Fridays For Future: Stell dir vor, es ist Klimastreik und alle gehen hin

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Millionen

Der Auftakt der #WeekForFuture am 20. September war ein voller Erfolg. Schätzungsweise 4 Millionen Menschen aus 161 Staaten beteiligten sich an 5.800 Aktionen. Allein in Deutschland sind den VeranstalterInnen zufolge rund 1,4 Millionen Menschen auf den Beinen gewesen. In Australien waren es mindestens 300.000. In Kapstadt sollen es rund 2.000 AktivistInnen gewesen sein, in New York 250.000. In London sammelten sich etwa 100.000.

Auch am 27.
September zum Abschluss der Aktionswoche konnten wir beeindruckende
Menschenmassen sehen. Hier kam es laut VeranstalterInnen zu rund 6.000 Aktionen
in 170 Staaten. Allein in Italien demonstrierten schätzungsweise eine Million
Menschen, in Österreich rund 150.000, in Neuseeland 170.000, in Chile mehrere
Zehntausend. Im kanadischen Montreal versammelten sich eine halbe Million
Menschen.

Bereits im
Vorfeld kam es zu einer erneuten Zunahme von Mobilisierungen der Klimabewegung.
So fanden vom 13.-15. September in Frankfurt am Main Proteste gegen die
Internationale Automobilausstellung (IAA) statt. Unter dem Titel „Sand im
Getriebe“ mobilisierten hierzu unterschiedliche NGOs, die Grünen und die
Linkspartei sowie Teile der radikalen Linken. Laut VeranstalterInnen nahmen
rund 25.000 Menschen teil. Ebenso wie das restliche politische Programm der
Bewegung schreckte auch der Protest hier vor der Eigentumsfrage und der
Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung der Produktion, weg von der individuellen
hin zur kollektiven Mobilität, zurück.

International
handelt es sich bei der #WeekForFuture um die größte koordinierte Mobilisierung
seit dem Irakkrieg. Hier gingen im Februar 2003 weltweit etwa 20 bis 30
Millionen Menschen auf die Straße. An dieser Stelle möchten wir betonen, dass
sich an den Generalstreiks in Indien in den letzten Jahren mehrfach 150 bis 200
Millionen beteiligten, ein Aufgebot an Widerstand, zu dem die Bewegung den
Schulterschluss suchen muss.

Momentan verfügt
sie jedoch vor allem in den imperialistischen Nationen über Schlagkraft. So
gingen beispielsweise am 20.9. in Thailand etwa 250 Menschen und in Afghanistan
rund 100 auf die Straße. Hier bildet Brasilien eine gewisse Vorbildfunktion.
Dort besteht nicht nur mit den Bränden im Amazonas eine Dringlichkeit, sondern
schon seit Monaten existiert eine Massenbewegung gegen das Regime Bolsonaros,
der nicht nur auf der Ebene des Umweltschutzes einen Generalangriff fährt. Hier
sehen wir eine Verbindung mit den Kämpfen der Landlosen, der indigenen
Bevölkerung und den kämpfenden Beschäftigten.

Dabei sind es
momentan vor allem die halbkolonialen Länder, die mit den Folgen der
systematischen Umweltzerstörung leben müssen. So erleben wir gerade massive
Proteste in Indonesien, u. a. gegen die massiven Brandrodungen der Regenwälder,
die Verschärfungen des Strafrechts und die Zunahme giftigen Smogs. Hier
produziert beispielsweise der deutsche Konzern HeidelbergCement. Nach der
Zerschlagung der Proteste und dem Klimapaket der Bundesregierung, welches den
CO2-Ausstoß bei der Zementproduktion mit keinem Cent besteuert, steigt die
Aktie des Konzerns wieder kräftig. Hier müssen InternationalistInnen im Kampf
ansetzen.

Wer kämpft?

In erster Linie
haben wir es hier mit einer Massenbewegung von SchülerInnen zu tun. Jedoch
handelt es sich dabei nicht um eine sozial einheitliche Gruppe, sondern eine
gemäß der Klassenherkunft ihrer Familie differenzierte. Die Gruppen, die das
Außenbild der Bewegung prägen, sind vor allem sozial besser gestellte
Jugendliche, die aus der lohnabhängigen Mittelschicht, dem
BildungsbürgerInnentum, dem KleinbürgerInnentum oder der
ArbeiterInnenaristokratie stammen. Aus diesen beiden Faktoren entsteht ein
Spannungsverhältnis. Die soziale Vorherrschaft von Mittelschichten und KleinbürgerInnentum
drückt sich ideologisch auch im Programm, in den Zielsetzungen und im
Bewusstsein der Bewegung aus.

Hieraus folgt
für RevolutionärInnen, dass wir nicht einfach nur die Bewegung aufbauen,
sondern auch für einen proletarischen Klassenstandpunkt kämpfen müssen.

Welche Hürden
überwinden?

Auf der einen
Seite kämpft die gesamte Bewegung dafür, die Regierung zum Einlenken in der
Klimafrage zu bewegen. Sie will von der herrschende Klasse und dem Kapital
Maßnahmen erzwingen und die bürgerliche Politik selbst entlarven. Sie hegt
reale Illusionen darin, dass die Bundesregierung bzw. die auf dem UN-Gipfel
versammelten Staats- und RegierungschefInnen von einer „vernünftigen“, im
Interesse alle Klassen liegenden Klimapolitik überzeugt werden könnten.

So ist der wohl kämpferischste Auszug aus der Rede von Greta Thunberg vor dem UN-Klimagipfel folgender: „Ihr sagt, dass Ihr uns ‚hört‘ und dass Ihr die Dringlichkeit versteht. Aber egal wie traurig und wütend ich bin, will ich das nicht glauben. Wenn Ihr die Situation wirklich verstehen würdet und uns immer noch im Stich lassen würdet, dann wärt Ihr grausam und das weigere ich mich zu glauben.“ (The Guardian, 23. September 2019)

Er verdeutlicht
sinnbildlich die Widersprüche der Bewegung. Zum einen klagt Thunberg die
Herrschenden offen für ihre Weigerung zu handeln, für ihre hohle „Klimapolitik“
an. Zum anderen weigert sie sich verbittert, aber auch umso sturer zu
akzeptieren, dass diese tatsächlich auf der anderen Seite stehen.

Hartnäckig
stellt sie das Problem so dar, als ginge es darum, dass „die Politik“ dessen
Dringlichkeit endlich richtig verstehen müsse. Ansonsten wäre sie nämlich
„grausam“. Letztlich präsentiert sie also die Frage rein moralisch. Die
Regierenden müssten nur richtig zuhören, die Lage akzeptieren, wie sie ist –
und alsdann handeln.

Der systemische
Charakter des Kapitalismus fällt vollkommen aus dem Blickfeld. Die objektiven
Klasseninteressen, die den FunktionsträgerInnen des Kapitals in den Konzernen
wie in den bürgerlichen staatlichen Institutionen vermittelt über die
Konkurrenz bestimmtes Handeln ganz unabhängig vom Bewusstsein oder der Vernunft
des Einzelnen aufzwingen, werden erst gar nicht zur Kenntnis genommen.

Daher auch der
beeindruckende moralische Impetus der Rede von Thunberg einerseits, der
andererseits eine hoffungslose und ohnmächtige Perspektive entspricht – der
ständig wiederholte Appell an die Mächtigen der Welt, doch endlich ihr Herz und
Hirn zu gebrauchen und die Menschen nicht weiter im Stich zu lassen.

In Wirklichkeit
zwingt die kapitalistische Produktionsform samt ihrer freien Konkurrenz die
einzelnen ProduzentInnen, ohne Rücksicht auf ihren Ressourcenverbrauch oder
ihre Abfallerzeugung zu wirtschaften, da sie sonst verdrängt werden könnten.
Nachhaltigkeit ist für sie in erster Linie ein Kostenfaktor, der ihre Profite
nicht weiter schmälern soll. Wir müssen die Unvereinbarkeit von Nachhaltigkeit
und kapitalistischer Produktion verdeutlichen.

Generalstreik
und Klassenfrage

Mit dem Aufruf
zum 20. und 27. September hatte die Bewegung einen Schritt vorwärts gemacht,
insofern sie zu einem globalen Generalstreik aufrief. Allerdings wurde und wird
darunter nicht eine kollektive, organisierte Arbeitsniederlegung der
Lohnabhängigen und ihrer Gewerkschaften verstanden, sondern eher eine individuelle
Entscheidung einer/s Einzelnen. Wer – ob nun während der Arbeitszeit oder am
arbeitsfreien Tag – zur Demonstration kommt, „streikt“. Es streiken
Beschäftigte ebenso wie Unternehmen, die, ob aus Solidarität oder Werbezwecken,
ihr Geschäft für einen Tag oder einige Stunden schließen.

Auch das
entspricht der vorherrschenden kleinbürgerlichen Ideologie der Bewegung. Diese
kommt umgekehrt auch den Gewerkschaftsführungen gelegen, die einen politischen
Streik, also eine echte Konfrontation mit Kapital und Kabinett fürchten wie der
Teufel das Weihwasser. Die Führung der Bewegung wiederum will – insbesondere
hier in Deutschland – den Gewerkschaftsapparat nicht verschrecken und lehnte
daher mehrheitlich ab, die Generalstreiksforderung an die Organisationen zu
richten, die ihn durchführen hätten können. Diese riefen nicht zum Streik,
sondern höchstens zum Ausstempeln auf.

Dies
erleichterte es zugleich einer Reihe von Parteien und Unternehmen, Greenwashing
zu betreiben, während der Kampf beim reinen Protest stehenbleiben muss. Allein
in Deutschland erklärten sich 2.800 Unternehmen solidarisch.

Hieraus folgt,
dass die ArbeiterInnen zumeist aus „Nettigkeit“ ihrer Unternehmen an diesem Tag
demonstrieren konnten. In Berlin und New York wurde weiten Teilen der öffentlichen
Beschäftigten an diesem Tag frei gegeben, was die Größe der Demonstrationen
erklärt.

Heute erscheint
vielen in der Bewegung dieser klassenübergreifende Charakter der Proteste, der
Aktionen und ihrer Ziele als Stärke. In Wirklichkeit besteht darin ihre größte
Schwäche.

Antikapitalismus

Deshalb müssen
wir uns als  AntikapitalistInnen in
den Protesten für eine offene Debatte um die Perspektive des Kampfes gegen den
Klimawandel einsetzen. Er kann nur erfolgreich sein, wenn er die Eigentumsfrage
ins Zentrum rückt. Ohne entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne, ohne
Kontrolle über Forschung und Wissenschaft durch die ArbeiterInnenklasse und die
Masse der Unterdrückten sind effektive Klimaschutzmaßnahmen unmöglich, da diese
vor allem eine Veränderung der Produktion, die ökologische Nachhaltigkeit mit
der Befriedung der Bedürfnisse der großen Masse der Menschheit verbindet,
erfordern.

Die notwendigen
Maßnahmen zur Reduktion der Emissionen und zur Umstellung der Ökonomie sind
undenkbar ohne einen international koordinierten Plan, sozialistischen Umbau
der Wirtschaft. Bauen wir daher gemeinsam einen revolutionären,
klassenkämpferischen Pol in der Bewegung auf!




Extinction Rebellion: Alle Klassen für das Klima?

Jan Hektik/Martin Suchanek, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Extinction Rebellion (XR) ist bekannt als radikaler Teil der
Umweltbewegung und als enge Bündnispartnerin von Fridays for Future. Gerade in
Großbritannien und den USA steht sie im Fokus der öffentlichen Debatte. Doch
wofür tritt XR ein? Was sind ihre Taktiken? Und was ihre Stärken und Schwächen?
Mit diesen Fragen möchte sich dieser Artikel auseinandersetzen.

Was macht Extinction Rebellion?

XR ist eine auf öffentlichkeitswirksame Aktionen abzielende
Bewegung, die vor allem in Großbritannien viele AnhängerInnen und große
Protestaktionen organisiert hat. Auch in Deutschland existieren ca. 30
Ortsgruppen, Tendenz rasch steigend. Mittlerweile soll XR bundesweit rund
16.000 Mitglieder haben.

Zunächst einmal muss man positiv hervorheben, dass durch XR
viele Jugendliche aktiv auf die Straße gehen und in Konflikt mit dem
bürgerlichen Staat treten, gegen den wir letztlich die Rettung unserer
Lebensgrundlagen durchsetzen müssen. Weiterhin hat XR es geschafft, zumindest
in Großbritannien eine große Öffentlichkeit zu erreichen und so die allgemeine
Debatte maßgeblich zu beeinflussen. Dies geschieht vor allem in Aktionen
zivilen Ungehorsams wie Straßenblockaden aber auch in künstlerischen
Protestformen wie z. B. „Die-Ins“ (sich an öffentlichen Orten massenweise tot
stellen). Dort erreichten die Aktionen teilweise eine Größe von 6.000
TeilnehmerInnen, was aber inzwischen auch zu hunderten, wenn nicht tausenden Verhaftungen
führte. Laut XR ist es sogar das Ziel, solche zu provozieren, um eine größere
Öffentlichkeit zu schaffen. Weiterhin soll gewaltfrei agiert werden, damit die
Öffentlichkeit sich eher mit den Protesten solidarisiert, also „die richtigen
Bilder geschaffen werden.“

In Deutschland organisierte XR bislang eine symbolische
Blockade der Internationalen Automobilausstellung sowie Aktionen um Fridays for
Future und die Kampagne plant vom 7. Oktober an, „Berlin lahmzulegen“, wozu
mehrere tausend AktivistInnen erwartet werden.

Grundforderungen

Bevor wir uns mit den Aktionsformen auseinandersetzen, geben wir zunächst die drei Grundforderungen von XR auszugsweise wieder:

„Sagt die Wahrheit!

Die Regierung muss die existenzielle Bedrohung der ökologischen Krise offenlegen und den Klimanotstand ausrufen. Alle politischen Entscheidungen, die der Bewältigung der Klimakrise entgegenstehen, werden revidiert. (…)

2. Handelt jetzt!

Die Regierung muss jetzt handeln, um die vom Menschen verursachten Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf Netto-Null zu senken. (…)

3. Politik neu leben!

Die Regierung muss eine Bürger:innenversammlung für die notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe und für Klimagerechtigkeit einberufen. Darin beraten und entscheiden zufällig ausgewählte Bürger:innen darüber, wie die oben genannten Ziele erreicht werden können. (…) Die Regierung verpflichtet sich, die Beschlüsse der Bürger:innenversammlung umzusetzen.“

Diese drei Forderungen stellen für XR gemeinsam mit 10 „Prinzipien und Werten“ das inhaltliche Konzept dar.

Vertrauen in bürgerliche Politik

Die Grundforderungen verdeutlichen einen zentralen
Widerspruch, der sich durch die ganze Bewegung zieht. Einerseits präsentiert
sie sich als radikaler, internationaler und aktionistischer Flügel der
Umweltbewegung. Andererseits bleiben die Forderungen sogar weit hinter deren
reformistischen oder selbst linken kleinbürgerlichen Teilen zurück. Während z.
B. reformistische Parteien, attac oder die verschiedenen NGOs konkrete
Forderungen aufstellen, belässt es XR bei einem allgemeinen Aufruf an die
Regierung. Diese solle nicht nur „die Wahrheit sagen“ und „endlich handeln“,
sie soll darüber hinaus auch selbst festlegen, welche Maßnahmen notwendig sind,
damit die Klimaziele bis 2025 erreicht werden können.

Dieselben Regierungen, die über Jahrzehnte versagt und die
Interessen der großen Kapitale bedient haben, sollen wie durch ein Wunder zu
„Klimaretterinnen“ mutieren. Und nicht nur das. Sie sollen nicht einmal
konkrete Forderungen z. B. nach Besteuerung der Profite der großen Konzerne
oder Ausbau des öffentlichen Nachverkehrs umsetzen, sondern selbst entscheiden,
wer wie welchen Anteil an den notwendigen Maßnahmen und deren Kosten übernehmen
soll. Mit anderen Worten: es wird der bürgerlichen Regierung überlassen zu
entscheiden, wie viel UnternehmerInnen oder Lohnabhängige, arm oder reich
„beitragen“ müssen. Allenfalls wird unverbindlich angemahnt, dass „die
Bedürfnisse der Menschen, die von der ökologischen Krise am stärksten
betroffenen sind, (…) Priorität“ haben sollen. Solche Allerweltserklärungen
könnten selbst Trump, Merkel und Johnson unterzeichen – sie verpflichten
schließlich zu nichts.

Klassen?

XR gibt sich zwar militant und kämpferisch, offenbart aber ein rühriges Vertrauen in das bestehende politische System. Die Bindung des Staatsapparates und der Regierung an die Interessen des Kapitals kommt erst gar nicht vor. XR strebt vielmehr eine Bewegung aller Klassen an, wenn aufgerufen wird, sich „der Rebellion für das Überleben anzuschließen, unabhängig von Religion, Herkunft, Klasse, Alter, Sexualität, Geschlecht sowie politischer Neigung.“ (https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind)

So richtig es ist, für eine Bewegung unabhängig von
Religion, Nationalität, Geschlecht, sexueller Orientierung einzutreten, so
problematisch wird es, wenn „politische Neigung“ und „Klasse“ keine Rolle
spielen sollen.

Was die „politische Neigung“ betrifft, so ist schon der
Begriff problematisch. Ob jemand rassistische oder anti-rassistische,
internationalistische oder nationalistische, bürgerliche, kleinbürgerliche oder
proletarische politische Positionen vertritt, ist eben keine Frage einer
„Neigung“ wie z. B. ob jemand lieber Wasser mit oder ohne Kohlensäure trinkt.
Es geht hier darum, welchen politischen, letztlich welchen Klassenstandpunkt
eine Person oder gar eine ganze Bewegung einnimmt. So richtig es ist, dass wir
für neue Menschen offen sein müssen, so bedarf es auch einer klaren Abgrenzung
gegenüber rassistischen und nationalistischen Positionen, so müssen bürgerliche
und kleinbürgerliche pro-kapitalistische Positionen offen politisch bekämpft
werden. Alles andere läuft nicht auf eine „bunte“ Bewegung hinaus, sondern auf
eine Unterordnung der großen Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten.

BürgerInnenversammlung?

Darüber hinaus lehnen wir auch die Forderung nach
BürgerInnenversammlungen ab, deren Mitglieder gar nicht gewählt, sondern per
Los, also rein zufällig bestimmt werden sollen. Ein solches Gremium wäre nicht
nur leicht von Regierung und bürgerlichen ExpertInnen manipulierbar, es wäre
auch undemokratischer als jedes Parlament.

Auch dieses verschleiert zwar, wer die eigentliche Macht in
der Gesellschaft ausübt: die EigentümerInnen von Energie-, Autokonzernen und
Transportunternehmen, von Banken und Versicherungen, von Medien und
IT-Unternehmen, um nur einige wichtige Teile der KapitalistInnenklasse zu
nennen. Sie haben kein Interesse daran, einen effektiven Klimaschutz zu
schaffen, sobald er ihren Profitinteressen entgegensteht.

Aber zu den Parlamentswahlen treten wenigstens politische
Parteien an, die verschiedene Klassenkräfte repräsentieren (können), die die
Lohnabhängigen somit als Feld nutzen können, ihr Programm zu vertreten. Selbst
das würde bei der Verlosung zur „BürgerInnenversammlung“ völlig entfallen.
Statt die Regierung und den Staatsapparat besser zu kontrollieren, würden diese
in Wirklichkeit gestärkt werden.

Kontrolle und Räte

Wirklicher Klimaschutz erfordert daher, nicht weitere, gar
noch undemokratischere Anbauten am bürgerlichen Staat vorzunehmen, sondern
vielmehr den Kampf für klassenspezifische, in den Betrieben, Unternehmen,
Stadtteilen und Kommunen verwurzelte Strukturen der Gegenmacht. Diese müssten
z. B. kontrollieren, was zu welchem Zweck erforscht wird. Diese müssten die
Schwerpunkte für eine nachhaltige Produktion im nationalen wie internationalen
Maßstab festlegen. Solche Organe wären Mittel der ArbeiterInnenkontrolle, die
vor allem in den großen Energie-, Verkehrs- und Verschmutzungsindustrien, in
den Banken usw. eingeführt werden müssten. Sie müssten die Aufstellung eines gesellschaftlichen
Plans kontrollieren, der ökologische Ziele und die Bedürfnisse der Mehrheit der
ProduzentInnen und KonsumentInnen in den Mittelpunkt stellt.

Solche Kontroll- und Kampforgane würden ihrerseits rasch mit
den Machtorganen der Unternehmen wie des Staates zusammenstoßen. Um deren
unvermeidlichen Widerstand zu brechen, müssten sie selbst den Schritt von
Organen der Gegenmacht zu Organen der ArbeiterInnenmacht, einer sozialistischen
Umgestaltung machen.

Anhang: Welche Aktionsform?

Daher treten wir für massenhafte, kollektive Aktionsformen,
die den Kern der verantwortlichen Industrien treffen, ein: Streiks,
Besetzungen, Massendemonstrationen. Auch eine Platzbesetzung wie sie XR in
London ausgeführt hat, kann sinnvoll sein. Es braucht aber vor allem demokratisch
gewählte Organe von ArbeiterInnen, Unterdrückten und Jugendlichen.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage der
Gewaltfreiheit. Da es hierbei um das Überleben der Menschheit geht, ist
eigentlich klar, dass im Notfall leider Gewalt angewendet werden muss – schon
allein zur Selbstverteidigung gegen die unvermeidliche Repression durch den
Staat oder unternehmensnahe rechte Kräfte. In der Tat wäre die Alternative,
weiter zuzulassen, dass Klimakiller unsere Umwelt zerstören, alles andere als gewaltfrei.
Sie bedeutet nämlich massenhafte Vertreibung und letztlich die Zerstörung der
Lebensgrundlage vieler Millionen Menschen.

Die Frage lautet daher, welche Art von Gewalt und
Aktionsform für uns sinnvoll ist. Sicher können „Die-Ins“kurzzeitig ein medienwirksames
Symbol darstellen. Wirklich unter Druck setzen wird dies aber weder Regierung
noch Konzerne. Erst eine massenhafte militante Streikaktion kann das tun. In
diesem Sinne sollten die Schulstreiks fortgeführt werden und die Verbindung zu
ArbeiterInnen suchen. Die Polizei wird nicht geneigt sein, solche Aktionen mit
Samthandschuhen und Humor zu behandeln, aber diese können organisiert und
kollektiv verteidigt werden.




Thüringen-Wahl: Mehr als „Bodo“ oder „Björn“?

Tobi Hansen, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Am 27. Oktober wird in
Thüringen ein neuer Landtag gewählt – Abschluss der herbstlichen „ostdeutschen“
Landtagswahlen. Größere Überraschungen sind nicht zu erwarten.

Die AfD mit Flügel-Führer
Höcke wird sicher über 20 % landen. Unklar ist nur, ob sie vor der CDU liegen
wird. Seit Monaten liegt die Regierungspartei Linkspartei mit rund 28 % relativ
sicher auf Platz 1 der Umfragen. Sollte sie allerdings wie in den
vorhergehenden Wahlen diese Werte deutlich unterbieten, dann könnte sogar ein
„Dreikampf“ mit AfD und CDU entbrennen.

SPD und Grüne, beide
Regierungspartnerinnen von Ministerpräsident Ramelow, kämpfen jeweils um die 10
%. Für die Grünen wäre das Rekordergebnis, für die SPD womöglich ein weiterer,
wenn auch relativ unspektakulärer Tiefpunkt. Beide dürften allerdings ziemlich
bereitwillig für eine Fortsetzung von Rot-Rot-Grün zur Verfügung stehen. Die
FDP könnte auch in Thüringen an der 5-%-Hürde scheitern, wie auch von „Freien
Wählern“ oder der NPD zumindest in den Umfragen wenig zu sehen ist.

Personalisierung statt
Kampf

Die Linkspartei setzt
ganz auf den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Dieser gilt als beliebter
„Landesvater“ und möchte, wie auch Woidke und Kretschmann zuvor, vom Amtsbonus
profitieren. Der thüringischen CDU stehen bei Platz 3 stürmische Zeiten bevor.
Schließlich regierte sie bis 2014 in Erfurt. Nach dem Amtsantritt des ersten
„roten“ Ministerpräsidenten traten CDU, AfD und „WutbürgerInnen“ schon mit
Fackeln bei Demos auf. Viele sahen SED und Stasi gar wieder an der Macht.

Fünf Jahre später rühmt
sich Rot-Rot-Grün, dass die Regierung immerhin gehalten habe. Dass sie als
normale, bürgerliche Sachwalterin die Regierungstauglichkeit bewiesen hat,
rechnet sich die Koalition hoch an. Auch die Linkspartei kommt mit ihrem
personalisierten Wahlkampf richtig „etabliert“ daher. „Nähe, Verlässlichkeit
und Offenheit“ verspricht Bodo vor thüringischem Wald und See vom Werbeplakat.
In der ländlichen Region wird angepackt und in der Stadt Offenheit gelebt. Bodo
ist besser für Thüringen, darauf konzentriert sich der Wahlkampf.

In Thüringen ist die
Welt, wenigstens im Linkspartei-Wahlkampf, noch in Ordnung. Beseelt von der
Gewissheit, dass nur DIE LINKE für sozialen Fortschritt stehe, scheint es keinen
sichtbaren Widerstand gegen die Regierungspolitik in der Landespartei zu geben.
So rühmt sich die Koalition, dass sie mehr in den öffentlichen Dienst
investiert habe. Während bei der Polizei aufgestockt wurde, fehlen auch 2019
350 LehrerInnen. Die Koalition würde außerdem etwas für die Tarifbindung der
Beschäftigten im Land tun. Die generelle Rechtfertigung von Rot-Rot-Grün
lautet, dass sie „Schritt für Schritt“ eine bessere Politik als die
CDU-geführten Landesregierungen umsetzen würde. Gemessen daran war die
Landesregierung bestimmt „erfolgreich“, was zum Teil sicher auch die guten
Umfragewerte der Linkspartei und das weitgehende Fehlen einer linken Opposition
erklärt.

Der andere Faktor für die
relative Stabilität der Koalition und ihre gar nicht so schlechten Aussichten
weiterzumachen besteht darin, dass sie als eine, wenn auch vor allem
parlamentarische Barriere gegen die AfD erscheint. Deren Thüringer Landespartei
gehört zweifellos zum Rechtesten, was Rassismus und Rechtspopulismus derzeit zu
bieten haben. Höcke darf nach dem letzten Gerichtsurteil sogar „offiziell“ als
Faschist bezeichnet werden. Die CDU unter Landeschef Mike Mohring hat zwar eine
Koalition mit der AfD ausgeschlossen, angeblich aber nicht mögliche
Sondierungen mit der Linkspartei, was die konservative WählerInnenschaft wohl
eher desorientierte. Somit kommt in Thüringen, anders als in allen anderen
Bundesländern, bislang die gesellschaftliche Polarisierung und der weiter
drohende Rechtsruck in den Umfragen der Linkspartei zugute – nicht weil sie für
Klassenkampf steht, sondern als verlässliche Garantin der bürgerlichen
Demokratie samt „sozialem Ausgleich“ erscheint.

Siegeszug der AfD

Auf die Dauer wird das
weder AfD noch Rechtsruck bremsen. Sollte die AfD um die 25 % erhalten und erneut
die CDU schlagen, werden Höcke und Co. ihre führende „patriotisch-bürgerliche
Volkspartei“ feiern, wohl wissend, dass genau diese ostdeutschen Landesverbände
derzeit einen qualitativen Sprung machen. In Thüringen wirbt die AfD etwas
zurückhaltender mit Rassismus und Hetze, stellt sich auch als Volkspartei dar,
die alle Probleme auf einmal löst, natürlich geführt vom richtigen
Volkskümmerer Höcke.

Dass dieser jetzt
offiziell als Faschist bezeichnet werden kann, ist der Hartnäckigkeit der MLPD
zu verdanken. Nach Schikanen gegen eine eigene Wahlkundgebung ging sie durch
alle juristischen Instanzen und bekamen schlussendlich Recht, den
AfD-Spitzenkandidaten Höcke als Faschisten bezeichnen zu dürfen. Das ändert
jedoch nichts daran, dass die AfD derzeit eben keine faschistische Partei ist,
wiewohl sich solche Elemente in der Partei tummeln. Sicher träumt Flügelführer
Höcke von einer AfD, die alle bürgerlichen Parteien unterwirft, am besten in
einer nationalistischen Sammlungsbewegung vereint und dadurch faschistischen
Kräften die Möglichkeit bietet, an Einfluss zu gewinnen. Diese stellen wie die
Zeitung „Sezession“ um das IfS (Institut für Staatspolitik) mit dem
ideologischen Kopf Kubitschek einer „Mosaik-Rechten“ neben Teilen der NPD
(speziell im Eichsfeld) und der „freien“ Kameradschaftsszene eine Basis für den
AfD-Flügel dar. Im Wahlkampf will die Partei aber vor allem genügend
LehrerInnen einstellen, den öffentlichen Nahverkehr ausbauen und die Wende
„sozial“ vollenden – natürlich ohne AusländerInnen. Der Rassismus darf
schließlich auch im „respektablen“ Wahlkampf nicht fehlen. Das Motto „Wende 2.0
– vollendet die Wende!“ soll der AfD helfen, tief in die bürgerlichen
WählerInnenschichten einzudringen.

Den Umfragewerten
schadete auch nicht, dass sich Höcke im ZDF-Interview als dünnhäutiges
„Sensibelchen“ präsentierte. Im Wahlkampf reicht zunächst das klassische
rechtspopulistische Motiv der „Umdrehung“ – sie sind gegen ihn (Höcke), wühlen
ihn persönlich auf und wollen ihn fertigmachen, weil der wahre Patriot für euch
alle kämpft.

Perspektive Linkspartei

Sollte Rot-Rot-Grün
wiedergewählt werden, hilft das vor allem der aktuellen
Linkspartei-Bundesführung. Sie sollte es dann bis zum nächsten regulären
Bundesparteitag 2020 schaffen.

Für diejenigen, die wie
in Brandenburg die Regierungsbeteiligung über alles hängen und dort enttäuscht
waren, dass sie diesmal nicht berücksichtigt wurden, bleibt die Linkspartei vor
allem die Regierungskraft des „kleineren Übels“. Als solche könnte schließlich
etwas bewirkt werden.

Dass die thüringische
Landesregierung gerade einen Winter lang die Abschiebungen ausgesetzt hat, um
diese danach „normal“ umzusetzen, verdeutlicht, dass eine solche Regierung eben
keine qualitativ andere Politik betreibt als eine „normale“ bürgerliche. Natürlich
hat die Koalition in Thüringen auch nichts an Hartz IV, nichts an Armutsrenten
geändert, sondern allenfalls etwas sozialer den kapitalistischen Normalzustand
verwaltet – das soll für Ramelow und Co. der „Wegweiser“ für eine mögliche
Bundesregierung sein. Darin findet er sich in trauter Einigkeit mit Wagenknecht
und Kühnert wieder, wie bei einer Veranstaltung der Sammlungsbewegung
„Aufstehen“ Berlin notiert wurde.

In Zeiten des weiteren
Aufstiegs der AfD versuchen sich die bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
(Linkspartei und SPD) verzweifelt an die „Regierungsfähigkeit“ zu klammern.
Genau darüber verlieren sie nicht nur Stimmen an die AfD, sondern auch immer
mehr die Verankerung in der Klasse selbst. Die relative Stabilität der
Linkspartei in Thüringen stellt kein „Gegenmodell“ dar, sondern bloß eine
Momentaufnahme. Als Regierungskraft wird sie auch in der nächsten ökonomischen
Krise gezwungen sein, die Rechte und Errungenschaften ebendieser Klasse
anzugreifen. Wenn hier nicht mit dieser Methode und Praxis gebrochen wird, dann
kann auch die Bedeutungslosigkeit mittelfristig drohen.

Zweifellos werden viele
WählerInnen und Mitglieder der Linkspartei angesichts des Aufstiegs der AfD
„ihrer“ Partei die Treue halten, dieser als „kleinerer Übel“ oder
„Reformmodell“ ihre Stimme geben. Dass sie damit AfD und CDU in die Schranken
weisen wollen, ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch, für sich
betrachtet, ein richtiger Schritt. Aber es ist eine Illusion, dass Thüringen
eine „Ausnahme“ von einer allgemeinen bundesweiten Entwicklung darstellt. Wenn
wir eine wirkliche Alternative aufbauen wollen, so braucht es eine Politik des
Klassenkampfes, keine weichgespülte bürgerliche Koalitionspolitik.




Bundeskongress ver.di: Kampfansage oder Fortführung der Sozialpartnerschaft?

Helga Müller, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Vom 22.-28.
September fand der 5. Bundeskongress der Vereinigten
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di unter dem Motto „zukunftsgerecht“ statt.
Dieser Kongress war sicherlich einer der wichtigsten in der kurzen Geschichte
der Organisation. Zum einen stellt ver.di eine der wichtigsten
gesellschaftlichen Kräfte dar. Mit 1,9 Mio. Mitgliedern ist sie nach der IG
Metall die zweitgrößte Gewerkschaft in der Bundesrepublik und mit der
Digitalisierung und der heraufziehenden neuen tiefen wirtschaftlichen Krise
kommen ganz neue Herausforderungen auf sie zu.

Eine große
Verantwortung für die 1.000 Delegierten, die in den 7 Tagen über die
gewerkschaftspolitische Ausrichtung der nächsten 4 Jahre entscheiden mussten.
Gleichzeitig erfolgte ein Führungswechsel. Der langjährige ver.di-Vorsitzende
Frank Bsirske trat nicht mehr an und Frank Werneke, einziger Kandidat für den
Posten, wurde mit großer Mehrheit zum neuen Vorsitzenden gewählt. Werneke ist
kein Neuling in ver.di-Kreisen. Er war langjähriger Chef des noch existierenden
Fachbereichs 8 (Medien) und im Bundesvorstand zuständig für Finanzen und
Mitgliederentwicklung. Gleichzeitig wurden die Führungsgremien (Bundesvorstand
und Gewerkschaftsrat) neu gewählt. Auch hier hätte das höchste
Entscheidungsorgan – der Bundeskongress – durchaus die Möglichkeit gehabt, eine
bestimmte Richtung vorzugeben (und auf seine Weise tat er das auch).

Wofür steht
Werneke?

Frank Werneke
hielt zwar nach Aussagen der meisten Zeitungen eine kämpferische Rede, in der
er wichtige Fragen wie den Kampf gegen die zunehmende Erosion der Tarifbindung,
für die Durchsetzung eines Mindestlohns von 12.- Euro ebenso wie durchaus
politische – z. B. den gegen Klimawandel und Rechtsrutsch in der Gesellschaft –
aufwarf. Schließlich gilt ver.di gemeinhin als die politischste der
DGB-Gewerkschaften – und dem wollte er zumindest in einer radikal, aber
unverbindlich gehaltenen Antrittsrede entsprechen.

Wer Frank
Werneke aus dem Fachbereich 8 kennt – er war zuständig für die
Tarifverhandlungen bei den Zeitungsverlagen und in der Druckindustrie – weiß,
dass er dafür bekannt war, lange Verhandlungsmarathons zu führen und einen
gerade noch akzeptablen Kompromiss für beide Seiten rauszuholen. Zuständig für
Finanzen und Mitgliederentwicklung im Bundesvorstand, war er zudem derjenige,
der die letzte noch nicht vollständig umgesetzte große Strukturreform gegen
größte Widerstände innerhalb der Organisation durchgesetzt hatte. Statt 13
Fachbereiche wird es nun 5 ungefähr gleich große geben. Der Anlass dafür war
nicht etwa die notwendige Anpassung der Strukturen an die Änderungen in
Wertschöpfungsketten und Technik (Stichwort Digitalisierung).

Die „Reform“ war
und ist vor allem getrieben durch finanzielle Probleme aufgrund der stetigen
Mitgliederverluste, also eine rein bürokratische Antwort auf diesen seit
Gründung von ver.di anhaltenden Trend und den Verlust an Gewerkschaftsbindung
(siehe Helga Müller, Sinnvolle Reform oder bürokratische Flickschusterei, in:
Neue Internationale 229, Juni 2018 ). Ver.di hat seit Gründung der Organisation
ca. 900.000 Mitglieder verloren. Es gibt zwar durchaus Mitgliederzuwächse
gerade in Bereichen, die früher nicht als kampfstark galten wie bei
ErzieherInnen und Krankenhäusern. Aber die Eintritte kompensieren den
Austrittstrend bei weitem nicht und dieser wird sich auch 2019 fortsetzen.

Ver.dis
tarifpolitischer Kurs

Nun ist ver.di
im Gegensatz zur IG Metall, die in der (noch) gut florierenden Exportindustrie
aktiv ist, in Bereichen tätig, die von massiven Umstrukturierungsprozessen
(Handel), von Verdrängungswettbewerb (Druckindustrie, Zeitungsverlage) oder von
einem massiven Privatisierungsdruck (Gesundheitsversorgung, Müllabfuhr,
Wasserversorgung…. kurz: die öffentliche Daseinsvorsorge) und oft von prekären
Arbeitsverhältnissen (Handel) gekennzeichnet sind. Zugegebenermaßen sind diese
schwer zu organisieren und tarifpolitisch zu erschließen und viele Unternehmen
haben aufgrund der verstärkten Konkurrenz und Kapitalkonzentration kaum noch
Interesse an Flächentarifverträgen, die gleiche Arbeitsbedingungen über die
Branche hinweg garantieren und damit für sie gleiche Konkurrenzbedingungen.

Gerade diese
Situation müsste in ver.di ein Anlass sein, Schluss zu machen mit dem üblichen
Tarifritual, wie es zuletzt im öffentlichen Dienst noch unter der Führung von
Bsirske vorgeführt wurde. Dieses läuft regelmäßig etwa so ab: Ein paar
Warnstreiks werden organisiert, damit die Belegschaften Dampf ablassen können.
Dann wird in Marathonverhandlungen ein Tarifvertrag abgeschlossen, der für die
Beschäftigten gerade noch akzeptabel ist und den Arbeit„geber“Innen nicht
wehtut, in der Regel mit einer langen Laufzeit (zwei Jahre oder mehr), der
diesen vielmehr langfristige Planungssicherheit garantiert. Ein Abschluss also,
geprägt von der klassischen Sozialpartnerschaft, an dem die überwiegende
Mehrheit des Kapitals gar kein Interesse mehr hat und der auch den
Beschäftigten immer weniger bringt. Gerade der Umstand, dass das Kapital (aber
auch die öffentlichen Arbeit„geber“Innen) eine härtere Gangart einschlagen,
führt in der Logik der Bürokratie nicht zu einem Kurswechsel, sondern dazu, die
Sozialpartnerschaft beispielsweise durch lange Laufzeiten auch den Unternehmen
schmackhafter zu machen.

In anderen
Bereichen wie der Gesundheitsversorgung geht ver.di ein wenig voran, um wieder
in der Mitte steckenzubleiben. Hier hat die Gewerkschaft zusammen mit den
Belegschaften in 15 Kliniken Abkommen für mehr Personal (vor allem
Pflegepersonal) durchsetzen können. In den meisten Unikliniken konnten diese
nicht in die Tat umgesetzt werden, da die Klinikleitungen daran kein Interesse
haben und es für die Belegschaften keinen Hebel gibt, die vereinbarten
Sanktionen bei Nichteinhaltung durchzusetzen. Gerade hier zeigt sich deutlicher
als anderswo, dass der Kampf gegen den aus der Privatisierungspolitik
resultierenden Druck auf die Belegschaften nicht rein ökonomisch, betrieblich
gegen das Kapital durchgesetzt werden kann. Ver.di selbst betont immer wieder
zu Recht, dass diese Abkommen einen Eingriff in das Direktionsrecht der
Klinikleitungen darstellen und diese aufgrund der Konkurrenzsituation unter den
Krankenhäusern kein Interesse daran haben, mehr Geld für Personal auszugeben.
Hier zeigt sich ganz deutlich, dass gegen die Profitlogik, die im
Gesundheitswesen Einzug gehalten hat – auch in Bereichen, die noch unter
öffentlicher Aufsicht stehen – ein politischer Kampf notwendig ist. Und zwar
ein politischer Massenstreik. Volksbegehren, die in mehreren Stadtstaaten und
Ländern initiiert wurden, mal ohne ver.di, mal unter ihrer Führung, sind
allesamt an den Landesverfassungsgerichten gescheitert. Kein Wunder, sind doch
die Sparmaßnahmen beim Personal eines der Herzstücke der
Privatisierungspolitik.

Oder nehmen wir
die Zeitungsbranche. Seit Jahren, um nicht zu sagen seit Jahrzehnten, kämpfen
die Belegschaften und ver.di gegen Personalabbau, Verlagerungen ohne
Tarifbindung etc. Aber solange sich die Zeitungen hauptsächlich durch
rückläufige Werbeeinnahmen finanzieren, werden die Angriffe auf die
Arbeitsbedingungen kein Ende haben. Jeder rein ökonomisch geführte Kampf wird
daran längerfristig eine Grenze finden müssen. Gerade in diesem Bereich wäre
eine politische Kampagne nötig, die Zeitungsbranche wie überhaupt die
Medienindustrie den profitorientierten KapitaleignerInnen zu entreißen – oder,
anders ausgedrückt, zu enteignen – unter Kontrolle der Beschäftigten und
LeserInnen fortzuführen und aus Steuergeldern zu finanzieren.

Nächste Krise

Verschärfend
kommt hinzu, dass die nächste tiefgehende Krise vor der Tür steht: die
Angriffswelle der Kapitalseite wird kommen. So hat – um nur ein Beispiel zu
nennen – die CSU-Landesregierung in Bayern bereits angekündigt, eine Initiative
im Bundesrat zu ergreifen, um die Arbeitszeiten zu deregulieren.

Vor diesem
Hintergrund sind die Beschlüsse des Bundeskongresses zu bewerten: Gibt sich
ver.di für die nächsten vier Jahre die adäquaten Mittel in die Hände, um die
Belegschaften auf die nächste Periode von Angriffen vorzubereiten oder möchte
sie nur weiter so wie bisher verfahren?

Bis
Redaktionsschluss waren uns nicht alle Beschlüsse des Kongresses bekannt, aber
die bisherigen deuten nicht darauf hin, dass ver.di die Signale verstanden hat,
auch wenn es einige positive darunter durchaus gibt.

So hat die
Gewerkschaft nach drei vergeblichen Anläufen endlich einen Beschluss zum Verbot
von Leiharbeit gefasst. Der Bundeskongress hat ein weiteres Mal beschlossen,
den politischen Streik zu nutzen und ihn auch wahrzunehmen. Es bleibt abzuwarten,
ob dieser wie ein ähnlicher Beschluss aus dem Jahr 2011 nur auf dem Papier
besteht oder tatsächlich auch umgesetzt wird. Möglichkeiten wären genug da.
Genutzt wurden sie allesamt in den letzten Jahren nicht, wie z. B. die
Weigerung zeigte, den Klimastreik von Fridays for Future für einen öffentlichen
Aufruf zur Mobilisierung der Gewerkschaft zu nutzen.

Bei den
fortschrittlichen Beschlüssen ist also Vorsicht geboten. Bei deren Umsetzung
können wir uns auch weiterhin nicht auf die Führung und den Apparat verlassen.
Im Gegenteil: Ohne massiven Druck der Basis, ohne deren selbstbewusstes und
organisiertes Auftreten und Einfordern drohen sie wie schon viele ähnliche in
den Protokollen der Vergessenheit anheimzufallen. Diese Befürchtung ist umso
ernster zu nehmen, als eine Reihe von Beschlüssen des Gewerkschaftstages in die
andere Richtung weist.

Die zahlreichen
Anträge auf Arbeitszeitverkürzung für alle und mit Lohn- und Personalausgleich
wurden nicht angenommen, obwohl gerade sie als Hebel gegen den kommenden Abbau
von Arbeitsplätzen hätten dienen können. Stattdessen wurde die im Leitantrag
des Gewerkschaftsrates stehende sehr vage Formulierung durchgesetzt, das Ziel
einer „kurzen Vollzeit mit Lohn- und Personalausgleich“ weiterzuverfolgen (zit.
nach: www.junge-welt.de vom 26.9.19).

Hinsichtlich der
weiteren Digitaloffensive der Unternehmen, die zu Arbeitsplatzabbau führen
wird, hat der Bundeskongress lediglich eine Erweiterunge der Mitbestimmung bei
der Umsetzung und einen regulierten Einsatz der neuen Technik gefordert. Dieser
Beschluss verharrt genau in der alten Sozialpartnerschaftslogik und wird den
betroffenen Belegschaften im Kampf gegen Arbeitsplatzabbau auf der einen und
Arbeitsverdichtung auf der anderen Seite nicht wirklich weiterhelfen.

Basisbewegung
notwendig

Der Kongress
hat, so die grundlegende Bilanz, die Weichen für eine Fortsetzung des
bisherigen Kurses der Gewerkschaft gestellt. Das drückt sich in den Beschlüssen
wie auch in der Wahl des neuen Vorsitzenden aus.

Damit sind
weiterer Niedergang und Fortführung aller Probleme vorprogrammiert. Von der
Gewerkschaftsführung und vom Apparat ist ein Kurswechsel nicht zu erwarten.
Zugleich zeigte sich in den letzten Jahren auch, wo die Ansätze einer
Erneuerung und einer Trendwende in der Politik der zweitgrößten
DGB-Gewerkschaft herkommen können – von jenen, die z. B. in den Kämpfen im
Gesundheitswesen oder bei anderen Mobilisierungen aktiv geworden sind. Im
Großen und Ganzen drohen sie aber, auch vereinzelt im Kleinkrieg mit den
Unternehmen und öffentlichen Arbeit„geber“Innen aufgerieben zu werden und an
den Hürden des Apparates zu scheitern. Es bedarf daher einer eigenständigen,
bundesweiten, anti-bürokratischen Organisierung dieser Schicht, des Aufbaus
einer klassenkämpferischen Basisbewegung. Nur so kann der Kampf für eine
grundlegende „Revolutionierung“ der Strukturen, die politische Ausrichtung von
ver.di erfolgen. Nur so wird ein Bruch mit der Sozialpartnerschaft und damit
eine klassenkämpferische, demokratische Gewerkschaft möglich werden.

Die Strategiekonferenz der Gewerkschaftslinken am 25. und 26. Januar stellt dazu eine zentrale Möglichkeit dar.

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften: https://www.vernetzung.org




Revolution und Konterrevolution in der DDR – Teil 1: Entstehung und Niedergang

Bruno Tesch, Neue Internationale 141, Oktober 2019

2019/2020 jährt
sich die Todeskrise der DDR, die schließlich in der Restauration des
Kapitalismus, Wiedervereinigung und Stärkung des deutschen Imperialismus mündete.
In dieser Ausgabe der Neuen Internationale skizzieren wir Entstehung und
Niedergang der DDR, also die Ursachen, die 1989/90 zu Revolution und
Konterrevolution führten.

Nachkriegsordnung

Bereits vor der
Niederwerfung des deutschen Faschismus wurden Pläne zur territorialen
Neuordnung in Mitteleuropa entworfen. Nach dem Sieg der Alliierten traten jedoch
die grundlegenden Gegensätze zwischen den Systemen, der nunmehr von den USA als
zentraler imperialistischen Macht geführten „freien“ Welt einerseits und dem
degenerierten ArbeiterInnenstaat Sowjetunion andererseits, hervor.

Die Absichten
von Teilen der US-Bourgeoisie zur Zerstückelung und der Morgenthau-Plan von
1944 zur Deindustrialisierung Deutschlands wurden daher recht rasch zugunsten
einer modifizierten imperialistischen Strategie fallengelassen: dem Marshallplan
(European Recovery Program). Danach sollten die von der Roten Armee besetzten
Gebiete durch gezielte Wirtschaftshilfe dem Einfluss der Kreml-Bürokratie
entrissen werden. Das gelang jedoch nicht. So wurden die geopolitisch und
ökonomisch unverzichtbaren Westzonen Deutschlands mittels Marshallplan zum
Bollwerk und Brückenkopf gegen den Stalinismus ausgebaut.

Die
stalinistischen Pläne waren von Sicherheitsdenken geleitet: Deutschland sollte
als entmilitarisiertes, neutrales, jedoch durchaus bürgerlich geführtes und
ungeteiltes Land als Pufferstaat gegen den imperialistischen Westen dienen. Dieser
Plan Moskaus wurde aber durch den Aufbau eines westdeutschen Separatstaates
durchkreuzt. Folglich blieb auch hier keine Wahl mehr, die Kreml-Bürokratie
musste nachziehen und auf ihrem Besatzungsgebiet einen ArbeiterInnenstaat als
Schutzzone etablieren.

Somit geriet Deutschland
zum zentralen Ort der Blockkonfrontation. Schließlich führte die Teilung des
Landes auch zu einer Aufteilung der ArbeiterInnenbewegung unter die Apparate
von SED und SPD, die – wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln – ein
politisches Monopol über „ihren“ Teil der Bewegung ausübten. Zweifellos hatten
beide ein beachtliches Eigeninteresse daran und an der Säuberung der Bewegung
von allen widerspenstigen Elementen. Zugleich waren sie aber auch verlängerte
Arme der führenden politisch-militärischen Kräfte „ihres“ Blocks zur Kontrolle
der jeweiligen ArbeiterInnenklasse.

Degenerierter
ArbeiterInnenstaat

Die
stalinistische Sowjetbürokratie ging in der späteren DDR nicht wie teilweise in
Osteuropa über den Umweg der anfänglichen Mitbeteiligung bürgerlicher Parteien
vor. Die Militäradministration der Roten Armee bestimmte direkt die Politik. Sie
schob jeglicher freier Entfaltung der ArbeiterInnenbewegung im Osten einen
Riegel vor. Die eigenständigen Volkskomitees wurden aufgelöst, das Streikrecht
abgeschafft. Als verlängerter Arm dieser Politik diente die bürokratisch
kontrollierte Vereinigung der beiden großen ArbeiterInnenparteien SPD und KPD
zur SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Erst nach dieser
politischen Entmündigung der ArbeiterInnenbewegung war die Bahn frei für die
Gründung eines degenerierten ArbeiterInnenstaates, der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR).

Zwar bestanden deren
ökonomische Grundlagen in der Unterordnung der Binnenwirkungen des
kapitalistischen Wertgesetzes durch die Nichtverfügbarkeit eines freien Arbeitsmarktes,
die Enteignung des kapitalistischen Privatbesitzes an den Produktionsmitteln
und die Vorgabe eines Wirtschaftsplans und eines staatlichen
Außenhandelsmonopols. Doch die DDR-Staatsmaschinerie war und blieb vom Typus
her bürgerlich, ein abgehobener allmächtiger Apparat. In ihm bildete sich eine
wuchernde Schicht heraus, die sich als unterdrückende Kaste über die
ArbeiterInnenklasse erhob. Dieses Gebilde war unreformierbar und stellte, auch
wenn es der Wirkung des Wertgesetzes Grenzen setzte, letztlich ein Hindernis
beim Aufbau zu einer sozialistischen Gesellschaft dar. Es ist kein Wunder, dass
es später keinerlei Widerstand gegen die Restauration des Kapitalismus leistete
– vor allem aber entfremdete es die Lohnabhängigen über Jahrzehnte von „ihrem“
Staat und der Planwirtschaft und verhinderte die Entwicklung aller Ansätze
proletarischer Selbstorganisation und damit auch die Entfaltung des
Klassenbewusstseins.

ArbeiterInnenaufstand
und Mauerbau

Trotz dieser
Einschnürung der Eigenständigkeit der ArbeiterInnenklasse flammte noch einmal
ein Funke auf. Er entzündete sich an der Einführung des Neuen Kurses durch die
DDR-Parteiführung 1953. Dieser brachte den nichtproletarischen Schichten
Erleichterungen und Vorteile, der ArbeiterInnenklasse hingegen eine Erhöhung
der Arbeitsnormen. Dies führte zu einem spontanen Aufstand, der in Berlin
ausbrach und sich auf das Gebiet der gesamten DDR ausbreitete. Neben
Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhungen wurden auch politische,
darunter nach Wiedervereinigung erhoben. Von Teilen der Klasse, z. B. den
StahlarbeiterInnen in Hennigsdorf und Velten, wurden auch Losungen wie jene
nach einer „MetallarbeiterInnenregierung“ erhoben, die das Streben nach
revolutionärem Sturz des Stalinismus zum Ausdruck brachten.

Der Aufstand
konnte mit Hilfe der stationierten Sowjetarmee niedergeschlagen werden. Die Westalliierten
und deutschen Westparteien hatten das Geschehen eher passiv aus der Entfernung
beobachtet oder blockiert, weil sie genau wie die stalinistische Bürokratie
nichts mehr fürchteten als eine unkontrollierte Störung des Status quo und die
Eigentätigkeit der ArbeiterInnenklasse.

Die Normenerhöhung
wurde zwar zurückgenommen, erkauft aber mit einer politischen Friedhofsruhe und
Festigung der Macht der SED-Bürokratie.

Nicht zufällig
fiel gerade das folgende sinnbildhafteste Ereignis der deutschen Teilung, der
Bau der Berliner Mauer, in eine Zeit, als die internationalen Beziehungen auf
dem Gefrierpunkt angelangt waren und der Kalte Krieg in einen heißen atomaren (Kubakrise)
umzuschlagen drohte.

1961 markierte
einen Wendepunkt in den innerdeutschen Verhältnissen. Ende der 1950er Jahre
wurde das Auseinanderklaffen des Lebensstandards zwischen Ost und West immer
spürbarer und die DDR drohte an qualifizierten industriellen Arbeitskräften,
die in die BRD abwanderten, auszubluten. Dagegen unternahm die Parteiführung in
bürokratischer Manier eine Grenzschließung des letzten Nadelöhrs, das durch die
Viermächtevereinbarung in Berlin bestand.

Auch ein revolutionärer
ArbeiterInnenstaat hätte die nachkapitalistischen Eigentumsverhältnisse
schützen müssen, aber niemals um den Preis, die Bevölkerung in einer
geschlossenen Anstalt mit Freigangsregelung nur in die „sozialistischen
Bruderländer“ zu verwahren. So aber schien die deutsche Spaltung auf Dauer
buchstäblich betoniert zu sein.

Zwar erholte
sich die DDR bis Mitte der 1960er Jahre wirtschaftlich auf der Woge einer extensiven
Ausdehnung der Planwirtschaft wie einer noch günstigen Weltkonjunktur, doch in
den Augen der internationalen ArbeiterInnenbewegung hatte sich das
stalinistische Regime politisch endgültig diskreditiert und besonders in der
BRD dem Antikommunismus auch unter den Lohnabhängigen immens Vorschub
geleistet.

„Normalisierung“
der innerdeutschen Beziehungen

Zugleich wurde
im Westen der Antikommunismus praktisch zur Staatsdoktrin. Nach der Niederlage
der ArbeiterInnenbewegung im Kampf um die Sozialisierung der
Grundstoffindustrien und der Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes wurde
auch die KPD im Westen politisch an den Rand gedrängt und schließlich verboten.
Unter der sozialliberalen Regierung vollzog der deutsche Imperialismus jedoch
eine Veränderung seiner Ost-Strategie. Die DDR sollte nicht mehr einfach
dämonisiert, sondern der westliche Einfluss durch Verträge und Handel ausgebaut
werden.

1972 wurde der
Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten unterzeichnet. Das
BRD-Kapital erkaufte sich mittels der neuen SPD-Ostpolitik durch formale
Zugeständnisse der politischen Nichteinmischung, die das Sicherheitsbedürfnis
der DDR-Bürokratie bedienten, größeren ökonomischen Bewegungsspielraum in der
DDR.

Die scheinbare
politische Anerkennung war allerdings bald begleitet von einer neuen imperialistischen
Offensivstrategie der „Totrüstung“ der ArbeiterInnenstaaten, die zusätzlich die
Wirtschaft der DDR neben den abgestumpften bürokratischen Planmechanismen in
Mitleidenschaft zog. So ließ sich der Milliarden Swing-Kredit von 1983/1984 als
einvernehmliche Hilfe anbahnen und erhöhte damit wiederum die Abhängigkeit von
der BRD, da die RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)-Zusammenarbeit des
Ostblocks längst nicht mehr griff, sondern zum Klotz am Bein wurde.

Aus der
Schuldenfalle und der damit verbundenen Produktionsspirale für die Erbringung
von Devisen auf Kosten der Gütererzeugung für den Inlandsbedarf konnte sich die
DDR schließlich mit herkömmlichen bürokratischen Methoden nicht mehr aus
eigener Kraft befreien, so dass der BRD-Imperialismus die restaurative
Wiedervereinigung über diesen Umweg objektiv vorbereiten half.

Aushöhlung der
wirtschaftlichen Grundlagen

Die Existenz der
DDR stand und fiel in Wirklichkeit mit zwei Faktoren. Erstens mit der
Stabilität der Nachkriegsordnung. Zweitens damit, den ArbeiterInnen in der DDR
eine wirtschaftliche und politische Perspektive glaubhaft darlegen zu können.
Die stalinistische Herrschaft konnte sich nicht nur auf Repression stützen,
sondern enthielt ein Element des Kompromisses besonders mit den oberen
Schichten der Angestellten und Staatsverwaltung.

Die DDR fiel
jedoch trotz Honeckers Wende 1971 zur Konsumgüterproduktion ökonomisch immer
mehr zurück. Gerade die industrielle ArbeiterInnenklasse spürte diese
Entwicklung: stetige Verschlechterung des Zustands der Produktionsmittel, immer
stärkerer Verschleiß, immer größere Produktion für den Export bei
gleichzeitigem Engpass an Gütern im Inneren, Stagnation der Lebensbedingungen,
immer stärkeres relatives Zurückbleiben gegenüber dem Westen.

In einem
internen Bilanzpapier des Politbüros der SED hieß es: „Die Zinszahlungen … betragen
1989 voraussichtlich 5 Milliarden Mark. Das ist mehr als der gesamte
Jahreszuwachs des Warenfonds im Jahre 1989. Das hängt mit nicht realisierbaren
Kaufwünschen, besonders nach langlebigen und hochwertigen Konsumgütern zusammen
(Pkw, HiFi-Anlage  u. ä.).“

Daraus ergibt
sich, dass die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse in der DDR mit dem System
der bürokratischen Planung schon abgeschlossen hatten, bevor es 1989/1990
geschichtlich zur Disposition stand. Selbst die Bürokratie hatte die Hoffnung
verloren, dass dieses System durch eine reformierte Variante der SED-Herrschaft
wieder in Schwung zu bringen sei.

1989

Vom Sommer 1989
bis zur Wiedervereinigung erlebte die DDR eine tiefe politisch-revolutionäre
Krise, die schließlich in einer sozialen Konterrevolution mündete. Im Sommer
hatte eine nicht mehr zu bremsende Massenabwanderung eingesetzt. Im Herbst kam
es dann zu Massendemonstrationen, die sich gegen die Untragbarkeit der
repressiven Zustände wandten und nach politischen Reformen verlangten. Bis zum
November 1989 befand sich die Bewegung in der Offensive. Der Parteiapparat und
die Staatssicherheitsorgane mussten Schritt für Schritt zurückweichen. Daran
zeigte sich, wie morsch das Regime schon war. Daran konnte selbst die
Palastrevolution und die Absetzung Honeckers im Oktober als Parteichef nichts
mehr retten. Auch die UdSSR war nicht mehr bereit, das Staatsgefüge zu stützen.

Der
Zusammenbruch eines Teils der Nachkriegsordnung im Osten, eine
politisch-revolutionäre Krise in der DDR konnte nur zu drei Resultaten führen:
bürokratische Konterrevolution, politische Revolution oder soziale
Konterrevolution.

In der nächsten Ausgabe werden wir uns mit der Entstehung der Bewegung, ihrer ersten, aufsteigenden Phase wie auch ihren inneren Widersprüchen und Schwächen beschäftigen, die es ermöglichten, dass eine halbe politische Revolution in eine ganze Konterrevolution umschlug.




Weltwirtschaft vor einer Rezession

Jürgen Roth, Neue Internationale 141, Oktober 2019

Die neuesten Zahlen schrecken auf. Die
kapitalistische Weltwirtschaft steuert auf eine Krise zu. Im verarbeitenden
Gewerbe ist sie bereits ausgebrochen.

Verarbeitendes Gewerbe im Sinkflug

Die Zahlen vom September bringen es an den Tag.
Der Geschäftsmanagerindex (PMI) im verarbeitenden Gewerbe – dazu gehören z. B.
Industrie, Baugewerbe und Handwerk – ist in den größeren Nationalökonomien
unter 50 gefallen. Diese Marke gilt als Schwelle zwischen Expansion und Kontraktion.
Der PMI gilt als ein ziemlich verlässlicher Indikator für den aktuellen Output.

In der Eurozone fiel er auf das niedrigste
Niveau seit der Euroschuldenkrise 2012. In Deutschland steht es am niedrigsten
bei fast 40. Japan macht ähnliches durch. Die Zentralbank des Landes
registrierte im 3. Quartal das niedrigste Level für die Großbetriebe in mehr
als 6 Jahren und fürs gesamte Fertigungsgewerbe liegt er auf Höhe der
Mini-Rezession von 2016. Der Markit-PMI für den entsprechenden US-Sektor liegt
bei knapp über 50 und damit niedriger als 2016. Sein Pendant ISM fiel auf die
Tiefe der Großen Rezession von 2009. Britannien befindet sich laut Boris
Johnson seit Monaten „im Graben“. Auch in Kanada liegt der PMI unter 50.

Auch „kleinere“ Volkswirtschaften erleben
Quartalsabstürze: Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Polen, Russland, Singapur,
Südafrika, Schweden, Schweiz, Türkei, Taiwan. Folgende Länder verzeichnen sogar
einen Rückgang im Vergleich zum Vorjahresquartal: Australien, Brasilien,
Britannien, Chile, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Japan,
Niederlande, Portugal, Südkorea, Türkei, USA. Auch die beiden am schnellsten
wachsenden großen Ökonomien – China und Indien – erleben die geringsten
BIP-Wachstumsraten seit über einem Jahrzehnt. Ihr Fertigungssektor-PMI liegt
knapp über 50.

Der Absturz des verarbeitenden Gewerbes ist
teils Resultat nachlassender Investitionstätigkeit, teils des sich
verschärfenden Handelskonflikts zwischen China und den USA. Letzterer diente
als Auslöser der Rezession, doch der Welthandel verlangsamte sich schon zuvor
und führte z. B. in Argentinien und der Türkei zu einem Produktionskollaps,
Abzug ausländischer Investitionen und Währungsverfall. Die Türkei steckt mitten
in einer tiefen allgemeinen Rezession. Argentinien kann seine riesige
Auslandsschuld nicht mehr bedienen.

Ansteckende Krankheit?

Doch das verarbeitende Gewerbe, auf das sich die
Rezession in anderen Staaten bisher beschränkt, macht nur 10-40 % der meisten
Volkswirtschaften aus. Der Dienstleistungsbereich – dazu gehören Handel,
Finanz- und Geschäftsservice, Versicherungen, Banken, Immobilien, Tourismus –
hält noch den Kopf über Wasser. Darum verzeichnet z. B. Griechenland
mittlerweile ein bescheidenes BIP-Wachstum von 2 %. Dies ist allerdings mager
nach einer Schrumpfung von 25 % durch die Eurokrise. Man vergleiche diesen
schwachen Aufschwung mit den USA, die 5 Jahre nach der Talsohle der Großen
Depression 1933 ein um 35 % höheres Pro-Kopf-BIP einfuhren oder mit
Argentinien. Dort stand es 5 Jahre nach dem Zusammenbruch bei 45 % Plus.
Griechenland muss sich mit 6 % begnügen und wird in diesem Tempo seinen
Vorkrisenstand erst 2033 wieder erreichen. Dies auch nur, falls der
Dienstleistungssektor nicht von der Rezession im verarbeitenden Gewerbe
angesteckt wird!

Da dieser in der Regel von der Fertigung
abhängt, ist seine Immunität unwahrscheinlich. Das Überschwappen in eine
verallgemeinerte Konjunkturkrise erfolgt fast immer. Zudem ist die Industrie
Kern aller Nationalökonomien, weil hier der Mehrwert erzeugt wird, der in
andere Branchen umverteilt wird. Sie stellt also den Dreh- und Angelpunkt der
gesamtwirtschaftlichen Profitabilität dar.

Profitentwicklung

AnalystInnen von JP Morgan (JPM) haben vor
kurzem bislang noch nicht veröffentlichte Zahlen über die Entwicklung der
globalen Profite erhoben. Demnach stagnierten diese im 2. Quartal 2019. Jeder
der 10 Sektoren des Gesamtmarktes wies ein stark verlangsamtes Profitwachstum
auf. Die Hälfte sah einen Rückgang im Jahresvergleich (besonders
Zwischenprodukte, Telekommunikation). JPM zieht den für MarxistInnen nicht
überraschenden Schluss, der Rückgang des globalen Wirtschaftswachstums im
letzten Jahr falle mit einer ebenso bemerkenswerten Delle in der
Firmenprofitabilität zusammen. Noch ist die Stagnation bzw. Verlangsamung nicht
so deutlich wie 2016, 2001-2002 oder gar 2009, doch läuft die Entwicklung
darauf hinaus. Die Lohnkosten werden nicht durch gesteigerten Output in Werten
kompensiert, die Mehrwertrate sinkt. Diese Profitklemme ist laut Marx
„Sturmvogel“, Frühwarnzeichen eines Konjunktureinbruchs. JPM tröstet sich und
ihre Klientel mit dem Gedanken, zunehmendes Produktivitätswachstum werde diese
Schere wieder öffnen. Das hängt aber von einer Zunahme der Investitionen ab.
Nach der Großen Rezession erleben wir jedoch das genaue Gegenteil!

Die Firmen des S&P 500 in den USA, dem
Kernstück der Weltwirtschaft, mussten bereits im 1. und 2. Quartal 2019
Umsatzeinbußen melden (Q1: -0,3 %; Q2: -2,8 %). Kleine und mittlere Betriebe
litten unter den größten Gewinneinbrüchen. Selbst der Technologie-Sektor, wo
die Vorzeigestücke der US-Wirtschaft wie Apple, Amazon, Google, Netflix,
Microsoft und Facebook vertreten sind, klagte über Rückgänge (Umsatz -11,9 %;
Gewinn: -1,1 %). Auffällig ist auch die Scheidung zwischen Bereichen, wo die
Arbeitsproduktivität steigt (IT-gestützte Fertigung, Großhandel) und wo sie
stagniert (Transport, Bau, Gesundheitswesen, Bildung).

Die Mittel zur Konjunkturankurbelung der letzten
Jahre stoßen zudem an ihre Grenzen, ja könnten die Krise sogar verschärfen. In
Erwartung niedriger Zinsen und Beibehaltung der Zentralbankpolitik der
Bereitstellung billigen Geldes für die Geschäftsbanken durch Aufkauf „fauler“
Papiere (Quantitative Easing; QE) boomte der Aktienmarkt weiter. Doch gedeckt
durch Profite ist dieser Hype nicht. 83 % der neu emittierter Aktien verhießen
negative Erträge. Mittels unorthodoxen – die orthodoxe ist Leitzinssenkung –
QEs glaubt der monetärpolitische Mainstream die Volkswirtschaften ankurbeln zu
können, indem die Zentralbanken die Geschäftsbanken durch Aufkauf ihrer wenig
Gewinn oder Verluste versprechenden Wertpapiere mit Liquidität ausstatten in
der Annahme, diese als billige Kredite an deren KundInnen auszureichen, dass
diese dann investieren würden.

US-Wirtschaft

Am 26.7. erschienen die Zahlen der US-Wirtschaft
für das 2. Quartal 2019. Das BIP war um nur noch 2,1 % gewachsen (Q1: 3,1 %).
Das Jahresplus verlangsamte sich ebenfalls (Q1: 2,7 %; Q2: 2,3 %). Trumps
Körperschafts- und Einkommensteuerpolitik scheint ihren Zenit überschritten zu
haben. Die USA sind wieder auf ihren 10-Jahresdurchschnitt gesunken mit
Aussicht auf weiteren Tiefflug. Hauptfaktoren dafür sind: schwache
Investitionstätigkeit und Abnahme der Nettoexporte. Der Handelskonflikt mit
China fordert seinen Tribut. Erstmals seit Q1 2016 fielen die
Geschäftsinvestitionen (-0,6 %). Ironischerweise fielen die in Strukturen mit
10,6 % weit drastischer. Gerade sie sollten doch durch Trumps
Steuersenkungsprogramm gefördert werden!

Der interessanteste Teil des BIP-Reports war
aber die Revision der Zahlen der vergangenen 3 Jahre. Das BIP nahm 2018 im
Jahresvergleich im 4. Quartal nur um 2,5 % zu. Statt der zuvor für die letzten
3 Jahre vermuteten Gewinnzunahmen der Firmen von 20 % stellte sich heraus, dass
diese sogar unter den Stand von 2014 gesunken waren. Im 3. und 4. Quartal 2018
hatten sie vor und nach Steuern abgenommen. Die Profite außerhalb des
Finanzsektors waren in den letzten 5 Jahren rückläufig. Trumps Steuersenkungen
haben also lediglich spekulative bzw. fiktive Profite in Finanzanlagen stark
aufgepäppelt.

Wichtig ist der Zusammenhang zwischen Profiten
und Investitionen: Letztere folgen der Profitkurve mit etwa einem Jahr
Verzögerung, so zuletzt 2016. Jetzt scheint es so, als ob Gewinne in
unproduktiven Sektoren wie Finanzanlagen und Immobilien (ca. 25 % aller
Firmenerträge) in Mitleidenschaft gezogen werden. Im Großen und Ganzen
stagnierten diese im letzten Jahr. Sollten sie ebenso wie die in produktiven
Branchen fallen, könnte im nächsten Jahr ein Kurssturz an den Börsen folgen.

Weitere Parameter neben Profit- und
Investitionskurven deuten ebenfalls auf eine innerhalb eines Jahres eintretende
allgemeine Konjunkturflaute hin. So erleben wir in den USA eine Umkehr der
Erträge bei Wertpapieren seit Mai 2019.

Ein weiterer Frühindikator ist der Preis von
Metallen, insbes. Kupfer. In der Mini-Rezession 2016 stand er auf 200
US-Dollar/lb. (= 454 g), 2009 bei 150, Anfang 2018 bei 320, jetzt ist er auf
250 US-Dollar zurückgefallen. Dieses Metall wird praktisch in allen
Industriezweigen eingesetzt. Sein Fall spiegelt deren nachlassende
Produktionstätigkeit.

Die Unwirksamkeit kapitalistischer
Konjunkturalchemie

So nimmt es nicht wunder, dass Trump und der
Chef der Fed (US-Notenbank), Jay Powell, aneinandergeraten. Trump fordert, die
Fed solle die Leitzinsen weiter senken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das
Komitee für Monetärpolitik ist selbst gespalten. Trumps WidersacherInnen sorgen
sich, dass ein zu niedriger Zinsfuß eine Kreditblase anheizt, die unweigerlich
mit großem Knall platzen muss. Zudem, betonen sie, können globale Schocks wie
ein Handelskrieg nicht mit Geldpolitik bekämpft werden.

Andere mahnten, der Einfluss der US-Notenbank
und des Dollars auf schwächere Volkswirtschaften sei so riesig, dass kleinere
Zentralbanken überhaupt nichts monetärpolitisch ausrichten könnten, ohne alles
nur schlimmer zu gestalten. Der Ex-Chef der Bank von England, Mark Carney,
schlug ein Ende der Dollarvorherrschaft auf Finanz- und Warenmärkten vor. Die
USA stemmten nur 10 % des Welthandels und 15 % des Welt-BIP, aber die Hälfte
der Handelsrechnungen und 2/3 aller Versicherungen würden in US-Währung
abgewickelt.

Orthodoxe (Niedrigzinsen) und unorthodoxe (QE)
Mainstreamkonjunkturpolitik liegen sich mit den (Post-)KeynesianerInnen und
AnhängerInnen der modernen Monetärtheorie (MMT) in den Haaren. Letztere
betonen, dass die großen Volkswirtschaften in säkularer Stagnation verweilten
trotz der Rezepte ihrer neoklassischen KontrahentInnen. Darum müsse der Fiskus
ran. Der Staatshaushalt soll sich verschulden und dadurch den Zusammenbruch der
Nachfrage aufhalten. Die AnhängerInnen der MMT favorisieren ein Anwerfen der
Notenpresse ohne Deckung durch Ausgabe von Staatsanleihen.

Beider Grundannahme ist jedoch falsch. Schuld an
der Wirtschaftskrise ist nicht eine schwache Gesamtnachfrage. Die
Haushaltsnachfrage in den meisten Nationalökonomien ist relativ stark. Menschen
geben sogar mehr Geld für Konsum aus, z. T. durch billige Kredite gefördert. Es
ist vielmehr der andere Teil der Nachfrage, die Investitionen ins Geschäft, der
zusehends nachlässt. Doch dafür ist die sinkende Profitabilität verantwortlich,
nicht sinkende Endverbraucherausgaben! Daran können die Verbilligung des
Kredites, Steuergeschenke für die Reichen und Superreichen ebenso wenig ändern
wie Konjunkturprogramme (siehe Japan in den letzten Jahrzehnten).

BRD-Wirtschaft auf der Kippe

Schon heute drückt sich das Problem der
kapitalistischen Weltwirtschaft vielmehr darin aus, dass immer größere Massen
von Kapital nach profitträchtiger Anlage suchen. Inflationsbereinigt bringen
weltweit 25 Billionen US-Dollar keine Rendite mehr. Senkt die Fed ihre
Leitzinsen weiter, dürfte diese Summe auf 30 Billionen steigen.

Sichere risikolose Erträge gibt es also
heutzutage nicht mehr. Mit ihrer Politik zur Stützung der jeweiligen nationalen
Kapitale oder ihres Wirtschaftsblocks versuchen die Zentralbanken, die Risiken
der Einzelkapitale zu reduzieren, was notwendigerweise dazu führt, Anreize für
Geld zu schaffen, in riskantere Anlagen zu gehen. Als solche gilt vorzugsweise
die sog. Realwirtschaft, weil sie die geringsten Renditen abwirft und am Beginn
einer Rezession steht. Das ist auch der Hintergedanke bei Spekulationen der
Europäischen Zentralbank (EZB) um weitere Leitzinssenkungen.
Risikoinvestitionen werden aber v. a. in Aktien getätigt. Selbst China hält
sein (nachlassendes) Wachstum nur durch massive staatliche Kredithilfen
aufrecht. Sein größtes Konjunkturprogramm der Menschheitsgeschichte 2009
katapultierte die Gesamtverschuldung von Staat, Privatleuten und Unternehmen
von 164 % seines BIP (2008) auf 271 %.

Der deutschen Konjunktur haben alle
geldpolitischen Maßnahmen der EU nichts genützt und werden es auch weiterhin
nicht. Ein Ende der Erholung am Arbeitsmarkt ist in Sicht.
Bundesarbeitsminister Heil (SPD) bastelt bereits an einem „Gute Arbeit von
morgen“-Gesetz zur Erleichterung und Umgestaltung von Kurzarbeit.

Exportindustrie

Die Exportindustrie befindet sich in einer
Rezession. Innerhalb weniger Monate wurden die Wachstumsprognosen von über 2
auf 0,7 % gesenkt. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet für 2019 nur noch
mit einem BIP-Plus von 0,5 %. Im Herbst 2018 waren es noch 1,8 %. Zum
Vergleich: 2018 wuchs die Wirtschaft um 1,5 %. Bereits im 3. Quartal 2018 war
das BIP um 0,2 % gesunken, ohne dass es damals schon zu einer Rezession
gekommen wäre. Von dieser spricht man erst, wenn die Wirtschaft in 2 Quartalen
in Folge abnimmt.

Im Juli schrumpfte das verarbeitende Gewerbe so
stark wie seit 7 Jahren nicht mehr. Laut Konjunkturindikator des
gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)
lag das Rezessionsrisiko im Juli noch bei 36,6 %, Mitte August bereits bei 43
%. Vom 1. zum 2. Quartal 2019 schrumpfte das bundesdeutsche BIP um 0,1 %.
Anfang dieses Jahres stieg es noch um 0,4 %. Die Aktienkurse dagegen befinden
sich in anhaltendem Höhenflug.

Der Handelskrieg, dem voreilig die Schuld für
die Misere in die Schuhe geschoben wird, ist eher ein Zusatzrisiko als
eigentliche Ursuche der Konjunktur abdämpfung. Bislang ist er noch gar nicht
voll ausgebrochen. Die Autoabsatzmärkte wachsen kaum noch, auch nicht in China.
Gleichzeitig wird die Branche durch E-Mobilität und autonomes Fahren
umgekrempelt. Aus dieser Gemengelage – Absatzeinbruch und unsichere
Rentabilitätszukunft – resultiert der Handelskrieg, wo sowohl um Absatzmärkte
wie um technologische Führerschaft (Elektromobilität, Plattformunternehmen,
Daten, Telekommunikation) gekämpft wird. Mit Investitionskontrollen,
Exportbeschränkungen und dem Schutz geistigen Eigentums (Patente) wird darum
gestritten, wo die Zukunftstechnologien angesiedelt sein werden.

Vor diesem Hintergrund droht der BRD-Industrie
auf die Füße zu fallen, was lange als ihr Erfolgsmodell galt: ihre massive
Orientierung auf den Export. Die Autoexporte waren in den ersten 7 Monaten um
14 % rückläufig. Zusätzlich stecken Autoindustrie und Banken in einem tiefen
Strukturwandel. Klar ist auch, die drohenden Verwerfungen und die Unsicherheit
im Zusammenhang mit dem Brexit wirken sich dämpfend auf die Exporte ins
Vereinigte Königreich aus. Auch die Nachfrage aus Italien hat spürbar
nachgelassen – ein/e SchelmIn, wer dabei an die dortigen politischen
Turbulenzen denkt?

Kampf gegen kommende Krise

Im Baugewerbe, bei den Dienstleistungen und im
Einzelhandel läuft es derzeit noch recht gut, doch in der Industrie dafür umso
schlechter. Der Maschinenbau meldet für das 1. Halbjahr 2019 einen
Auftragsrückgang um 9 % gegenüber dem Vorjahrszeitraum und rechnet schon für
2019 mit 2 % Produktionsrückgang, was es seit der Großen Rezession und Finanzkrise
nicht gab. Ähnliches gilt für die Chemieindustrie. BASF will weltweit 6.000
Stellen abbauen, die Hälfte davon in der BRD. Die Deutsche Bank hat das Aus für
Tausende Jobs angekündigt. Abbaupläne im vierstelligen Bereich gibt es auch bei
Bayer, Ford, Siemens, Thyssen-Krupp und VW.

Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit – letztere wohl
verbunden mit Umschulungszwang, wo es doch eine strukturelle Komponente in der
kommenden Rezession geben wird (Banken, Automobil) – drohen drastisch
zuzunehmen. Die Gewerkschaften setzen jedoch weiter auf Sozialpartnerschaft.
Diesmal heißt die Verpackung „Zukunftstarifverträge“. Angesichts  der kommenden Rezession in Deutschland
und weltweit stecken sie den Kopf in den Sand.

Nach der Großen Rezession 2009 und den Kosten
für die Rettungsprogramme von Großkapital und Weltwirtschaft sind die Reserven
der kapitalistischen Staaten und Regierungen zur Gegensteuerung viel geringer,
wenn nicht erschöpft. Die Krise wird außerdem die Konkurrenz weiter verschärfen
– und macht damit eine global koordinierte Politik der Großmächte fast
unmöglich. Wahrscheinlich ist vielmehr die Verschärfung des Kampfes um die
Neuaufteilung der Welt, um die Kosten der Krise auf die jeweilige Konkurrenz
abzuwälzen.

Ganz sicher wird die nächste Rezession die ArbeiterInnenklasse,
die Bauern- und BäuerInnen, die Massen in den vom Imperialismus beherrschten
Ländern treffen. Umweltzerstörung und Kriegsgefahr werden ebenfalls steigen.

Die ArbeiterInnenbewegung muss der Bourgeoisie
ihr eigenes Anti-Krisenprogramm entgegenhalten, den Kampf gegen alle
Entlassungen, die Verkürzung der Arbeitszeit und Aufteilung der Arbeit auf
alle, die Enteignung der Banken und Konzerne und einen Plan nützlicher,
sinnvoller sozialer und ökologischer öffentlicher Beschäftigungsmaßnahmen zu Tariflöhnen
und unter ArbeiterInnenkontrolle.

Vor allem aber bracht sie eine Politik des
Klassenkampfes, von Demonstrationen, Besetzungen, politischen Massenstreiks in
den einzelnen Branchen und Ländern. Vor allem aber müssen die Aktionen von
Beginn an international koordiniert stattfinden. Im Kampf gegen eine globale
Krise hilft nicht der Schulterschluss mit dem „nationalen“ Kapital, sondern nur
Internationalismus!




Parlamentswahlen in Israel: Oslo-Abkommen abgewählt

Robert Teller, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Die israelischen
Knessetwahlen am 17. September sollten Benjamin Netanjahu mit der Mehrheit
ausstatten, die er bräuchte, um Premierminister zu bleiben. Sie haben aber die
Liste Kachol Lavan (Blau Weiß) des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz
knapp zur stärksten Kraft gemacht.

Kachol Lavan
erhielt 25,95 % der Stimmen bzw. 33 Sitze in der Knesset, dem israelischen
Parlament. Netanjahus Likud (Zusammenschluss) kam auf 25,10 % (32 Sitze). Selbst
mithilfe verbündeter Parteien verfügt keines der beiden Lager über eine
Abgeordnetenmehrheit.

Gantz,
Befehlshaber der Gaza-Kriege 2012 und 2014, will mit der Person Netanjahu
abrechnen und ist zu einer Koalition mit Likud nur unter der Bedingung bereit,
dass Netanjahu nicht der Regierung angehört. Dieser wurde zwar erneut mit der
Regierungsbildung beauftragt, aber dies ist nutzlos, solange keine Koalition
unter seiner Führung möglich ist.

Wie bei der
vorigen Wahl im April wird ihr Zustandekommen wohl unter anderem an Avigdor
Liebermans Bedingung scheitern, die Befreiung ultraorthodoxer Juden und
Jüdinnen von der Wehrpflicht abzuschaffen. Solange keine Partei ihre
Wahlversprechen bezüglich einer Regierungsbeteiligung revidiert, sind
wiederholte Neuwahlen wahrscheinlich. Mit den Mehrheitsverhältnissen in der
Knesset ist auch Netanjahus Ziel, durch eine Gesetzesänderung Immunität vor
Strafverfolgung zu erhalten, gescheitert.

Keine Illusionen
in Gantz

Die Fehde
zwischen Netanjahu und Gantz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Programme des Likud und der angeblichen Mitte-Links-Parteienliste Kachol Lavan
weitgehend deckungsgleich sind – auch hinsichtlich der israelischen Kontrolle
des Jordantals, des Status Ostjerusalems, der Besatzung der Westbank und der
Ablehnung des Rückkehrrechts. Zusammen vereinigen sie 51 % der Stimmen auf
sich. Weitere 19 % der Stimmen entfallen auf Parteien der religiösen
Ultrarechten, 7 % auf die säkulare, völkische Partei Jisr’ael Beitenu (Unser
Zuhause Israel) von Avigdor Lieberman. Die ehemals mächtige Awoda
(Arbeitspartei) ist mit 5 % für ihre Liste nahe an der Bedeutungslosigkeit. 4 %
erhielt die von der Meretz-Partei (Energie) angeführte Liste. Die Vereinigte
Liste arabischer Parteien bildet mit 11 % der Stimmen immerhin die
drittstärkste Fraktion in der Knesset. 10 ihrer 13 Abgeordneten haben
allerdings ihre Unterstützung für eine Regierung unter Führung von Gantz
erklärt, um einen Premier Netanjahu zu verhindern.

Die
Wahlergebnisse zeigen, wie sehr sich die politischen Verhältnisse nach rechts
verschoben haben. Mehr als drei Viertel der Stimmen entfallen auf rechte bis
rechtsextreme Parteien. Auch wenn der Likud seine führende Rolle in einer
Regierung verlieren sollte, prägen Kernelemente seines Programms die gesamte
politische Landschaft im Staat Israel.

Scheitern der
Zweistaatenlösung

Mit der
Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, beerdigt Netanjahu in offenem Bruch
geltender Verträge und internationalen Rechts die sogenannte Zweistaatenlösung.
Natürlich wird den PalästinenserInnen, die 85 % der Bevölkerung des seit 1967
besetzten Jordantals ausmachen, schon längst das Selbstbestimmungsrecht auch
auf diesem Gebiet verwehrt. Das von Netanjahu beanspruchte Territorium besteht
weitestgehend aus C-Gebieten, die nach den Osloer Verträgen unter alleiniger
israelischer Kontrolle stehen. 85 % der Fläche darf von PalästinenserInnen
nicht betreten oder genutzt werden. 46 % des Jordantals ist als militärisches
Sperrgebiet deklariert. Hierunter fallen auch die israelischen Siedlungen.
Faktisch steht es längst unter israelischer Souveränität. Die Annexion wäre der
logische Abschluss der Besatzungspolitik seit 1967 – und ginge zugleich mit
einer weiteren Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung einher.

Die
Zweistaatenlösung diente 25 Jahre lang dem Zweck, das Besatzungsregime in der
Westbank als lediglich vorübergehenden Zustand zu legitimieren. Die Frage, wie
ein demokratischer Staat der Hälfte seiner Bevölkerung demokratische Rechte
verweigern kann, wurde mit Verweis auf den zukünftigen palästinensischen Staat
beantwortet, die Rechtlosigkeit der PalästinenserInnen mit den Umständen der
Besatzung gerechtfertigt. Mit der Annexion der besetzten Gebiete würde der
rassistische Charakter der Staatsverfassung Israels, die einem Teil seiner
Bevölkerung aufgrund seiner ethnischen Herkunft staatsbürgerliche Rechte
verweigert, noch deutlicher geraten und auf ein größeres Territorium und dessen
Bevölkerung ausgeweitet werden. Das Scheitern der Zweistaatenlösung und die
Annexion von Teilen der Westbank wird jeden Zweifel ausräumen, dass der
„demokratische Staat“ in Wirklichkeit ein rassistischer Apartheidstaat ist.

Annexion und
Expansion

Hinzu kommt,
dass eine erfolgreiche Annexion des Jordantals mit großer Wahrscheinlichkeit
nur einen Zwischenschritt zu Einverleibung der gesamten Westbank darstellen
würde. Schon heute trommelt der rechtsextreme Avigdor Lieberman für diese
„Lösung“, deren logisches Ende die Vertreibung und ein (schleichender)
Völkermord wären.

Die sogenannte
Zweistaatenlösung ist damit endgültig ins Reich der Träume verbannt. Mit der
Annexion des Jordantals wäre nicht nur jede Hoffnung auf einen
gleichberechtigten palästinensischen Staat neben Israel der Lächerlichkeit
preisgegeben. Vielmehr wäre auch die zentrale Institution des „Oslo-Systems“,
die Autonomiebehörde, hinfällig, die seit 25 Jahren für die Mitverwaltung der
Westbank als verlängerter Arm der Besatzung zuständig war. Die „Palestinian
Authority“, die aus dem Oslo-Prozess als Insolvenzverwalterin der geläuterten
PLO entstanden ist, hätte ihren Zweck erfüllt. Ihr bliebe noch als letzte
Amtshandlung, den Löffel abzugeben.

Die aggressive
Politik droht unter jeder Regierungskoalition. Sie würde mit einer weiteren
Abriegelung und Aushungerung der Bevölkerung in Gaza einhergehen, das
ökonomisch weniger lukrativ für eine direkte Annexion erscheint, ebenfalls mit
weiterer Aggression gegenüber dem Libanon und Iran – zumal für jedes dieser
reaktionären Vorhaben mit der Unterstützung durch die USA und stillschweigendem
Einvernehmen Saudi-Arabiens gerechnet werden kann.

Insofern ist die
zionistische Rechte in Israel im Begriff, die Karten in Palästina neu zu
mischen. Als erstes wird dabei die Illusion des demokratischen Staates Israel
über den Jordan gehen. Womöglich mit dieser auch die sorgfältig errichteten
Trennlinien zwischen 1948er-PalästinenserInnen einerseits und den BewohnerInnen
Gazas, Ostjerusalems und der Westbank andererseits. Die Pläne der zionistischen
Rechten werden zweifellos auf den erbitterten Widerstand der PalästinenserInnen
stoßen.

Perspektive

Die führenden
palästinensischen Vertretungen und die Fatah-geführte Regierung, die bis heute
an der Illusion der Zweistaatenlösung festhalten, werden zu diesem Widerstand
kaum mehr als nutzlose Appelle an die „Weltgemeinschaft“ und den israelischen
Staat, den „Friedensprozess“ fortzuführen, beitragen (Fatah: Eroberung, Sieg).
Fatah-Premierminister Mohammad Schtajjeh droht schon mal, alle Vereinbarungen
mit Israel, denen dieses sich ohnehin nie verpflichtet gefühlt hat, auszusetzen.

Die einzige
Alternative zum rassistischen Status quo, der zionistischen Einstaatenlösung,
ist ein multinationaler, sozialistischer ArbeiterInnenstaat in ganz Palästina.
Dieser kann nur durch den Sturz der israelischen Bourgeoisie mit Methoden des
Klassenkampfes, durch PalästinenserInnen und fortschrittliche ArbeiterInnen und
Unterdrückte in Israel erreicht werden. Die entschlossene, internationale
Solidarität mit dem Widerstand der PalästinenserInnen stellt ein entscheidendes
Element dar. Sie ist Aufgabe und Verpflichtung aller linken, fortschrittlichen
und demokratischen Kräfte auf der Welt.




Nationalratswahlen in Österreich: ÖVP-Hoch und SPÖ-Tief fordern sozialistische Antworten

Michael Märzen, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Die
Nationalratswahlen am 29. September haben einen haushohen Sieg für die ÖVP
unter Sebastian Kurz gebracht. Die Konservativen erzielten mit 37,1 % (+5,7)
den größten Vorsprung zur zweitplatzierten Partei in der Geschichte der
Republik. Jene, die SPÖ, fuhr mit 21,7 % (-5,1) das schlechteste Ergebnis ihrer
Geschichte ein. Die FPÖ wurde mit 16,1 % (-9,9) bedeutend abgestraft und sieht
sich in einer Krise. Die Grünen haben mit 14 % (+10,2) den Wiedereinzug in den
Nationalrat geschafft und die größten Zugewinne erhalten. Die liberale Partei
NEOS hat mit 7,8 % (+2,5) ihre Position weiter ausgebaut. Auch wenn diese
Zahlen aufgrund der ausstehenden Briefwahlstimmen hochgerechnet und noch nicht
das endgültige Ergebnis sind, wird sich nicht mehr viel bewegen, schon gar
nichts Substantielles.

Gegenüber den
letzten Nationalratswahlen zeigt das Ergebnis bedeutende Veränderungen im
politischen Kräfteverhältnis, das jeder fortschrittlich orientierte Mensch vor
allem zuerst zwischen den Klassen sehen muss.

Politisches
Kräfteverhältnis

Mit Sebastian
Kurz hat die ÖVP den politischen Anliegen der Reichen und der KapitalistInnen
zu einer Zustimmung verholfen, die es seit Anfang der 2000er nicht mehr in
diesem Land gab. Mit seinen als „Entlastungen“ verschleierten Umverteilungen
und seinem Aufspringen auf die rassistische Welle hat Kurz in den letzten zwei
Jahren nicht nur die große und mittlere Bourgeoisie sowie große Teile der
„Mittelschichten“, sondern selbst viele ArbeiterInnen hinter sich vereint. Von
seinen Steuersenkungen sollen nicht nur die Reichen und die Konzerne
profitieren, sondern auch mal diese oder jene Gruppe, beim Familienbonus vor
allem gutverdienende Familien, bei der Steuerreform auch kleine und mittlere
Einkommen, vor der Wahl dann die PensionistInnen usw. Vor dem Hintergrund eines
kleinen Wirtschaftsaufschwungs konnte er auf diese Weise und mit kräftiger
Hilfe der Medien die Ideologie verankern, dass von einer Entlastung der
KapitalistInnen („Standortpolitik“) alle profitieren würden oder zumindest
diejenigen, die es verdient hätten. Während er mit einer Hand geschickt
umverteilt, schlägt er mit der anderen gegen wichtige Errungenschaften der
ArbeiterInnenbewegung, so die Ausweitung der Tageshöchstarbeitszeit, die
Stärkung der UnternehmerInnen in der Sozialversicherung oder (geplant, aber
nicht umgesetzt) die Reform von Arbeitslosenversicherung und Notstandshilfe
sowie die Schwächung der ArbeiterInnenkammer. Kurz versteht es wie kein
anderer, sich hier und dort die Unterstützung aus politisch rückständigen
Schichten der Bevölkerung zu generieren, um insgesamt gegen die
ArbeiterInnenklasse vorzugehen.

Die enorme
Stärkung der ÖVP findet allerdings vor dem Hintergrund einer Verschiebung im
reaktionären Lager statt. Die FPÖ, die in der Vergangenheit mit aggressivem
Rassismus und Nationalismus von den Abstiegsängsten und der politischen
Perspektivlosigkeit des KleinbürgerInnentums und vieler unbewusster ArbeiterInnen
stark profitieren konnte, hat erneut bewiesen, dass sie nicht die Partei „des
kleinen Mannes“ ist, und befindet sich in einer ernsthaften Krise. Mitte Mai
hatte die Süddeutsche Zeitung ein Video von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache
und dem damaligen Klubobmann Johann Gudenus veröffentlicht, das die beiden bei
korrupten Geschäften mit einer vermeintlichen russischen Oligarchin auf Ibiza
zeigt. Was wohl für alle bürgerlichen Parteien inoffiziell zum politischen
Geschäft gehört, war in der Öffentlichkeit untragbar. Hinzu kommen nun auch die
Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit dem Glücksspielkonzern Novomatic und
die Spesenaffäre von H.-C. Strache in der eigenen Partei. Konnte die FPÖ bei
der Europawahl Ende Mai noch um einen Prozentpunkt besser abschneiden als
jetzt, waren die Skandale nun noch einmal für einige eingefleischte
Freiheitliche mehr zu viel. Dadurch wechselten 258.000 WählerInnen zur ÖVP,
235.000 ehemalige FPÖ-WählerInnen blieben enttäuscht der Wahl fern.

SPÖ-Desaster

Gleichzeitig hat
die Sozialdemokratie erneut ihre Unfähigkeit bewiesen, die arbeitende
Bevölkerung und die Jugend für ihre politischen Anliegen zu mobilisieren.
Dieses Versagen wirkt in diesen Wahlen doppelt schwer, denn nicht nur die
freiheitlichen Skandale, sondern auch jene um die Parteispenden der ÖVP
(maßgeblich finanziert von der Milliardärin Heidi Goess-Horten sowie den
Kapitalisten Klaus Ortner und Stefan Pierer) haben aufgezeigt, wie diese beiden
Parteien mit dem Kapital verbunden sind. Demgegenüber wäre es verhältnismäßig
leicht gewesen, die gemeinsamen Interessen der ArbeiterInnen in Abgrenzung zu
ÖVP und FPÖ darzulegen und deren Interessenvertretung für die Sozialdemokratie
zu reklamieren.

Dazu gehört auch
die Einbeziehung jener 1,2 Millionen in Österreich lebenden Menschen, die
aufgrund des schweren Zugangs zur StaatsbürgerInnenschaft kein Wahlrecht
besitzen und in ihrer Mehrheit einen sozial unterdrückten und politisch
entmündigten Teil der ArbeiterInnenklasse stellen. Doch der SPÖ-Führungsclique
fehlt schon längst mehr als die nötige Glaubwürdigkeit. Dort, wo sie links
blinkt (Beispiel Vermögenssteuern), bietet sie keine Perspektive, wie ihre
Forderungen erkämpft werden könnten, denn in der traditionellen Großen
Koalition hat eine Politik im Interesse der lohnabhängigen Bevölkerung keinen
Platz und eine Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse zählt längst nicht mehr zu
den Strategien der Sozialdemokratie. Stattdessen setzten die
sozialdemokratischen FunktionärInnen auf eine Kampagne, die das „Gemeinsame“
und die „Menschlichkeit“ beschwört. Das reflektiert den Wunsch der
Parteibürokratie, sich mit den KapitalistInnen auszusöhnen und sich wieder im
Staatsapparat und der Verwaltung bereichern zu können. Weil sich die
Parteivorsitzende Rendi-Wagner auch keine andere Politik als den Appell zum
sozialen Miteinander vorstellen kann, verkündet sie auch noch nach der Wahl,
dass „die Richtung stimmt“. So setzt sich der Niedergang der SPÖ fort.

Die großen
GewinnerInnen bei diesen Wahlen sind neben Sebastian Kurz die Grünen.
Angesichts der großen internationalen Mobilisierungen von Fridays for Future
ist in der Bevölkerung die Nachricht angekommen, dass es längst an der Zeit ist
für ernsthafte Maßnahmen gegen den Klimawandel. Der Klimaschutz war eines der
wichtigsten Themen im Wahlkampf. Er hat selbst den Dauerbrenner Zuwanderung in
den Schatten gestellt, sodass sich so gut wie alle Parteien zu einer
ernsthafteren Umweltpolitik bekennen mussten. Auch gab es viele traditionelle
Grün-WählerInnen, die bei den letzten Wahlen sozialdemokratisch oder Pilz
gewählt hatten und nun den Rauswurf der Grünen aus dem Nationalrat umkehren
wollten. Bei den unter 30-Jährigen teilen sich die Grünen prozentual die Spitze
mit der ÖVP. Bei der Jugend, die besonders von den Auswirkungen des
Klimawandels betroffen sein wird, stehen sie wohl sogar an erster Stelle.
Nachdem die Grünen seit Jahrzehnten schon die Notwendigkeit des Umweltschutzes
betonen, genießen sie beim Klima natürlich das größte Vertrauen. Letztlich
handelt es sich bei den Grünen aber um eine (klein-)bürgerliche Partei, die
glaubt, sie könne die Rettung des Planeten mit den ausbeuterischen Gesetzen des
Kapitalismus versöhnen, und deshalb zwischen der Verteidigung der
Eigentumsverhältnisse und der Beschränkung der Verfügungsgewalt des Kapitals hin-
und hergerissen ist.

Krise von
Schwarz-Blau

Sebastian Kurz
sieht sich nun trotz der Zugewinne in einer schwierigen Situation. Er selbst
würde wohl am liebsten sein schwarz-blaues Projekt fortsetzen, doch die
freiheitliche Spitze positioniert sich vorerst eindeutig gegen eine
Regierungsbeteiligung. Letztlich ist es auch fraglich, ob eine stabile
Koalition mit der FPÖ zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt möglich wäre. Das
Szenario einer Parteispaltung ist zwar nicht wahrscheinlich (insbesondere nach
dem angekündigten Rückzug Straches aus der Politik), aber keineswegs
ausgeschlossen, besonders wenn bei einer erneuten Regierungsbeteiligung die
Umfragewerte nicht stimmen. Eine Koalition mit der Sozialdemokratie wäre für
Kurz wohl die unattraktivste Option. Immerhin hat er selbst die letzte
rot-schwarze Regierung gesprengt und der SPÖ mit seiner schwarz-blauen Politik
sozusagen den Krieg erklärt. Auch die Sozialdemokratie wird sich schwertun, nun
auch noch in der eigenen Parteikrise dem Erzfeind Kurz-ÖVP die Mehrheit zu
beschaffen. In ihrer „staatstragenden“ Rolle würde sie aber vermutlich ähnlich
wie die SPD als letzter Ausweg trotzdem für eine Koalition bereitstehen. Eine
Koalition mit den Grünen erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt am
wahrscheinlichsten zu sein, wenngleich diese schon angekündigt haben, sich am
teuersten zu verkaufen. Tatsächlich kann Kurz auch mit den Grünen nicht an
einer rechtskonservativen Politik festhalten und müsste zumindest eine gehörige
Kosmetik in der Umweltpolitik und eventuell auch anderen Bereichen bieten. Man
muss sich also darauf einstellen, dass sich die Gespräche zwischen den Parteien
und die Koalitionsverhandlungen selbst über einen längeren Zeitraum ziehen und
ob dann wirklich die Grünen oder doch noch die Blauen oder am Ende sogar die
Roten zum Handkuss kommen, das ist vom jetzigen Standpunkt kaum abzusehen.

Herausforderungen

Für linke und
fortschrittliche Menschen und für BefürworterInnen der ArbeiterInnenbewegung
gilt es nun, die Konsequenzen aus diesem Wahlkampf zu ziehen. Die Zugewinne für
ÖVP und Grüne (sowie auch für NEOS) sowie die Verluste für die SPÖ deuten eine
weitere Stärkung bürgerlicher Ideologien und Illusionen in der Bevölkerung an.
Die Sozialdemokratie selbst betreibt bürgerliche Politik auf Grundlage der reformistischen
Ideologie einer Versöhnung von Arbeit und Kapital. Sie ist damit Teil des
Problems und nicht der Lösung. Die ArbeiterInnenklasse braucht ihre eigene
Partei für eine unabhängige proletarische und internationalistische Politik –
die Sozialdemokratie ist diese Partei schon lange nicht mehr! Für die linken
und klassenbewussten Teile der Sozialdemokratie ist das aktuelle politische
Desaster die Vorwarnung, mit der Partei unterzugehen, sollten sie einen Bruch
mit der verbürgerlichten Politik der SPÖ weiterhin scheuen. Die kommenden
Wochen und Monate werden dazu Gelegenheit bieten, wenn sich die SPÖ für eine
Große Koalition öffnet. Dann muss es heißen „Nein zu jeder Koalition mit
kapitalistischen Parteien! Für eine eigenständige sozialistische Politik!“

Die Kandidaturen
von KPÖ und Wandel boten wieder einmal keinen Ausweg. Das liegt nicht nur an
der schwierigen Ausgangslage für Kleinparteien. Es ist auch ein Ausdruck
dessen, dass der etwas linkere Reformismus oder Populismus als alternative
Perspektive kaum überzeugt. Nur eine Politik des internationalistischen
Klassenkampfs kann einen tatsächlichen Ausweg aus der Krise der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung aufzeigen. Dass eine solche Politik
derzeit am politischen Horizont nicht absehbar ist, sondern die ÖVP ihren
politischen Höhenflug feiert, sollte nicht entmutigen. Wer schnell aufsteigt,
kann auch schnell wieder fallen. Gerade diese Wahlen haben bewiesen, wie
schnell die politischen Verhältnisse kippen können, wenn das politische
Bewusstsein erschüttert wird. Erschütterungen wird der Kapitalismus noch
mehrere hervorrufen, besonders in Zeiten der sich anbahnenden Rezession und der
Zuspitzung zwischen den imperialistischen Großmächten.




Berliner Mietendeckel: Mietenbremse oder Trostpflaster?

Lucien Jaros, Neue Internationale 141, Oktober 2019

Egal
ob Mietpreisbremse, Milieuschutz, Wohnraumversorgungsgesetz: Die Mieten in der
Hauptstadt sind in den letzten Jahren explodiert. Dass die Idee eines
Mietendeckels konkrete Formen annimmt, ist ohne Zweifel erstmal ein Erfolg. Es
ist nicht Ausdruck einer sozialen Politik der Regierungsparteien (SPD, Linke,
Grüne), sondern des Druckes der MieteInnenbewegung und Projekte wie des
Volksbegehrens zur Vergesellschaftung der größten Wohnkonzerne in Berlin (Deutsche
Wohnen & Co. Enteignen) auf diese Parteien.

Immobilienwirtschaft,
Grüne und SPD

Während
die Wohnkonzerne jeden Deckel ablehnen, sieht die Politik der Grünen zum
Mietendeckel folgendermaßen aus: Innerhalb der Partei und der
Regierungskoalition wird gegen einen richtigen Mietendeckel gearbeitet und
werden wichtige Elemente systematisch demontiert. Nach außen wird die Idee
verteidigt, um sich selbst einen sozialen Anstrich zu geben. Die
Wunschvorstellung von Katrin Schmidberger (Grüne) ist ein „atmender Deckel von
unten“. Das heißt, dass günstige Mieten auf Obergrenzen erhöht, aber teure
nicht auf diese gesenkt werden können. Einem Mietenstopp wird eine Absage
erteilt, mit dem Argument der Ausgewogenheit zwischen Interessen der
Allgemeinheit und der Masse der Mieterinnen auf der einen und dem Eingriff ins
Eigentumsrecht auf der anderen Seite.

Das
Rechtsgutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Abgeordnetenhauses wie das
von Joachim Wieland sehen für den Gesetzgeber in Berlin einen weitgehenden
Gestaltungsrahmen in Mietsachen vor (Art. 28 der Verfassung). Die Versorgung
der Berliner Bevölkerung mit günstigem Wohnraum ist demnach notwendig. Ein
Schutz der Rendite ist nirgendwo festgeschrieben. Eine Ausgewogenheit ist daher
nicht zwingend. Das Argument ist daher selbst nach bürgerlichem Recht nicht
haltbar.

Der
rechte Flügel der Berliner SPD. ist nicht nur politisch bestens mit der
Immobilienlobby vernetzt (Kreisel-, Garski-, Antes-Affäre), sondern es
existieren auch personelle Überschneidungen.

„Schon vor Beschluss des Eckpunktepapiers zum Mietendeckel im Senat im Juni übte sich die Senatskanzlei unter deren Chef Christian Gaebler (SPD) in Störmanövern. Und inzwischen scheint das Vorhaben in der Öffentlichkeit ein  Projekt von Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (LINKE) zu sein. Obwohl sie anfangs deutliche Skepsis zeigte.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 31.8./1.9.2019)

Dabei
kam der Vorschlag für einen landesweiten Mietendeckel ursprünglich aus der SPD ­
wohl auch, um der Volksentscheidsinitiative „Deutsche Wohnen & Co.
enteignen“ (DWE) den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Der ursprüngliche
Entwurf

Der
ursprüngliche Entwurf Lompschers sah in der Tat einen richtigen Mietendeckel
vor, wie einst mit der SPD unter dem Namen „Mietenstopp“ vereinbart (Eckpunkte für ein Berliner Mietengesetz, 18.
Juni 2019). Er wurde in einem internen Papier der
Stadtentwicklungsverwaltung konkretisiert.

Im
Entwurf von Lompscher waren Obergrenzen zwischen 6,03 Euro/m² (Altbau) und 7,97
Euro/m² (Baujahr 1991–2013) festgelegt. Die Preise beziehen sich auf die
Nettokaltmieten. Für Modernisierungen, die in den letzten 8 Jahren vor
Inkrafttreten des Mietendeckels (18.6.2019) erfolgten, sollen definierte
Zuschläge pro m2 ohne Genehmigungsverfahren verlangt werden
dürfen, wenn die Mietoberwerte um nicht mehr als 20 % überschritten
werden. Kündigungen wegen Eigenbedarfs müssen durch die Bezirksämter genehmigt
werden. Ferner sollen die Mieten für 5 Jahre eingefroren werden (Mietstopp),
und bei Wiedervermietung darf die Miete nicht steigen. Außerdem können
MieterInnen die Absenkung einer überhöhten Miete beantragen. Wie der
Mieterverein nahm die Stadtentwicklungsverwaltung den Berliner Mietspiegel von
2011 als Grundlage. Die etwas höheren Mietobergrenzen des Mietervereins
errechnen sich durch die allgemeine Teuerung, während die Verwaltung sich an
der geringer ausgefallenen Einkommensentwicklung orientierte. Der
Mieterverein konzediert zusätzlich während der 5 Jahre eine
Mieterhöhungsmöglichkeit von 1,5 % jährlich. Zweifel werden in der Koalition
an der Absenkung aller Bestandsmieten geäußert. (ND, 26.8.2019)

Von einer
drastischen Reform konnte aber auch im Entwurf vom 18. Juni keine Rede sein. Kalkulatorisch
beträgt die kostendeckende Miete, also die Kosten für Betriebskosten (inkl
Grundsteuer), Instandhaltung, Verwaltung, Zinsen für Kapitaldarlehen usw. für
abgeschriebene Altbauwohnungen in München im Jahr 2018 3,52 Euro/m2
(Andrej Holm, Claus Schreer: Mietpreis-Explosion und Wohnungsnotstand –
Ursachen und Alternativen, isw-Report Nr 116/117, Mai 2018, S. 16). Dieser
Betrag ist in Berlin wahrscheinlich niedriger. Das heißt, dass die Wohnkonzerne
mehr als das Doppelte einnehmen, was benötigt wird, um die Bausubstanz zu
bewahren und zu verwalten. Gewinne, Renditeauschüttungen gäbe es immer noch. Die
wären einfach nur etwas reduziert. Und das ist auch gut so: Denn diese Gelder
werden normalerweise verwendet, um neue Gebäude zu bauen in hochpreisigen
Segmenten oder Eigentumswohnungen, die sich die Masse der Menschen nicht
leisten kann, jedoch sich in steigenden Vergleichsmieten und Mieterhöhungen
bemerkbar machen. Das Kapital wird auch investiert, um durch energetische
Sanierungen und anteilige Umlage der Investitionskosten Mieterhöhungen
voranzutreiben. Auch wenn es absolut notwendig ist, die Miete auf eine
kostendeckende zu begrenzen und den gesamten Neubau öffentlich und
sozialgebunden zu gestalten, beschränkt der ursprüngliche Entwurf die
Mietpreisspirale zumindest. Darum muss die MieterInnenbewegung ihn auch als
Teilreform unterstützen.

Leider
muss man hinzufügen, dass die Wohnungsgenossenschaften, ursprünglich z. T.
Organisationen von ArbeiterInnen, sich so weitgehend von ihren Wurzeln entfernt
haben, dass einige von ihnen hier dieselbe Position einnehmen wie bösennotierte
und internationale Wohnkonzerne inkl. Argumenten und Ausgaben für eine
Anti-Mietendeckel-Kampagne auf Kosten der Genossenschaftsmitglieder. Das zeigt
nebenbei zusätzlich, dass, auch wenn soziale und genossenschaftliche Betriebe
im Kapitalismus gegen profitorientierte verteidigt werden müssen, diese sich
dem marktwirtschaftlichen Umfeld allmählig anpassen und wie „normale“
profitorientierte agieren, wenn sie nicht in eine sozialistische Planwirtschaft
integriert werden. Also anstatt den Kapitalismus langfristig „Stück für Stück“
von innen für die ArbeiterInnenklasse abzuschaffen oder zu reformieren, werden
diese absobiert und stinknormale Geschäfte wie andere auch, Teil der
Marktwirtschaft.

Aktueller
Stand des Gesetzentwurfs

Auf
Druck der Koalitionspartnerinnen wurde der ursprüngliche Entwurf weitgehend
verändert. Kern des aktuellen Entwurfs zum Berliner MietenWoG ist eine Tabelle
mit Obergrenzen, die sich von Baujahr und Austattungsmerkmalen ableiten und
zwischen 5,95 und 9,80 Euro/m² für vor 2014 bezugsfertige Häuser liegen (3,92
Euro/m2 für vor 1918 gebaute Wohnungen).

Eine
jährliche Steigerung von 1,3 % 
ist vorgesehen sowie eine anhand von Preis-Lohnentwicklung, ferner ein
Aufschlag von 1 bzw 1,4 Euro/m2 bei notwendiger energetischer
Sanierung in den vergangenen 15 Jahren. Bis 1 Euro/m2 sind nicht
genehmigungspflichtig. Über die Notwendigkeit entscheiden Bezirksämter oder die
Investitionsbank. Mieten dürfen über die Obergrenzen hinaus erhöht werden, wenn
die wirtschaftliche Lage der/s VermieterIn eine unbillige Härte verursacht. Was
das ist, entscheidet das Bezirksamt oder die Investitionsbank. Mieten dürfen
nur herabgesetzt werden, wenn die Mietbelastung 30 % des
Haushaltsnettoeinkommens übersteigt (Grundlage ist der maximal pro Person nach
Sozialgesetzbuch zustehende Raum, für größere Wohnungen gilt das also nicht in
Gänze! Für 2 Personen sind z. B. nicht mehr als 65 m2
vorgesehen; ND 24.9.2019). Mieten oberhalb der Obergrenzen können in
bezuschusst werden (Wohngeld). Ursprünglich sollten sämtliche Mieten über der
Obergrenze auf Antrag abgesenkt werden können. Das gilt jetzt nur für
Wiedervermietung und o. a. Fälle.

Die
Obergrenzen umfassen zudem nur Neuvermietungen in vor 2014 bezugsfertigen
Häusern. Der Neubau ist ebenso ausgenommen wie der soziale Wohnungsbau. Für
Häuser mit maximal 2 Wohnungen sind 10 % Zuschlag gestattet. Basis der
Tabellen ist jetzt der Mietspiegel von 2013, als die Mieten schon deutlich
anzogen. Für die nächsten 5 Jahre eingefroren werden nur die Mieten, die über
den Obergrenzen liegen. Ein genereller Mietstopp ist also passé. Wie die Grünen
spricht jetzt auch Lompscher von einem „atmenden“ Deckel: Einerseits wird die
Mietentabelle jährlich entsprechend o. a. Index angepasst, andererseits
dürfen Mieten bis zur Obergrenze erhöht werden. (ND, 31.8./1.9.2019, 4.9.2019)


Energetische Sanierung

Erstens
übersteigt die Mietobergrenze inklusive des Aufschlags für Sanierungen in
manchen Sektoren die aktuelle Miete. Zweitens wird die Praxis fortgesetzt,
durch Sanierungen Mieten zu erhöhen und Erhöhungen auch nach der Amortisierung
aufrechtzuerhalten. Drittens sind die Bezirksämter personell nicht dafür
ausgestattet, solche Aufgaben wahrzunehmen. Viertens ist es politisch
fragwürdig, die Entscheidung an Gremien zu delegieren, die nicht direkt durch
die MieterInnen kontrolliert werden und nicht in ihrem Interesse handeln
–gerade in Zeiten von Filz zwischen UnternehmerInnen, bürgerlichen
PolitikerInnen und Staatsbürokratie. Man darf auch kein Vertrauen in Banken
haben, da sie von Mietpreissteigerungen in Folge energetischer Sanierungen
profitieren. Daher muss  diese
Regelung gestrichen bzw. durch eine ersetzt werden, wo der Aufschlag nach
Ablauf der Amortisierung wegfällt. Zudem müssen der Sanierung gewählte Komitees
der MieterInnen zustimmen. Die Geschäftsbücher müssen offengelegt und durch sie
kontrolliert werden können.


Obergrenzen (die keine sind) und Mietzuschuss

Die
Obergrenzen reichen völlig, aus Kosten des Vermieters zu decken. Wohnungen, die
älter als 50 Jahre sind bzw. bereits vor diesem Alter degressiv abgeschrieben
sind, dürfen max. 3,50 Euro/m2 nettokalt kosten. Die Möglichkeit,
Mieten über die Obergrenze hinaus zu erhöhen, stellt eine weitere zentrale
Schwachstelle des gesamten Entwurfs dar. Jede Wirtschaftsfachkraft kann die
Bilanzen einer Firma so kalkulieren, dass eine unbillige Härte entsteht. Es
würde ausreichen, wenn Häuser gekauft werden, um diese zu erzeugen. Dieser
Mechanismus bevorteilt gerade größere Konzerne, die in diesen Dingen sehr geübt
sind. Auch die Zuständigkeit  von
Bezirksamt und Investitionsbank ist kritisch. Eine Obergrenze ohne Ausnahmen
ist notwendig. Dann fällt die Notwendigkeit der staatlichen Bezuschussung für
private Konzerne (Wohngeld) zu einem Gutteil weg.


Bedüftigkeit, Herabsetzung der Mieten

Im
ursprünglichen Entwurf waren alle Personen berechtigt, die Mieten oberhalb der
Obergrenzen zu senken. Das wären schätzungsweise 80 % der Berliner
MieterInnen. Nach dem aktuellen Entwurf sinkt der Personenkreis auf 20 %.
Die Nettokaltmietschwelle von 30% des Haushaltseinkommens entspricht der
„Selbstverpflichtung“ des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen (DW) sowie der
seit 2016 gültigen Praxis in den landeseigenen Wohnungsgesellschaften und ist
kein Fortschritt, da die Nettokaltmieten in den letzten Jahren langsamer
anstiegen und einen immer geringeren Anteil an den Gesamtkosten ausmachen. Die
höher werdenden Kosten sind die Betriebskosten und Modernisierungen. Große
Konzerne verdienen Extramillionen durch Insourcing, also das Ausstellen
überhöhter Rechnungen an eigene Firmen und die Umnlage dieser Kosten auf die
MieterInnen. Des Weiteren ist es ein erheblicher bürokratischer Aufwand, die
Einkommensverhältnisse von Millionen von Menschen zu prüfen. Durch diese
Regelung wird die aktuelle Mietpraxis, also Vermietung an die Person mit dem höchsten
Einkommen und Verdrängung einkommenschwacher Personen, verstärkt. Ein
Herabsetzung der Miete ohne Ausnahme ist notwendig. Nur eine Einschränkung auf
den weit größeren Personenkreis mit Wohnberechtigungsschein oder die
Orientierung an den Warmkosten wären eine gangbare Option.


besonderer Schutz für schutzbedürftige Personen

Im
aktuellen Entwurf fehlt eine Klausel, dass Obdachlosigkeit durch Verlust des
Wohnraums in Folge von Mietpreissteigerung ausgeschlossen wird. Eine Pflicht,
einen Teil der Wohnungen für besondere Schutzgruppen (Obdachlose, Geflüchtete,
sexuell Unterdrückte und Jugendliche) bereitzustellen und leicht zugänglich zu
machen, fehlt ebenso, ist aber dringend notwendig.

Fazit

Der
usprüngliche Entwurf ist besser geeignet, die Interessen der Millionen
MieterInnen zu vetreten. Erstens weil die ausnahmsfreie Begrenzung bzw. Senkung
der Mieten eine Entlastung für Millionen MieterInnen und das Land Berlin
bedeuten. Mit den Kosten für Unterkunft und Heizung (gemäß ALG II) und Wohngeld
wird durch Steuergelder, also Abgaben der Lohnabhängigen, der private
Wohnungsmarkt subventioniert. Eine niedrige Miete entlastet den Berliner
Haushalt und macht Kapital frei für einen öffentlichen und sozial-gebundenen
Neubau und für die Kosten einer Vergesellschaftung. Zweitens ist die
nachhaltigere Vergesellschaftung ein mittelfristiges Projekt und in einer
Situation, wo viele BerlinerInnen zwischen 40 und 55 % ihres Einkommens
für die Miete ausgeben, ist ein echter Mietendeckel eine korrekte Sofortmaßnahme
und neben der Vergellschaftung und öffentlichem sozialem Wohnungsbau eine der
notwendigen Grundmaßnahmen im Mietwesen. Drittens schafft die Vergellschaftung
der größten Wohnmultis günstigen Wohnraum für ca. 300.000 Menschen, aber nicht
für alle, die ihn brauchen. Für alle anderen muss auch ein finanzierbarer
Wohnraum geschaffen werden – ohne Ausnahmen und Einschränkungen. Viertens senkt
der ursprüngliche Mietendeckel vorab die Rendite der Wohnkonzerne, was sich im
Falle der Vergesellschaftung nach Art. §15 GG Satz 1 in sinkenden Aktienkursen
und einer niedrigeren Entschädigungshöhe nach Satz 2 bzw. Art. §14 Abs. 3 &
4 GG bemerkbar machen kann.

Daher
muss für die Verteidigung des ursprünglichen Entwurfs Stellung bezogen werden
und die Linkspartei gegenüber ihren Koalitionspartnerinnen, der Opposition, den
Immobilienkonzernen und Medien hier verteidigt werden. Gleichzeitig muss man
sie dafür kritisieren, dass sie bei der ersten Verhandlung (30.8.2019) im
Koalitionsausschuss dem Druck nachgegeben hat. Bei Bekanntgabe des
überarbeiteten Entwurfs stiegen die Aktionskurse der Wohnkonzerne.

Ein
erster Schritt wäre die Mobilisierung zur Mietendemo „Richtig deckeln, dann
enteignen – Rote Karte für SpekulantInnen“ und die Unterstützung des DWE-Blocks
am 3.10., um an diesem historischen Tag der nationalen Frage die Eigentumsfrage
entgegenzustellen und auch darüberhinaus sich für Vergellschaftung,
Gemeineigentum und Kontrolle durch MieterInnen einzusetzen.

Die
MieterInnenbewegung, darunter das DWE-Bündnis, ist gut beraten, sich nicht auf
Grundgesetz, Volksentscheid, Senat, Parlament und Parteien einschließlich DIE
LINKE zu verlassen. Dies betrifft sowohl die Frage der entschädigungslosen
Enteignung der großen Wohnkonzerne wie auch die der Kontrolle über einen
wirksamen Mietendeckel. Die MieterInnenbewegung muss sich in eine Bewegung für
ArbeiterInnenkontrolle über das gesamte Wohnungswesen transformieren und diese
mittels politischen Streiks durchzuseten helfen.




Deutsche Wohnen und Co. enteignen! Entschädigungslos!

Aufruf der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur Berliner Demonstration „Richtig deckeln, dann enteignen“ am 3. Oktober, Infomail 1069, 26. September 2019

77.000 Unterschriften sprechen eine deutliche Sprache. Die
BerlinerInnen wollen wirksame Maßnahmen gegen wuchernde Mietpreise,
Wohnungsspekulation, Verdrängung, Räumungen.

Immobilienlobby und Wohnungsbaukonzerne wie Deutsche Wohnen
oder Vonovia laufen Sturm. Die bürgerlichen und rechten Oppositionsparteien im
Berliner Abgeordnetenhaus – CDU, FDP und AfD – springen ihnen beherzt bei.
Schließlich stehen sie für Neoliberalismus, Abzocke und die Interessen von
Reichen und Kapital stramm. Wenn nur von Mietpreisbremse gesprochen wird,
wittern sie schon Sozialismus. Steht die Enteignung milliardenschwerer
Immobilienkonzerne im Raum, droht anscheinend der Untergang des Abendlandes.
Die „Freiheit“ sei in Gefahr, so das gemeinsame Gezeter – und sie offenbaren
damit nur, dass für sie die eigentliche Freiheit nicht mehr ist als die des
Privateigentums, der Bereicherung.

Wohnungsnot und Klassenfrage

In einem haben sie dabei Recht. Eine an den Bedürfnissen und
Interessen der großen Masse der MieterInnen, also der Lohnabhängigen – ob alt,
ob jung, ob tariflich oder prekär beschäftigt, ob Mann oder Frau, deutsche/r
StaatsbürgerIn oder nicht – orientierte Mietenpolitik ist mit den Interessen
der Immobilienwirtschaft und besonders der großen Wohnungskonzerne unvereinbar.
Ihr Geschäftsmodell basiert geradezu auf ständig steigenden Gewinnerwartungen –
also höheren Mieten und schlechterem Service für die MieterInnen.

Der öffentliche Erfolg des Volksbegehrens besteht gerade
darin, dass es eine Forderung populär gemacht hat, die noch vor wenigen Jahren
allen bürgerlichen PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und Medien als
politisches No-Go, als Spinnerei alt-kommunistischer Kader oder euphorischer
Jugendlicher erschien.

Der Wind hat sich offenkundig gedreht – nicht, weil die
Forderung plötzlich so peppig „vermarktet“ oder besser „vermittelt“ wurde.
Vielmehr hat das Kapital selbst dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen die
Enteignung als realistisches, vielleicht sogar als einziges realistisches
Mittel erscheint, der Profitmacherei ein Ende zu setzen.

Und der Senat?

Der „linke“ Senat spielt in dieser Situation vor allem auf
Zeit. Anders als die Wohnungslobby und die bürgerliche Opposition geben sich
die Senatsparteien als „Verbündete“ oder zumindest „gesprächsbereit“.

SPD und Linkspartei tun so, als hätte es unter dem früheren
rot-roten Senat keine Massenprivatisierungen gegeben, oder umschiffen das Thema
zumindest. In der SPD gebärden sich die Jusos links, während Innensenator
Geisel vom rechten SPD-Flügel die „Prüfung“ der Unterschriften und der
„Rechtmäßigkeit“ des Volksbegehrens seit Wochen, ja Monaten verschleppt. Die
SPD hatte, nachdem sich die sog. „Mietpreisbremse“ als unwirksam erwies, den
„Mietpreisdeckel“ ins Spiel gebracht – sicher auch als Beruhigungspille und
Alternative zur Enteignungsforderung.

Dabei ist klar, dass ein Deckel das Problem allenfalls nur
lindern kann – jetzt gehen ihr selbst die Vorschläge der Linkspartei unter
Wohnungssenatorin Lompscher zu weit.

Die Grünen – ansonsten gern „voran“ – mogeln sich seit Monaten
auch um eine klare Position herum.

Klar an der Haltung der drei Senatsparteien ist nur soviel:
Die gemeinsame Regierung wollen sie fortsetzen. Die Unterstützung der Bewegung
und deren „offenes Ohr“ hätten sie gern, mit der Immobilienwirtschaft und, ganz
allgemein, den InvestorInnen wollen sie aber auch keine allzu harte
Konfrontation.

Dass das Kapital mit dieser Politik auch nicht zufrieden
ist, dass ihm schon die kleinsten „Reformvorhaben“ schnell zu weit gehen, ist
nur zu verständlich. Schließlich könnte das Mut zu mehr machen – in Berlin und
in der gesamten Bundesrepublik.

Uns hilft die kompromisslerische Politik des Senats, die
sich mit dem Wohnungskapital nicht anlegen will, jedoch auch nicht weiter. Wir
brauchen keine weiteren Beruhigungspillen oder halbherzige Reformversprechen.
Wir brauchen wirksame Maßnahmen gegen Mietpreissteigerungen, Wohnungsnot,
Verdrängung.

Enteignung ja, Entschädigung nein!

Wir unterstützen die Forderung nach einem wirksamen
Mietpreisdeckel. Schon jetzt wird er durchlöchert, der Senat weicht zurück,
statt gegen die Immobilienlobby vorzugehen. Damit er überhaupt dauerhaft von
Nutzen sein kann, kommt es nicht nur auf seine Höhe an – es geht auch darum,
wer ihn kontrolliert. Die Senatsverwaltung oder MieterInnenkomitees und
Gewerkschaften der in Wohnungsbau, Instandhaltung und Verwaltung Tätigen?

Außerdem erfordert Kontrolle auch die Offenlegung aller
Geschäftsbücher, Bilanzen, Konten, Transaktionen, Verträge oder
Planungsvorhaben der Immobilienkonzerne. Deren „Geschäftsgeheimnis“ erweist
sich in der Praxis als Geheimniskrämerei gegenüber den MieterInnen und der
Öffentlichkeit.

Diese Maßnahmen würden zugleich die Frage zuspitzen, wer
eigentlich über den Wohnungsbau, Mietpreise, Bauvorhaben, Planung, …
entscheidet – die EigentümerInnen und der Staat (die Stadt Berlin) oder die
MieterInnen und VertreterInnen der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften?

Damit jene, die in den Wohnungen wohnen, solche
Entscheidungen treffen können, muss die Immobilienwirtschaft wie der gesamte Wohnungsbausektor
enteignet werden – und zwar entschädigungslos. Die Forderung nach Entschädigung
– ob nun „rechtskonform“ oder nicht – erschwert letztlich diesen Kampf. Warum
sollen schließlich milliardenschwere Konzerne auch noch dafür entschädigt
werden, dass sie sich auf unsere Kosten bereichert haben? Sollen die
SteuerzahlerInnen dafür aufkommen, dass sie in einer anderen Stadt oder einer
anderen Branche munter weitermachen?

Ob eine entschädigungslose Enteignung durchgesetzt werden
kann, ist wie jede grundlegende Maßnahme gegen Mietenwucher und Wohnungsnot
letztlich eine Machtfrage. Sie genügt sich auch nicht selbst, sondern muss
verbunden werden mit einem Wohnungsbauprogramm unter Kontrolle der MieterInnen
und Gewerkschaften – finanziert aus den Vermögen der Immobilienbranche und
durch Besteuerung des Kapitals. Als Sofortmaßnahme sollte auch leerstehender
Wohnraum der Reichen beschlagnahmt und Menschen mit geringen Einkommen oder
Flüchtlingen zur Verfügung gestellt werden.

Eine solche, grundlegend andere Wohnungspolitik könnte auch
sicherstellen, dass MigrantInnen und Geflüchtete, Alleinerziehende, Menschen
mit Behinderung, prekär Beschäftigte, Erwerbslose und generell Menschen mit
geringen Einkommen nicht weiter offen oder verdeckt diskriminiert und ausgegrenzt
werden.

Somit muss Wohnungspolitik zu einer Klassenpolitik werden,
die „Wohnungsfrage“ im Interesse aller Lohnabhängigen, aller ausgebeuteten und
unterdrückten Schichten der Bevölkerung gelöst werden. So kann nicht nur
verhindert werden, dass sie zur weiteren Verdrängung führt, sondern auch die
rassistische Spaltung der Gesellschaft, die am Wohnungsmarkt ständig
reproduziert wird, bekämpft werden.

Wie weiter mit dem Volksbegehren?

Die aktuelle Hinhaltepolitik beim Mietendeckel, das
Verzögern des Volksentscheides durch den Innensenator verdeutlichen auch, dass
sich das Volksbegehren darauf einstellen muss, dass es in den nächsten Monaten
auf vielfältige rechtliche und andere Hürden treffen wird. Selbst im Falle
eines klaren Mehrheitsentscheids der Bevölkerung wäre es noch nicht
rechtsverbindlich.

Es braucht daher eine Strategie der Mobilisierung, die den Kampf um die Enteignung in die Wohnviertel trägt, in die Gewerkschaften und Betriebe, um MieterInnenkomitees zu gründen, die auch andere Kampfmittel und Taktiken verfolgen können – so z. B. massenhaften und organisierten Mietboykott, politische Streiks, um Druck für Enteignung (oder auch einen wirksamen Mietdeckel) zu machen. Und es bedarf auch der bundesweiten Vernetzung und Koordinierung mit anderen MieterInneninitiativen und -verbünden.

Richtig deckeln, dann enteignen.

Demonstration des Bündnisses gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn/Deutsche Wohnen & Co enteignen

Berlin, 3. Oktober, 13.00, Berliner Congress Center (gegenüber von Alexa)