Kampf gegen Krieg bedeutet Kampf gegen die Inflation

Dilara Lorin, REVOLUTION, Debattenbeitrag zur Konferenz „Für einen revolutionären Bruch“, Infomail 1209, 9. Januar 2023

Die Welt, in der wir leben, beugt sich der kapitalistischen Ordnung und wird immer wieder durch Krisen heimgesucht. Aktuell treffen mehrere die Arbeiter:innenklasse oder verursachen neue oder gehen ineinander über. Eine, die Weltwirtschaftskrise, wurde vor allem durch den Ukrainekrieg und die Inflation noch einmal verschärft. Wir stehen jedoch an einem Wendepunkt der Entwicklung des globalen Kapitalismus, also inmitten einer Phase des globalen Klassenkampfes, die entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung nehmen wird. Die Krise geht notwendigerweise mit Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse, die Bauern-/Bäuerinnenschaft, die Jugend, die unteren und ärmeren Teile des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten einher.

Heute stehen Preissteigerungen im Zentrum der Angriffe auf die Einkommen und Lebensbedingungen der Massen. Mit der Entwicklung der Krise könnte dies jedoch in Deflation umschlagen, die mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung einhergeht, wie dies heute schon für bedeutende Teile der Halbkolonien gilt. Und auch wenn die Arbeiter:innenklasse in einer tiefen Krise steckt, das Fehlen einer revolutionären Führung dies noch einmal verschärft, schaffen es auf der anderen Seite die Herrschenden nicht, eine gemeinsame Antwort auf die aufkommenden Krisen zu geben, geschweige denn diese anzugehen. Das markiert eine Phase des Umbruches und es kommt auf die Arbeiter:innen an, wie schnell sie sich aufraffen und als Macht auftreten können.

Die imperialistischen Mächte befinden sich währenddessen in einem Kampf, welcher immer mehr zur Blockbildung zwischen China und den USA führt. Die russische Invasion in der Ukraine hat ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen aufgeschlagen, das erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung mit sich bringt. Der Ukrainekrieg hat sicherlich Bewegung in die Blockbildung (also die außen- und militärpolitische Ausrichtung der Staaten) gebracht. Die hirntot geglaubte NATO ist plötzlich wieder erwacht, die USA und die EU fanden wieder zueinander und die Beziehungen zwischen der EU und Russland scheinen ein für alle Mal zerbrochen. Die Integration von Schweden und Finnland in die Nato verdeutlicht dies zusätzlich und verschärft die Konfrontation mit Russland, welches nun tausende weitere Kilometer eine direkte Grenze mit einem NATO-Staat teilt. Das beispiellose Sanktionsregime der G7 zeitigt wegen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung Folgen weit über Europa hinaus. Die Blockade bedroht die  Ernährungssicherheit von etwa 50 Ländern in Afrika und Asien. Die Lebensmittelpreise sind 2020 um 28 % und 2021 um 23 % gestiegen; in diesem Jahr sind sie allein zwischen Februar und März um 17 % in die Höhe geschnellt. Hungersnöte und Hungerkrisen sind damit vorprogrammiert. Westliche Beschränkungen für russische Gas- und Ölexporte tragen ebenfalls zum Inflationsdruck bei und bringen heute schon, vor allem in Großbritannien, die Arbeiter:innen auf die Straße. Massive Preissteigerungen führen zu Hunger und Not und treiben die Inflation in Ländern an, die weit vom Schauplatz des Konflikts entfernt sind. Deutschland sowie Frankreich liegen immer mehr auf Linie der USA und haben ihre bis vor dem Krieg guten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland komplett auf Eis gelegt, ohne dabei die möglichen Auswirkungen auf die Arbeiter:innen einzubeziehen. Auf der anderen Seite treibt der Krieg Russland in die Armee des viel stärkeren chinesischen Imperialismus, und da Russland und China den Kern der riesigen eurasischen Landmasse bilden, stellen sie eine langfristige Bedrohung für die Welthegemonie der USA dar. Es wird deutlich, dass der Widerspruch zwischen USA und China die Weltlage maßgeblich bestimmt.

Im Kampf gegen Krieg, Aufrüstung und Militarisierung aber auch gegen die ökonomische Krise gab es in Deutschland mehrere Versuche, unterschiedliche Bündnisse aufzubauen. Doch keines war erfolgreich, eine wirkliche Kraft auf die Beine zu stellen. Wenn wir hier gegen den Krieg kämpfen wollen, müssen wir da anfangen, wo die Arbeiter:innenklasse am meisten betroffen ist und den Kampf auf Gewerkschaften und Betrieb ausrichten. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst bildet dazu eine aktuelle Gelegenheit.

Der Krieg verschärft immer mehr die Inflation in den NATO-Staaten. Der bewusst geführte Wirtschaftskrieg mit Sanktionen und Blockaden gegenüber Russland dient nicht dazu, dem russischen Imperialismus und dem Angriffskrieg in der Ukraine ein Ende zu setzen, sondern die eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Wir müssen als Antikapitalist:innen und Revolutionär:innen anfangen, den Kampf gegen den Krieg mit dem gegen Inflation und Krise zu verbinden. Hier formierten sich schon verschiedene Bündnisse aus Teilen der Linkspartei, Gewerkschaften und weiteren linken kleinen Gruppen. Doch auch diese leiden an einer Tendenz zur Zersplitterung.

Dem müssen wir bewusst entgegenwirken, die Kämpfe müssen verbunden werden. Wir brauchen dafür aber nicht etliche unterschiedliche Bündnisse, sondern eins, in welchem wir gemeinsam kämpfen. Dafür braucht es aber eine Aktionskonferenz, in welcher einerseits die verschiedenen Bündnisse zusammenkommen, andererseits gemeinsam diskutieren, welche Forderungen und Analysen aufgeworfen bzw. erstellt werden müssen. Wir sollten diese Vorschläge dabei nicht als Vorbedingungen überhaupt für eine gemeinsame Aktion unterbreiten. Einige mögliche Forderungen wären dabei:

  • Gegen alle Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Truppenverlagerungen, Waffenlieferungen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt daraus!
  • Keinen Cent für die imperialistische Politik! Abwälzung der Kosten, Preissteigerungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Erwerbslose, Rentner:innen, Niedriglöhner:innen, Übernahme gestiegener Wohnungskosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Bei direkter Intervention (z. B. Errichtung von Flugverbotszonen, Entwicklung neuer Brandherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!
  • Aufnahme aller Geflüchteten, Bleibe- und Staatsbürger:innenrechte für alle an dem Ort, wo sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt, Aufnahme in die Gewerkschaften!



Die „Letzte Generation“ – neue radikale Klimabewegung?

Jonathan Frühling, Infomail 1204, 14. November 2022

In den letzten Wochen ist die Bewegung mit dem Namen „Letzte Generation“ mit ihren Aktionen in aller Munde.

In Berlin laufen über 700 Ermittlungsverfahren gegen sie, über ein Dutzend sitzt im Gefängnis. Von Springer über AfD bis zum Staatsapparat hetzt alles, was Auto fährt und liebt gegen sie. Der Tod einer Radfahrerin wird gegen die „Letzte Generation“ instrumentalisiert. Es wird dreist gelogen und verschleiert, dass die Tausenden Verkehrstoten auf deutschen Straßen ein Massensterben sind, das Autoindustrie und Verkehrsministerium zu verantworten haben – nicht Klimaaktivist:innen.

Wir solidarisieren uns mit der „Letzten Generation“: Freiheit für alle ihre Gefangenen, keine Repression gegen Klimaschützer:innen!

Forderungen

Zugleich wollen wir die Bewegung, ihre Ziele und Kampfformen einer Kritik unterziehen. Wir halten diese für notwendig, gerade weil die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ selbst nach einem Weg suchen, wie die Bewegung effektiv werden und strategische Schwächen überwinden kann.

Die „Letzte Generation“ ist Teil des A22-Netzwerkes, welches angeblich Ableger in elf Ländern hat. Wenn man den Links von ihrer deutschen Webseite folgt, haben einige der Seiten jedoch kaum Inhalt, sind offline oder behandeln nur sehr spezifische Themen (für Brandschutz in Australien, für mehr Bahnlinien in Neuseeland). Wahrscheinlich gibt es nur in Deutschland und England größere Gruppen. Viele Aktivist:innen haben sich ihr wahrscheinlich deshalb angeschlossen, weil sie nach den erfolglosen Massenaktionen von FFF nach anderen, scheinbar radikaleren Aktionsformen gesucht haben.

Ihre Forderungen sind einfach: Es muss sich in den nächsten zwei bis vier Jahren etwas ändern, sonst sind die Folgen des Klimawandels unumkehrbar und bedrohen das Überleben unserer Spezies. Ihre Forderungen sind auf der Webseite in Form eines offenes Briefes an die Bundesregierung formuliert. Konkret wird dort nur das Tempolimit von 100 km/h sowie eine Neuauflage des 9-Euro-Tickets gefordert. Die Begründung der Aktivist:innen ist dabei, dass diese Forderungen sofort umgesetzt werden können. Wenn dies ausbleibt, dann sei die Politik der Bundesregierung entlarvt. Der darüber hinausgehende Forderungskatalog der Bewegung konnte bisher nicht aufgefunden werden.

Die Forderungen mögen richtig sein, doch ist es offensichtlich, dass sie nicht im Mindesten ausreichen, um die Vernichtung unserer Lebensgrundlage aufzuhalten. Nur die einfachsten Sofortforderungen zu stellen, wird uns zudem nicht reichen und auch nicht das Bewusstsein der Menschen entwickeln. Allgemein fällt auf, dass sie zwar auf die Probleme aufmerksam machen wollen, sich bei Lösungsvorschlägen aber sehr bedeckt halten.

Dies zeigte sich auch, als sie es 2021 im Interview mit Olaf Scholz ermöglichten, den deutschen Staat als Vorreiter der Klimapolitik und die „Letzte Generation“ als Schwarzmaler:innen ohne Lösungsansätze zu präsentieren.

Taktik und Ziel

Um ihre politische Ziele zu erreichen, greifen die Aktivist:innen auf die Taktik des zivilen Ungehorsams zurück. Sie kleben sich z. B. auf Straßen fest, um den Verkehr zu stören, oder bekleckern bekannte Gemälde mit Essen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dabei treten sie mit ihrem Namen auf und wollen die Gerichtsverhandlungen auch zum Politikum machen. Spannender Weise hat ein Gericht mit Verweis auf den Klimanotstand eine Aktion der „Letzten Generation“ am Brandenburger Tor als legitim bewertet. Nichtsdestotrotz krankt diese Taktik an mehreren Problemen.

Zunächst einmal sind dies alles symbolische Aktionen, die vor allem Aufmerksamkeit erzeugen. Es wird davon ausgegangen, dass die Öffentlichkeit und damit der gesellschaftliche Druck die Regierung zum Umdenken bewegen können. Ein paar Straßenblockaden und beschmierte Bilder werden einen Staat nicht zum Umdenken bewegen, der sich nicht davor fürchtet, Tausende an der Grenze der EU sterben zu lassen, Krieg zu führen und an der Vernichtung unserer Lebensgrundlage zu arbeiten.

Tatsächlich erlangen Politik und bürgerliche Presse durch die Aktionsformen sogar eine gute Möglichkeit, die „Letzte Generation“ zu diskreditieren. Anstatt die Herrschenden anzuschwärzen, richtet sich der Zorn gegen die Bewegung.

Letztlich ist die Taktik des zivilen Ungehorsams auch bei der „Letzten Generation“ Ausdruck eines Mangels. Es gibt keine wöchentliche Klimamassenbewegung mehr und selbst wenn, was vermochte diese schon zu bewegen?

Da wo Streiks wirklich wehtun – in der Produktion – gehen die sozialpartnerschaftlich den Bossen hörigen Gewerkschaften an der Klimakrise weitgehend vorbei. Einen politischen Klimastreik wird die feige Gewerkschaftsbürokratie niemals organisieren. Ihre Privilegien hängen selbst am deutschen fossilen Kapitalismus.

Die „Letzte Generation“ versucht, dies aus der Not der Klimakrise heraus durch selbstlose, subjektiv verständliche Taten auszugleichen, was natürlich nicht gelingen kann. Denn erstens verprellen sie durch Straßenblockaden zumindest einen Teil der Arbeiter:innen, die die Klimabewegung – Stichwort: Streik – eigentlich versuchen müsste zu gewinnen (wobei wir hier nicht entschuldigen wollen, dass sich welche trotz vorhandenen öffentlichen Nahverkehrs herausnehmen, täglich in ihrer klimatisierten Blechbüchse zur Arbeit zu kriechen, die Luft zu verpesten und als einzelner Mensch 12 qm Platz verbrauchen!).

Zweitens kann eine Taktik nie von den damit verfolgten Zielen getrennt werden. Da die Forderungen der „Letzten Generation“ nicht ausreichen, um national wie international etwas gegen die Klimakrise auszurichten, muss ihr Vorgehen als moralisch aufgeladener, ungenügender Radikalreformismus bezeichnet werden, der dem Kapitalismus mit seinem Staat fatalerweise die Möglichkeit unterstellt, dass er auch ökologisch nachhaltig funktionieren könnte.

Das kommt auch in dem erwähnten Brief an die Regierung zum Ausdruck. Für die „Letzte Generation“ erscheint der demokratische bürgerliche Staat als etwas über der Gesellschaft Stehendes, das mit genügend Öffentlichkeit und zivilem Ungehorsam in diese oder jene Richtung gedrängt werden könnte. So macht man es der ignoranten Regierung nur deutlich genug.

Das ist eine Illusion. Wahrscheinlicher ist, dass der Staat die Repression gegenüber der „Letzten Generation“ erhöht so wie es die Regierung NRWs mit „Ende Gelände“ gehalten hat. Der Staat ist eine Institution der herrschenden Klasse und über Parteispenden, Lobbygruppen usw. mit ihr verbunden. Der Staat weiß ganz genau, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern. Jedoch steht für ihn nicht die Erde, sondern das Profitinteresse des Kapitals an erster Stelle. Das hat er oft genug bewiesen, und in einer Welt, in der die Konkurrenz die erste Treibkraft von allem ist, kann er auch nicht anders.

Revolutionäre Alternative

Wir brauchen keinen „Vertrauensbeweis“ der verlogenen Regierung, wie es die „Letzte Generation“ fordert. Sie liefert täglich den Beweis, dass sie unsere Generation der Dystopie ausliefert. Was juckt sie die Zukunft in der kapitalistischen Realpolitik der Gegenwart?

Wir müssen die Herrschenden da treffen, wo es wehtut: beim Profit. Doch das können wir nur erreichen, wenn wir wirkliche Klimastreiks organisieren und diese militant gegen Polizei und rechte Schläger:innen verteidigen. Die Klimabewegung muss den Schulterschluss mit der Arbeiter:innenklasse und oppositionellen Teilen der Gewerkschaften suchen. Diese besitzen das Know-how, wie eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft aussehen könnte – und sie sind auch zentral dafür, die Gewerkschaften selbst zu Kampforganisationen zu machen. Blockaden können nur gezielt und im besten Fall als demokratische Massenaktionen z. B. gegen Waffentransporte oder Kohlekonzerne ihre volle Wirkung entfalten. Nur so können wir sicherstellen, dass es eine Akzeptanz gibt, und weitere Menschen mit einbeziehen.

Der Klassenstandpunkt und die Position gegen den Staat sind essenziell für eine erfolgreiche Klimapolitik. Unser Planet wird für die Profitinteressen des Kapitals zerstört. Nur wenn wir den Kapitalismus überwinden, kann es eine ökologisch nachhaltige Wirtschaft geben. Neben Sofortmaßnahmen (Tempolimit, kostenloser Nahverkehr, massive Klimasteuer auf fossile Profite, keine weiteren Autobahnbauten … ), die durch Streiks erzwungen werden könnten, müssen wir deshalb Forderungen diskutieren, die zur Auflösung des Kapitalismus und zu einer klassenlosen Gesellschaft führen: Verstaatlichung der Industrie unter Arbeiter:innenkontrolle, Reorganisierung der Produktion in einer demokratischen Planwirtschaft, Ersetzung des bürgerlichen Staates durch eine Rätedemokratie.




Revolutionärer Bruch braucht Programm

Stellungnahme von Genoss:innen von REVOLUTION zur Landesvollversammlung Linksjugend [’solid] Berlin, Infomail 1202, 23. Oktober 2022

Am 10. Oktober 2022 veröffentlichten junge Sozialist:innen, die in der Linksjugend [’solid] aktiv sind, eine Erklärung unter dem Titel „Für einen revolutionären Bruch mit der Linkspartei und [’solid]“. Wir begrüßen die Diskussion um den Aufbau einer revolutionär-sozialistischen Partei in Deutschland, an der wir uns aktiv beteiligen wollen. Hier spiegeln wir eine Erklärung von mehreren Genoss:innen, die begannen, sich in [’solid] zu politisieren und im Verlauf des letzten Jahres auch der Jugendorganisation REVOLUTION anschlossen. Sie stellen hier ihre Ansichten zu den Grundlagen einer neuen revolutionären Kraft zur Diskussion.

Revolutionärer Bruch braucht Programm!

Autor:innen: Brokkoli Bittner (REVOLUTION Berlin, Linksjugend Solid Stadtrand Ost); Stephie Goetz (ehemalige Schatzmeisterin und Landessprecherin Solid Berlin, REVOLUTION Berlin und Linksjugend Solid Nord-Berlin); Jona Everdeen(REVOLUTION Berlin, Linksjugend Solid Kreuzkölln); Mao Meier (REVOLUTION Berlin, Linksjugend Solid Stadtrand Ost)

Die Weltgesellschaft befindet sich wahrhaftig an einem Wendepunkt. Die Bewegungen der Lohnabhängigen und sozial Unterdrückten sehen sich mit einer grundlegend neuen Situation konfrontiert.

Mit dem Krieg in der Ukraine hat auch eine allgemeine Auseinandersetzung um die Neuaufteilung der Welt begonnen. Großmächte wie China, Russland, Indien, die USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien bereiten sich auf einen globalen militärischen Konflikt vor, der die gesamte Zivilisation zerstören könnte. Die Diskussion über die Gefahr eines Dritten Weltkriegs ist in den offiziellen Medien, in den Reden von Politiker:innen und im alltäglichen Gespräch kein Tabu mehr. Gerade für die Jugend gilt es zu verhindern, dass er je ausbricht.

Die Klimakatastrophe ist heute. Verwüstung, Trockenheit und Feuer wechseln sich mit Fluten, Überschwemmungen und Stürmen ab. Gleichzeitig erleben wir ein apokalyptisches Artensterben. Wir erleiden die Belastung unseres Planeten mit immer mehr Müll, die Vergiftung unseres Trinkwassers und unserer Nahrung. Während allein in diesem Jahr weltweit eine Billion US-Dollar für den Militarismus ausgegeben wurden, bleibt die ökologische Transformation aus, die uns bürgerliche Politiker:innen und Konzerne immer wieder versprachen. (Das sind 1.000.000.000.000 US-Dollar oder eintausend Milliarden US-Dollar.) Wenn wir die Zukunft der jungen Generation sichern wollen, braucht es einen radikalen Systemwechsel.

Gleichzeitig brach mit der Coronapandemie auch eine außerordentliche Wirtschaftskrise des Kapitalismus aus. Die Lohnabhängigen, kleine Bauern/Bäuerinnen und Gewerbetreibende sowie die städtische und ländliche Armut werden unter dieser Krise erdrückt. Große Teile der Welt erleben eine massive Hungerkrise. Auch hier in Deutschland überschritt die Inflation zuletzt die 10 %-Marke. Viele bangen um ihre Arbeit und Wohnung, fürchten sich vor der nächsten Gasrechnung oder dem Einkauf. Mehr als 16 % der Bevölkerung lassen eine Mahlzeit aus, um zu sparen. Währenddessen vermehrt sich der Reichtum der großen Kapitalist:innen. Wenn wir nicht erneut wie 2008 für die kapitalistische Krise zahlen sollen, braucht es einen entschlossenen Kampf von unten.

Diese drei Menschheitsfragen können nicht durch den Kapitalismus gelöst werden, denn er hat sie hervorgerufen.

  • Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die sich an den Bedürfnissen der gesamten Menschheit ausrichtet, auch der Generation von Morgen.
  • Wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der demokratische Teilhabe nicht von der Wirtschaftsmacht einer Region, von einzelnen Staaten, Verbänden oder Individuen abhängig ist.
  • Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die frei von Privilegien ist, von Privilegien, die andere Menschen kleinmachen, ausgrenzen und ihre Ausbeutung ermöglichen.

Das einzige Privileg, für das wir kämpfen, ist, der Menschheit eine Zukunft auf diesem Planeten zu sichern. Wir streben eine Zukunft an, in der wir gleichberechtigt unsere Lebenszeit voll ausschöpfen und genießen können. Wir wünschen uns eine Gesellschaft, in der die Fähigkeiten und Interessen von Kollektiven und Individuen voll zur Entfaltung kommen können. Um diese Zukunft zu sichern, müssen die Technologien zu produktiven Kräften werden statt zu Mechanismen der zunehmenden Kontrolle oder gar Zerstörung der Welt. Wir brauchen Formen des Zusammenlebens, die sich freimachen von der Irrationalität, dem Hass und der Lüge der heutigen Zeit. Eine Gesellschaft, in der stattdessen der Drang nach Wissen, Austausch und dem Verständnis unserer Existenz im Vordergrund stehen.

Diese Gesellschaft nennen wir Sozialismus.

Wir müssen aber feststellen, dass wir diesem Ziel heute sehr fernstehen.

Mit dem Beginn der Krise 2007 hoffte eine ganze Generation junger und alter Menschen auf ein Ende des Kapitalismus. Im gleichen Jahr wurden DIE LINKE und die Linksjugend [’solid] gegründet. Fünfzehn Jahre später steckt DIE LINKE in einer tiefen Krise. Heute fürchten die Kapitalist:innen in Deutschland nicht die linke Erhebung – eine weitverbreitete Sorge der damaligen Zeit, als Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung davon sprachen, dass Marx zurück sei. Stattdessen müssen Lohnabhängige heute den Aufstieg der Rechten fürchten und unter der unsozialen Politik der Regierung leiden.

Es fehlt aber nicht an den objektiven Bedingungen, dieses Ziel zu erreichen. Es fehlt an einer Kraft, die für dieses Ziel entschlossen kämpft. Wir denken, DIE LINKE ist nicht diese Kraft. Denn sie formuliert nur ein vages Ziel. Sie hat die Kampfkraft der Lohnabhängigen in den letzten fünfzehn Jahren nicht gestärkt, sondern ihre Hoffnung auf grundlegende Veränderungen enttäuscht und ihre Moral durch eine Reihe von prinzipienlosen Regierungsbeteiligungen gebrochen. Aktuell streitet sie darüber, ob die deutsche Regierung nun die blödeste Europas sei oder nicht. Stattdessen sollten wir uns darauf konzentrieren, dass es eine kapitalistische Regierung ist, die unsere Interessen nicht umsetzt. DIE LINKE scheitert auch praktisch, sie ist zerstritten und nicht das Zentrum eines linken Widerstandes gegen die Dreifachkrise.

Dies hat tiefere Gründe. Denn alle drei relevanten Flügel der LINKEN (Bewegungslinke, Wagenknecht und Reformer:innen) haben eine politische Schwäche gemeinsam. Sie richten ihre Politik letztlich primär auf die graduelle Reform eines Systems aus, das nicht grundlegend reformierbar ist. Ihr Hauptvehikel bleiben dabei letztlich mehr oder weniger das Parlament und der bürgerliche Staat. Wir erkennen hingegen wirklich an, dass die heutige Welt in Klassen aufgeteilt ist. Einerseits in jene, die Land, Ressourcen und Produktionsmittel besitzen, direkt oder indirekt die Grundlagen der Politik der heutigen Staaten bestimmen. Andererseits in jene, die dies nicht tun. Ein Großteil dieser zweiten Klasse sind die Lohnabhängigen dieser Welt.

Für uns ist das nicht einfach eine Phrase, sondern geht mit praktischen Verpflichtungen einher. Es heißt, dass die Welt von den Interessen einer kapitalistischen Minderheit bestimmt ist. Diese bestimmt letztlich das Schicksal der „Wirtschaft“. Auch das vorherrschende Denken ist das Denken der Herrschenden, solange ihre Herrschaft nicht in Frage gestellt wird.

Das bedeutet, dass wir unser Ziel nur durch eine Politik verändern können, die diese herrschende Klasse herausfordert. Das bezeichnen wir als revolutionären Klassenkampf.

Die erdrückende Mehrheit in DIE LINKE und der Linksjugend [’solid] und wichtiger ihr Apparat aus Funktionär:innen und Mandatsträger:innen bestimmen letztlich die Praxis dieser Partei,

vertreten keine klassenkämpferische Politik. Sie vertreten eine Politik, die wir als Reformismus bezeichnen, die im besten Fall glaubt, durch graduelle Reformen den Sozialismus zu erreichen. In der Praxis ist es aber eine Politik und ein soziales System, dass die Lohnabhängigen an die Unternehmen der Kapitalist:innen und „ihren Staat“ bindet und ihnen unterordnet.

Wir glauben, dass es einen grundlegenden Bruch mit dem politischen Programm und der organisatorischen Praxis der LINKEN und Linksjugend [’solid] benötigt, wenn wir unsere Zukunft sichern wollen. Denn mit dieser Politik ist ein wirklicher Systemwechsel ausgeschlossen.

Deshalb unterstützen wir von REVOLUTION den Aufruf zu einer Konferenz, in der alle kritischen Teile der Linksjugend [’solid] und der LINKEN zusammenkommen, die eine Politik wünschen, die für einen Systemwechsel eintritt und dies mit Klassenkampf verbindet.

Um der heutigen, neuen Situation gerecht zu werden, muss es unser Anliegen sein, die antikapitalistischen Teile der Klimabewegung, der kämpferischen Gewerkschafter:innen, die klassenkämpferischen Teile der antirassistischen und feministischen Bewegung in einer gemeinsamen Partei zu vereinigen, um solch einen Systemwechsel, eine sozialistische Revolution möglich zu machen.

In siebzehn Punkten möchten wir hier unsere grundlegenden Überlegungen äußern, welche Strategie und Organisationsform solch eine Partei kennzeichnen sollten, und wie sie für den Sozialismus unter den aktuellen Bedingungen in Deutschland kämpfen müsste.

  1. Wir befürworten Reformen. Wir unterstützen jede Reform, die unsere unmittelbare Lebensgrundlage verteidigt oder verbessert. Das trifft auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu, von der Erhöhung von Löhnen, der sofortigen Umsetzung von Maßnahmen zur Rettung der Umwelt bis zur Abschaffung von Praktiken oder Gesetzen, die rassistische, sexistische oder homophobe Unterdrückung zementieren.
  2. Wir müssen für Reformen kämpfen. Die Reichen, die Bänker:innen, Industriellen und Großgrundbesitzer:innen, die bürgerlichen Politiker:innen und staatliche Institutionen werden uns nichts freiwillig geben. In diesem Klassenkampf um Reformen richten wir uns nicht an dem für die herrschende Klasse „Machbaren“ aus. Wir schlagen immer den Kampf für das zum Leben und Überleben der Lohnabhängigen und der Menschheit „Notwendige“ vor.
  3. Wir befürworten den Antritt zu Wahlen. Sozialist:innen sollten ihre Ansichten dort und im Parlament zum Ausdruck bringen. Sie sollen aber den Kampf um Reformen und für die Revolution verbessern und nicht zur Integration in jene bürgerlichen Regierungen und den bürgerlichen Staat führen, in denen es sich auch DIE LINKE bequem gemacht hat.
  4. Das strategische Ziel des Sozialismus bestimmt also unsere Taktik. Wir unterscheiden uns hier grundlegend von der reformistischen Politik der LINKEN oder der Gewerkschaftsführung. Denn diese ordnen ihre Forderungen und Praxis dem unter, was die Koalitionspartner:innen oder Konzernchef:innen als „machbar“ verkaufen. DIE LINKE beteiligt sich an der Verwaltung des kapitalistischen Systems in bürgerlichen Regierungen, was wir kategorisch ablehnen. Gleichzeitig fordern wir reformistische Parteien und die Gewerkschaften immer wieder dazu auf, für konkrete Forderungen zu mobilisieren und kämpfen. Eine zentrale Kritik, die wir aktuell an ihnen üben, ist gerade, dass sie nicht entschlossen gegen Inflation, Krise, Krieg und Umweltzerstörung kämpfen. Wir fordern sie also jederzeit dazu auf, eine gemeinsame Front für die Erkämpfung von Reformen zu schließen. Aber wir begrenzen unsere eigenen Aktivitäten, Forderungen und unser Programm im gemeinsamen Reformkampf nicht auf das, was die Führer:innen der Gewerkschaften oder der LINKEN für „machbar“ halten. Wir sagen jederzeit, was wir für „notwendig“ erachten und erhöhen dabei die Selbstorganisierung der kämpfenden Basis.
  5. Der Kampf um Reformen hat einen realen Zweck im Hier und Jetzt. Dieser Reformkampf ist nicht einfach ein „Trick“.Wenn wir zum Beispiel von unserem Lohn nicht leben können, dann muss er sofort steigen. Aber gleichzeitig kann der Sozialismus nicht ohne eine Revolution erreicht werden. Sozialist:innen werden dies in jedem Reformkampf betonen und ihn so führen, dass sie die Revolution vereinfachen, denkbar machen und vorbereiten.
  6. Sozialist:innen können die Revolution propagieren. Die Revolution machen kann aber nur die Klasse der Lohnabhängigen. Sie ist eine wirkliche soziale Kraft und auch nur durch ihre Revolution gegen die Diktatur des Kapitals kann eine Zukunft gesichert werden, in der es eine Demokratie der Lohnabhängigen anstatt einer stalinistischen Dystopie gibt.
  7. In Deutschland kann kein ernsthafter Reformkampf gewonnen werden, keine Revolution ohne die Gewerkschaften geschehen. Eine zentrale Aufgabe ist es daher auch, sie für eine Politik des entschlossenen Reformkampfes und für den Sozialismus zu gewinnen. Es gibt eine riesige Klasse in Deutschland, aber sie ist von einer reformistischen Bürokratie beherrscht oder anders gesagt von Menschen kontrolliert, die mit einem Parteibuch der SPD, der Grünen oder auch der LINKEN ausgestattet sind. Diese Bürokratie sitzt in Aufsichtsräten, staatlichen Institutionen und erhält zum Teil riesige Gehälter. Aber sie vertritt nicht unsere Interessen. Sie glaubt, „die deutsche Wirtschaft“, das heißt die Profite der Kapitalist:innen, wären das Maß aller Dinge. Zum Teil verhindert oder verschleppt diese Bürokratie auch die Organisierung ganz neuer Schichten der Lohnabhängigen. So verweigerte sie lange den Zutritt von Geflüchteten in die Gewerkschaften. Sie müssen wieder zu Orten der Demokratie und des Kampfes der Lohnabhängigen werden. Eine zentrale Aufgabe ist es also heute, eine klassenkämpferische Basisopposition in den Gewerkschaften aufzubauen. Dies schließt auch die Auseinandersetzung mit weitverbreiteten Illusionen und Ideologien des Reformismus sowie unterschiedlichen Formen des Chauvinismus unter einfachen Gewerkschaftsmitgliedern selbst ein.
  8. Denn die Klasse ist aktuell gespalten: durch nationale Unterschiede, vermittels imperialistischer und halbkolonialer Kriege, aufgrund von sexistischer, rassistischer, homophober Unterdrückung und auch unterschiedlicher sozialer Stellung einzelner Schichten der Lohnabhängigen. Es ist eine zentrale Aufgabe, diese Spaltung in der gemeinsamen Auseinandersetzung zu überwinden. Daher kämpfen wir auch für den Aufbau einer sozialistischen Internationale, die alle diese Auseinandersetzungen miteinander verbindet. Die gemeinsame internationale Organisierung ist das beste Mittel gegen den Chauvinismus.
  9. Der/die Hauptfeind:in steht im eigenen Land. Diese Hauptfeind:innen sind für uns die Klasse der deutschen Kapitalist:innen und der mit ihr verbundene Staat. Das heißt für uns auch, dass wir uns nicht ihren außenpolitischen Ambitionen anschließen. Wir lehnen jede Form des Imperialismus und Militarismus ab. Nur weil in Deutschland nach innen größere demokratische Rechte gewährt werden als beispielsweise in China oder Russland, heißt das nicht, dass deutsche Waffen, die an die Saudis und Türkei verkauft und im Jemenkrieg und in Kurdistan eingesetzt werden, demokratischer seien. Es heißt nicht, dass deutsche Bundeswehrsoldat:innen die Demokratie in Mali, Afghanistan oder im Irak verteidigt haben. Das können nur die demokratisch und sozialistisch organisierten Lohnabhängigen dieser Länder selbst. Die ökonomische, diplomatische und militärische Intervention Deutschlands unterbindet aber solche Prozesse immer wieder.
  10. Gleichzeitig wissen wir auch, dass es andere Großmächte wie Russland, China, die USA, Japan, Frankreich oder Großbritannien gibt. Wir stehen an der Seite keiner dieser Staaten. In der militärischen Auseinandersetzung zwischen ihnen sagen wir: „Dreht die Waffen um! Kämpft nicht gegen die Menschen des anderen Landes!“ Stattdessen sollten die Lohnabhängigen und die ins Militär eingezogene Jugend gegen ihre „eigenen“ Kapitalist:innen, Diktator:innen oder bürgerlichen Regierungen und für eine sozialistische Revolution kämpfen.
  11. Wir tun alles uns Mögliche, um den Aufbau von Gewerkschaften, sozialen und ökologischen Bewegungen sowie von sozialistischen Parteien in anderen Ländern zu unterstützen. Uns interessieren die konkreten Kämpfe und die Debatten unserer Klassengeschwister im Ausland. Wir beteiligen uns an einer internationalen Debatte, anstatt nationale Borniertheit zu betreiben.
  12. Dies muss sich auch durch den Aufbau einer sozialistischen Partei der Lohnabhängigen in Deutschland ausdrücken, die alle diese Aspekte hier vor Ort vereint. Jeder Kampf gegen jede Form von Unterdrückung ist unser, denn wer ist denn lesbisch, schwul, schwarz, weiblich oder geflüchtet, wenn nicht wir Lohnabhängigen?
  13. Eine revolutionäre Partei braucht ein revolutionäres Programm, auf dessen Basis die Mitglieder gemeinsam und verbindlich agieren. Dieses Verständnis unterscheidet sich grundlegend von dem der Linkspartei, deren Programm keine praktische Bedeutung für die tägliche Aktivität hat. Letztlich erwarten nicht einmal ihre Mitglieder, dass sie für ihr Programm kämpft. Wir hingegen halten es für notwendig, ein Programm zu diskutieren und zu erarbeiten, das als Anleitung zum Handeln dient, das den Kampf um soziale, ökonomische und politische Rechte mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur auf dieser Basis kann das gemeinsame, verbindliche Agieren einen demokratischen und befreienden Charakter haben.
  14. Dieser Prozess muss auf der Grundlage der vollen und freien politischen Diskussion beruhen. Gleichfalls bedarf es aber auch der gemeinsamen und verbindlichen Umsetzung von beschlossenen Aktionen. Für uns bedeutet „Partei“ also nicht, einen Wahlverein zu gründen, der beständig die eigenen Versprechen in bürgerlichen Regierungen bricht, bürokratisch agiert und die Aktivität der Basis lähmt. Für uns ist die „Partei“ ein Zusammenschluss der kämpferischsten Aktiven, der Jugend, der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, die aus den Niederlagen und Siegen der Vergangenheit gemeinsame Schlüsse ziehen, diese in der täglichen Praxis im Kampf um Reformen überprüfen, dynamisch neue Erfahrungen machen, diese mit der breiteren Arbeiter:innenbewegung und den sozialen Bewegungen diskutieren und so im täglichen Handgemenge die Strategie der Revolution erklären und erfahrbar machen. Wir reden also von einer Form der Organisation, die einerseits das Bewusstsein, das Selbstvertrauen und die Selbstorganisierung unserer Klasse so steigert, dass die Revolution kein abstraktes, fernes Ziel ist, sondern etwas, das zunehmend durch die gewonnenen Erfahrungen denk- und auch machbar wird. Die reformistischen Parteien, vor allem DIE LINKE, bilden das Gegenteil einer solchen Praxis.
  15. Wir treten für den Aufbau einer revolutionären Jugendorganisation ein, die von der Partei ernst genommen, aber nicht von ihr bürokratisch beherrscht wird, eine Organisation mit einem sozialistischen Programm, das sie gemeinsam mit der Partei erarbeitet, in der Jugendliche aber selbstbestimmt ihre eigenen Erfahrungen und ohne Angst vor Rüge auch Fehler machen können.
  16. Die Revolution machen heißt, den bürgerlichen Staat zu zerbrechen. Die kapitalistische Justiz, Regierung, Polizei, Militär und Bürokratie werden uns die Zukunft nicht gewähren, die wir brauchen, um zu überleben. Sie müssen zerschlagen und durch eine Rätedemokratie der Lohnabhängigen ersetzt werden, die ihre Revolution auch verteidigen kann.
  17. Eine der ersten ökonomischen Aufgaben nach einer Revolution wäre die Umwandlung zu einer demokratischen Wirtschaft, die nach den Interessen von Mensch und Natur plant und ein Notfallprogramm durchsetzt, um den ökologischen Kollaps zu verhindern, das 1,5-Grad-Ziel und die Ernährungs- und Energiesicherheit zu gewährleisten.

Diese Überlegungen stellen unserer Meinung nach noch kein Aktionsprogramm im eigentlichen Sinn dar. In den kommenden Monaten wird es unsere gemeinsame Aufgabe sein, ein solches gemeinsam mit all jenen innerhalb und außerhalb der LINKEN zu diskutieren, die auf einen neuen Morgen hoffen. Auch heute gibt es in Deutschland Zehntausende, die sich tagtäglich für eine Welt ohne Kapitalismus einsetzen, sei es in der Klimabewegung, in antirassistischen und feministischen Kämpfen und in gewerkschaftlichen oder betrieblichen Auseinandersetzungen mit den Chef:innen. Aber es fehlt uns an einer gemeinsamen revolutionär-sozialistischen Kraft. Es ist Zeit, sie aufzubauen!

Wenn du oder deine Gruppe diese Ansichten teilt, könnt ihr diese Erklärung ebenfalls unterzeichnen, nicht zuletzt um den Austausch unterschiedlicher Aktiver zu erleichtern.

Wenn ihr den Aufbau einer neuen revolutionär-sozialistischen Partei teilt, aber Punkte in dieser Erklärung diskutieren möchtet, sind wir bereit, eure Antwort als Debattenbeitrag zu veröffentlichen.

Schreibt uns an!

Mail: germany@onesolutionrevolution.de




Nachruf auf Inge Viett

Martin Suchanek, Infomail 1188, 11. Mai 2022

Am 9. Mai starb Inge Viett im Alter von 78 Jahren, eine langjährige Genossin und mutige Kämpferin gegen Kapitalismus und Imperialismus. Alle, die sie kannten, alle, die mit ihr politisch zusammengearbeitet haben, verloren nicht nur eine verlässliche und solidarische Mitstreiterin. Unsere Anteilnahme, unser Mitgefühl gilt ihren Freund:innen und engsten Kampfgenoss:innen.

Mit Inge Viett verstarb eine Aktivistin, mit der wir trotz politischer Differenzen bei wichtigen Mobilisierungen solidarisch und fruchtbar zusammengearbeitet haben – sei es zum revolutionären 1. Mai in Berlin, gegen die Münchner SiKo, gegen den Afghanistankrieg oder den G8-Gipfel in Heiligendamm.

Lebensweg

Mit Inge Viett verstarb aber auch eine Genossin, deren Lebensweg eine biographische Reflexion der (west)deutschen Linken darstellt. In der Rekonstruktionsperiode des westdeutschen Kapitalismus unter Adenauer und Co. groß geworden, durchlebte sie diese Verhältnisse als Pflegekind und Objekt sog. „Jugendfürsorge“. Die miefige, erzkonservative Realität des Nachkriegsdeutschlands erlebte sie von Kindheit an als repressive, entmenschlichende Wirklichkeit, fernab der damaligen und späteren Mythologisierung.

Der Aufbruch der 1968er, die Apo, die Student:innenrevolte, der Kampf gegen den Vietnamkrieg sowie die Eindrücke einer mehrmonatigen Reise nach Nordafrika trieben ihre Politisierung und Radikalisierung und prägten sie nachhaltig.

Sie entschied sich wie etliche der entschlossensten Kämpfer:innen ihrer Generation für den bewaffneten Kampf, für die Bewegung 2. Juni und später für die RAF als Teil eines internationalen antiimperialistischen Befreiungskampfes.

Ihre eigene Entschlossenheit vermochte freilich die inneren Widersprüche, Grenzen und strategischen Fehler des „bewaffneten Kampfes“ nicht zu überwinden. Wie jede Form des „individuellen Terrorismus“ ersetzt diese Strategie die bewusste Aktion der Arbeiter:innenklasse, sowohl die mühsame vorbereitende politische und organisatorische Arbeit wie die zielgerichtete Zusammenfassung ihre Kräfte in der Revolution durch die entschlossene Tat eine verschworenen Gruppe. Auch wenn dies nicht die Intention sein mag, so tritt anstelle der Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt eine Kleingruppe, deren Aktionen das System demaskieren und die Massen elektrisieren sollen.

Diese Strategie war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Dass aufrechte Revolutionär:innen und keinesfalls, wie die bürgerliche, aber auch reformistische Legendenbildung gern nachträglich darlegt, „Verrückte“ diesen Schritt gingen, muss aus dem historischen Kontext verstanden werden. Nicht nur die offen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP, auch die SPD unter Brandt unterstützten den barbarischen imperialistischen Krieg gegen Vietnam, rollten dem Schah und seinen Schlägern den Teppich aus. Die SPD beteiligte sich an der Großen Koalition und stimmte deren Notstandsgesetzen 1968 zu. 1972 verabschiedete das sozialliberale Kabinett den Radikalenerlass, also weitreichende Berufsverbote im öffentlichen Dienst.

Trotz dieser Politik konnte ein Großteil der radikalisierten Studierenden über den vorgeblich linken Reformismus von Jusos und Teilen der SPD erfolgreich über den opportunistischen „Marsch durch die Institutionen“ reintegriert werden. Linkes Selbstbild und (klein)bürgerliche Karriere konnten so ganz nebenbei auch in Einklang gebracht werden.

Der radikale Teil der Apo war von der imperialistischen Politik der Brandt-Regierung und von diesem Opportunismus verständlicherweise abgestoßen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Genoss:innen wie Inge Viett den, wenn auch falschen Schluss zogen, sich dem bewaffneten Kampf als radikaler Alternative anzuschließen, die einen endgültigen Schlussstrich unter jede Kooperation mit dem Feind, mit dem Schweinesystem zog.

Nachdem sie rund ein Jahrzehnt dem bewaffneten Kampf gewidmet hatte, setzte sich Inge Viett 1982 in die DDR ab, wo sie unter neuer, wenn auch wechselnder Identität bis zur Wende arbeitete. Ihr Verhältnis zum „real existierenden Sozialismus“ blieb freilich ein problematisches. So scharf sie die Entfremdung der Arbeiter:innenklasse im westlichen Kapitalismus kritisierte, so blieb ihr Blick auf die DDR, genauer auf die politische Herrschaft der Bürokratie über die Arbeiter:innenklasse verklärt. Die zunehmende Entfremdung der Lohnabhängigen von auf „ihrem“ Staat, den diese in Wahrheit kommandierte und nicht umgekehrt, vermochte sie nicht politisch und begrifflich zu fassen.

Nach dem Mauerfall

Nach der kapitalistischen Wiedervereinigung wurde der deutsche Staat der „Terroristin“ habhaft. Inge Viett wurde im Juni 1990 verhaftet und 1992 zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, von denen sie bis Januar 1997 die Hälfe absitzen musste. Die Reststrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt.

Anders als einige andere ehemalige Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni distanzierte sich Inge Viett nie öffentlich vom bewaffneten Kampf. Kritisch bemerkte sie aber an, dass dieser eine Unterstützung in tragfähigen Teilen der Bevölkerung voraussetze. Diese Bemerkung versucht zweifellos, ein reales Problem dieser Strategie aufzufangen, jedoch ohne deren grundlegenden, inneren Widerspruch in den Griff zu bekommen.

Die Schwäche des bewaffneten Kampfes oder aller Strategien des individuellen Terrors, wie sie schon der Bolschewismus scharf kritisierte, liegt nicht darin, dass der Kampf auf einer bestimmten Stufe auch bewaffnet geführt werden muss. Wäre dem so, müssten wir auch jede militante Selbstverteidigung von Streiks, jeden Schutz gegen Angriffe von repressiven Kräften, Streikbrecher:innen oder Rechten ablehnen. Im Gegenteil. Wer die Herrschaft des Kapitals brechen will, muss auch die Mittel akzeptieren, die dazu notwendig sind. Die Bewaffnung des Proletariats und das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie sind  unerlässliche zentrale Aufgaben jeder sozialistischen, jeder proletarischen Umwälzung.

Aber diese revolutionäre Zuspitzung kann nicht durch die für sich genommen sehr entschlossene, gewaltsame Tat einer kleinen Gruppe herbeigeführt werden. Vielmehr erfordert diese erstens eine massenhafte Eruption der inneren Widersprüche einer Gesellschaft, zweitens eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die der unterdrückten Klasse eine Stoßrichtung und Führung zu geben vermag.

Zu dieser Kritik konnte sich Inge Viett nie durchringen, auch wenn sie ihren Kampf, ihren Aktivismus keinesfalls als bloß individuelle Konzeption, sondern immer als Teil eines globalen Befreiungskampfes, des Klassenkampfes verstanden wissen wollte.

Dass sich Inge Viett von ihrer Vergangenheit nicht zum Gefallen der bürgerlichen Öffentlichkeit distanzierte, gereicht ihr zur Ehre und unterscheidet sie wohltuend von den vielen nachträglichen Bekenner:innen und Kronzeug:innen.

Feindbild der Bürgerlichen

Für die bürgerliche Öffentlichkeit, das heißt vor allem für die vom Staat und von privaten Konzernen monopolisierte veröffentlichte Meinung, blieb Inge Viett zeitlebens ein Objekt des Hasses, des Anstoßes, der Verleumdung.

Dabei ging es keineswegs nur darum, ob sie nachträglich Reue empfinde oder sich von ihren Taten distanziere. Im Grunde geht es bei diesen ritualisierten Bekenntnissen niemals nur um eine Abwendung von einzelnen Taten oder Aktionen, sondern immer auch um eine Abkehr von den Zielen. Was nützt der herrschenden Klasse schließlich eine „Terroristin“, die sich kritisch zu einzelnen Taten verhalten mag, sich gleichzeitig jedoch weiter zum Ziel des Kommunismus bekennt und diesen mit revolutionären Mitteln herbeiführen will?

Genau diesen Zielen hat Inge Viett nie abgeschworen – und das machte sie zu einer Persona non grata, einer Aussätzigen im öffentlichen Betrieb. Die bürgerlichen Medien griffen dabei auf eine recht typische, doppelte Form der Diffamierung zurück.

Einerseits überzogen sie Inge Viett mit sarkastischen Bemerkungen, mit Hohn und Beleidigungen, weil sie als „Terroroma“ nicht nur alt, sondern auch aus der Zeit gefallen sei. Die einst gefährliche Verrückte wäre jetzt nur noch eine harmlose Närrin.

Andererseits schien man sich der Sache doch nicht so sicher. Inge Viett wurde zugleich  dämonisiert. Schon wer sich mit ihr auf ein Podium zur Diskussion setzte, geriet in den Geruch, Staatsfeind zu sein. So geschehen bei der damaligen Vorsitzenden der Linkspartei, Gesine Lötzsch, gegen die 2010/11 eine regelrechte Hetzkampagne von Spiegel und Co. gestartet wurde, weil sie vorhatte, mit Inge Viett öffentlich über „Wege zum Kommunismus“ zu diskutieren.

Entgegen den Intentionen ihre Verbreiter:innen tragen freilich beide Formen der Diffamierung ein Moment in sich, das die ganze Übung vom Standpunkt der bestehenden Verhältnisse aus fragwürdig macht – und zwar nicht nur bei Inge Viett, sondern bei allen, die als Kämpfer:innen gegen das bestehende System auf diese doppelte Weise diskreditiert werden sollen.

Stimmt es nämlich, dass es sich im Grunde um harmlose, von der Zeit überholte Figuren handeln würde, stellt sich die Frage, warum diese auch noch dämonisiert werden müssen, also als gefährlicher hingestellt werden, als sie sein sollen. Sind die Dämon:innen vielleicht doch Gefahrenherde, fragt man sich unwillkürlich. Könnte womöglich an einer Kapitalismuskritik, die angeblich längst „überholt“ wäre, doch etwas dran sein?

Dass Inge Viett nie aufgeben hat, sie auch nach ihrer Entlassung als Autorin und Aktivistin gekämpft hat, das vermochte ihr die bürgerliche Gesellschaft nie zu verzeihen. Im Zentrum ihre Kritik stand und steht, was Revolutionär:innen an Inge Viett schätzen: ihre Entschlossenheit, ihren Mut, ihre Standhaftigkeit, ihren Hass auf das kapitalistische System und ihren unbeugsamen Willen. Diese werden für alle, die sie kannten, für alle, die sich mit ihr als antikapitalistische Aktivist:innen beschäftigten, eine Inspiration bleiben. Inge, der Kampf geht weiter!




Ukrainekrieg: Pazifismus zusehends hilflos

Jürgen Roth, Neue Internationale 263, April 2023

Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine dauerte erst wenige Tage an, da löste sich die Schockstarre. Der größte Friedensprotest seit dem Irakkrieg 2003 führte europaweit mehrere Millionen Teilnehmende auf die Straßen, darunter mehr als eine halbe Million allein am 27. Februar in Berlin. Fast zeitgleich kündigte Kanzler Scholz nur wenige hundert Meter entfernt das größte Aufrüstungsprogramm der Nachkriegsgeschichte an. Wahrlich eine Zeitenwende, die auch an Friedensbewegung und DIE LINKE nicht spurlos vorübergehen wird!

Alle Redner:innen befürworteten Sanktionen seitens der Bundesregierung. Eine Sprecherin aus der Ukraine forderte, ganz im Einklang mit der Linie ihrer Regierung, Waffen. Viel interessanter war, was in allen Reden nicht einmal benannt wurde. Es fiel kein Wort über die just zuvor beschlossene massive Aufrüstung der Bundeswehr, die Osterweiterung der NATO und ihre Manöver an der belarussischen und ukrainischen Grenze. Auch die jüngere ukrainische Geschichte seit den Euromaidanprotesten war keine Erwähnung wert. Den Ruf nach Sanktionen schluckte die Mehrzahl der Friedensbewegten also bereits. Damit meinte sie, sich weiterhin offensichtlich genug vom Militarismus abgrenzen zu können, schließlich stand das der Forderung nach Waffen (und deutscher Kriegsbeteiligung) und somit ihrem pazifistischen Image förderlich entgegen – einstweilen!

Dilemma des Pazifismus

Wir sehen also, dass der Pazifismus in letzter Konsequenz gegen sein eigenes Mantra verstoßen muss, sobald der erste Schuss fällt. Pazifist:innen teilen alles Bürgerliche – außer Kriegsgewalt. Diese erscheint ihnen nicht als Fortführung der Politik mit anderen Mitteln, als aus den Widersprüchen der Klassengesellschaft erwachsen, sondern als unerklärlicher Betriebsunfall der Geschichte, Sieg des Bösen über das Gute im Menschen.

Bricht der Krieg entgegen allen pazifistischen Formeln doch aus, so bleibt entweder das letztlich abstrakte Beschwören des Friedens – oder man schließt sich notgedrungen jener Seite an, die das „Gute“ zu verkörpern scheint, in unserem Fall der Bundesregierung und der NATO. Damit begibt sich der Pazifismus auf die Rutschbahn nach rechts – zum Chauvinismus und entwaffnet sich trotz aller Friedensbekundungen vor dem Kriegstreiben der „eigenen“ Regierung.

Die reformistischen Parteien (SPD, Linkspartei) und viele zentristische Organisationen der Arbeiter:innenbewegung teilen entweder Chauvinismus oder Pazifismus bzw. schwanken zwischen diesen, weshalb wir auch von Sozialchauvinismus bzw. -pazifismus sprechen. Geht ersterer spätestens mit Kriegsausbruch offen ins Regierungslager über, appelliert letzterer an den Willen zum Friedensschluss – mitten im Krieg! Der Status quo ante soll also wieder hergestellt werden, das Pulverfass der imperialistischen Widersprüche unversehrt voll bleiben – nur ohne Lunte! Eine unabhängige Klassenpolitik, die auf die Niederlage der „eigenen“ Regierung keine Rücksicht nimmt, lehnt der Sozialpazifismus ab. Der Logik „töten oder getötet werden“ kann er sich nicht entziehen. Er gerät damit zu einer „alternativen“ Form der Vaterlandsverteidigung, die große Teile bald auf die Abgleitfläche zur echten rutschen lässt.

Allerdings müssen wir zwischen dem ehrlichen, berechtigten Pazifismus Lohnabhängiger aus Angst vor Krieg und in Solidarität mit den ukrainischen Massen und dem heuchlerischen der Kirchenfürst:innen, Politiker:innen und Journalist:innen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir unter ihnen unsere Verbündeten im Kampf gegen die Kriegsgräuel suchen müssen, nicht in Parlamenten, Amtsstuben und Militär. Dazu ist jedoch ein politischer, geduldiger Kampf gegen die grundlegenden Fehler und Schwächen dieser Ideologie unerlässlich.

Anders als die (Sozial-)Pazifist:innen unterscheiden wir zwischen fortschrittlichen und reaktionären Kriegen. So ist der Bürger:innenkrieg zur Erringung der Herrschaft der Arbeiter:innenklasse ebenso zu unterstützen wie der Kampf einer unterdrückten Nation um Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf Abtrennung von Gebieten, wenn deren Bevölkerungsmehrheit das will. Im imperialistischen Krieg treten wir dagegen für den revolutionären Defaitismus ein, den Klassenkampf ohne Rücksicht auf die Niederlage der „eigenen“ Regierungen.

Aber sollten die Arbeiter:innen nicht einen reaktionären Krieg verhindern? Ja, unbedingt! Aber mit eigenen Mitteln des Klassenkampfes, nicht mit zahnlosen Appellen an die Regierungen!

Katalysator Kriegsfrage

In Zeiten verschärften Konflikts um die Neuaufteilung der Welt geraten auch die halbkolonialen Länder wie die Ukraine zusehends ins Gravitationsfeld der einen oder anderen imperialistischen Machtkonstellation. Das gilt leider auch für den (Sozial-)Pazifismus. Kann der Ausbruch eines Kriegs nicht verhindert werden, ist das Friedenslatein schnell am Ende. Jetzt ist der Klassenkampf noch unmöglicher als zuvor geworden, scheint es. Sind nicht die jungen Arbeiter:innen an der Front? Gebietet nicht der Krieg die Einstellung aller unabhängigen Klassenaktivität? Denn diese könnte doch die Niederlage der „eigenen“ Regierung heraufbeschwören? Und wäre das nicht gleichbedeutend, einseitig das Werk der Kriegsgegner:innen zu verrichten?

Da Imperialismus die Konzentration des Kapitals und herrschende Politik konzentriertester Ausdruck gesamtkapitalistischer nationaler Interessen bedeuten, spitzt der Krieg alle Widersprüche zu. Das ist der Hintergrund, warum Pazifist:innen ins (sozial-)chauvinistische Lager überlaufen müssen, wenn sie nicht die Niederlage der „eigenen“ Regierung in Kauf nehmen wollen.

DIE LINKE: haltloser Pazifismus

Das Milieu, aus dem sich Friedens- wie manch andere humanitäre Bewegung (Seebrücke, NGOs) vorrangig rekrutieren einschließlich der Linkspartei, wird ein politisches Erdbeben erleben.

So diskutierte die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus am ersten Märzwochenende und deren Co-Vorsitzender Carsten Schatz forderte: „Sofortiger Rückzug der russischen Truppen!“ Die richtige Forderung wird freilich zur Anpassung an die Bundesregierung, wenn jede Kritik an der NATO-Politik ausbleibt. Kultursenator Lederer bezichtigt Putin des „offensiven Bruchs mit der europäischen Friedensordnung“, für die Deutschland und die EU Verantwortung zu übernehmen hätten.

Ohne Namen zu nennen, geht er ans vermeintliche Eingemachte der Partei: antimilitaristische Haltung, Position zur NATO, zu Russland: „Lasst es einfach weg!“ Pankows Bezirksbürgermeister Benn sieht ein „Selbsterschrecken“ in den eigenen Reihen, ein tiefes „Selbstbefragen einer ganzen Reihe von Positionen“ am Horizont aufziehen. Sozialsenatorin Kipping legt nach: „Keine Verharmlosung von Putin mehr. Putin ist nun mal Feind der Linken.“

Für die Ex-Parteivorsitzende steht der Hauptfeind exklusiv im anderen Land. Mögen ihr beim alljährlichen Gedenkritual an die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs die Nelken in der Hand verdorren! Tobias Schulze bemerkt scheinheilig: „Was für die Rüstung geht, geht offenbar für die städtische und soziale Infrastruktur nicht, nämlich die Schuldenbremse auszusetzen.“ Gäbe es also die Schuldenbremse nicht, so drängt sich auf, wäre die Aufrüstung für DIE LINKE zustimmungsfähig. Welch‘ prinzipienfester Antimilitarismus!

Die Abgrenzung von wirklichen oder vermeintlichen „Putinversteher:innen“ erfüllt beim rechten Flügel der Linkspartei längst nicht mehr allein die Funktion einer Kritik an der Verharmlosung des russischen Imperialismus – vielmehr sollen so alle Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die an einer angeblichen starren NATO-Ablehnung festhalten wollen. Es ist damit zu rechnen, dass der starke „Reformer“-Flügel um die sog. Regierungssozialist:innen, welcher sich offen prowestlich und hinter vorgehaltener Hand pro-NATO aufstellt, zum Angriff auf die in die Jahre gekommenen traditionslinken, sozialpazifistischen Grundsätze blasen wird, denen er sich bislang unterordnen musste. Die Ukrainekrise bringt nun neue Bewegung in den Transformationsprozess der Linkspartei nach rechts, während der linke Flügel noch weiter in die Defensive gerät. Es rächt sich heute, dass über Jahre Pazifismus, humanitäre Friedensphrasen und das Beschwören von Völkerrecht und UNO als Ultima Ratio der internationalen Ordnung als „Antimilitarismus“ verklärt wurden. In Wirklichkeit wurde nur das Fehlen einer antiimperialistischen und internationalistischen Politik schöngeredet, was heute dem rechten Flügel der Partei in die Hände spielt.

Interventionistische Linke (IL)

Doch nicht nur die reformistische Linke gerät in schweres Fahrwasser. Auch die größte Organisation der „radikalen Linken“, die IL, gerät ins Studeln.

In ihrem Aufruf vom März 2022 verurteilt sie den russischen Angriff. Gleichzeitig lehnt sie eine Parteinahme im Konflikt ab: „Wir lehnen die falschen Alternativen ab, weil die behauptete Alternativlosigkeit jeden Raum für Widersprüche und Kritik verschließt. [ … ] Wir entziehen uns der Identifikation mit staatlicher Macht. Stattdessen sind wir mit jenen parteilich, die unter dem Krieg leiden und sich ihm widersetzen [ … ], wenn sie fliehen, desertieren, zivilen Ungehorsam leisten oder kämpfen.“

Leider „entzieht“ sich die IL auch einer klaren revolutionären Antwort, wie der Krieg gestoppt werden kann. Sie spricht sich für die Unterstützung der „Menschen vor Ort“ aus? Doch worin soll diese bestehen? Welche Politik sollen die Arbeiter:innenklasse und Linke in Russland oder in der Ukraine vertreten? Über diese Fragen schweigt sich die IL aus und verbleibt letztlich bei einer sicherlich löblichen, politisch aber unzureichenden humanitären Unterstützung von Opfern des Krieges.

Darüber hinaus wendet sie sich gegen kapitalistische Geopolitik und westliche Doppelmoral, bezeichnet den Krieg „als vorläufige[n] negative[n] Höhepunkt von weltweit immer schärfer werdenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Konflikten.“ Sie tritt zu Recht gegen die Aufrüstung der Bundeswehr ein, für Solidarität mit Geflüchteten aller Hautfarben und Herkunft aus der Ukraine, Kriegsdienstverweiger:innen, Friedensaktivist:innen, Frauen und LGBTIQ, Genoss:innen der sozialen, linken, sozialistischen und anarchistischen Bewegungen aus beiden kriegführenden Ländern.

Richtig ist auch ihre Aufforderung, aktiv zu werden, eine Bewegung gegen Militarismus und Krieg aufzubauen, die lebendig, links und internationalistisch agieren soll. Doch für die Grundlage eines solchen Antikriegsbündnisses macht sie keinen Vorschlag. Stattdessen prophezeit sie (fälschlich): „Die Aufrüstungspläne der Bundesregierung finden in der Klimagerechtigkeitsbewegung einen neuen, starken Gegner. [ … ] Bringen wir zusammen, was zusammengehört: die Kämpfe gegen alle Grenzen, gegen Imperien und Kriege, gegen Klimakrise, Patriarchat und Kapitalismus.“ Mit dämlichen Parolen wie „Heizung runter für den Frieden!“, „Pullover statt Erdgas!“, am 24. März zu sichten, dürfte das Zusammenbringen arg schwierig ausfallen.

So wenig selbst blau-gelbe Pullover eine Antwort auf drohende Energiearmut liefern, so großzügig sieht die IL über die Untauglichkeit einer Bewegung im Sog des Vaterlandsverteidigungstaumels für ein Antikriegsbündnis hinweg. Die IL spielt ein Chamäleon, das hinter „Bewegungen“ unkritisch hinterher trabt, statt ihnen eine antikapitalistische Perspektive anzubieten. Die Farbe Rot verblasst gerade, wenn’s drauf ankommt!

Dahinter steckt nicht nur ein mehr oder weniger hoffnungsfroher „Optimismus“ – es wird auch das Fehlen jeder Klassenpolitik deutlich. Die Frage, wie die Lohnabhängigen, wie Gewerkschafter:innen, die reformistisch dominierte Arbeiter:innenbewegung für eine Antikriegsbewegung gewonnen werden können, stellt sich die IL erst gar nicht. Den Spitzenbürokrat:innen im DGB, bei der Linkspartei und erst recht in der SPD wird’s recht sein. Uns nicht.




[’solid] Berlin: Was tun mit dem ersten Schritt nach Links?

Lukas Resch, REVOLUTION, Infomail 1174, 21. Dezember 2021

Ein Beschluss gegen den RGR-Koalitionsvertrag, ein Antizionist im LandessprecherInnenrat (LSPR) und ein „Nein zur EU der Banken und Konzerne“, ein klares Bekenntnis zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“: Diese und weitere Entwicklungen in [’solid] Berlin sorgen seit der letzten Wahl für Aufsehen, bis in die bürgerlichsten Teile der Presse hinein. Einige Reaktionen aus der eigenen Organisation und der Mutterpartei lassen es scheinen, als hätte man das rote Berlin ausgerufen. Von ewig gestrigen StalinistInnen ist die Rede, öffentliche Hetzkampagnen gegen eigene Mitglieder lassen nicht lang auf sich warten. Was ist los in [’solid] Berlin?

The way so far …

Spricht man mit Mitgliedern, zeigt sich ein positiv gestimmtes Bild: Bei der Wahl zum LSPR schafften es die linkeren Basisorganisationen, diesen gemeinsam mit einigen neuen und vielversprechenden Gesichtern zu besetzen. Auch auf der letzten Landesvollversammlung zeichnete sich ein deutlich linkeres Bild ab als in der Vergangenheit. Unter anderem wurde beschlossen:

Eine Aufforderung an die Linkspartei Berlin, die Koalitionsverhandlungen abzubrechen, und an die Mitglieder, gegen den Vertrag und die Koalition mit den Grünen und der SPD zu stimmen; ein Beschluss gegen die alleinige Zusammenarbeit mit Jusos und grüner Jugend, um nicht als RGR-Jugend zu erscheinen. Eine Zusammenarbeit in größeren Bündnissen wird damit nicht ausgeschlossen.

Dies stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, auch wenn es weiter notwendig sein wird, die Jusos als die Massenjugendorganisation einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei (1) zu gemeinsamen Mobilisierungen aufzufordern. Diese Notwendigkeit stellt sich auch bezüglich der Grünen Jugend, die trotz ihrer ökobürgerlichen Mutterpartei über eine Verankerung in der Umweltbewegung verfügt.

Eine Einschätzung der „EU der Banken und Konzerne“, die ersetzt werden soll durch „die Vereinigung europäischer Staaten“ (auch wenn unklar ist, wie diese  erreicht werden und wie sie aussehen soll), suggeriert immerhin einen „Bruch mit der EU“ (wobei aufgepasst werden muss, dass nicht einfach für einen „linken“ Austritt Deutschlands aus der EU eingetreten wird, sondern für eine sozialistische Vereinigung Europas).

Trotz allem: eine willkommene Entwicklung, die einige Mitglieder von [’solid] bereits von einem Linksrutsch sprechen lässt. Diese Entwicklungen sind, immerhin, ein frischer Wind, erst recht nach der zerschmetternden Wahlniederlage der Linkspartei bei der Bundestagswahl.

Grenzen

Deswegen wollen wir die Situation nutzen, um uns zu positionieren und zur Diskussion über das weitere Vorgehen etwas beizutragen.

Die neue Zusammenstellung des LSPR ist sicher ein Schritt nach vorne, auch wenn dieser noch in der kommenden Zeit beweisen muss, ob der radikale Ruf der ihm vorauseilt, auch entsprechende Taten mit sich bringt.

Die Ergebnisse der Landesvollversammlung sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Man stellt sich entschieden gegen die Ausrichtung der Berliner Linkspartei und erhebt den Anspruch, eine eigene, sozialistische Perspektive dagegenzuhalten.

Der erste Dämpfer ist da natürlich, die Abstimmung gegen die RGR-Koalition verloren zu haben. Von den 50 % der teilnehmenden Linksparteimitglieder haben 75 % für diese gestimmt.

Wie geht es jetzt also weiter für alle, die sich eine linkere, antikapitalistische Politik und Linkspartei wünschen und dafür im Jugendverband kämpfen?

Wir wollen uns auf zwei Punkte konzentrieren: die Grenzen, an die revolutionäre Jugendliche in der Linkspartei und [’solid] stoßen, und die Taktik, mit der sie kämpfen können.

Zunächst das Ernüchternde: Das, was in [’solid] Berlin passiert – ebenso die gewisse Bewegung in der Basis der Linkspartei –, stehen einer bundesweit gegenläufigen Tendenz gegenüber. Real sind die Linkspartei und ihr Jugendverband in den letzten Jahren nach rechts gegangen. Auch wenn sich in den letzten Wochen eine linke Opposition in Berlin gebildet hat und im Landesverband Nordrhein-Westfalen nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahlen ein linker Landesvorsitzender gewählt wurde, so ändert das noch nicht das Gesamtbild. Ramelows Regierungspolitik stellt keine Ausnahme dar. Für alle Landesregierungen mit LINKE-Beteiligung gilt: Mitgehangen, mitgefangen – mit kapitalistischer Realpolitik. Und das gilt auch für Berlin.

Das ist auch kein Zufall oder einfach eine Schwäche gegenüber der größeren SPD, sondern das Interesse der Linksparteiführung . Sie betreibt reformistische Politik, die immer nur den Kompromiss mit dem Kapitalismus sucht, mit dem Leute wie Klaus Lederer an sich ganz gut leben können. Daher ist es für ihn auch kein Problem gewesen, DWe fallen zu lassen.

An die Grenzen dieses Führungsapparates werden alle RevolutionärInnen, die gern eine andere Linkspartei und ein antikapitalistisches [’solid] hätten, irgendwann stoßen, solange dieser Apparat die Partei und ihre Strukturen kontrolliert – so, dass der Apparat die Kontrolle gut behalten kann. Das muss sich auch in [’solid] niederschlagen, und wenn es der Geldhahn ist, an dem die Mutter vielleicht mal dreht.

 … and the way ahead

Ohne über diese Grenzen Gedanken anzustellen, wird jeder Versuch, [’solid] revolutionär umzugestalten, in blindem Aktivismus und Selbstverbrauch oder aber Anpassung an den erwähnten Apparat enden. Unserer Meinung nach sollte sich daher jede//r klar machen, dass es bei der Konfrontation mit der reformistischen Mehrheit und dem Apparat um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht. Letztlich vertritt der Reformismus nicht den Klassenstandpunkt der Lohnabhängigen, sondern ordnet vielmehr deren Interessen jenen der herrschenden Klasse unter.

Trotzdem kann sich das Ringen mit dem Apparat lohnen und unzufriedene Jugendliche in (und außerhalb von) [‚solid] um revolutionäre oder wenigstens eine alternative Politik zu RGR sammeln. Dazu sollten die vorhandenen Ansätze der letzten Wochen vertieft werden. Konkret sollten sich alle Jugendlichen zu einer Opposition organisieren – einer Fraktion.

Die angepeilte Taktik, um die eigene Mutterorganisation mittels einer digitalen Kampagne wieder auf die eigenen Werte zu besinnen, begleitet von Veranstaltungen, kann das nur begrenzt leisten, ist sie doch dazu verurteilt, vor allem einen Nachhall im eigenen Kreis hervorzurufen.

Darüber hinaus braucht es ein Sammeln um Aktionen wie Demonstrationen bis hin zu Streiks in Schule und Betrieb und mehr – wenigstens braucht es jetzt die Debatte darum. Und für sich alleine bringen solche Aktionen auch noch nichts. Es sollte sich auf einige Forderungen verständigt werden, die für Jugendliche gerade akut sind, um die mobilisiert werden kann und mit denen auch andere – Jusos, Grüne Jugend, Gewerkschaftsjugendliche, DWe usw. angesprochen werden können. Beispiele?

  • Sofortige Umsetzung des DWe-Volksentscheids! Gerade Jugendliche können sich das Wohnen ohne (reiche) Eltern nicht leisten! Dazu braucht es eine Massenbewegung und die Unterstützung der Gewerkschaften und MieterInnenverbände, um die Vergesellschaftung durch politische Streiks und Mietboykotts durchzusetzen!
  • Für eine echte Verkehrswende in Berlin – keine S-Bahn-Zerschlagung, dafür massive Einschränkung des Straßenverkehrs, Ausbau von S-Bahn und Tram, kostenloser ÖPNV!
  • Für die Kontrolle über coronabedingte Schulöffnungen und -schließungen durch demokratische Komitees der SchülerInnen und LehrerInnen selbst!

Das sind nur mal drei Beispiele. Der Kampf um solche Forderungen ist einer gegen die RGR-Regierung, und damit gegen Lederer und Co! Völlig richtig ist deshalb, dass [’solid] am kommenden Dienstag zu Protesten gegen RGR aufruft.

Aber es sind die nächsten Monate, die durchscheinen lassen werden, ob die gewisse Dynamik in [’solid] (und Linkspartei) nach links weitergetrieben werden kann oder im Treibsand reformistischer Realpolitik ausgebremst wird. Denn trotz aller positiven Berliner Entwicklungen der letzten Monate im Windschatten der Wahlen – DWe, Krankenhausstreik oder eben auch ein gewisser Linksdrall in DIE LINKE – gegen die Regierung zu kämpfen wird eine andere Nummer, in der das Überwinden der defensiven Position mit davon abhängen wird, ob sich revolutionäre, antikapitalistische Kräfte sammeln können und in [’solid], Jusos usw. reinwirken können.

Daher sollten sich AntikapitalistInnen ernsthaft überlegen, inwieweit sie in ihrem Kampf auf die LINKE setzen wollen, die die nächsten fünf Jahre Verrat schon ab Tag 1 beginnt, oder ob ein revolutionärer Bruch mit der Partei sinnvoller ist. Früher oder später wird dieser unserer Meinung nach unausweichlich. So oder so sind wir für die Debatte mit Euch offen.

Übrigens: Vor sieben Jahren hat die Jugendorganisation REVOLUTION eine umfassende Broschüre rausgebracht, die [’solid] kritisch beleuchtete und RevolutionärInnen im Jugendverband einen Handlungsvorschlag zur Sammlung ihrer Kräfte machte … immer noch aktuell: http://onesolutionrevolution.de/wp-content/uploads/2011/04/Solid-Polemik_Lukas_Müller_2014.pdf

Endnote

(1) Unter einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verstehen wir eine bürgerliche Partei, die sich jedoch über historische Verbindungen, über Gewerkschaften, proletarische Mitgliedschaft und WählerInnen auf die Klasse der Lohnabhängigen stützt, mit dieser organisch verbunden ist.




Erklärung zum Antikrisenbündnis Hamburg (AKB-HH)

Gruppe ArbeiterInnenmacht Hamburg, Infomail 1168, 30. Oktober 2021

Die Initiative für ein Antikrisenbündnis in Hamburg entstand vor ca. einem Jahr im Oktober 2020. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland und der EU zugespitzt und war durch die Corona-Pandemie eskaliert. Gleichzeitig waren die Linke und die ArbeiterInnenbewegung in Deutschland kaum sicht- und wahrnehmbar und schienen wie in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Die Straßenproteste wurden von den rechten oder zumindest stark nach rechts offenen und von Irrationalität sowie einem Hang zu Verschwörungstheorien geprägten Querdenken-Demos dominiert, die teilweise erhebliche Mobilisierungserfolge aufweisen konnten.

In dieser Situation war es vor allem angesichts der Tatenlosigkeit der großen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung in Deutschland, insbesondere der Gewerkschaften, aber auch der Linkspartei und natürlich auch der in der Großen Koalition regierenden SPD notwendig und richtig, die Initiative für ein Antikrisenbündnis zu starten. Für uns war das Bündnis von Anfang an ein Versuch, linke und progressive Kräfte zu sammeln, um mit Aktionen eine Mobilisierungsstärke zu entwickeln und dadurch vor allem auch Druck auf die größeren Organisationen auszuüben, ebenfalls aktiv zu werden. Wir gaben und geben uns nicht der Illusion hin oder verfolgten bzw. verfolgen die Absicht, linksradikale Bündnisse als Selbstzweck aufzubauen. Für uns steht die Bündnisarbeit in der Tradition der Einheitsfronttaktik, die darauf abzielt, angesichts der politischen Dominanz der ArbeiterInnenklasse durch reformistische Massenorganisationen gemeinsame Aktionen durchzuführen und größere Teile der Klasse in Bewegung zu bringen.

Davon waren und sind wir sicherlich weit entfernt. In dem Bündnis haben sich früh sehr unterschiedliche Vorstellungen über die notwendigen Inhalte, die Vorgehensweise und die Ausrichtung gezeigt. Einen ersten Bruch gab es bereits im Januar 2021, als nach der ersten gemeinsamen Kundgebung die GenossInnen des Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg und des Blauen Montag ihren Austritt erklärt haben. Wir finden es dennoch richtig, dass wir damals den Weg in erste gemeinsame Aktionen in Form von Kundgebungen gegangen sind. Wenn wir nicht zur gemeinsamen Aktivität gekommen wären, hätte sich das Bündnis in den unbefriedigenden Grundsatzdiskussionen sehr viel schneller zerlegt. Dass die genannten Organisationen – und in der Folge auch weitere Individuen – damals bereits ausgetreten sind, war ein Fehler und hat das Bündnis geschwächt. Sie haben bis heute keinerlei alternative Handlungsoption entwickelt. Sie haben sich daher zu einer rein passiven Kritik an der bestehenden Initiative des Bündnisses entschieden, anstatt gemeinsam an einer Perspektive zu arbeiten, zumal die damals vorgebrachten Argumente einen Bruch nicht – oder zumindest noch nicht – notwendig gemacht hätten.

Die erste Kundgebung war sicherlich weit davon entfernt, unseren Ansprüchen zu genügen. Aber sie war immerhin ein erster Schritt und die Lage sah danach nicht grundlegend schlecht aus. Neue, vor allem jüngere Organisationen haben sich dem Bündnis angeschlossenen und einige Kontakte zu anderen Bündnissen konnten etabliert und ausgebaut werden.

Die folgenden Kundgebungen im März und April haben jedoch gezeigt, dass die Aktionen keine weitere Anziehungskraft entwickeln konnten. Sie stagnierten vielmehr in ihrer Größe. Auch die folgende Initiative zu einem weiteren Vernetzungstreffen war eher enttäuschend.

Vor diesem Hintergrund haben wir im Juni diskutiert, dass wir uns zunächst auf kleinere Aktionen (Infostände, Solidarität mit Arbeitskampfmaßnahmen) vor allem in Stadtteilen konzentrieren möchten, um darüber mittelfristig das Bündnis auch außerhalb der „Szene“ bekannter zu machen und eine Basis aufzubauen.

Das wurde leider nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen kam es im August zu einer unserer Meinung nach völlig unnötigen und politisch fatalen Wende hin zu noch mehr Aktionismus. Es wurde beschlossen, eine „After-Wahl-Demonstration“ direkt nach den Bundestagswahlen zu organisieren. Die politische Lage nach den Bundestagswahlen wurde dabei völlig falsch eingeschätzt. Ohne jegliche fundierte Grundlage wurde ein Protestpotential prognostiziert, das nach den Wahlen die Menschen aus Wut auf die Straße treiben würde. Die Entscheidung stand zudem in direktem Gegensatz zu unseren Erfahrungen mit den Kundgebungen und dem Beschluss, uns auf Stadtteil- und Streiksoliarbeit zu konzentrieren. Zwar wurden Hinweise zu Streikaktionen, wie jetzt zum ErzieherInnenstreik, hin und wieder versendet, sie erzielen aber nur dann eine Wirkung, wenn sie länger vorbereitet werden und uns eine Bindung an die jeweiligen Kämpfe ermöglichen. Kurz Flagge zeigen allein ändert an dem Außenseiterstatus des AKB nichts. Nicht nur die politische Lage, sondern auch die eigene Mobilisierungsfähigkeit wird entgegen eigenen Erfahrungen falsch eingeschätzt.

Diese Differenz in der Ausrichtung hatte sich auch bereits zuvor bei der Diskussion um einen allgemeinen Vorstellungsflyer des Bündnisses angedeutet. Während wir in früheren Texten noch bewusst Wert darauf gelegt haben, an bestehende Auseinandersetzungen anzuknüpfen und auch Menschen außerhalb der linken Szene anzusprechen, wurde mit der Wortwahl nunmehr völlig darauf abgezielt (ob bewusst oder unbewusst), bereits radikalisierte Menschen zu mobilisieren. Das zeugt von einem anderen Verständnis der Bündnisausrichtung. Die Texte haben auch inhaltlich unserer Auffassung nach stark an Qualität verloren.

Nicht nur der inhaltliche und taktische endgültige Schwenk zum Aktionismus war problematisch. Auch die Art und Weise der Entscheidungsfindung und der  Diskussion waren unserer Auffassung nach für ein Bündnis unangemessen. Die Entscheidung wurde auf einem Bündnistreffen in unserer Abwesenheit gefällt. Als wir anschließend Kritik daran geäußert und eine Diskussion darüber auf einem weiteren Treffen angeregt haben, wurde diese abgelehnt. Es wurde argumentiert, dass es einen „Konsens“ gegeben habe und die Entscheidung getroffen sei. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass neben uns noch zwei weitere Organisationen im Bündnis – attac und die MLPD – die Entscheidung für die Demo als falsch erachteten. Das war zu dem damaligen Zeitpunkt ein wesentlicher Teil des Bündnisses, das bereits auf schwachen Füßen stand. Wer in so einer Situation über den Widerspruch wesentlich beteiligter Organisationen derart hinweggeht, riskiert folgerichtig den Zusammenhalt des Bündnisses.

In der Folge litten auch die innere Kommunikation und Transparenz enorm. Die  Kommunikation lief fast nur noch über Telegram. Die Mitglieder des Bündnisses auf dem E-Mailverteiler wurden praktisch ausgeschlossen (und verfielen daraufhin logischerweise vermehrt in Passivität). Zu Treffen wurde nicht mehr rechtzeitig eingeladen, Protokolle wurden nur noch unregelmäßig geschrieben. So kann für uns keine Bündnisarbeit gelingen.

Wir halten die Initiative für eine Antikrisenbewegung nach wie vor für richtig und aktuell, auch wenn sich die politische Situation mittlerweile weiterentwickelt hat. Die Frage der Verteilung der Krisenkosten wird auch für eine neue Post-Merkel-Bundesregierung virulent werden und wir können mit Angriffen und Auseinandersetzungen rechnen. Auch vor dem Hintergrund der massiven Stimmenverluste der Linkspartei wird sich die Linke in Deutschland insgesamt neu sortieren und vorbereiten müssen. Die Vernetzung von kämpferischen Bündnissen und Orientierung auf bundesweite Aktionskonferenzen zu den Schwerpunkten des Klassenkampfes wird eine der wichtigsten Aufgaben sein. Dafür werden wir uns weiterhin engagieren. Aktuell sehen wir jedoch in dem verbliebenen AKB-HH keine Grundlage mehr dafür.

Zum Schluss möchten wir betonen, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassungen und der Entwicklungen in den letzten Monaten das Bündnis ohne Groll verlassen. Wir haben kein Interesse daran, persönliche Auseinandersetzungen zu führen. Wir hoffen vielmehr, dass wir auf der gemeinsamen Arbeit aufbauen und auch zukünftig zusammen in Hamburg aktiv werden können.




Protest und Widerstand gegen die Räumung der Köpi-Wagenburg

Jan Hektik, Infomail 1167, 16. Oktober 2021

Giffey und Geisel sind schockiert ob der Gewalt. Gemeint sind damit natürlich nicht die fast 2.000 Bullen, die den Wagenplatz unter Einsatz von Räumpanzern und anderem Gerät räumten, die dutzende DemonstrantInnen und Protestierende seit den Morgenstunden festnahmen und das Räumungurteil am 15. Oktober durchsetzten.

Schließlich handelten diese ja nach den geplatzten Verhandlungen mit der (kommunalen) Wohnungsbaugesellschaft Howoge rechtens, also aufgrund eines Räumungsurteils. Schließlich will sie das Gelände neben der Köpi für ihre Profitinteressen nutzen – und die darauf stehende Wagenburg muss dafür samt allen BewohnerInnen weichen.

Gegen die Umsetzung dieses gerichtlichen Entscheides hatten sich BewohnerInnen und UnterstützerInnen verbarrikadiert oder an Bäumen angekettet. Bereits am frühen Morgen versammelten sich einige hundert Menschen, um dies zu verhindern bzw. dagegen zu demonstrieren.

Eine Verhinderung der Räumung war angesichts der Abriegelung ganzer Straßenzüge um die Köpenicker Straße und des massiven Polizeiaufgebots von 2.000 Einsatzkräften plus Fuhrpark wohl nicht zu erwarten. Die bürgerliche Presse, die Polizei und Leute wie Giffey und Geisel stilisieren jedoch schon das Befestigen von Zäunen, Anketten und das Nicht-Freiwillig-Gehen zum gewaltsamen Angriff. Dabei wird unter den Teppich gekehrt, wie weit mittlerweile die Straftat Widerstand gegen VollstreckungsbeamtInnen gefasst werden kann. So kann die Weigerung wegzugehen bereits eine Straftat darstellen. Gleichzeitig wird dabei natürlich auch unterschlagen, dass es wohl kaum verwunderlich ist, wenn sich Menschen, die mit Räumpanzern, Schlagstöcken und Pfefferspray aus ihrem Zuhause vertrieben werden, dagegen zur Wehr setzen.

In Wirklichkeit werden diese gewaltsam vertrieben und zu Obdachlosen gemacht – in der schönen Welt der Polizei, der Presse und des scheidenden und wohl auch zukünftigen Senats werden diese Verhältnisse aber auf den Kopf gestellt.

Das trifft natürlich auch auf die Solidaritätsdemonstration am Abend des 15. Oktober zu. Gegen 20 Uhr versammelten sich da mehrere tausend Menschen – selbst die Bullen sprachen von 7.000 bis 8.000 – zur wahrscheinlich größten Demonstration der autonomen Szene in Berlin. Die Polizei redete von äußerster Aggressivität. Tatsächlich waren die Menschen natürlich wütend und empört – zu Recht. Angesichts der Brisanz der Situation, in Anbetracht der Größe und des versammelten politischen Spektrums, das über die Szene hinausging, waren die Empörung und der kämperische Charakter der Demonstration wohl nicht verwunderlich.

Die Presse stilisierte jedoch den „Kontrollverlust“ der Polizei gezielt hoch, einen „Kontrollverlust“, der sich darauf beschränkt, nicht alle Sachbeschädigungen verhindert zu haben.

Rolle des Senats

In Wirklichkeit geht der scheidende Senat, getrieben von der Immobilienlobby und ihren Frontleuten im Innensenat, seit Jahren gegen die noch vorhandenen besetzen Häuser systematisch vor. Der Linkspartei, der SPD-Linken und auch den Grünen gefällt das zwar nicht – aber gegen Geisel vorgehen tun sie nicht. Dabei ist diese Räumung nur das neueste Glied in einer Kette von Wegnahmen linker Freiräume durch den rot-rot-grünen Senat. Nach der Liebig34, dem Syndikat, der Meuterei und Potse/Drugstore erkennt selbst ein/e Blinde/r einen systematischen Angriff. Wer dann zusammenhanglos die daraufhin entstehenden Proteste und die Wut als „Angriff auf den Rechtsstaat“ und „blinde Zerstörungswut“ (Geisel) bezeichnet, verdreht die tatsächlichen Verhältnisse auf geradezu widerwärtige Art.

Sicherlich sollte niemand der Illusion anhängen, dass die autonomen Taktiken das Kräfteverhältnis drehen können. Natürlich werden auch zerschlagene Glasscheiben dem Senat wenig anhaben können. Gegen die Angriffe des bürgerlichen Staates können noch so militante Szenedemonstrationen letztlich wenig bis nichts ausrichten.

Die Stilisierung der Proteste, einzelner zerbrochener Scheiben oder gar von Bengalos bei den Demos zum „Gewaltexzess“ hat nicht nur nichts mit der Realität zu tun, sie soll vor allem den Boden für eine weitere Verschärfung von Polizeigesetzen, für noch mehr Überwachung und brutalere Durchsetzung des Rechts der Immobilienhaie bereiten. Gegen diese Hetze und Verleumdung ist Solidarität nötig und angesagt mit allen, die gegen die Räumung Widerstand geleistet haben und weiter leisten werden.

Wer zu den wirklichen Angriffen des Staates schweigt, erledigt letztlich den Job der Wohnungskonzerne, von AfD, FDP und CDU und der ScharfmacherInnen im alten und wohl auch zukünftigen Senat. Während Giffey und Geisel gegen die BesetzerInnen – und damit letztlich gegen alle, die von Räumungen bedroht sind – hetzen, halten Grüne und vor allem auch die Linkspartei die Füße still.

Es ist schon bezeichnend, dass ausgerechnet am 15. Oktober, dem Tag der Räumung der Köpi-Wagenburg, SPD, Grüne und Linkspartei bekanntgaben, gemeinsam in Koalitionsverhandlungen zu treten. Für die MieterInnen und für die HausbesetzerInnen verheißt das nichts Gutes. So sollen die Polizei aufgerüstet und die Videoüberwachung öffentlicher Plätze ausgeweitet werden. Die Enteignung der Immobilienkonzerne soll hingegen auf eine ExpertInnenrunde verwiesen, also auf die lange Bank geschoben werden. Obwohl 57,6 % für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. gestimmt haben, will der zukünftige Senat das Mehrheitsvotum weiter ignorieren. So sieht die rot-grün-rote Demokratie aus!

Doch die Tausende, die in Solidarität mit der Köpi-Wagenburg auf die Straße gingen, die in der Enteignungsbewegung aktiv geworden sind und die mehr als eine Million Ja-Stimmen beim Volksentscheid zeigen auch, dass der zukünftige Senat nicht einfach durchregieren wird können. Sie zeigen, dass das Potential für eine Massenbewegung von MieterInnen und BesetzerInnen, die Gewinnung von Hunderttausenden MieterInnen, für die Aktivierung der Mitglieder von MieterInnenvereinen, Gewerkschaften wie auch der Basis der Senatsparteien existiert.

  • Solidarität mit dem Widerstand und allen von Repression Betroffenen!
  • Enteignet die Immobilienhaie!



DWE, der Umgang mit sexuellen Übergriffen und die bürgerliche Presse

Tomasz Jaroslaw, Infomail 1162, 13. September 2021

Der Wahlkampf läuft auf Hochtouren – jedenfalls jener der Kampagne Deutsche Wohnen und Co.  enteignen (DWE). Kiezteams konzentrieren sich auf einen Häuserkampf, vor allem in den Außenbezirken, um die Menschen auch zur Abstimmung zu bringen und eine Mehrheit zu erringen.

Die Chancen am 26. September stehen trotz Millionen, die die Immobilienlobby in Gegenkampagnen steckt, nicht schlecht. Nach aktuellen Umfragen stehen 47 % der BerlinerInnen hinter der Forderung nach Enteignung, 43 % lehnen sie ab. Die jüngsten Erhebungen zeigen außerdem, dass mittlerweile auch eine Mehrheit der SPD-AnhängerInnen beim Volksentscheid mit Ja stimmen will.

Wie mit Vorwürfen sexueller Übergriffe umgehen?

Zugleich durchzog und durchzieht die Kampagne seit Ende Juni ein heftiger innerer Konflikt. Zu diesem Zeitpunkt wurde von einer Aktiven gegen einen Sprecher der Kampagne der Vorwurf der sexuellen Nötigung erhoben.

Dieser Vorwurf und der Umgang damit zogen weite Kreise, nicht nur in der Kampagne und deren Umfeld selbst, sondern erreichten auch die Medien. Neben dem Neuen Deutschland berichteten auch Tagesspiegel und Die Welt. Weitere werden wahrscheinlich folgen. Letzteren beiden – das wird schon bei einer oberflächlichen Lektüre deutlich – geht es natürlich nicht um die Sache. Vielmehr versuchen sie, den Vorwurf und den Umgang damit zu nutzen, um die gesamte Kampagne und die Vergesellschaftung an sich politisch zu delegitimieren. Doch bevor wir darauf näher eingehen, kurz zum Hergang der Auseinandersetzung in DWE selbst.

Der mutmaßliche Übergriff soll am 21. Juni am Rande einer öffentlichen Kundgebung der Linkspartei auf dem Rosa-Luxemburg-Platz stattgefunden haben, wo diese etwa 30.000 Unterschriften zum Volksbegehren an DWE übergeben hatte. Es gibt die Aussagen der beschuldigenden Person, was vorgefallen war. Der Beschuldigte dementiert diese Vorwürfe. Bis heute gibt es viele Gerüchte, die sicherlich keiner Aufklärung dienlich sind.

Richtigerweise nahm die Kampagne die Vorwürfe von Beginn an sehr ernst, der Umgang damit erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als schwierig.

Erstens hatte DWE selbst zu diesem Zeitpunkt kein gemeinsames, anerkanntes Verfahren, wie mit einem Vorwurf eines sexuellen Übergriffs umzugehen ist. Das kann der Kampagne sicher nur bedingt vorgeworfen werden, zumal es ja auch keine allgemein anerkannte Sicht in der ArbeiterInnenbewegung oder der Linken gibt.

Zweitens und damit verbunden prallten von Beginn zwei miteinander unvereinbare Vorstellungen aufeinander.

Ein Teil der Kampagne, der sich letztlich durchsetzte, vertrat die Konzepte von „Definitionsmacht“ und „absoluter Parteilichkeit“. Diese besagen, dass nicht nur der Vorwurf ernst zu nehmen und der Betroffenen möglichst große Unterstützung zu geben sei, sondern auch, dass die Behauptung  der beschuldigenden Person selbst als Beweis für die Tat gilt. Dem Konzept der Definitionsmacht zufolge steht es nämlich nur der betroffenen Person zu, zu definieren, ob ein sexueller Übergriff oder eine Grenzüberschreitung vorlag. Alles andere gilt als Täterschutz. Letztlich ist dabei nur die subjektive Empfindung der beschuldigenden Person ausschlaggebend. Selbst die Frage danach, was „tatsächlich“ vorgefallen ist, gilt schon als Relativierung des Vorwurf und der Tat.

Diese Position wurde vor allem von Menschen aus postautonomen und kleinbürgerlich-akademischen Milieus vertreten. Insbesondere die stärkste politische Organisation in der Kampagne, die Interventionistische Linke (IL), die vor allem in diesen Milieus verankert ist und eine dominante Rolle im Ko-Kreis spielt, machte von Anfang an diese Ideologie zum Referenzpunkt des Umgangs innerhalb der Kampagne und versuchte, dieser zu Beginn einfach ihre Methode aufzuzwingen.

Probleme der Defintionsmacht

Das wurde richtigerweise kritisiert. Nachdem Transparenz und ein geregeltes demokratisch-legitimiertes Verfahren eingefordert worden waren, legte der Koordinierungskreis einen Verfahrensvorschlag zur Abstimmung vor, der weiterhin deutlich von Definitionsmacht und Parteilichkeit geprägt war.

Der Strömung um die IL trat eine durchaus heterogene Reihe von GenossInnen entgegen, die die Definitionsmacht zu Recht und grundsätzlich ablehnten, da diese Ideologie dem Beschuldigten kategorisch jedes Recht auf Verteidigung und Beibringen von Beweisen oder Indizien für seine Unschuld abspricht. Ein solcher Umgang in einer breiten Massenkampagne würde somit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts (v. a. das auf Verteidigung) zurückfallen.

GenossInnen der Gruppe ArbeiterInnenmacht brachten wie auch andere KritikerInnen des Konzepts der Definitionsmacht Änderungsvorschläge zum Entwurf des Ko-Kreises ein, die in der Substanz alle von der Mehrheit um die IL abgelehnt wurden. Wir und andere KritikerInnen traten dafür ein, dass eine Untersuchungskommission gebildet werden solle, die, so weit dies möglich ist, den Vorwürfen auf den Grund geht und eine Empfehlung für das weitere Vorgehen der Kampagne ausarbeitet. Darüber hinaus war es Konsens, dass der Beschuldigte für die Zeit der Untersuchung nicht öffentlich für die Kampagne in Erscheinung treten sollte und sein Ämter ruhen würden.

Während am Beginn versucht wurde, das Konzept der Definitionsmacht einfach durchzusetzen, so müssen  wir – wenn auch in der Abstimmung unterlegen – festhalten, dass die Entscheidung nach mehreren Diskussionen demokratisch zustande kam.

Selbst wenn wir das Konzept der Definitionsmacht und seine identitätspolitischen Grundlagen grundsätzlich ablehnen, so müssen wir festhalten, dass sich auch die Gegenseite mit einigen Argumenten keinen Gefallen erwiesen, sondern durch Ton und Inhalt ihrer Argumente schwankende Personen eher verprellt hat. Als Argument gegen die Vorverurteilung wurde oft vorgebracht, dass der Beschuldigte ein verdienter Genosse und tragendes Mitglied der Kampagne sei und über Fähigkeiten und Kontakte verfüge, die wir weiterhin dringend bräuchten. Auch wenn alle positiven Beschreibungen zutreffen, kann das kein Freispruch sein und muss gerade angesichts einer Korrelation zwischen Machtposition und Missbrauchsmöglichkeit die Beschuldigung genau untersucht werden. In gewisser Weise haben damit leider die GegnerInnen der Definitionsmacht die Gegenposition bekräftigt. Auch Vorwürfe der Manipulation oder des Machtmissbrauchs gegen IL und Ko-Kreis wurden gegen Ende zu scharf und zu lange erhoben. Am Anfang haben Ko-Kreis bzw. IL in der Tat Entscheidungen getroffen, die nicht legitimiert waren, wie den Ausschluss des Beschuldigten und die Verlegung des DWE-Büros. Im weiteren Verfahren wurde sich aber um ein formal korrektes und demokratisches Vorgehen bemüht, auch wenn das Ergebnis am Ende inhaltlich falsch war.

Mit der Definitionsmacht und Parteilichkeit fällt DWE nicht nur hinter die Errungenschaften der Aufklärung und bürgerlichen Gesellschaft zurück, sondern bietet keine Perspektive für einen Umgang mit sexuellen Übergriffen für eine linke, proletarische Bewegung. Diese Ideologie bildet auch politisch keineswegs die Breite und Heterogenität ab, die DWE ausmachen und auch für den Erfolg verantwortlich sind. Durch die Entscheidung wurde diese Stärke aufs Spiel gesetzt.

Es ist grundsätzlich legitim von IL & Co., ihre programmatischen und ideologischen Vorstellungen in die Kampagne einzubringen und ihre Position dahingehend auszunutzen. Das heißt jedoch keineswegs, dass dies strategisch gesehen für sie selbst oder die Kampagne klug war. Viele AktivistInnen haben ihr Engagement sofort runtergefahren oder sind nicht mehr für DWE tätig. Damit gehen nicht nur personelle Ressourcen in Zeiten schwerer Wahlkämpfe und nach dem Volksbegehren verloren, sondern auch Netzwerke in Richtung MieterInneninitiativen, -verein und Gewerkschaften. Die VertreterIn der IG Metall Berlin hatte ein Statement vorgelesen, das eindeutig das Missfallen der IGM kundtat, wie DWE mit dem Vorfall umgegangen ist. Reiner Wild, Vorsitzender des MieterInnenvereins hat DWE ebenfalls dafür kritisiert. Alles wichtige BündnispartnerInnen! Wie die anderen Gewerkschaften und die SPD-Linke damit umgehen, bleibt abzuwarten. Es ist jedoch kein Zufall, dass Organisationen und AktivistInnen, die strukturell oder politisch der ArbeiterInnenklasse nahestehen, dieses Ergebnis kritisiert haben. Fakt ist, dass man sie und alle BündnispartnerInnen für den Sieg an der Urne, aber auch für den tatsächlichen Kampf für die Vergesellschaftung danach braucht. Der Umgang mit dem Verfahren schwächte aber dieses gemeinsame Ringen, nicht nur weil es dem/r GegnerIn „Futter“ gibt, sondern die eigene Kampagne schwächt. Dieser politischen Verantwortung müssen sich die IL  und ihre UnterstützerInnen stellen. Zugleich müssen wir aber auch sagen: Ein Rückzug aus DWE, ein Fallenlassen der Kampagne ist der falsche Schritt. Er nützt letztlich nur jenen, die immer schon gegen die Enteignung der Immobilienhaie eintraten.

Bürgerliche Hetze

Die Artikel in Der Tagesspiegel und Die Welt belegen das. Sie haben den Konflikt und das Rechtsverständnis der Definitionsmacht aufgegriffen – nicht weil es ihnen um die Sache geht, sondern um die Kampagne selbst madig zu machen.

So wird eine anonyme Gewerkschafterin bemüht, die die „Interventionistische Linke“ als „wohlstandsverwahrloste Narzissten-Truppe“ und deren Aktivisten und Aktivistinnen als „eitle Berufsquatscher“ denunziert. In Wirklichkeit soll mit solcher Rhetorik die gesamte Initiative diskreditier werden – frei nach dem Motto, nur Verrückte Linksradikale und „Sekten“ wollen Unternehmen enteignen. So weiß der Tagesspiegel auch von rechtschaffenen Leuten zu berichten, die es bereuen, an der Kampagne teilgenommen zu haben: „Zumindest in ver.di sagen einzelne nun, man hätte sich auf die in der Kampagne aktiven ‚Sekten’ nie einlassen sollen.“

Die Stimmungsmache verfolgt einen Zweck. „Noch ist es Zeit zur Umkehr!“, legen Tagesspiegel und Die Welt im Subtext nahe. Die MieterInnenvereine, die Gewerkschaften, DIE LINKE, die allesamt DWE unterstützen, sollen sich am besten laut und vor dem 26. September zurückziehen. Bisher hat ihnen noch niemand den Gefallen getan.

So erklärt die ver.di-Sekretärin Jana Seppelt gegenüber dem Neuen Deutschland vom 1. September richtigerweise, dass dem Vorwurf des sexuellen Übergriffs natürlich nachgegangen werden müsse. Vor allem aber stellt sie klar: „Gleichzeitig gibt es für mich keinen Anlass, die Ziele der Initiative nicht zu unterstützen. Wir haben dazu klare Beschlüsse in der Organisation: Die Mieten fressen die Löhne auf und die Kampagne hat überzeugende Konzepte.“

Das ist die richtige Antwort auf alle jene Bürgerlichen, die jetzt versuchen, politisches Kleingeld aus einem politischen Fehler der Kampagne zu schlagen und die Kampagne und ihre UnterstützerInnen zu spalten. Der gemeinsame Kampf gegen Mietwucher, für Enteignung und für niedrige Mieten kann und muss trotz ideologischer Differenzen weiter gemeinsam geführt werden. Daher: Gewerkschaften, MieterInnenvereine, Linkspartei, linke SPD-lerInnen – tretet weiter für ein Ja beim Volksentscheid ein! Es geht letztlich um eine klassenpolitische Konfrontation, nicht um durchaus schwere, aufzuarbeitende und zu korrigierende Fehler der Kampagne. Daher noch einmal: Unterstützung die Kampagne! JA zur Enteignung, stimmt JA beim Volksentscheid!




Definitionsmacht – eine politische Sackgasse

Martin Suchanek, Infomail 1157, 3. August 2021

In den letzten Jahren erfreut sich das Konzept der Definitionsmacht einer immer weiteren Verbreitung in der linken Szene, vor allem unter autonomen, postautonomen und feministischen Gruppen und Zusammenhängen. Auf den ersten Blick scheint es auch Probleme im Kampf gegen sexuelle Grenzüberschreitungen, Gewalt oder Vergewaltigungen zu lösen, die uns in einer Gesellschaft auf Schritt und Tritt begegnen, in deren Grundstruktur die Unterdrückung von Frauen und LGBTIAQ-Personen eingeschrieben ist.

Diese systematische Unterdrückung spielt sich in regelmäßiger sexueller und sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen ab. So wurde allein in Deutschland rund ein Drittel aller Frauen Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt. In den letzten Jahren müssen wir zudem in vielen Ländern einen Anstieg dieser Verbrechen registrieren.

Gleichzeitig wissen wir alle, wie erniedrigend und retraumatisierend Ermittlungsverfahren und Prozesse ablaufen, wie es erst gar nicht zur Anklage gegen zumeist männliche Täter kommt oder wie oft Prozesse mit einem Freispruch mangels Beweisen enden. Opfer sexueller Gewalt erleben ihre Erniedrigung, Misshandlung, Vergewaltigung gewissermaßen ein zweites Mal. Die oft sexistischen Strukturen bei Ermittlungsbehörden, bei Staatsanwaltschaft und Polizei sowie vor Gericht führen dazu, dass viele Opfer die Tat erst gar nicht zur Anzeige bringen. Hinzu kommt, dass Frauenfeindlichkeit und Sexismus auch das vorherrschende Bewusstsein prägen, so dass v. a. Formen häuslicher Gewalt erst gar nicht als sexuelle oder gewaltsame Übergriffe erscheinen, auch wenn dies rechtlich anerkannt ist.

Grundannahme der Definitionsmacht

Angesichts dieser Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint das Konzept der Definitionsmacht als Lösung oder zumindest als klare Kräfteverschiebung zugunsten der Opfer, die ansonsten ungehört und nicht anerkannt bleiben. Auch wenn sich die VertreterInnen dieses Konzepts in etlichen Punkt, z. B. hinsichtlich dessen Reichweite oder der Konsequenzen, unterscheiden, so gibt es einen grundlegenden gemeinsamen Ausgangspunkt:

Nur die betroffene Person kann definieren, ob wann und welche sexuelle Grenzüberschreitung stattgefunden hat.

So heißt es beispielsweise in einer zusammenfassenden Darstellung:

„1. Definition durch Betroffene

Sexualisierte Gewalt ist das, was ein betroffener Mensch als solches erlebt.

Es gibt keine objektiven Kriterien dafür, was sexualisierte Gewalt ist und was nicht.

Insbesondere sollte kein_e Betroffene_r irgendwem Details mitteilen müssen, wenn sie oder er es nicht selbst möchte.

Details sind nicht nötig, um irgendwem zu glauben oder sich „ein Bild machen“ zu können.

Es sollte ausreichen, wenn Betroffene definieren, was passiert ist und was für einen Umgang sie sich damit wünschen.“

(Thesen zur Definitionsmachtsdiskussion; https://www.kommunikationskollektiv.org/wp-content/uploads/2014/07/Thesen-zur-Definitionsmachtsdiskussion-bei-Koko.pdf)

Oder in einem anderen Papier: „Dieses Konzept sieht vor, dass die betroffene Person die einzige Person ist, welche definieren kann, wann ein Übergriff oder eine Grenzüberschreitung stattfindet. Situationen werden von Mensch zu Mensch anders wahrgenommen, deshalb kann es keine allgemeingültige Definition eines Übergriffs geben.“ (https://awarenetz.ch/wp-content/uploads/2018/07/Glossar.pdf)

Die Tatdefinition der Betroffenen gilt also als gleichbedeutend mit der Definition der Tat selbst. Es geht also nicht nur um die berechtigte und unserer Meinung nach selbstverständliche Forderung, die subjektive Einschätzung und das Empfinden des Opfers als solches anzuerkennen. Vielmehr geht es bei der Definitionsmacht darum, das subjektiv Erfahrene oder Erlebte zu einer allgemeinen Bestimmung zu machen, das Einzelne mit dem Allgemeinen gleichzusetzen.

Die Stärke der Definitionsmacht und ihre Attraktivität macht gerade die Betonung der Erfahrung der Betroffenen aus. Sie verspricht dadurch, das Opfer sexistischer, gewalttätiger, rassistischer, sozial stigmatisierender Handlungen ein Stück weit aus seiner real erlebten und empfundenen Ohnmacht zu erheben. Auch wenn diese Machtumkehr nur auf individueller Ebene stattfindet und noch keine Perspektive der Abschaffung der Gewalt an sich inkludiert, kann man leicht nachvollziehen, dass sie als situativ hilfreiches Mittel wahrgenommen wird, auch wenn sie sich längerfristig und grundsätzlich als problematisches Mittel darstellt.

Hinzu kommt, dass sie das Opfer keinen Befragungen und Nachfragen aussetzt. Gerade angesichts des sexistischen und rassistischen Charakters von Polizei, Justiz und aufgrund der vorherrschenden Ideologie erspart das den Betroffenen tatsächliche weitere Verletzungen, jedenfalls solange der Wirkungsrahmen der Definitionsmacht auf außergerichtliche Auseinandersetzungen und ein bestimmtes Submilieu der Gesellschaft, eine Szene, begrenzt bleibt.

Subjektivismus und Relativierung

Den VerteidigerInnen der Definitionsmacht ist durchaus bewusst, dass diese auch dazu führen kann, dass Menschen zu Unrecht beschuldigt und verurteilt werden. Sie verweisen jedoch darauf, dass der allen Untersuchungen zufolge relative geringe Prozentsatz von falschen Beschuldigungen bedeutet, dass dieser Nachteil durch den Vorteil einer Stärkung der Opfer wettgemacht würde. Hinzu kommt, dass die Anwendung der Definitionsmacht in der Regel auf linke Milieus beschränkt wird und das Verhältnis zur bürgerlichen Gerichtsbarkeit und Staatlichkeit dabei merkwürdig unreflektiert bleibt. Bevor wir jedoch darauf näher eingehen und den Rückfall der Definitionsmacht hinter bürgerliche Rechtsvorstellungen betrachten, müssen wir noch ein anderes Problem betrachten, das sich aus der inneren Logik des Konzepts selbst ergibt.

Gemäß ihm wird die Tat, deren Charakter und Umfang nur vom Opfer bestimmt. Die inkludiert aber auch, dass die Tat selbst gemäß der jeweiligen subjektiven Definition relativiert wird, sobald verschiedene Opfer einer bestimmten Tat verschiedene Definitionen zugrunde legen. Nehmen wir an, dass drei verschiedene Betroffene Opfer eines sexuellen Übergriffs wurden, dass diese drei jedoch verschiedene Definitionen von Vergewaltigung vertreten.

  • Opfer A definiert das Nichtbeachten eines Ja = Ja als Vergewaltigung
  • Opfer B definiert das Ignorieren eines klaren Nein als Vergewaltigung
  • Opfer C definiert nur einen physisch erzwungenen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung

Nehmen wir weiter an, die Täter hätten gegenüber den Opfern A bis C denselben Übergriff begangen. Nehmen wir an, alle drei Täter haben das Ja = Ja nicht beachtet, wohl aber ein klares Nein akzeptiert. So würde Opfer A die Tat als Vergewaltigung definieren, die Opfer B und C nicht.

Die Parameter für obiges Beispiel sind recht einfach definiert. Das reale Leben kennt jedoch noch viele Abstufungen zwischen diesen, die zeigen, dass die Definition im Einzelfall nicht so einfach ist. Wenn wir den Ausgangspunkt der Definitionsmacht zugrunde legen, dass letztlich das jeweilige Opfer definiert, ob ein sexueller Übergriff oder eine Vergewaltigung stattfand, so erhalten wir im obigen Beispiel 3 Definitionen und je mehr wir differenzieren, umso mehr ergeben sich.

Wenn wir die Definitionsmacht ernst nehmen und in ihren Konsequenzen zu Ende denken, so bedeutet das nicht nur, dass das Opfer Tat und Täter definieren kann, es bedeutet auch, dass ein Mensch, der dieselbe Tat begangen hat, in einem Fall Täter, in einem anderen kein Täter wäre. Damit wird ihm letztlich ein Mittel zur Relativierung der eigenen Tat in die Hand gegeben.

Allgemein gültige Kriterien für eine Definition von Vergewaltigung oder eine Kategorisierung sexueller Übergriffe können wir auf Basis der Definitionsmacht nicht erhalten. Auch wenn wir in Rechnung stellen, dass die Abgrenzung verschiedener Arten   sexueller Grenzüberschreitungen schwierig ist, dass es Übergangsformen gibt, so setzt die Bezeichnung einer bestimmten Tat als schwere sexuelle Grenzüberschreitung oder gar als Vergewaltigung immer schon einen allgemein geprägten Begriff ebendieser voraus.

Nur so können andere Menschen überhaupt verstehen, was die Betroffene meint und welche Tat der Täter begangen hat bzw. was ihm vorgeworfen wird. Natürlich kann dieser Begriff selbst einem Bedeutungswandel unterzogen sein und es mag verschiedene Auffassungen über diesen geben (z. B. weitere und engere Definitionen von Vergewaltigung oder sexueller Grenzüberschreitung), aber auch diese finden im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses statt. Unwillkürlich werden andere Menschen die Bezeichnung der Tat auf ihren gesellschaftlich vorherrschenden Begriff beziehen.

Werden Vergewaltigungen oder andere Formen schwerer sexueller Grenzüberschreitungen nur noch rein subjektiv gefasst und wird ihre Bedeutung dementsprechend ausgeweitet, so werden die Begriffe notwendigerweise schwammiger und inhaltsleerer. In unserem Beispiel wären sowohl ein physisch erzwungener Geschlechtsverkehr als auch ein Nichtbeachten eines Ja = Ja eine Vergewaltigung. Der Vorwurf und die Tatbezeichnung umfassen eine so große Bandbreite, dass es Dritten unklar sein muss, was eigentlich vorgefallen ist. Je weiter der Begriff einfach subjektiv aufgeweitet wird, umso vieldeutiger würde er werden. Zugleich würde das Vergewaltigern erlauben, sich hinter diesem vagen Begriff zu verstecken. Die Definitionsmacht würde also paradoxerweise zu einer Entschuldung gerade der schlimmsten Täter beitragen. Selbst ihr Versprechen, die Opfer zu empowern/ermächtigen, würde sich als hohl und letztlich unmöglich erweisen, wenn ihre Grundsätze allgemein würden.

Die Behauptung, dass es keine objektiven Kriterien für eine Vergewaltigung geben und dass diese nur subjektiv von der Betroffenen definiert werden könne, erweist sich bei näherer Betrachtung als hochproblematisch. Aus der Tatsache, dass die Definition dieser Tat (wie jeder anderen Form sexueller Grenzüberschreitung) immer auch von gesellschaftlich vorherrschenden Normen und damit von Klasseninteresse und Patriarchat geprägt ist, folgt keineswegs, dass es daher nur eine subjektive Definition dieser Taten geben könne. Die vorherrschende Definition (auch die strafrechtliche) muss vielmehr selbst als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung, des Kampfes gegen Frauen- und geschlechtliche Unterdrückung sowie des Klassenkampfes in allen seinen Dimensionen begriffen werden. Dieser Kampf verläuft bekanntlich zäh und langwierig, aber kann auch zu Teilerfolgen führen. So wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1992 überhaupt als Straftat rechtlich anerkannt und 2004 schließlich zu einem Offizialdelikt. Diese rechtliche Verbesserung, die auch mit einer Bedeutungsausweitung des Begriffs der Vergewaltigung einherging, wäre mit einem rein subjektivistischen Begriff nicht möglich. Folgt man der Eigenlogik der Definitionsmacht, könnte eine Vergewaltigung allenfalls ein Antragsdelikt sein, dürften Ermittlungsverfahren und Prozess erst nach Anzeige durch die Betroffenen einsetzen. Darüber hinaus lässt sich der Kampf um politische und soziale Reformen (geschweige denn um eine andere Gesellschaft) ohne verallgemeinernde Begriffe und Forderungen nicht führen.

Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn wir aus dem Kreis der Debatten in linken Szenemilieus heraustreten und das Verhältnis der Definitionsmacht zum bürgerlichen Recht und zur Gesellschaft insgesamt betrachten.

Definitionsmacht und bürgerliches Recht

Die Definitionsmacht geht notwendigerweise auch mit einer Absage an bestimmte Normen des bürgerlichen Rechts einher. Gemäß dem Grundsatz, dass nur der Betroffenen ein Recht auf die Definition der Tat zukommt, gibt es auch kein Recht auf Stellungnahme, geschweige denn auf Verteidigung für den Beschuldigten. Je nach Interpretation des Konzepts gibt es verschiedene Vorstellungen darüber, ob über etwaige Sanktionen (z. B. Ausschluss, Outing des Beschuldigten, Bedingungen eines weiteren Verbleibs im Zusammenhang) ebenfalls das Opfer oder die Gruppe entscheidet.

Solange dieser Umgang auf eine linke Kleingruppe beschränkt bleibt, so halten sich die Konsequenzen noch im Rahmen. Schließlich steht es jeder Gruppierung frei, die Kriterien für ihre Mitgliedschaft selbst festzulegen, mögen diese Umgangsnormen auch das Recht auf Verteidigung eines Beschuldigten aushebeln.

Weitaus problematischer wird es freilich, wenn dieses Prinzip über eine noch relative genau definierte Kleingruppe hinaus für ein ganzes Milieu, ein Bündnis oder eine Bewegung zur Anwendung kommen soll. Auch wenn die AnhängerInnen der Definitionsmacht oft betonen, dass sie Gültigkeit für dieses Konzept außerhalb des bürgerlichen Rechtssystems beanspruchen, so wird hier deutlich, dass es um allgemeine gesellschaftliche Gültigkeit geht, die sich im Idealfall auf alle oppositionellen Kräfte und Bewegungen erstrecken und irgendwann zum vorherrschenden gesellschaftlichen Modell werden soll.

Die Definitionsmacht präsentiert sich dabei als Schritt vorwärts gegenüber dem bürgerlichen Recht. Zu Recht werden die sexistischen und frauenfeindlichen Praktiken von Ermittlungsbehörden und Gerichten angeprangert, das bürgerliche Recht als solches verdammt.

Übersehen wird dabei jedoch, dass die Definitionsmacht in Wirklichkeit hinter Errungenschaften des bürgerlichen Rechts, vor allem die Unschuldsvermutung des Beschuldigten und des Rechts auf Verteidigung gegen die Beschuldigung, zurückfällt.

Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht nicht so dramatisch. Schließlich ist die Zahl von falschen Beschuldigungen gemäß vorliegenden Untersuchungen relativ gering, so dass man falsche Verurteilungen unter „ausgleichende“ Gerechtigkeit verbuchen könnte. Dies ist aber nicht nur reichlich zynisch und unglaubwürdig für Menschen, die eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung (und damit auch von Willkür) erkämpfen wollen – es verkennt auch die grundlegenden Probleme.

Ironischerweise wird an dieser Stelle davon abstrahiert, dass Staat und Öffentlichkeit selbst einen Klassencharakter haben. Die Durchsetzung der Definitionsmacht im Rahmen des bürgerlichen Staates oder auch nur deren Akzeptanz im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs würde natürlich der herrschenden Klasse auf staatlich/rechtlicher Ebene, aber auch im Betrieb zusätzliche Möglichkeiten zum Kampf gegen die ArbeiterInnenklasse in die Hand geben.

Als revolutionäre Organisation messen wir unsere Positionen nicht daran, ob sie sich in Kleinstgruppen anwenden und praktizieren lassen, sondern ob sie dazu taugen, eine gesamtgesellschaftliche Perspektive aufzuzeigen. Bezogen auf die gesamte Gesellschaft hebelt die Definitionsmacht eine historische Errungenschaft des bürgerlichen Rechts aus, nämlich das auf Verteidigung eine/r Angeklagten und auch die Unschuldsvermutung. Letztere wird zwar im bürgerlichen Recht selbst an einigen Stellen im Interesse der herrschenden Klasse – z. B. im Arbeitsrecht – relativiert. Im Strafrecht, wo der Staat als Ankläger auftritt, ist das üblicherweise jedoch nicht der Fall – und das stellt eine große und hart erkämpfte Errungenschaft dar. Würde die Definitionsmacht dort zu einem Rechtsgrundsatz werden, so würde das der staatsanwaltschaftlichen Willkür natürlich Tür und Tor öffnen. Nachdem wir wissen, dass die herrschende Klasse letztlich vor nichts zurückschreckt, um ihre Stellung zu verteidigen, wenn sie diese als gefährdet betrachtet, wäre es grob fahrlässig und dumm, ihr solche Möglichkeiten einzuräumen.

Einige VertreterInnen der Definitionsmacht behaupten ferner, dass sie mit diesem Konzept zwar nicht auf dem Boden des bürgerlichen Rechts, dafür aber auf jenem der Moral stehen. Doch auf welcher? Hat diese etwa keinen Klassencharakter? Und welchen Fortschritt soll eine Moral verkörpern, die Errungenschaften des bürgerlichen Rechts entstellt? Würde sie zu einer allgemeinen Regel, würde die Definitionsmacht schließlich keinen Schritt Richtung befreiter Gesellschaft, sondern ein Zurück zu vorbürgerlichen Zuständen darstellen, mit welcher Moral dies auch immer gerechtfertigt sein mag.

Die Definitionsmacht stellt, unabhängig von den Intentionen ihrer AnhängerInnen, ein reaktionäres Konzept dar, das die Linke und die ArbeiterInnenklasse kategorisch zurückweisen müssen.

Methodisches

Unsere Organisation hat die Definitionsmacht in den letzten Jahren abgelehnt – und wie wir gezeigt haben, aus guten Gründen. Das zentrale Problem besteht methodisch im Grunde darin, dass sie die Frage vom Standpunkt des Einzelindividuums aus betrachtet, vom Standpunkt von Opfer und Täter als Individuen, die einander gegenüberstehen. Für die Definitionsmacht besteht die Gesellschaft im Grunde aus einzelnen Individuen, deren subjektive Erfahrung wird zum entscheidenden Kriterium für Wahrheit. Unterdrückte Gruppen erscheinen auf dieser Grundlage bloß als eine Menge von Menschen, die gemeinsame Merkmale teilen, die ihnen z. B. eine gemeinsame diskriminierte (oder privilegierte) Stellung zukommen lassen. Aus dieser erwächst essentialistisch, quasi als Natureigenschaft von Opfern, ein privilegierter Zugang zur Wahrheit im Sinne der Identitätspolitik (zur ausführlichen Kritik: https://arbeiterinnenmacht.de/2021/03/06/identitaet-als-politisches-programm-marxismus-und-identitaetspolitik/), deren Verlängerung das Konzept darstellt.

Für den Marxismus hingegen sind Klassen oder gesellschaftlich Unterdrückte nicht einfach eine Ansammlung vieler Individuen, sondern gesellschaftlich Gruppen, die durch ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Produktion und Reproduktion, also im Rahmen einer gesellschaftlichen Totalität bestimmt werden. Wo die bürgerliche Wissenschaft den Klassenbegriff verwendet, so stellt dieser jeweils voneinander abgegrenzte Gruppen (z. B. von EinkommensbezieherInnen in der Soziologie) dar. Für den Marxismus hingegen ist wesentlich, dass Klassen nur im Verhältnis zu anderen Klassen begriffen werden können (also kein Kapital ohne Lohnarbeit, keine Lohnarbeit ohne Kapital). Der Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit bildet den wesentlichen, grundlegenden  Widerspruch in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, weil er sich auf die Stellung der Hauptklassen im Produktionsprozess bezieht. Die Pole des Gegensatzes stehen einander nicht nur gegenüber, sondern durchdringen sich auch, reproduzieren einander. Dies trifft, gesamtgesellschaftlich betrachtet, auch auf Unterdrückungsverhältnisse zu.

Betrachten wir Betroffene und Täter nur als einander gegenüberstehende Individuen, so verschwindet dieses gesellschaftliche Verhältnis tendenziell. Gleichwohl bestimmen diese auch die jeweilige konkrete Opfer-Täter-Relation immer schon mit, sind dieser letztlich vorausgesetzt. Opfer und Täter werden sie vor dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung. Dazu gehören auch bestimmte Vorstellungen von Opfer und Täter, bestimmte Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Bestrafung, der Arten von Strafen (Gefängnis, Folter, Todesstrafe), dem Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung der einzelnen AkteurInnen und allgemein als zu bestrafende Verbrechen anerkannter Taten.

Der Blick auf das jeweils individuelle Verhältnis von Opfer und Täter als einander ausschließende Bestimmungen hat durchaus ein gewisses Recht, solange wir nur den Einzelfall betrachten. Größere Unterdrückungszusammenhänge manifestieren sich zwar im Rahmen eines gesellschaftlichen Verhältnisses, aber natürlich ist jedes Opfer immer auch konkretes, einzelnes von einem oder mehreren konkreten Tätern. Zu Recht fordert zudem jedes Opfer auch eine individuelle Anerkennung der spezifischen Tat, eine besondere Form der Wiedergutmachung und den Schutz vor weiteren Übergriffen. Daher muss auch jeder einzelne Fall immer spezifisch untersucht werden. Dazu bedarf es auch gesellschaftlich allgemeiner, anerkannter Institutionen, um unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände Recht zu sprechen.

Linke Organisationen, ArbeiterInnenbewegung und Gesellschaft

Gesamtgesellschaftlich bedarf es daher eines Schutzes der individuellen Opfer sowie von Strafen, der Prävention und Resozialisierung bezüglich der Täter (wie im Grunde bei allen anderen Verbrechen auch). Solange die ArbeiterInnenklasse nicht die politische Macht erobert und die bürgerlichen Gerichte ersetzen kann, repräsentiert der bürgerliche Staat das gesellschaftlich Allgemeine. In der bestehenden Gesellschaft ist dieses zwar immer ein falsches Allgemeines, weil der Staat selbst ein Klassenstaat ist und die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft reproduziert.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass der Linken oder der ArbeiterInnenklasse die bestehenden Institutionen, Verfahren, demokratischen und materiellen Rechte von Opfern sexueller Gewalt gleichgültig sein dürfen. Im Gegenteil. Anders als vielen VertreterInnen der Definitionsmacht geht es uns nicht darum, eine besondere, für eine linke oder „fortschrittliche“ Szene oder ein bestimmtes Milieu gültige Form des Umgangs mit sexuellen Grenzüberschreitungen oder sexueller Gewalt zu schaffen.

Natürlich sollen linke Organisation oder auch ArbeiterInnenorganisationen wie Gewerkschaften strenge Regeln einführen, die sexuelle Grenzüberschreitungen und Gewalt in den eigenen Organisationen sanktionieren – bis hin zum Ausschluss. Sie werden dabei strengere Kriterien anwenden als der bürgerliche Staat, aber sie werden bei internen Untersuchungen das Recht auf Verteidigung des Beschuldigten garantieren. Vor allem aber muss ihnen bewusst sein, dass sich ihre internen Strukturen erstens und vor allem darauf beziehen, sexistisches (und anderes rückschrittliches) Bewusstsein und Verhalten zu problematisieren und zurückzudrängen, um die gemeinsame Kampfkraft zu stärken. Das schließt auch ein, dass gesellschaftlich Unterdrückte das Recht auf eigene, gesonderte Treffen haben müssen, um den Kampf gegen Sexismus auch in den eigenen Organisationen voranzubringen. Zweitens müssen Vorwürfe von schwerem oder wiederholtem sexistischen Verhalten von Untersuchungskommissionen geprüft werden, die mehrheitlich aus Unterdrückten zusammengesetzt sind. Diese müssen darauf abzielen, vor allem die Betroffenen zu stärken, und, für den Fall einer erwiesenen Schuld, Maßnahmen in besonders erschweren Fällen ergreifen, bis hin zum Ausschluss.

Forderungen und bürgerlicher Staat

Diese Vorgehensweise in der ArbeiterInnenklasse, in sozialen Bewegungen oder in linken Organisationen sollte jedoch nicht als Ersatz für den Kampf gegen sexuelle Gewalt und sexuelle Übergriffe in der Gesellschaft betrachtet und auch nicht damit verwechselt werden.

Wenn wir Forderungen an den bürgerlichen Staat stellen, uns für demokratische Reformen von Justiz, Strafrecht, finanzielle und andere materielle Unterstützung von Opfern einsetzen, so nicht weil wir den Rechtsstaat als letztes Wort der Geschichte, sondern als Teil des umstrittenen Kampffeldes für eine zukünftige Gesellschaft betrachten. Dies würde folgende Aspekte inkludieren:

a) Schutz der Opfer sexueller und sexualisierter Gewalt durch Aufbau von Frauenhäusern; Ausbau von Hilfeeinrichtungen. Diese müssten durch den Staat voll finanziert und von den betroffen Frauen und sexuell Unterdrückten selbst verwaltet werden. Die Betreuung der Betroffenen erfordert auch den massiven Ausbau und den kostenlosen Zugang zu Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen, so dass die Betreuung der Opfer professionell und durch geschultes Personal erfolgen kann.

b) Kontrolle aller Schritte der Ermittlung durch VertreterInnen von Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Betroffene müssen das Recht auf Beistand von Personen ihres Vertrauens bei Befragungen und auf Ablehnung der befragenden BeamtInnen haben.

c) Wahl von LaienrichterInnen aus den Reihen von Frauenorganisationen, sexuell Unterdrückten und der arbeitenden Bevölkerung statt zumeist männlicher, weißer Berufsrichter.

d) Ausbau von Programmen zur Resozialisierung von Gewalttätern unter Kontrolle von Gewerkschaften und Frauenorganisationen.

e) Thematisierung von sexueller und sexualisierter Gewalt an Schulen, in der Erziehung, in den Betrieben, um diese zurückzudrängen, Opfer zu schützen und bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu helfen. Selbstverteidigung sowie das Caucusrecht für Unterdrückte auf allen Ebenen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung sind zusätzlich nötig.