Gegen den Entzug des Parteistatus – Solidarität mit der DKP!

REVOLUTION, Infomail 1157, 27. Juli 2021

Am 8.7.21 entschied der Bundeswahlausschuss, die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) nicht zur Bundestagswahl zuzulassen. Wir kritisieren diesen Angriff auf die DKP und die gesamte Linke aufs Schärfste!

Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass die Partei die Fristen zur Abgabe eines Rechenschaftsberichtes nicht eingehalten habe. Ein Rechenschaftsbericht enthält die gesamte Buchführung einer Partei, also auch inklusive aller kleinen Kreisorganisationen und Bezirksverbände. Für kleine Parteien, die keinen riesigen Apparat mit hauptberuflichen FunktionärInnen haben, ist die Erstellung dieses Berichtes, der noch dazu von einer/m WirtschaftsprüferIn testiert werden muss, ein großes Stück Arbeit, das lange dauert. Während die Nebeneinkünfte von bürgerlichen SpitzenpolitikerInnen kein Thema sind, wird einer linken Kleinstpartei versucht, daraus einen Strick zu drehen.

Angriffe auf linke Parteien haben in Deutschland eine lange und schmutzige Tradition, ob durch gesetzliche Verbote oder hinterhältige Tricks. Während sich faschistische Parteien wie die NPD oder der „Dritte Weg“ für die Wahl aufstellen dürfen, wird die DKP drangsaliert und soll in den finanziellen Ruin getrieben werden. Dabei müssen wir den Entzug des Parteistatus der DKP im Kontext vermehrter Angriffe von Staat und Repressionsorganen auf die linke Bewegung insgesamt betrachten. So wurde versucht, linken Vereinen wie attac oder dem VVN-BdA e. V. (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Jugendclubs, die linken Organisationen und Antifagruppen Räumlichkeiten bieten, soll die öffentliche Förderung entzogen werden. Die Finanzierung außerschulischer politischer Bildung soll an die den Faschismus relativierende Hufeisentheorie und ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung geknüpft werden. Linke Gruppen werden durch den Verfassungsschutz überwacht, selbstorganisierte Freiräume wie die Liebig34 oder Rigaer94 werden geräumt. Neue Polizei- und Versammlungsgesetze sollen zudem die Handlungsspielräume einschränken, sich dagegen zu wehren.

Wir sind solidarisch mit der DKP! Getroffen hat es sie, aber gemeint sind alle linken Organisationen, Vereine und Strukturen. Wir begrüßen die Entscheidung der DKP, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Entscheidung des Bundeswahlausschusses zu klagen. Gleichzeitig hegen wir kein Vertrauen in den bürgerlichen Staat und seine Institutionen und müssen den Kampf gegen Repressionen und die rechtsäugig blinde Justiz auch auf der Straße organisieren. Dafür fordern wir auch ihrem Anspruch nach linke Parteien wie SPD und Linkspartei sowie den Deutschen Gewerkschaftsbund zur Solidarität mit der DKP auf.




Die Dauerkrise der NPA

Martin Suchanek, Infomail 1153, 18. Juni 2021

In den letzten Jahren war es um die NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste; Neue Antikapitalistische Partei) still geworden. Zum Zeitpunkt ihre Gründung im Jahr 2009 galt sie bei europäischen Linken als Hoffnungsträgerin und Modell antikapitalistischer Einheit. Heute macht sie vor allem durch innere Krisen, Konflikte, angedrohte und wirkliche Abspaltungen von sich reden.

Schon im August 2020 veröffentlichte Le Monde einen Artikel, der von einer bevorstehenden Spaltung und Auflösung der NPA berichtete. Demzufolge strebe die traditionelle Führung um Besancenot und Poutou eine „einvernehmliche Scheidung“ auf einem Kongress an.

Dieser fand, sicher auch aufgrund der Pandemie, nie statt. Doch auch der Plan selbst scheint bis auf Weiteres in den Schubladen verschwunden zu sein. Dafür spitzte sich in den letzten Wochen der innere Konflikt mit einer der größten, wenn nicht der größten Minderheitsfraktionen, der CCR (Courant Communiste Révolutionnaire; Revolutionäre Kommunistische Strömung) zu, die auf internationaler Ebene mit der Fracción Trotskista (FT) verbunden ist.

Der angebliche Ausschluss der CCR

Am 10. Juni veröffentlichte die CCR ein Schreiben, in dem sie die Mehrheit der NPA beschuldigt, sie aus der Organisation ausgeschlossen zu haben: „Wenige Tage vor der nationalen Konferenz, die die Ausrichtung und den/die Kandidaten/Kandidatin der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) für die nächsten Präsident:innenschaftswahlen festlegen soll, sind wir gezwungen, unseren faktischen Ausschluss aus dieser Organisation anzunehmen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-fast-300-von-der-npa-ausgeschlossene-aktivistinnen-rufen-zum-aufbau-einer-neuen-revolutionaeren-organisation-auf/)

Es bliebe der CCR, so die Versammlung von fast 300 ihrer AnhängerInnen, keine andere Wahl, als den Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2022 außerhalb der NPA zu führen: „Deshalb beginnen wir heute, nachdem wir aus der NPA ausgeschlossen wurden, sofort mit dem Prozess der Gründung einer neuen Organisation, mit der Perspektive, eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innen aufzubauen, sowie mit der Suche nach den 500 notwendigen Unterschriften, damit Anasse als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2022 antreten kann.“ (Ebenda)

Die CCR stellt die Zuspitzung so dar, als hätten sich alle anderen Strömungen und Fraktionen gemeinsam gegen sie verschworen und würden sie gezielt aus der Organisation drängen. Der rechte Flügel um Poutou und Besancenot gebe dabei den Ton an und alle (!) anderen linkeren Fraktionen würde das stillschweigend akzeptieren.

Die Vehemenz, mit der die CCR die Anschuldigung erhebt, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass sie wegen ihrer Positionen und ihres unermüdlichen Kampfes gegen die rechte Führung der NPA ausgeschlossen worden sei. Doch schon eine nähere Betrachtung des Textes wirft die Frage auf, wann, wo und von wem sie ausgeschlossen worden wäre. Eine weitere Recherche, die Durchsicht der Protokolle und Berichte von NPA-Sitzungen ergeben freilich: diesen Beschluss gab es nicht. Es fand kein Ausschluss statt.

Im Gegenteil. Betrachten wir die Belege, die die CCR für ihren „de facto“ Ausschluss anführt, wird die Suppe immer dünner. Die Webseite der Gruppe verweist darauf, dass der faktische Ausschluss ein Resultat der Beschlüsse der NPA-Leitung vom 22. und 23. Mai gewesen wäre. Doch diese, nachzulesen in deren Vorkonferenzbulletin (https://nouveaupartianticapitaliste.org/sites/default/files/bicnmai2021.pdf), enthalten nichts von einem solchen Ausschluss. Die Leitung der NPA nahm vielmehr eine Resolution an, die Antragsfristen, Modalitäten der Delegiertenwahl usw. festlegt – und zwar mit 54 Pro-Stimmen bei 10 Enthaltungen und ohne eine einzige Gegenstimme. Die VertreterInnen der CCR enthielten sich bei einer Resolution der Stimme, die angeblich ihrem faktischen Ausschluss gleichkam! Diese Inkonsistenz hätte die CCR zumindest erklären müssen.

So bleibt nur der Fakt, dass es keinen Ausschluss gab. Die Frage bleibt aber: Warum behauptet sie diesen so hartnäckig?

Die Entwicklung der NPA

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir aber die Entwicklung der NPA in den letzten Jahren kurz Revue passieren lassen. In diesen gelang es der CCR, ihre Stellung deutlich zu stärken. Das lag vor allem am Austritt tausender Mitglieder sowie der Passivität der tradierten Mehrheit und auch der anderen linken Strömungen. Die CCR bildete zumeist den dynamischsten Flügel in der NPA, der aktiv in die sozialen Bewegungen und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse intervenierte und dort sichtbarer war als die anderen (was nicht notwendigerweise bedeutet, dass er mehr Verankerung in diesen Kämpfen aufwies oder eine größere Rolle als andere spielte).

Von den rund 9000 Mitgliedern zur Gründung der NPA 2009 sind heute nur noch 1000 bis 1500 verblieben. Der größere Einfluss der CCR geht also sowohl auf ihr Wachstum in absoluten Zahlen, vor allem aber auf den extremen Niedergang der NPA selbst zurück.

2020 spitzte sich die Lage weiter zu, insbesondere als die NPA-Führung bei den Regionalwahlen prinzipienlose Blöcke mit der linkspopulistischen La France Insoumise (Widerspenstiges Frankreich; FI) und anderen, weniger bedeutenden reformistischen oder kleinbürgerlichen Gruppierungen einging. Die, vom Standpunkt der NPA erfolgreichste Kandidatur stellte dabei „Bordeaux en lutte“ (Bordeaux im Kampf) dar. Diese von Poutou angeführte Liste erhielt über 12 % der Stimmen und war, weil sie stark von der NPA geprägt war, vergleichsweise links. Andere Listenverbindungen dominierte der Linkspopulismus offen, die NPA wurde zu deren regionalen Wasserträgerin.

Einige linke Fraktionen in der NPA (z. B. L’Etincelle; Der Funke) lehnten diese Verbindung von Beginn an ab. Die CCR stimmte dem Projekt ursprünglich zu, kritisierte es jedoch später vehement. Um diesen Schwenk zu rechtfertigen, stellte sie das ursprüngliche Konzept von „Bordeaux en lutte“ als grundsätzlich verschieden von den anderen Wahlbündnissen mit dem Linkspopulismus dar.

Zugleich wurde an diesen Fragen ein grundlegendes, bis heute ungelöstes Problem deutlich: Wie charakterisiert die NPA FI? Welche Taktik verwendet sie ihr gegenüber? Und noch grundlegender: Wie verhält sich die NPA zu nicht-revolutionären Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen?

Fast alle Strömungen in der NPA charakterisieren FI als reformistische, nicht als linkspopulistische Kraft. Der politische Bruch, den Mélenchon mit der Wende von der Parti de Gauche (Partei der Linken; PdG) zur FI vollzog, wird damit jedoch nicht ausreichend begriffen. Gegenüber dem Linkspopulismus wird im Grunde dieselbe Taktik verfolgt wie gegenüber reformistischen Parteien.

Das zweite Problem bestand darin, dass bei allen diesen Wahlblöcken die NPA auf ihr eigenes Programm zugunsten eines „Einheitsfrontprogramms“ verzichtete, das einmal „linker“, einmal direkt populistisch war.

Zweifellos stellt die Anpassung an den Linkspopulismus eine nach rechts dar. Damit sollte wahrscheinlich auch die Möglichkeit weiterer Bündniskandidaturen bis hin zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sondiert werden. Wie so oft bei opportunistischen Manövern rücken mittlerweile sogar viele der ehemaligen BefürworterInnen, also der langjährigen Mehrheit, von weiteren Bündnissen mit FI ab, da diese die NPA offenkundig in den meisten Listen über den Tisch gezogen hat.

Bei „Bordeaux en lutte“ und den anderen Kandidaturen wird darüber hinaus ein weiteres Problem deutlich, das die NPA von Beginn an prägt: ihr mangelndes Verständnis des Reformismus und der Taktiken ihm gegenüber.

Exkurs zu einem Gründungsproblem der NPA

Bei Gründung der NPA ging die damalige Parteiführung davon aus, dass der Reformismus in Frankreich und auch international abgewirtschaftet hätte und tot wäre. Die große Rezession und die historische Krise der Weltwirtschaft würden keinen Spielraum für reformistische Politik der graduellen Reformen mehr erlauben und damit auch keinen für die Entstehung neuer reformistischer Parteien oder die Wiederbelebung alter. Diese impressionistische und oberflächliche Sicht der Dinge schien im Jahr 2009 jedoch zumindest in Frankreich eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Die Parti Socialiste schien im freien Fall. Sie verlor 2009 bei den Europawahlen 12,4 % der Stimmen und erhielt desaströse 16,5 % (über die sie sich heute freuen würde). Die KP war als elektorale Kraft überaus geschwächt, auch wenn sie damals und heute noch immer Zehntausende Mitglieder hat und ein Vielfaches an gewerkschaftlicher Verankerung der gesamten radikalen Linken.

Vor allem aber hatte die NPA nicht mit einer linksreformistischen Neugründung und Konkurrenz, der PdG, von Melénchon gerechnet, die 2016 durch FI abgelöst wurde. Seither ist die NPA von einem stetigen Streit um die Haltung zum Linksreformismus (und auch zum Linkspopulismus) geprägt, in der zwei grundlegend falsche Positionen einander gegenüberstehen. Entweder wird eine Politik der Anpassung verfolgt bis hin zum Übertritt zahlreicher Mitglieder und ganzer Strömungen. Der Opportunismus nimmt verschiedene krasse Formen bis hin zur programmatischen Unterordnung an. Fast immer geht er mit einem Verzicht auf Kritik an zeitweiligen Verbündeten einher.

Der Anpassung wird in der NPA aber andererseits allzu oft eine sterile und letztlich sektiererische Haltung der scheinbar unversöhnlichen Abgrenzung, des faktischen Verzichts auf die Politik der Einheitsfront gegenüber reformistischer Basis und Führung gegenübergestellt und dies zur „Unabhängigkeit“ hochstilisiert.

In der gesamten Geschichte der NPA bildet die Frage des Verhältnisses zu reformistischen (oder linkspopulistischen) Parteien einen immer wieder kehrenden Punkt von inneren Auseinandersetzungen, politischer Konfusion und des Schwankens. Dies trifft letztlich auf alle Strömungen der NPA zu.

Bei den Regionalwahlen und in der Listenverbindung mit FI ging die Führung der NPA weit nach rechts. Die Kritik an diesen prinzipienlosen Verbindungen durch die CCR und andere linke Strömungen in der NPA trifft also zweifellos einen wichtigen und richtigen Punkt. Nicht minder richtig ist die Feststellung, dass gegen diese Anpassung ein politischer Kampf geführt werden muss. Damit die NPA diesen Geburtsfehler überwindet, reicht die Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Methode jedoch nicht aus. Die Organisation und ihre Mitglieder müssen vielmehr die Ursachen für diese Anpassung, aber auch das immer wiederkehrende Schwanken zwischen Opportunismus und Sektierertum in der Frage der Einheitsfront begreifen, um diese Fehler bewusst zu überwinden.

Das Manöver der CCR

Angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse in der Leitung der NPA und des Rechtsschwenks bei den Wahlblöcken mit den LinkspopulistInnen schien die Situation günstig für die linken Plattformen und Strömungen. Rein zahlenmäßig hätten sie die Führung der Organisation übernehmen können. Aber sie taten dies nicht – und konnten das auch nicht tun, weil sie selbst über kein gemeinsames Konzept zum weiteren Aufbau verfügten. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich in der Regel auf ein Nein zur langjährigen Führung.

Die CCR entschied sich in dieser Lage zu einem gewagten Manöver. Zuerst startete sie eine Kampagne zur „Einheit der revolutionären Kräfte“ in der NPA gegen alle jene, die einen Wahlblock mit der FI anstrebten. Nachdem sich dieser Block jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelte, versuchte die CCR Fakten gegenüber allen andere Strömungen, linken wie rechten, zu schaffen.

Ohne jede Diskussion in der NPA präsentierte sie einen Genossen aus den eigenen Reihen, den jungen Eisenbahner und lokalen Streikführer Anasse Kazib, öffentlich als Vorkandidaten der Partei zur Präsidentschaftswahl 2022. Mit diesem Manöver sollte den anderen Strömungen ein Kandidat ohne vorhergehende Diskussion aufgezwungen werden. Auch wenn die CCR diese Aktion als uneigennützigen Vorschlag und Angebot vor allem gegenüber den anderen linken Strömungen präsentierte, so durchschauten diese natürlich das durchsichtige und abenteuerliche Manöver.

Es scheiterte verdientermaßen. Keine Tendenz, keine Plattform innerhalb der NPA war bereit, diesen Schritt zu gehen und sich dem Druck zu beugen. Vielmehr wiesen alle den undemokratischen Affront zurück, der NPA ohne innere Diskussion, ohne Debatte unter den Mitgliedern und in deren Gremien einen Kandidaten aufzudrücken. Nachdem sich die anderen Strömungen der NPA, also die deutliche Mehrheit der Partei, nicht öffentlich unter Druck setzen ließen und das Manöver gescheitert war, war freilich auch jede Aussicht dahin, eine Mehrheit für Anasse als Präsidentschaftskandidaten zu gewinnen.

Nachdem die CCR ihren Kandidaten nicht durchsetzen konnte, nahm sie selbst offenkundig den Kurs auf einen Bruch mit der NPA. Sie trat die Flucht nach vorne an und erklärte ihrerseits alle, die ihre Manöver nicht mitmachen wollten, zu Kräften, die ihren Ausschluss vorbereiteten oder hinnehmen wollten. Teile der NPA haben in dieser Situation zwar auch mit einem Ausschluss der CCR gedroht oder darauf gedrängt. Fakt ist jedoch, dass kein Gremium der NPA den Ausschluss dieser Plattform oder auch nur eines einzigen ihrer Mitglieder beschlossen hat. Der angebliche Ausschluss fand nicht statt. Dennoch wird die CCR nicht müde, von einem „de facto“ Ausschluss zu sprechen oder von einer politischen Entwicklung, die einem solchen gleichkomme. Sie könne in der NPA nicht mehr arbeiten usw.

Ob eine weitere Arbeit in der NPA für sie Sinn macht oder nicht, muss natürlich die CCR, so wie jede andere Strömung und jedes Mitglied, für sich selbst entscheiden. Ein Ausschluss ist das jedoch nicht, und diese Fragen bewusst zu verwischen, bedeutet nur, politische Nebelkerzen zu werfen, die einzig der eigenen Legendenbildung dienen.

Die Rhetorik erfüllt die Funktion, den Bruch mit der NPA einem angeblichen undemokratischen und bürokratischen Manöver ihrer Führung (und aller anderen Strömungen) zuzuschieben. Wahrscheinlich hatte die CCR selbst auf einen richtigen Ausschluss spekuliert, um so ihrem Narrativ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nachdem dieser jedoch nicht stattfand, berichten CCR und ihre Schwesterorganisationen dennoch so, als ob einer stattgefunden hätte.

Diese Legendenbildung läuft auf eine bewusste Manipulation der Mitglieder der NPA, aber auch der eigenen Strömung und der internationalen Linken hinaus. Solche Manöver, die für kleinliche fraktionelle Interessen durchgezogen werden, tragen nicht nur zur längerfristigen Diskreditierung einer Strömung bei, sondern sind auch Wasser auf die Mühlen reformistischer, populistischer und anarchistischer GegnerInnen des Aufbaus einer revolutionären Organisation.

TrotzkistInnen haben ihre Spaltungen leider traurige Berühmtheit erlangt, und eine weitere wird zweifellos Ironie und Hohn von professionellen ZynikerInnen und BesserwisserInnen in aller Welt hervorrufen. Diese setzen dem die angeblich „große Breite“ der sozialdemokratischen Parteien oder des demokratischen Sozialismus entgegen. In diesen können miteinander unvereinbare Strömungen koexistieren, weil die eigentliche Politik der Partei von einer Elite parlamentarischer KarrieristInnen und BürokratInnen bestimmt wird.

Zu ihrer Zeit wurden auch die russische Sozialdemokratie und der Bolschewismus für ihre Spaltungen verspottet. Ernsthafte KämpferInnen werden daher nicht alle Spaltungen als schlecht und alle Fusionen als gut in einen Topf werfen. Jede Spaltung wirft jedoch für beide Seiten die Frage auf: Hat sie wichtige Fragen der Strategie und Taktik geklärt, die nach der Debatte dringend in der Klasse angewendet werden mussten und deshalb einen organisatorischen Bruch erforderten? Eine Spaltung, die keine solche Grundlage hat, ist prinzipienlos; erst recht, wenn es um eine Präsidentschaftswahl geht, bei der es höchst fraglich ist, ob eine der beiden Seiten überhaupt kandidieren kann.

Darüber hinaus haben beide Seiten, oder besser gesagt, alle Seiten, über zehn Jahre lang eine prinzipienlose Einheit aufrechterhalten, ohne entweder ernsthaft zu versuchen, die programmatischen Fragen zu lösen oder diszipliniert zusammenzuarbeiten. Hätten sie das getan, hätten sie eine kleine, aber effektive Kampfpartei aufbauen können, die an den entscheidenden Wendepunkten des Klassenkampfes eine echte Alternative zu den reformistischen Parteien und Gewerkschaften hätte bieten können. Selbst zu dieser späten Stunde könnten die zerstörerischen Auswirkungen des drohenden Zusammenbruchs der Partei rückgängig gemacht werden, wenn die Tendenzen in und um die NPA sich endlich der Frage zuwenden würden, ein Programm (nicht nur eine Wahlplattform) und einen konkreten Aktionsplan für den Kampf gegen Macron und Le Pen auf der Straße und in den Betrieben in den kommenden Jahren auszuarbeiten.

Der kommende Kongress und die Plattformen in der NPA

Die Abspaltung der CCR ist nach ihren eigenen Erklärungen ein Fakt. Die NPA verliert damit weitere 20–25 % ihrer AktivistInnen. Wahrscheinlich hat das gerade auch wegen des prinzipienlosen und manipulativen Schachzugs eine demoralisierende Auswirkung auf etliche Militante. Im Grunde bezweckt die CCR auch diesen Effekt, weil es dem Narrativ dienlich ist, dass sie den kleineren, aber dynamischeren Teil der Aktiven organisiere und die Demoralisierung weitere AktivistInnen anderer Strömung als Zeichen für die Richtigkeit des eigenen Manövers dargestellt wird.

Eine solche Darstellung mag zeitweilig der Festigung der eigenen Reihen dienen. Schließlich stellt der Gewinn von hunderten AnhängerInnen und dutzender betrieblicher KämpferInnen in den letzten Jahren für die CCR wie für jede Propagandaorganisation einen beachtlichen Erfolg dar. Betrachten wir jedoch das Kräfteverhältnis der Klassen in ihrer Gesamtheit, so bleibt er jedoch eine Marginalie, letztlich nebensächlich, verglichen mit dem Niedergang der „radikalen“ Linken im letzten Jahrzehnt und der tiefen Krise der NPA. Dass sich die CCR selbst in dieser Phase stärken konnte, ändert an der Gesamtdiagnose nichts. Es macht aber den leichtfertigen Optimismus ihre Erklärung fragwürdig, jetzt ohne den NPA-Ballast richtig durchstarten zu können.

Dies umso mehr, als nicht nur die Legendenbildung verlogen ist, sondern auch die politische Substanz der Spaltung fragwürdig. Die CCR behauptet, dass es in der NPA grundlegende, nicht weiter tragbare Differenzen über die politische Ausrichtung gab und gibt, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machen würden. Nun wird niemand grundlegende Differenzen in Abrede stellen wollen. Betrachten wir freilich das Diskussionsbulletin, das die Entwürfe aller Plattformen in der NPA zur Konferenz Ende Juni enthält, so ergeben diese ein anderes Bild. 5 von 6 Entwürfen sprechen sich für eine eigenständige Präsidentschaftskandidatur aus, nur eine kleine Plattform (Plattform 4) nicht.

Die CCR titelt ihren Vorschlag „Rompre avec la politique d’alliances avec la gauche institutionnelle, pour une candidature 100 % révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Mit der Politik von Allianzen mit der institutionellen Linken brechen! Für eine 100 %ig revolutionäre Kandidatur der NPA zu den Präsidialwahlen!). Die Plattform 5, die von den beiden großen linken Strömungen – L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution – gemeinsam vorgelegt wird, lautet: „Pour une candidature ouvrière, anticapitaliste et révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Für eine antikapitalistische und revolutionäre ArbeiterInnenkandidatur der NPA zu den Präsidentschaftswahlen!). Und der Vorschlag von Plattform 2, der größten Strömung um Poutou und Besancenot, trägt die Überschrift: „Face à la crise, il faut une candidature du NPA à la présidentielle: ouverte, anticapitaliste  et révolutionnaire!“ (Angesichts der Krise braucht es eine offene, antikapitalistische und revolutionäre Präsidentschaftskandidatur der NPA!).

Nicht nur die Namen, auch die Inhalte – ihre Stärken und Schwächen – sind verblüffend ähnlich. 5 von Plattform sprechen sich nicht nur für eine eigene, revolutionäre und antikapitalistische Kandidatur aus. Alle lehnen jede Anpassung an die bürgerliche Mitte (Macron) als kleineres Übel gegenüber Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen ab. Alle unterziehen auch die „institutionelle Linke“ – ein Sammelbegriff für FI, KP und Grüne – einer scharfen Kritik und betonen die Notwendigkeit eines eigenständigen Profils und einer eigenen Kandidatur und Plattform bei den Wahlen.

Sicherlich repräsentiert diese Einheit nur eine Momentaufnahme. Doch ändert das nichts daran, dass die Plattform 2 anscheinend einen Schwenk nach links vollzogen hat. Nachdem sie einen oder mehrere Schritte nach links ging, unterscheidet sich ihre Plattform nicht grundlegend vom Vorschlag der CCR oder von L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution. Letztere (Plattform 5) ist eigentlich der inhaltlich abgerundetste und klarer und präziser als jener der CCR.

Praktisch alle Plattformen inkludieren Losungen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse (Mindestlohn, Verbot von Entlassungen, Umwandlung prekärer Arbeitsverhältnisse in gesicherte), die Forderung nach Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle (insbes. im Gesundheitssektor und bei grundlegenden Industrien), gleiche StaatsbürgerInnenrechte für alle, die Legalisierung von Menschen ohne Papiere, eine Ablehnung imperialistischer Interventionen. Alle betonen die Notwendigkeit von Massenstreiks und einer Massenbewegung gegen die Krise sowie, dass nur eine ArbeiterInnenregierung einen Ausweg bieten kann.

Selbst die Schwächen teilen die Dokumente weitgehend. Zu vielen Punkten (Ökologie, Europa, EU, Internationalismus) sind sie sehr allgemein gehalten. So betonen alle durchaus richtig, dass der Kapitalismus die Umweltfrage nicht lösen kann. Es finden sich aber kaum unmittelbare oder Übergangsforderungen zur drohenden ökologischen Katastrophe in den Texten.

Während alle bezüglich der Notwendigkeit einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen Regierung, Kapital und die erstarkte Rechte und auch bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution und einer ArbeiterInnenregierung übereinstimmen, so findet sich eigentlich nur die Betonung der Selbstorganisation, der Kämpfe „von unten“ als Mittel zu diesem Ziel in den Papieren. Die Frage, wie eine solche Bewegung zustande kommen kann, wie angesichts der Dominanz von kleinbürgerlich-populistischen Kräften, z. B. bei den Gelbwesten, die ArbeiterInnenklasse eine Führungsrolle übernehmen kann, fehlt im Grunde. Bei allen Plattformen suchen wir eine Taktik und eine Politik gegenüber den bestehenden reformistischen Organisationen und vor allem gegenüber den Gewerkschaften vergeblich.

So verbleibt als Hauptdifferenz, dass die verschiedenen Plattformen verschiedene Kandidaten zur Präsidentschaftswahl vorschlagen: Poutou (Plattform 2), Besancenot (Plattformen 1 und 5) und Anasse (Plattform 6).

Auch wenn die Vorschläge zur den Präsidentschaftswahlen nur eine Momentaufnahme der Politik der einzelnen Strömungen darstellen, so sind die vorgeschlagenen Plattformen keineswegs so unterschiedlich, dass sie einen politischen Bruch in der Wahlfage rechtfertigen würden. Die meisten stellen – im Gegensatz zur Behauptung der CCR – eigentlich einen Schritt nach links dar.

Diese Momentaufnahme schließt logischerweise zukünftige opportunistische Schwankungen nicht aus. Aber diese verdeutlichen auch, dass wir es bei der NPA, einschließlich der größten Strömung um Besancenot und Poutou mit keiner reformistischen Kraft, sondern mit einer zentristischen zu tun haben, deren Politik von Schwankungen zwischen opportunistischen, revolutionären und sektiererischen Positionen gekennzeichnet ist.

In dieser Lage müssten RevolutionärInnen versuchen, diese zeitweilige Entwicklung weiterzutreiben und eine gemeinsame Kandidatur auf einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit einer systematischen Diskussion der Ursachen der Krise der NPA zu verbinden. Der Name der/s KandidatIn spielt dabei eine zweitrangige Rolle, solange er/sie einigermaßen das Vertrauen der gesamten Organisation genießt, was neben seiner Bekanntheit in der Öffentlichkeit für Besancenot sprechen würde.

In jedem Fall ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl nicht mit einer Lösung der Krise der NPA verwechselt wird. Schließlich ist es zur Zeit relativ einfach, eine revolutionäre, antikapitalistische Kandidatur zu proklamieren. Mélenchon hat viel an seiner Attraktivität eingebüßt, so dass seine Aussichten, die zweite Runde der Wahl zu erreichen, geringer ausfallen als 2017 und daher eine taktische Stimmabgabe und eine Unterordnung unter seinen Wahlkampf nicht sonderlich viel Sinn ergibt. Zum andern kann eine Kandidatur nicht nur eine radikale Plattform präsentieren, sie kann unter dem Nimbus der Einheit dazu führen, dass politische Probleme und Schwächen weiter aufgeschoben werden, die zum Niedergang der NPA geführt haben und weiter führen werden.

Die Lage in Frankreich und die Probleme der NPA

Dazu gehört unglücklicherweise auch die Einschätzung der politischen Lage und der Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in Frankreich selbst – ein Problem, das mehr oder minder ausgeprägt bei allen Plattformen auftaucht.

Frankreich machte in den letzten Jahren beachtliche Klassenkämpfe durch, die auch manche Angriffe bremsen konnten, und die Lohnabhängigen sind ungleich streik- und kampfbereiter als in Deutschland, Britannien und den meisten anderen imperialistischen Ländern in Europa. Nichtsdestotrotz profitierte vor allem die Rechte von den Krisen, die die Regierung Macron durchlebte. Die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung) und Marine Le Pen gelten heute als die größten HerausforderInnen Macrons. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es in die Stichwahlen bei der Präsidentschaftswahl schafft und dort könnte sie 40 % der Stimmen abräumen. Bei Regionalwahlen gehen rechtskonservative Parteien mittlerweile mit der RN einen Block ein. Drei Viertel aller FranzösInnen schließen nicht grundsätzlich aus, ihre Stimme für die RN abzugeben.

Zugleich setzen sich die Agonie der Sozialdemokratie und die öffentliche Marginalisierung der KP fort. Melénchon vollzog 2017 einen Rechtsschwenk vom Reformismus zum Linkspopulismus, hat aber seit 2017 deutlich an Anziehungskraft verloren.

Trotz sozialer Bewegungen und massiver Kämpfe konnte die „radikale“ Linke von dieser Lage nicht profitieren, sondern erlebte selbst einen dramatischen Niedergang, der vor allem einer der NPA ist. Von den ehemals 9000 Mitgliedern sind ca. 80 % verlorengegangen – entweder indem sie sich reformistischen oder populistischen Kräften zuwandten oder überhaupt aus der organisierten Politik ausschieden.

Dieses Kräfteverhältnis wird von der NPA jedoch nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Ein zentraler Grund dafür ist die falsche Einschätzung der Gilets Jaunes (Gelbwesten). Bei allen Plattformen treten diese als fortschrittliche Massenbewegung gegen die Regierung auf. Ihr kleinbürgerlicher Klassencharakter, ihre populistische Ausrichtung spielen in den Erwägungen keine Rolle. Daher werden auch unangenehmen Tatsachen ausgeblendet wie die überdurchschnittliche Unterstützung der RN von AnhängerInnen der Gelbwesten bei Wahlen. Umfragen zufolge stimmten 44 % der AnhängerInnen der Gelbwesten bei den Europawahlen für RN.

Statt dessen hoffen mehr oder weniger alle Flügel der NPA – die „linken“ zum Teil mehr als die „rechten“ – darauf, dass die Gelbwesten die Basis für eine radikale Bewegung gegen die Regierung und eine Erneuerung der ArbeiterInnenklasse abgeben. Diese impressionistische Methode erlaubt zwar eine „optimistische“, genauer eine beschönigende Einschätzung der politischen Lage. Sie macht aber blind dafür, dass mit den Gelbwesten das KleinbürgerInnentum als prägende Kraft in der politischen Konfrontation hervortrat und die ArbeiterInnenklasse in dieser Bewegung eine untergeordnete Kraft darstellte. Überhaupt fehlt den NPA-Strömungen ein Verständnis des Populismus und seines Unterschieds zum Reformismus, so dass der Rechtsschwenk von Mélenchon im Jahr 2017 überhaupt nicht in seiner Bedeutung zur Kenntnis genommen wird.

Die Stärkung des kleinbürgerlichen Populismus wurde glücklicherweise durch die großen Streiks und Kämpfe gegen die sog. Rentenreform Ende 2019/Anfang 2020 ein Stück weit gebrochen. Hier zeigte sich die Bedeutung und Rolle der ArbeiterInnenklasse. Aber der Streik konnte seine Ziele nicht erreichen und fragmentierte am Ende. Zugleich wurde in dieser Bewegung die zentrale Rolle der Gewerkschaften nicht nur bei Arbeitskämpfen, sondern auch bei politischen Klassenkämpfen mit der Regierung deutlich. Das trifft vor allem auf die CGT zu, die in dieser  Konfrontation faktisch wie eine politische Führung der Klasse agierte.

Während die Dokumente der NPA-Konferenz kein Wort der Kritik, der Problematisierung oder zur Einschätzung des Klassencharakters der Gilets Jaunes verlieren, tauchen die Gewerkschaften und ihre Führungen nur als BremserInnen und VerräterInnen auf. Zweifellos sind das auch viele BürokratInnen. Aber erstens spielen z. B. CGT und SUD/Solidaires in praktisch allen Konfrontationen eine linkere und kämpferischere Rolle als CFDT oder auch FO. Zweitens fehlen in allen Dokumenten Forderungen an die Gewerkschaften. Wie aber sollen in Frankreich politische Massenstreiks, große Klassenkämpfe auf betrieblicher Ebene zustande kommen ohne die Gewerkschaften? Auch wenn diese verglichen mit Deutschland oder Britannien relativ wenige Mitglieder haben, so sind sie viel stärker Vereinigungen aktiver gewerkschaftlicher ArbeiterInnen, also der aktiven KollegInnen in vielen Betrieben und Verwaltungen.

Gerade angesichts der aktuellen Defensive, laufender und drohender Angriffe und des Aufstiegs der Rechten kommt der Bildung einer ArbeiterInneneinheitsfront eine grundlegende Bedeutung zur Organisierung von Abwehrkämpfen zu, um von der Defensive in die Offensive zu kommen. Dies bedeutet aber auch, gerade gegenüber den Gewerkschaften (aber auch gegenüber reformistischen Parteien und selbst gegenüber den AnhängerInnen der FI) eine aktive Politik der Einheitsfront einzuschlagen. Es reicht nicht, diesen den Unwillen zur Mobilisierung vorzuwerfen. Die NPA müsste vielmehr versuchen, diese wo immer möglich in die Aktion, Einheitsfront zu zwingen.

Diese Methode, die natürlich auch auf den Kampf gegen Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung anwendbar ist, fehlt jedoch in den Dokumenten fast vollständig. Der Ruf nach Aktionskomitees, nach Mobilisierungen und Kontrolle der Kämpfe von unten stellt zwar einen wichtigen Aspekt jeder Einheitsfrontpolitik dar, aber er kann und darf eine systematische Politik gegenüber bestehenden Massenorganisationen nicht ersetzen.

Das Problem der Einheitsfront und des Verhältnisses von Aktionskomitees und Kampforganen der Klasse zu den politischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen taucht aktuell in der NPA nicht auf. Es handelt sich daher auch um keine revolutionäre Antwort auf vorhergehende Anpassung z. B. bei den Regionalwahlen, sondern nur das Ersetzen eines Fehlers durch sein nicht minder problematisches Gegenteil.

Ein falsches Verständnis der Einheitsfrontpolitik, von Reformismus und Populismus sind nur einige der Fehler, die die NPA seit ihrer Gründung begleiten. 2009 proklamierte sie noch richtigerweise, dass es ihre Aufgabe der NPA darin läge, ein Programm zu erarbeiten und zu konkretisieren. Dieser richtige Ansatz, der allein dazu in der Lage gewesen wäre, die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen zu überwinden, wurde jedoch nicht verfolgt. Vielmehr operierte die NPA als Organisation, in der an allen wichtigen Wendepunkten große und hitzige Differenzen auftauchten, die zu Mitgliederverlusten führten, ohne dass die Streitfragen geklärt wurden.

Hinzu kommt, dass ohne eine Überwindung ihrer programmatischen Differenzen die einzelne Strömungen von Beginn an wie getrennte Organisationen agierten, die Beschlüsse, die ihnen zuwiderliefen, einfach ignorierten. Die Handlungsfähigkeit der NPA wurde dadurch fortschreitend geringer.

Wenn die NPA ihre Krise überwinden will, wenn der aktuelle Kongress und die nächsten Monate nachträglich mehr sein sollen als ein weiteres Kapitel einer langgezogenen Agonie, dann muss sie diese Fragen angehen. Sie muss die Intervention in die Präsidentschaftswahl nutzen zur Kampagne für eine Massenbewegung gegen die Krise, zur Erarbeitung und Verbreitung eines Aktionsprogramms und zur systematischen Diskussion um die Überwindung der Differenzen zwischen den Strömungen. Nur auf diesem Weg kann aus der zentristischen Organisation eine revolutionäre werden.




Neues und Altbekanntes: Was bleibt vom revolutionären 1. Mai(-Bündnis) in Frankfurt/Main?

Richard Vries, Infomail 1152, 29. Mai 2021

Vieles verändert sich in den Jahren der Corona-Krise. Und doch bleibt es bei ganz Grundsätzlichem. Etwa, wenn der DGB in der Mainmetropole am 1. Mai ‘21 zur Demo mit abschließender Kundgebung aufruft und dabei seine FunktionärInnen in Einklang mit SPD-Oberbürgermeister Feldmann die Solidarität und Einheit der Gesellschaft fordern, obwohl die Bosse und KapitalistInnen von so was schon lang nichts mehr wissen wollen. Sie lassen uns die Krise zahlen. Immerhin ging der Frankfurter DGB überhaupt auf die Straße. 4.000 AktivistInnen und GewerkschafterInnen folgten dem Aufruf. Das zumindest ist ein Fortschritt zu ausgebliebenen 1. Mai-Gewerkschaftsaktionen des letzten Jahres.

Doch betrachten wir den diesjährigen Aufzug von der Hauptwache zum Opernplatz genauer. Den kleineren Teil an der Spitze der Demo stellten Mitgliedergewerkschaften des DGB wie z. B. die IG Metall, den absoluten Großteil der Demo aber Gruppen und AktivistInnen der radikalen Linken sowie migrantischer ArbeiterInnenorganisationen. Ohne ihr Erscheinen bliebe von der Demo nicht viel mehr als eine Versammlung von FunktionärInnen und Apparatschiks übrig. Die offiziellen Reden dieser hörten sich dann auch an, als seien es Regierungserklärungen. Im Namen deutscher Standortpolitik wird nimmer endend die nationale Einheit beschworen, wenn nicht direkt, so doch um so deutlicher zwischen den Zeilen. Und so passt der Frankfurter 1. Mai dann auch gut ins Gesamtbild des DGB in der Krise. Kein Aufruf zum Kampf gegen Arbeitsplatzstreichung, für bessere Bedingungen in Krankenhäusern, für deutlich höhere Löhne und schon gar keine Streiks oder gar Betriebsbesetzungen gegen das Abwälzen der Krisenkosten auf Lohnabhängige oder für einen Lockdown in der Produktion mit drei Wochen bezahltem Urlaub. Kapitulation total, dem Kapital stets loyal, mit verräterischen Grüßen, ihre DGB-Führung.

Der revolutionäre 1. Mai (und die Polizei)

Neu war am diesjährigen Ersten Mai am Main, dass ein Bündnis linker Gruppen für einen „Revolutionären 1. Mai Frankfurt“, zum „Tag der Arbeiter:innen. Tag unserer Klasse. Tag der Wut.“ aufrief – als bewusster Alternative zur beschriebenen DGB-Demo. Und so versammelten sich dann am Abend erneut an die 4.000 auf dem Opernplatz, begleitet von einem Polizeigroßaufgebot.

Die Stimmung war entsprechend eine ganz andere als am Vormittag, wie auch die Gesichter zu einem guten Teil andere waren. Kräfte der radikalen Linken, viel mehr Jugendliche und Menschen, die sich vom DGB nicht in der Krise unterstützt sehen, anstelle von Apparat und Bürokratie.

Drei Blöcke – der des Ersten-Mai-Bündnisses an der Spitze, gefolgt von den Blöcken von „Wer hat, der gibt“ (Enteignungsblock) und des F*streikbündnisses (FLINTA-Block) setzten sich in Bewegung, liefen am Hauptbahnhof vorbei ins Gallus, die Mainzer Landstraße stadtauswärts, die Frankenallee wieder stadteinwärts, begleitet von mehreren Drangsalierungen und Angriffen der Cops. Kurz vor dem Bahnhof Galluswarte war dann Schluss. Die Polizei griff die Demo massiv an und löste sie auf. Ergebnis: viele Festnahmen und schwerste Verletzungen wie Platzwunden und gebrochene Knochen, darunter Schädelbasisbrüche. Begleitet und legitimiert wurde die Polizeigewalt dann von Medien wie der FAZ oder der Bild, die die diffamierende Darstellung der Polizei übernahmen. Staat und bürgerliche Medien lieferten am neuen revolutionären Frankfurter Ersten Mai in diesem Sinne also Altbekanntes. Zu keinem Zeitpunkt ging ein Angriff auf die Polizei von der Demo aus. Erst als diese mit Schlagstöcken brutal reinging, versuchten TeilnehmerInnen der Demo, dies abzuwehren und zurückzuschlagen. Dass der Angriff just dann erfolgte, als Pyrotechnik eingesetzt wurde, ist freilich nur ein bequemer Vorwand für die Staatsmacht. Letztlich ging es darum, die Bilder zu liefern, die eine revolutionäre Alternative zur bestehenden Regierungs- (und DGB-Politik) delegitimieren und in der Öffentlichkeit von antikapitalistischen Inhalten ablenken.

Bilanz und Bündnis

Angesichts der Krise und des Stillhaltens des DGB war das Abhalten einer revolutionären Abenddemo in Frankfurt politisch richtig. Es ist der Grund, warum wir uns an der Bündnisarbeit beteiligten – trotz aller Schwächen des Bündnisses. Darauf und die aktuellen Entwicklungen werden wir weiter unten eingehen.

Aber zuvorderst ist zu bilanzieren, dass in Frankfurt, in einer Stadt mit vielen Verwerfungen in der radikalen Linken, eine Demo mit revolutionärem Anspruch 4.000 ArbeiterInnen, Jugendliche und gesellschaftlich besonders Unterdrückte wie FLINTA-Menschen oder von Rassismus Betroffene aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet mobilisieren konnte. Dies stellt einen großen Erfolg dar und ist Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach fortschrittlichen Antworten auf die Krise, die jenseits der Regierungspolitik oder dem Irrationalismus der CoronaleugnerInnen liegt. Völlig richtig war z. B. die skandierte Parole „Lockdown für die Produktion – Betriebe dicht bei vollem Lohn“. Ebenso war es richtig, dass sich die Demo nicht an der Gewaltfrage, schon gar nicht im Zusammenhang von Pyro, spalten ließ. Natürlich lief bei dieser nicht alles perfekt, auch hätte sie lauter und gleichzeitig ihre Spitze offener wirken können. Das Bündnis hat über vielerlei die Demo Betreffendes reflektiert und versuchte, Selbstkritik zu üben. Positiv ist auch, dass in der Nachbereitung von Verletzungen und Repression Betroffene nicht im Stich gelassen werden.

Wir wollen nun auf zwei Aspekte bezüglich des Bündnisses eingehen. Der erste Kritikpunkt betrifft den Aufruf. Dieser glich einem bunten Sammelsurium von Dingen, die derzeit mies laufen, wie z. B. dass die Autoindustrie Milliardengewinne gemacht hat und für Pflege das Geld fehlt. Das ist an sich natürlich richtig. Problematisch ist unserer Ansicht nach zweierlei, nämlich, dass diesen eine Oben-vs.-Unten-Rhetorik auszeichnete, die auch einen leicht populistischen Beigeschmack hatte, was durch eine fehlende konkrete Perspektive ergänzt wurde. Besser wäre es gewesen, sich auf einige wenige konkretere Forderungen zu einigen, wie z. B. die entschädigungslose Enteignung von Immobilienkonzernen, Verkehrsindustrien und Krankenhäusern oder auch die internationale Freigabe von Impfpatenten usw. Und ja, wir wissen, dass wir mit in dem Bündnis waren und somit auch unter dem Aufruf standen. Letzteres gefällt uns weniger, aber wir erachteten es als sinnvoll, die Debatte im Bündnis weiter zu begleiten und somit darin zu verbleiben – und natürlich auch Kritik zu üben, was die Selbstkritik inkludiert. Überhaupt liegt die Leistung des Bündnisses weniger in seinem Aufruf, sondern vielmehr darin, dass es eine geeinte Aktion organisierte und trotzdem die Diskussion und Debatte suchte (in der hiesigen Linken ist dies keine Selbstverständlichkeit) und austrug – jedenfalls im Vorfeld des Ersten Mai, aber auch auf dem Auswertungstreffen danach.

Von angeblichen Fahnenverboten, …

Eine jener, bisweilen hart geführten Debatten drehte sich um das Verbot von Partei- und Nationalfahnen auf der Demo. Die Überschrift dieses Artikels kündigte ja bereits von Altbekanntem – in diesem Fall Debatten in der deutschen Linken.

Die Position für das erlaubte Tragen von Parteifahnen, ein Element der Propagandafreiheit, konnten wir leider nicht durchsetzen. Problematisch bei jenem Verbot ist, dass es nicht nur als Partei organisierte Kräfte der radikaleren Linken ausschließt, sondern auch Mitglieder großer reformistischer Massenparteien wie Linke oder SPD. Natürlich betreiben Letztere kapitalistische Politik in Landes- oder Bundesregierungen, setzten soziale Angriffe durch. Aber wir werden ihre einfache Mitgliedschaft nicht von diesen Parteien gewinnen, wenn wir ihnen von vornherein verbieten, sich unserer Demo anzuschließen und ihre Fahne zu zeigen. Und klar, eine AfD-Fahne hätte keinen Platz in unseren Reihen, aber damit, dass offen bürgerliche Parteien bei der revolutionären Maidemo auftauchen, ging im Bündnis ja ohnedies keine/r aus.

Anders verhielt es sich in der Debatte zum Nationalfahnenverbot – genauer gesagt jener Kurdistans und Palästinas. Während die kurdische Flagge unstrittig erlaubt war, gab es eine verschärfte Diskussion zur palästinensischen Fahne, auch wenn dies von vorneherein keinen logischen Sinn ergibt. Beides sind vom Imperialismus und lokalen Staaten unterdrückte Nationalitäten. Somit sollte das Zeigen beider Fahnen als solidarisches Zeichen mit ihrem Kampf kein Thema sein. Doch weit gefehlt, denn keine deutsche Linke ohne jene antideutsche Infragestellung internationaler Solidarität mit Palästina. Hauptverantwortlich dafür war die Linke Liste. Es ist die Ironie der Geschichte, dass sich die Unterdrückung durch den israelischen Staat keine zwei Wochen nach dem Frankfurter Ersten Mai wieder allzu deutlich zeigte.

Letztlich setzten die internationalistischen Kräfte des Bündnisses den politisch leicht angefaulten – immerhin – Kompromiss durch, dass Nationalfahnen zwar nicht erwünscht, aber auch nicht verboten seien und der Frontblock nur aus roten Fahnen bestehen solle. Aber: Es gab definitiv kein Verbot von Palästina-Fahnen.

 … sektiererischen Angriffen …

Nun kommt eine Kraft ins Spiel, die nicht im Bündnis war, aber auf der Demo: FreePalestineFFM, seines Zeichens verbunden mit der Kommunistischen Organisation und Aitak Barani. Diese stellten uns in sozialen Medien die Frage, ob wir dahin gewirkt hätten, die Linke Liste aufgrund ihrer antideutschen Gesinnung aus dem Bündnis zu drängen als Auswirkung dessen, dass sie in der einige Jahre zurückliegenden Vergangenheit einen Palästina-Solistand an der Uni angegriffen hat. Damit konfrontiert brachte die Linke Liste im Bündnis vor, dass jene, die dies taten, nicht mehr in der Liste seien und sie selbst, die im Bündnis für die Linke Liste anwesend waren, dies nicht tun würden. Eine eindeutige Distanzierung sieht anders aus. Aber da es bei der Demo im Kern um den Ersten Mai und nicht um eine Palästinasolidarität ging, war dies für uns auch kein Grund, das Bündnis zu verlassen oder auf einen Rausschmiss der Linken Liste hin zu eskalieren.

Auf der Demo selbst war FreePalestineFFM dann auch anwesend, mit Palästinafahnen – finden wir gut. Die Ironie dabei ist, dass sie, anstatt es den internationalistischen Kräften im Bündnis zu danken, dass sie überhaupt so auftreten konnten, da andere und wir dafür sorgten, dass Palästinafahnen eben erlaubt waren, sie weiter Vorwürfe und Angriffe gegen eben jene Kräfte erhoben, schlicht weil wir im Bündnis die Debatte führten, die eine internationalistische Position vorantreibt. Eine Debatte, der FreePalestineFFM wie KO sektiererisch ausweichen, womit sie antideutschen Kräften von vorneherein das Feld in der Linken überlassen und somit dem palästinensischen Befreiungskampf in hiesigen Gefilden mehr schaden denn nutzen, ganz davon abgesehen, dass sie es sich mit internationalistischen Kräften verderben und selbige spalten.

 … und angeblichen Vetorechten

Ein Vorwurf, der weiterhin erhoben wurde, ist, dass Menschen mit Palästinafahnen auf der Demo angegriffen wurden. Als dies auf dem Auswertungstreffen auf den Tisch kam und neben uns andere InternationalistInnen wie Young Struggle einforderten, dies – so es denn geschah – in einem Statement als Verstoß gegen den Demokonsens zu brandmarken, blockierte die Linke Liste mit einem Veto und Verzögerungen wie z. B. der Forderung, zunächst eine letztlich umfassende Klärung des Imperialismusbegriff vorauszusetzen.

Das Veto selbst hat unserer Ansicht nach keine Gültigkeit, da sich das Bündnis unserer Ansicht nach nie für die Gestattung undemokratischer Vetorechte entschieden hatte, das Gegenteil wurde uns nicht belegt. Zudem schickte sich mit der Linken Liste eine Gruppe eher gesellschaftlich Privilegierter an, mit Vetos zu hantieren, was die Sache gewiss nicht richtiger macht. Es bleibt ein blockierendes und sabotierendes Unding, dieses Verhalten der Linken Liste, die sich nach dem Ersten Mai den Beschluss zu Palästinafahnen malt, wie es ihr gefällt, und beraubt das revolutionäre Erste-Mai-Bündnis so jeglicher Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit. Wir haben daher das Bündnis aufgefordert, die Linke Liste von weiterer Zusammenarbeit auszuschließen.

Fazit

Der erste Revolutionäre Erste Mai in Frankfurt am Main war ein Mobilisierungs- und als Alternative zum DGB-Stillhalten auch ein großer politischer Erfolg. Doch am Rande dessen begegnete uns allerlei Altbekanntes der deutschen Linken – von antideutschen Manövern hin zu sektiererischen Angriffen. Was wir mitnehmen ist, dass uns der Boden für eine weitere Diskussion mit den Kräften, die nicht unter diese Muster fallen, fruchtbar erscheint. Wir würden uns freuen, die begonnene Debatte mit Euch fortzuführen!




Zum wohnungspolitischen Programm der Interventionistischen Linken (IL): Das Rote Berlin als blinder Fleck

Michael Eff, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Angesichts der sich zuspitzenden Wohnungsmisere in Berlin hat die IL ein wohnungspolitisches Programm vorgelegt. Der Titel der Broschüre lautet: „Das Rote Berlin (Strategien für eine sozialistische Stadt)“. Ein solches Programm vorgelegt zu haben, das erkennen wir an, ist an sich bereits verdienstvoll. Die Broschüre ist durchaus gut aufgebaut. Es werden, in sprachlich ansprechender Form, weite Themenfelder der Wohnungsfrage abgedeckt, und dabei werden zutreffende Beschreibungen der Berliner Wohnungssituation vorgenommen. Es gibt informative Zusatzinformationen, z. B. über die Geschichte des Berliner Baufilzes, und die wohnungspolitischen Forderungen können wir zu einem großen Teil durchaus unterschreiben.

Auch orientiert man sich an basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen (hier der MieterInnen), allerdings, und hier kommt unser erster Einwand, durchgehend nur in einem vorgegebenen gesetzlich-institutionellen Rahmen. Rätestrukturen sehen anders aus und kommen auch anders zustande. Und auch bei der, zunächst durchaus positiv zu sehenden, Ausrichtung auf außerparlamentarische Kämpfe der Betroffenen kommt die Parlamentsfixierung, wie wir später sehen werden, durch die Hintertür wieder herein.

Trotzdem bleibt positiv festzuhalten, dass die IL sich nicht damit begnügt, begründete Forderungen zur Lösung der Wohnungsmisere zu formulieren, sondern das Ganze eingebettet ist in eine strategische Orientierung, nämlich in „Strategien für eine sozialistische Stadt“. Aber spätestens hier, bei der strategischen Orientierung, beginnen auch die Probleme.

Staatstreue

Während die IL in einem Selbstverständnispapier betont, dass ihre Politik „grundsätzlich antagonistisch zum Staat“ stehe, ist die Strategie in der Wohnungsbroschüre der IL durchweg anders ausgerichtet. Der Weg zum Sozialismus führt hier über die Reformierung und Demokratisierung der vorhandenen staatlichen Einrichtungen. (S. 8) Und das alles natürlich durch Gesetze. So fordert man z. B. den Umbau der BImA (Bundesanstalt für Immobilienaufgaben) zu einer „Vergesellschaftungsagentur“. Oder auch, dass börsennotierte Unternehmen in öffentliches Eigentum „überführt“ werden sollen, und ihre Neubildung soll „durch gesetzliche Regelungen unterbunden werden.“ (S. 20)

Das Ganze atmet den Geist gesetzlich-bürokratischer (die IL würde sagen „demokratischer“) Neuregelungen innerhalb des bestehenden Staates.

Selbst wenn die IL von „Mieter*innen-Räte“ spricht, meint sie damit nicht Organe demokratischer Selbstermächtigung in notwendiger Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat und kapitalistischem Eigentum, sondern Formen von Selbstverwaltung innerhalb vorgegebener Institutionen.

So ist es denn auch kein Wunder, dass die IL zufrieden feststellt: „Die meisten dieser Ziele (des rot-rot-grünen Berliner Koalitionsvertrages, d. V.) stimmen ohnehin eins zu eins mit langjährigen Forderungen der stadtpolitischen Bewegung überein.“ (S. 39) Allerdings fehlt ihr im Koalitionsvertrag „die Vision für ein anderes Berlin“ (??) (S. 10). Alles klar?

Die IL fasst ihre Kampfausrichtung für den Sozialismus folgendermaßen zusammen: „…der Charakter des Ganzen (Kampfes, d. V.) muss außerparlamentarisch sein. Dennoch muss mit Parteien diskutiert werden. Parteien sind Teil des Staates, und wenn wir Teilziele umsetzen wollen, müssen sich Parteien und Abgeordnete dafür einsetzen.“ (S. 39)

Hier also, gewissermaßen durch die Hintertür, kommt die Parlamentsfixierung wieder herein, denn der Gesetzgeber ist bei uns das Parlament. Nicht dass es per se illegitim wäre, das Parlament von außen unter Druck zu setzen, um Forderungen durchzusetzen, aber als strategische Orientierung so den Sozialismus erkämpfen zu wollen („Strategien für eine sozialistische Stadt“!!), ist doch reichlich illusorisch.

Auch kommt es einem in diesem Zusammenhang schon merkwürdig vor, dass in einer Broschüre von 43 Seiten die Wohnungsprivatisierungspolitik des rot-roten Senats 2002 bis 2011 in ganzen dreieinhalb Zeilen abgehandelt wird.

Die IL entpuppt sich somit immer mehr, zumindest in wohnungspolitischer Hinsicht, als außerparlamentarischer Arm der Linkspartei.

„Das Rote Wien“ als Leit(d)bild

Vieles an der Wohnungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren in Wien war, gemessen am übrigen kapitalistischen Europa, sicherlich beeindruckend, aber Wien war keineswegs eine „sozialistische Stadt“, sondern der reformistische Versuch, eingegrenzt auf das Feld der öffentlichen Versorgung (insbes. Wohnen), den Kapitalismus lediglich einzudämmen. Wien war eben keine „sozialistische Insel“ in einem kapitalistischen Land, sondern (bei aller Sympathie für die Wohnungspolitik) eine kapitalistische Hauptstadt eines kapitalistischen Landes!

Und eines zeigt sich an diesem Beispiel ganz klar: Ein wie auch immer geartetes „antikapitalistisches Wohnungsprogramm“ kann nur funktionieren, wenn es eingebettet ist in ein Gesamtprogramm der sozialistischen Revolution bzw. eine Strategie der Machtergreifung und Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht. Solange die Staatsmacht nicht zerschlagen ist, ist keine einzige Errungenschaft gesichert.

Bei der IL dagegen heißt es: Vergesellschaftung „ gelingt nur durch eine Ausweitung von Ansätzen kollektiver Selbstverwaltung und durch die radikale Demokratisierung der bestehenden (!!!, d. V.) staatlichen Institutionen.“ (S. 8).

Es war aber genau diese reformistische Sichtweise der Sozialdemokratie auf die Gesellschaft, die die Zerschlagung des „Roten Wiens“ ermöglicht hat und die Machtergreifung des „Austrofaschismus“ 1934 nach sich zog.

Diese Schlussfolgerung zieht die IL aber nicht, ihre Kritik bleibt halbherzig und verkürzt.

Bei der IL sieht die Bilanz dieser „reformistisch-antikapitalistischen Kommunalpolitik“ Wiens wie folgt aus: „Das ,Rote Wien‘ war damals und ist heute ein beeindruckendes Symbol, dass auch unter politisch und wirtschaftlich schwierigen Bedingungen die Lösung der Wohnungsfrage möglich ist. Die SDAPÖ kam allerdings über ein konsequentes Umverteilungs- und Wohlfahrtsprogramm nicht hinaus. Die Auswirkungen des zugrunde liegenden Interessensgegensatz der Klassen (!, welche?, d. V.) und der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt wurden abgemildert und durch nicht-kapitalistische soziale Infrastruktur ergänzt. Die abwartende Haltung der Sozialdemokratie wurde ihr dabei zum Verhängnis. Dennoch ist bis heute ihr Vermächtnis eine Inspirationsquelle mit internationaler Ausstrahlung.“ (S. 12)

Dass die „abwartende Haltung“ (inwiefern?, womit?) integraler Bestandteil jeder „reformistisch-antikapitalistischen“ Strategie ist, kommt der IL nicht in den Sinn.

Nebenbei, auch die Wohnungspolitik der Sozialdemokratie im Berlin der zwanziger Jahre wird als „Vorgriff auf eine sozialistische Gesellschaft“ (S. 28) gesehen. Aber leider, leider, beklagt die IL: „Vieles ging nicht weit genug, die Aufbrüche wurden 1933/34 (in Berlin und Wien, d. V.) abgebrochen (!!, d. V.).“ (S. 10)

Das Ende der „reformistisch-antikapitalistischen Kommunalpolitik“ in den Katastrophen von 1933 und 1934 theoretisch derartig zu verharmlosen und zu verkürzen, ist kaum zu fassen, ist aber angesichts der eigenen strategischen Ausrichtung nur folgerichtig.

Auf reformistischem Schleichweg zum Sozialismus

Es handelt sich beim IL-Wohnungsprogramm um eine Reformstrategie mit der „Perspektive der Vergesellschaftung. Wohnraum darf keine Ware am Markt sein, sondern Gemeingut in demokratischer Verwaltung.“ (S. 6) Die IL macht aus ihrer gradualistisch-kleinschrittigen (Reform-) Strategie auch gar kein Hehl. Zur Verdeutlichung seien ein paar Aussagen zitiert,

da heißt es z. B.:

„Abschaffung des privaten Wohnungsmarktes… durch eine Reihe von Reformen…Schritt für Schritt“ (S. 7);

„ Ausweitung von Ansätzen kollektiver Selbstverwaltung“ (S. 8);

„…weiter treibende Reformen, die schrittweise den Handlungsspielraum des Immobilienkapitals einschränken, die Spielräume für öffentliches und kollektives Eigentum erweitern“ (S. 12);

 „Daher muss erst mal kräftig Sand ins Getriebe der privaten Immobilienspekulation, bevor (!,d. V.) wir über Rekommunalisierung reden können.“ (S. 19);

„…schrittweise Zurückdrängung von privatem Wohnungseigentum“ (S. 33).

Es wird natürlich auch positiv Bezug auf das Grundgesetz genommen, das ja Enteignung zulässt, die vorgeschriebene Entschädigung wird dabei prinzipiell akzeptiert (S. 34).

Dazwischen, völlig unvermittelt und nicht weiter erklärt, heißt es an einer Stelle: „Die sozialistische Stadt wird nicht konfliktfrei und als reine Reform durchgeführt werden können.“ (S. 34) Aber dann geht’s gleich munter weiter mit den Reformen:

„Demokratisierung“ als „langer Prozess“ und „Nach und nach muss der Aufbau von lokal verankerten Strukturen, die Punkte des Widerstands schaffen…“ (S. 36) Usw. usf., die Liste ist beileibe nicht vollständig.

Zusammengefasst kann man sagen: Die IL hat die Vorstellung/Strategie von einer allmählichen Ausweitung nichtkapitalistischer Freiräume, die sich zunehmend vernetzen, die bestehenden staatlichen Strukturen demokratisieren, alles natürlich „kämpferisch“ und „von unten“, was dann irgendwie (hier gibt es nicht zufällig eine absolute Leerstelle) die „sozialistische Stadt“ (was immer das auch sei) ergeben soll.

Aber: So verläuft Klassenkampf nicht, und so ist er auch noch nie verlaufen. Teilerfolge sind zwar durchaus möglich, sind aber keine sicheren „Stützpunkte“, von denen ausgehend dann „Schritt für Schritt“ eine weitere Ausdehnung erfolgen könnte.

Solange die kapitalistische Staatsmacht besteht, sind Teilerfolge immer gefährdet. Das Hin und Her im Klassenkampf verläuft nie geradlinig – und schon gar nicht immer in eine Richtung. Hier gibt es tiefe Brüche, Erfolge und Rückschläge. Dass man der herrschenden Klasse die Macht stückweise bzw. allmählich entreißen könnte, ist naiv und eine klassische Vorstellung jeder reformistischen Strategie.

Klassenkampf?

Wer kämpft eigentlich? Die Betroffenen natürlich, – die MieterInnen! Richtig, aber niemand ist nur MieterIn, schon gar nicht in der kapitalistischen Gesellschaft. Bei der IL ist etwas dubios die Rede von „Schmieden von breiten Bündnissen“, „breiter Bewegung mit verschiedenen Formen des Widerstands“, „Hineinwirken in die Gesellschaft“, von „Kultur des zivilen Ungehorsams“ etc.

Klassenkampf und ArbeiterInnenklasse gibt es nicht. Gewerkschaften auch nicht. Nun verlangen wir von der IL nicht, dass sie unseren Klassenbegriff teilt, aber etwas genauere Ausführungen darüber, wer aufgrund welcher Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft BündnispartnerIn sein kann und wer nicht, und – wenn ja – wie und wohin „Kampfzonen“ über den Wohnungsbereich hinaus ausgeweitet werden können oder auch nicht, das kann man von einer Broschüre, die eine strategische Orientierung bieten will, erwarten.

Hier passt auch ins Bild, dass offensichtlich niemand verschreckt werden soll. Während es an anderer Stelle in einem Selbstverständnispapier bei der IL erfreulich klar heißt, dass die IL „das staatliche Gewaltmonopol bestreitet“, wird in der Broschüre kirchentagskompatibel versichert: „Jede Gewalt gegen Personen verbietet sich daher,…“ (S. 43) Wie man dieses Prinzip, z. B. bei dem Versuch, eine Zwangsräumung zu verhindern, durchhalten will, ist uns schleierhaft.

Auch ist es vermutlich in diesem Zusammenhang kein Zufall, was in der Broschüre fehlt. Z. B. die Forderung nach Beschlagnahme von untergenutztem Wohnraum. Als die Flüchtlingszahlen hoch gingen und die Flüchtlinge in unwürdige Massenquartiere gepfercht wurden, hätte es sich doch angeboten, durch Berlins Villenviertel zu ziehen mit der Forderung „Hier ist Wohnraum genug – Beschlagnahme!“ Man hätte auf diese Weise dem rassistischen Diskurs „Innen gegen Außen“ den revolutionären Diskurs „Oben gegen Unten“ entgegengesetzt. Aber damit lässt sich gegenwärtig natürlich kein „breites Bündnis“ aufbauen.

Nun ist die Wohnungsfrage besonders dafür geeignet, die Klassenfrage auszuklammern, denn ArbeiterInnenklasse und Kleinbürgertum sind beide von der Wohnungsmisere betroffen. Es ist daher kein Zufall und typisch für kleinbürgerliche Bewegungen, in einem Bereich außerhalb der unmittelbaren kapitalistischen Produktionssphäre (Schaffung von Mehrwert) die „soziale Frage“ („Strategien für eine sozialistische Stadt“!!); lösen zu wollen. Darauf hat schon Engels in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ hingewiesen.

Die IL bleibt aber auch hier nebulös. Unter „nicht-kapitalistischer Organisation von Wohnen“ kann man sich ja vielleicht noch einiges vorstellen, aber was „nicht-kapitalistische“ Organisation „von Stadt“ sein soll, (S. 8) müsste man schon erklären. Die Arbeitswelt gehört aber offensichtlich nicht dazu.

Überhaupt wird die Wohnungswirtschaft gewissermaßen rein sektoral betrachtet, als ein von der übrigen Gesellschaft streng abgrenzbarer Bereich und auch als eigenständiges Kampffeld. Das hat in gewissen Grenzen auch seine Berechtigung, aber es muss zumindest angedeutet werden, wo diese Grenzen überschritten werden (müssen).

Und es fehlen hier kurze Erklärungen zur polit-ökonomischen Herleitung und Verortung des Wohnungskapitals, z. B. die Punkte: Was ist Miete überhaupt?, Grundrente, Verschmelzung der Wohnungswirtschaft mit Finanz- und Industriekapital, Verhältnis zur Mehrwertproduktion, Aufteilung des Profits, Bedeutung der Miete für die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft, und damit gesamtkapitalistische Interessen an der Wohnungsfrage und dabei die Rolle des Staates etc.

Fazit: Das alles muss man nicht immer, wenn man sich zur Wohnungsfrage äußert, oberlehrerhaft ausbreiten und man kann sich hier auch kurz halten. Aber in einer Broschüre, die den Anspruch stellt, eine strategische Orientierung zu geben, gehören Ausführungen darüber schon dazu.

Ja! Ein revolutionäres Programm!

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch RevolutionärInnen haben nichts gegen reformistische Forderungen, aber sie müssen eingebettet sein in ein wohnungspolitisches Programm, das folgende drei Prinzipien berücksichtigt:

1. Ökonomisch-gesellschaftlich muss der Wohnungssektor in den Forderungen ansatzweise überschritten werden (z. B. entschädigungslose Enteignung von Banken, Finanzierungsgesellschaften, der Bauindustrie usw.). Es gibt nämlich kein isoliertes Wohnungskapital, das Kapital insgesamt ist der Feind.

2. Klassenorientierung (z. B. durch Einbeziehung der Gewerkschaften, denn schließlich beeinflussen die Mieten die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft und damit Lohnkämpfe).

3. Organisierung der MieterInnen in räteähnlichen Strukturen und nicht in bürokratisch-gesetzlich vorgegebenen Gremien (was einzelne Verbesserungen in gesetzlichen gegebenen Gremien nicht prinzipiell ausschließt, aber das sollte man nicht als Schritt zum Sozialismus verkaufen). Der bürgerliche Staat ist nicht die freundliche Spielwiese, sondern der Feind.

Fazit

Wenn die IL vertritt, dass der herrschenden Klasse die Macht stückweise, „Schritt für Schritt“ zu nehmen sei, so trägt sie dazu bei, reformistische Illusionen zu wecken und zu verbreiten.

Aber immerhin, dass die IL in ihrer Einleitung zu ihrem Selbstverständnis schreibt: „Wir sagen, was wir tun – und wir tun, was wir sagen.“ (S. 6) ist berechtigt. Ihr Reformismus in der Wohnungsfrage wird offen und ehrlich dargelegt.




Der Erste Mai 2021: Die klassenkämpferische und revolutionäre Linke muss ihre Chance ergreifen!

Martin Suchanek, Infomail 1148, 4. Mai 2021

Der Erste Mai 2021 könnte der Auftakt zu einem Game Changer für die radikale, klassenpolitische, migrantische und internationalistische Linke in Deutschland werden. In vielen Städten schlossen sich Tausende klassenkämpferischen und revolutionären Demonstrationen und Blöcken bei den Gewerkschaftsdemos an. Noch weit mehr beteiligten sich an Kundgebungen, Fahrradkorsos und anderen vielfältigen Aktionen gegen Mietwucher und Umweltzerstörung. Den bundesweiten Höhepunkt des Tages bildete zweifellos die Berliner revolutionäre Erster-Mai-Demonstration mit 25.000 TeilnehmerInnen.

Trotz Einschüchterungen und medialer Hetze, trotz Provokationen und brutaler Angriffe, trotz einer geplanten und gezielten gewaltsamen Auflösung der Demonstration durch die Polizei stellt sie einen politischen Erfolg nicht nur des Bündnisses, sondern für die gesamte radikale, klassenkämpferische und internationalistische Linke dar.

1. Breite Mobilisierung

Erstens mobilisierte die Demonstration gut 25.000 Menschen, die dem Ruf nach Einheit im Kampf gefolgt sind. Die Rednerinnen und Redner sowie Sprechchöre brachten immer wieder eines zum Ausdruck: Ob im Krankenhaus oder in der Autofabrik, ob in der Geflüchtetenunterkunft oder im Jobcenter, ob in der Schule oder im Haushalt, überall stehen wir Lohnabhängige, unabhängig von Nationalität, Alter, Geschlecht und sexueller Orientierung vor denselben Problemen. Wir sollen für die Kosten von Krise und Pandemie zahlen!

Die Aufhebung des Mietendeckels durch das Bundesverfassungsgericht mobilisierte viele weitere Menschen. Angesichts dieses Skandalurteils drohen 1,5 Millionen Berlinerinnen und Berlinern Mieterhöhungen, Nachzahlungen oder Räumungen.

Auf den Straßen Berlins und auch in vielen anderen Städten formierte sich praktisch die Einheit von migrantischen ArbeiterInnen, von prekär Beschäftigten aus den Lieferdiensten, von KrankenpflegerInnen und MieterInnen, von SchülerInnen und Studierenden.

Der Revolutionäre Erste Mai in Berlin stellt dabei natürlich kein singuläres Ereignis dar. Schon in den letzten Monaten häuften sich Massendemonstration nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten. Auch revolutionäre Erster-Mai-Mobilisierungen wie in Frankfurt/Main zogen Tausende Menschen an. Die Berliner Demonstration bündelte sichtbarer, größer und deutlicher eine Wut und eine Veränderung der Stimmung und teilweise auch des Bewusstseins unter breiteren Schichten der ArbeiterInnenklasse und der sozial Unterdrückten.

2. Antikapitalismus und Internationalismus

Die Demonstration zog diese Vielfalt, die im Grunde die Vielschichtigkeit der ArbeiterInnenklasse selbst widerspiegelt, an, weil sie inhaltlich radikal war. Revolutionäre Parolen, Kritik am Kapitalismus, die Forderungen nach Enteignung von Immobilienhaien wie Deutsche Wohnen, der KrisengewinnerInnen in der Exportindustrie, der Pharmakonzerne und privater Krankenhäuser stellten kein Hindernis für die Mobilisierung dar, sondern stärkten diese. Die Forderungen der am stärksten ausgebeuteten migrantischen ArbeiterInnen, von geschlechtlich und sexuell Unterdrückten, der marginalisierten Teile der Lohnabhängigen und der Jugend stellen ganz um Gegensatz zur populistischen und chauvinistischen Vorstellungswelt einer Sahra Wagenknecht keine „Marotten“ oder Hindernisse für die Einheit der Klasse dar, sondern bilden vielmehr einen integralen und unverzichtbaren Bestandteil des Befreiungskampfes der ArbeiterInnenklasse selbst.

Das Verbindende bildet eben die Kritik am Kapitalismus als globalem, umfassenden System, das revolutionär überwunden werden muss. Diese Kritik wurde natürlich am Ersten Mai nicht neu erfunden, aber die Verhältnisse selbst drängen immer mehr Menschen genau in diese Richtung.

Die riesige revolutionäre Erster-Mai-Demonstration in Berlin, aber auch die vielen gut besuchten klassenkämpferischen und revolutionären Demonstrationen oder Kundgebungen verdeutlichen dieses Potential.

Es handelt sich dabei zwar noch um eine Minderheit unserer Klasse, aber zugleich um eine wachsende, dynamische Strömung, die es zu einer Einheit in der Aktion, im Kampf gegen Pandemie und Krise, gegen Rassismus und Imperialismus zusammenzuführen gilt. Diese Menschen können die gesellschaftliche Basis für eine breite, schlagkräftige Massenbewegung gegen die Krise in ihren vielfältigen Ausformungen werden.

3. Breites Bündnis

Auf den Straßen Berlins formierten sich Wut und Widerstand in einem breiten Bündnis, das der migrantisch-internationalistische Block anführte. Dahinter folgten der Enteignungsblock, den Gruppe ArbeiterInnenmacht und REVOLUTION mit organisierten, der klassenkämpferische Block und jener der Interkiezionale.

Die Mobilisierung von 25.000 Menschen spiegelt auch die Breite eines Bündnisses wider, das im Grunde alle Strömungen der radikalen Linken Berlins, also aller links von Linkspartei und Gewerkschaftsapparaten umfasste. Diese Einheit und dieser Erfolg stellen keine Selbstverständlichkeit dar. Dass sie zustande kamen, ist ein Verdienst aller beteiligten Gruppierungen. Besondere Anerkennung verdienen dabei aber die GenossInnen von Migrantifa Berlin, ohne deren Initiative und Wirken die Demonstration nicht so groß und stark gewesen wäre.

Zweifellos haben wir im Bündnis auch Fehler gemacht. Aber, wer erfolgreich so viele Menschen trotz der Gegnerschaft von Kapital, Senat, Abgeordnetenhaus und Polizei auf die Straße bringt, muss auch einiges richtig gemacht haben und dies gilt es fortzusetzen und zu verallgemeinern.

Ein wichtiger Faktor für die Solidarität unter den beteiligten Gruppen stellte erstens der Konsens dar, dass wir die lohnabhängige Bevölkerung, insbesondere die migrantischen ArbeiterInnen mit unserer Mobilisierung erreichen und gewinnen wollen. Zweitens die Solidarität gegen jede Provokation und Spaltungsversuche von Seiten der Polizei, der bürgerlichen Politik und Medien, gegen Verleumdungsversuche aller Art. Diese Solidarität müssen wir unbedingt beibehalten.

Die Einheit in der Aktion und die Breite des Bündnisses müssen und wollen wir über den 1. Mai hinaus praktisch fortsetzen und auch in anderen Städten verbreitern. Das beinhaltet einerseits eine Schwerpunktsetzung auf gemeinsame Aktivitäten und klare Forderungen zu politischen und sozialen Kernproblemen unserer Klasse. Andererseits müssen wir auch eine engere Zusammenarbeit mit bestehenden Initiativen und Kämpfen insbesondere auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene herbeiführen. Dass es auch hier Bewegung und viele Überschneidungen der teilnehmenden Gruppierungen und Demonstrierenden gibt, wurde z. B. in Berlin bei der Demonstration „Nicht auf unserem Rücken – Gewerkschaften und Lohnabhängige in die Offensive!“ ebenso sichtbar wie bei „Von der Krise zur Enteignung!“ oder auch bei MyGruni deutlich.

Um diese Einheit auf der Straße, im Betrieb, im Stadtteil weiterzuführen oder überhaupt erst zu schaffen, brauchen wir in Berlin, aber auch in vielen anderen Städten eine Diskussion über die Grundlagen einer Antikrisenbewegung, ihre Forderungen, ihren Aktionsplan. Dazu schlagen wir eine Diskussion in verschiedenen Bündnissen oder gewerkschaftsoppositionellen Strukturen wie der VKG, in Kampagnen wie #ZeroCovid und die Durchführung eine bundesweiten Aktionskonferenz vor.

4. Politischer Gradmesser

Die Haltung zur Berliner Erster-Mai-Demonstration bildet auch einen Gradmesser dafür, wo welche politische Kraft steht.

Dass die Berliner Polizei von Beginn an plante, die Demonstration anzugreifen, zu spalten und aufzulösen, wird mit jedem Tag klarer. Unter dem Vorwand des Infektionsschutzgesetzes trotz Masken aller Teilnehmenden und trotz des Bemühens der OrdnerInnen, Abstände einzuhalten, erzeugte die Polizei selbst jene Lage, die sie angeblich zu verhindern suchte. In einem Interview in der Berliner Abendschau rechtfertigte der Berliner-SPD-Innensenator Geisel nicht nur den Einsatz und die Gewaltexzesse der Polizei. Er selbst verteidigte den Zeitpunkt des Angriffs auf die Demonstration auch damit, dass polizeilich Aktionen bei Tageslicht leichter durchzuführen wären als bei Dunkelheit. Dann wäre – von wegen Infektionsschutz – die „taktische Herausforderung“ noch größer gewesen.

Für CDU, FDP und auch AfD war selbst das brutale Vorgehen der Polizei nicht genug und sie kritisieren Geisel von rechts, fordern noch mehr Bullen und noch repressiveres Vorgehen gegen DemonstrantInnen – QuerdenkerInnen und Corona-LeugnerInnen natürlich, vor allem von der AfD, ausgenommen. Dabei zeigten Parties von Corona-LeugnerInnen am 1. Mai einmal mehr, dass die Bullen – ähnlich wie bei den QuerdenkerInnen in Kassel und Stuttgart – keinen Finger rühren, wenn es darum geht, das Infektionsschutzgesetz gegen die Rechten durchzusetzen. Der Chef der Berliner Abgeordnetenhausfraktion der CDU, Burkard Dregger, will gar einen „Kuschelkurs mit der linken Szene“ beim Senat ausmachen.

Das – nicht die brutale Einschränkung demokratischer Rechte – empört die SPD-Oberen wie Innensenator Geisel und Bürgermeister Müller. Dabei werden die Mini-Noskes aus der Sozialdemokratie nicht müde, sich hinter „ihre“ Polizei zu stellen und jede Schweinerei zu rechtfertigen. Doch Undank ist bekanntlich der herrschende Klasse und der „echten“ Konservativen und Liberalen Lohn.

Der innenpolitische Sprecher der Berliner Grünen, Benedikt Lux, steht voll auf Geisel-Linie. Die Spitzenkandidatin der Partei, Annalena Baerbock, stimmt in den Chor der ScharfmacherInnen ein und diffamiert die Demonstration gar als „kriminell“.

Niklas Schrader von der Linkspartei kritisiert das Verhalten der Polizei als taktisch „nicht gelungen“ und zeigt damit, aus welcher Perspektive aus er die Sache beurteilt – nämlich nicht von Seiten der DemostrantInnen, sondern der Regierung, die den Polizeieinsatz mitzuverantworten hat. Schließlich sind die SenatorInnenposten der Linkspartei allemal wichtiger als 25.000 Menschen, die von einer Polizei angegriffen werden, die zumindest auf dem Papier ihrer Koalition untersteht. Dieses Rumlavieren der Linkspartei zeigt mal wieder, dass der Kurs der Partei, sich als Freundin der sozialen Bewegungen zu präsentieren aber gleichzeitig mitregieren zu wollen, in Momenten der Krise nicht funktioniert.

Im Windschatten der großen Politik und der bürgerlichen Medien kochen schließlich auch sog. Antideutsche wie die Zeitung Jungle World und andere ihr rassistisches Süppchen.

Diese „Linken“ bewiesen damit erneut, dass sie nicht auf der Seite der Protestierenden stehen, sondern auf der von Regierung und Polizei. Alle gemeinsam blasen sie ins selbe Horn und unterstellen der Demonstration Antisemitismus, weil sie sich mit dem palästinensischen Widerstand und der antizionistischen Linken in Israel solidarisierte. Die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus wird bekanntlich durch ständige Wiederholung nicht weniger falsch und reaktionär und führt nur dazu, den deutschen Imperialismus von „links“ zu flankieren.

Die Haltung zur revolutionären Erster-Mai-Demonstration zeigt freilich, wo welche politische Kraft steht. Die skandalöse Haltung der Spitzen der Grünen und der SPD sollte uns ebenso wenig wundern wie das halbherzige Rumeiern der Linkspartei, die letztlich ebenfalls, wenn auch „kritisch“ hinter dem Polizeieinsatz steht.

Wo bleibt der DGB?

Wie schon 2020 verlagerte der DGB seine „Aktionen“ vor allem ins Internet. Auch wenn in etlichen Städten Demonstrationen oder Kundgebungen stattfanden, so trugen sie zum Teil reinen Alibicharakter oder wurden von linkeren Gruppierungen und vielen migrantischen Organisationen zahlenmäßig dominiert. Die hohe Präsenz dieser Strömungen stellt ein positives Zeichen dar.

Die Haltung der Gewerkschaftsführungen hingegen kommt einem weiteren politischen Skandal gleich, wenn auch keinem verwunderlichen. Die Tarifrunden und Auseinandersetzungen wurden von der Bürokratie vor allem befriedet und ausverkauft. Klar, bei dieser Bilanz ist auch am Ersten Mai wenig zu erwarten. Die Pandemie bot so sicher Gewerkschaftsvorständen und Apparat einen Vorwand, erst gar nicht zu versuchen, die Masse der ArbeiterInnen zu mobilisieren. Zieht man die linken und migrantischen Organisationen ab, so stellen viele DGB-Kundgebungen am 1. Mai ein Funktionärstreffen unter freiem Himmel dar, bei denen staatstragende Reden gehalten werden und die GewerkschaftsfunktionärInnen kaum von den Spitzen aus SPD, Grünen oder selbst CDU, die als GastrednerInnen eingeladen wurden, unterscheidbar sind.

Das Fazit gestaltet sich also sehr einfach. Von den Gewerkschaftsführungen und ihrem bürokratischen Apparat ist eine Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse, ein Kampf gegen Kapital und Regierung in den kommenden Monaten nicht zu erwarten. Ebensowenig von den Spitzen der SPD, die bis zum Ende der Großen Koalition die Treue hält und im Wahlkampf vielleicht so tun wird, als wäre sie nicht dabei gewesen. Und die Führung der Linkspartei versucht die Quadratur des Kreises – nicht nur am Ersten Mai. Einerseits hängt sie in den Landesregierungen in Berlin, Thüringen und Bremen fest, betreibt dort bürgerliche Politik und garniert sie mit etwas gebremstem Sozialschaum. Andererseits will sie sich im Bund als Opposition zur kommenden Regierung präsentieren, da eine grün-rot-rote Koalition auf Bundesebene aufgrund der Haltung der Grünen, aber auch der SPD wohl ausgeschlossen ist.

Aufgaben der revolutionären und klassenkämpferischen Linken

Für RevolutionärInnen und für die klassenkämpferische Linke, die am Ersten Mai sichtbar wurde, stellen die Passivität der Gewerkschaftsführungen, die bürgerliche Politik von SPD und Linkspartei eine Chance, aber auch eine politische Herausforderung dar.

Die Chance besteht darin, dass die Passivität der Apparate Menschen nicht automatisch zu kleinbürgerlich-reaktionären Kräften wie den Corona-LeugnerInnen treibt, sondern auch ein politisches Vakuum auf der Linke schafft, Raum für eine Bewegung und Mobilisierung, die Lohnabhängige und Unterdrückte anziehen und zu einer politischen und gesellschaftlichen Kraft formieren können. Dass z. B. etliche Menschen an den linksradikalen, klassenkämpferischen und revolutionären Demonstrationen am 1. Mai teilnahmen, die bisher unorganisiert waren und sind, verdeutlicht das.

Umgekehrt stellt die Blockade durch die reformistischen und vor allem gewerkschaftlichen Apparate aber auch ein Problem dar. Vor allem die Kontrolle der Bürokratie über die organisierte ArbeiterInnenklasse in den Betrieben gerät zu einem effektiven Mittel, den Klassenfrieden in den Unternehmen zu sichern, die Menschen ruhigzustellen und diejenigen zu isolieren, die dagegen ankämpfen wollen.

Wenn die klassenkämpferische Minderheit, die am Ersten Mai sichtbar wurde, zu einer Massenkraft werden soll, die die Mehrheit unserer Klasse mobilisieren kann, muss sie einen Weg finden, diese Blockade zu überwinden. Dazu ist es nötig, Forderungen aufzustellen, um die Mitglieder, AnhängerInnen und WählerInnen der „linken“ Parteien zu mobilisieren und die der Gewerkschaften in die Aktion zu bringen. Das heißt, sie muss eine Politik der Einheitsfront gegenüber den Millionen Mitgliedern, WählerInnen und UnterstützerInnen dieser Organisationen verfolgen, die sich an die Basis, aber auch an die Führungen der reformistischen Organisationen richtet – nicht, weil wir in letztere politische Illusionen hätten, sondern weil wir die Hoffnungen und Illusionen ihrer Basis dem Test der Praxis unterziehen müssen. Da die objektive Lage den Spielraum für Kompromisse zwischen den Klassen einschränkt, vergrößert sich auch die Kluft zwischen Basis und Führung und damit auch die Möglichkeit für RevolutionärInnen, diese taktisch zu nutzen.

Dies erfordert nicht nur ein Verständnis von Einheitsfrontpolitik. Es erfordert auch, die strategische, politische und programmatische Schwäche der „radikalen“ Linken anzugehen, die mit großen Mobilisierungen noch längst nicht gelöst ist und allein aus diesen heraus auch nicht zu lösen sein wird.

Kurzum, es fehlt an einer Strategie in der Linken. Eine solche müsste nämlich von einem Verständnis der Totalität, der Gesamtheit der aktuellen Krise und Problemstellungen ausgehen. Politisch-programmatisch müsste sie dabei jedoch eine Methode verfolgen, die objektive Situation mit ihren aktuellen, konkreten Problemen und Ansätzen von Widerstand mit einer revolutionären Antwort darauf zu verbinden. Kurz sie braucht ein Aktionsprogramm, das der gegenwärtigen Lage entspricht. Die Aufgabe der antikapitalistischen und klassenkämpferischen Linken bestände darin, eine weiterführende Perspektive aufzuzeigen, die nicht nur die unmittelbare Not, sondern auch ihren wesentlichen Kern aufzeigt und Tageskämpfe mit dem für eine andere, sozialistische Gesellschaft strategisch vermittelt.

Was die Berliner Linke mit Blick auf den Ersten Mai geschafft hat, gilt es nun auf die nächste Ebene zu heben. Es braucht eine Aktionskonferenz, auf der die verschiedenen Programme und Strategien der radikalen Linken diskutiert und konkrete Aktionen geplant werden, um den Angriffen des Kapitals eine antikapitalistische und internationalistische Anti-Krisenbewegung entgegenzustellen.




Die Lügen der Polizei – oder: wovor sich die Herrschenden fürchten

Pressemitteilung des Bündnisses zur Vorbereitung der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration, Infomail 1148, 3. Mai

Die Darstellung der Berliner Polizei zur Auflösung der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration kommt einer politischen Märchenstunde gleich, die vor allem der Rechtfertigung der willkürlichen, aber gezielten Auflösung der Demonstration dient.

Hier einige Fakten und Richtigstellungen zur Demonstration und deren gewaltsame Auflösung durch die Berliner Polizei.

Schon im Vorfeld des 1. Mai ließen Sprecher*innen der Polizei verlauten, dass sie mit einer möglichen Eskalation rechnen, und stellten auch mögliche Auflösungsszenarien in den Raum. Und das, obwohl das Demonstrationsbündnis immer wieder das politische Ziel betonte, die Bevölkerung Neuköllns und Kreuzbergs zu ermutigen, sich der Demonstration anzuschließen. Schon vor deren Beginn gab es erste Schikanen wie eine späte Absperrung der Straßen, sodass die Auftaktkundgebung nicht pünktlich beginnen konnte.

Das Bündnis und die Teilnehmer*innen versuchten von Beginn an, die Regeln des Infektionsschutzgesetzes zu beachten. Faktisch trugen alle Masken. Die Demonstrationsleitung, die Ordner*innen und die Lautsprecherwagen wiesen immer wieder darauf hin und konnten die Einhaltung der Regeln weitgehend sicherstellen, vor allem sobald die Demonstration zu laufen begann.

Wie auch Journalist*innen und Vertreter*innen der Medien – so zum Beispiel der RBB in der Abendschau – berichten, war die Demonstration lautstark, kämpferisch, antikapitalistisch, aber auch entspannt, friedlich und nach eigenen Aussage des RBB-Reporters trugen 99 Prozent der Teilnehmenden eine Mundnasenbedeckung und versuchten, die Abstände einzuhalten.

Dennoch spaltete die Berliner Polizei ohne vorherige Warnung und ohne die Versammlungsleitung zu informieren, die Demonstration gegen 20:00 Uhr in der Karl-Marx-Straße in zwei Hälften, kesselte mehrere Blöcke und Personengruppen und drängte diese auf einem durch Baustellen ohnehin schon engen Raum weiter zusammen. Nachdem der Anmelder bereits im Kooperationsgespräch darauf gedrängt hatte, auf der Route Parkverbote aufzustellen, um die Hygieneregeln besser einhalten zu können, die Polizeiführung dies aber rigoros abgelehnte, verhinderte die Polizei selbst mit der Abtrennung und Kesselung großer Teile der Teilnehmer*innen das Einhalten des Infektionsschutzgesetzes.

Die Polizei wollte damit offensichtlich einen Keil zwischen „gute“ Demonstrant*innen im ersten Block und „böse“ Teilnehmer*innen in den folgenden treiben. Auf diesen Spaltungsversuch ließen wir uns nicht ein – und werden wir uns auch zukünftig nicht einlassen.

Das Bündnis und die Versammlungsleitung hielten die Demonstration an, nachdem sie von der Abtrennung der Hälfte der Demonstrationsteilnehmer*innen erfahren hatten, und verlangten, dass sich alle wieder dem Demonstrationszug anschließen können. Die Polizei verweigerte indes jedes Gespräch darüber und entzog faktisch Tausenden Menschen ihr Recht auf Versammlungsfreiheit.

Stattdessen begannen die Polizeikräfte, die Teilnehmer*innen zu traktieren und anzugreifen. Demonstrant*innen wurden eingeschüchtert, willkürlich festgenommen und der gesamten Demonstration mit der Auflösung durch die Polizei gedroht, weil Schaulustige und Anwohner*innen auf den engen, zugeparkten Straßen die Abstandsregeln nur schwerlich einhalten konnten. Erst nach den Angriffen der Polizei auf verschiedene Teile der Demonstration eskalierte die Lage.

In diesem Zeitraum „verschwanden“ auch die unerfahrenen und offensichtlich überforderten Verbindungsbeamten der Polizei spurlos. Etwas, was in den vielen Jahren zuvor noch nie passiert war. Das Bündnis und die Versammlungsleitung wollten die Situation deeskalieren und Demonstration ohne Repression durch die Polizei mit allen Teilnehmer*innen fortsetzen. Doch Verbindungsbeamte und Einsatzleitung waren für die Versammlungsleitung bis zur Beendigung der Demonstration nicht mehr erreichbar.

Die Polizei begann ab 20.30 Uhr, den abwartenden Demonstrationszug anzugreifen, und nahm Hunderte Menschen fest. Polizeieinheiten gingen brutal gegen Träger*innen von Transparenten und Fahnen vor, um die Fortsetzung des Aufzugs zu unterbinden. Gegen 21.00 Uhr war die Demonstration faktisch von der Polizei zerschlagen worden. Erst danach lösten die Veranstalter die Demonstration auf.

Die Berliner Polizeipräsidentin verbreitete letztlich die von zahlreichen Medien ohne weitere Überprüfung übernommene Falschmeldung, der Versammlungsleiter habe die Demonstration für beendet erklärt, nachdem er selbst aus der Menge heraus angegriffen worden sei. Diese Behauptung ist schlicht und einfach falsch. Der angebliche Angriff fand nie statt und der Versammlungsleiter erfuhr davon auch erst aus den Medien.

Wie diese Falschmeldung fabriziert wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Wohl aber tritt ihr politischer Zweck klar zutage. Rund 25.000 Menschen, die gegen Rassismus und Sexismus, gegen Ausbeutung und Wohnungsnot, gegen Kapitalismus und Imperialismus auf die Straße gingen, sollen politisch diffamiert und als verantwortungslose diskreditiert werden – und mit ihnen die klassenkämpferischen und revolutionären Ziele, die sie vertreten.

Das Vorgehen der Polizei zeigt, dass sie nie vorhatte, die Demonstration bis nach Kreuzberg ziehen zu lassen. Sie hat bewusst eine Eskalation in Neukölln forciert, um uns vor den Augen der Bevölkerung und der Presse zu diskreditieren und uns zu spalten. Denn es gibt nichts, was die Herrschenden mehr fürchten als unsere Einheit und unsere Solidarität. Daher wollen sie gezielt verhindern, dass wir uns im Kampf zusammenschließen, innerhalb der Linken und mit der Bevölkerung. Das wird ihnen nicht gelingen. Jetzt erst recht: Yallah Klassenkampf!

Berlin, 3. Mai 2021




Berliner Erster Mai – Eine Stellungnahme des Enteignungsblocks

Enteignungsblock, 2. Mai 2021, Infomail 1148, 3. Mai 2021

Im Kampf gegen den Kapitalismus muss es auch darum gehen, demokratische Rechte unserer Bewegungen zu verteidigen. Es ist ganz deutlich, dass die Polizeigewalt am Abend der Ersten-Mai-Demonstration politisch motiviert war.

Sie war die größte Demonstration des Tages. Sie war aber auch am 1. Mai die inhaltliche Zusammenkunft diverser Proteste unserer Bewegung. Mehr als 20.000 TeilnehmerInnen hatten sich versammelt. Sie war durch ihren politischen Ausdruck geprägt. Die Forderung nach Enteignung der großen Banken, GrundbesitzerInnen und Konzerne sowie der Kampf gegen Rassismus und Imperialismus prägten die Reden. Daher war der Angriff der Polizei nicht nur ein Übergriff gegen eine einzelne Demonstration, sondern die linke Bewegung als Ganzes.

Die Demonstration bot mehr als nur eine Bühne für berechtigte Wut und Empörung über unser tägliches Leid. Sie bot auch Perspektiven, wie wir dieses Leid von rassistischen Polizeikontrollen, Wohnungsverlust, Armut und kapitalistischem Elend gemeinsam bekämpfen können.

Die Stellungnahmen von einzelnen Mitgliedern und Pressemitteilungen der gesamten Polizei im Vorhinein der Demonstration stellten bereits fest, dass sie diese Perspektive mehr als alles andere fürchteten. Eine der größten Gefahren der Demonstration ginge laut Polizei davon aus, dass sie den Kampf gegen Rassismus und Wohnungsnot verbinde.

Sie machte damit deutlich, dass sie sich als das Instrument eines rassistischen und kapitalistischen Systems sieht. Sie begeht täglich rassistische Gewalt. Sie schmeißt tagtäglich Arme aus überteuerten Wohnungen. Dann ist es nur konsequent, wenn sie auf einer antirassistischen und antikapitalistischen Demonstration das Blaue vom Himmel prügelt.

Dies wurde mit einer lachhaften Konstruktion gerechtfertigt. Die Demonstration, die von Beginn an von ihr eingeengt wurde, womit sie konsequent verhinderte, dass Abstände eingehalten werden konnten, wurde dann von ihr unter dem Vorwand der Nichteinhaltung von Abständen aufgelöst.

Die gleiche Polizei trug zu einem Großteil weder FFP2- noch überhaupt Masken – ganz im Gegensatz zu den DemonstrantInnen. Jene, die von ihr in die Gefangenensammelstellen verschleppt wurden, berichteten davon, dass BeamtInnen ihre Masken in geschlossenen Räumen und auf engstem Abstand absetzten. Zum Teil taten sie dies umso energischer auf Bitten hin, die Masken sachgemäß zu tragen.

Wenn Menschen für einen besseren und effektiveren Kampf gegen die Pandemie auf die Straße gehen, weil sie es nicht mehr ertragen können, dass nach wie vor auf engstem Raum in den Werk- und Lagerhallen unter katastrophalen Bedingungen geschuftet wird, wird geprügelt. Gleichzeitig werden aber BesitzerInnen ebenjener Hallen wie Amazon hofiert.

Die Polizei ging gar so weit, die Lüge in die Welt zu setzen, die Demonstration wäre vom Anmelder aufgelöst worden, weil dieser von DemonstrantInnen angegriffen wurde. Dies ist eine Falschmeldung. Wer angriff, war die Polizei. Die Verbindung zum Anmelder kappte diese komplett, bevor sie zuschlug. Von wegen ausgestreckte Hand – durchgezogene Faust war das Motto der Polizei an diesem Abend.

Die größte Gewalt des Tages verkörperte aber die Hofberichterstattung etlicher Medien und ihrer ChefredakteurInnen, die unkritisch solche dreisten Lügen der Polizei übernahmen – ohne jegliche Gegenprüfung.

Dies alles zeigt den politisch motivierten Charakter, mit dem die Revolutionäre-Erste-Mai-Demonstration und das Demonstrationsrecht überhaupt angegriffen wurden.

Proteste, die nur Proteste bleiben, sind duldbar. Aber Massenproteste, die Perspektiven für Veränderung aufwerfen und unterschiedliche Kämpfe zusammenführen, stellen eine zu große Gefahr dar. Die Polizei schlug zu.

Ebenso teilten etliche Pressehäuser aus, die der Meinung waren, dass eine brennende Holzpalette auf der Sonnenallee relevanter sei als die Inhalte einer Demonstration mit mehr als 20.000 TeilnehmerInnen. Zumindest die Tatsache, dass eine friedliche Massendemonstration gewaltsam auseinandergejagt wurde, hätte wohl einem/r ehrlichen DemokratIn eine Erwähnung wert sein müssen.

Doch die „Gewalt“ einer brennenden Palette ist für diese rückgratlosen Schreiberlinge berichtenswerter als die Inhalte eines Protestes, der sich beispielsweise gegen die reale Gewalt stellt, der sich aktuell 1,5 Millionen MieterInnen Berlins nach dem Kassieren des Mietendeckels ausgesetzt sehen und die selbst laut Schätzungen des Senats 40.000 Menschen mit Obdachlosigkeit oder Bankrott bedroht. Es ist letztlich egal, ob dieses Gegeifer aus bewusstem Wunsch zur  Verunglimpfung oder Effekthascherei heraus geschah.

Dass Innensenator Geisel, der ein bekannter Freund der Immobilienlobby ist, nach der Gewalttat der Polizei dieser dankte, zeigt auf wessen Seite er letztlich steht. Auf der anderen! Auf der Seite der Reichen und Mächtigen, deren Stiefel uns noch viel gewaltsamer im Nacken stehen als die der Polizei am Ersten Mai.

In der Verteidigung selbst simpler bürgerlich demokratischer Rechte kann man sich scheinbar nicht auf diese „DemokratInnen“ des Zwielichts verlassen. Wir müssen sie selbst in die Hand nehmen. Der erste Schritt hierbei muss eine breite Aufklärung über die Lügen der Polizei und ihrer scheinbar untergeordneten „Vierten Gewalt“ sein. Der nächste Schritt muss darin bestehen, die Solidarität und die Strukturen, die durch die Mobilisierung der diesjährigen Demonstration geschaffen wurden, auszubauen, um unser Ziel zu erreichen: die EnteignerInnen zu enteignen und die RassistInnen zu entmachten!




Erster Mai 2021: Die politische Krise und die Aufgaben der Linken

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 255, Mai 2021

Es gibt Jahrzehnte, in denen passiert nichts. Und es gibt Wochen, in denen passieren Jahrzehnte.“ Diese Worte werden Lenin zugeschrieben, der am 22. April seinen 151. Geburtstag feierte. Damals beschrieb er die Geschehnisse der Russischen Revolution, aber diese Beobachtung trifft bis zu einem gewissen Grad auch auf die gegenwärtige Lage zu. Denn wir stecken inmitten einer politischen Gemengelage, die deutlich eine Krise der bürgerlichen Politik und auch des Kapitalismus zutage bringt wie seit Jahren nicht mehr. Instabilität, abrupte Veränderungen der Lage mehren sich. Und gerade solche Perioden der Instabilität erfordern eine klare politische Perspektive – und genau an dieser fehlt es auch in den Reihen der (radikalen) Linken und ArbeiterInnenbewegung.

Krisenerscheinungen

Die aktuelle politische Krise folgt aus den zunehmenden wirtschaftlichen Spannungen. Ihre spezifische Form wurde durch die Pandemie entscheidend mitgeprägt, aber auch durch Spätfolgen der letzten Weltwirtschaftskrise, die wie ein Schatten über den Verhältnissen des letzten Jahrzehnts schwebte. Im Nachfolgenden werden einzelne Ausdrücke dessen benannt.

Mit dem Scheitern einer europäischen Impfstrategie bei gleichzeitigem Erfolg nationaler Alleingänge wie in den USA, China, Israel und Großbritannien gerät das Projekt des weltgrößten Binnenmarktes EU zunehmend an seine Grenzen. Die Globalisierungsperiode und ihre Organe hängen an einem immer seideneren Faden, drohen zugrunde zu gehen, und das ohne eindeutige absehbare anschließende Alternative.

In der Ukraine erleben wir, wie ein eingefrorener Konflikt um geostrategische Einflussgebiete wieder droht, zu einem heißen und offenen militärischen zu werden. Während Russland ein gigantisches Militärmanöver auffährt und die Frage der Annexion des Donbass durch es lauter gestellt wird, rasselt die NATO ebenfalls mit ihren Säbeln – vor allem mit Joe Biden als neuem US-Präsidenten, der für eine erneute Verschärfung des Konflikts der NATO mit Russland wie überhaupt des Westens mit den Rivalen China und Russland steht.

CDU/CSU

Das Pandemiemanagement der Großen Koalition unter Führung der Union wird mit Zickzackkursen und fehlender Berechenbarkeit beschrieben. Wie sollte es auch anders sein, versucht der Flatten-the-Curve-Ansatz doch zwischen gegensätzlichen Zielen zu vermitteln, zwischen Pandemiebekämpfung und Lockerungen für das Kapital. Dies reiht sich ein in eine Krise der Union, die schon vor der Pandemie erkennbar war. Konkret stehen CDU/CSU vor der Frage, wohin die deutsche Bourgeoisie sich strategisch ausrichten soll, ob auf einen Green New Deal auf europäischer Ebene oder einen neoliberalen Kurs, ob auf eine Unterordnung unter die transatlantische Führungsmacht USA oder auf die Formierung der EU zu einer wirklichen Weltmachtkonkurrenz gegenüber China und den USA.

Derweil werden die Fliehkräfte in der Union immer stärker, wird sie schlussendlich auch Opfer der Krise ihres Systems der bürgerlichen Demokratie und ihrer Parteien. Die Auseinandersetzung zwischen Laschet und Söder ist dabei weniger Ausdruck des Kampfes zweier strategischer Linien, sondern vielmehr Resultat eines Scheiterns, einen klaren politischen Kurs zu bestimmen. Daher auch die relative Stärke ihrer bürgerlichen RivalInnen, allen voran der Grünen.

Rechte Kritik

Gegenüber diesem Schlingerkurs von Union und Regierung erscheint die Relativierung der gesundheitlichen Krise eine Alternative. Unter dem Slogan „Mit dem Virus leben“ schlagen das Kapital und seine Lobbyverbände seit Wochen Wellen. Aber in diesem Windschatten konnten auch reaktionär-kleinbürgerliche Bewegungen wie die QuerdenkerInnen Oberwasser bekommen. Sie erscheinen als die einzige Kraft, die der herrschenden Politik in ihrer Gesamtheit etwas entgegensetzt, und bieten daher eine Anlaufstelle für KleinbürgerInnen und Lohnabhängige, die an der Situation verzweifeln und wirtschaftlich am Ende sind.

Mit der Kampagne #allesdichtmachen von verschiedenen deutschen SchauspielerInnen können wir sehen, wie verbreitet die verkürzte liberale Öffnungsfantasie ist und dass wir uns in einem Moment verschärfter ideologischer Defensive befinden. Parallel dazu erleben wir, wie Neurechte und offene FaschistInnen in der Bewegung neue UnterstützerInnen gewinnen können und als verlässliche PartnerInnen der QuerdenkerInnen dastehen. Auch skurrile Gruppen wie die Freie Linke schließen sich als nützliche IdiotInnen der Rechten diesen Aktionen an.

Die verfassungsgerichtliche Niederlage des Berliner Mietendeckels offenbart einmal mehr, wie wenig wir in dieser Situation in einem Boot sitzen. Zehntausende müssen nun den Immobilienverbänden fette Rückzahlungen leisten. Die Deutsche Wohnen geht im Durchschnitt all ihrer Wohnungen von etwa 450 Euro Rückzahlungen pro Haushalt aus. Die Immobilienwirtschaft ist aber nicht die einzige Krisengewinnerin. Denn die 119 deutschen MilliardärInnen haben ihr Gesamtkapital im Vergleich von Mitte 2019 zu Mitte 2020 um 19 % gesteigert, von 500,9 Mrd. Dollar auf 594,9 Mrd. Dollar, und seit Sommer 2020 hat sich dies nochmals massiv verschoben.

 Widerstand dagegen

Gegen den kassierten Mietendeckel gingen am selben Tag in Berlin spontan mindestens 20.000 Menschen auf die Straßen, was das beachtliche Potenzial einer MieterInnenbewegung aufzeigt, die auch über die Grenzen Berlins hinausreichen könnte – und die Unterstützung für die Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen in den Augen der BerlinerInnen dringlicher machte.

Auch tarifliche Auseinandersetzungen gab es in den vergangenen Wochen. Während in hunderten Aktionen die Mitglieder der IG Metall in die Auseinandersetzung eingestiegen sind, gab es sogar Forderungen, die einen härteren Kurs gegen das Programm von Lohnverzicht und Massenentlassungen der UnternehmerInnenverbände verlangten. Währenddessen gaben die VerhandlungsführerInnen der IGM ihren Kurs der Mitverwaltung des Elends der Krise gesundheitlich wie wirtschaftlich nicht auf. Zuerst setzten sie die Tarifrunde Ende des 1. Quartals 2020 aus, jetzt machten sie einen katastrophalen Abschluss, dafür aber über 21 Monate. Und das Ganze in einer Situation, in der Bankrotte bevorstehen und bereits im letzten Jahr in der Metallindustrie allein die Streichung von knapp 400.000 Stellen angekündigt wurde, während Daimler beispielsweise in der Krise die ausgeschütteten Aktiendividenden im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelte.

Zugleich wurde mit der Onlinepetition von #ZeroCovid im Januar, die über 111.000 UnterzeichnerInnen gewinnen konnte, sichtbar, welches Potenzial eine linke Bewegung gegen Pandemie und Krise hätte, die den desillusionierten und verängstigten ArbeiterInnen und verarmten KleinbürgerInnen eine eigenständige Perspektive zur Bekämpfung der Pandemie vermittelt. Ein Potenzial, welches jedoch sowohl durch die Weigerung großer Teile der radikalen oder nicht so radikalen Linken verschenkt wird, den Kampf gegen die Pandemie mit dem gegen die kapitalistische Krise zu verbinden. Diese Politik führt nicht nur dazu, dass ein vorhandenes Widerstandspotenzial nicht organisiert wird – sie erleichtert den Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien auch ihre Politik der Klassenzusammenarbeit.

Dass das Potenzial durchaus groß ist, zeigten nicht nur die spontanen Demos gegen den Mietendeckel. Die großen Veranstaltungen zum 8. März, dem internationalen Frauenkampftag, und die Gedenkveranstaltung zum faschistisch-terroristischen Anschlag von Hanau machen deutlich, welch enorme Kampfkraft vor allem geschlechtlich und rassistisch Unterdrückte haben. Mit der Bildung von Migrantifa, aber vor allem durch die sich verschärfenden Angriffe erkennen wir, wie sich MigrantInnen sozialen Kämpfen zunehmend anschließen.

Aufgabe der politischen Linken

Die Gründe für das Scheitern der „radikalen“ Linken, einschließlich ihrer klassenorientierten Teile können freilich nicht spontan, durch das Entstehen neuer Bewegungen und deren Mobilisierung, überwunden werden. Bereits vor der Pandemie standen wir einem politisch-programmatischen Elend in der Linken gegenüber, die der gesamtgesellschaftlichen Tendenz des Rucks nach rechts nichts entgegenzustellen vermochte.

Und so kommt es, dass sich größere Teile der Linken in der momentanen Krise selbst beschränken, auf Teilforderungen und lokale Auseinandersetzungen ausweichen oder nur abstrakt kapitalismuskritische Gesinnung predigen. Andere hingegen weigern sich, eine politische Antwort auf die gesundheitliche Krise zu geben und begrenzen sich auf reine Finanzierungsforderungen.

Kurzum, es fehlt an einer Strategie in der Linken. Eine solche müsste nämlich von einem Verständnis der Totalität, der Gesamtheit der aktuellen Krise und Problemstellungen ausgehen. Politisch-programmatisch müsste sie dabei jedoch eine Methode verfolgen, die objektive Situation mit ihren aktuellen, konkreten Problemen und Ansätzen von Widerstand mit einer revolutionären Antwort darauf zu verbinden. Kurz sie braucht ein Aktionsprogramm, das der gegenwärtigen Lage entspricht. Die Aufgabe der antikapitalistischen und klassenkämpferischen Linken bestände darin, eine weiterführende Perspektive aufzuzeigen, die nicht nur die unmittelbare Not, sondern auch ihren wesentlichen Kern aufzeigt und Tageskämpfe mit dem für eine andere, sozialistische Gesellschaft strategisch vermittelt.

Als ArbeiterInnenmacht haben wir in den letzten Monaten versucht, über die #ZeroCovid-Initiative einen solchen Ansatz beispielhaft mit zu erarbeiten. Jedoch konnte diese bisher nicht eine Schlagkraft entwickeln, die ihrer politischen Stoßrichtung gebührt. Dabei präsentieren ihre Schlüsselforderungen wichtige Elemente für einen gemeinsamen Kampf gegen Pandemie und Krise, die durch weitere Forderungen (z. B. zur Wohnungsfrage, Umstrukturierungen in der gesamten Industrie, ökologische Probleme, Rechtspopulismus, Rassismus, Faschismus) ergänzt werden müssten.

Eine Schlüsselrolle wird in diesen Kämpfen die Frage der ArbeiterInnenkontrolle über die zu erkämpfenden Maßnahmen spielen. Diese Losung gilt es daher zu erklären und konkret zu bestimmen.

Eine notwendige Aufgabe für die gesamte Linke besteht in jedem Fall darin, eine offene Debatte über die Möglichkeiten gemeinsam organisierten Widerstands zu führen, sich dabei über die verschiedenen Perspektiven zu verständigen und gemeinsame Forderungen und Aktionen zu beschließen.

Im Wahljahr 2021, in dem die sogenannte K-Frage lauter wird, müssen wir von der Straße eine schlagkräftige Bewegung aufbauen, die die eigentliche K-Frage konkret besetzt. Die Frage lautet: Welche Klasse leidet unter der herrschenden wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise? Welche zahlt für sie? Wie kommen wir dahin, die KrisengewinnerInnen zur Kasse zu bitten? Welchen gesundheitlichen Schutz brauchen wir und wer kontrolliert ihn? Wie können wir den versöhnlerischen Kurs in den Gewerkschaften zurückschlagen?

Daher schlagen wir eine Aktionskonferenz vor, die diese Fragen diskutiert und gemeinsam für ein kämpferisches Jahr 2021 sorgt.




#NichtAufUnseremRücken zur Pandemie: Keine Antwort ist auch keine Lösung

Martin Suchanek, Neue Internationale 254, April 2021

Mit dem Text „Wie gelingt es, eine Anti-Krisen-Bewegung von links aufzubauen? – Eine notwendige Antwort auf #ZeroCovid“ versucht das Bündnis #NichtAufUnseremRücken, eine Kritik an der Initiative zu formulieren. Herausgekommen ist dabei eine politische Bankrotterklärung. So heißt es:

„Ausgehend von dieser Gesamtsituation sollten wir uns als Linke auf die Fragestellung ‚Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?‘ gar nicht erst einlassen. Natürlich können wir darüber philosophieren, wie die Pandemie-Bewältigung in einer sozialistischen Gesellschaft aussehen würde. Doch da wir nicht kurz vor einer Revolution stehen, muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben, welches uns das Elend erst eingebrockt hat.“

Dumm nur, dass die Pandemie ein zentrales aktuelles Problem der Menschheit darstellt. Eine Gruppierung, die sich auf die Frage, wie sie zu bekämpfen sei, erst gar nicht einlassen will, offenbart nur, dass sie zu einer zentralen Frage nichts zu sagen hat. Frei nach dem Motto: „Stell Dir vor, es ist Pandemie, und wir kümmern uns nicht darum!“ Dann kommt das Virus früher oder später dennoch zu dir.

Die AutorInnen des Texts mögen vielleicht glauben, dass Raushalten aus der Pandemiefrage helfe, die eigene revolutionäre Weste nicht mit Reformforderungen zu beflecken. In Wirklichkeit bedeutet es nur, die Bekämpfung der Pandemie der herrschenden Klasse zu überlassen. Deren Politik und die sämtlicher Staaten wird zwar kritisiert, aber die Kritik bleibt vollkommen folgenlos, ja diskreditiert sich unwillkürlich selbst, wenn die Frage gestellt wird: „Was ist denn euer Plan zur Lösung der Pandemie?“: Wir haben keinen – und wir wollen auch gar keinen entwerfen!

Abstentionismus

Das ist keine Klassenpolitik, das ist weder revolutionär noch reformistisch, sondern bloß politischer Abstentionismus.

Glücklicherweise hält der Text die Linie, die er verspricht, nicht konsequent durch. So erfahren wir im zitierten Absatz, dass „wir nicht kurz vor einer Revolution stehen“. Daher, so heißt es weiter, „muss aktuell jede Krisenlösung innerhalb der Logik des Systems verbleiben“. Fragt sich nur, warum die Forderungen von #ZeroCovid nach einem Shutdown in der Industrie als Illusion gebrandmarkt werden, während die AutorInnen durchaus richtig selbst fordern: „Schließung aller nicht lebensnotwendigen Betriebe während eines Lockdowns – statt noch weiterer Einschränkungen im Alltag! Gefahrenzulage für die, die noch arbeiten müssen!“

Wenn die großen Weisheiten der Kritik an #ZeroCovid richtig sind, warum werden sie dann nicht auf die eigene Politik angewandt? Richtet sich die Forderung nach der Schließung nicht lebensnotwendiger Betriebe etwa nicht an den Staat? Durch wen sonst soll die von #NichtAufUnseremRücken geforderte digitale Ausstattung der Schulen finanziert und geleistet werden? Wer soll die dezentrale Unterbringung von Wohnungslosen und Geflüchteten finanzieren? Der Staat über eine Besteuerung der Reichen oder soll das „von unten“, also aus den Einkommen der Lohnabhängigen bezahlt werden?

Das Beste am Text von #NichtAufUnseremRücken ist ironischerweise seine innere Widersprüchlichkeit. Um diese zu kitten, darf jedoch nicht fehlen, #ZeroCovid eine Politik des „autoritären Shutdowns“ zu unterschieben, die es nicht vertritt.

Der entscheidende Unterschied, der im Grunde die gesamte Linke durchzieht, ist jedoch folgender: Brauchen die Linke und die ArbeiterInnenklasse eine Antwort, ein Programm zur Bekämpfung der Pandemie oder sollen sie ein zentrales Problem der Menschheit ignorieren und hoffen, dass es endlich vorübergeht, damit wir uns auf „Wichtigeres“ konzentrieren können? In Wirklichkeit muss sich eine revolutionäre Linke gerade daran messen lassen, ob sie eine Politik entwickelt, die den Kampf gegen die Pandemie mit dem gegen den Kapitalismus in Form eines Programms von Übergangsforderungen (z. B. Arbeiterinnenkontrolle) verbindet und in diesem Sinne gezielt das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern versucht




Zur Kritik an #ZeroCovid: Dürfen Linke Forderungen an den Staat stellen?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 253, Februar 2021

#ZeroCovid stellt den ersten linken Vorstoß mit potenziellem Massencharakter der, der sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie stellt und die Auseinandersetzung in die Betriebe tragen möchte. Es stellt eine zentrale Aufgabe auch der subjektiv revolutionären Linken dar, die Initiative und ihren Erfolg nach Kräften zu stärken und sie politisch zu prägen. Daher unterstützen wir sie kritisch und fordern alle linken und proletarischen Kräfte auf, es uns nachzutun.

Während an die 100.000 den Aufruf unterschrieben haben, bleibt die Reaktion unter sozialistischen Linken bislang recht verhalten. Die SAV unterstützt die Kampagne nicht, weil sie es nicht für mehrheitsfähig in der Klasse hält, einen Shutdown auch auf die Wirtschaft auszuweiten. Der Funke (IMT) verweigert sich, weil der Aufruf die Methoden des Klassenkampfes nicht anwende, sondern  den Staat als Subjekt der Veränderung sieht und damit Illusionen in eben jenen schüre.

In verschiedenen Stellungnahmen aus linken Organisationen, Parteien und Plattformen können wir in den letzten Tagen eine relative Paralyse gegenüber der Forderung nach einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beobachten. Forderungen an den Staat erscheinen manchen prinzipiell, also unabhängig von ihrem Inhalt, als Teufelszeug.

Staat und Reformen

Bevor wir auf die Frage näher eingehen, wollen wir kurz fünf Forderungsblöcke von #Zero-Covid darlegen:

„1. Wir schränken unsere Kontakte auf ein Minimum ein – auch am Arbeitsplatz. Wir müssen alle nicht gesellschaftlich notwendigen Bereiche der Wirtschaft für eine Zeit stilllegen.

2. Niemand darf zurückbleiben: Menschen können nur zu Hause bleiben, wenn sie finanziell abgesichert sind. Deshalb ist ein umfassendes Rettungspaket für alle nötig.

3. Der Markt hat nichts geregelt. Der Gesundheits- und Pflegebereich muss sofort ausgebaut werden. Das heißt auch: Löhne rauf und weg mit dem schädlichen Profitprinzip im Gesundheitswesen.

4. Eine globale Pandemie lässt sich nur global besiegen: Impfstoffe dürfen nicht den Profiten von Unternehmen dienen, sondern müssen allen Menschen überall zur Verfügung stehen.

5. Die nötigen Maßnahmen kosten Geld. Deshalb brauchen wir europaweite Covid-Solidaritätsabgaben auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen.“

Diese fünf Forderungen könnten natürlich noch deutlicher und konkreter gefasst werden. Das ist hier aber nicht das Wesentliche. Alle zielen auf den Gesundheitsschutz, die soziale Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen, von Selbstständigen, unabhängig von Alter, Nationalität, Geschlecht sowie auf die Finanzierung dieser Maßnahmen durch Umverteilung von oben nach unten.

Forderungen im Kapitalismus

Solange wir den Kapitalismus noch nicht gestürzt haben, richten sich solche Forderungen nach sozialen und politischen Verbesserungen oder Reformen immer notwendigerweise an den Staat. Das trifft z. B. auch auf die Forderungen nach einer gesetzlichen Arbeitszeitverkürzung, nach einem Mindestlohn, nach Enteignungen großer Konzerne, nach dem Ausbau demokratischer Rechte zu.

Würden die VertreterInnen einer solchen Kritik ihre eigenen Argumente ernst nehmen, so müssten sie jede Bewegung, jeden Kampf für politische und soziale Reformen kategorisch ablehnen und, ähnlich wie die „antiautoritären“ und anarchistischen KritikerInnen von Marx und Engels in der Ersten Internationale, den Weg des politischen Abstentionismus beschreiten, also der Enthaltung vom und Ablehnung des politischen Klassenkampf/es für Verbesserungen im bestehenden System.

Die Geschichte lehrt hingegen, dass der Kampf um solche Reformen als Mittel genutzt werden muss, um die ArbeiterInnenklasse zu organisieren und in Bewegung zu bringen. Schließlich hat der bürgerliche Staat als Sachwalter des Kapitals nichts zu verschenken. Und jede/r weiß, dass die Ziele von #ZeroCovid nur durch massive Mobilisierungen erzwungen werden können, um diese gegen den Widerstand von Kapital, bürgerlichen Parteien und Regierung zu erzwingen.

Nur wenn die Forderungen mit weiterführenden Kampfmaßnahmen wie Demonstrationen, Streiks und Besetzungen verbunden werden, kann die Klasse Zugeständnisse erzwingen und im Zuge ihrer dafür notwendigen Selbstorganisation die Umsetzung kontrollieren. Im Nachfolgenden wollen wir also die Frage, ob und inwiefern wir Forderungen an den Staat stellen sollten, weiter beleuchten.

Was ist der bürgerliche Staat?

Der bürgerliche Nationalstaat ist in erster Linie ein Instrument zur Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung und Eigentumsverhältnisse – er ist ein kapitalistischer Klassenstaat. Er fungiert als ideeller Gesamtkapitalist, d. h. er muss die allgemeinen Produktionsbedingungen aufrechterhalten und auch als Sachwalter des Gesamtinteresses der herrschenden Klasse dienen. Dieses darf jedoch nicht als Addition der Interessen der konkurrierenden Einzelkapitale verstanden werden. Vielmehr muss er auch die Konkurrenzbedingungen unabhängig von diesen garantieren, was auch zu einzelnen Konflikten führt. Dieser Gegensatz zeigt sich aktuell auch durch die Schließung von Restaurants und Freizeiteinrichtungen, während die für die Mehrwertproduktion „essentiellen“ Konzerne um jeden Preis offen gehalten werden.

Zweitens verkörpert der Staat im Kapitalismus das gesellschaftlich Allgemeine, wenn auch das „falsche Allgemeine“, weil seine proklamierte „Neutralität“ und formale Gleichheit der BürgerInnen nur den Überbau bilden können, auf dessen ökonomischer Grundlage sich die Klassen reproduzieren. Damit die Sicherung dieser gesellschaftlich grundlegenden Verhältnisses gelingt, muss die bürokratische Staatsmaschinerie (Parlamente, Repressionsapparat, Verwaltung, Justiz, …) strukturell an die herrschende Klasse gebunden sein.

Daher kann der Staat nicht einfach übernommen, transformiert oder demokratisiert werden. So sind die Staatsbediensteten materiell und ideologisch an ebendiesen Staat gebunden. Auch ist der Großteil des Staates eben nicht demokratisch wählbar, was im Besonderen für die exekutiven Organe (Polizei, Militär, Geheimdienste) gilt.

Zugleich aber bildet der Kampf um politische und soziale Reformen einen Ort des Klassenkampfes in der bürgerlichen Gesellschaft. Unsere Politik muss daher notwendig zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens geht es darum, die Klasse durch Forderungen wie jene nach einem Shutdown der Wirtschaft zusammenzuschließen und zu einer politischen Bewegung zu formieren, die nicht nur an einzelne UnternehmerInnen Forderungen nach Durchsetzung gesundheitlicher Unversehrtheit richtet, sondern diese als allgemeine politische erhebt. Als Zweites zielen diese Forderungen darauf ab, Illusionen in den Klassenstaat zu brechen, um dabei eine Perspektive zu weisen, die von den bestehenden Problemen aus die Notwendigkeit der Selbstorganisation und schlussendlich den Bruch mit dem Privateigentum aufzeigt.

Kann man also Forderungen an den Staat stellen?

Die zentrale Zielsetzung unserer Forderungen besteht nicht in Erreichung kleiner Teilerfolge, sondern sie muss darauf abzielen, einen unversöhnlichen Klassenstandpunkt aufzuzeigen und zu popularisieren (vergl. Luxemburg: Sozialreform oder Revolution). Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem der Vorstoß von #ZeroCovid eine gewisse Doppeldeutigkeit annimmt, konkret an der Frage, wie die aufgestellten Forderungen umgesetzt werden können. Der Adressat der Online-Petition sind die „Deutsche Bundesregierung, Schweizer Bundesregierung, Österreichische Bundesregierung, Europäische EntscheidungsträgerInnen“ (siehe Petitionstext), während im Aufruf die Gewerkschaften aufgefordert werden, den Shutdown im Betrieb zu organisieren. Was von manchen somit als Appell an den Staat bezeichnet wird, ist unter Bedingungen einer klassenkämpferischen Bewegung in den Gewerkschaften und Betrieben ein Erzwingen zur Umsetzung der Maßnahmen gegenüber dem Staat.

Besonders interessant wird die verkürzte Darstellung von Forderungen an den Staat als rein appellierende Haltung, wenn wir uns andere soziale Bewegungen anschauen, allen voran Fridays for Future – eine Bewegung, die die meisten der ach so konsequenten linken Gruppen vermutlich (kritisch) unterstützen werden. Die Hauptforderung von FFF ist die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, womit sie sich direkt auf den Staat bezieht, sogar ganz ohne Bezugnahme auf Gewerkschaften. Hier wiederum kämpfen viele der SozialistInnen in und um FFF für ein Klassenprogramm. Eine kurze Frage an die SAV an der Stelle: Ist die Umsetzung der Forderungen der Umweltbewegung denn in der ArbeiterInnenklasse aktuell mehrheitsfähig? Eventuell ist die Sorge auch eher, dass dies in der Linkspartei schwer mehrheitsfähig ist bzw. einen politischen Kampf mit sich brächte.

Um die Notwendigkeit, Forderungen an den Staat zu stellen, zu verstehen, müssen wir uns kurz mit den drei Dimensionen des Klassenkampfes befassen, dem ökonomischen, politischen und ideologischen Klassenkampf (vgl. Lenin: Was tun?). Verkürzt gesagt, umrahmen sie idealtypisch folgendes Feld: Der ökonomische Klassenkampf bezieht sich auf die Verbesserungen des Verhältnisses bezahlter zu ausgebeuteter Lohnarbeit, der ideologische hingegen ist der Kampf um die Köpfe, besser um die Entwicklung von der Klasse an sich zur Klasse für sich, und im politischen Klassenkampf – um den es im Kern an dieser Stelle geht – richtet sich die ArbeiterInnenbewegung schlussendlich gegen das politische wie soziale System des Kapitalismus als Ganzes. Ziel ist es, die Herrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, somit auch ihren Staat zu schwächen, gar zu entmachten.

Charakter des „Autoritarismus“

Weiter oben haben wir verdeutlicht, dass die Forderung an den Staat mit der Mobilisierung der Klasse verbunden werden muss. Aus dem oben Gezeigten lässt sich auch leicht die Antwort auf eine Frage finden, die viele Linke anscheinend umtreibt: Führen Forderungen an den Staat denn automatisch zum Autoritarismus? Im Allgemeinen lässt sich sagen: Nein! Es hängt vielmehr jeweils davon ab, wessen Klasseninteressen, welche Anliegen sie zum Ausdruck bringen, nicht ob sie „autoritär“ sind oder nicht.

Bestünde ein solcher Automatismus hingegen, müsste jede Forderung nach sozialer Absicherung den Staat ein Quäntchen autoritärer machen, beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns. Auch bei #ZeroCovid geht es nicht um irgendwelche Forderungen an den Staat, sondern um die Forderung nach einem Shutdown des Gesamtkapitals.

Es ist kein Zufall, dass die Regierung bereit ist, einzelne, für die Mehrwertproduktion weniger wichtige Branchen zu schließen. Im Falle der Großindustrie setzt der reale Staat jedoch seine Macht ein, um solche Maßnahmen zu verhindern. Er sichert die Profite der Konzerne auf Kosten unserer Gesundheit. Die konkreten Maßnahmen, die #ZeroCovid vorschlägt, werden daher nur durch eine Bewegung erzwungen werden können. Selbst wenn sich der Staat genötigt sähe, diesem Druck vorübergehend nachzugeben, würden viele BürokratInnen und UnternehmerInnen kreativ nach Schlupflöchern suchen – ganz so wie wir das von der „autoritären“ Besteuerung der Unternehmen oder „autoritären“ Hygienevorschriften in Schlachtereien kennen. Große Konzerne würden versuchen, sich den Shutdown vergolden zu lassen. D. h. hier zeigt sich, dass die Frage der Erzwingung dieser Maßnahmen mit jener der Kontrolle durch die ArbeiterInnenklasse in den Betrieben und Stadtteilen verbunden werden muss.

Welche Forderung in wessen Interesse?

Vom Standpunkt der KapitalistInnenklasse und des KleinunternehmerInnentums sind staatliche Arbeitszeitbeschränkungen, Kündigungsschutz oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz natürlich „autoritär“. Vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse aus betrachtet hingegen oft löchrig wie Schweizer Käse. Für das Kapital wirkte sich die Kontrolle durch die Lohnabhängigen noch viel autoritärer aus als jene des Staates. Daher muss jede Kritik am „Autoritarismus“ auf ihren Klassencharakter hin überprüft werden. Der abstrakte, vom politischen und sozialen Inhalt einer Forderung abstrahierende „Antiautoritarismus“ entpuppt sich nämlich bei näherer Betrachtung als bürgerliche, arbeiterInnenfeindliche Ideologie.

Ist es denn kleinbürgerlich-moralisierend, Forderungen an den Staat zu stellen? Wie bereits verdeutlicht: Nein, nicht prinzipiell! Die Aufgabe ist es, die Forderungen, die in der Online-Petition formuliert werden, mit weiterführenden Kampfmaßnahmen zu füllen. Die Darstellung deren als kleinbürgerlich und staatsbejahend ignoriert vollkommen die Aufgabe von RevolutionärInnen, die Wirklichkeit dem Gedanken anzunähern und hat ausschließlich den praktischen Nutzen, im Nachhinein die eigene Passivität zu legitimieren. Eine solche Haltung tut in der Situation der Paralyse nichts anderes als dem vorherrschenden Bewusstsein in der Klasse, somit einem bürgerlichen, hinterherzulaufen. Deshalb: Nicht meckern, machen! Kämpft mit und in #ZeroCovid für eine proletarische Aktionsplattform im Kampf gegen Pandemie und Krise!