird. Da ausländisches Kapital sich auf wesentliche, für den Export relevante Sektoren konzentriert, gehen Schätzungen davon aus, dass in afrikanischen Ländern 30 – 40 % der Schlüsselindustrien in Auslandsbesitz sind.

Lateinamerika fiel während des „verlorenen Jahrzehnts“ auch auf dieses Niveau zurück. Dies hatte auch dort zu einem massiven Ausverkauf und einem Abwürgen von weiterer Entwicklung durch die Schuldendienste an die imperialistischen Länder geführt. Ende der 1980er Jahre kam es zu einem teilweisen „Schuldenerlass“, der mit harten wirtschaftspolitischen Auflagen gekoppelt war (Brady-Plan). Danach sank der Außenbeitrag zunächst wieder auf das für „entwickelte Halbkolonien“ übliche Ausmaß von 1 – 2 % (Brasilien hat es von 1995 bis heute auf konstant unter 1 % negativen Außenbeitrag geschafft, manchmal sogar bei günstigem Stand der Rohstoffmärkte einen positiven). In Argentinien dagegen schlug die schwere Finanzmarktkrise Ende der 1990er Jahre mit der folgenden Wirtschaftskrise in den frühen 2000er Jahren auch in einen enorm hohen Außenbeitrag durch. Dieser fiel maximal sogar auf über 10 % aus, was also heißt, dass sogar ein Drittel der Profite an internationale KapitalgeberInnen abzuliefern war. Die folgende Erhöhung hat lediglich zu einem Niveau von -3 % geführt, was immer noch für die schwächelnde argentinische Wirtschaft viel zu hoch für eine Erholungskonjunktur ist.

Die Entwicklung des Außenbeitrags von Ghana (einer für Afrika relativ stabilen Ökonomie) zeigt wiederum, wie stark die „große Rezession“ besonders für halbkoloniale Länder durchgeschlagen ist. Einerseits waren bei den eingetriebenen Schulden im Gefolge der Neubewertung von Auslandsinvestitionen tatsächlich viele Schulden oder „Vermögenswerte“ in Halbkolonien betroffen, die in unmittelbaren Zahlungsforderungen mündeten. Insbesondere die unmittelbar nach der Krise hohen Rohstoff- und Agrarpreise haben zusätzlich zu Zahlungsproblemen für Länder wie Ghana geführt. Erst das Sinken der Ölpreise und der Aufschwung der eigenen Goldschürfung führte zu einer Stabilisierung des Außenbeitrags von Ghana bei etwa -2 %.

Überraschenderweise ist auch bei den meisten asiatischen Ländern (außer China, Japan, Südkorea und Taiwan) der Außenbeitrag relativ hoch. So etwa bei Malaysia, das in den 1980er Jahren zwischen -4 und -8 % hin- und herpendelte, um sich in den 1990ern auf -5 % zu stabilisieren. Nach der Asienkrise fiel der Beitrag sogar wieder auf -9 %, um bis zur „großen Rezession“ auf -2 % zu steigen. Danach fiel man bis heute wieder auf das -4 %-Niveau zurück. Hier wird deutlich, dass viele der asiatischen Wachstumsmärkte stark vom Zufluss ausländischen Kapitals abhängig sind und damit auch ein hohes Niveau an Abfluss von Kapitalgewinnen aufweisen. Auch wenn Indien in den letzten Jahren beträchtliches eigenes Kapital gebildet hat, gehört es weiterhin zu den Netto-Kapitalimporteuren. Seit den 1970er Jahren gab es kein einziges Jahr bis heute, in dem Indien einen positiven Außenbeitrag aufwies. In den letzten Jahren hat sich das Niveau auf -1 % bis -2 % eingependelt. Südkorea hatte bis 2010 ebenfalls zumeist einen geringen negativen Außenbeitrag. Seitdem jedoch gehört es zu den Nettokapitalexporteuren (auch wenn auf niedrigem Niveau eines Außenbeitrags unter +1 %). Das deutet darauf hin, dass es große eigene Kapitale gibt, deren Auslandsgewinne inzwischen nachhaltig den Kapitalabfluss durch Investitionen ausländischen Kapitals (insbesondere aus Japan und China) ausgleichen können. China selbst schwankt beständig zwischen einem geringen Nettoplus und -minus. Angesichts dessen, dass China international das Hauptziel von Investitionen ist, zeigt dies zweierlei: einerseits, dass die Kapitalmarktregulierungen in China den Kapitalzufluss an Bedingungen knüpfen, die einen großen Teil der Gewinne in China selbst belassen; andererseits, dass China inzwischen selbst, ob über Staatsfonds oder privates Kapital, in großem Stil Kapitalexport betreibt. Auf jeden Fall spricht die Erfolgsgeschichte Chinas nicht gerade für den Mythos, dass die unbeschränkte Öffnung für Auslandskapital das erfolgreiche „Entwicklungskonzept“ ist.

Der Kapitalfluss zwischen Ländern besteht im Wesentlichen aus direkten Kreditgeschäften, „Portfolioinvestitionen“ (hauptsächlich Anteilseigentum, z. B. Aktien, oder Anleihen, z. B. Staats- oder Unternehmensanleihen) und „Direktinvestitionen“ (auf Englisch „FDI“ abgekürzt). Für die am wenigsten entwickelten Länder spielen zumeist Transferzahlungen (z. B. Rücküberweisungen von MigrantInnen „nach Hause“) und die „Entwicklungshilfe“ („Official Development Assistance“; ODA) eine wichtige Rolle. Die Abbildung zeigt den Anteil der verschiedenen Kapitalzuflüsse für die Länder, die die UNO-Entwicklungshilfeorganisation heute noch als „Entwicklungsländer“ bezeichnet (dazu zählen auch China und Südkorea):

Abbildung 16: Kapitalzufluss in die „developing countries“ [lii]

Hier wird deutlich, dass neben Transferzahlungen und „Entwicklungshilfe“ die ausländischen Direktinvestitionen das stabilste Element sind. Portfolioinvestitionen folgen den raschen spekulativen Strömen der internationalen Finanzmärkte, während die Kreditvergabe offensichtlich auch schnell in die eine oder andere Richtung geht. FDIs sind langfristigere Investitionen, bei denen das Auslandskapital auch die Managementkontrolle ausübt und die daher nicht so „volatil“ sind wie die anderen Kapitalzuflüsse. Daher ist die langfristige Entwicklung der FDIs der wichtigste Indikator für die Frage der internationalen Kapitaldurchdringung. Dabei ist zu beachten, dass schon seit der Schaffung des modernen Weltmarktes nach dem 2. Weltkrieg die Hauptströme von FDIs zwischen den imperialistischen Ländern fließen (auch heute noch, unter Einschluss von China, über zwei Drittel). Auch was den Rest der Welt betrifft, sind auch in den einzelnen Regionen bestimmte Länder Schwerpunkte des FDI-Zuflusses (in Lateinamerika z. B. in den letzten Jahren Brasilien). Nur was Asien betrifft, gibt es eine breitere Streuung. Auch stehen jeweils bestimmte Wirtschaftssektoren (z. B. Chemie, Pharma, Agroindustrie, Zulieferindustrien etc.) im Fokus des jeweiligen Landes. In der Form laufen die Investitionen entweder als tatsächliche Neuanlage („greenfield investment“) oder als Übernahme/Fusion von/mit bestehendem Kapital vor Ort ab. Gerade was „Entwicklungsländer“ betrifft, liegen in der Mehrzahl Übernahmen vor. Es ist auch klar, dass die Hauptakteure von FDIs multinationale Konzerne sind, deren Hauptquartiere sich zumeist in den imperialistischen Metropolen befinden.

Nach dem Gesagten ist es nicht verwunderlich, dass das größte Ziel von FDIs die USA ist. Von den etwa 2 Billionen US-Dollar, die 2017 in FDIs ins Ausland flossen, gingen 277 Milliarden in die USA (zusammen mit Kanada das Doppelte gegenüber dem Rest des amerikanischen Kontinents, auf den 147 Milliarden entfielen), gefolgt von China (134 Milliarden; allerdings mit engen Beziehungen zu den 111 Milliarden in Hongkong). Zusammen genommen war die europäische Union mit 342 Milliarden sogar der größte Block (zusätzlich machen die FDIs innerhalb Europas einen weiteren großen Anteil an den weltweiten FDIs aus). Als zentrale Drehscheibe für den asiatischen Raum spielt zusätzlich noch Singapur (76 Milliarden) eine große Rolle sowie Brasilien für Lateinamerika (68 Mrd). Danach folgt eine Gruppe von „mittelwichtigen“ Investitionszielen: Australien (42), Indien (40), Mexiko (32), Russland (26), Indonesien (21), Israel (18), Südkorea (18), Vietnam (14). Danach kommen noch einige Länder, die zumeist über 10 Milliarden erhalten (Kolumbien, Chile, Türkei, Arabische Emirate). Der Rest der Welt (darunter ganz Afrika) läuft unter „ferner liefen“ (konstant unter 10 Milliarden).

Noch deutlicher ist die Statistik, wenn man die HaupttäterInnen bei den FDIs betrachtet: hier machen die alten imperialistischen Ökonomien 80 – 60 % (je nach Konjunktur) aus. Dabei ergibt sich jedoch ein leicht anderes Bild der HauptakteurInnen, denn hier ist Japan einer der größten Investoren (mit 160 Mrd. 2017), knapp gefolgt von China (158 Mrd.; hier sind die 87 Mrd. von Hongkong zu einem großen Teil wohl Durchlaufposten für Auslandsinvestitionen nach China selbst). Danach folgen aber mit Auslandsinvestitionen um die 100 Milliarden Deutschland, Frankreich und Britannien und mit gewissem Abstand die Niederlande, Spanien, Italien und Schweden, so dass die EU wiederum auch die größte Kapitalexporteurin ist (insgesamt etwa 412 Milliarden). In Asien spielen ansonsten Südkorea (34), Singapur (44) und Taiwan (12) eine relevante Rolle. Dies wird noch ergänzt um die reichen arabischen Ölstaaten, die auch milliardenschwere Auslandsinvestitionen tätigen. Die USA liegen in den meisten Jahren an der Spitze der AuslandsinvestorInnen (2017: etwa 300 Milliarden). Ein Großteil der 2010er Jahre überwog aber der Kapitalzufluss den Kapitalabfluss (besonders dramatisch 2018, wo 300 Milliarden mehr in die USA flossen, als anderswo investiert wurde).

Damit wird auch klar, dass der so entstehende Kapitalstock (weltweit etwa 30 Billionen US-Dollar) einerseits stark in den imperialistischen Ländern konzentriert ist, andererseits aber noch viel mehr sich in ihrem Besitz befindet. Die Abbildung zeigt die Verteilung des Kapitalstocks ausländischer Firmen pro Region, gegenüber dem Besitz von Firmen im Ausland, ebenfalls nach Region:

Abbildung 17: Weltweite Anlage von Auslandsdirektinvestitionen wo und von wem, 2017 [liii]

Es wird klar, dass der Kapitalstock, der durch FDI aufgebaut wurde, insbesondere in den USA und Europa residiert, während sich derjenige in China (mit Vermittlung über Hongkong bzw. Singapur) erst im Aufbau befindet. Während sich der FDI-Kapitalstock insgesamt zu etwa zwei Drittel in den imperialistischen Ländern befindet, besitzen diese Ökonomien sogar etwa drei Viertel des weltweiten FDI-Kapitalstocks.

Diese Differenz erklärt den konstanten Abfluss von Kapitaleinkünften in die imperialistischen Zentren. Die FDI sind dabei das Element, dass diesen Abfluss konstant macht, mit zyklischen Verstärkungen durch Schuldrückzahlungen oder Abfluss von kurzfristigerem Anlagekapital.

Trotz dieser größeren Stetigkeit von FDIs unterliegen sie aber selbst auch starken Weltmarkzyklen, die mit den Überakkumulations- und Krisentendenzen in den Zentren eng verbunden sind.

Abbildung 18: Zyklen der Auslandsdirektinvestitionen seit den 1980er Jahren [liv]

Hier wird die Entwicklung der jährlichen FDI-Zuflüsse als Wachstumskurve mit dem Jahr 2010 als 100 %-Vergleichsmarke dargestellt. Die offensichtlich großen Ausschläge der Kurve werden wiederum durch Filterung mit einer langfristigen Tendenzkurve unterlegt. Daraus ergibt sich eine über den Kurven festgehaltene Periodisierung der FDI-Entwicklung:

  • Eine enorm starke Zunahme von FDIs mit durchschnittlich jährlichem Wachstum um 21 % in der Hochphase der „Globalisierung“ in den 1990er Jahren
  • Eine Abschwächung der FDIs auf immer noch hohe 8 %-Raten zwischen 2000 und 2007, wohl im Gefolge solcher Krisen wie derjenigen in Mexiko, Russland, Argentinien, aber vor allem der Asien- und Dotcom-Krise
  • Schließlich eine stagnative Tendenz nach der großen Rezession.

Die starken Einbrüche in der FDI-Entwicklung – 2000, 2007, 2012, 2016 – bedeuten jeweils für bestimmte Ökonomien, die ihre Akkumulationsbewegung auf den Weltmarkt ausgerichtet haben, eine stark krisenbeschleunigende Wirkung. Dies kann man nach 2012 und 2016 derzeit deutlich an heftigen Krisenerscheinungen in mehreren „Schwellenländern“ beobachten (z. B. Brasilien, Türkei, Argentinien, Ägypten, Indien).

Werttransfer und „ungleicher Tausch“

Die klassische Imperialismustheorie leitet die dominierende Rolle der Metropolen auf dem Weltmarkt ab aus der Rolle von deren Monopol- und Finanzkapital in der weltweiten Akkumulation. Diese verhindern (bis auf wenige Ausnahmen) durch ihre beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt und durch die Auswirkungen ihres Kapitalexports das Aufkommen neuer, konkurrierender großer Kapitale in Ländern eines niedrigeren Entwicklungsstandes (im Sinne der kapitalistischen Entwicklung). Damit bleibt deren Kapitalakkumulation immer abhängig und untergeordnet gegenüber derjenigen der Metropolen, die sie für die Gewinnung von Extraprofiten aus ihrem Kapitalexport nutzen können bzw. zur Abmilderung von Krisentendenzen im Zentrum.

Schon die Anfänge der Dependenztheorie haben der klassischen Imperialismustheorie widersprochen, indem sie die langfristigen Tendenzen der Kapitalakkumulation nicht aus der Krisentendenz (Überakkumulation), sondern aus der Stagnation des Monopolkapitals (unproduktive Konsumption des Surplus) hergeleitet hat. Diese würde eine Ausnutzung der wirklichen Entwicklungspotentiale in der Peripherie verhindern und diese stattdessen in eine Hierarchie der Ablieferung von Surplus einbinden. Diese Grundausrichtung vor allem von Frank wurde später ergänzt durch eine noch tiefgehendere Revision der Imperialismustheorie in Form der Theorie des „ungleichen Tausches“. Diese basiert wesentlich auf den Beobachtungen der ungünstigen Terms of Trade, wie wir sie in der Prebisch-Singer-Theorie dargestellt haben. Die Theorie des ungleichen Tausches liefert nicht nur eine eigene Erklärung dieses Phänomens, sondern will auch die Mechanismen darstellen, wie sich die Hierarchie der Surplusaneignung auf dem Weltmarkt herausbildet – und zwar ohne Bezug auf die Dynamik der Kapitalakkumulation, sondern rein aus der Funktionsweise des „ungerechten“ Welthandels.

Die Theorie des ungleichen Tausches wurde ursprünglich 1962 erstmals durch den in Frankreich lehrenden griechischen Ökonomen Arghiri Emmanuel formuliert [lv]. Populär wurde die Theorie später vor allem durch einen seiner Schüler, den aus Ägypten stammenden Samir Amin, z. B. durch sein 1976 erschienenes Buch „L’impérialisme et le développement inégal“ (Imperialismus und ungleiche Entwicklung). Bemerkenswert an der Theorie ist die Nebenrolle von Kapitalexport oder von Unterschieden in Kapitalzusammensetzung oder Profitraten – der alles entscheidende Faktor für die ungleiche Entwicklung ist nach der Theorie [lvi] der Unterschied der Lohnniveaus. Während die Internationalisierung des Kapitals und die frei fließenden Geldströme Produktionsbedingungen überall vereinheitlichen würden, würde nichts dergleichen in Bezug auf die Löhne und Lebensverhältnisse zwischen den Arbeitenden in den Metropolen und der Peripherie geschehen – hier würden zumindest relativ die Verhältnisse sogar immer mehr auseinandergehen. Grund dafür sei die mangelnde Mobilität des Faktors Arbeit gegenüber dem Faktor Kapital. Die Gründe dafür sieht Emmanuel in: (1) restriktiven Bedingungen für Migration (insbesondere in die Metropolen), (2) in sehr unterschiedlichen Bedingungen für das „soziale Minimum“, das in unterschiedlich entwickelten Ländern als „überlebensnotwendig“ gesellschaftlich anerkannt ist, bzw. wie dieses mittels vormoderner Methoden zustande kommt, (3) größere Trägheit, Arbeitsplätze zu wechseln (aus sozialer Bindung an ein Unternehmen, Familientradition, …), als Marx dies angenommen habe, (4) die größere Verteilungsmacht der Gewerkschaften in den entwickelteren Ökonomien.

Damit werde das jeweilige landesspezifische Lohnniveau zu einem exogenen Faktor für die kapitalistische Entwicklung dieses Landes, während die endogene kapitalistische Dynamik ansonsten die Produktionsverhältnisse angleiche. Dies beteffe insbesondere die technische Zusammensetzung des Kapitals und letztlich auch die Profitraten. D. h. die Konkurrenz auf dem Weltmarkt führe dazu, dass heutzutage die organische Zusammensetzung des Kapitals in Metropolen und Peripherie als gleich behandelt werden können und es auch zu einer Angleichung der Profitraten hin zu einer weltweit einheitlichen komme. Dies im Gegensatz zur Höhe der Löhne und der Mehrwertrate, die der entscheidende Unterschied zwischen imperialistischer Ökonomie und Halbkolonie sei.

Um die Auswirkung des Austauschs auf dem Weltmarkt unter diesen Bedingungen darzustellen, führt Emmanuel komplexe Berechnungen durch, die hier in einem vereinfachten Schema verdeutlicht werden. Im Modell produziert das reiche Land A im Jahr 30 Autos, das arme B 30 Tonnen Kaffee – mit jeweils der gleichen Anzahl von ArbeiterInnen.

Land A – 30 Autos 480c 120v 120s 720 nMW
Land B – 30 Tonnen Kaffee 240c 60v 180s 480 nMW

Abbildung 19: Wert der Produktion – A „globaler Norden“, B „globaler Süden“

Dabei wird in A ein Wert von 720 Stunden (Verwertung von 480 Stunden in Maschinen vergegenständlichter Arbeit und 240 Stunden neu geleisteter Arbeit) erzeugt, mit einem Wert pro Auto von 720/30 = 24 Stunden. In B wird ein Wert von 480 Stunden erzeugt, mit 240 Stunden indirekter und 240 Stunden direkter Arbeit. 1 Tonne Kaffee hat dann den Wert von 480/30 = 16 Stunden Arbeit. Damit ist die organische Zusammensetzung (v/c) des Kapitals in beiden Ländern gleich, und zwar 1 zu 4. Was sich unterscheidet, ist das Lohnniveau: um die gleiche Menge ArbeiterInnen (v) zu reproduzieren, ist in A doppelt soviel Arbeitszeit notwendig wie in B. Schließlich unterscheidet sich auch die Mehrwertrate (s/v): sie ist in B dreimal so hoch wie in A (300 % und 100 %).

In Konsequenz läge bei gleichwertigem Tausch die Profitrate (m/(c+v)) in A (120/600) bei 20 %, in B aber (180/300) bei 60 %. Kaffeeproduktion wäre also durchaus lohnender als Autoproduktion: man braucht weniger Kaffee, aber durch die niedrigen Löhne und die hohe Ausbeutung auf den Plantagen würde man viel mehr Gewinn machen. Mit den 30 Tonnen Kaffee könnten unter gleichem Tausch 20 Autos gekauft werden und die volle Wertmenge würde realisiert werden.

Nimmt man nun dagegen an, dass sich die Profitraten in A und B ausgleichen, ändern sich die Tauschverhältnisse. Ausgleich der Profitraten bedeutet, dass gleich großes Kapital auch gleich viel Profit abwirft, so dass in Summe die Gesamtmenge an Kapital (cA+vA+cB+vB=900) aus beiden Ländern wiederum zusammen den Gesamtwehrwert aneignet (sA+sB=300). Damit gleicht sich die Profitrate auf 300/900 = 33 1/3 Prozent aus. Wendet man diese Profitrate auf die Preisbildung in beiden Ländern an, ergibt sich ein neues Schema des Austausches:

A – 30 480c 120v 200 iWE 800 iWE
B – 30 240c 60v 100 iWE 400 iWE

Abbildung 20: Weltmarktpreis unter Annahme einer gleichen Durchschnittsprofitrate (33,3 %)

 Nunmehr landet ein beträchtlich größerer Gewinn (200 statt 120) in A, während er in B abnimmt (100 statt 180). Dies verteuert auch die Autos von 24 auf 800/30=26 2/3 pro Auto, während die Tonne Kaffee sich von 16 auf 400/30 = 13 1/3 verbilligt. Das Verhältnis des ursprünglichen Werts der beiden Waren 24:16=1,6 verändert sich auf 26 2/3 : 13 1/3 = 2.

Angenommen A kauft nun am Weltmarkt 6 Tonnen Kaffee, so zahlt es einen Weltmarktpreis von 6 mal 13 1/3 gleich 80. Mit diesen 80 Weltgeldeinheiten lassen sich zum Weltmarktpreis gerade mal 3 Autos kaufen (3 mal 26 2/3 ist 80). Aber von der Arbeitszeitrechnung repräsentieren die 6 Tonnen Kaffee 6 mal 16 gleich 96 Stunden, die 3 Autos aber 3 mal 24 gleich 72 Stunden. Durch diesen auf Wertebene ungleichen Tausch, eignet sich das Kapital von A ein Wertäquivalent von 24 Stunden Arbeitszeit aus B an. Da die Löhne gleich bleiben, bedeutet es, dass von den 36 in B für 6 Tonnen Kaffee geleisteten Mehrarbeitsstunden, nur 12 im eigenen Land realisiert werden. Der ungleiche Tausch bedeutet, dass die ArbeiterInnen im Land mit dem niedrigeren Lohnniveau systematisch Mehrarbeit für das Land mit höherem Lohnniveau leisten. Der durch den ungleichen Tausch bedingte Werttransfer in die reichen Länder beruhe damit auf der Überausbeutung der arbeitenden Bevölkerung in den armen Ländern.

Die Theorie des ungleichen Tausches erklärt somit die ungünstigen Terms of Trade für Peripherieländer aus dem niedrigen Lohnniveau bei gleichzeitigem Vorherrschen einer internationalen gleichen Profitrate und Kapitalzusammensetzung. Zusätzlich, und das ist der entscheidende Kern der Theorie, schlussfolgerte sie eine Dynamik, die aufgrund der Werttransfers die Lohndifferenz zwischen den beiden Teilen der Welt immer mehr auseinanderdriften lässt, was wiederum den ungleichen Tausch expandieren hilft. Dieser sich verstärkende Kreislauf könne nur durch Schutzmaßnahmen gegen den Weltmarkt bis hin zur Autarkie durchbrochen werden.

Insbesondere führt diese These auch dazu, Lohngewinne in den imperialistischen Ländern als Verstärkung der Ausbeutung in den Halbkolonien zu erklären. Die auseinandergehenden Lohnniveaus, auch durch die gewerkschaftlichen Kämpfe in den Metropolen, führen zu verstärktem Werttransfer aus der Peripherie, die letztlich auch die größeren Verteilungsspielräume in den Metropolen ermöglichen. Die ArbeiterInnen in den Metropolen werden so zur globalen „ArbeiterInnenaristokratie“, die den Kämpfen der Ausgebeuteten in der Peripherie genauso entgegenstünden wie die großen Kapitale. Somit könne der Imperialismus in seinen Heimatländern einen breiten gesellschaftlichen Konsens für seine globale Ausbeutungsordnung organisieren.

Kritik des „ungleichen Tausches“

Die Theorie des ungleichen Tausches hat mehrere methodische Fehler, die sich aus den Voraussetzungen, das Durcheinanderwürfeln mehrerer Analyseebenen, ergeben und zu einem Verfehlen des Zusammenhangs der Entwicklungsgesetze des Kapitals durch die im Schema dargestellten Tauschverhältnisse auf dem Weltmarkt führen.

Die Marx’sche Werttheorie entwickelt die Wertrechnung der erweiterten Reproduktion des Kapitals im abstrakten Modell eines grenzenlosen globalen Gesamtkapitals. Eine solche Berechnung auf dem Weltmarkt durchzuführen, muss damit schon begründet werden. Immerhin stoßen im Weltmarkt verschiedene Produktionssphären mit unterschiedlichen Produktivitäts- und Kapitalzusammensetzungen aufeinander, indem verschiedene Zirkulationssphären über ihn vermittelt werden. Die Wert-Preistransformation zu Weltmarktpreisen hat also noch einiges mehr an Vermittlungsschritten einzubeziehen als die nationale Preisbildung, die aber z. B. in der Frage der Lohnkosten sehr wohl auch eine Rolle spielt. Wir werden im nächsten Kapitel auf die Differenzen von nationaler und Weltmarktpreisbildung genauer eingehen – und dabei zeigen, dass ein zusammengefasstes Reproduktionsschema – wie oben dargestellt – somit ein Zusammenwürfeln von Ebenen der Abstraktion ist.

Zunächst aber ist die zentrale Voraussetzung von Emmanuels Theorie, dass man weltweit von gleichen Wertzusammensetzungen des Kapitals und einem bereits abgeschlossenen Ausgleich zu einer „Weltdurchschnittsprofitrate“ ausgehen kann, abzulehnen. Ersteres lässt sie sich schon empirisch widerlegen (wie sich schon oben an den Unterschieden in der Kapitalproduktivität gezeigt hat). Wesentlicher noch ist, dass ein Fehlverständnis der Rolle der „Durchschnittsprofitrate“ in der Akkumulationstheorie von Marx vorliegt. Die Durchschnittsprofitrate ist keine „an sich“ gegebene Größe, die sich auf derselben Ebene wie die Produktionskosten berechnen ließe. Es geht vor allem darum, dass es einen Prozess des Ausgleichs hin zur Durchschnittsprofitrate gibt, der die Unterschiede der Kapitalzusammensetzung der verschiedenen Sektoren des Gesamtkapitals und ihre Dynamik in Bezug auf die Produktivitätsentwicklung widerspiegelt.

Marx führt die Tendenz zum Ausgleichen der Profitrate im dritten Band des Kapitals im Rahmen des Modells eines globalen Gesamtkapitals ein, in der verschiedene Sektoren der Ökonomie unter unterschiedlichen Anforderungen an Kapital- und Arbeitskräftebedarf produzieren. Einige Bereiche der Konsumgüterindustrie mögen mit wenig Einsatz von Maschinerie und auch mit wenig qualifizierten ArbeiterInnen produzieren, während andere Bereiche, z. B. in der Produktion von Flugzeugen, mit sehr hohem Kapitaleinsatz und höherem Bedarf an speziell qualifizierter Arbeit rechnen müssen. Bei gegebener Mehrwertrate würden erstere Sektoren höheren Profit als letztere machen. Allerdings führen die unterschiedlichen Produktionsbedingungen dazu, dass sich sehr viel mehr Kapital im „einfacheren“ Sektor als in dem mit hohen Anforderungen konzentriert. Dies führt zu einem Angebotsüberhang im ersten und einem Nachfrageüberhang im zweiten. Da auch in den Sektoren die einzelnen Kapitale mit unterschiedlicher Produktivität agieren, bedeutet diese Verteilung von Angebot und Nachfrage, dass sich der Preis in den Sektoren mit niedrigerer Kapitalzusammensetzung hin zu den produktiveren Unternehmen verschiebt, in den Sektoren mit höherer organischer Zusammensetzung aber zu den Kapitalen, die weniger produktiv sind. Im Konsumgüterbereich müssen die Waren daher unter Wert verkauft werden (womit die Masse der ProduzentInnen einen beträchtlichen Teil der Mehrarbeit nicht in Profit realisieren kann), während im Flugzeugbau über Wert verkauft werden kann. Da der in der Gesamtökonomie geschaffene Wert gleichbleibt, bedeutet dies, dass ein Werttransfer zwischen den Sektoren stattfindet, durch den sich die Profitraten angleichen.

Marx erklärt den Ausgleich der Profitraten also gerade durch die Wirkung von unterschiedlicher Kapitalzusammensetzung und Arbeitsproduktivität im Verhältnis zu derjenigen in anderen Sektoren. Der Fluss von Kapital und Arbeit innerhalb und zwischen Sektoren, im Zusammenwirken mit der durch den Markt vermittelten Reproduktion des Gesamtsystems (die in einem Austauschschema dargestellt werden kann), bringt einen Werttransfer hervor, der erst den Profitratenausgleich erzeugt – und nicht umgekehrt!

Damit ist ein dynamischer Prozess in Gang gesetzt: So zwingt die erhöhte Konkurrenz in den weniger kapitalintensiven Bereichen diese tendenziell eher dazu, größere Produktivitätssteigerungen zu erzielen, Arbeitsproduktivität zu erhöhen und tendenziell Arbeitskräfte auf die Straße zu setzen. Diese finden aber in den kapitalintensiveren Bereichen Arbeit, da dort auch nicht so produktive, arbeitsintensivere Unternehmen immer noch zu kostendeckenden Preisen verkaufen können. Die Bewegung ist also zugleich eine Bewegung der wechselseitigen Anstachelung zu weiterer Produktivitätssteigerung wie auch zur Angleichung der Kapitalzusammensetzung selbst. Wie Marx es formulierte, wirft diese Bewegung zugleich beständig ArbeiterInnen aus dem einen Sektor heraus, um sie im anderen aufzunehmen, und das in rascher Folge. Da die Gesamtbewegung eine der erweiterten Reproduktion ist (also ein Teil des Profits zur Ausdehnung von Kapital und Arbeit in allen Sektoren verwendet wird), verändern sich so beständig auch die Austauschverhältnisse (Zusammensetzung der wertbildenden Komponenten) und damit auch Umfang und Richtung des Werttransfers. Die langfristige Tendenz dabei ist die des rascheren Anstiegs der konstanten Kapitalanlage wie auch des Wachstums der Arbeitsbevölkerung. Diese wächst zwar auch, aber im Vergleich zum Gesamtwachstum immer abgebremster.

Das Modell des ungleichen Tausches geht dagegen von einem gegebenen Schema von Tauschverhältnissen auf der Grundlage einer „fixen“ Gegebenheit aus, der unterschiedlichen Lohnniveaus in A und B. Die gleiche Profitrate wird dann als weitere „gegebene“ Annahme eingeführt, ohne auf die wechselseitigen Einflüsse einzugehen. Tatsächlich spricht ein geringes Lohnniveau zumeist auch für eine geringere Produktivität und daher nicht, wie zusätzlich angenommen, für eine gleiche organische Zusammensetzung des Kapitals. Emmanuels statisches Modell bleibt bei einer Periode der Reproduktion stehen – im dynamischen Modell der Ausgleichungsprozesse der Durchschnittsprofitrate kann das beschriebene Schema ganz anders fortgeschrieben werden: Die günstigen Gewinnmöglichkeiten in B-Ländern könnten tatsächlich mehr Kapital in diese Länder fließen lassen, was zu einem Überangebot z. B. der kaffeeproduzierenden Länder führen würde, während die hochkonzentrierte Automobilindustrie viel weniger Konkurrenz und größere Hemmnisse für NeueinsteigerInnen bietet. Dies bevorzugt dann aber diejenigen B-Länder, die mit höherem Kapitaleinsatz und höherer Arbeitsproduktivität auch bei niedrigem Preis ihrer Waren noch Gewinn machen. Wie im nationalen Rahmen auch würde die Gesamtbewegung zu einer Aufgabe vieler B-Länder führen, für die der Export dieser Ware nicht mehr rentabel ist (Konkurrenz nimmt zu und Kapitalzufluss nimmt ab), andererseits aber zu einem Überleben von B-ExporteureInnen mit höherer Produktivität (organische Zusammensetzung nimmt zu). Die Abnahme der Zahl der Exportländer kann in den jetzt begünstigteren und technisch besser ausgestatteten B-Ländern dann sogar zu einem Aufbau von Beschäftigung in dem Sektor führen, was dort auch die Bedingungen für Lohnsteigerungen schafft.

Die Entwicklung der Ausgleichsbewegung kann also auch unter Bedingungen des Werttransfers dazu führen, dass nicht alle weniger entwickelten Länder in der Abwärtsspirale der ungünstigen Weltmarktpreise immer mehr verarmen. Wie auch die tatsächliche, zuvor gezeigte Entwicklung beweist, kann es unter den Halbkolonien zu sehr verschiedenen Akkumulationsniveaus kommen, bei denen einige stark von dem Emmanuel‘schen Modell abweichen – z. B. halbkoloniale Ökonomien, die nicht durch ungünstige ToT dem Werttransfer ausgeliefert sind, sondern z. B. durch ihre Einordnung in internationale Produktionsketten. Dass diese Halbkolonien nicht mehr speziell durch den ungünstigen Weltmarktpreis ihrer Roh- oder Agrarprodukte ausgebeutet werden, sondern durch ihre Rolle im internationalen Produktionsprozess, macht sie nicht weniger zu Opfern der kapitalistischen Weltordnung. Im Gegenteil, oft wird die „gemütlichere“ Form von z. B. Plantagenwirtschaft durch die Mühle von Ausbeutungsverhältnissen ersetzt, wie sie in Europa die erste industrielle Revolution gekennzeichnet haben. Jedenfalls zeigt sich in der Entwicklung der Kapitalzusammensetzung in der Peripherie überhaupt nicht die Annahme von Emmanuel: wie gesehen gibt es entwickelte Halbkolonien, die sich in der Kapitalproduktivität den Zentren angleichen, während andere weiterhin einen sehr viel geringeren Kapitalstock im Verhältnis zum BIP aufweisen.

Die andere zentrale Voraussetzung von Emmanuel, die Bedeutung der Lohndifferenz zwischen A- und B-Ländern, greift theoretisch ebenso zu kurz. Wichtig für das Kapital ist ja nicht die Lohnhöhe an sich, sondern wieviel Mehrwert aus dem Produktionsprozess angeeignet werden kann. Dies bezieht sich sowohl auf die Mehrwertrate als auch darauf, wieviel Masse an Mehrwert durch welche Masse an notwendiger Arbeitszeit erzielt werden kann (Arbeitsproduktivität).

Nun führen die beständigen Steigerungen der Arbeitsproduktivität in „Hochlohnländern“ (Tendenz des Kapitals zur Rationalisierung des teureren Faktors „Arbeit“) einerseits zu Druck auf die Löhne, andererseits aber auch zur Verbilligung der Konsumprodukte der ArbeiterInnen, also jedenfalls zur Erhöhung der (absoluten und relativen) Mehrwertrate. Da Mehrwertrate und Mehrwertmasse durch solche Produktivitätssteigerungen wesentlich stärker erhöht werden können als durch Methoden der Beschäftigung von elenden, kaum ausgebildeten Menschen (denen durch Arbeitszeitverlängerung und noch unmenschlichere Arbeitsbedingungen nur marginal mehr Mehrwert abgepresst werden kann), hielten marxistische KritikerInnen Emmanuel zumeist entgegen, dass die Mehrwertaneignung in den entwickelteren Ländern sogar höher als in der Peripherie ist – dass also in den Metropolen die ArbeiterInnen zwar besser bezahlt, aber stärker ausgebeutet werden Dies wäre ein Faktor, der natürlich auch der Ausgleichsbewegung der Profitraten stark entgegenwirken würde, da Kapitalanlage in den entwickelteren Ländern daher durchaus noch bei größerem Kapitalzufluss (statt Abfluss in die Peripherie) profitable Preise erzielen kann. Dies passt z. B. auch mit der Beobachtung zusammen, dass das Ausmaß der FDI in andere imperialistische Länder bei weitem den Kapitalfluss in die Peripherie übersteigt. Das Modell der sich immer mehr erhöhenden Lohndifferenz in den beiden Welten hätte dagegen eigentlich zu einem Abfluss des Kapitals aus den Metropolen führen müssen.

Der Faktor der Arbeitsproduktivität muss eben als wichtiges Moment der Relativierung von Lohndifferenzen und der Angleichung der Mehrwertraten gesehen werden. Die Abbildung zeigt die Entwicklung des Outputs (in Kaufkraftparitäts-US-Dollar) pro Beschäftigtem/r in vier Vergleichsländern seit den 1960er Jahren:

Abbildung 21: Vergleich der Entwicklung der Arbeitsproduktivität Metropolen/Peripherie [lvii]

Es wird deutlich, dass die Arbeitsproduktivität in Indien im Vergleich sehr geringes Wachstum aufweist und erst im 2000er Jahrzehnt eine leichte Bewegung nach oben zeigt. Brasilien erreichte Ende der 1970er Jahre einen Zenit des Anstiegs, um danach auf einem Niveau darunter zu stagnieren. Beide Länder halten jedenfalls keinem Vergleich zu Südkorea und noch weniger zu Japan stand. Letzteres hat bis Anfang der 1990er Jahre konstant hohe Wachstumsraten, mit einer Delle in den 1990er Jahren. Südkorea ist dagegen ein Modell für die nachholende Entwicklung einer Halbkolonie, die sich seit den 1990er Jahren sogar auf Aufholkurs zu Japan befindet. Die niedrigeren Löhne in Indien oder Brasilien können also in den anderen beiden Ländern dadurch aufgewogen werden, dass Investitionen dort durch das Vielfache der Arbeitsproduktivität einfach mehr Wert produzieren lassen.

Die Lohnquote, die an früherer Stelle dargestellt wurde, zeigt jedenfalls auch eine Annäherung zwischen Zentrum und Peripherie. Zusätzlich spiegelt die Lohnquote nur bedingt die Mehrwertrate wider. Berücksichtigt werden muss die stark unterschiedliche Klassenstruktur in beiden. In den imperialistischen Zentren konzentriert sich ein Großteil der ManagerInnen und BürokratInnen des globalen Kapitalismus sowie deren großes Heer an lohnabhängigen „Mittelschichten“. Eine Masse von abgeleiteten Elementen des „fungierenden Kapitals“ wird über die Form des Lohnes alimentiert. Dies sind eigentlich andere Elemente des Abzugs vom Profit (neben Zins oder Grundrente), die aber in die Lohnquote als „Arbeitseinkommen“ eingehen. Piketty (wie andere) hat ausführliche länderspezifische Aufstellungen dieser „versteckten Kapitaleinkommen“ aufgestellt. Danach kann man davon ausgehen, dass die Lohnquote in den Metropolen im Durchschnitt um mindestens 10 % geringer ausfällt als eigentlich angegeben. Rechnet man dann noch die etwa 10 – 20 % besonders privilegierten Teile der Lohnabhängigen (die „ArbeiterInnenaristokratie“ ab), ergibt sich für den Rest der ArbeiterInnenklasse eine Mehrwertrate, die sich im Mittel der Halbkolonien befindet.

Zusammen mit der Tatsache der größeren Arbeitsproduktivität (größere Masse an Mehrwert) ergibt sich damit, dass tatsächlich in den imperialistischen Zentren auch anteilsmäßig mehr Mehrwert ausgepresst wird als in den Halbkolonien.

Ein weiteres Argument gegen die Theorie des ungleichen Tausches ist, dass Emmanuel von einem Modell perfekter Konkurrenz zwischen Ländern mit abgegrenzter sektoraler Spezialisierung ausgeht. Tatsächlich gibt es auf dem Weltmarkt durchaus Waren, die sowohl im Zentrum wie in der Peripherie produziert werden: unter den größten WeizenproduzentInnen finden sich sowohl Länder wie die USA und die EU als auch Indien, Argentinien und die Ukraine; ähnlich z. B. bei Schweinebäuchen. Trotzdem werden für diese Waren Weltmarktpreise über globale Marktinstitutionen (z. B. Warenterminbörsen) gebildet. Für die Emmanuel’schen Schemata ist das tödlich: Fügt man in seine Austauschgleichungen eine weitere Ware hinzu (z. B. Weizen), die in A und B produziert wird, so ändert sich die Situation. Sogar unter den Annahmen von gleicher Profitrate und höherer Mehrwertrate in B kommt jetzt als weiterer Faktor hinzu, wie Arbeit und Kapital auf die gemeinsame Ware verteilt werden. Anderson[lviii] hat gezeigt, dass sich damit für alle Hauptthesen von Emmanuel leicht plausible Verteilungen finden lassen, die genau zum Gegenteil führen: z. B. wo die Erhöhung der Löhne in A zur Verminderung des Werttransfers führt, zur Verbesserung der Terms of Trade von B bzw. zur Erhöhung der Löhne dort. Dies sagt nichts darüber aus, ob das Szenario des ungleichen Tausches wahrscheinlich ist, sondern nur, dass die Begründung aus der wachsenden Lohndifferenz keine notwendige Gesetzmäßigkeit ausdrückt.

Schließlich ist auch die Annahme der perfekten Konkurrenz zwischen Ländern mit sektoraler Spezialisierung nicht aufrechtzuerhalten. Immerhin gibt es ganze Sektoren (z. B. im Agrarbereich) die heute von sehr wenigen großen Konzernen und Finanzgruppen beherrscht werden – und das auf Weltmarktebene. Bei diesen Weltmarktpreisen kann davon ausgegangen werden, dass sie eine starke monopolistische Gegentendenz zu einer Ausgleichsbewegung der Profitraten ergeben. Insgesamt zeigen die Tendenzen der Profitratenbewegungen global (so wie wir das oben versucht haben zu zeigen), dass sich die Profitraten zwischen imperialistischen Ländern zwar annähernd angleichen, dass dies aber für die halbkoloniale Welt nicht gilt! Sowohl die Kapitalzusammensetzung als auch die Profitraten zeigen dort ein sehr differenziertes Bild und geringere organische Zusammensetzung als auch höhere Profitraten sind das vorherrschende Bild. Daher ist eher Unterkapitalisierung das Problem, als es ungünstige Profiterwartungen (durch übermäßigen Verlust durch den ungleichen Tausch) darstellen. Die zu geringe Akkumulation von Kapital gegenüber dem Potential ist auch der Grund für relative Unterbeschäftigung. Damit aber ist dann das niedrige Lohnniveau ein Resultat von zu geringer Teilnahme an der globalen Akkumulation, nicht eines von zu viel!

Ein letztes wichtiges Argument gegen die Theorie des ungleichen Tausches ist die Frage der Quantifizierung des Werttransfers. Der Werttransfer durch Tausch muss ja durch das Gesamtausmaß des Exports der Peripherieländer in die Industrieländer begrenzt sein. Da der im Verhältnis zum Gesamtprodukt in den 1960er Jahren nicht besonders hoch war, wäre damit auch der Werttransfer nicht so bedeutsam, dass die große Abwärtsspirale, die daraus gefolgert wurde, gut begründet werden konnte. Samir Amin[lix] schätzte daraufhin den Anteil des Werttransfers an den Exporten auf sagenhafte 88 %. Damit kam er dann zu der Schlussfolgerung, dass die armen Länder an die 15 % ihres BIP durch Werttransfer an die reichen abführen. Das wäre dann natürlich groß genug, um die eigenständige Entwicklung nachhaltig zu bremsen. Allerdings: wenn die Untersuchungen zur Prebisch-Singer-These zeigen, dass sich auch heute noch die Terms of Trade der Peripherie beständig verschlechtern, wäre das bei 88 % Werttransfer schon in den 1960er Jahren kaum vorstellbar (schon in den 1970er Jahren wäre dann bereits gar nichts mehr an Profit bei Exporten beim Peripherie-Kapital übriggeblieben). Angesichts des heute enorm gestiegenen Volumens des Welthandels wäre eine fundiertere Abschätzung des Ausmaßes des Werttransfers durch die Bildung von Weltmarktpreisen zu Ungunsten der Peripherie tatsächlich angebracht.

Abbildung 22: Anteil des Handels mit Waren, Dienstleistungen und Kapital im Vergleich mit dem Welt-BIP in Prozent [lx]

Hier ist ersichtlich, dass nach dem Zusammenbruch des Welthandels in den 1930er/1940er Jahren, erst in den 1970er Jahren wieder das Niveau des Welthandels der klassischen Periode des Imperialismus erreicht wurde. Nach der Krisenperiode der 1970er/1980er Jahre brachte der Globalisierungsschub einen Anteil von über 50 % des Welthandels am Welt-BIP. Mit der großen Rezession stagniert der Anteil nun auf diesem Niveau. Trotzdem zeigt dies die enorme Globalisierung des Kapitalismus, die internationale Vernetzung als Warenökonomie. Der gewachsene Anteil des über Importe gekauften Warenangebots und der über Exporte geleisteten Arbeit stellt Fragen neu nach der Bewertung der in einem Land geleisteten Arbeit in Relation zu den dort erzielten Einkommen aller Art – und dies im Vergleich zu den Ländern, mit denen Handel getrieben wird.

Wertbildung, Weltmarktpreise und „Kaufkraftparitäten“

Ende der 1960er Jahre startete die UN-Statistikbehörde ein Programm zum Vergleich von Preisniveaus unterschiedlicher Länder und Regionen mit Namen ICP (International Comparison Program)[lxi]. Es ging von der Erkenntnis aus, dass die in US-Dollar ausgedrückten Preis- und Statistikgrößen (wie das BIP) nicht tatsächlich für den Vergleich von Ökonomien und ihre Austauschverhältnisse herangezogen werden können. Das Programm begann erst mit wenigen Ländern, um inzwischen 199 Ökonomien zu umfassen. Dabei werden jetzt an die 700 Waren und deren Preise in diesen Ländern in den jeweiligen Landeswährungen gemessen und für den Untersuchungszeitraum (inzwischen 6 Jahre) in Zeitreihen (samt US-Dollar-Entwicklung der Landeswährung) erfasst. Daraus werden verschiedene Indikatoren berechnet, insbesondere ein internationaler Preisindex (Prozentsatz pro Land gegenüber dem weltweiten Durchschnitt, der bei 100 % angesetzt wird). Aufgrund von „Warenkörben“, die für jedes Land einen entsprechenden Konsum- oder Produktionsbereich charakterisieren, werden Preisindizes für Ausgabenkategorien im internationalen Vergleich erstellt und letztlich die „Kaufkraftparitäten“ (KKP, englisch PPP = purchasing power parities) erstellt.

Der Preisindexvergleich ergibt zum Beispiel, dass eine Person, die in Pakistan 300 US-Dollar für den Einkauf zur Verfügung hat, damit Nahrungsmittel erwerben könnte, für die man in Deutschland 750 US-Dollar ausgeben müsste. Wie kommen solche Aussagen zustande?

Zunächst werden für individuelle Waren PPP-Relationen berechnet: Kostet etwa ein Burger in Deutschland 4,80 Euro in den USA aber 4,00 US-Dollar, so ist die PPP-Relation 0,83 US-Dollar zum Euro aus deutscher Perspektive, d. h. für jeden Euro in Deutschland, den man für Burger ausgibt, müsste man in den USA 0,83 US-Dollar ausgeben. Für die Berechnung der PPP-Relation zwischen Ländern werden nun Gruppen von Waren gebildet und deren Preissummen in PPP-Relation gesetzt, bis man auf der Ebene des BIP angelangt ist. In der ICP-Untersuchung 2011 errechnete man für Deutschland eine PPP für das BIP von 0,78 US-Dollar – d. h. für jeden Euro, der für einen Bestandteil des Gesamtprodukts von Deutschland ausgegeben würde, müsste man in den USA für ein dortiges Produkt 0,78 US-Dollar ausgeben. Tatsächlich erhielt man für einen Euro 2011 im Durchschnitt nur 0,72 US-Dollar – der US-Dollar war also um etwa 6 Cents unterbewertet (aus der Sicht des PPP). PPP-Umrechnungsraten sind streng genommen immer auf bestimmte Aggregate bezogen (BIP, Konsum, Nahrungsmittelkonsum etc.). So liegt etwa die PPP in Bezug auf individuellen Nahrungsmittelkonsum in Pakistan 2011 bei 41 US-Dollar. Für die gleiche Menge an Nahrungsmitteln, für die man in Pakistan 10 Rupien ausgeben musste, hätte man also in den USA 410 US-Dollar gebraucht. Nach dem offiziellen Kurs der Rupie wäre die pakistanische Ware noch doppelt so wenig wert gewesen (Kurs 1:85).

Woran liegen diese großen Unterschiede in den PPP-Relationen zwischen Zentrums- und Peripherieländern? Erstens gibt es immer bestimmte geographische Faktoren. So sind agrarische Erzeugerländer aufgrund der geringeren Transport- oder Handelskosten in der Lage, auf lokalen Märkten sehr viel näher an den Erzeugerkosten zu verkaufen. Zweitens sind die Kosten der Reproduktion der Ware Arbeitskraft, d. h. die Lohnkosten geringer. Dies liegt einerseits eben gerade an den billigeren Waren im Agrarbereich. Andererseits aber auch an oft noch weit verbreiteter Subsistenzwirtschaft, in der Familien sehr viel mehr unbezahlte Arbeit zur Ermöglichung eben dieser Reproduktion leisten (z. B. Hausarbeit, informeller Sektor, kleine Landwirtschaft). Die informelle „Schatten“wirtschaft führt auch dazu, dass viele Ausgaben, die im Zentrum große Teile der Reproduktionskosten ausmachen (Wohnung, Energie, Transport), einen sehr viel kleineren Anteil einnehmen (z. B. durch Wohnen in Slums). Drittens fallen öffentliche Leistungen, z. B. für Gesundheit, Bildung, Transport, Sozialversicherungen, sehr viel geringer aus. Dies schlägt sich in weniger indirekten bzw. weniger Lohnsteuern nieder – letzteres senkt auch wiederum die Bruttolohnkosten. Viertens lässt sich der Entwicklungsstand auch an dem „sozialen Minimum“ ablesen, also dem, was in dem Land als das angesehen wird, was „zum Leben notwendig ist“.

Offensichtlich wird der Wert der Ware Arbeitskraft (das „nationale Lohnniveau“) wie auch der vieler Konsumgüter und persönlicher Dienstleistungen stärker von der Wertbildung in der nationalen Zirkulationssphäre bestimmt. Dagegen werden Export und Import offensichtlich nicht in PPP-Werten abgewickelt, sondern in US-Dollaräquivalenten. Sicherlich sind PPP-Vergleichswerte wesentlich beständiger als Währungsvergleiche. Trotzdem kann man die systematische „Unterbewertung“ der nationalen Zirkulationssphären von Peripherieländern gegenüber denen der Metropolen (Unterschied der Bewertungen des BIP in PPP und in US-Dollar) nicht auf „Währungsspekulation“ oder volatile Kapitalflüsse zurückführen – im Unterschied zum Auf und Ab etwa im US-Dollar/Euro-Verhältnis, bleibt die PPP/US-Dollar-Differenz bei Halbkolonien systematisch unvorteilhaft. Es muss hier von zwei Ebenen der Wertbildung ausgegangen werden, die sowohl differenzieren als auch wechselwirken: einerseits der nationalen Wertbildung, abhängig von der durchschnittlichen nationalen Produktivität, dem nationalen Kapitalstock, der Arbeitsproduktivität und Zusammensetzung der Lohnarbeit vor Ort, des national bestimmten Werts der Ware Arbeitskraft etc.. Andererseits besteht seit Beginn des Kapitalismus die Sphäre des Weltmarktes mit der Herausbildung von Weltmarktpreisen, zumeist in Form des vorherrschenden „Weltgeldes“, früher also in Goldwährung, heute in US-Dollar. Diese Sphäre koppelt nicht unvermittelt alle nationalen Branchen, sondern bildet eine Stufenleiter von eigenen Wertbildungsprozessen. Es gibt einige Bereiche der Produktion (wie heute die meisten „großen Industrien“, z. B. Automobilindustrie), die vollständig auf den Weltmarkt ausgerichtet sind und wo sich die Konkurrenz auf dem Weltmarkt in der Durchsetzung der produktivsten Kapitale auch in der Preisbildung ausdrückt. D. h., hier bestimmt eine übernationale Zusammensetzung von Kapital und Arbeit die global notwendige durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, die den Wert des Produkts ausmacht. Dagegen waren eine Ebene darunter z. B. Zulieferindustrien lange Zeit noch stark von nationalen Wertbildungsprozessen bestimmt, allerdings schon lange von der darüber liegenden Ebene der multinationalen Konzerne in Kostenkonkurrenz gebracht und so je nach Branche mehr oder weniger der Weltmarktsphäre angeglichen. Staatliche und öffentliche Bereiche waren früher stark in nationalem Wertbildungsprozess (bzw. Werttransfers) verankert, wurden jedoch durch Privatisierungen und Outsourcing in vielen Bereichen (z. B. Transport oder Gesundheit) für die Weltmarktebene geöffnet. Die dort geforderte höhere gesellschaftliche (globale) Durchschnittsproduktivität muss sich notwendigerweise in einer Wertdifferenz zur noch bestehenden nationalen Wertbildung ausdrücken. Ohne Schutz durch eine schwächere Währung würden viele Bereiche dieser nationalen Wertbildung in Frage gestellt bzw. die Preise so gedrückt, dass viele nationale ProduzentInnen das Feld räumen müssten. Der Mechanismus der Vermeidung von Handelsbilanzdefiziten und Kapitalabfluss (Sicherung von US-Dollarreserven), der zur Währungsabwertung führt, vermittelt hier nur die zeitweise Koexistenz dieser beiden Zirkulationssphären. Auf die Dauer ist die Ausweitung des Weltmarktsektors unvermeidlich und führt so auch immer wieder zu neuen „Gleichgewichtszuständen“ dieser Ebenen. Schon zuvor untergraben die dynamischen Ausschläge der Weltmarktpreise und ihre Auswirkungen auf die noch bestehenden Inlandsmärkte diese Gleichgewichte zuungunsten der Halbkolonien.

Was die statistische Differenzierung dieser beiden Bereiche betrifft, so berechnet das ICP systematisch den PPP-Wert der sogenannten Inlandsnachfrage („domestic absorption“), der Differenz von BIP und der Handelsbilanz (was den Bereich der Produkte und Dienstleistungen umfassen soll, der für den inländischen Bedarf produziert wird). Hier macht sich die Differenz von der PPP-Bewertung zur US-Dollarbewertung besonders deutlich:

Abbildung 23: Wert des reinen Inlandsprodukts in KKP und US-Dollar (Milliarden) [lxii]

Es wird deutlich, dass die PPP-Werte sicherlich besser die tatsächliche Größe des inneren Marktes wiedergeben, während sie in US-Dollar eher nach der Weltmarktgeltung gewichtet werden. Dieser letztere Unterschied wird klar, wenn man die unterschiedliche Gewichtung des Handelsbilanzüberschusses gegenüberstellt:

Abbildung 24: Wert des Außenhandelsüberschusses oder -defizits in KKP und US-Dollar (Milliarden) [lxiii]

In Halbkolonien ist der „nationale Wert“ der exportierten oder importierten Waren sehr viel höher als der US-Dollarwert. Für Handelsbilanzüberschüsse muss also viel mehr an Arbeit und Kapital im nationalen Maßstab aufgebracht werden bzw. verlangen Handelsbilanzdefizite auch umso mehr Aufwand, um sie wieder abzubauen (oder eine entsprechend größere Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar). Umgekehrt müssen imperialistische Länder weniger für ihre Exportüberschüsse anstellen bzw. erhalten in US-Dollar mehr, als sie an Arbeit erbringen mussten. Damit ist diese Differenz im Außenbeitrag ein gewisser Maßstab für den „Werttransfer“ durch ungleichen Tausch am Weltmarkt. Tatsächlich sollte deutlich geworden sein, dass dies ein „Werttransfer“ nur in einem übertragenen Sinn ist. Denn EINEN Wert auf Weltebene gibt es so nicht: vom Maßstab des nationalen Werts aus gesehen wird tatsächlich Wert an die importierenden reichen Länder abgegeben, vom Maßstab der Wertbildung am Weltmarkt jedoch herrscht gleicher Tausch und es findet kein Werttransfer statt. Die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Länder in Bezug auf Produktivität, Kapitalbildung und Lohnniveaus führen zu einer Differenz in der Wertbildung, die für die weniger entwickelten Länder einen größeren Teil an Arbeit erfordert, um die Arbeitsprodukte von entwickelteren Ländern einzukaufen. In diesem Sinn herrscht „ungleicher Tausch“ vor, der aber aus einem auf dem Weltmarkt modifizierten Wertgesetz resultiert. Er ist damit sicherlich ein Hindernis für die aufholende Entwicklung, gleichzeitig aber unentbehrlich für den Fortschritt der Produktivkraftentwicklung in den davon betroffenen Ländern. Eine Angleichungsbewegung der Profitraten (in US-Dollarpreisen) ist dann Folge dieses ungleichen Tausches (infolge der währungsbedingten Preissenkung), nicht jedoch Ursache dafür (wie Emmanuel postuliert hat).

Historischer Materialismus und die Frage der „Entwicklung“

In den vorherigen Abschnitten wurde oft von „Entwicklung“, „Entwicklungsstufen“, „entwickelteren“ oder „weniger entwickelten“ Ländern etc. gesprochen. Natürlich ist diese Begrifflichkeit, spätestens nach den „post-colonial studies“ höchst umstritten. Entwicklung macht nur Sin gegenüber einem Maßstab, einem Ziel, wohin sich etwas entwickelt oder entwickeln soll. Viele der globalen Institutionen, die sich mit „Entwicklung“ beschäftigen, sehen offensichtlich die reichen Länder wie die USA oder „Kern-Europa“ als Vorbilder, an denen Fortschritt gemessen wird. Dies hat dem Begriff insgesamt eine stark ideologische, „eurozentristische“ Mitbedeutung verliehen. Andererseits geht auch der Marxismus in Form des historischen Materialismus von einem Begriff des gesellschaftlichen Fortschritts aus, der einen globalen Maßstab für Entwicklung begründet. Gegenüber den marktliberalen Entwicklungsbegriffen werden hier die sozialen und kulturellen Errungenschaften, die auf bestimmter ökonomischer Grundlage möglich werden, in den Vordergrund gerückt. Außerdem betrachtet der historische Materialismus die Entwicklung von Gesellschaften nicht als linearen Fortschrittsprozess, sondern als notwendig von Widersprüchen zwischen der Entfaltung der sozialen und ökonomischen Potenziale geprägt. Keine dieser von Widersprüchen geprägte Gesellschaftsformationen ist ewig. Jede wird letztlich zur Fessel der weiteren Entwicklung, so dass nur historische Brüche, Umwälzungen der ihnen zugrundeliegenden Produktionsweisen Fortschritt bringen, nicht immanente Entwicklung. Auch wenn Marx seine Beispiele vornehmlich aus der europäischen Geschichte entnommen hat, ist diese historische Methode, die von den jeweiligen materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeht und diese in der Dynamik von Entwicklung, Entwicklungshemmnissen und historischen Bruchpunkten betrachtet, allgemein genug, um auf die verschiedensten Regionen und Kulturen angewendet werden zu können. Dies betrifft insbesondere die Klassenverhältnisse, die sich unmittelbar um den gesellschaftlichen Arbeitsprozess herausbilden und sich in Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen reproduzieren.

Bekanntlich postulierte Marx, dass es vor dem Kapitalismus im Wesentlichen vier verschiedene historische Produktionsweisen gab: den Urkommunismus, die Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus und die asiatische Produktionsweise [lxiv]. Marx behauptete keinesfalls eine notwendige Stufenleiter, die hier bis zur Moderne durchlaufen werden müsse. Schon die asiatische Produktionsweise passt hier nicht in ein solches Stufenschema. Immerhin hat sie zumeist Elemente der anderen Gesellschaftsformationen wie Gemeinschaftseigentum (wie im Urkommunismus) der Dorfgemeinde verknüpft mit Abgaben an die Autoritäten (wie im Feudalismus), aber auch SklavInnen im Dienst dieser Autoritäten (wie in der antiken Sklavenhaltergesellschaft). Tatsächlich hat die stalinistische Karikatur des historischen Materialismus diesen zu einem quasi-deterministischen Entwicklungsmodell vereinfacht – und dabei konsequent die störende asiatische Produktionsweise unter den Tisch fallen lassen.

Dies ist deswegen so wichtig, da die sozialistischen/kommunistischen Parteien der (halb-)kolonialen Welt zumeist diesem mechanistischen Entwicklungsmodell gefolgt sind. Ihre Analyse der „Rückständigkeit“ ihrer Länder war dann: Entscheidendes Entwicklungshemmnis sind die „feudalen Überreste“ (wenn nicht gar noch das Vorherrschen des Feudalismus, besonders durch den Großgrundbesitz). Kolonialismus und Feudalismus sind gemeinsame Feinde aller an der Entwicklung „der Nation“ interessierten, auch der „nationalen Bourgeoisie“. Durch die geringe Entwicklung des Kapitalismus sind sowohl die nationale Bourgeoisie als auch die ArbeiterInnenklasse weniger stark als in „modernen Gesellschaften“, wohingegen die arme Bauern-/Bäuerinnenschaft die am meisten ausgebeutete Klasse sei. Das vordringlichste Ziel sozialistischer Parteien müssten unter diesen Bedingungen die nationale Unabhängigkeit und die Überwindung der rückständigen, feudalen Verhältnisse sein, d. h., zunächst bürgerlich-demokratische Verhältnisse und eine „moderne Gesellschaft“ (d. h. einen entwickelten Kapitalismus) zu erkämpfen, im Bündnis mit nationaler Bourgeoisie und Bauern-/Bäuerinnenschaft. Erst dies würde die Voraussetzung für eine weitergehende, sozialistische Entwicklung schaffen. Wir werden später darstellen, dass weder die Analyse von den „feudalen Überresten“ (mit Abstraktion von anderen vor- oder nicht-kapitalistischen Gesellschaftselementen) noch das Absehen von der Strukturierung der kolonialen Gesellschaften und Ökonomien durch den Weltkapitalismus dem historischen Materialismus und einer darauf aufbauenden revolutionären Strategie gerecht werden.

Das Scheitern dieser Strategie, die sich fälschlicherweise auf den Marxismus berufen hat, hat dann zugleich auch „den historischen Materialismus“ (d. h. die Karikatur desselben) diskreditiert. Die nationalen Bourgeoisien haben, wenn es kritisch wurde, immer lieber mit den „rückständigen“ Kräften oder den imperialistischen Mächten zusammengearbeitet als mit „dem Volk“. Jede „Volksfront“ mit der Bourgeoisie war letztlich ein Massengrab für die Organisationen, die ArbeiterInnen, Landproletariat oder kleine Bauern und Bäuerinnen organisiert haben. Die „unabhängigen“, „demokratischen“ Staaten dienten weniger der Entwicklung moderner Ökonomien mit entsprechenden Sozialsystemen als vielmehr der Durchsetzung der Ausbeutungsinteressen von nationaler und internationaler Bourgeoisie im Verbund mit „rückständigen“ Besitzklassen aller Art. Die Enttäuschung über die tatsächlichen Ergebnisse der „Dekolonisation“, die wiederum in die Entbehrungen der abhängigen (Unter-)Entwicklung führte, mussten zumeist repressiv und diktatorisch abgesichert werden – auch gegen die sozialistischen Organisationen und Gewerkschaften, die trotz ihrer Politik ein Hindernis für die neue, neokoloniale Ordnung waren.

In der „postkolonialen Theorie“, wie sie im Laufe der 1990er Jahre unter anderem in Indien entwickelt wurde, erscheint das obige Modell, das man eigentlich als „eurozentristisch“ abgelegt haben will, noch wie in einem zerbrochenen Spiegel. Eines der zentralen Motive der Theorie ist die These der „Dominanz ohne Hegemonie“ [lxv]: Anders als im globalen Norden habe sich die Bourgeoisie in der Peripherie als zu schwach erwiesen, um tatsächlich „die Macht“ zu ergreifen, alle die Entwicklung des Kapitalismus hemmenden Relikte zu beseitigen. Sie hätte zwar durch die ökonomische Vorherrschaft des Kapitalismus eine Dominanz über die Gesellschaft erlangt, sei aber weit davon entfernt, die Hegemonie über sie auszuüben. Es gäbe eine Menge von sozialen Beziehungen (nicht nur was alte Grundbesitzerschichten betrifft, sondern auch spezielle solidarische Strukturen der „Subalternen“), die der bürgerlichen Vorherrschaft Grenzen setzen. Damit spielen aber auch „europäische Begriffe“ wie Nation, Klasse, nationale Entwicklung eine „falsche Rolle“, die für die Opfer der „Entwicklung“ nichts Gutes bringen können. Nicht in der „Entwicklung der Nation“, sondern in der Besinnung auf die Stärken der eigenen subalternen Kulturen und Netzwerke liege der Ausweg aus Abhängigkeit und Fremdbestimmung [lxvi].

Zunächst einmal war auch im globalen Norden das Ziel der Bourgeoisie nie die Entwicklung einer modernen, sozialen Gesellschaft – sondern schlicht die Verwertung des Kapitals und das Wegräumen aller Hindernisse, die dem im Weg stehen. Dies gelang natürlich nirgends vollständig – immerhin ist in der Verwertung des Kapitals schon selbst der Klassenwiderspruch angelegt (die Bestimmung der Grenze von notwendiger Arbeit zu Mehrarbeit). Kapitalistische Gesellschaft ist daher immer von Klassenkämpfen und der Herstellung von zeitweisen, periodischen Kompromissen, bedingt durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, geprägt. Aufgrund des zentralen Klassenwiderspruchs ist das Kapital, wie Marx in den „Theorien über den Mehrwert“ ausgeführt hat, auch zur Integration einer großen Menge an überkommenen Klassen und Schichten (GrundbesitzerInnen, Bürokratie, privilegierte Stände, Kleinbürgertum aller Art etc.) gezwungen bzw. gibt ihrer Alimentierung spezielle Wertformen (Grundrente, Honorare, staatliche Einkommen aller Art, …). Erst auf dieser Grundlage baut sich die bürgerliche Hegemonie auf, als Verschleierung der eigentlich grundlegenden Klassenherrschaft. Dass die Bourgeoisie nicht als „Hauptdarstellerin“ der Szenerie auftritt, ist gerade nicht ein Zeichen mangelnder Hegemonie, sondern ist die Normalform einer um die Macht der Kapitalverwertung und der daraus folgenden Alimentierung aller anderen besitzenden Schichten organisierten Gesellschaft. Der Mythos von der nicht an der Macht seienden Bourgeoisie in den Halbkolonien ist eigentlich eine Wiederholung der falschen stalinistischen Orientierung auf den „Fortschritt“, den die nationale Bourgeoisie durch die Schaffung eines mächtigen, unabhängigen Nationalstaates im Verbund mit den Volksklassen hervorbringen würde. Dass die Bourgeoisie in den Halbkolonien stattdessen jede Menge rückständiger Verhältnisse integriert hat, heißt dagegen überhaupt nicht, dass sie nicht gerade darüber ihre Macht in geeigneter Weise ausübt. Schließlich bleibt die Bourgeoisie in den Halbkolonien selbst eine vom internationalen Kapital und dessen weltpolitischen AkteurInnen abhängige Klasse. Das Zusammenwirken von internationaler Kapitalherrschaft und der nationalen Stellung der Bourgeoisie bestimmt auch letztlich die inneren Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten.

Die Dependenztheorie, allen voran Frank, hat bereits in den 1960er Jahren in ganz anderer Weise mit dem stalinistischen Modell der antikolonialen Entwicklung gebrochen: Frank erklärte in seinen Lateinamerika-Studien die These von den „feudalen Überresten“ für Unsinn und die nationalen Bourgeoisien für das Haupthindernis der Entwicklung in den Halbkolonien. Zu Recht kritisiert Frank in seiner auch heute noch lesenswerten Studie „Kapitalismus und der Mythos des Feudalismus in der brasilianischen Landwirtschaft“[lxvii] die Vorstellung von zwei getrennten Sektoren in Halbkolonien: dem entwickelten industriellen Bereich, der den Kapitalismus repräsentiere, gegenüber der rückständigen, von Großgrundbesitz gekennzeichneten Landwirtschaft, der den Feudalismus verkörpere. Die Vorstellung eines feudalistischen Sektors stimmt mit der Charakteristik von feudalen Gesellschaften überein, in sich weitgehend geschlossen, von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und geringer Veränderungsdynamik gekennzeichnet zu sein. Am Beispiel der brasilianischen Landwirtschaft, die wegen der großen Rolle bestimmter Großgrundbesitzerfamilien hier ein gutes Beispiel zu sein scheint, zeigt Frank, dass dies mit der Realität wenig zu tun hat. Tatsächlich waren Länder wie Brasilien gerade in ihrem Agrarbereich (Zucker, Kaffee, Fleisch, etc.) immer schon stark in eine von den kapitalistischen Zentren und ihren Handelsinteressen bestimmte internationale Arbeitsteilung eingebunden, die ihnen gerade die Rolle als Agrarproduzentinnen zuwies (im Gegensatz zu anderen Ländern, die für bestimmte Industrien oder Bergbau auserkoren wurden). Dies bedeutete auch, dass diese Landwirtschaft stark von kapitalistischen Organisationsprinzipien und Verwertungsprinzipien bestimmt war. In mehreren Wellen kann man die verstärkte Kapitalisierung (im Bezug von Saatgut, Dünger, Arbeitsmitteln …) feststellen wie auch die Einbindung in große Handelsmonopole. Sowohl von der Kapitalseite (Kreditfinanzierung, Kapitalgesellschaften als Eigentümerinnen, wachsende Konzentration, …) als auch von der Arbeitsseite (Pachtsystem, Lohnarbeitssystem nach Aufhebung der Sklaverei, Vertreibung von vormals „eigentumslosen“ LandbewohnerInnen …) ist diese Landwirtschaft sogar stärker kapitalistisch organisiert als die vieler europäischer Länder.

Die Kritik an der Vorstellung der getrennten Sektoren – von den Metropolen dominierter Weltmarkt und ihre Satelliten in der Halbkolonie, nationale Industrie, rückständige Landwirtschaft – ist sicherlich ein sehr wichtiger Punkt. Wie wir oben gesehen haben, sind die verschiedenen Produktions- und Zirkulationssphären zwar differenziert, aber doch durch die globalen und regionalen Akkumulationsbewegungen eng miteinander verflochten. Frank geht hier, wie schon dargestellt, von einem hierarchischen Weltsystem aus, in dem von Stufe zu Stufe eine Abschöpfung von Surplus Richtung Metropolen stattfindet. Insofern stünden damit Landwirtschaft, lokale Industrie und Exportsektoren in einem Zusammenhang, der sich wesentlich aus der kapitalistischen Struktur des globalen Kapitalismus ableitet. Auch wenn sein Monopol- und Surplusbegriff ungenügend ist, die Funktionsweise und Dynamik des globalen Kapitalismus richtig zu erfassen, ist diese Schlussfolgerung sicherlich richtig und wesentlich fruchtbarer als die heutigen postkolonialen Theorien.

Immanuel Wallerstein

Diese beherrschende Funktion des kapitalistischen Gesamtsystems für den Zusammenhang der widersprüchlichen Teile wird noch stärker betont von einem anderen Exponenten aus dem Umfeld der Dependenztheorie, dem kürzlich verstorbenen Immanuel Wallerstein[lxviii]. Wallerstein sieht alle Länder, welchen Entwicklungsstand sie auch haben mögen, seit dem 16. Jahrhundert als Bestandteile eines einzigen, kapitalistischen „Weltsystems“. Kulturen und Ökonomien wären seit einer gewissen Stufe der Zivilisation immer schon Bestandteile von solchen Weltsystemen gewesen, d. h. eines Netzwerks von kulturellen, politischen und ökonomischen Beziehungen unterschiedlicher Länder, die normalerweise keinen übergreifenden Staat bilden (außer in den besonderen Umständen von „Imperien“). Im 16. Jahrhundert nun sei es dem Kapitalismus gelungen, alle bis dahin bestehenden Weltsysteme (insbesondere durch die Einbeziehung Asiens in den europäischen „Weltmarkt“) in ein einziges kapitalistisches System einzugliedern. Das Akkumulationsprinzip des Kapitalismus sei besonders geeignet für eine solche globale Zusammenfassung. Andererseits erfordern Monopolbildung und die Durchsetzung von deren Interessen die Stärkung der Staaten, die mit diesen Monopolen verbunden sind. Auch bei Frank sind es die Monopole, die eine Hierarchie von Zentrum bis Peripherie herausbilden, die auch das System der Staaten und ihrer Beziehungen bestimmt. Dabei führt Wallerstein zusätzlich die Kategorie von „semiperipheren“ Ländern ein, die zeitweise eine unabhängigere Stellung, mitsamt besserer Akkumulationsmöglichkeiten für ihre Monopole hervorbringen können – um in einem nächsten Zyklus wieder zurückzufallen. Auch wenn Wallerstein eine sehr gering entwickelte eigene Akkumulationstheorie besitzt (im Wesentlichen geht er davon aus, dass ohne Monopolisierung und Staatseingriffe die Akkumulation durch Profitratenfall und Absatzprobleme zugrunde gehen würde), erkennt er zurecht, dass das kapitalistische Weltsystem grundlegend von der Tendenz zur Krise geprägt ist. Er geht von langfristigen Zyklen aus, in denen sich bestimmte Monopolstrukturen herausbilden, die aber in sich verkrusten und durch konkurrierende aufsteigende MonopolaspirantInnen herausgefordert werden. Dies würde weltweite Krisenzyklen von etwa 20– 30 Jahren Dauer bewirken, in denen sich jeweils das Gesicht des Weltsystems grundlegend ändert.

Gleichzeitig sieht Wallerstein mit dem Weltsystem eine universelle Geokultur am Wachsen, die aber durch Beharrungskräfte, Rassismus und Sexismus zu einem widersprüchlichen Ganzen zusammenwirkt. Grundlegend sieht er die globale Tendenz zur Überwindung des Kapitalismus als Grundlage des Weltsystems in dieser Geokultur zunehmen. Jedoch ist es unmöglich, ein solches totales Weltsystem in einem seiner Teile (in einem Land oder einer Region) zu transformieren. Diese Überwindung sei nur global, weltweit möglich. Wallerstein sieht die Welt heute in einer solchen Fundamentalkrise: „Diese Krise mag auch noch 25 bis 50 Jahre andauern. Da ein zentrales Merkmal einer solchen Übergangsphase ist, dass wir wilde Oszillationen all jener Strukturen und Prozesse erleben, die wir als festen Bestandteil des gegebenen Welt-Systems kennen gelernt haben, stellen sich unsere kurzfristigen Aussichten notwendigerweise als ziemlich instabil heraus“ [lxix].

Ausdruck dieser instabilen Lage sei die Aufgabe des „Developmentalismus“ (sowohl gegenüber Halbkolonien als auch, was die Überwindung sozialer Gegensätze im Zentrum betrifft) und die Hegemonie des „Neoliberalismus“ einerseits (Öffnung der Märkte, Privatisierung, Abbau von Regulierungen …), sowie im Verhältnis zu den Halbkolonien die Unterordnung unter den „Washington Consensus“ (Primat der internationalen Märkte für „Anpassungsprogramme“ in den Halbkolonien). Die internationalen Institutionen seien zu reinen Umsetzungsorganen dieser Prinzipien geraten, die nur noch zur Dekoration den Begriff der „Entwicklung“ verwenden. Damit habe man eine weltweite Polarisierung hervorgebracht, die starke Gegenkräfte und globale „Anti-System Bewegungen“ hervorbringen würden, die sich besonders auch gegen diese Institutionen und die dahinter liegende Krisenregulierung namens „Globalisierung“ organisieren. Wallerstein und seine NachfolgerInnen wurden damit intellektuelle MentorInnen der „altermondialistischen“ Bewegung („eine andere Welt ist möglich“).

In seinen historischen Abhandlungen zum Kolonialismus hat Wallerstein ebenfalls das übliche Muster der stalinistischen Entwicklungsstufen kritisiert, besonders ihr Beharren auf den „feudalen Strukturen“, die angeblich überall in der kolonialisierten Welt konserviert worden wären. Zu Recht bemerkt Wallerstein, dass Feudalismus außerhalb von Europa nur sehr selten überhaupt als historisches Stadium eines ganzen Landes zu finden war – Japan stellt hier eher eine seltene Ausnahme dar. Wie schon andere vor ihm hat auch Wallerstein hier die „asiatische Produktionsweise“ als theoretische Errungenschaft des Marxismus rehabilitiert. Tatsächlich sind in vielen Ländern, die von der europäischen Expansion betroffen waren, zunächst viele Elemente von Gemein- oder Claneigentum Hindernisse und dann auch Opfer der Herausbildung des kolonialen Kapitalismus geworden. Die Oligarchien, die sich zuvor über den lokalen Gemeinschaften und feudalen Teilsystemen erhoben, waren sehr viel schneller in der Lage, sich in kapitalistische EigentümerInnen, GroßgrundbesitzerInnen, BürokratInnen im kolonialen System zu verwandeln.

Rosa Luxemburg hat dies in ihrem berühmten Buch „Die Akkumulation des Kapitals“ [lxx] eindrucksvoll anhand der Geschichte Algeriens in der französischen Kolonialzeit dargestellt [lxxi]. Dabei macht sie klar, dass der Kolonialismus wesentliche Elemente der ursprünglichen Akkumulation perpetuiert. Schon Marx hatte im Kapitel über den Kolonialismus in „Das Kapital“ festgestellt, dass er vor allem die Aspekte der ursprünglichen Akkumulation nachholt, die zur Schaffung eines Proletariats führen – weniger diejenigen, die zur Bildung von Kapital dienen. Immerhin ist er als Raubsystem mitels des merkantilen Kapitals ja ein wichtiger Faktor bei der Formierung des europäischen Kapitalismus gewesen. Das Werk der ursprünglichen Akkumulation stieß auch in der kolonialen Welt auf vielfältige vorkapitalistische Strukturen, die sich einer warenförmigen Organisation stark entgegensetzen. Während feudaler Grundbesitz über Pachtsysteme, Verschuldung, Landverkauf etc. relativ leicht in kapitalistische Verhältnisse überführt werden kann, entziehen sich Elemente der Gemeinnutzung durch ihre Marktferne dieser Transformation sehr viel stärker. Luxemburg beschreibt die Verhältnisse in Algerien zu Beginn der Kolonialzeit (1830) auf dem Land als mehrheitlich von Claneigentum gekennzeichnet. Die „Eigentümerinnen“ des Landes waren wechselnde Oligarchien, die zwar Abgaben erhoben, aber ohne das Wirtschaften der Clans groß zu bestimmen. Der Erwerb dieses „Eigentums“ durch die KolonialistInnen änderte daher aus der Sichtweise der Clans nichts an ihren Rechten auf „ihr“ Land – anders aus Sicht der kapitalistischen ErwerberInnen. Dies musste notwendigerweise zu einem harten Aufeinandertreffen von „Rechtsvorstellungen“ führen, das zumeist in Vertreibungen oder blutigem Widerstand mündete. „Die planmäßige, bewusste Vernichtung und Aufteilung des Gemeineigentums, das war der unverrückbare Pol, nach dem sich der Kompass der französischen Kolonialpolitik ungeachtet aller Stürme im Inneren des Staatslebens während eines halben Jahrhunderts richtete“ [lxxii]. Dies einerseits sicherlich zur Sicherung der eigenen Herrschaft, andererseits um überhaupt kapitalistische Verhältnisse herzustellen. Die Vertreibung vom Gemeineigentum war die Voraussetzung für die Schaffung eines landlosen Proletariats als Grundlage für Kapitalverwertung. Insbesondere war aber die Durchsetzung des Privateigentums am Land auch die Voraussetzung für intensive, kapitalistische Landwirtschaft, wie diese auch die Lebensmittel in Waren umwandelt, die nur gegen Geld zu erlangen sind. So war dieser Prozess der Entwicklung einer „fortschrittlichen“ Landwirtschaft zugleich ein Prozess der massenhaften Vernichtung von Lebensbedingungen, von großen Hungersnöten unter denen, die plötzlich durch den Markt von dem getrennt waren, was sie bisher in Gemeinwirtschaft sich erarbeiten konnten. Kapitalisierung der Landwirtschaft, Zerstörung der Dorfwirtschaften, Verwandlung allen Bodens in Privateigentum, Durchsetzung des Marktes als alleinigen Zugangspunkt zu Lebensmitteln, all das sind die Elemente der ursprünglichen Akkumulation, deren Werk der Kolonialismus in unterschiedlichen Ausprägungen überall verrichtet hat.

Insofern sind weiterhin bestehende „informelle“ Sektoren, Subsistenzwirtschaft, Besetzung und Nutzung von „eigentumslosem“ Land genauso wie „illegale“ Siedlung und die Vorgehensweise dagegen der Beweis, dass dieses Werk der ursprünglichen Akkumulation von den neuen Oligarchien der postkolonialen Welt genauso fortgesetzt wird und tatsächlich ein wichtiges Zeichen ihrer fortgesetzten kolonialen Strukturen ist. Es sind weniger übriggebliebene „feudale Reste“ als vielmehr tief in den Unterschichten verankerte nicht marktförmige Lebens- und Arbeitsweisen, die sich für die Kapitalentwicklung als Schranken erweisen. Sie begrenzen das Arbeitskräftepotential, das verfügbare Land, die mögliche Nachfrage auf den Konsummärkten etc. und tragen zur Festsetzung eines niedrigeren Lohnniveaus bei. Andererseits bilden sie eine beständige Quelle des Aufstands gegen Kapitalverhältnisse, gegen fortgesetzte Enteignung und für solidarische gesellschaftliche Beziehungen. Wie die Landlosenbewegung in Brasilien (MST) und später die Bewegung der Favela-BewohnerInnen (MTST) zeigte, kann dies zu einer stabilen langfristigen Organisierung führen, die in ein enges Bündnis zur organisierten ArbeiterInnenbewegung tritt. Der Terror des Agrarkapitals gegen die MST, der Kampf um besetztes Land, die Verteidigung gegen die Räumung von Favelas etc. zeigen, dass die Konflikte des Kolonialkapitals nur eine neue Form angenommen haben: Das agierende Kapital bleibt das gleiche, ob in kolonialer oder dekolonialisierter Verkleidung.

Agrarfrage, kapitalistische Entwicklung und soziale Revolution

Aus dem Jahr 1881 stammt ein Briefwechsel von Karl Marx mit der jungen russischen Revolutionärin Wera Sassulitsch[lxxiii] über die Bedeutung der russischen Dorfgemeinschaft, der sogenannten Obschtschina (oder Mir). In Russland hatten sich bis zu dieser Zeit Elemente des Gemeineigentums in den agrarischen Dorfgemeinschaften gehalten, wenn auch traditionell kombiniert mit einem System von Abhängigkeiten und Abgaben in Richtung GroßgrundbesitzerInnen bzw. Staat. Sassulitsch nahm Bezug auf die „offiziellen“ MarxistInnen in Russland, die den Untergang der alten Dorfgemeinschaften als „historisch notwendige“ Voraussetzung für die Entwicklung Russlands ansahen, während die „VolkstümlerInnen“ dem Dorf eine zentrale Rolle für den Übergang zum Sozialismus beimaßen.

Marx arbeitete sich an dieser Fragestellung in vier Antwortentwürfen[lxxiv] ab, um dann (aufgrund persönlicher Umstände) nur eine sehr knappe Antwort zu schreiben. Die Briefentwürfe werfen jedoch sehr zentrale Fragen zum Entwicklungsbegriff auf, die zu einer starken Nachwirkung in Teilen des Marxismus bis heute geführt haben. Schon in einer Antwort auf eine Frage einer russischen Zeitung 4 Jahre zuvor nach der Notwendigkeit des Nachholens der „ursprünglichen Akkumulation“ in Russland schrieb Marx, dass man seine „historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa“ nicht in eine „geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln“ solle, „der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen“ [lxxv]. Er erinnert dabei daran, dass die Vertreibung der Bauern/Bäuerinnen vom Land im alten Rom, anders als im Britannien der Industrialisierung, diese nicht zu ProletarierInnen im modernen Sinne, sondern zu plebejischen Anhängseln der auf Sklavenarbeit beruhenden Produktionsweise gemacht hat – und meint dazu: „Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ [lxxvi].

Auf Marx kann sich also niemand berufen, der von „notwendigen Etappen“ oder einer mechanischen Anwendung von Entwicklungsschemata ausgeht. Stattdessen ist die konkrete, historische Analyse auf der Grundlage eines Verständnisses des Werdegangs, der Widersprüche und der Entwicklungsmöglichkeiten der untersuchten gesellschaftlichen Formation notwendig. Marx betont nochmals in seiner Antwort an Sassulitsch, dass seine Analyse der „ursprünglichen Akkumulation“ von den in Westeuropa vorherrschenden Formen des Privateigentums ausging: „Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist … wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist“ [lxxvii]. Das aus dem Feudalismus hervorgegangene bäuerliche Kleineigentum war für die Entstehungsgeschichte des Kapitalismus in Westeuropa so geeignet, weil es durch die Kapitalisierung des Bodens, die Verschuldung der Bauern/Bäuerinnen, die Umwandlung von Gemeindeland in Privateigentum etc. letztlich große Teile der Landbevölkerung enteignen konnte, um sie als ProletarierInnen in den städtischen Industrien nutzen zu können. Daher sei diese Entwicklung in einem Land wie Russland, in dem das bäuerliche Privateigentum nie eine ähnliche Rolle gespielt hat, eben auch nicht einfach übertragbar: „Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch im nationalen Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann“ [lxxviii].

Marx führt hier die Möglichkeit an, dass aufgrund der Entwicklung um Russland herum, dieses viele Stufen, die in anderen Ländern mühsam durchlaufen werden mussten, überspringen könne. Wenn dies in Bezug auf das Fabriksystem und die Herausbildung einer modernen Zirkulationssphäre möglich gewesen sei, warum nicht auch in Bezug auf eine kollektivierte Landwirtschaft, wenn diese wiederum Teil einer proletarischen Umwälzung in ganz Europa, einschließlich Russlands ist?

Anders als dies viele InterpretInnen der Sassulitsch-Briefe herauszulesen meinten, zeichnet Marx ein durchaus kritisches Bild der russischen Dorfgemeinde und macht daraus keineswegs ein kommunistisches Landkommunen-Idyll, das es zu verallgemeinern gelte:

Erstens handelt es sich um ein Relikt aus der langen Geschichte des Verfalls von Urgemeinschaften, die viele Unterschiede, aber auch gemeinsame Stufen des Übergangs in andere Produktionsformationen aufweisen. Dörfliche Agrarwirtschaft mit gemeinsamer Haushaltung und Arbeit großer Familienverbände in einer beanspruchten Domäne erwies sich über viele wechselnde Produktionsweisen als sehr widerstandsfähig, gleichzeitig aber auch limitiert, was ihre ökonomische Leistungsfähigkeit anbelangt, und damit in entsprechendem Umfeld letztlich zum Untergang verurteilt. Darin einbegriffen ist nach Marx, dass es viele Übergangsformen gibt, in denen das Gemeineigentum (z. B. an Gerätschaften, Waldnutzung, besonderen Ernteereignissen) kombiniert wird mit privatem Eigentum an Parzellen oder Einzelhäusern. Familienbande und patriarchale Strukturen sind nicht nur Schutz, sondern auch Elemente der Rückständigkeit, persönlicher Abhängigkeit und sozialer Unterdrückung. Durch den Kontakt mit der Außenwelt löst sich die Dorfgemeinde besonders durch den notwendigen Zerfall dieser Schranken zugunsten der Absonderung der privaten Parzellenbauern/-bäuerinnen im Verbund mit den sich ausweitenden lokalen und überregionalen Märkten auf.

Wenn Marx davon spricht, dass die Entwicklung Russlands diesen Auflösungsprozess lange verzögert hat, so spricht er damit etwas aus, das natürlich auf viele Länder außerhalb Europas zutrifft. Im zaristischen Russland kam hinzu, dass die zentrale Agrarreform, die sogenannte „Abschaffung der Leibeigenschaft“ von 1861, stark auf die Funktion der alten Obschtschina angewiesen war. Als Kompromiss mit der adeligen Großgrundbesitzerschaft wurde den „befreiten“ Bauern/Bäuerinnen vor allem das schlechtere Land zugeteilt bzw. für ihr “Los“ auch noch ein Kaufpreis abverlangt, den sie über Kredite und Abgaben zu finanzieren hatten. Nur über die Dorfgemeinschaft, die die gemeinsame Bewirtschaftung und die finanziellen Abgaben bündelte, konnte der Teil der Landbevölkerung, der sich nicht gleich wieder an die GrundbesitzerInnen verkaufte, überleben. So standen noch zu Zeiten der 1905er Revolution über 9 Millionen Dorfgemeinden gerade mal 2 Millionen privaten Kleinbauern/-bäuerinnen gegenüber. Russland war hier nur ein Vorläufer vieler „Agrarreformen“, die im Namen der „Gerechtigkeit auf dem Lande“ zu einer Ausdehnung des Großgrundbesitzes auf kapitalistischer Basis bei gleichzeitiger Wiedererstehung oder Transformation alter Formen des Kommunenwesens führten. Wie Lenin zu Recht in seiner Analyse der Bauern-/Bäuerinnenwirtschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachwies, waren die „Dorfgemeinschaften“ ein Anhängsel der Agrarbourgeoisie, an die sie verschuldet waren und von deren Handelsorganisationen sie abhing.

Die agrarischen Solidargemeinschaften, wie sie in verschiedenen Weltregionen als Überbleibsel alter Produktionsformationen zu finden sind, sind einerseits Entwicklungshemmnisse:

  • geringe Produktivität aufgrund zurückgebliebener Produktivkräfte (Werkzeuge, Maschinerie, Saatgut, Düngemittel …);
  • sie binden eine große Zahl an wenig qualifizierter Arbeitskräfte, die in diesen Produktionsformen gerade so überleben können. Der Überfluss an Arbeitskraft befestigt die geringe Produktivität pro landwirtschaftlich Beschäftigten;
  • die traditionalen Strukturen zeigen große Widerstände gegen Veränderung der Produktionsweise und damit auch Aufnahme von Wissen, neuen Verfahren etc.;
  • die kleinteilige Struktur der Agrargemeinden verhindert die Wirkung positiver Skaleneffekte, die Großbetriebe erreichen können (Reduktion von Fixkosten, Mengeneffekte, Mechanisierung, Losgrößenaufteilung gemäß Bodenbeschaffenheit …)
  • für viele ihrer Beteiligten (z. B. Frauen, Kinder …) stellen sie eher ein Gefängnis dar, das sie an zurückgebliebene patriarchalische Strukturen bindet und geringe Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Die Stärke dagegen ist die zumeist garantierte gesicherte materielle Existenz in einer Solidargemeinschaft, auf welch geringen Niveau auch immer (natürlich gefährdet durch Naturkatastrophen oder menschengemachten Klimawandel). Daher ist es kein Wunder, dass in Krisenzeiten diese Solidargemeinschaften wieder stark zum Vorschein kommen. So auch in Russland, wo sie durch die liberalen Reformen nach 1905 (Stolypin-Reformen) gegenüber bäuerlichen Klein- und Großbetrieben stark zurückgedrängt wurden: Mit der Not des ersten Weltkriegs kehrten sie massiv zurück und wurden nach der Februarrevolution zu Zentren der Umverteilung des Landes an die Dorfgemeinschaften („schwarze Enteignung“).

Es ist kein Wunder, dass kapitalistische Großbetriebe im Agrarbereich regional und über den Weltmarkt die bäuerliche Kleinproduktion durch ihre Produktivitätsvorteile über die Preiskonkurrenz verdrängen, sofern nicht staatliche Schutzmaßnahmen oder das Ausweichen in Nischenbereiche helfen. Daher überrascht es auch gegenwärtig nicht, dass die Größen landwirtschaftlicher Betriebe weiter zunehmen.

Abbildung 25: Unterschied von Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe und Betriebsgröße [lxxix]

Weltweit gesehen sind es nur 2 % der agrarischen Betriebe, die über zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschaften (also tatsächlich Großbetriebe sind). Dabei gibt es in einigen „Entwicklungsländern“ sogar die größten landwirtschaftlichen Betriebe mit über 10.000 ha. Inzwischen werden solche Großflächen auch zu starken Investitionsfeldern des multinationalen Kapitals. Dagegen gelten laut den Statistiken der FAO 80 % der landwirtschaftlichen Betriebe als Kleinbetriebe mit weniger als 2 ha. Von den weltweit geschätzten 580 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben gelten 88 % als „Familienbetriebe“. Von den 2,6 Milliarden Menschen, die heute in der Landwirtschaft arbeiten, arbeitet also ein Großteil weiter auf kleinster Fläche, ist aber für einen Großteil der Nahrungsmittelversorgung der armen Länder verantwortlich. Dabei ist der Begriff des „Familienbetriebs“ der FAO sehr weit gesteckt: er umfasst Kleinbauern/-bäuerinnen, Dorfgemeinschaften, indigene Bewirtschaftung etc. (lt. FAO werden z. B. auch 33 % der Waldfläche der Welt „gemeinschaftlich“ bewirtschaftet). Die Bedeutung dieser Kleinbetriebe wird auch klar, wenn die FAO behauptet, dass sie für etwa 80 % der Nahrungsmittelgrundversorgung gerade in den „Entwicklungsländern“ verantwortlich sind. Folglich ist damit ihre Verdrängung durch die Weltmarktdominanz des globalen Agrobusiness für viele Länder existenzbedrohend – wie man nach der Krise 2008/2009, die zu einem starken Anstieg der Weltmarktreise führte, sehen konnte. Zusätzlich gibt es eine starke regionale Differenzierung: Während in Lateinamerika die großflächige Landwirtschaft schon länger dominant ist, befindet sie sich in Asien und Afrika erst auf dem Vormarsch. Die Abbildung zeigt die durchschnittliche „Hofgröße“ nach Region in ha. Daher ist es kein Wunder, dass in weiten Teilen Afrikas und Asiens (vor allem dem indischen und indochinesischen Subkontinent) heute noch über 40 % der Menschen von der Landwirtschaft leben, während dieser Anteil in Lateinamerika und den imperialistischen Ländern unter 5 % liegt. Letzteres wird laut offizieller Statistik inzwischen auch von China behauptet (ein Zeichen einer massiven gesellschaftlichen Veränderung in den letzten zwei Jahrzehnten).

Abbildung 26: Durchschnittliche Hofgröße in Hektar nach Region [lxxx]

Der Fortschritt der kapitalistischen Durchdringung der Landwirtschaft ist wie jeder im Kapitalismus eine zweiseitige Angelegenheit. Die grundlegende Vergesellschaftung auch der landwirtschaftlichen Arbeit (im Verbund mit vorgelagerter Schaffung von Voraussetzungen und nachgelagerter Verarbeitung) ist sicherlich ein Fortschritt für die Ernährungsgrundlagen einer wachsenden Weltbevölkerung. Andererseits setzt sie einen elementaren Bereich der Grundversorgung der Krisenhaftigkeit dieser Produktionsweise aus, genauso der ökologischen Katastrophe des Verwertungszwangs ohne Grenzen der Nachhaltigkeit. Die Zerstörung der traditionellen landwirtschaftlichen Strukturen, ohne dass die vom Land vertriebenen Arbeitskräfte vollständig in die industrielle Akkumulation aufgesogen werden können, führt zum Entstehen prekärer Existenzbedingungen rund um die großen Metropolen der Halbkolonien (bzw. zu großen Migrationsbewegungen). Dies beinhaltet auch das Wiederentstehen von Formen der solidarischen Subsistenzwirtschaft in prekärer Form.

Die Frage der „Dorfgemeinschaft“ bleibt also aktuell. Marx gibt hier insofern einen wichtigen Hinweis, als er den Übergangscharakter dieser Erscheinungen analysiert hat. Sie sind durch ihre Elemente kollektiver Arbeit nicht an sich „Keimzellen des Kommunismus“. Sie sind vielmehr unter den vorherrschenden kapitalistischen Bedingungen immer eine Notgemeinschaft als Resultat besonderer Bedingungen der Durchsetzung des Kapitalismus auf dem Land. In Bezug auf die russische Dorfgemeinde stellt Marx deren Rückständigkeit, Elend und Zersplitterung fest – alles Elemente, die überwunden werden müssen, auch in einer sozialistischen Revolution. Andererseits gab es in Russland eine lange Tradition des Zusammenschlusses der Dorfgemeinden in sogenannten Artels, einer Form, die im Westen als „Genossenschaften“ bezeichnet wurde. Das Artel beinhaltete gemeinsames Eigentum an den Gerätschaften, dem Saatgut und den gemeinschaftlich erarbeiteten Produkten, ließ aber den einzelnen Bauern/Bäuerinnen das Eigentum an Häusern und selbst bebauten Nutzflächen. Im Unterschied zu westlichen Genossenschaften war es weniger formalisiert und mehr Zusammenschluss von Großfamilien zu einem Verband.

Marx sieht in dieser Tendenz die Möglichkeit, die Revolution in der Stadt mit der auf dem Land zu verbinden. Die russische Dorfgemeinde sei durch die Entwicklung der kapitalistischen Landwirtschaft extrem bedroht. Andererseits ermögliche eine sozialistische Revolution, dass sie den Landgemeinden die Mittel nicht nur zum Überleben liefert, sondern ihnen auch eine Perspektive der Weiterentwicklung des Artel-Wesens bietet: „Einerseits gestattet ihr das Gemeineigentum am Boden, den parzellierten und individualistischen Ackerbau unmittelbar und allmählich in kollektive Bearbeitung umzuwandeln; und die russischen Bauern betreiben dies ja bereits auf den ungeteilten Wiesen. Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer maschinellen Bearbeitung in großem Maßstab geradezu ein; das Vertrautsein des Bauern mit den Artelbeziehungen erleichtert ihm den Übergang von der Parzellen- zur genossenschaftlichen Arbeit, und schließlich schuldet ihm die russische Gesellschaft, die solange auf seine Kosten gelebt hat, die notwendigen Vorschüsse für einen solchen Übergang“ [lxxxi].

Es wird klar, dass Marx eine massenhafte Aneignung von Grund und Boden durch die Dorfgemeinden vorhersah, die für eine genossenschaftliche Bewirtschaftung gewonnen werden mussten. Kernelement dieser Genossenschaften musste ihre Entschuldung und die Bereitstellung der produktiven Mittel für die Kollektivbewirtschaftung sein, also die Ausrüstung der Genossenschaften mit Maschinerie, Saatgut, Wissen etc., die sie zur produktiven Bewirtschaftung des kollektivierten Landes befähigen. Eben letzteres ist es, was bürgerliche Agrarreformen den „begünstigten“ Bauern/Bäuerinnen nicht zuteilen – sie mögen Böden erhalten, sind aber nicht befähigt, sie schuldenfrei auch in entsprechend konkurrenzfähiger Form zu bewirtschaften.

Tatsächlich waren in der Russischen Revolution die Dorfgemeinden die Zentren der bäuerlichen Aneignung. Mit dem „Dekret über den Boden“, in dem die Sowjetregierung diese Aneignungen sanktionierte, gewann diese auch die Unterstützung der Bauern-/Bäuerinnenmassen. Allerdings gelang es in Zeiten des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus, nur wenige Dorfgemeinden für Kollektivierung in Form von Genossenschaften zu gewinnen. Dazu fehlten auch die Mittel aus einer zusammenbrechenden Industrie, die vor allem auf Kriegsproduktion ausgerichtet war, um hier der Bauern-/Bäuerinnenschaft etwas bieten zu können. Die Dorfgemeinden blieben Subsistenzwirtschaften zum Überleben im Bürgerkrieg und mussten mit Zwangsmaßnahmen zur Ernährung der Städte gezwungen werden. Das Auseinanderklaffen von Industrie- und Agrarpreisen (die sogenannte Scherenkrise) führte auch nach Ende des Bürgerkriegs zu einem faktischen Produktionsstreik der Landwirtschaft. Dies konnte im Rahmen der NÖP nur durch die Liberalisierung des Agrarmarktes und Förderung von privater Landwirtschaft überwunden werden. Während die Zahl genossenschaftlicher Betriebe auf unter 5 % sank, stieg die von kleinen und mittleren privaten Bauern/Bäuerinnen enorm an. Dies erwuchs nicht aus einer mangelnden Betonung der „kommunistischen Elemente“ der Dorfgemeinde durch die Bolschewiki, sondern aus der Dynamik der Dorfgemeinde unter den gegebenen Umständen selbst.

Die Probleme der frühen Sowjetunion sind tatsächlich exemplarisch für Länder, bei denen eine antikapitalistische Umwälzung mit der Notwendigkeit der nachholenden Entwicklung verbunden ist. Russland hatte einerseits eine hochentwickelte, auf den Weltmarkt ausgerichtete Industrie, die im Rahmen der Gesamtökonomie zwar klein war, aber das herausragendste Wachstum aufwies. Andererseits war der Binnenmarkt von rückständigen Strukturen, insbesondere in der Landwirtschaft bestimmt, in der insbesondere Kleinbetriebe und Dorfgemeinden wesentlich für die Nahrungsmittelversorgung blieben. Die moderne Industrie war durch die Umwälzung nicht nur geschwächt, sondern war auch gar nicht auf die Bedürfnisse der Binnenökonomie ausgerichtet. Die Landwirtschaft war zwar umverteilt, aber nicht kollektiviert. Sie war einer der zentralen Teile der Ökonomie, der weiterhin über den Markt mit dem verstaatlichten Teil der Ökonomie im Austausch stand. Für diese Situation entwickelte der führende bolschewistische Ökonom Jewgeni Preobraschenski die Theorie der „ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“ [lxxxii].

Hiernach gibt es einerseits die Entwicklung der vergesellschafteten Industrie, die nicht mehr dem Wertgesetz folgt – in der also die Entscheidungen über Produktivitätsentwicklung, Arbeitskräfteeinsatz, Produktionsmenge etc. bewusst, über einen Entwicklungsplan, gefällt werden. Diese sozialistische Akkumulation muss unter Bedingungen der nachhaltigen Entwicklung schrittweise mehr und mehr Wirtschaftszweige einbeziehen, die zunächst aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus nicht vergesellschaftet werden können. Hier spricht Preobraschenski von einem der ursprünglichen Akkumulation ähnlichen Prozess, in dem ein „Werttransfer“ oder „ungleicher Tausch“ von den nichtsozialistischen Sektoren in die sozialistischen stattfindet. Auch hier kann wieder nur in analoger Weise von Werttransfer gesprochen werden, da ja im sozialistischen Sektor gar kein Wert produziert wird. Sehr wohl handelt es sich aber wiederum um einen Vergleich von Arbeitsquanten, die jeweils in der staatlichen Industrie gegenüber der privaten Landwirtschaft geleistet werden. Erhöht sich zum Beispiel die Produktivität der Traktorenfertigung, so kann dies in einer Preisreduktion weitergegeben werden – oder zu Aneignung von landwirtschaftlicher Mehrarbeit führen, durch nur teilweise Senkung der Industriepreise. Letzteres lässt sich wiederum in eine Ausweitung der Industrie umsetzen, durch die größere Zahl an ArbeiterInnen, die ernährt werden können.

Der Vorschlag von Preobraschenski, dem auch Trotzki gefolgt ist, sah also vor, durch Konzentration auf die Modernisierung der Industrie und ihre Ausrichtung auf die Binnenbedürfnisse auch Anreize für die Entwicklung der Landwirtschaft zu setzen, um insgesamt ein Wachstum zu erzielen, das die weitere sozialistische Akkumulation ermöglichen würde. Gleichzeitig sollte das Industriemonopol dazu genutzt werden, die Bildung landwirtschaftlicher Genossenschaften (Kolchosen) durch deren bevorzugten Zugang zu Produktionsvoraussetzungen und den Aufbau eines staatlichen Verteilungsmechanismus landwirtschaftlicher Güter anzureizen.

Die Parteiführung um Stalin und Bucharin folgte diesem Weg nicht, sondern setzte auf die Parallelentwicklung von privater Landwirtschaft und einem auf die Stabilisierung der bestehenden Industrien ausgerichteten ersten 5-Jahresplan 1927. Dies führte zu einer Verschärfung der Scherenkrise und einer Bedrohung der sozialen Basis der Revolution durch eine wachsende private Bauern-/Bäuerinnenschaft. Stalin war Ende der19 20er Jahre daraufhin zu einer totalen Kehrtwende gezwungen – der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Statt wie Preobraschenski/Trotzki auf die langfristige Überzeugung der Bauern-/Bäuerinnenschaft und ihre organische Eingliederung in die Kollektivwirtschaft zu setzen, wurde diese gegen großen bäuerlichen Widerstand eingeführt, ohne die Vorbereitungen für dafür notwendige Planungsstrukturen und deren Zusammenwirken mit der industriellen Entwicklung getroffen zu haben. Auch wenn das Kolchosensystem letztlich bis Mitte der 1930er Jahre zum Funktionieren gebracht wurde, hatte dies Tausende von Opfern gefordert und war von vornherein mit starken Effektivitätsproblemen konfrontiert.

In der Dependenztheorie, z. B. bei Frank oder Amin, finden wir einen Anklang an das Stalin’sche Modell des „Sozialismus in einem Land“, indem sie als Antwort auf ungleichen Tausch und monopolistische Surplusabschöpfung eine Wirtschaftspolitik der Autarkie vorschlagen, die einzig eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde. Die Sowjetunion war durch die historischen Umstände zunächst auf eben eine solche Autarkie (Zusammenbruch des Außenhandels bis Mitte der 1920er Jahre) zurückgeworfen – und selbst unter den günstigen Bedingungen eines sehr großen, bevölkerungsreichen Landes mit vielen natürlichen und kulturellen Ressourcen erwies sich die autarke nachholende Entwicklung als Utopie. Die HauptträgerInnen der Umwälzungen auf dem Land werden in vielen Fällen wie in der Sowjetunion nicht von vornherein für kollektive landwirtschaftliche Bewirtschaftung zu gewinnen sein. Auch wenn es durch die größeren Agrarbetriebe heute mehr Möglichkeiten für von Beginn an verstaatliche Landwirtschaft gibt, wird insbesondere die Versorgungssicherheit bei Rückfall auf Autarkie wesentlich durch einen Agrarmarkt von KleinproduzentInnen gesichert werden müssen. Dies zu überwinden bedarf es wie gesehen einer Industrie, die durch die Herauslösung aus dem Weltmarkt zunächst überhaupt nicht dafür geeignet ist.

Hier kommt ein zweiter, noch wesentlicherer Faktor dazu: Selbst die Sowjetunion erwies sich letztlich nicht als unabhängig vom Weltmarkt, die Autarkie war auch in Bezug auf die industrielle Entwicklung eine reaktionäre Utopie. So stellte Trotzki 1928 fest [lxxxiii], dass die industrielle Basis der russischen Industrie auch damals noch zu zwei Dritteln aus Produktionsmitteln bestand, die so nur das kapitalistische Ausland produzieren konnte. Aufgrund des nicht so schnell gelingenden eigenen Ersatzes war es unumgänglich, dass ab Mitte der 1920er Jahre nicht nur der Import von Produktionsmittelgütern zu Weltmarktpreisen immer mehr anstieg – sondern dies wurde sogar zu einem lebenswichtigen Element der industriellen Entwicklung. „Nichts versetzt der Theorie eines isolierten ‚vollständigen Sozialismus‘ einen so tödlichen Schlag wie die einfache Tatsache, dass unsere Außenhandelszahlen in den letzten Jahren zu den Eckpfeilern unserer Wirtschaftspläne geworden sind. Die ‚Schwachstelle‘ unserer Wirtschaft, einschließlich unserer Industrie, ist der Import, der vollständig vom Export abhängt“ [lxxxiv]. D. h., selbst unter den für eine nachholende Entwicklung günstigen Bedingungen eines staatlichen Außenhandelsmonopols ändert sich nichts an der Sprengwirkung von Weltmarktpreisen: Die Sowjetunion musste teure, lebenswichtige Industriegüter auf dem Weltmarkt erwerben, und dafür zu ungünstigen Preisen eigentlich dringend benötigte, niedriger wertige Produkte vor allem aus dem Agrarbereich exportieren. Das Außenhandelsmonopol schützte zwar die eigene Industrie im Binnenmarkt vor ausländischer Konkurrenz, soweit Import nicht notwendig war – auf Kosten des einheimischen Konsums. Gleichzeitig befestigte es damit aber auch ein Preissystem im Inneren, das den Produktivitätsstandards des Weltmarktes nicht entsprach (damit notwendig Schattenwirtschaft, doppelte Preise etc. hervorbrachte). „Unser Außenhandelsmonopol ist selbst das beste Zeugnis der Schwere und Gefährlichkeit unserer Abhängigkeit. Die entscheidende Bedeutung des Monopols für unseren sozialistischen Aufbau entspringt gerade diesem für uns ungünstigen Kräfteverhältnis. Doch wir dürfen keinen Augenblick vergessen, dass das Außenhandelsmonopol unsere Abhängigkeit vom Weltmarkt nur regelt, aber nicht abschafft“ [lxxxv].

Autarkie samt Importsubstitution, ursprüngliche sozialistische Akkumulation samt Kollektivierung der Landwirtschaft, Regulierung der Weltmarktabhängigkeit durch das Außenhandelsmonopol – all das können nur Übergangsformen, nicht das Gerüst einer Etappe des Aufbaus in einem Land sein, in dieser grundlegenden Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen ArbeiterInnenstaaten und kapitalistischem Weltmarkt. Diese Verschiebung kann es einerseits nur durch eine den Kapitalismus überholende Produktivitätsentwicklung geben, andererseits vor allem aber in der Ausweitung der revolutionären Umwälzung auf immer mehr Länder, so dass dem kapitalistischen Weltmarkt eine international geplante, den ungleichen Tausch überwindende, nachkapitalistische Weltökonomie entgegengestellt werden kann. Die wirtschaftlichen Zusammenschlüsse der degenerierten ArbeiterInnenstaaten, wie der Comecon/RGW, waren dagegen weder ökonomisch konkurrenzfähig noch in der Lage, einen internationalen Zusammenhang herzustellen, der auch nur ansatzweise die Vernetzungsqualitäten des kapitalistischen Weltmarktes gehabt hätte. Mangel an Demokratie, bürokratische Schwerfälligkeit und nationalistische Engstirnigkeit hemmten die Produktivkraftentwicklung weit mehr, als sie durch kollektive Eigentumsformen, Planwirtschaft und Außenhandelsmonopol gefördert werden konnten. Spätestens seit den 1970er Jahren war der technologische Rückstand so groß, dass die Finanzierung der notwendigen Importe durch immer größere Anstrengungen, Verschuldung und Inflation erkauft werden musste – was letztlich zum ökonomischen und politischen Kollaps führte.

Ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung und revolutionäre Strategie

Die hier entwickelte Dominanz des Weltmarktes, sowohl was die Halbkolonien betrifft als auch selbst die ersten ArbeiterInnenstaaten, ist Ausdruck der Totalität des Kapitalismus als Weltsystem. Das Kapital mag die nationale Zirkulationssphäre als seine ursprüngliche Operationsbasis betrachten – es bleibt doch seinem Wesen als Akkumulationsmaschine gemäß schrankenlos, d. h. gleichzeitig auf die Überwindung auch aller nationaler Schranken ausgerichtet. Spätestens mit der imperialistischen Epoche, der Vorherrschaft von „Monopolkapital“ und Kapitalexport, ist das globale kapitalistische System eine Totalität – es bestimmt alle seine Teile, seien diese auch noch so wenig „entwickelt“. In jedem Land wirken Weltmarkt und seine kapitalistischen Subsysteme vor Ort als die beherrschenden und seine Entwicklungsweise bestimmenden ökonomischen Faktoren. Jede Etappentheorie, die für ein Land noch etwa eine „anti-feudale“ Umwälzung als „nächsten Entwicklungsschritt“ oder ähnliches vorsieht, hat sich erübrigt – alle Bewegungen von Unterdrückten müssen allenthalben mit dem Kapital, sei es in seinen nationalen oder internationalen Repräsentanten, als ihrem Hauptgegner rechnen.

Die Auswirkung dieser globalen Totalität auf jedes einzelne, insbesondere (halb-)koloniale, Land im gegenwärtigen Kapitalismus hat Trotzki im Gesetz von der „ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung“ ausgesprochen[lxxxvi]. Die Stalin’sche wie auch die Dependenztheorie gehen dagegen von einer Verkürzung der Lenin’schen Imperialismustheorie zu einer Tendenz zur „ungleichzeitigen Entwicklung“ aus: Danach gab es zwar im Kapitalismus immer schon unterschiedliche Entwicklungsniveaus, die von den nachholenden Kapitalen nur schwer überwindbar waren (z. B. Deutschland und Japan, die mit besonderen Mitteln den Rückstand zu Britannien und Frankreich aufholen mussten), doch mit der imperialistischen Epoche ist es für Länder mit nachholender Entwicklung so gut wie unmöglich, in den Kreis der etablierten imperialistischen Ökonomien aufzusteigen. Oder wie es das Komintern-Programm von 1928 auf den Punkt brachte: „Die Ungleichmäßigkeit der politischen und ökonomischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz der kapitalistischen Entwicklung. Das Zeitalter des Imperialismus steigert und verschärft diese Ungleichmäßigkeit noch mehr“ [lxxxvii].

Wie Trotzki bemerkt, wird hier nur eine Seite des Kapitalismus und der Expansion des Kapitals beleuchtet, die eigentlich auch für die meisten anderen Produktionsweisen zutrifft. Dem Kapital ist aber auch die gegenteilige Tendenz zur Überwindung von Schranken und Ungleichzeitigkeiten eigen, wie es sich auch im nationalen Maßstab in der Ausgleichung der Profitrate zeigt. Wie gesehen, setzt sich der Ausgleich der Profitrate zwar nicht ungebremst auf dem Weltmarkt fort – trotzdem wird die Wertbildung im nationalen Rahmen in jedem Land dominiert von den Weltmarktbranchen, ganz egal, ob dies über Direktinvestitionen, Export-/Import-Industrien, Agroindustrien, Kredit- und Finanzkapital etc. geschieht. Die Entwicklung der für diese Kapitalbewegungen interessanten Sektoren wird vorangetrieben, während gleichzeitig die rückständigen durch die globale Organisation von Akkumulationsbewegung und Welthandel befestigt werden zum Zwecke des Werttransfers, Erhalten des niedrigen Lohnniveaus, ungünstigen Terms of Trade für die Waren dieser Sektoren – kurz als fortgesetztes Reservoir für neokoloniale Ausbeutung. Genau dies hat Trotzki im Sinn, wenn er die beiden Seiten der fieberhaften Entwicklung einerseits und der Befestigung von Rückständigkeit andererseits in eine widersprüchliche Tendenz fasst: „Der Imperialismus hat, dank seiner allgegenwärtigen, alles durchdringenden leichtbeweglichen dampfartigen Triebkraft – dem Finanzkapital – diese beiden Tendenzen noch verstärkt. Er verbindet die einzelnen Länder und Kontinente noch viel rascher und stärker miteinander. Er bringt sie in engste lebendige Abhängigkeit und gleicht deren Wirtschaftsmethoden, gesellschaftliche Formen und Entwicklungsstufen einander an. Er erreicht das aber durch solche feindseligen Methoden, durch solche Löwensprünge und Überfälle auf zurückgebliebene Länder und Gebiete, dass die von ihm angestrebte Vereinigung und Nivellierung der Weltwirtschaft noch viel stürmischer und konvulsionsartiger gestört wird, als es in der vorangehenden Epoche der Fall war“ [lxxxviii].

Diese Charakterisierung des globalen Kapitalismus passt offensichtlich sehr viel mehr auf die Entwicklung des Neokolonialismus nach 1945 als die Theorie von der sich „beständig verschärfenden Ungleichzeitigkeit“. Stattdessen sehen wir eine rasche Entwicklung bestimmter Sektoren und Regionen wie auch schnelle Umkehr in krisenhaften Perioden; großen Bedeutungsgewinn einiger auch industrialisierter Bereiche in der Peripherie, bei gleichzeitiger Steigerung der Abhängigkeit vom Finanz- und Konzernkapital des Zentrums; eine Zunahme von abgehängten Regionen, Bevölkerungsschichten, bei gleichzeitiger enormer Ausdehnung der LohnarbeiterInnenschaft – insgesamt aber jedenfalls eine immer größere Dominanz des Weltmarktes, der internationalen Produktions- und Handelszusammenhänge und nicht zuletzt der kulturellen Globalisierung. Die Entwicklung des globalen Kapitalismus macht die Form des Nationalstaates immer obsoleter, schwächt seine sowieso schon eingeschränkte Handlungsfähigkeit und führt schon von den materiellen Grundlagen zur Politisierung von übernationalen, globalen Fragen, die nur internationale politische Kräfte lösen können. Die einzige Form der internationalen Politik, die die Bourgeoisie in unserer Epoche besitzt, ist weiterhin die Aufteilung der Welt unter konkurrierende Großmächte, die auf dem Metropolenkapital ihre Macht begründen. Der Imperialismus ist daher die reaktionäre Lösung der Bourgeoisie für die Krisenhaftigkeit des globalen kapitalistischen Systems mit seinen Charakteristiken der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung und der Überholtheit des Nationalstaates.

Es ist daher klar, dass eine Perspektive der Überwindung des Kapitalismus, d. h. des Imperialismus, heute keine Revolution im nationalstaatlichen Rahmen mehr sein kann.

Eine der bedeutsamsten Auseinandersetzungen um die Oktoberrevolution ist sicherlich die Frage, ob in einem „unterentwickelten“ Land, das stark von einer „rückständigen“ Landwirtschaft und einer nur in bestimmten Zentren vorhandenen großen Industrie geprägt ist, überhaupt eine sozialistische Revolution möglich ist. Eine mechanische Anwendung der Marx’schen Formeln von der Entwicklung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen führte auch viele westliche „MarxistInnen“ zu der Ansicht, dass dort zunächst eine demokratische, bürgerliche Revolution nötig sei, die eine entsprechende Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft einleiten würde, die erst die Voraussetzungen für eine sozialistische Umwälzung schüfe. Wie wir gesehen haben, ist eine solche Entwicklungsperspektive für zurückgebliebene Länder in der imperialistischen Epoche jedoch eine Illusion, sowohl was die ökonomische Entwicklung betrifft (die höchstens bestimmte Bereiche im Interesse des Weltmarkts voranbringt, aber ansonsten die Rückständigkeit sogar befördert), als auch, was die Klassenbasis betrifft. Denn einerseits ist die Bourgeoisie vollständig mit dieser abhängigen Entwicklung verbunden und fürchtet die revoltierenden Massen weitaus, mehr als sie die Abhängigkeiten von den ausländischen Investoren überwinden will. Andererseits gibt es für den überwiegenden Teil der Landbevölkerung durch „Agrarreformen“ keine Perspektive außer weiterer Verdrängung von den agrarischen Produktionsmitteln. Damit hat die Russische Revolution in ihrem schnellen Übergang von der Februar- zur Oktoberrevolution die enge Verbindung aufgezeigt, die in der imperialistischen Epoche zwischen „demokratischen Aufgaben“ in den abhängig entwickelten Ländern und der Perspektive der sozialistischen Revolution besteht. Da die Bourgeoisie wesentliche Elemente dieser Aufgaben nicht umsetzen will und kann, wird sie nicht nur das Proletariat, sondern auch große Teile der ländlichen und kleinbürgerlichen Massen zu weitergehenden Schritten vorantreiben – mit der unerbittlichen Konsequenz, dass entweder Imperialismus und eigene Bourgeoisie eine konterrevolutionäre Stabilisierung erzwingen oder die Revolution zur Enteignung der Bourgeoisie, zur sozialistischen Revolution voranschreitet.

Dies meinte Trotzki, als er den von Marx in der 1848er Revolution geprägten Begriff der „permanenten Revolution“ erst auf die Russische Revolution und dann auf die seit den 1920er Jahren in der halbkolonialen Welt beginnenden Revolutionen anwandte [lxxxix]. In seiner berühmten gleichnamigen Verteidigungsschrift von 1929 fasste Trotzki die Theorie in drei Punkte zusammen [xc]:

  • Charakter der Verbindung von demokratischen und sozialistischen Umwälzungen.
  • Dynamik der Klassenkämpfe nach der sozialistischen Umwälzung.
  • Notwendige internationale Verknüpfung der revolutionären Erschütterungen.

Die Veränderungen der globalen Ökonomie durch die Durchsetzung des Imperialismus als Weltsystem, geprägt durch die ungleichzeitige und kombinierte Entwicklung, bestimmen auch die Frage der „Reife“ der Widersprüche des Kapitalismus als Ganzes. Dieses oder jenes Land mag in seiner Entwicklung der einzelnen Elemente zurück sein, die als Voraussetzungen einer sozialistischen Umwälzung gelten können. Doch der Weltkapitalismus hat in seiner imperialistischen Entwicklung das Stadium erreicht, in dem er als Ganzes zu einem grundlegenden Hindernis geworden ist für eine ökonomisch und ökologisch sinnvolle Entwicklung der Produktivkräfte insbesondere in den Halbkolonien. Daher ist es kein Wunder, dass die Widersprüche des Systems gerade in den kapitalistisch gesehen rückständigeren Ländern aufbrechen müssen. Zentrale Probleme der Versorgung, Bildung, Gesundheit, Sicherung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land können auf der Grundlage der abhängig entwickelten Länder nur zu oft nicht auf „demokratische“ Weise gelöst werden – die nicht gelösten demokratischen Fragen verbinden sich notwendigerweise mit sozialen Explosionen. Je mehr Forderungen der Massen nach sozialen Veränderungen zur Umsetzung drängen, desto sicherer erfolgen die Reaktionen der imperialistischen Agenturen und der antidemokratischen Repression. Daher ist die alte „Entwicklungstheorie“ einer langen Phase der demokratischen und sozialen Umgestaltung der Gesellschaft als Voraussetzung für den Sozialismus unmöglich geworden. Grundlegende Kämpfe um soziale und demokratische Rechte setzen in zugespitzten Situationen in den Halbkolonien immer die Frage Sozialismus oder Konterrevolution auf die Tagesordnung. Auch in China und Kuba erwiesen sich die Pläne für eine länger dauernde Phase der „neuen Demokratie“ [xci] in Koexistenz mit „nationaler Bourgeoisie“ und westlichem Imperialismus als Illusion – vor die Wahl gestellt, entschieden sich die stalinistischen Führungen dann sehr schnell für ihre Variante der „Diktatur des Proletariats“.

Der objektiven Dynamik der Verbindung der Fragen von demokratischer und sozialistischer Revolution entspricht aber auch die Richtung der Klassenkämpfe. Die Bourgeoisie hat nicht nur in den Metropolen ihre „revolutionäre Rolle“ verloren (wie dies Marx schon 1848 festgestellt hat). Auch in den Halbkolonien brauchte es nicht erst die Analysen von André Gunder Frank, um festzustellen, dass es keinen Teil der Bourgeoisie gibt, der dort noch eine fortschrittliche, anti-(neo-)koloniale Rolle spielt (also auch keine „nationale“ im Vergleich zur „Kompradoren“-Bourgeoisie). Die Bourgeoisie der Halbkolonien, selbst von Monopolisierungen der wichtigen Wirtschaftsbereiche geprägt, ist aufs Engste in die Hierarchie des weltweiten Monopolkapitals eingebunden. Daher stehen die halbkolonialen Volksmassen, die ArbeiterInnen, kleinen Bauern und Bäuerinnen, Landlose, städtische Arme, KleinbürgerInnen des informellen Sektors etc. in ihren Kämpfen letztlich gegen den Verband der Herrschenden im In- und Ausland: die große und mittlere Bourgeoisie, die großen GrundbesitzerInnen, die VertreterInnen der internationalen Konzerne und ihre Agenturen in den Metropolen. Angesichts des weiterhin großen Anteils der Landbevölkerung in vielen Halbkolonien spielt auch die Rebellion der ländlichen Armut und ihre berechtigten Forderungen nach Landaufteilung in den Klassenkämpfen eine große Rolle. Als Marx erkannte, dass in der 1848er Revolution die Bourgeoisie nicht mehr in der Lage war, der ländlichen Rebellion eine soziale Perspektive zu geben, sah er voraus, dass damit auch die Agrarrevolution eine neue Dynamik erhalten würde: Von einer „demokratischen“ Frage, die natürlicherweise die Bauern-/Bäuerinnenschaft in den Windschatten einer bürgerlichen Revolution führt, zu einer, die nur eine proletarische Revolution lösen kann: „Die ganze Sache in Deutschland wird abhängen von der Möglichkeit, der proletarischen Revolution durch eine Art zweiter Auflage des Bauernkrieges Deckung zu geben.“ [xcii]

Weiterhin sind die armen Volksmassen auf dem Land in den Halbkolonien viel zu aufgefächert in ihren sozialen Lagen und Interessen, als dass sie eine einheitliche, für die gesamte Gesellschaft weisende Entwicklungsperspektive hervorbringen könnten. Notwendigerweise müssen sie sich objektiv mit einer der beiden Hauptklassen verbinden, um ihren Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. In der imperialistischen Epoche geraten ihre revolutionären Bewegungen dabei aber notwendiger Weise in scharfen Widerspruch mit der Bourgeoisie, so dass sie offen für das Bündnis mit revolutionären Bestrebungen der ArbeiterInnenklasse werden. Lenin und Trotzki erkannten daher sehr richtig, dass nach der Februarrevolution die russische Auflage des Bauern-/Bäuerinnenkriegs zur hervorragenden Deckung der proletarischen Revolution werden konnte – dass daher das Aufgreifen der Landfrage, wie Marx es nach 1848 und später in den Sassulitsch-Briefen angedeutet hatte, zur Grundlage einer proletarischen Diktatur werden kann, die sich auf das Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stützt.

Wesentlich bleibt hier die Erkenntnis Trotzkis (der zweite seiner Punkte), dass auch dieses Bündnis keine lange Etappe einer „Diktatur der Arbeiter und Bauern/Bäuerinnen“ ist. Die sozialistische Revolution mag vor allem durch die Aufstände am Land sich siegreich durchsetzen. Entscheidend für ihre Befestigung und Etablierung ist jedoch die Umsetzung eines Programms der proletarischen Diktatur, d. h. der Umsetzung von Vergesellschaftung der ökonomischen Schlüsselbereiche, der Kontrolle über den Außenhandel und des Beginns eines langfristigen sozialistischen Umbauprojektes. Dies muss notwendigerweise zu Konflikten mit den kleinbürgerlichen Bestrebungen auf dem Land führen, zu einem Klassenkampf zur Vergesellschaftung auch der landwirtschaftlichen Produktion (z. B. über den beschriebenen Prozess des Genossenschaftswesens). Jegliche Verwischung der Klassenfrage, z. B. durch Bildung populistischer Arbeiter-/Bauern-/Bäuerinnen-Parteien [xciii], angeblich sozialistischer Umgestaltungen durch „linke“ Bauern-/Bäuerinnenparteien oder eben die Konstruktion einer Etappe der „demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern/Bäuerinnen“, wie er für eine bestimmte Phase des Stalinismus typisch war, führen damit grundlegend in die Irre. Ganz zu schweigen natürlich von der maoistischen Verirrung des Bündnisses der „vier revolutionären Klassen“ (Proletariat, Kleinbürgertum, Halbproletariat und (!) nationale Bourgeoisie). Letztlich erwiesen sich die stalinistischen FreundInnen des Bauern-/Bäuerinnentums in den zugespitzten ökonomischen Krisen, die sie mit ihrer Agrarpolitik auslösten, als ihre SchlächterInnen, unfähig die Bauern-/Bäuerinnenschaft wirklich für eine sozialistische Umgestaltung der Verhältnisse auf dem Land zu gewinnen.

Heute ist es keine Frage mehr, dass in den Globalisierungswellen des Kapitals seit dem 2. Weltkrieg das Lohnarbeitsverhältnis zur vorherrschenden Form der Arbeitsorganisation weltweit geworden und damit auch das Weltproletariat enorm gewachsen ist. Die dargestellte Ausweitung des Welthandels, die Ausdehnung der multinationalen Kapitale und die Schaffung tief gestaffelter internationaler Produktionsketten haben eine Unzahl „chinesischer Mauern“ zwischen Kapital und Arbeit niedergerissen, haben nationale Grenzen immer mehr zu einem Anachronismus gemacht. Trotzdem brauchen die bürgerlichen Klassen zur Herstellung ihrer politischen und ideologischen Hegemonie weiterhin vor allem den Nationalstaat und die nationalistische Aufspaltung der Welt. Kleinbürgertum, lohnabhängige Mittelschichten und die mit ihnen verbundenen Teile von ArbeiterInnenbürokratie und ArbeiterInnenaristokratie krallen sich ebenso an der nationalstaatlichen Absicherung ihrer besonderen „Vorrechte“ fest. Es ist im Wesentlichen die WeltarbeiterInnenklasse, die objektiv als dem Weltkapital gegenüberstehende Kraft ein fundamentales Interesse an der Überwindung des Nationalstaates, seinen krisenhaften Erscheinungen in der imperialistischen Epoche und an einem international vereinigten Kampf gegen das global agierende Kapital hegt. Dies ist die Grundlage des dritten Merkmals der permanenten Revolution – ihr notwendig internationalistischer Charakter: „Der internationale Charakter der sozialistischen Revolution … ergibt sich aus dem heutigen Zustand der Ökonomik und der sozialen Struktur der Menschheit. Der Internationalismus ist kein abstraktes Prinzip, sondern ein theoretisches und politisches Abbild des Charakters der Weltwirtschaft, der Weltentwicklung der Produktivkräfte und des Weltmaßstabes des Klassenkampfes. … Die Aufrechterhaltung der proletarischen Revolution in nationalem Rahmen kann nur ein provisorischer Zustand sein… Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution kein in sich verankertes Ganzes: sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette. Die internationale Revolution stellt einen permanenten Prozeß dar … “ [xciv].

In allen Krisen und tiefgreifenden Erschütterungen in der neokolonialen Welt hat sich diese Verkettung revolutionärer Prozesse, von der Trotzki hier spricht, bestätigt. Zuletzt zeigte sich dies, als sich mit den Nachwirkungen der großen Weltrezession 2009 die Versorgungslage in vielen arabischen Halbkolonien verschärfte und die folgenden Proteste zu einer verallgemeinerten Revolte gegen jahrzehntelange Unterdrückungsregime fortschritten. Der „Arabische Frühling“ erfasste von Tunesien ausgehend ein arabisches Land nach dem anderen und eröffnete eine erste Phase demokratischer Revolutionen. Ohne eine politische Führung, die diese Eröffnung nutzen konnte, die demokratische Umwälzung zu einer sozialen Umwälzung fortzutreiben, mündete der Prozess notwendigerweise in einer blutigen Konterrevolution, in Bürgerkriegen wie in Libyen oder Syrien, letztlich in der Restauration repressiver proimperialistischer Regime. Ebenso führte die „Schwellenländerkrise“ in Gefolge der langen Stagnation nach 2009 am Ende des Jahrzehnts zu einer untragbaren sozialen Situation in Lateinamerika, die 2019 zu einem Proteststurm führte, der ebenso ein Land nach dem anderen erfasste. In der gegenwärtigen Periode des globalisierten Kapitalismus sind diese internationalen Kettenreaktionen unvermeidlich. Ebenso stellt es sich immer mehr als zentrales Problem der Massenproteste heraus, dass es nicht gelingt, darauf auch eine internationale Antwort zu geben, eine internationale Koordination der Kämpfe zu bilden, die das Problem an der imperialistischen Wurzel packt.

Die gegenwärtige Krise, die mit der Unfähigkeit des Weltkapitalismus im Umgang mit der Corona-Pandemie beginnt und sich zu einem der schwersten Weltwirtschaftseinbrüche in der Geschichte des Kapitalismus entwickelt, wird die Frage der internationalen Antwort auf die Krise auf eine neue Qualität heben. Insbesondere die neokoloniale Welt, die sowohl durch die ungenügenden Gesundheitssysteme als auch durch den massiven Kapitalabfluss im Gefolge der imperialistischen Krisenpolitik schwer gebeutelt ist, wird wiederum im Zentrum von verzweifelten Massenrevolten stehen. Die Frage der permanenten Revolution wird sich in einem nie gekannten globalen Ausmaß stellen. Der Aufbau einer proletarischen Internationale, die gegenüber dem versagenden Weltkapitalismus die Kämpfe der ArbeiterInnen und der verzweifelten Massen länderübergreifend vereint, ist mehr denn je das Gebot der Stunde!


Endnoten

[i] „Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben.“ MEW 42 („Grundrisse“), Berlin/O. 1983, S. 321.

[ii] In Portugal war schon früh der Begriff „Imperio“ für die „überseeischen“ Besitzungen im Gebrauch, auch wenn dies mehr einen mittelalterlich-religiösen Hintergrund hatte. Tatsächlich wurden ab dem 17. Jahrhundert die meisten Kolonialunternehmungen Besitz privater Handels- und Aktiengesellschaften. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Imperiumsbegriff wieder modern. Auch der britische „Empire“-Begriff hatte jedoch starke religiöse Bezüge und wurde mit Bibelzitaten hinterlegt, die angeblich die Herrschaft über alle Weltmeere für ein christliches Imperium voraussagen. Zur christlichen Mythologie kam aber im 19. Jahrhundert eine immer ausgeprägtere rassistische Komponente.

[iii] Anders als in den USA waren die Unabhängigkeitsbewegungen in  Lateinamerika erst durch die Schwächung Spaniens durch die napoleonischen Kriege erfolgversprechend, brauchten aber auch dann noch mehrere Anläufe, bis in den 1820er Jahren eine Reihe schwacher und rivalisierender Republiken entstand – entgegen dem Traum Simon Bolivars von einer geeinten lateinamerikanischen Republik. Mit der französischen Revolution gelang auch erstmals eine erfolgreiche SklavenarbeiterInnenrevolution, die letztlich zur Unabhängigkeit Haitis von Frankreich führte. Die restliche Karibik blieb bis ins 20. Jahrhundert Kolonialgebiet – auch Kuba, als letzte wichtige spanische Kolonie.

[iv] Das Propagieren des „Freihandels“, des Abbaus von Handelsschranken und Zöllen und die „Öffnung“ von Märkten als Ablösung des Merkantilismus war die theoretisch vorherrschende Richtung der politischen Ökonomie in Großbritannien seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Vorstellung, dass ohne staatliche Regulierung global frei agierendes Kapital überall zu Wohlstand und Demokratie führen würden, wurde jedoch schnell selbst zum Vorwand politisch-militärischer Intervention.

[v] E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München, 1998, S. 253

[vi] Zitiert nach: Der Spiegel, „Der heiße Ziegelstein“, 3.8.1960 (zum Dekolonisationsprozess von Belgisch-Kongo). Auch lesenswert, um den zu dieser Zeit noch sehr offenen Rassismus auch solcher Blätter wie „Der Spiegel“ gegenüber „den Negern“ zu bemerken.

[vii] Siehe ausführlich: W. Reinhard, Die Unterwerfung der Welt, Kapitel „Ein Dekolonisationsprogramm, die USA und der Nahe Osten“, S. 1121ff., München 2016

[viii] Raúl Prebisch war 1948 einer der Begründer der CEPAL, der Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik, und lange ihr Generalsekretär. In den 1930er Jahren war er Zentralbankchef Argentiniens gewesen. Hans Singer war Leiter der Entwicklungsabteilung im UN-Sekretariat, verantwortlich für den Aufbau von Entwicklungsbanken z. B. für Afrika und für Beschäftigungsprogramme der ILO.

[ix] José Antonio Ocampo/Mariangelica Parra, The continuing Relevance of the Terms of Trade and Industrialization Debate, in: Vernengo and Perez-Caldentey (eds), Ideas, Policies and Economic Development in the Americas, Routledge Studies in Development Economics, Routledge, 2007.

[x] Das Magazin „Monthly Review“ besteht seit 1949 als Sammelpunkt marxistischer Theorieproduktion in den USA. Zu seinen prägenden Gründungspersönlichkeiten zählten Paul M. Sweezy und Leo Huberman. Im gleichen Jahr stieß Paul A. Baran hinzu, später u. a. Harry Magdoff. Seit dessen Tod 2006 ist John Bellamy Foster der alleinige Herausgeber.

[xi] In der deutschen Übersetzung unter diesem Titel erschien es 1968 bei EVA, Frankfurt.

[xii] Ebd., S. 12

[xiii] Ebd., S. 14. Frank blieb intellektueller Begleiter verschiedener linker Bewegungen in Lateinamerika, musste mehrfach ins Exil gehen. Er war bei ImperialistInnen wie StalinistInnen gleichermaßen unbeliebt und mit diversen Lehr- und Einreiseverboten belegt. Nach dem Militärputsch in Chile fand er untergeordnete akademische Posten in Westdeutschland und den Niederlanden.

[xiv] Franks Aufsatz hier bezieht sich speziell auf Chile (seiner damaligen Wirkungsstätte), das hier aber nur exemplarisch genannt ist.

[xv] Ebd., S. 25f.

[xvi] P. Baran, On the political Economy of Backwardness, Manchester, 1952

[xvii] Im Original als „Monopoly Capital (For Che Guevara)“ 1966 bei Monthly Review Press erschienen, auf Deutsch 1967 bei Suhrkamp.

[xviii] Rudi Dutschke bezeichnete es in seinem 1966 erschienenen Aufsatz „Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart“ als den „unserer Meinung nach bedeutendsten theoretischen politökonomischen Beitrag seit dem Ende des zweiten Weltkriegs“ (SDS-Korrespondenz Jg. 1, Sondernummer, Frankfurt a. M., 1966, S. 22). 

[xix] Baran/Sweezy, a. a. O., S. 15

[xx] Frank, a. a. O., S. 25.

[xxi] Paul Mattick war ein deutscher Rätekommunist, der seit 1926 in den USA lebte und seit den 1930er Jahren grundlegende politökonomische Analysen mit starken Rückbezügen auf das Werk von Marx und in Abgrenzung zur „offiziellen“ Marx-Lektüre erarbeitete. Er trug wesentlich zur Verbreitung der Präzisierung der Marx’schen Krisentheorie durch Henryk Grossmann und zusammen mit Roman Rosdolsky („Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen <<Kapital>>“, 1967) zur Rückbesinnung auf eine werttheoretisch begründete Kapitalismuskritik bei.

[xxii]                  Hier zitiert nach „Monopolkapital. Thesen zu dem Buch von Paul A. Baran und Paul M. Sweezy“, Hrsg. von Federico Hermanin, Karin Monte und Claus Rolshausen, EVA, Frankfurt/Main, 1969, S. 31 – 59.

[xxiii]                  Marx, „Das Kapital“, Band 3, MEW 25, Berlin/O. 1969, S. 886f.: „Es ist nach der bisher gegebenen Entwicklung überflüssig, von neuem nachzuweisen, wie das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit den ganzen Charakter der Produktionsweise bestimmt.“

[xxiv]                  Mattick, a. a. O., S. 32.

[xxv]                  Siehe auch: Marx, „Das Kapital“, Band 3, Kapitel 50, „Der Schein der Konkurrenz“: „Findet endlich die Ausgleichung des Mehrwerts zur Durchschnittsprofitrate ein Hindernis an … Monopolen …, so daß ein Monopolpreis möglich würde, der über den Produktionspreis und über den Wert der Waren stiege, auf die das Monopol wirkt, so würden die durch den Wert der Waren gegebnen Grenzen dadurch nicht aufgehoben. Der Monopolpreis gewisser Waren würde nur einen Teil des Profits der andern Warenproduzenten auf die Waren mit dem Monopolpreis übertragen. Es fände indirekt eine örtliche Störung in der Verteilung des Mehrwerts unter die verschiedenen Produktionssphären statt, die aber die Grenze dieses Mehrwerts unverändert ließe.“ (a. a. O., S. 868f.)

[xxvi] Marx, ebd., S. 230.

[xxvii] Mattick, a. a. O., S. 58

[xxviii] Ebd., S. 45

[xxix] Ebd.

[xxx] A. Marquetti, Extended Penn World Tables (EPWT), https://sites.google.com/a/newschool.edu/duncan-foley-homepage/home/EPWT

[xxxi] Michael Roberts, Towards a World Rate of Profit – again, 2017, https://thenextrecession.wordpress.com/2017/09/09/towards-a-world-rate-of-profit-again/

[xxxii] Aus: T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 218

[xxxiii] CreditSwiss, Zürich, 2010-2019, https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html

[xxxiv] Credit Swiss, Global Wealth Report 2012, S.11, Figure 3

[xxxv] EPWT, Spalten J und K – in KKP von 2005

[xxxvi] Ebd.

[xxxvii] Die FLN-Revolutionsregierung hatte in den Friedensabkommen mit Frankreich Erdöl und Gas in der Sahara weiterhin in französischem Besitz belassen, anscheinend weil sie meinte, die garantierten Zahlungen aus den Einkünften der 4 französischen Konzerne für ihre Zwecke zu gebrauchen. 1971 wurde gegen den Widerstand der französischen Regierung ein Aufkauf von 51 % des Gesellschaftseinkommens durchgesetzt. Der Beitrag Algeriens zur Preispolitik der OPEC war in Folge entscheidend für den „Ölpreisschock“ 1973 und die danach ausgelöste Weltwirtschaftsrezession 1974.

[xxxviii] Aus den EPWT

[xxxix] Siehe z. B. WTO u. a., Global Value Chain Report 2017, Measuring and Analyzing the Impact of GVCs on Economic Development

[xl] Ebd., S. 55.

[xli] Ebd., S. 51

[xlii] Ebd., The middle-income trap and upgrading along global value chains, S. 119 – 134

[xliii] Aus den EPWT, Spalte J.

[xliv] Aus: T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, a. a. O., S. 92

[xlv] World Bank Data Team, New Country Classifications by Income Level, 2019, https://blogs.worldbank.org/opendata/new-country-classifications-income-level-2019-2020

[xlvi] EPWT, Spalte T,

[xlvii] Themistoklis Kalogerakos, Financialization, the Great Recession and the Rate of Profit: profitability trends in the US corporate business sector, 1946 – 2011, Lund 2013

[xlviii] Ebd., S. 28

[xlix] D. Zachariah, Determinants of the average profit rate and the trajectory of capitalist economies. Presented at the conference on Probabilistic Political Economy, Kingston University, July 2008. Published in Bulletin of Political Economy, Vol.3, No.1, New Dehli, 2009

[l] Ebd., S. 10

[li] Berechnungen basierend auf BIP, GNI in current US Dollar; Daten aus: Weltbank, World Development Indicators, https://databank.worldbank.org/data/download/WDI_excel.zip

[lii] Aus: United Nations Conference on Trade and Development, World Investment Report 2019, S. 12. Hier sind „Remittances“ die Transferzahlungen von MigrantInnen. Unter „other investments“ zählen z. B. Kredite oder Derivate.

[liii] EUROSTAT 2017, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/World_direct_investment_patterns

[liv] UNCTAD, World Investment Report 2019, S.2015

[lv] Tatsächlich wurde Emmanuels Theorie erst durch sein 1969 veröffentlichtes Buch „L’échange inégal: Essais sur les antagonismes dans les rapports économiques internationaux“, Paris (François Maspero), bekannt, das durch spätere Übersetzungen erst in den 1970er Jahren international zugänglich war. Erstmals vertreten hat Emmanuel die Theorie aber bereits in Vorlesungen in Paris Anfang der 1960er Jahre

[lvi] Die Darstellung und Kritik der Theorie stützt sich wesentlich auf: M. C. Howard/J. E. King, A History of Marxist Economy, London 1992, Band 2, Kapitel 10 „Unequal Exchange“, S. 186 – 204.

[lvii] Berechnung aufgrund der EPWT als Verhältnis von BIP zu Lohnsumme in KKP von 2005.

[lviii] J.-O. Anderson, Studies in the Theory of Unequal Exchange, Åbo (Turku), 1976; ausgeführt in Howard/King a. a. O., S. 195f., wo auch ein ausführliches Modellbeispiel gemäß Andersons Reformulierung der Theorie gerechnet wird.

[lix] Samir Amin, Unequal Development: An Essay on the Social Formations of Peripheral Capitalism, New York 1976 (Monthly Review Press), S. 143f.

[lx] Deutsche Bank, Jahresausblick 2017, interne Quellen und die Penn World Tables 2016: https://www.deutsche-bank.de/pfb/content/jahresausblick-2017_die-weltwirtschaft-im-zeichen-der-usa.html

[lxi] Das Programm wird heute unter Federführung der Weltbank durchgeführt und veröffentlicht seine Langfriststudien z. B. unter: https://www.worldbank.org/en/programs/icp. Die Daten, die im Folgenden verwendet wurden, stammen aus dem Download „ICP 2011 results Excel data file“.

[lxii] Berechnung aus dem ICP data report 2011

[lxiii] Ebd.

[lxiv] Siehe zusammenfassend: Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW 13, Berlin/O. 1974, S. 7ff.

[lxv] Siehe z. B.: R. Guha, Dominance without Hegemony: History and Power in Colonial India, Dehli, 1983. D. Chakrabarty, Provincializing Europe, Princeton, 2000.

[lxvi] Zur Kritik an der „postkolonialen Theorie“ siehe vor allem: V. Chibber, Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals, Berlin 2018.

[lxvii] In: Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika, Frankfurt a. M. 1968 (EVA), S. 220 – 276

[lxviii] Siehe vor allem: Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem, 4 Bände, 2004, 2012, 2004, 2012, Wien (Promedia). Eine kurze zusammenfassende Darstellung: I. Wallerstein, Welt-System-Analyse, Wiesbaden, 2019.

[lxix] I. Wallerstein, Welt-System-Analyse, a. a. O., S. 88

[lxx] R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, Gesammelte Werke Band 5, Berlin 1985, S. 5 – 411 (ursprünglich 1913)

[lxxi] Ebd., S. 325f., wo neben Algerien auch die Geschichte der indischen Landwirtschaft behandelt wird

[lxxii] Ebd., S. 323

[lxxiii] Wera I. Sassulitsch war eine russische Revolutionärin, die als 28-Jährige mit einem Attentat auf den Stadthauptmann von Petersburg russlandweit legendäre Bekanntheit erlangte (1878). Von den VolkstümlerInnen entwickelte sie sich im Exil zur Marxistin und wurde Mitbegründerin der ersten sozialdemokratischen Partei (1883) in Russland. Nach der ISKRA-Spaltung war sie Vertreterin der Menschewiki.

[lxxiv] Karl Marx, Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V.I. Sassulitsch, MEW 19, Berlin/O. 1974, S. 384 – 406. Der Brief selber findet sich im selben Band, S. 242f. Ebenso in diesem Band findet sich zum selben Thema eine Antwort an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski“, einer progressiven russischen Zeitschrift, S. 107 – 112.

[lxxv] Ebd., S. 111

[lxxvi] Ebd., S. 112

[lxxvii] Ebd., S. 384

[lxxviii] Ebd., S. 385

[lxxix] FAO, The State of Food and Agriculture 2014, S.12

[lxxx] FAO, Weltagrarbericht, https://www.weltagrarbericht.de/themen-des-weltagrarberichts/baeuerliche-und-industrielle-landwirtschaft.html

[lxxxi] MEW 19, a. a. O., S. 389

[lxxxii] E. Preobraschenski, Die Neue Ökonomik, Verlag Neuer Kurs, Berlin/W. 1971 (Original 1926); eine ausführliche und lesenswerte Analyse findet sich in: M. Seelos, Revisited: Die Theorie der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation. Oder: Welches Verhältnis kann die Planwirtschaft zu der bäuerlichen Agrarwirtschaft haben, Wien 2014. 

[lxxxiii] L.Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Der Programmentwurf der Komintern, Kapitel „Die Abhängigkeit der UdSSR von der Weltwirtschaft“, Essen 1993 (Original 1928), S. 61ff.

[lxxxiv] Ebd., S. 63f.

[lxxxv] Ebd., S. 65f.

[lxxxvi] Z. B. in: ebd., S. 35ff.

[lxxxvii] Zitiert in: ebd., S. 38

[lxxxviii] Ebd., S. 39

[lxxxix] Siehe: L. Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven (1906); Die permanente Revolution (1928). Beides erscheinen als Reprint in einem Band bei EVA, Frankfurt a. M.  1971 (Zitate aus dieser Ausgabe).

[xc] Ebd., Permanente Revolution, S. 26ff.

[xci] So erklärte Mao 1940, dass angesichts der relativen Kleinheit des chinesischen Proletariats von der KPCh die bürgerliche Revolution fortgesetzt werden müsse, nur dass die „Demokratie“ durch die unter Führung der KP stehenden „vier revolutionären Klassen“ einen ganz anderen, progressiven Charakter bekäme. (Mao Tse-tung, Über die Neue Demokratie, Januar 1940: http://www.infopartisan.net/archive/maowerke/MaoAWII_395_449.htm) .

[xcii] Zitiert in Trotzki, Permanente Revolution, a. a. O., S. 130

[xciii] Siehe ausführlich zu diesen Revisionen: Trotzki, Dritte Internationale nach Lenin, a. a. O., Kapitel „Die reaktionäre Theorie der ‚kombinierten Arbeiter- und Bauernparteien‘ für den Orient“, S. 211ff.

[xciv] Trotzki, Permanente Revolution, a. a. O., S. 28f.




US-Imperialismus vor, während und nach Trump

Moritz Sedlak, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

1 US-Imperialismus: Geschichte und Perspektiven

Die USA sind die weltweit wichtigste imperialistische Macht. Das bedeutet, die Dynamik des weltweiten Kapitalismus ist maßgeblich von Entwicklungen bestimmt, die von den Vereinigten Staaten ausgehen oder sich, wie die zunehmende Konkurrenz aus China, auf ihre Rolle beziehen.

Der Fall der Sowjetunion zementierte die vermeintlich unanfechtbare Führungsrolle der USA. Seitdem ist sie aber zunehmend unter Beschuss geraten. Die ökonomische Seite dieser Entwicklung sind der anhaltende Verlust der Kostenvorteile in der Industrie, die Errichtung von Hochtechnologiezentren außerhalb der USA und die relative Abnahme der Bedeutung der US-Finanzindustrie. Politisch sind die Formierung der EU als imperialistischer Block (der aber weiterhin zu instabil für eine Unabhängigkeit vom US-Kapital bleibt), aber vor allem der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht Ausdruck dieser Anfechtbarkeit.

Dementsprechend steht die Außenpolitik der Trump-Regierung für eine bedeutende Veränderung des US-amerikanischen Imperialismus. Der Bruch mit vielen internationalen Handelsbündnissen und eine forschere Intervention in die Militärbündnisse, aber auch der Austritt aus der Weltgesundheitsbehörde WHO oder dem Pariser Klimaabkommen wird von den bürgerlichen Medien gerne als irrational dargestellt. Teilweise versteigen sich die angeblichen ExpertInnen sogar in einen Vergleich der Trump-Politik mit den Forderungen der Linken in der antiimperialistischen und Antiglobalisierungsbewegung besonders gerne unter Bemühung eines sehr vagen Begriff von Populismus.

Marxistische Analyse

Ulrich Küntzel skizziert in seinem Buch „Der nordamerikanische Imperialismus“ eine marxistische Analyse der US-Außenpolitik seiner Zeit. Wie Hilferding und Lenin versteht er die zentrale Rolle des Kapitalexports in der Zuspitzung internationaler Spannungen und damit in der Gestaltung des imperialistischen Weltsystems. Während wir über den zeitlichen Horizont seiner Darstellung hinausgehen, wollen wir uns in diesem Artikel an denselben Leitlinien orientieren:

Es liegt auf der Hand, daß Militarismus und Wettrüsten schon für sich allein die internationalen Spannungen verschärfen können. Das Finanzkapital spitzt jedoch die internationalen Konflikte auch wirtschaftlich zu: durch Kapitalausfuhr. Die Trusts jeder imperialistischen Nation suchen sich Rohstoffquellen und Absatzmärkte außerhalb der eigenen Staatsgrenzen zu sichern und ihre Konkurrenten mittels der eigenen Diplomatie und Wehrmacht – die USA daneben durch ihre Geheimdienste CIA und NSA – von den eigenen Einflußgebieten fernzuhalten.i

Das NAFTA-Freihandelsabkommen der USA mit Kanada und Mexiko war ein Paradebeispiel für imperialistische Machtausübung durch Handelsbündnisse und eines, an dem sich GlobalisierungskritikerInnen jahrelang abarbeiteten. Aus NAFTA sind die USA unter Trump ebenso ausgestiegen wie aus dem fertig verhandelten TPP im Pazifikraum und den TTIP-Verhandlungen mit der EU. Dazu kommen die offene und parteiische Unterstützung amerikanischer Unternehmen durch die außenpolitischen Institutionen und der Handelskrieg. Hier brach die Regierung Trump mit der Außenpolitik der letzten Jahrzehnte – eine wichtige Machtverschiebung zwischen den US-Kapitalfraktionen.

Trump begründete den Handelskrieg mit China mit „unfairen“ Wettbewerbspraktiken und forderte für zeitweise Deeskalationen den Kauf amerikanischer Waren ein. Auch der populäre Boykott von Huawei und das drohende Verbot der Social-Media-Plattform TikTok sind eine offene Ansage, MarktführerInnenschaften von chinesischen Unternehmen nicht zu akzeptieren. An die Stelle der Rhetorik vom freien Wettbewerb ist eine offene Rückendeckung von Firmeninteressen durch Außenpolitik und militärisches Säbelrasseln getreten.

Trumps Versprechen

Zentrale Wahlversprechen von Trump waren der weitgehende Truppenabzug aus Irak und Afghanistan und eine Einstellung der Einmischungen in Syrien und Libyen. Das ist so nicht umgesetzt worden. Auch aus dem „angedrohten“ Rückzug aus den NATO-Militärbasen in Europa ist ein Verschieben von Truppen in Länder mit vermeintlich US-freundlicheren Regierungen geworden. Dennoch haben Trump und seine Verbündeten eine zentrale Änderung der außenpolitischen Doktrin, weg von der „Weltpolizistin USA“, angekündigt. Die Bekanntgabe dieses Vorhabens wird von heftigen, aber kurzen Aggressionen begleitet, zum Beispiel dem angedrohten Krieg gegen den Iran. Das ist ein deutlicher Unterschied zu den dauerhaft angelegten Besatzungs- und Einschüchterungskampagnen unter Bush und Obama.

Eine noch wichtigere Verschiebung gab es in Bezug auf Freihandelsabkommen, die man als zentrales Werkzeug imperialistischer Staatspolitik verstehen kann. In den 1980er und 1990er Jahren trieben sie und das „regelbasierte Handelssystem“ den Zugriff amerikanischer Kapitale auf die Halbkolonien des globalen Südens voran. Das war auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Kampagne der politischen Unterwanderung, geheimdienstlicher Kampagnen und militärischer Aggression gegen Regierungen, die sich dem nicht unterordnen wollten und vor allem in Lateinamerika größtenteils beseitigt wurden. Angesichts der weitgehend verlorengegangenen Wettbewerbsvorteile amerikanischer Unternehmen und des verschärften Wettbewerbs imperialistischer Kapitalexporte um die Überausbeutung des globalen Südens wurde die imperialistische Konkurrenz zunehmend zur Gefahr für die amerikanische Vorherrschaft.

Die militärischen Interventionen der USA waren ab den 1990er Jahre vor allem auf die Sicherstellung der Energieversorgung, direkt durch Erdölimporte und indirekt durch geostrategische Absicherung, motiviert. Die Blutbäder in den beiden Golfkriegen, die Invasion Afghanistans und die Besatzung des Irak waren die konkreten Ergebnisse, außerdem die stetige Einflussnahme auf afrikanische Länder und die Drohungen gegen Libyen und Iran. Hier veränderten der technologische Wandel und der Aufstieg der USA zur Energieexporteurin die Bedingungen. Die Interessen, zumindest aus der Energieindustrie, sind sogar umgedreht, weil sich die teure Förderung aus Schiefergas und Teersand nur bei hohen Weltmarktpreisen überhaupt lohnt.

Der imperialistische Staat

Die Rolle des kapitalistischen Staates ist die des „ideellen Gesamtkapitalisten“ii. Das bedeutet drei Dinge: Zuerst einmal muss der Staat das Gesamtinteresse, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, durchsetzen mit Repression und Befriedung gegen aufbegehrende ArbeiterInnen und Unterdrückung, mit Regulierung und Gesetzen gegen die kurzfristigen Profitinteressen der EinzelkapitalistInnen. Historisch bedeutete das auch und vor allem das (teilweise gewaltsame) Durchsetzen von Märkten, Eigentumsrechten und dem System der Lohnarbeit, die von Konservativen fälschlich als „natürliche Ordnung“ des Kapitalismus dargestellt werden.iii

Zweitens muss der Staat die Interessen der EinzelkapitalistInnen gegeneinander abwägen, im Großen den aufstrebenden Fraktionen den Vortritt erlauben, aber auch eine Art „fair play“ zwischen diesen sicherstellen. Aber zuletzt tritt der Staat auch selbst als Kapitalist in Erscheinung, ist also nicht nur Werkzeug der KapitalistInnen, sondern entwickelt eigene unternehmerische Interessen.

Diese Rolle wird noch einmal auf die Spitze getrieben vom imperialistischen Staat. Der hat wiederum zwei zentrale Aufgaben: (1) Das Erweitern der Absatzmärkte für die Warenproduktion des inländischen Kapitals und für den Kapitalexport, (2) das Abwägen der Interessenswidersprüche zwischen Kapitalfraktionen im eigenen Land. Für die USA als weltweite Führungsmacht kommt, wie für andere imperialistische Länder auch, noch das Abwägen der Interessen von verbündeten Staaten und ausländischen Kapitalfraktionen dazu.

Wo der Kapitalismus an die Grenzen der inländischen Kapitalakkumulation stößt, erweitern die stärksten Kapitale ihren Einflussbereich über die Staatsgrenzen hinweg. Beim Erschließen von Absatzmärkten, aber auch günstigen Ressourcen und Arbeitskraft werden sie in der Regel vom militärischen und diplomatischen Staatsapparat unterstützt. Mit anderen Worten orientiert sich die Aufgabenstellung des ideellen Gesamtkapitalisten Staat am Expansionsdrang der Einzelkapitale.

Sie orientiert sich nur oberflächlich am Warenverkauf. Tatsächlich ist die zentrale Aufgabe jeden Kapitals die Akkumulation, also die Verwertung durch die Ausbeutung von Arbeitskraft. Die imperialistische Wirtschaftspolitik orientiert sich deshalb auch zentral am Kapitalexport. Für die USA bedeutet das, die Profite aus US-amerikanischen Unternehmen entweder direkt oder durch Kredite in die Ausbeutung außerhalb der USA zu investieren, wobei die Profite in der Regel wieder an das Ursprungskapital zurückfließen. Buchhalterisch ist das angesichts der heute weit verbreiteten multinationalen Steuerkonstruktionen nicht ganz so einfach nachzuzeichnen, Konzernstrukturen und die Nationalität der BesitzerInnen der weltweit größten Unternehmen geben hier aber deutliche Hinweise.

Auf dieser Grundlage werden wir in diesem Artikel die Interessen der US-Kapitalfraktionen in verschiedenen Perioden und die Auswirkungen auf die Außenpolitik nachzeichnen. Nach einer kurzen Aufzählung der Veränderungen aus den letzten Jahren in Abschnitt 2 zeichnen wir die Entwicklung des US-Kapitalismus skizzenhaft nach. Abschnitt 3 beschäftigt sich mit der Kolonisierung der USA, dem Aufbau des US-amerikanischen Kapitalismus und erster imperialistischer Bestrebungen sowie den qualitativen Brüchen im Ersten Weltkrieg und der Großen Depression. Abschnitt 4 behandelt die Ablösung der europäischen Kolonialreiche und der alten Koloniallogik durch den modernen Imperialismus, die Rolle des US-Finanzkapitals und die Konsolidierung der USA als imperialistische Führungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg. Abschnitt 5 beschreibt die geostrategischen Herausforderungen des Kalten Krieges, während Abschnitt 6 die Interventionen in Lateinamerika untersucht, auch um den Zusammenhang von Kapital- und Warenexport der USA mit Beispielen zu illustrieren. In Abschnitt 7 widmen wir uns schließlich der Periode des Freihandels und der „regelbasierten Weltordnung“ und besonders der Frage, welche Kapitalfraktionen diesen Kurs gegen andere, und zu deren Nachteil, durchsetzen wollten. Das erlaubt uns, im Abschnitt 8 die Bruchpunkte der US-Außen- und Wirtschaftspolitik in die Konflikte innerhalb des US-Kapitals einzuordnen. Die Vorstöße, aber auch Niederlagen der Trump-Regierung lassen sich dann ganz ohne Psychologisierung erklären. In Abschnitt 9 beschreiben wir schließlich die neue globale Situation, den grundlegenden Widerspruch zwischen den Interessen an protektionistischer Durchsetzung von kapitalistischen Einzelvorhaben und teurer geostrategischer Eingrenzung Chinas.

Das Ergebnis des Artikels ist eine historische Definition des US-Imperialismus, die eng an ein Verständnis der Kapitalexportdynamiken gebunden ist. Dieses auf die Situation besonders seit 2008 anzuwenden, und der Abgleich mit den Veränderungen der Trump-Außenpolitik im Vergleich zu den Regierungen Bush und Obama erlaubt uns schließlich, den Grundkonflikt im US-Imperialismus des 21. Jahrhunderts herauszuarbeiten.

2 Außenpolitik vor, während und nach Trump

Die Außenpolitik der USA steht auf drei stabilen Füßen militärischer, diplomatisch-geheimdienstlicher und wirtschaftlicher Herrschaft. Die Rolle als weltweite imperialistische Führungsmacht ist mehr als nur ein Regime des Kapitalexports (aber auch Kapitalimport über die amerikanischen Finanzmärkte), aber untrennbar damit verbunden.

Wie in jedem kapitalistischen Land ist ein stabiler politischer Herrschaftsanspruch, zum Beispiel des US-Präsidenten, an die Interessen wichtiger Teile des Kapitals und die weitgehende Duldung durch den Rest geknüpft. Das bedeutet in der Regel, dass scharfe Wendungen in der Regierungspolitik auch einen Wandel der Kapitalinteressen oder der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen widerspiegeln. Umgekehrt sind Logik und Stoßrichtung politischer Veränderungen nur mit einer vernünftigen Analyse der Kapitalinteressen verständlich.

Aus zwei Gründen sind es in den USA vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf widerspiegeln. Zum weltweiten Führungsanspruch als wichtigste imperialistische Macht kommt noch die weitgehende Dezentralisierung der Wirtschaftsgesetzgebung auf die Bundesstaaten (also Steuern, Mindestlöhne und Regulierungen) und ein komplexes System von „checks and balances“ (Gewaltenteilung) auf Bundesebene hinzu. Aus diesen beiden Gründen sind es vor allem die Außen-, Handels- und Kriegspolitik, in denen sich die Machtverschiebungen im Klassenkampf oft zuerst widerspiegeln. Gleichzeitig hat die internationale Konkurrenz, zum Beispiel der Führungsanspruch Chinas oder die Formierung der EU als imperialistischer Block, mehr Auswirkungen auf die führenden Kapitalfraktionen in den USA als in anderen Ländern.

In den 1980er Jahren fügte das Kapital in den imperialistischen Ländern, ausgehend von den USA und Britannien, der ArbeiterInnenbewegung mit der erfolgreichen neoliberalen Wende entscheidende Niederlagen zu. Der historische Burgfrieden SozialpartnerInnenschaft, der die Stabilität in den Zentren gesichert und eine stabile Überausbeutung der Halbkolonien ermöglicht hatte, wurde abgelöst durch eine gezielte Absenkung der Lohn- und Steuerkosten.

Gleichzeitig veränderte sich auch der außenpolitische Fokus der USA, von regelbasierten Absprachen in der Wirtschaftspolitik (beispielsweise das Bretton-Woods-Abkommen zur Währungsstabilität) hin zu immer wichtiger werdenden Freihandelsabkommen. Diese sicherten freie Wege für den imperialistischen Kapitalexport, Zugang zu Absatzmärkten für (vor allem technologieintensive) Konsumwaren und nicht zuletzt eine Kontrolle der ölfördernden Staaten, die mit der Ölpreiskrise ab 1973 für die imperialistische Herrschaft zu einem Unsicherheitsfaktor geworden waren. Die Freihandelsabkommen sollten Protektionismus verhindern und den Wettbewerbsvorteil der Industriekapitale in den imperialistischen Staaten auch auf Absatzmärkten fern der Produktionsstätte verwertbar machen. Gleichzeitig hängt die internationale Arbeitsteilung in Form von globalen Produktionsketten von ungehindertem Transport ab. Und zuletzt ermöglichten die InvestorInnenschutz-Paragraphen der multilateralen Abkommen wie GATT und WTO den finanziellen Kapitalexport, der zum Hauptgeschäft der US-amerikanischen Finanzindustrie wurde.

In dieser Zeit wurde auch die Eskalation von Schuldenkrisen in den Halbkolonien zu einer regelmäßigen Erscheinung. In der neoliberalen Neuordnung der internationalen Beziehungen wurde diese Verschuldung zum zentralen Hebel. IMF und Weltbank forderten im Gegenzug für „Rettung“ vor der Staatspleite den Ausverkauf verstaatlichter Infrastruktur, aber auch massive Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse ein. Davon profitierte das US-Kapital, das Investitionsmöglichkeiten in den privatisierten Industrien und fast unbegrenzte Ausbeutung von Rohstoffen und günstiger Arbeit erschloss.

Die Militärpolitik in dieser Zeit verband drei Hauptmotive: den geostrategischen Kampf gegen die Ausbreitung des Stalinismus (Vietnamkrieg), die Absicherung gegen erstarkende Ölrentenstaaten und das Eindämmen demokratischer und sozialer Bestrebungen in Lateinamerika und Afrika.

Vor allem seit dem Zusammenbruch der stalinistischen „Ostblock“staaten und ihrer Einflusssphäre sind die Interessen des US-Kapitals im Wandel. Der Wettbewerbsvorteil bei Lohnkosten und Profitabilität in der Industrieproduktion ist seit den 1990er Jahren weitgehend verschwunden, die Auslagerung von Produktion deutlich wichtiger. Danach war es vor allem die Vorherrschaft in der Hochtechnologie- und Finanzindustrie, die eine weitere Orientierung auf Freihandelsabkommen und die so genannte „regelbasierte Ordnung“ legitimierten. Dem Hochtechnologiesektor kommt der überproportionale Fokus auf geistiges Eigentum (TRIPS-Klauseln), dem Finanzsektor die Öffnung für Auslandsinvestitionen zugute, die in diesen Verträgen wichtige Rollen spielen.

Andere US-Kapitalfraktionen, die höhere Lohnkosten haben als die internationale Konkurrenz, wurden von diesen Abkommen aber teilweise schlechtergestellt. Und außerdem bedeuteten die europäische Integration durch das Zusammenwachsen der EU sowie der Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht, dass zunehmend Produktionsketten ohne Endmontage in den USA aufgebaut wurden.

Gleichzeitig erschloss die Energiebranche in den USA neue Methoden der Ölförderung (vor allem Schiefergas und Teersand), deren Profitabilität aber an einen möglichst hohen Weltmarktpreis für Öl und Gas gekoppelt ist. Ihre Erwartungen an die US-Außenpolitik sind weniger, niedrige Öl- und Gaspreise sicherzustellen, sondern direkte Unterstützung gegen die Konkurrenz auf dem Weltmarkt. Das ist mitverantwortlich für die Debatten um russische Pipelineneubauten (zum Beispiel der Nordstream 2), zu denen die amerikanischen Unternehmen auch auf Schiffen transportiertes Flüssiggas (Liquified Natural Gas, LNG) als Alternative anbieten. Folgerichtig stand im „Friedensvertrag“ am Ende der Strafzölle gegen die EU auch eine Selbstverpflichtung, die LNG-Einfuhr bis 2023 zu verdoppeln. Für den Ausbau der Terminals sind 650 Millionen Euro an Subventionen geplant.iv

Das hat die Interessen des US-Kapitalexports deutlich verschoben. Statt im Freihandel eigene Vorteile auszuspielen (die es so auch nicht mehr gibt), rufen wichtige Kapitalfraktionen nach einer direkten Subvention ihrer Wettbewerbsfähigkeit durch militärische und diplomatische Aggressionen. Dafür steht der Schwenk unter Trump, vor allem der Rückzug und die Neuverhandlung von Abkommen wie NAFTA, TTIP und TPP nach kurzen, aber heftigen Handelskriegen und das direkte Embargo gegen chinesische Hochtechnologie und russische Öl- und Gasprodukte.

Auch die Verschiebung in der Militärpolitik spiegelt diese neuen Interessen wider (auch wenn Trump sie bisher nicht gegen die entscheidenden Fraktionen im militärisch-industriellen Komplex der USA durchsetzen konnte). Der versprochene Rückzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzzeitig angestrebte Entspannung mit Iran und Russland sind möglich, weil das US-Kapital als Ganzes weniger von niedrigen Ölpreisen abhängig ist, teilweise sogar von hohen Kursen profitiert.

Die Außenpolitik der Trump-Regierung steht für den Anfang einer möglichen Verschiebung der US-Kapitalinteressen auf dem Weltmarkt. Sie ist nicht abgeschlossen und steht im Kampf mit anderen Kapitalfraktionen (vor allem in der Finanzindustrie), die den deregulierten Handel und Kapitalexport höher schätzen.

Gleichzeitig versucht sie aber den Spagat zwischen höherer Überausbeutung der Halbkolonien durch US-Kapitale und kostspieliger geostrategischer Absicherung gegen den imperialistischen Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht einfach auflösbar und wird durch die Wirtschaftskrise seit 2019 weiter zugespitzt. Bei gleichzeitigem Aufstieg Chinas wird er auf eine weltweite Eskalation hinauslaufen.

3 Der Aufstieg der USA von der Kolonie zur Militärmacht

Die USA begannen ihren aufhaltbaren Aufstieg zur Weltmacht als Ansammlung englischer, französischer und spanischer Kolonien. Die spätere herrschende Klasse ebenso wie die amerikanischen ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen gingen aus den KolonisatorInnen des nordamerikanischen Kontinents hervor. Die Besiedelung erfolgte nach bekanntem kolonialem Muster – Befestigung strategischer Landepunkte, schrittweise Eroberung oder Aneignung von Siedlungsgebieten auf Kosten der lokalen Bevölkerung und schließlich Zerstörung der bestehenden politischen Strukturen bis hin zur genozidalen Vernichtung aller indigenen Ethnien, die den Widerstand wagten.

Siedlerkolonialismus und Widerspruch zur kapitalistischen Produktionsweise

Die besondere Form des Siedlerkolonialismus bedeutete gewisse Herausforderungen für die Durchsetzung des globalen Kapitalismus. Nachdem die britische Vorherrschaft über die amerikanischen Kolonien mehr oder weniger feststand, wurde das zunehmend zum Problem. In Britannien war der Prozess (oder die erste Runde) der „ursprünglichen Akkumulation“ weitgehend abgeschlossen und alle wesentlichen Teile des Wirtschaftskreislaufs waren der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen. Die Subsistenzwirtschaft der Kleinbauern/-bäuerInnen war mit dem „enclosure movement“ zerstört und die ehemaligen SelbstversogerInnen waren entweder zu LandarbeiterInnen ohne Besitz an Grund und Boden als Produktionsmitteln degradiert oder als Proletariat in die Städte gezwungen worden.

In den amerikanischen Kolonien hatte diese Trennung von ProduzentInnen und Produktionsprozess, die berühmte Expropriation der ProduzentInnen, noch nicht stattgefunden. Ganz im Gegenteil drängte der Kolonisationsgedanke die KolonisatorInnen aus der Alten Welt zur Landnahme auf Kosten der lokalen Bevölkerung, aber damit auch zum Landbesitz und zur Selbstausbeutung als unabhängige ProduzentInnen. Marx macht im 25. Kapitel der Ersten Bandes des „Kapital“ auf den diametralen Widerspruch zwischen Mutterland und Kolonie aufmerksam:

Das kapitalistische Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt den Kapitalisten. Der Widerspruch dieser zwei diametral entgegengesetzten ökonomischen Systeme betätigt sich hier praktisch in ihrem Kampf.v

Folgerichtig beriefen sich die emigrierten KapitalistInnen auf ihre Macht und die Unterstützung „ihrer“ Regierung, um dieser Unausbeutbarkeit zu begegnen. Und das englische Parlament folgte mit Erlässen, die die Lohnarbeit vorschrieben, allerdings mit begrenztem Erfolg. Einen Kolonisator in Westaustralien, Peel, beschreibt Marx wie folgt: „Herr Peel war so vorsichtig, außerdem 3000 Personen der arbeitenden Klasse, Männer, Weiber und Kinder mitzubringen. Einmal am Bestimmungsplatz angelangt, ‚blieb Herr Peel, ohne einen Diener, sein Bett zu machen oder ihm Wasser aus dem Fluß zu schöpfen’. Unglücklicher Herr Peel, der alles vorsah, nur nicht den Export der englischen Produktionsverhältnisse nach dem Swan River!.vi

Die englischen Produktionsverhältnisse waren durch große landwirtschaftliche Betriebe und Industriekapital geprägt, an die die Masse der ehemaligen Kleinbauern/-bäuerInnen ihre Arbeitskraft verkaufte. Der Verkauf der eigenen Arbeitskraft war erzwungen durch die systematische Enteignung und die Gesetze gegen Arbeitslosigkeit inklusive der Arbeitslager ähnlichen „poor houses“ (Arbeitshäuser für Arme).

Die systematische Enteignung war im sich noch ausbreitenden amerikanischen Kolonialismus schwer möglich. Um die Kolonien zu vergrößern, musste das Land den indigenen „first nations“ gewaltsam abgenommen, aber auch bestellt werden. Familiäre bäuerliche und forstwirtschaftliche Betriebe an der „frontier“ waren das politökonomische Werkzeug der Wahl, was den Besitz der ProduzentInnen an ihren eigenen Produktionsmitteln ausdehnte, statt ihn einzuschränken.

Zentralisierte Produktionsverhältnisse herrschten vor allem in der Plantagenbewirtschaftung vor. Diese war vor allem für größere zusammenhängende Betriebe profitabel. Statt auf enteignete Kleinbauern/-bäuerinnen griffen die KolonistInnen, vor allem in den südlichen Kolonien, auf Sklavenarbeit und Schuldknechtschaften von AuswanderInnen zurück.

Schuldknechtschaft

In den amerikanischen Städten wurden die industriellen Produktionsverhältnisse, vor allem aber die bürgerliche Hauswirtschaft, auch gewaltsam mit Zwangsarbeitskraft bestückt. Vor allem die ärmsten EinwanderInnen tauschten für die Überfahrt eine jahrelange Arbeitsverpflichtung ein, die an die europäische Leibeigenschaft erinnert. Wie die Sklaverei hatten diese Arbeitsverhältnisse ihren Ausgang in den südlichen Kolonien, beginnend mit Virginia. Diese ArbeiterInnen leisteten ihre Schulden auch auf Plantagen ab.

Dieses Modell funktionierte vor allem im 17. Jahrhundert, als entlassene Haus- und FabrikarbeiterInnen quasi nahtlos durch die massenhaft nachkommenden EmigrantInnen ersetzt werden konnten. Ab dem 18. Jahrhundert nahm die Zahl der „indentured serfs“ (KontraktsklavInnen, -leibeigene) langsam ab. Der zentrale Unterschied zur Sklaverei bestand darin, dass kein gewaltsamer Menschenraub, sondern ökonomische Not den Ausgangspunkt bildete. Gleichzeitig waren die Leibeigenschaftsverhältnisse in der Regel zeitlich begrenzt, und die Betroffenen gingen danach als freie ArbeiterInnen, HandwerkerInnen oder SiedlerInnen in das Wirtschaftsgefüge über.vii

Sklaverei

Die großräumige Plantagenwirtschaft breitete sich ab dem 17. Jahrhundert von Virginia ausgehend vor allem in den südlichen Kolonien aus. Wie die Wollproduktion in England nahmen der zentralisierte Anbau und die industrielle Verarbeitung von Tabak, Reis, Baumwolle und Zuckerrohr die zentrale Rolle in der ursprünglichen Akkumulation von Kapital in den amerikanischen Kolonien ein. Die ursprüngliche Akkumulation ist entscheidend, weil sie nicht nur die notwendige Monopolisierung der Produktionsmittel in den Händen der KapitalistInnen, sondern das Schaffen eines auszubeutenden Proletariats bedeutet. Die ursprüngliche Akkumulation schafft die wirtschaftlichen Voraussetzungen und die politischen Institutionen von Kapital und Lohnarbeit.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Akkumulation auf Kapitalseite vor allem durch die Ausbeutung von SklavInnen, die aus afrikanischen Ländern und Gesellschaften verschleppt wurden, erreicht. Die terroristische Zerstörung von Familien- und Gesellschaftsstrukturen in Afrika durch SklavenhändlerInnen wurde auf dem amerikanischen Festland durch den Terror von Folter, Unterversorgung und riesigen Arbeitspensen fortgesetzt. Vor allem in den ersten Jahrzehnten der Sklaverei waren SklavInnen unglaublich günstig und wurden rasend schnell zum Tod durch Arbeit gezwungen. Entsprechend wurden von Virginia Gesetze erlassen, die die Entrechtung der SklavInnen (beziehungsweise die rechtliche Verfügung der SklavenbesitzerInnen) bis zur vollkommenen Entmenschlichung der AfroamerikanerInnen ausdehnten.

Unabhängigkeitskrieg

Bis zum Unabhängigkeitskrieg dehnte sich die Sklaverei so weit aus, dass in manchen Bundesstaaten mehr schwarze als weiße Menschen lebten. Gleichzeitig nahm die Bedeutung der Schuldknechtschaft bereits vor dem Unabhängigkeitskrieg ab, sowohl im Vergleich mit der Sklaverei als auch mit Lohnarbeitsverhältnissen in den nördlichen Kolonien. Mit den schweren wirtschaftlichen Krisen des späten 18. Jahrhunderts wurden langfristige Arbeitsverträge für die unter Druck stehenden amerikanischen KapitalistInnen auch mehr zur Belastung. Die massive Beschränkung der Einwanderung nach der Unabhängigkeit und die etablierten sozialen Strukturen der freien Lohnarbeit lösten die Schuldknechtschaft als ökonomischen Motor der kapitalistischen Akkumulation schließlich ab.

1776 riefen 13 ehemals britische Kolonien die amerikanische Republik aus. Der Unabhängigkeitskrieg war gleichzeitig kolonialer Aufstand und eine vollwertige bürgerlich-demokratische Revolution. Er wälzte die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die immer mehr zum Hindernis der Produktivkraftentwicklung geworden waren, grundlegend um.

Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass der Nachbau der feudalen englischen Verhältnisse noch schwieriger war als die der kapitalistischen Produktionsbeziehungen. Bis auf das Hudson-Tal im heutigen Bundesstaat New York war es der britischen Krone nie gelungen, tatsächlich feudale Beziehungen in Amerika durchzusetzen (die feudale Enklave hielt dafür bis lange nach der Unabhängigkeitserklärung, nämlich bis 1839, durchviii). Trotzdem trug zum Beispiel die Beschwirtschaftung der Wälder in den westlichen Kolonialgebieten, die der Krone und der Marine vorbehalten war, durchaus feudale Züge. Auch der Landbesitz in den amerikanischen Kolonien war zunächst nach britischem feudalen Recht organisiert gewesen. Das bedeutete, die Krone (beziehungsweise ihre VertreterInnen vor Ort) vergab/en Landrechte und kassierte/n den Lehnszins (englisch: „quit rent“). Auch die Verdrängung der kolonialen Konkurrenz aus den Niederlanden, Spanien, Frankreich und sogar Deutschland hatte die Macht der britischen Krone gefestigt.

Gleichzeitig war es die Plantagenwirtschaft, in der neue Formen der Landwirtschaft (Monokultur) mit einer „neuen“ Form der Klassenausbeutung (Sklaverei) kombiniert wurden (Moore 2020)ix. Rechtlich war auch die Plantagenwirtschaft im Feudalismus verankert, die moderne Sklaverei war aber mit dem aufkommenden Kapitalismus ebenso vereinbar. Tatsächlich spielten die PlantagenbesitzerInnen der südlichen Kolonien eine wichtige Rolle in der Unabhängigkeit von der britischen Krone – ein klassisches Beispiel für die marxistische Überzeugung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte die Grenzen der Produktionsverhältnisse sprengt.x

Dem Aufstand gegen die Monarchie gingen wichtige Rebellionen gegen lokale FeudalherrInen und SklavInnenhalterInnen voraus. Aufstände von SklavInnen und Schuldknechten/-mägden waren seit dem 17. Jahrhundert Teil der amerikanischen Geschichte und wurden nicht immer problemlos niedergeschlagenxi. Die Rebellion in Virginia 1676 („Bacon’s Rebellion“) brannte zum Beispiel die Hauptstadt der Kolonie, Jamestown, nieder.

Bei der Unterdrückung von ArbeiterInnen und SklavInnen standen KapitalistInnen und Kolonialbehörden auf derselben Seite. Aber die feudalen Landrechte standen der explosiven Produktivkraftentwicklung der amerikanischen KapitalistInnen im Weg. Steuern und Einfuhrbeschränkungen, aber auch die künstliche Verknappung der Geldmenge in den Kolonien, sollten verhindern, dass englische KapitalistInnen von ihren Landsleuten in den Kolonien ernsthafte Konkurrenz bekamen.

Gleichzeitig hatte sich im Krieg gegen indigene Nationen und die französische Kolonialkonkurrenz durch die ideologische Spaltungsrolle des Rassismus und die enorme Bedeutung, die den Kleinbauern/-bäuerinnen an der „frontier“ zukam, ein amerikanisches Nationalbewusstsein entwickelt. Dem stand die tyrannische Arroganz der britischen Krone als Feindbild gegenüber. Ein klassenübergreifendes Zweckbündnis wurde zum ersten Mal im Widerstand gegen die Stamp-Act-Steuern 1765 aktiv und begab sich vor allem im Streit um Steuern und Zölle in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1776 gewonnen wurde.xii

Der amerikanische Kapitalismus nach der Unabhängigkeit

Zu diesem Zeitpunkt waren die ehemaligen Kolonien keine Außenstellen des britischen Empires mehr. Plantagenwirtschaft, Bodenschätze und die enthemmte Ausbeutung der SklavInnen bildeten eine ernstzunehmende wirtschaftliche Grundlage, die Zusammenarbeit auf dieser Basis stellte eine eigenständige politische Kraft dar.

Die Schutzzollpolitik der ersten amerikanischen Regierungen schaffte es schließlich auch, eine eigene Schwerindustrie vor allem in den nördlichen Bundesstaaten aufzubauen. Die protektionistische Politik war bereits ein Streitpunkt unter der Kolonialherrschaft gewesen. Die britische Krone hatte schließlich aktiv versucht, den Aufbau einer eigenständigen amerikanischen Industrie zu verhindern. Es dauerte allerdings bis 1789, bis der amerikanische Kongress überhaupt das Recht bekam, bundesweite Zölle einzuführen, und bis nach dem Krieg gegen England 1812, bis diese hoch genug angesetzt waren, um als Schutzzölle bezeichnet zu werden.xiii Die Frage der Schutzzölle wurde auch zu einem zentralen Streitpunkt zwischen den späteren nördlichen und südlichen FeindInnen im BürgerInnenkrieg 1861 – 1865: Die Industriellen im Norden bauten sich ihre Produktion hinter den Zollmauern auf, während die landwirtschaftlichen GroßbesitzerInnen im Süden von günstig importierten Industrieprodukten weitgehend abhängig waren.

Nach dem Sieg der Nordstaaten im BürgerInnenkrieg setzten sich die Industrieproduktion und die doppelte Freiheit der ArbeiterInnen durch. Gleichzeitig wurde die systematische Entrechtung der schwarzen Bevölkerung weitgehend in anderer Form fortgesetzt. Das diente einerseits der enthemmten Ausbeutung von landlosen schwarzen Schuldknechten/-mägden als „sharecroppers“ (PächterInnen) in den großen landwirtschaftlichen Betrieben, andererseits dem Bündnis mit dem finanzstarken und enorm rassistischen Kapital in den Südstaaten.

Wendepunkt im Weltkrieg

In den ca. 50 Jahren zwischen BürgerInnenkrieg und Erstem Weltkrieg entwickelten sich die USA zu einer führenden Industrienation. Die Entwicklung zur imperialistischen Macht erfolgte jedoch bis zum Ersten Weltkrieg auf besondere Weise. Von einer dominanten Rolle des Kapitalexports, vor allem außerhalb des amerikanischen Kontinents, kann erst nach 1918 gesprochen werden.

Bis 1914 ähnelten die Kapitaleinfuhr und die Handelsbilanz der USA derjenigen eines unterentwickelten Landes, obwohl sie bereits die erste Industrienation der Welt waren. […] Wie ein unterentwickeltes Land führten sie [die USA; d. Red.] Agrar- und Montanerzeugnisse aus, und wie ein solches waren sie per saldo Schuldnerland, das heißt: das in den USA angelegte europäische, hauptsächlich britische Kapital betrug etwa 7,2 Milliarden US-Dollar, war also etwa doppelt so umfangreich wie das eigene Auslandskapital der USA, das etwa 3,5 Milliarden US-Dollar ausmachte.”xiv

Das war aber kein „Zurückbleiben“ des sich entwickelnden amerikanischen Imperialismus, sondern eher eine Besonderheit, eine Form von ungleichzeitiger und kombinierter Entwicklung, die wir auch bei anderen Großmächten vor dem Ersten Weltkrieg (z. B. dem ökonomisch rückständigen Russland) finden. Durch den fortschreitenden Landraub an den indigenen „first nations“ richtete sich die Expansion des US-Kapitals über weite Strecken nach innen. Die Staaten verfügten außerdem über eine breite Palette an natürlichen und seltenen Rohstoffen. Die Expansion auf der Suche nach Ressourcen war also nicht so drängend wie für kleinere imperialistische Staaten. Und zuletzt entwickelten sich die USA zu spät, um einen klassischen Kolonialismus anzustreben. Aus diesen Gründen stieß das US-Kapital in dieser Periode noch nicht an die nationalen Grenzen der Akkumulation.

In anderer Hinsicht beteiligte sich das Land aber sehr wohl an der imperialistischen Konkurrenz. Der Spanisch-Amerikanische Krieg 1898 und die folgende Besatzung von Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen bedeuteten die Durchsetzung der eigenen Vormachtsansprüche auf beiden amerikanischen Halbkontinenten. Auch der gewonnene Krieg gegen Mexiko 1846 – 1848 war getrieben vom Anspruch, den potentiellen Konkurrenten klein zu halten. Mexiko war den USA als unabhängig gewordene Kolonie, geprägt von Plantagenwirtschaft, Genozid an der indigenen Bevölkerung und rascher kapitalistischer Entwicklung, recht ähnlich und durchaus ein natürlicher Konkurrent um die regionale Vorherrschaft – wobei der Begriff der Region auf die 12 Millionen Quadratkilometer Mexikos und der USA schwer anwendbar ist. Zu verhindern, dass sich andere ImperialistInnen in der eigenen Einflusssphäre entwickeln oder festsetzen konnten, war mehr als nur eine Vorbereitung des eigenen Aufstiegs, es war die Vorwegnahme der eigenen imperialistischen Kapitalexportpolitik.

Bereits vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg war das amerikanische Kapital tief in die Kampfhandlungen auf dem Kontinent verstrickt. Milliardenkredite an die kriegführenden Länder bedeuteten widersprüchliche Loyalitäten der amerikanischen Banken. Diese waren gleichzeitig groß genug und mit dem Industriekapital verwachsen, um die Voraussetzungen für den imperialistischen Kapitalexport darzustellen. Mit Kriegseintritt übernahm die Bundesregierung die Ausfallrisiken für die umfassenden Kriegskredite und gab selbst Kriegsanleihen an ihre europäischen Verbündeten von ungefähr 9 Milliarden US-Dollar aus. Die deutschen Reparationen aus dem Vertrag von Versailles gingen großteils direkt an die amerikanischen GläubigerInnen, ab 1924 auch sogar ohne den Umweg über französische oder britische Konten.xv

Durch diese Kredite wurden die USA während des Ersten Weltkriegs schlagartig zum weltweit führenden Kapitalexporteur. Gleichzeitig brachen sie mit dem System der britischen Vorherrschaft, das immer eine passive Waren- bei aktiver Kapitalbilanz aufrechterhalten hatte (also mehr Waren importierte als ins Ausland verkaufte). Die Schutzzollpolitik und die weitgehende Selbstversorgung mit Rohstoffen aus den sehr großen eigenen Gebieten ließen die USA zur ersten weltwirtschaftlichen Vorreiterin mit doppelt aktiver Außenbilanz werden.

Der Kapitalexport über Kredite und Auslandsinvestitionen führte über die Erträge zu einem stetigen Zahlungsfluss in die USA. Dasselbe galt für die Waren, die ins Ausland verkauft und aus dem Ausland bezahlt wurden. Strukturell waren die Importe durch geringen Arbeitseinsatz (und daher Arbeitswert), die großteils industriellen Exporte durch hohen Arbeitswert geprägt. „Kurz: als weltwirtschaftliches Führungsland sprengen die USA die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung.xvi

Hier zeigt sich auch, dass in der politisch-ökonomischen Analyse Imperialismus- und Krisentheorie nicht voneinander trennbar sind. Die hohe Abhängigkeit der amerikanischen Profite von inländischer Arbeit und die geringen Einsparpotentiale auf Kosten von Lohnsenkungen vertieften die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren ungemein.

Geschichte: Veränderte Lage durch Depression und Weltkrieg

Die Regierung unter Roosevelt versuchte zwischen 1933 und 1939, die strukturelle Krisenanfälligkeit und die soziale Instabilität durch Fiskalpolitik und einen garantierten Lebensstandard für die amerikanische ArbeiterInnenklasse zu lösen. Die durch die imperialistischen Extraprofite finanzierte höhere Absicherung der ArbeiterInnenaristokratie im Speziellen und der Klasse im Allgemeinen ist eine wichtige Voraussetzung für Stabilität in den imperialistischen Zentren. Dabei stützten sich die Vorschläge des „New Deal“ auf eine Koalition aus Teilen des Finanz- und Industriekapitals und versprachen die Befriedung der verarmten ArbeiterInnen und KleinBauern/-bäuerinnen. Die wichtigsten Elemente waren ein institutionalisiertes gewerkschaftliches Koalitionsrecht, eine Fixpreisgarantie für größere FarmerInnen, die Entflechtung der Industrie und die Trennung von Anlage- und Geschäftsbanken (Glass-Steagle-Act).

Das zweite große Versprechen des New Deals war eine frühkeynesianische Krisenstrategie, die zusammengebrochene Binnennachfrage durch Fiskalpolitik, also erhöhte und teilweise schuldenfinanzierte Staatsausgaben, wieder aufzurichten. Das scheiterte weitgehend. Erst der Zweite Weltkrieg, der über Rüstungspolitik und Preiskontrollen sowohl Beschäftigung als auch Profite stabilisierte, führte die USA aus der Krise. Aber auch die Schaffung staatlicher und genossenschaftlicher Energieträger wirkte sich stabilisierend auf Preise und Inflation aus.

4 Die veränderte Lage nach dem Zusammenbruch der europäischen Kolonialherrschaft

In Folge des Zweiten Weltkriegs standen sich zwei Modelle in der amerikanischen Außenpolitik gegenüber. Eine wirtschaftliche Vernichtung der europäischen KriegsgegnerInnen wurde, zum Beispiel durch den Morgenthau-Plan symbolisiert, vorgeschlagen, der die Binnennachfrage in Europa nachhaltig zerstört hätte. Dem gegenüber stand die großzügige Aufbauhilfe unter antikommunistischem Banner des Marshall-Plans, der schließlich zum Modell der amerikanischen Außenpolitik werden sollte.

Imperialistische Abhängigkeit der Halbkolonien

Die internationale Vorherrschaft durch Entwicklungspolitik und geopolitische Abhängigkeiten wurde für die USA umso wichtiger, als nach dem Zweiten Weltkrieg die verbliebenen europäischen Kolonialreiche zusammenbrachen. Anstelle der direkten Besatzung, die vor allem Britannien und Frankreich eine Vormachtstellung in der imperialistischen Aufteilung der Welt sicherte, trat die Dominanz durch Kapitalexport, Handelsabkommen, militärische Bedrohung und Geheimdienstapparate. Hier konnten die USA sich sowohl mit ihren besonders großen Ressourcen hervortun als auch vom weggefallenen Wettbewerbsnachteil gegenüber den ehemaligen Kolonialreichen profitieren.

Seit dem zweiten Weltkrieg ist das Imperium der Vereinigten Staaten an die Stelle der europäischen Kolonialreiche getreten. Es besteht aus völkerrechtlich unabhängigen Staaten, nicht Kolonien. Organisiert ist es durch nordamerikanische Kapitalausfuhr, und zwar durch direkte Investitionen (Bestand Ende 1972 25,2 Milliarden in den unterentwickelten Ländern, 94 Milliarden insgesamt), subsidiär durch die ,Auslandshilfe’. Die nordamerikanische Kontrolle variiert zwischen einerseits indirektem, elastischem Einfluß, dem nicht nur unterentwickelte Länder unterliegen, sondern auch die bis zum zweiten Weltkrieg selbständigen imperialistischen Mächte Europas sowie Japan, andererseits unverhüllter Waffengewalt, womit Marionettenregierungen wie die südvietnamesische, südkoreanische, guatemaltekische gegen ihre eigene Bevölkerung verteidigt werden.xvii

Das drückte sich auch in der Politik des „Cordon sanitaire“ (Sicherheitsgürtel) aus, mit dem sich die USA gegen ihre neuen Hauptfeinde Sowjetunion und China umgaben. Die USA bauten ihre geostrategische Absicherung auf der Abhängigkeit neokolonialer Staaten in Asien und Afrika auf. In einige dieser Länder gab es kaum Kapitalexport, und die „Entwicklungshilfe“ beruhte fast ausschließlich auf geostrategischen Interessen (Taiwan, Korea, Vietnam, Laos, Kambodscha, Pakistan, Türkei, Israel und Griechenland). In Afrika mischten sich militärische mit wirtschaftlichen Interessen, wo es amerikanischen KapitalistInnen gelingen sollte, Profite mit Rohstoffausbeutung zu machen, zum Beispiel in Libyen (Erdöl), im späteren Kongo (Kobalt, Kupfer, Uran) und in Ägypten. In Südafrika profitierten AnlegerInnen von der höheren Profitrate aufgrund der Apartheiddiktatur und der systematischen Überausbeutung der schwarzen ArbeiterInnenklasse.

Umkehr in die Verschuldung

Die 1960er Jahre führten zum ersten entscheidenden Bruch in der Rolle des amerikanischen Imperialismus. Während in den 1920er Jahren die Zahlungsunfähigkeit der europäischen KreditnehmerInnen, die Schwierigkeiten hatten, ausreichend Dollars für Rückzahlungen zusammenzukratzen, das Bankensystem unter Druck gesetzt hatte, begannen die USA spätestens ab 1965, sich massiv in europäischen Währungen und Yen zu verschulden. Die Schulden überstiegen die Deviseneinnahmen um ein Vielfaches und dienten nicht zuletzt dazu, den extrem teuren Vietnamkrieg zu finanzieren.

Diese Verschuldung bewerkstelligten die USA vermittels der damaligen Stellung des Dollar als Weltwährung: die ausländischen Notenbanken mit Ausnahme der Banque de France hielten ihre Notendeckung überwiegend nicht in Gold, sondern in Devisen, hauptsächlich Dollardevisen.xviii

In dieser Periode drückte sich die imperialistische Vormachtstellung nicht mehr durch die internationale Dominanz der US-Kredite, sondern durch die militärische und politische Vormachtstellung innerhalb des westlichen Blocks aus. Diese militärisch-geheimdienstliche Überlegenheit wurde ab den 1960er Jahren wiederum zur Grundlage des Aufbaus weiterer ökonomischer Abhängigkeiten, auch und vor allem in Südamerika.

Amerikanischer Kapitalexport und der Krieg in den Hinterhöfen

Neben den genannten Interventionen in Asien und Afrika konzentrierte sich die US-Außenpolitik in den 1960er Jahren auch auf Lateinamerika. Das war eine direkte Fortführung der Marionettenregierungen und direkten Eroberungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Vor allem die engen Verflechtungen der fast monopolartig agierenden United Fruit Company mit dem Militär- und Geheimdienstkomplex der USA, inklusive Putschen, Diktaturen und Mordschwadronen gegen GewerkschafterInnen sind auch weltweit skandalisiert worden.

Eine zentralisierte Strategie in Lateinamerika wurde über die Entwicklungshilfe organisiert. Zur effizienten Verteilung und Erzwingung von politischen Reformen wurde 1961 die „Allianz für den Fortschritt“ gegründet, die Hilfszahlungen an konkrete politische Projekte und vor allem Landreformen knüpfen sollte.xix Das gleichzeitige Entwicklungsversprechen, in der Abhängigkeit massives Wirtschaftswachstum in den betroffenen Staaten zu ermöglichen, blieb selbstverständlich unerfüllt.

Die Dependenztheorie erkennt richtig, dass die Entwicklung der süd- und mittelamerikanischen Wirtschaften in dieser Periode fast ausschließlich vom Investitionsverhalten des US-Kapitals und den importierten Technologien abhängt.xx Der Kapitalexport aus den imperialistischen Ländern baut und festigt so die Grundlagen der internationalen Arbeitsteilung. Diese war bereits in der kolonialen Unterentwicklung durch den Kolonialismus festgelegt, wo die Rohstoff- und Arbeitsressourcen der Kolonien das Wachstum der Zentren finanzierten und das eigene dadurch gehemmt wurde. Die Übersetzung der wirtschaftlichen Abhängigkeit in entsprechende politische Strukturen sollte zum Beispiel durch die „Allianz für den Fortschritt“ institutionalisiert werden.

Die imperialistische Rolle der USA in Süd- und Mittelamerika beginnt knapp vor dem Ersten Weltkrieg, fällt also mit ihrem Aufstieg zur imperialistischen Macht zusammen. Zwischen 1897 und 1914 verfünffachten sich die US-Investitionen von 308 Millionen US-Dollar auf 1,6 Milliarden US-Dollar.xxi

Ab den 1960er Jahren nahmen die Direktinvestitionen erneut massiv zu und stiegen bis 1980 um das Dreifache, bis 1990 sogar um das Fünffache an.xxii In den meisten Ländern sank das Verhältnis ausländischer Direktinvestitionen zum Bruttoinlandsprodukt zwischen 1914 und 1960 recht massiv, stieg jedoch bis 1990 wieder leicht an. Sowohl von den Interessen des US-Kapitals als auch von der Abhängigkeit der süd- und mittelamerikanischen Halbkolonien ausgehend, blieb der verächtlich „Hinterhof Amerikas“ genannte Halbkontinent also immer zentral für den US-Imperialismus.

Warenexporte

Wie zuvor ausgeführt, war der Aufstieg der USA zur imperialistischen Weltmacht nach dem Ersten Weltkrieg aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens war für den Durchbruch die amerikanische Kolonialgeschichte deutlich weniger relevant als die Kreditabhängigkeit anderer imperialistischer Staaten; die Bedeutung direkt-kolonialer Überausbeutung blieb für den amerikanischen Imperialismus weitgehend marginal. Zweitens waren die USA gleichzeitig Waren- und Kapital-Nettoexporteurinnen.

Mit dem Umdrehen der Kreditabhängigkeit nahm in den 1970er Jahren die Bedeutung des Warenexports wieder deutlich zu. Zwischen 1970 und 1974 stieg der Anteil der Exporte am US-Bruttoinlandsprodukt von 6 auf 10 %. Auf eine kurze Dämpfung des Exportwachstums 1981 – 1987 (wegen des gestiegenen Dollarkurses) folgte ein weiterer Anstieg bis in die 1990er Jahre.xxiii

5 Kalter Krieg und das „Ende der Geschichte“

Der Kalte Krieg war die prägende geopolitische Ordnung nach dem Sieg über den Nazifaschismus. Er war Ausdruck der Teilung der Welt in zwei Hauptblöcke, in denen die USA und die UdSSR jeweils wirtschaftlich vorherrschend waren. Der Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass kapitalistische Produktionsformen vorherrschend sind und andere Produktionsverhältnisse dem untergeordnet werden. Genauso funktioniert das auch mit dem Imperialismus, der durch das kapitalistische Herrschaftsverhältnis zwischen Nationen „definiert“ ist, deren ökonomische und politische Dynamik die Grundlage einer Imperialismusanalyse sein muss. Eine „Checkliste“, mittels derer Kriterien abgehakt werden, um festzustellen, ob ein Land nun imperialistisch wäre oder nicht, gibt es nicht.

Imperialismus stellt vielmehr eine internationale, ökonomische und politische Ordnung dar. Es ist diese Totalität, nicht einzelne Eigenschaften, die einem Land und dessen Gesamtkapital eine bestimmte Stellung zuweist/zuweisen. Darüber bestimmt sich, ob ein Land imperialistisch ist oder nicht.

Der Sieg über den Faschismus erlaubte der Sowjetunion die umfassende Ausbreitung der bürokratischen Planwirtschaft und die endgültige Durchsetzung der Theorie von den geopolitischen „Einflusssphären“. Diese war gleichzeitig eine vorgeblich zeitweise Anerkennung der kapitalistischen Vorherrschaft außerhalb der sowjetischen Einflusssphäre. Auf der anderen Seite wurde durch den Sieg im Krieg ohne große wirtschaftliche Zerstörung im eigenen Land die Vorherrschaft der USA in den kapitalistischen Ländern abgesichert. Das US-amerikanische Kapital war in der Lage, durch Kriegsproduktion und Aufbau die Weltwirtschaftskrise zu überwinden.

Die antisowjetische Haltung wurde in den Nachkriegsjahren zu den Leitlinien der US-imperialistischen Politik. Militärbündnisse, Wirtschaftsverträge und „Entwicklungshilfe“ waren neben dem profitablen Kapitalexport auf die geostrategische Absicherung ausgerichtet. Die gemeinsame „Bedrohung“ erlaubte auch eine relative Einheit der konkurrierenden nationalen Kapitale unter amerikanischer Führung, zumindest in den imperialistischen Ländern.

Ein wichtiges strategisches Element des kalten Kriegs bildete der Rüstungswettlauf. Nachdem die sowjetischen Einflusszonen zu groß waren, um sie mit Embargos oder Boykotts erfolgreich in die Knie zu zwingen, stellten das Wettrüsten und kostspielige Kriege (Afghanistan, Kambodscha, Angola, Mosambik, Äthiopien und Nicaragua) einen Versuch dar, die bereits stagnierende bürokratische Planwirtschaft in die Krise zu treiben. Gleichzeitig war die Aufrüstung aber auch in den imperialistischen Ländern kostspielig, was diese durch Überausbeutung der Halbkolonien nicht immer ausgleichen konnten. Außerdem beförderte sie den Aufbau der Friedensbewegung und damit politischer Opposition in den imperialistischen Zentren – ein riskanter Widerspruch für ein System, das die Kontrolle über die Peripherie mit Privilegien für die heimischen ArbeiterInnen absichert. Die Unterdrückung des US-Proletariats in diesen Jahrzehnten war vor allem durch die rassistische Spaltung und weitgehende demokratische Entrechtung, aber auch das Fehlen einer ArbeiterInnenpartei und weitgehende Bindung der Gewerkschaften an die bürgerliche Ddemokratische Partei, abgesichert.

In der voranschreitenden Krise der sowjetischen Wirtschaft und damit der Herrschaft der Parteibürokratie waren vor allem die niedrige Arbeitsproduktivität und die Überproduktion nicht nachgefragter oder qualitativ minderwertiger Waren (in anderen Worten ein Versagen in der Gebrauchswertproduktion) bestimmend. Als Antwort fand die Fraktion unter Gorbatschow die Wiedereinführung kapitalistischer Marktmechanismen in der Perestroika-Politik (russisch: „Umstrukturierung“), während der zunehmenden Opposition aus der ArbeiterInnenklasse (zum Beispiel in Polen) mit einer Lockerung der politischen Repression im Rahmen der Glasnost (russisch: „Öffnung“) geantwortet wurde.

Dadurch kam es zum rapiden Aufstieg von neuen KapitalistInnen, die sich im Außenhandel eng an InvestorInnen aus den imperialistischen Ländern banden. Die planwirtschaftliche Bürokratie in ihrer Stagnation war nicht in der Lage, dieser explosiven Kraft zu widerstehen, und binnen weniger Jahre wurde die kapitalistische Wiederaneignung in der gesamten sowjetischen „Einflusssphäre“ zum großen Nachteil der ArbeiterInnen durchgesetzt.

Zu Beginn des Kalten Kriegs hatten sich die USA als unbestrittene Führungsmacht in der imperialistischen Welt durchgesetzt, wozu der gemeinsame Außenfeind aller KapitalistInnen mindestens ebenso bedeutend war wie der Kriegsgewinn. Dafür hatte sich eine andere „Supermacht“ als direkte Konkurrentin zum US-Imperialismus aufgestellt. Mit deren Untergang schien die Vorherrschaft des US-Kapitals besiegelt, einbetoniert, was sich im berühmten Buchtitel von Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ als Sieg der neoliberal-militaristischen Politik ausdrückte. Nur 30 Jahre später steht diese Vorherrschaft aber wieder auf dem Spiel. Es scheint fast, als würde die Geschichte der Klassengesellschaften kein kapitalistisches Ende kennen.

6 Freihandelsabkommen und regelbasierte Weltordnung, Krieg gegen die „islamische Welt“

Der Rückzug der Trump-Regierung aus zahlreichen multilateralen (also zwischen mehr als zwei Ländern abgeschlossenen) Verträgen von Pariser Klimaabkommen bis NAFTA wurde als potentielles Ende der „regelbasierten Weltordnung“ diskutiert. Diese wird auch als Gegenentwurf zum Chaos der imperialistischen Konkurrenz zwischen Handelskrieg und StellvertreterInnenkonflikten verhandelt. So schreibt zum Beispiel das deutsche Außenministerium in seiner Bewerbung um einen Platz im UN-Sicherheitsrat: „Als global vernetztes Land setzen wir uns für eine regelbasierte Weltordnung ein, die von der Stärke des Rechts und nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt ist.xxiv

Die Ideologie von der regelbasierten, multinationalen und kapitalistischen Weltordnung findet ihren ersten Ausdruck in internationalen Organisationen wie dem Völkerbund, dem Vorläufer der Vereinten Nationen (UNO). Die liberal-demokratische Kritik an deren politischer Zahnlosigkeit wird vor allem deutlich, als im Gegensatz dazu weltweite Wirtschaftsabkommen ihre Durchsetzungsfähigkeit beweisen. Das Währungsabkommen von Bretton Woods und der Aufbau der Weltbank und des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg sind erste Beispiele für diese vertragliche Institutionalisierung.

Für die US-Vorherrschaft besonders bedeutend sind aber die Verhandlungsrunden um das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT 1947 (die 1995 in der Welthandelsorganisation WTO aufging) und die Gründung der G7 (Gruppe der sieben „wichtigsten“ kapitalistischen Nationen) nach der Ölpreiskrise 1973. Die Zahl der Freihandels- und Präferenzabkommen liegt mittlerweile in den Hunderten.xxv

Vorgeblich dienen diese Abkommen dem Zweck, gleichberechtigte oder sogar für unterentwickelte Länder vorteilhafte Bedingungen im Kapital- und Warenexport zu schaffen. Das baut auch auf den neoricardianischen oder neoklassischen Ideologien auf, dass ungehinderter (also zoll- und quotierungsfreier) Handel immer und für alle Beteiligten vorteilhafter ist.

Tatsächlich zeigt aber genau der wirtschaftliche Aufstieg der USA, wie „freier“ Handel die globalen Ungleichheiten und Abhängigkeiten noch verstärkt. Im kapitalistischen Wettbewerb setzen sich in der Regel die stärkeren Kapitale durch, und wo es Ungleichheiten im Warenfluss gibt werden diese nicht durch Gegengeschäfte, sondern durch Schuldenfallen ausgeglichen. Die Illusion von einer globalen Arbeitsteilung zum gegenseitigen Vorteil präsentiert sich in der Realität als Dystopie der imperialistischen Überausbeutung, organisiert von exportiertem Kapital.

7 Bruchpunkte: Wo machen die Trump-Maßnahmen einen Unterschied?

Rückzug aus multilateralen Abkommen

Die öffentlichkeitswirksamste Veränderung der US-Außenpolitik unter Trump war der Rückzug aus mehreren internationalen Abkommen, die zur Handschrift der Obama-Regierung gehört hatten. Neben dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zog sich Trump aus der „Transpazifischen Partnerschaft“ TPP der transatlantischen Handels- und Investmentpartnerschaft TTIP und dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zurück.

NAFTA war ein Modellbeispiel für den ausbeuterischen Charakter von Freihandelsabkommen, ein Symbol, gegen das linke AntiimperialistInnen und GlobalisierungskritikerInnen seit Jahrzehnten Sturm liefen. Während sich Ängste der Gewerkschaften nach einem Lohnverfall bei amerikanischen ArbeiterInnen durch vereinfachte Abwanderung nicht belegbar bewahrheitetenxxvi, zementierte NAFTA mit seinen Verkaufsquoten und Zollverboten die Abhängigkeit Mexikos von den USA. Die berüchtigten „InvestorInnenschutz“paragraphen, die es Unternehmen erlaubten, Staaten für unliebsame und profitgefährdende Gesetze zu verklagen, sowie Eingriffsrechte der USA in den Außenhandel Mexikos (zum Beispiel mit Kuba, Bolivien oder Venezuela) unterstrichen den offenen Herrschaftscharakter von scheinbar gleichberechtigten Freihandelsabkommen. Selbst konservative (neoklassische) ÖkonomInnen schätzen, dass die direkten wirtschaftlichen Vorteile, die NAFTA den US-KapitalistInnen brachte, nicht auf „ungehinderten“ Handel zurückzuführen sind, sondern auf Kosten der halbkolonialen VertragspartnerInnen gingen.xxvii NAFTA wurde 2018 von Trump aufgekündigt und durch das USMCA-Abkommen ersetzt, das außer einer schrittweisen Verbesserung der US-Position (Zugang zum kanadischen Markt für Landwirtschaftsprodukte, vorteilhafter Protektionismus in der Autoproduktion) keinen Bruch mit NAFTA darstellt. (USMCA = United States-Mexico-Canada-Agreement)

Auch TTIP war in Europa Gegenstand linker und linksliberaler Kritik, ebenfalls wegen des InvestorInnenschutzes und der Angleichung (also in Europa überwiegend der Verschlechterung) von Umweltschutz- und KonsumentInnenschutzregeln. Auch der offene Versuch, einen westlichen Wirtschaftsblock mit militärischer Hintergrundmusik gegen imperialistische Rivalinnen in China und Russland aufzubauen, drückte zwar nur die zunehmenden imperialistischen Zuspitzungen aus, weckte aber durchaus Widerstand. Die Verhandlungen um TTIP wurden 2016 von Trump abgebrochen. Nach dem vorläufigen Abschluss des Handelskriegs gegen die EU wurden 2019 Verhandlungen um ein neues Abkommen wieder aufgenommen.

Die transpazifische Partnerschaft TPP wurde als Bündnis von Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam unter Führung der USA 2016 unterschrieben. Es war das Kernstück von Obamas Asienstrategie zur Eindämmung des chinesischen Einflusses und wäre mit einer Abdeckung von 40 % der globalen Wirtschaft das größte Freihandelsabkommen der Welt gewesen. Die gegenseitige Bevorteilung in Handel, Zoll und vor allem Wertschöpfungsketten wäre nicht bloß auf den amerikanischen Kapitalexport, sondern auch auf die geopolitische Eindämmung Chinas ausgelegt gewesen. Die Trump-Regierung zog sich nur wenige Monate nach der Regierungsübernahme aus TPP zurück, das damit eigentlich hinfällig ist.

Ihr Rückzug ist generell nicht als Absage an den Freihandel und erst recht nicht als ideologische Ablehnung von Globalisierung oder weltweiten Produktions- und Ausbeutungsketten zu verstehen. Die von Trump als Feindbild bemühten „GlobalistInnen“ sind Elemente einer antisemitische Verschwörungstheorie und haben mit Globalisierung nichts zu tun. Vor allem die rasche Neuverhandlung nach dem Säbelrasseln von Handelskrieg und Embargodrohungen (die vor allem 2017 und 2018 das Verhältnis von USA, China und EU prägten) zeigt, dass kein Ende des „freien“ Handels ansteht. Vielmehr geht es darum, die implizite ökonomische Wahrheit, dass freierer Wettbewerb zugunsten der stärkeren Kapitale geht, noch einmal mit der militärischen, diplomatischen und geheimdienstlichen Stärke des US-„Gesamtkapitalisten“ zu unterstreichen.

Das amerikanische Kapital zeichnete sich zu Beginn seines ökonomischen Aufstiegs durch Wettbewerbsvorteile sowohl in der Industrieproduktivität als auch der Finanzinstitutionen aus. Nach der umfassenden Kapitalzerstörung in Europa und Ostasien durch den Zweiten Weltkrieg waren freierer Handel und Investititionsfluss die Schlüsselstrategie zur weltweiten amerikanischen Machtausübung.

Der Vorteil in der Produktivität ist dank partiellem Technologieexport, niedrigeren auwärtigen Lohnkosten und der teilweise maroden US-Infrastruktur ein abnehmender für den US-Imperialismus. Die zunehmende Bedeutung von „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ (TRIPS), die konservativen ÖkonomInnen ein theoretischer Graus sindxxviii waren ein Versuch, diesen Prozess zu verlangsamen. Gleichzeitig konnten Ende des 20. Jahrhunderts solche Positionsverluste durch die unangefochtene MarktführerInnenschaft in den Bereichen Hochtechnologie und Finanzwirtschaft ausgeglichen werden. Folgerichtig waren es diese Kapitalfraktionen, die den Freihandelskurs und besonders die steigende Bedeutung der Klauseln zum geistigen Eigentum und seine VertreterInnen stützten.

Auch der systematische Aufbau einer US-amerikanischen Energieunabhängigkeit war ein zentrales Ziel der Regierungen Bush und Obama, die spätestens 2019 die USA zu Nettoölexporteurinnen machten. Diese Unabhängigkeit wird mit vergleichsweise hohen Ölpreisen (zu denen sich nur die sehr schmutzige und teure Schieferöl- und Teersandausbeutung lohnt) erkauft, die andere Seite der Medaille der Kriege um Öl, die die US-Außenpolitik seit den 1990er Jahren prägt.

Die US-Vorherrschaft im Bereich der Hochtechnologie ist nicht mehr unangefochten. Vor allem im ostasiatischen Raum werden heute ähnlich leistungsfähige Halbleiterprodukte hergestellt und die entsprechende Software entwickelt wie um das Silicon Valley. Die Bedeutung der US-Finanzwirtschaft ist deutlich weniger bedroht, auch wenn die Abwicklung von Teilen des Welthandels mit chinesischen Renmibi und teilweise sogar Euros die Bedeutung anderer Börsen steigert. In der Folge der Finanzkrise 2008 sank jedoch die Bedeutung der Finanzindustrie im Vergleich zu anderen Kapitalfraktionen, die vom „regelbasierten“ Freihandel weniger hielten.

Der Kurs der Trump-Regierung widerspiegelt in erster Linie das Bedürfnis, diese stärksten Kapitalfraktionen im internationalen Wettbewerb zu stärken. Die gezielten Angriffe auf chinesische Technologieunternehmen (Huawei, TikTok) sprechen hier ebenso dafür wie die offene Forderung, mehr amerikanische Landwirtschafts- und Industrieprodukte zu kaufen.

Kriegspolitik

Die Präsidentschaften von Bush und Obama waren außenpolitisch vor allem von den Überfällen auf Afghanistan und Irak geprägt. Wie schon die ersten Golfkriege waren diese ökonomisch von einem Bedarf nach günstigem und preisstabilem Erdöl getrieben. Unter dem ideologischen Deckmantel des Kriegs gegen den Terror (und als institutionalisierter Hintergrund des modernen antimuslimischen Rassismus) stationierten die US-Truppen Hunderttausende SoldatInnen in und rund um die ölfördernden Länder Westasiens und im kleineren Ausmaß auch Afrikas.

In den letzten Jahren der Obama-Regierung wurde der direkte Konflikt mit Russland als potentiellem imperialistischen Konkurrenten wichtiger Treiber der Kriegspolitik. Die Unterstützung der rechtsextrem-neoliberalen Koalition in der Ukraine durch US-Truppen sowie die Interventionen in Libyen und Syrien hatten mehr mit diesem geopolitischen Konflikt als der Sicherung von Öl- und Gasversorgung zu tun. Tatsächlich bewegten sich die USA schon seit 2014 auf einen Energie-Nettoexport (bei ausreichend hohen Weltmarktpreisen, die die Förderungsmethoden profitabel machten) zu.

Das führte zu einer Verschiebung der Interventionen, weg vom Ziel, einen niedrigen Weltmarktpreis für Öl und Gas sicherzustellen. Es schuf aber neue Konflikte, die die Abnahme von amerikanischen Energieprodukten sicherstellen sollten. So muss man auch die zeitweise US-Forderung verstehen, keine neue Pipeline für russisches Gas zu bauen (Nordstream-2-Konflikt). Dasselbe gilt dafür, dass die EU sich im Auslaufen des Handelskrieges verpflichtet, ihre Einfuhr an amerikanischem LNG-Flüssiggas zu verdoppeln.

In diesem Lichte müssen auch der von Trump versprochene Truppenabzug aus Irak und Afghanistan sowie die kurzfristig angekündigte Entspannung mit Iran und Nordkorea gesehen werden. Hinter seinem Versprechen steht die Kosten-Nutzen-Rechnung der Kapitalfraktionen, die den Präsidenten offen gefördert haben. Vor allem für die Energieindustrie ist der Nutzen gering, der den enormen finanziellen und moralischen Kosten des Dauerkrieges gegenübersteht. Auch die versuchte Entspannung mit Russland hatte sich deutlich von Obamas Politik abgehoben, der in der Ukraine und in Syrien eigentlich StellvertreterInnenkriege eskaliert hatte.

In diesen Fällen überwiegt aber die Kontinuität und die Durchsetzungsfähigkeit des für die Außenpolitik relevanten industriell-militärischen Komplexes, also die Rüstungsindustrie und Teile von Armee und BeamtInnenapparat. Tatsächlich konnte sich Trump hier aber auch nicht gegen die „Falken“, die dortigen kriegsbegeisterten IrangegnerInnen durchsetzen. Folgerichtig deshalb wurde der Abzug nicht organisiert, und die USA intervenieren auch rund um die Ölvorkommen in Nordsyrien, zwischen Rojava und Südkurdistan (Nordirak). Es ist dennoch wichtig zu verstehen, dass es politökonomische Hintergründe für diese Wahlversprechen gibt.

In anderen Bereichen ist diese außenpolitische Verschiebung aber durchgesetzt worden. Die Bündnispolitik im arabischen Raum zielt auf Einzelabkommen, ideologische und militärische Zugeständnisse (Botschaftsverlegung in Israel, möglicher Verkauf von F-35-Kampfflugzeugen an Saudi-Arabien) ab. Unter Obama orientierte die Strategie noch klarer darauf, die lokalen Mächte gegeneinander auszubalancieren, und war auch weniger auf direkte Loyalität zu den USA zugeschnitten. Der offene Unilateralismus, also das US-Diktat der Bedingungen, hat aber auch nicht nur zum Ziel, Einzelstaaten unter Druck zu setzen, sondern auch die Beziehungen zu anderen Verbündeten der USA zu verändern.

Auch an den reaktionären Entwicklungen in Lateinamerika waren die USA führend beteiligt. Das bedeuten zum Beispiel das Zurückdrängen von progressiven und linken Regierungen in Brasilien, Chile, Bolivien, der Abbruch der Entspannung mit Kuba und die Putschversuche in Venezuela. Diese Entwicklungen haben aber unter den Regierungen Bush und Obama begonnen und wurden unter Trump recht konsequent weiter vorangetrieben. Dahinter steht aber nicht nur die chauvinistische „Hinterhof“ideologie der 1970er Jahre, sondern der Versuch, chinesischen Einfluss in der Region zu beschränken. Das bezieht sich zum Beispiel darauf, dass sich Brasiliens Bergbau (vor allem die Kupferproduktion) als Zulieferer für Chinas Industrie zum weltwirtschaftlichen Motor in der Krise ab 2008 entwickelte, oder auch auf den chinesisch-nicaraguanischen Vertrag zum Bau eines Atlantik-Pazifik-Kanals (als direkte Konkurrenz zum amerikanisch kontrollierten Panama-Kanal).

Zusammengefasst scheint die Trump-Regierung in der Durchsetzung ihres außenpolitischen Programms schwach, hat aber in entscheidenden Punkten eine andere Stoßrichtung als die vorhergegangenen Regierungen. Die außenpolitischen Interessen des US-Kapitals verschieben sich, hin- und hergerissen zwischen einem zunehmenden Bedürfnis nach militärischer Schützenhilfe auf dem Weltmarkt und geostrategischer Bündnispolitik gegen den aufstrebenden Konkurrenten China. Dieser Widerspruch ist nicht ohne weiteres auflösbar und wird zuerst in den USA eskalieren, um sich dann weltweit in offenen militärischen Konflikten zu entladen.

8 Ausblick: Die Rolle des Staates als ideeller Gesamtkapitalist, sich zuspitzende Widersprüche nach der Krise und die Konfrontation mit China

Der US-Imperialismus steht vor einer grundlegenden Neuordnung. Weil die USA die weltweit führende imperialistische Macht sind, gilt dasselbe für die globale Ordnung, und umgekehrt sind die Veränderungen in den USA auch Produkt der globalen Machtverschiebungen. Für die Analyse der US-Rolle sind drei Punkte entscheidend (1) die Machtverschiebung zwischen den Kapitalfraktionen im Inland, (2) der Aufstieg von China und Russland sowie die Formierung der EU zu imperialistischen Blöcken und (3) die widersprüchlichen Interessen, die sich in der amerikanischen Außenpolitik niederschlagen.

Der grundlegende Widerspruch zieht sich zwischen den Gründen für den und den Auswirkungen des Aufstieg/s von China zur imperialistischen Macht und direkten Konkurrenten der USA. Die direkten Gründe sind, dass US-amerikanische Kapitale schon im 20. Jahrhunderts den Kostenvorteil in der Industrieproduktion an andere aufstrebende Staaten abgeben mussten. Das ist eine direkte Folge der Tatsache, dass Wert nur aus menschlicher Arbeit entsteht und der zeitweise Kostenvorteil durch Produktivitätssteigerungen langfristig zu einer niedrigeren Profitrate tendiert.

Diese Entwicklung führte in den USA zu starkem Druck auf Lohnsenkungen. Ein Erhalt des Lebensstandards vieler ArbeiterInnen wurde durch den Import günstiger chinesischer Konsumprodukte ermöglicht. Das löste wiederum für China das Nachfrageproblem, wo KapitalistInnen ihre ArbeiterInnen sehr schlecht bezahlen konnten, ohne sich gesamtkapitalistisch Sorge um die Konsumnachfrage machen zu müssen. Diese Rolle übernahmen die amerikanischen ArbeiterInnen.

Durch die Dominanz der Finanzindustrie und des Hochtechnologiesektors der USA bedeutete der zunehmende Verlust der globalen „Wettbewerbsfähigkeit“ noch nicht, dass deren Stellung als imperialistische Führungsmacht gefährdet war. Der Aufbau von globalen Produktionsketten, die von amerikanischen Kapitalen dominiert wurden, erlaubte gleichzeitig den Kapitalexport über die Finanzindustrie und das Abschöpfen der Profite am Ende der „Wertschöpfungskette“ durch amerikanische IndustriekapitalistInnen. Der Aufbau von profitableren Hochtechnologiefirmen in Japan, Korea und China, der relative Bedeutungsverlust der US-Finanzindustrie im Laufe der Krise ab 2008 und der erfolgreiche Aufbau von Produktionsketten ohne amerikanische Beteiligung setzt aber dieser Periode ein Ende.

Das bedeutet eine Verschiebung der Interessen innerhalb des US-Kapitals. Weniger KapitalistInnen können erwarten, auf dem Weltmarkt der Freihandelsabkommen zukünftig bestehen zu können, und die das bewältigen, sind im inneramerikanischen Vergleich schwächer geworden. Dafür fordern mehr Kapitalfraktionen die direkte Unterstützung ihrer Wettbewerbsteilnahme auf dem Weltmarkt durch die militärische, diplomatische und geheimdienstliche Überlegenheit ein. Typische Beispiele sind vertragliche Abnahmequoten zum Beispiel für Agraprodukte oder Flüssiggas, Sanktionen gegen KonkurrentInnen, und Schutzzölle gegen ausländische Konsumgüter.

Gleichzeitig erfordert die Eindämmung Chinas aber breite geopolitische Bündnisse mit kleineren imperialistischen Staaten ebenso wie mit Halbkolonien. Denen muss dafür aber ein ökonomisch besseres Angebot gemacht werden als die klassischen chinesischen Infrastrukturinvestitionen im Billionenbereich. Neben direkten Kapitalanlagen zählt dazu auch das Angebot, gemeinsame Märkte zu konsolidieren, die im TPP-Abkommen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Beides ist aber teuer und läuft den Einzelinteressen bedeutender US-KapitalistInnen ziemlich direkt zuwider.

Diesen Widerspruch zu lösen, wäre die Aufgabe des Staates als imperialistischem Gesamtkapitalisten. Das geht sich nur aus, wenn die eigene Führungsrolle weiter abgesichert wird, eine weitgehend unrealistische Aussicht. Wir stehen am Ende der Periode der klaren US-Dominanz über die globale imperialistische Ordnung, die mittelfristig durch eine multipolare Herrschaft abgelöst werden wird.

Das spitzt aber auch die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten zu. Die vergangenen zwei Krisen ab 2008 und ab 2019 haben schon gezeigt, dass die Kapitalakkumulation in den imperialistischen Zentren an ihre Grenzen stößt. Es ist kein Zufall, dass diese Grenzen in den USA und der EU schneller erreicht sind als zum Beispiel in China oder Russland. Aber auch diese Länder haben definitiv krisenhafte Entwicklungen durchgemacht.

Die einzige Perspektive der kapitalistischen Krisenlösung ist für die imperialistischen Blöcke die Ausweitung der eigenen Absatz-, Rohstoff- und Arbeitsmärkte. Der Imperialismus ergibt sich aus den Krisentendenzen des Kapitalismus und ein Verständnis der imperialistischen Dynamiken macht eine tiefgehende Kenntnis der Krisendynamiken notwendig.

Weil die Halbkolonien und Einflusssphären weitgehend aufgeteilt sind, läuft das auf einen Konflikt um die Neuaufteilung der Welt hinaus. In kleinerem Ausmaß sehen wir das bereits am internationalen Auftreten Chinas, das geschickt die Spielräume aus der Freihandelslogik und in von den USA aufgegebenen Gebiete nutzt, um sich eine bessere Ausgangsbasis zu verschaffen. Ein anderes Beispiel ist der Zusammenprall russischer und amerikanischer Interessen in Bezug auf die EU. Dieser Widerspruch ist in der Ukraine eskaliert. Die daraus entstehende Kriegsgefahr ist nicht unmittelbar, aber unausweichlich.

Endnoten

i Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus. Zur Geschichte der US-Kapitalausfuhr. Sammlung Luchterhand 161. Neuwied und Darmstadt: 1974, S. 24

ii Engels, Friedrich: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, in: Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke (MEW) Band 19, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 222

iii Wood, Ellen Meiksins. The Origin of Capitalism: A Longer View. New ed. London: Verso, 2002. Deutsche Ausgabe: Der Ursprung des Kapitalismus. Eine Spurensuche. Ausgewählte Werke Band I, LAIKA Verlag, LAIKAtheorie Band 55, Hamburg 2015

iv https://www.dw.com/de/eu-strebt-massive-steigerung-der-fl%C3%BCssiggas-importe-aus-usa-an/a-48572023

v Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie“, in: MEW Band 23 (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost, 4. Auflage 1987, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, S. 792

vi Ebenda, S. 794

vii Galenson, David W.: „The Rise and Fall of Indentured Servitude in the Americas: An Economic Analysis,“ 2020, S. 27

viii https://jacobinmag.com/2017/10/anti-rent-war-movement-feudalism-new-york

ix Moore, Jason W.: „Nature and the Transition from Feudalism to Capitalism,“ 2020, S. 77

x Marx, Karl/Engels, Friedrich: „Das Manifest der Kommunistischen Partei“, in: MEW Band 4, (Karl) Dietz Verlag, Berlin/Ost 1959, S. 467

xi Kilson, Marion D. de B.: „Towards Freedom: An Analysis of Slave Revolts in the United States“, Phylon (1960-) Vol. 25, no. 2 (2nd Otr.. 1964), S. 175 – 187, https://doi.org/10.2307/273653

xii Aptheker, Herbert: „The American Revolution, 1763-1783: A History of the American People: An Interpretation“ Vol. 2, International Publishers Co, New York 1960

xiii Chang, 2007, 79f., in: Aptheker, Herbert, a. a. O.

xiv Küntzel, Ulrich: Der nordamerikanische Imperialismus …, a. a. O., S. 53

xv Ebenda, S. 83

xvi Ebenda, S. 90

xvii Ebenda, S. 148

xviii Ebenda, S. 132

xix Bodenheimer, Susanne: „Dependency and Imperialism: The Roots of Latin American Underdevelopment.“ Politics & Society 1, no. 3 (1971), https://doi.org/10.1177/003232927100100303

xx Dos Santos, 1968, 2. 28

xxi Taylor, Alan M.: „Foreign Capital in Latin America in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research, March 2003, S. 13, https://doi.org/10.3386/w9580

xxii Ebenda, S. 29

xxiii Schmidt, Timothy J.: „The Rise of U.S. Exports to East Asia and Latin America“, 1994, S. 68, <https://duckduckgo.com/?q=Schmidt%2C+Timothy+J.%3A+%E2%80%9EThe+Rise+of+U.S.+Exports+to+East+Asia+and+Latin+America%E2%80%9C%2C+1994&t=ffab&atb=v1-1&ia=web>

xxiv https://verfassungsblog.de/voelkerrecht-klar-benennen-deutschland-im-sicherheitsrat-und-der-einsatz-fuer-die-regelbasierte-internationale-ordnung/

xxv Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System: How Preferential Agreements Undermine Free Trade“, Oxford University Press, Oxford/New York 2008, S. 12

xxvi Caliendo, Lorenzo/Parro, Fernando: „Estimates of the Trade and Welfare Effects of NAFTA“, The Review of Economic Studies 82, no. 1 (January 1, 2015), S. 1 – 44, https://doi.org/10.1093/restud/rdu035.

xxvii Rodrik, Dani: „What Do Trade Agreements Really Do?“, Journal of Economic Perspectives 23, no. 2 (May 1, 2018, S. 73 – 90), S. 74, https://doi.org/10.1257/jep.32.2.73, https://j.mp/2EsEOPk

xxviii Bhagwati, Jagdish N.: „Termites in the Trading System … “, a. a. O.




China als Modell?

Das isw Müncheni und der chinesische Imperialismus

Alex Zora, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Der Aufstieg Chinas in den letzten vier Jahrzehnten dürfte kaum jemanden entgangen sein. Ausgehend von den Reformen unter Deng Xiaoping hat in China in den vier Jahrzehnten seit 1978 eine riesige gesellschaftliche Umwälzung stattgefunden. Es ist nicht nur die weltweit größte industrielle ArbeiterInnenklasse aus hunderten Millionen ehemaligen Bauern und Bäuerinnen entstanden, sondern China hat es auch geschafft, zu einer ernsthaften Konkurrenz zu den USA aufzusteigen. Grund genug, China und seine „sozialistischen Marktwirtschaft“, wie die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land gerne bezeichnet, zu untersuchen. Diese Erkenntnis hat sich auch im eurokommunistisch geprägten Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München (isw) durchgesetzt, und in den letzten 10 Jahren gab es mehrere Ausgaben ihres mehrmals jährlich erscheinenden Reports, die sich China bzw. dem Konflikt China-USA widmeten, mit deren Analysen wir uns im folgenden Beitrag beschäftigen wollen. Sie stehen auch weitgehend im Einklang – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen und Schattierungen – mit den Einschätzungen, die auch rund um die europäische Linkspartei, das Netzwerk „transform! Europe“ oder die deutsche Rosa-Luxemburg-Stiftung weit verbreitet sind.

Neuer Kalter Krieg?

Schon unter Präsident Obama wurde der Dreh- und Angelpunkt der US-Außenpolitik (pivot to asia) auf Asien gelegt. Durch China ausschließende Freihandelsabkommen wie TPP sollte es ökonomisch und politisch isoliert und im Rahmen der „regelbasierte internationalen Ordnung“, die in erster Linie von den USA etabliert wurde, bekämpft werden.

Seit der Wahl von Donald Trump war klar, dass sich in der herrschenden Klasse der USA die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass China längst zum wichtigsten strategischen Gegner aufgestiegen war und mit einseitigen Maßnahmen der USA bekämpft werden müsse – auch ohne Verbündete, wenn nötig. Trumps China-Politik ist indikativ dafür, dass sich ein immer größerer Teil der US-Bourgeoisie nicht mehr auf die Mechanismen der internationalen Freihandelsordnung verlässt. Mit dem Beitritt Chinas zur WTO hatte man sich seine Durchdringung mit US- und, in geringerem Maße, auch europäischem Kapital erhofft, um es in eine untergeordnete neokoloniale Rolle herabzudrücken. Die Erfahrung seit 2001 zeigte aber, dass sich China in den letzten zwei Jahrzehnten nicht stärker in eine Abhängigkeit der traditionellen imperialistischen Metropolen begeben, sondern – insbesondere durch die Wirtschaftskrise 2008/09 – sich eine deutlich eigenständigere und unabhängigere Rolle verschafft hat.

Statt den Strategien der Obama Ära hat sich also in den letzten Jahren die Meinung in der US-Bourgeoisie durchgesetzt, dass man sich gegenüber China mit allen Mitteln verteidigen müsste. Wichtige VertreterInnen beider Parteien der US-Bourgeoisie heißen Trumps Strafzölle gegen China gut. Immer wieder sprach insbesondere der demokratische Minderheitsfraktionsführer im Senat, Charles Ellis „Chuck“ Schumer, Präsident Trump in seinem Kurs gegenüber China die Unterstützung zu. Durchaus beachtlich, da die Demokratische Partei Trumps erratischen Kurs in der Außenpolitik als einen ihrer Hauptangriffspunkte betrachtet.

Trumps Handelskrieg, der mit Strafzöllen auf Stahl und Aluminium im März 2018 begann, war ein Bestandteil der strategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Zwar wurde Anfang dieses Jahres in einem ersten Teil eines Handelsabkommen die Eskalation der Zölle erst einmal gestoppt, die schon bestehenden sollen aber bis zum Abschluss eines zweiten Teils nicht aufgehoben werden. Die Entwicklung rund um die Covid-Pandemie hat aber den Konflikt zwischen China und den USA in anderen Bereichen wieder eskalieren lassen. Auf der einen Seite bezeichnete Trump das Coronavirus auch gerne als „Chinavirus“ und schob China die Schuld an der globalen Epidemie zu. Der Konflikt, der sich auch im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO abspielte, nahm in den letzten Monaten weit gefächerte Formen an. Schon mit Beginn der weiten Ausbreitung von Covid-19 in den USA begann Trump, der WHO die Schuld für die Pandemie zuzuschieben. Im April kündigte er die Kürzung der US-amerikanischen WHO-Beiträge um 50 % an. Und nachdem die USA eine entscheidende Abstimmung über eine von der EU eingebrachte und von China mitgetragene Resolution bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai diesen Jahres verlor, kündigte die Trump-Regierung dann den Rückzug der USA aus der WHO 2021 an. Grund dafür sei, dass die WHO von den USA geforderte „Reformvorschläge“ nicht vollziehen würde.

Einen neuen Höhepunkt der Eskalation erreichte die Auseinandersetzung zwischen den USA und China, als im Juli die USA das Konsulat Chinas in Houston (Texas) schließen ließen. Chinas Konter, die Schließung des US-Konsulats in Chengdu (Südwestchina), folgte kurze Zeit später. Die USA hatten den Vorwurf erhoben, dass das Konsulat in Houston ein wichtiger Bestandteil des chinesischen Spionagenetzwerks in den USA gewesen sei.

Der Konflikt, der sich hier zwischen China und den USA abspielt, ist aber kein Produkt von Trumps Psyche und wird sich auch nicht so schnell durch einen Wechsel an der Spitze der USA ändern. Es ist zwar zu vermuten, dass sich eine Regierung der demokratischen Partei unter Joe Biden wohl verstärkt darauf fokussieren würde, gemeinsam mit der Europäischen Union China zu isolieren, aber die grundlegenden bestehenden Widersprüche sind ökonomischer Natur. China und die USA werden in den nächsten Jahren klären müssen, wer die ökonomische und politische Vorherrschaft behalten bzw. erlangen wird. China will bis 2049 (1949 wurde die Volksrepublik gegründet) zur globalen Supermacht aufsteigen – ökonomisch, politisch und militärisch.

Das isw und der Konflikt China – USA

In seinen Publikationen wird der Konflikt zwischen China und den USA ausführlich diskutiert. Positiv fällt hier vor allem auf, dass das isw nicht in die klassisch liberale Deutung des Konflikts als eines zwischen dem demokratisch Westen und dem despotischen China verfällt. Doch für eine sich dem Marxismus zuordnende Publikation reicht diese Erkenntnis noch nicht aus.

Dagegen [gegenüber der militarisierten Globalisierung des Westens] praktiziert China die Globalisierung anders. Sie soll „gerecht und inklusiv“ sein und ohne militärische Begleitung.ii

Richtigerweise kreidet das isw die scheinheilige Verwendung von Menschenrechten als politische Waffe des westlichen Imperialismus an, aber wenn es um die Politik der chinesischen Führung geht, wird diese kaum hinterfragt. Dabei sollte zentraler Ausgangspunkt für die Beurteilung des Konfliktes zwischen China und den USA die grundlegende Betrachtung der Rolle der beiden Kräfte im kapitalistischen Weltsystem sein. Der politische Ausdruck des ökonomischen Konflikts ist nicht in erster Linie daran zu messen, welche der beiden Seiten den ersten Stein geworfen hat oder die aggressivere Politik verfolgt, sondern an ihrem Klassencharakter und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Beide Länder sind kapitalistische, ja imperialistische Großmächte.

Dem isw geht es aber eben nicht vorab demzufolge darum, Liebknechts berühmtem Leitsatz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ Rechnung zu tragen, sondern in erster Linie werden die USA als Hauptfeind ausgemacht. Denn die europäischen Imperialismen werden in erster Linie als ZuträgerInnen des Us-amerikanischen Imperialismus gesehen. Conrad Schuhler macht das in einem Artikel auch ganz explizit, wenn er zustimmend Albrecht Müller zitiert „Die Deutschen – und die Mehrheit der Europäer – sollten sich daran gewöhnen, dass die USA nicht unser Freund sind. Sie sind das Imperium und behandeln uns wie eine Kolonie.iii

Die Position ist damit nicht in erster Linie antiimperialistisch, sondern eigentlich ein Ratschlag für den deutschen (bzw. europäischen) Imperialismus, den traditionellen Verbündeten fallenzulassen und sich der aufstrebenden Macht zuzuwenden. Garniert wird dies zuweilen noch mit dem Ratschlag, doch ein bisschen vom chinesischen System, wie einen aktiven, bedeutenden staatlichen Sektor, zu übernehmen. Walter Baier dazu: „Die politische Frage, auf die die großen europäischen Staaten und die EU eine Antwort finden müssen, lautet, ob sie sich gegenüber dem Druck der USA, die auf eine Zerstörung des freien Welthandels und eine Verschärfung der politischen und militärischen Konfrontationen zielen, emanzipieren wollen oder nicht. Gerade in Deutschland sollte man verstehen, dass der von der Trump-Administration entfesselte Wirtschaftskrieg sich gegen die europäischen Industrien und Arbeitsplätze richtet.iv

Der Charakter Chinas

Die zentrale Frage für die Bewertung des Konfliktes zwischen China und den USA ist – zumindest für revolutionäre MarxistInnen – also nicht die nach dem „Aggressor“ sondern dem grundlegenden Charakter des ökonomischen Systems und der Stellung im kapitalistischen Weltgefüge. Das isw tut sich weitgehend schwer damit, eine eindeutige Charakterisierung Chinas abzugeben. „,Sozialismus chinesischer Prägung’, ,Sozialistische Marktwirtschaft’, eine ,Art Staatskapitalismus unter dem Kommando der KP’, ,Staatlich kontrollierter Kapitalismus’, ,Wohlfahrtstaat’ nach schwedischen Modell – es fällt schwer, den chinesischen Weg zu einer modernen Volkswirtschaft in ein Schema zu pressen und zu kategorisieren“, schreibt zum Beispiel Fred Schmidv. Um einiges leichter tun sich die VertreterInnen des chinesischen Regimes, die vor allem im isw Report 119 zu Wort kommen. Für sie ist klar, dass es sich bei China um eine „Sozialistische Marktwirtschaft“ handelt, also eine Marktwirtschaft deren „sozialistischer“ Charakter durch die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas garantiert wird.

Die Charakterisierung Chinas als „Neoliberalismus mit chinesischem Antlitz“, wie David Harvey behauptetvi, wird entschieden abgelehnt. Genauso wird die Charakterisierung Chinas als Imperialismus zurückgewiesen. „Chinas Globalisierung ist ein dezidiert antikoloniales, nicht-imperialistisches, völkerrechtskonformes Projekt; es stiftet Frieden und breiten Wohlstand.vii

Die Argumentation dafür ist bezieht sich im Wesentlichen auf diverse Überbauphänomene: China sei kein Aggressor; seine Auslandsinvestitionen bzw. -kredite seien nicht an spezifische Spar- oder Reformprogramme gebunden, wie das bei IWF oder Weltbank üblich ist. China mische sich auch nicht oder zumindest viel weniger in die Innenpolitik der jeweiligen Länder ein; das Militär sei auch in erster Linie defensiv aufgestellt und wichtige strategische Projekte wie die neue Seidenstraße, die weiter unten noch detaillierter behandelt wird, seien auch nicht an eine militärische Strategie gebunden usw. Ob all diese Bewertungen so auch wirklich stimmen oder nicht, sei einmal dahingestellt. Zentral ist aber, dass sie nicht die determinierenden Faktoren für die Stellung eines Landes im imperialistischen Weltsystem ausmachen – für MarxistInnen.

Es ist zwar unter speziellen Umständen möglich, dass ein Land weder eine dominante Rolle als Großmacht (oder unterstützend als Juniorpartner) noch als dominierte Neokolonie spielt. China und Russland auf ihrem Weg zur Wiedereinführung des Kapitalismus wiesen bestimmte Eigenschaften dieser Zwischenkategorie auf. Doch zentral ist, dass in einem imperialistischen Weltsystem, das keine dauerhafte stabile Situation darstellt, sondern die internationale Konkurrenz auf höhere Stufenleiter hebt, die Länder entweder eine dominierende Position erobern oder in die Beherrschung durch andere zurückfallen müssen. Für das isw hingegen scheint China zumindest bis auf Weiteres außerhalb dieser Hierarchien stehen zu können und das, obwohl es, wie auch das isw zugesteht, als kapitalistisches Land vollkommen in den Weltmarkt integriert ist.

Kaum jemand beim isw würde wohl bestreiten, dass die USA nicht erst mit den Eintritt in den 2. Weltkrieg und der damit enorm geänderten Außenpolitik einen imperialistischen Charakter annahmen. In der Zwischenkriegszeit wiesen sie durchaus einige Ähnlichkeiten mit dem Verhalten Chinas der letzten beiden Jahrzehnte auf. Das Militär der USA nach dem 1. Weltkrieg und seine Einmischung in außeramerikanische Angelegenheiten waren äußerst beschränkt. Mit derselben Argumentation wie das isw hätte man in den 1920er Jahren das französische und britische Imperium den USA entgegenstellen können, um damit zu begründen, dass es sich bei letzteren unmöglich um eine imperialistische Großmacht handeln könne. Das isw begeht hier den gleichen Fehler wie Kautsky während des 1. Weltkriegs. Für ihn handelte es sich beim Imperialismus nicht um ein Stadium, eine Epoche der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern schlicht um Militarismus, Großmacht- und Kanonenbootpolitik.

Hier ist nicht der Ort, um eine ausführliche Analyse Chinas als neuer imperialistischer Großmacht anstellen zu können. Doch mit der letzten Krisenperiode, die mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2008 ihren Anfang nahm und verschiedene Phasen durchmachte, konnte es seine Position auf dem Weltmarkt und im imperialistischen Weltsystem wesentlich stärken. Es profitierte dabei nicht nur von der krisengeschüttelten Europäischen Union, den sich spätestens sei 2015/16 abzeichnenden Tendenzen zum Rückzug auf den Nationalstaat einiger imperialistischer Länder wie Großbritanniens und der USA (Brexit, Wahl Donald Trumps, …) und den sich dadurch politisch auftuenden Räumen, sondern auch vom Umbau der eigenen Wirtschaft weg von einem Billiglohnland zu einem mit einer der weltweit größten kaufkräftigen „Mittelschichten“ und vermehrt von einem ausschließliches Billigwarenexporteur hin zu einem Kapitalexporteur. Die Rolle Xi Jinpings als neuer starker Mann (auf einer Ebene mit Mao oder Deng Xiaoping) ist dafür politischer Ausdruck.

Aber sein Aufstieg und seine gestärkte Rolle sind nicht nur ein Ausdruck für die gestärkte Rolle Chinas in der Welt, sondern auch seiner inneren Dynamik. Das Land ist trotz seines unglaublichen Aufstiegs von riesigen inneren Widersprüchen gekennzeichnet: auf der einen Seite zwischen den durch den Staat und die Bürokratie organisierten staatskapitalistischen Unternehmen und Banken und auf der anderen Seite den oft dynamischeren privaten Unternehmen und mit ihnen verknüpften Privatinstitutionen. Insbesondere wichtig sind hier die sogenannten Schattenbanken, die in China ein riesiges Ausmaß der Finanzwirtschaft kontrollieren und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind. Für Xi Jinping ist es in dieser Situation möglich, sich zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals und der Bürokratie eine besondere Position zu erobern. Dabei sind auch interne Spaltungslinien in der Partei relevant, insbesondere die unteren und mittleren Schichten der Bürokratie in den unterschiedlichen Provinzen und Städten sind dabei noch vermehrt mit den staatlichen Unternehmen verbunden, die höheren Führungskader hingegen stärker mit dem Interesse des Gesamtkapitals und insbesondere auch den dynamischen Privatunternehmen.

Wesentlich für die Bewertung der Rolle Chinas als neue imperialistische Großmacht ist, dass es hier nicht ausschließlich um die Anwendung der fünf Lenin’schen Merkmale des Imperialismus gehen kann. Diese sind wesentlich für die Feststellung des Imperialismus als Stadium des Kapitalismus, also der gesellschaftlichen globalen Gesamtheit, müssen aber nicht vollständig für jedes einzelne Land zutreffen, erfüllt sein, um eine imperialistische Großmacht zu verkörpern. Ausschlaggebend für seine Charakterisierung ist seine Stellung in der Weltmarkthierarchie. Für Lenin war z. B. auch klar, dass es bei der Kategorisierung als imperialistische Großmacht nicht darum geht, ausschließlich den ökonomischen Entwicklungsstand zu bewerten, wenn er auch eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel bewertete er sowohl Japan als auch Russland als imperialistische Großmächte, die zu seiner Zeit ökonomisch nicht auf derselben Stufe wie die USA, Deutschland oder Großbritannien standen. Entscheidend war hier, dass sie wie diese Länder in einem imperialistischen Verhältnis zu anderen Staaten und Nationen standen. „In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.viii

Schließlich sei noch der Hinweis gestattet, dass China (im Gegensatz zu Russland, bei dem sich der imperialistische Charakter noch aus deutlich spezifischeren Umständen ergibt) mittlerweile auch viele der „klassischen“ Merkmale aufweist. Chinesische Banken gehören zu den größten der Welt; in Fragen des Kapitalexports steht China auf Augenhöhe mit den anderen imperialistischen Großmächten und hat mit Lenovo, ZTE, Huawei, Alibaba und anderen weltweit agierende Konzerne geschaffen. Dazu ist es vermehrt militärisch selbstbewusst mit den weltweit zweitgrößten Militärausgaben, unterhält mittlerweile schon mehrere Militärbasen in anderen Ländern (Tadschikistan, Dschibuti) und darüber hinaus ist auch die brutale nationale Unterdrückung der UigurInnen sowie eine stärker aufflammende nationalistische Rhetorik wesentlicher Bestandteil seines imperialistischen Charakters.

Die Neue Seidenstraße – Globalisierung ohne militärische Begleitung?

Seit einigen Jahren ist Chinas „One Belt, One Road“-Initiative sein zentrales außenpolitisches Projekt. Ziel ist es – angelegt an die antike Seidenstraße –, sowohl über den indischen Ozean (Belt; Meerenge) als auch über Zentralasien (Road; Landweg) den eurasisch-afrikanischen Raum für den internationalen Warenverkehr zu erschließen. Ein enormer Ausbau der Infrastruktur soll Chinas Exportrouten diversifizieren, geopolitischen Einfluss in den beteiligten Ländern erlangen und letztlich einen Ausweg aus seinem wohl größten geostrategischen Problem schaffen. China ist für die absolute Mehrheit seiner Exporte, aber auch seiner Rohstoffimporte, auf den Seeweg – insbesondere auf die Straße von Malakka – angewiesen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass – falls es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA kommt – eine Seeblockade Chinas für seine Wirtschaft tödlich wäre. Deshalb sollen Land-, sowie kombinierte Land- und Seerouten (mit Häfen in Pakistan) die Versorgung des Landes mit Rohstoffen sowie den Export sicherstellen.

Die Neue Seidenstraße ist nicht nur das größte Globalisierungsprojekt der bisherigen Menschheitsgeschichte, sondern vor allem: Es kommt zum ersten Mal in der neueren Geschichte ohne militärische Begleitung aus.ix Doch so einfach ist die Sache nicht, denn schon jetzt gibt es an zwei neuralgischen Punkten – in Dschibuti am Horn von Afrika und in Tadschikistan in Zentralasien – chinesische Militärbasen. Auch der Ausbau bzw. Aufbau militärischer Anlagen im südchinesischen Meer (Spratly- und Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer) ist in diesen Kontext einzuordnen. China möchte sich aus der militärischen Umklammerung durch die USA befreien, denn diese unterhalten unzählige Militär- und Marinebasen im Westpazifik, aber auch im indischen Ozean und Zentralasien. Auch in anderen Häfen, wie in Sri Lanka (Hambantota) oder in Pakistan (Gwadar), gab und gibt es Spekulationen über den möglichen raschen Ausbau zur chinesischenMarinebasis, obwohl der in nächster Zukunft wohl nicht zu erwarten ist.

Zusätzlich wird China vom isw dafür gepriesen, dass es mit den riesigen Krediten für die am Projekt der Neuen Seidenstraße beteiligten Länder keine politischen Absichten verfolge, also nicht wie IWF oder Weltbank auf Umstrukturierungs- oder Reformmaßnahmen dränge. Das ist zwar durchaus richtig, aber China macht es auch nicht einfach aus einer altruistischen Perspektive heraus, sondern mit dem Motiv, bei einer möglichen Zahlungsunfähigkeit einfach Eigner oder Pächter der Infrastruktur zu werden. So bekam nach der Zahlungsunfähigkeit Sri Lankas China den Hafen von Hambantota für 99 Jahre verpachtet. Solche Kreditausfälle mit anschließender Übernahme von Infrastruktur werden sich in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich häufen, wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise voll durchschlagen werden.

Im Kontext der Neuen Seidenstraße ist auch die Politik der chinesischen Regierung gegenüber den UigurInnen zu verstehen. Strategisch verläuft durch die Provinz Xinjiang, in der nahezu alle UigurInnen in China leben, ein essentieller Zugang zum zentralasiatischen Raum. Ihre Unterwerfung und Auslöschung als Nation (worauf die Politik der chinesischen Regierung, insbesondere der „Umerziehung“ und Ansiedlung ethnischer Han-ChinesInnen abzielt) ist hierbei essentiell, um diese strategische Rolle der Region zu sichern. Dazu kommt noch, dass Xinjiang reich an Rohstoffen ist, insbesondere an Öl, Gas und diversen Metallen, und eine mögliche uigurische Unabhängigkeitsbewegung oder allgemeiner Widerstand gegen die Politik der Zentrale für diese nicht in Kauf genommen werden können. Auch hier ist das Agieren der chinesischen Regierung ein Musterbeispiel für imperialistische Politik.

Beispiel für erfolgreiche nachholende Entwicklung?

Das isw lobt auch den chinesischen Entwicklungsweg als nachahmenswert für zurückgebliebene Volkswirtschaften:

Für Schwellenländer hat der chinesische Weg aber durchaus einen gewissen Vorbildcharakter. Er zeigt, dass eine erfolgreiche nachholende Entwicklung möglich ist, bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und Überwindung der Armut. Notwendig sind dazu ein „proaktiver Entwicklungsstaat“ (UNDP) sowie staatliche Planung, zumindest staatliche Rahmen- und Schwerpunktplanung […].“xAn anderen Stelle bei Fred Schmidxi wird China nicht nur als Beweis für die erfolgreiche nachholende Entwicklung für Schwellenländer, sondern auch für Entwicklungsländer dargestellt. Es sei der Beweis dafür, dass man ohne westliche Hilfe, wie es die sogenannten Tigerstaaten gebraucht hätten, um eine erfolgreiche Entwicklung zu nehmen, auch den Aufstieg aus der Armut schaffen könne.

China ist in der Tat eines der seltenen Beispiele von Ländern, die es nicht nur geschafft haben, sich zu industrialisieren und das allgemeine Lebensniveau der Massen zu heben, sondern auch zu einer imperialistischen Großmacht aufzusteigen. Doch es muss klar sein, dass das nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme ist. China hat unter ganz spezifischen Umständen, die nicht ohne Weiteres kopiert werden können, eine erfolgreiche nachholende Entwicklung zustande gebracht.

Zuerst einmal kann man China nicht aus der Gegenwartsperspektive betrachten und dann die essentiellen Faktoren ableiten, die es von anderen Staaten unterscheiden. Es ist vielmehr notwendig, die lebendige Entwicklung zu untersuchen und die historischen Besonderheiten abzuleiten, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist. Der wohl wesentlichste Unterschied Chinas zu „herkömmlichen“ unterentwickelten Staaten ist, dass dort – als von Beginn an bürokratisch degenerierter oder deformierter ArbeiterInnenstaatxii – mehrere Jahrzehnte lang kein Kapitalismus existierte. Dazu kam, dass vor allem seit dem Bruch mit der Sowjetunion, der Ende der 1950er Jahre einsetzte, China auch noch einmal besonders auf eine eigenständige Entwicklung angewiesen war. Dadurch entwickelte sich eine stark abgeschlossene Wirtschaft, die frei von jeglichem ausländischen Kapital war.

Die Entwicklung Chinas hin zur Einführung des Kapitalismus haben wir in „Von Mao zum Markt“ von Peter Main (Revolutionärer Marxismus 39) ausführlich nachgezeichnet. Von den ehemals degenerierten ArbeiterInnenstaaten ist nur die DDR (als Teil Deutschlands) sowie Russland die Entwicklung zu einem imperialistischen Staat gelungen. In Ostdeutschland geschah dies durch den Anschluss an die imperialistische BRD, auch wenn diese Region ähnlich dem italienischen Süden nur die zweite Geige im Land spielt. Die größten Konzerne Deutschlands sind ausschließlich westdeutschen Ursprungs, in der herrschenden Klasse dominiert westdeutsches Kapital. Darüber hinaus sind auch das Lohnniveau und andere Indikatoren des Lebensstandards auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch signifikant niedriger. Für Russland hat es sehr spezifische Umstände gebraucht, um sich zu einer imperialistischen Macht zu entwickeln. In den 1990er Jahren nach dem Kollaps der sowjetischen Wirtschaft sah es lange Zeit danach aus, als ob es auch den Weg in den neokolonialen Status einschlagen würde. Doch auch Russland hat es unter sehr spezifischen Umständen – vor allem durch die alten Verbindungen der Sowjetunion, sein militärisches Gewicht sowie bis zu einem gewissen Grad auch durch seine Monopolstellung als Rohstoffexporteur gegenüber Europa – vermocht, eine prekäre Stellung als imperialistische Großmacht zu erringen. Bezüglich der Betrachtung Russlands sei auf „Die Auferstehung des russischen Imperialismus“ von Frederik Haber (Revolutionärer Marxismus 46) verwiesen.

Chinas besondere Umstände, nämlich, dass es aufgrund seiner Geschichte als von Beginn an degenerierter ArbeiterInnenstaat frei von der Durchdringung mit ausländischem Kapital war, lässt sich für den durchschnittlichen neokolonialen Staat nicht einfach wiederholen. Die Ausgangsbedingungen sind nämlich komplett andere. Ein wesentlicher Umstand für die spezielle Lage, in der sich China befand, war die chinesische Auslandsbourgeoisie, die aus spezifischen historischen Gründen nicht nur in Taiwan, sondern auch in Hongkong sowie überhaupt in einigen südostasiatischen Staaten eine besondere Stellung eingenommen hatte und bei der Öffnung des Landes für ausländisches Kapital kräftig im Land investierte.

Ein weiterer wichtiger Vorteil für China war, dass im Gegensatz zu fast allen anderen ehemaligen stalinistischen Staaten in Osteuropa während der Wiedereinführung des Kapitalismus durch das Regime der KPCh weiterhin sehr stabile Machtverhältnisse im Land herrschten. Dafür war die Niederschlagung der Oppositionsbewegung 1989 essentiell. Die Herrschaft der kommunistischen Partei übernahm dabei ähnliche Rollen wie der preußisch-deutsche, russische oder italienische Staat am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die Entwicklung des Kapitalismus wesentliches staatliches Projekt waren und aktiv gefördert wurden und nicht einfach organisch entstanden. Das durchschnittliche neokoloniale Land kann nicht einfach so die Dominanz des ausländischen Kapitals abschütteln, dafür wäre letztlich eine soziale Revolution notwendig. Eine unabhängige nationale Entwicklung des Kapitalismus ist nicht möglich. Beispiele wie Venezuela zeigen deutlich, zu welche Methoden der Konfrontation insbesondere der Imperialismus anwandte, um diesen Weg zu verbarrikadieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass China kein Modell für andere Staaten sein kann. Im imperialistischen Weltsystem ist es nicht einfach möglich, durch geschickte staatliche Politik die Fessel zu durchbrechen und die Entwicklung hin zu einem eigenständigen und unabhängigen Kapitalismus anzutreten. Für China mussten neben der generellen Größe des Landes und der Bevölkerung eine Reihe an spezifischen historischen Umständen zusammenkommen, um dies zu ermöglichen. Das lässt sich auch darin erkennen, wie schwer es Indien fällt, einen ähnlichen Weg zu beschreiten.

Partei und Bourgeoisie

Die lang andauernde Herrschaft der KPCh ist ein zentrales Merkmal für den chinesischen Kapitalismus, vergleichbar nur mit der der KP Vietnams. Doch die Frage, ist wie diese Herrschaft bewertet wird. Für die chinesischen FunktionärInnen ist sie klar positiv beantwortet:

Zusammenfassend kann man sagen, dass die sozialistische Marktwirtschaft über moderne wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten verfügt. Zuallererst ist die Führung der Partei ein wichtiges Merkmal des sozialistischen Marktwirtschaftssystems und ein wichtiger Garant für moderne Governance-Kompetenz wirtschaftspolitischer Steuerung. Das sozialistische Marktwirtschaftssystem steht unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und steht fest auf sozialistischem Boden. Wir müssen uns auf unser theoriegeleitetes Selbstbewusstsein, unsere aufrichtigen Institutionen und die Führung der Partei verlassen, um diesen großartigen Prozess zum sozialistischen Marktwirtschaftssystem zu vollenden.“ xiiiAber nicht nur in den von direkten VertreterInnen des chinesischen Systems, denen im isw Platz geboten wird, wird diese Ansicht geteilt. Auch bei Fred Schmidxiv gibt es viele lobende Worte für die Partei, insbesondere die Anti-Korruptionskampagnen und die Stärkung ihrer Zellen und Grundeinheiten unter Xi Jinping.

Dass die Kommunistische Partei spätestens seit Anfang der 1990er Jahre klar die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigt und ausbaut, sollte wohl auch den naivsten KommentatorInnen aufgefallen sein. Zwar wird die „Sozialistische Marktwirtschaft“ weiterhin als Anfangsphase des Sozialismus bezeichnetxv, doch wenn man einmal von der Rhetorik absieht und sich die Fakten vor Augen führt, kann man erkennen, dass sich die Bourgeoisie in China immer mehr als Klasse formiert. Seit 2001 dürfen auch PrivatunternehmerInnen Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Im isw Report Nr. 119 finden sich auch interessante Zahlen dazu – natürlich mit der Argumentation verbunden, wie gut es gelingen würde, die neuen Eliten „aufzunehmen und zu lenken“xvi. Von den verantwortlichen Personen der größten 100 chinesischen Privatunternehmen sind „19 % […] Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses, 15 % Abgeordnete der Provinz- und Kommunalkongresse, 27 % Mitglieder der Föderation von Industrie und Handel sowie der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. 39 % sind Leiter von Handelskammern, Jugend-, Handels-, und Unternehmensverbänden.“ Die langwierige Entwicklung von Chinas Bourgeoisie von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich ist in den letzten Jahren also ein gutes Stück vorangekommen.

Lange Zeit spekulierte der Westen darauf, dass sich mit der Öffnung Chinas hin zum Markt eine selbstständige Bourgeoisie herausbilden würde, die dann in weiterer Folge in einen Konflikt mit der KPCh-Bürokratie geriete, was dann in weiterer Folge die Herrschaft der Partei untergraben und eine „Öffnung“ beschleunigen würde. Ob das dabei durch friedlichen Druck passieren würde, der die KPCh zwingen würde, einen Weg der demokratischen Reformen und die Einführung eines Mehrparteiensystems zu beschreiten, oder sie andernfalls auch à la UdSSR/Ostblock gestürzt würde, war dabei zweitrangig.

Diese Erwartungen haben sich im letzten Jahrzehnt als Fehleinschätzung herausgestellt. Insbesondere seit der Ära Xi Jinpings, seiner Antikorruptionskampagnen und der Stärkung der Partei wurde der chinesischen Bourgeoisie gezeigt, dass der Weg innerhalb der Partei um einiges besser ist. Gut wird das in einem Artikel Hu Lemingsxvii umrissen: „Institutioneller Wandel ist nicht nur Prozess der rationalen Konstruktion, sondern auch ein Prozess der spontanen Veränderung. Es ist nicht nur ein von der Politik geförderter Top-down-Prozess, sondern auch ein von privaten Unternehmern geförderter Bottom-up-Prozess. Es ist ein Prozess der Interaktion zwischen Politikern und Unternehmern.“

Der chinesische Staat und seine herrschende Bürokratie schaffen es trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der jüngeren Vergangenheit als von Geburt an degenerierter ArbeiterInnenstaat besonders gut, die Rolle als ideelle/r GesamtkapitalistIn zu übernehmen. Ein wesentliches Merkmal des Abstiegs des US-amerikanischen Imperialismus dagegen ist, dass sich die unterschiedlichen Interessen der Fraktionen der herrschenden Klassen immer mehr aufsplittern. In den USA ist eine langfristige Strategie der Bourgeoisie immer weniger möglich. Die Widersprüche zwischen Demokratischer und Republikanischer Partei, zwischen Protektionismus und Freihandel, zwischen Silicon Valley, Wall Street und den verbliebenen Industrien und heute zwischen VertreterInnen von „Herdenimmunität“ und „Social Distancing“ machen die Verteidigung der Stellung als imperialistische Großmacht Nr. 1 schwer.

Das bedeutet aber nicht, dass in China die gesamte Bourgeoisie mit der Partei zu einer Einheit verschmolzen wäre. Einerseits ist die chinesische Auslandsbourgeoisie nicht wirklich in diese Strukturen eingebunden, andererseits ist es auch kein widerspruchsfreier Prozess. Es ist durchaus möglich, dass sich durch innere wie äußere Faktoren eine eigenständige von der KP-Bürokratie unabhängige Kraft der Bourgeoisie wird versuchen zu etablieren. Wenn es beispielsweise zu einer größeren landesweiten Bewegung gegen das Regime kommt, würde es vermutlich die Spaltungstendenzen innerhalb der Bürokratie selbst vergrößern und ein Teil der Bourgeoisie würde zweifelsfrei versuchen, sich außerhalb des Staats und der Kommunistischen Partei in einer eigenen Partei zu organisieren. Doch auch eine längere Dauer des obrigkeitsstaatlich gelenkten Kapitalismus wie in Preußen und im frühen Deutschen Reich, Russland, Japan oder in seiner parlamentarisch-demokratischen Variante in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg oder in Großbritannien unter Attlee ist als Möglichkeit nicht auszuschließen.

China ist ein Beispiel für das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Der chinesische Staat trägt starke Züge einer zuvor existierenden Gesellschaftsformation (der gleichen und kaum von der Chinas zu unterscheidenden wie in Vietnam) ähnlich wie einige andere Staaten mit schwächeren (Großbritannien) oder stärkeren (Saudi-Arabien) monarchistischen Elementen in der Exekutive. Die weitere Existenz der KPCh als herrschende Partei kann deshalb kein Argument für einen grundlegend anderen Klassencharakter Chinas sein.

Wie weiter für China und die ArbeiterInnenklasse?

Bei allen Lobeshymnen auf die Volksrepublik China muss sich das isw doch immer mal wieder eingestehen, dass es vielleicht doch dort auch noch irgendwie ein paar demokratische Defizite gibt. „Dennoch bleibt die Frage nach der demokratischen, insbesondere produktionsdemokratischen, Teilhabe (!) der Menschen in China.“xviii2010 wurden im isw Report Nr. 83/84 noch zwei Möglichkeiten aufgezeigt. Auf der eine Seite gäbe es die der „Herausbildung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht und ihre Formierung zur Arbeiterbewegung“xix, auf der anderen Seite für – eine vermutlich durch graduelle Reformen eingeführte – „vertikale Demokratie“. In ihr „werden die Visionen und Ziele des Landes in einem interaktiven Prozess von Spitze und Basis gleichermaßen geformt.“xxWas genau das konkret bedeuten soll, wird weder ausgeführt noch klar definiert.

Acht Jahre später in isw Report Nr. 115 ist dann von der Formierung einer Gegenmacht, geschweige denn politischer und ökonomischer Etablierung der ArbeiterInnenklasse als herrschendes und planendes Subjekt keine Rede mehr. „Ein echter demokratischer Ansatz“ ist jetzt nur mehr „die Weiterentwicklung der „vertikalen Demokratie““xxi. Ein unabhängiger Klassenstandpunkt ist jetzt offenbar weder realistisch noch gewünscht. Hier zeigt sich schließlich am klarsten die endgültige Kapitulation vor dem chinesischen Kapitalismus. Die Rolle von MarxistInnen geht beim isw offenbar kaum mehr ein bisschen über Beifall für eine „vertikale Demokratie“ hinaus.

Aus Chinas besonderer Geschichte ergibt sich für das isw offenbar, dass auf es keinerlei marxistische Kategorien oder Analysen mehr anwendbar seien. Es wird zwar zugestanden, dass es sich auch in dort um eine Kapitalismus handelt, aber dieser sei durch die Rolle der Partei im Staat, die sich noch immer kommunistisch nennt, und des Staates in der Wirtschaft so besonders, dass er eigentlich nicht mehr wirklich des Klassenkampfes, einer eigenständigen Organisation des Proletariats (nur mehr knapp über 7 % der Parteimitgliedschaft sind IndustriearbeiterInnenxxii) oder überhaupt einer proletarischen Revolution für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine ArbeiterInnendemokratie bedürfe. Dabei ist China doch mit der weltweit größten Bevölkerung und der größten ArbeiterInnenklasse eines der Schlüsselländer im imperialistischen Weltsystem!

Die aktuelle Situation in Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie sind für China genauso wie die ganze Welt von entscheidender Bedeutung. In China ist es durch die sehr starke Position des Staates gelungen, die Ausbreitung der Krankheit relativ rasch unter Kontrolle zu bringen und auch die Produktion wieder anzuwerfen, doch es steht vor dem Problem, dass es trotz aller Stärkung des Binnenmarktes immer noch sehr zentral auf den Exportsektor angewiesen ist. Wie in vielen anderen Staaten hat es in der Krise der aktuellen Regierung gegenüber, falls diese nicht vollkommen absurde Maßnahmen durchführte, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch die ökonomischen Widersprüche (insbesondere die Frage, wie lange die Industrieproduktion alleine auf staatlicher Stimulanz basieren kann), die sich aus dem weiteren Verlauf der Wirtschaftsentwicklung ergeben werden, werden unweigerlich ihren politischen Ausdruck finden. Ob sich dieser „nur“ in der Partei und dem Staat abspielen oder auch einen gesamtgesellschaftlichen Ausdruck finden wird, ist noch nicht abzusehen.

Aber zentral für das Verständnis Chinas ist, seine Stellung im imperialistischen Weltsystems zu verstehen. Die Charakterisierung als neue imperialistische Großmacht hat eben nicht nur akademischen Charakter, sondern ist wesentlich zum Verständnis und zur Einordnung eines der wichtigsten Länder für den globalen Klassenkampf. Der imperialistische Hauptkonflikt – zwischen China und den USA – wird sich in den nächsten Jahren nur zuspitzen und in der einen oder anderen Form gelöst werden. Dabei ist es von größter Bedeutung, eine antimilitaristische, antiimperialistische und internationalistische Position in die ArbeiterInnenklassen sowohl in China als auch im Westen zu tragen. Wenn dies nicht gelingt, können die kommenden Konflikte für die ArbeiterInnenklasse und die gesamte Menschheit nur in der Katastrophe enden. Der Hauptfeind steht – auch in der VR China – dabei im eigenen Land!

Endnoten

iInstitut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e. V. mit Sitz in München. Es wurde 1990 von linken SozialwissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen gegründet.

ii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report 119, S. 25

iii„Trumps ,America first’ – der Versuch, die USA zur unumschränkten globalen Supermacht zu machen“, Conrad Schuhler in isw Report 115, S. 11

iv„Warum muss die sozialistische Linke über die VR China diskutieren?“, Walter Baier in isw Report Nr. 119, S. 36

v„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 61

viebenda

vii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

viii„Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, Lenin in Werke Band 23, S. 113

ix„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26

x„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xi„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 60

xiiDie VR China war wie Kuba, Nordkorea, Nordvietnam, Jugoslawien und Osteuropa ein ArbeiterInnenstaat, der von Beginn seiner Existenz an bürokratisch entstellt war und wo die Arbeiterinnenklasse von der unmittelbaren Ausübung ihrer Diktatur ausgeschlossen blieb. Das unterscheidet ihren degenerierten Charakter vom frühen Sowjetrussland, in dem die stalinistische politische Konterrevolution ab 1924 die Oberhand gewann. Sie unterlag einem Prozess der Degeneration und startete ihre Existenz nicht mit diesem Zustand.

xiii„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 5

xiv„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xv„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 4

xvi„Das chinesische Modell aus der Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit“, Yang Hutao in isw Report Nr. 119, S. 15

xvii„Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung“ Hu Leming in isw Report Nr. 119, S. 10

xviii„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36

xix„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 62

xxebenda

xxi„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 37

xxii„Number of Chinese Communist Party (CCP) members in China in 2019, by employment“ in https://www.statista.com/statistics/249968/number-of-chinese-communist-party-ccp-members-in-china-by-employment/