Die Europawahlen und die Krise der EU

Martin Suchanek, Neue Internationale 237, Mai 2019

Zwei Jahrzehnte
nach der Tagung ihrer Staats- und RegierungschefInnen in Lissabon im März 2000
ist die Europäische Union zum „schwächsten Glied“ unter den Großmächten in der
imperialistischen Weltordnung geworden. Tatsächlich wäre Unordnung ein besserer
Begriff für eine Welt rivalisierender Mächte mit deren Handels- und anderen
Kriegen sowie ihrer Weigerung, etwas Ernstes gegen Klimakatastrophe und globale
Konflikte zu tun. Und innerhalb der Union sind offene Kämpfe um die Art und
Zukunft der Vereinigung ausgebrochen (Brexit).

Euro-Einführung

Mit der
Einführung des Euro um die Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr
2009 sollte der größte Wirtschaftsraum der Welt zu einem gemeinsamen europäischen
Kapitalblock werden. Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische
und militärische Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer
Herrschaft. Seine führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig,
dass sie zu den USA aufschließen und ihre Rolle weltweit in Frage stellen
wollten.

Seit der großen
Krise sind EU und Euro-Zone trotz Austeritätspolitik, trotz Versuchen der
wirtschaftlichen Vereinheitlichung weiter hinter den USA und China
zurückgeblieben.

Das 21.
Jahrhundert hat die tiefen Widersprüche, die das „europäische Projekt“ von
Anfang an prägten, an die Oberfläche befördert. Millionen von ArbeiterInnen,
Bauern/BäuerInnen und sogar große Teile der „Mittelschicht“ wurden von der
Politik der Europäischen Kommission, der EZB, der Staats- und
RegierungschefInnen und der SchlüsselministerInnen der europäischen Großmächte
enttäuscht.

Um die
Jahrhundertwende galt die neoliberale Politik als untrennbarer Bestandteil
dieser vermeintlichen neuen Weltordnung. Die Europäische Union erlebte eine
Hinwendung zu dem, was bisher als „angelsächsisches“ Modell galt, den „Reformen
des freien Marktes“. Für Millionen wurden die alten Versprechungen eines
„sozialeren Europas“, „wohlhabender“, „demokratischer“ und
„humanitärer“ als dreiste Lügen offenbart.

Seit der Agenda
von Lissabon

Die
Lissabon-Agenda von 2000 mit ihren Schwerpunkten Sparsamkeit,
„Arbeitsmarktreform“ und Wettbewerbsfähigkeit markierte auch eine Ablehnung von
„Sozialstaat“ und Keynesianismus durch die europäischen Bourgeoisien. Die
konservativen Parteien sowie Labour-Parteien und Sozialdemokratie passten sich
dem Neoliberalismus an. Ohne Blairs „Dritten Weg“ oder Schröders „Neue Mitte“
wäre die Verabschiedung der neoliberalen Agenda unmöglich gewesen oder
zumindest auf viel mehr Widerstand gestoßen.

Die führenden
Mächte und die EU-Kommission haben nicht nur die Lissabon-Agenda durchgesetzt,
sondern zielten auch auf eine neoliberale Verfassung der Europäischen Union ab.
Diese wurde jedoch in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden
abgelehnt.

Die Antwort der
europäischen Regierungen und Institutionen war jedoch lehrreich. Dem massiven
Widerstand und der Ablehnung der Verfassung wurde durch ihre Einführung als
„Vertrag“ gegen den Willen des Volkes begegnet.

Dies machte Millionen
das „demokratische“ Defizit der EU ebenso deutlich wie „soziale“, ökologische
und viele andere Mängel, die hinter diesem Manko an europäischer Demokratie
stehen. Es unterstrich, dass die herrschenden Klassen den europäischen
Kontinent nicht auf demokratische, geschweige denn auf „soziale“ Weise vereinen
können und werden, stattdessen den „Willen des Volkes“ völlig ignorieren.

Das Gleiche gilt
umso mehr für die Bereiche Finanzen, Außenpolitik, Interventionen und Kriege.
Die europäischen Regierungen haben „ihre“ Bevölkerung nie gefragt, ob sie
Syrien oder Libyen bombardieren oder den Irak besetzen, ob sie in Mali oder
anderen afrikanischen Staaten intervenieren oder ob sie sich in der Ukraine
einmischen sollen. Sie haben auch nicht „ihre“ Völker konsultiert, ob sie neue
europäische Militärverträge abschließen, die Osterweiterung der NATO
unterstützen und Truppeneinsätze an den Grenzen Russlands durchführen und einen
neuen Kalten Krieg beginnen sollen.

Das letzte
Jahrzehnt hat jedoch gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen
die EU konfrontiert ist.

Globale
Konkurrenz

Wirtschaftlich
fiel sie weit hinter die USA und China zurück. Nach der großen Rezession haben
Deutschland und andere wettbewerbsfähigere Länder die Kosten der Krise auf die
schwächeren europäischen Volkswirtschaften abgewälzt. Die Institutionen der
Eurozone haben im Namen der Haushaltsdisziplin weite Teile Südeuropas mutwillig
verarmt. Sie haben Griechenland und anderen Staaten brutale Sparpolitik
auferlegt und damit noch anfälliger für die Verheerungen einer neuen globalen
Rezession gemacht. Aber Deutschland und Frankreich zahlten dafür einen hohen
Preis – die zentrifugalen Tendenzen innerhalb der EU und der Eurozone nahmen
stark zu.

Militärisch und
geopolitisch bleibt die EU im Vergleich zu den USA, Russland oder China ein
Zwerg. Die Versuche der europäischen Mächte, dies zu überwinden, sind alle
halbherzig und spiegeln oft eher ihre inneren Spannungen als eine klare Politik
wider. Während die EU versuchte, eine Schlüsselrolle bei dem Regimewechsel in
der Ukraine zu spielen, konnte sie nicht verhindern, dass die USA sie in einen
neuen Kalten Krieg manövrierten und damit die Pläne Deutschlands für engere
Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und darüber hinaus zu China zunichtemachten.
Putin begann, unangenehme EU-Regierungen wie Ungarn und rechtsextreme
populistische Bewegungen auf dem ganzen Kontinent zu unterstützen. Gleichzeitig
hat die aggressive „America First“-Politik der Trump-Administration nicht nur
die Spannungen zwischen der EU und den USA in Bezug auf Handels-, Militär- und
internationale Politik verschärft, sondern auch innerhalb der EU und sogar
innerhalb der herrschenden Klassen der Großmächte.

Die EU wird so
auch zu einem potenziellen Schlachtfeld, auf dem ihre RivalInnen um politischen
und militärischen Einfluss kämpfen. Italien unter seiner rechtspopulistischen
Regierung hat gegen Macron in die inneren Angelegenheiten Frankreichs
eingegriffen und ein Abkommen mit China geschlossen, dessen Projekt der „neuen
Seidenstraße“ von anderen EU-Mitgliedern und den USA scharf abgelehnt wird.

Die so genannte
Flüchtlingskrise hat die Spannungen weiter verschärft. Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit sind zu einem echten Mittel geworden, um Massen von
desillusionierten kleinbürgerlichen Schichten oder sogar rückständigen Teilen
der Arbeiterklasse zu sammeln, die verarmt wurden oder es befürchten. Der
Aufstieg des Nationalismus und der Anti-EU-Sektionen der Bourgeoisie und der
Kleinbourgeoisie spiegelt die wachsenden Spannungen und inneren Widersprüche
wider. Die EU ist kein europäischer Superstaat, sondern immer noch eine
Föderation von Nationalstaaten mit ihren konkurrierenden Interessen.

Kein Wunder,
dass dies zur Entstehung von rechtspopulistischen und rassistischen, gegen die EU
gerichteten Kräften auf dem gesamten Kontinent geführt hat, die versuchen, sich
als Alternative zu einer deutsch oder deutsch-französisch dominierten Union zu
präsentieren, die im Begriff ist zu scheitern. Sobald kleinbürgerliche Kräfte
in die Szene eintreten, kann und wird diese Krise irrationale Formen annehmen –
die extremsten wahrscheinlich in Großbritannien -, wo das ganze Land mit
einem  Brexit festsitzt, den die
Mehrheit der Bevölkerung und der beiden Hauptklassen eigentlich nicht will.

Schicksalswahl?

Vor diesem
Hintergrund erscheint die Europawahl vom 23.-26. Mai als eine weitere
Schicksalswahl. Dabei wird die Zukunft der EU sicherlich nicht dort entschieden
– schließlich befinden sich die Machtzentralen der Union nicht im
Europaparlament und selbst nicht in der EU-Kommission, sondern in Berlin und
Paris.

Aber diese
Zentralen schwächeln – nicht zuletzt aufgrund der inneren Widersprüche in ihren
Ländern, aufgrund einer fehlenden gemeinsamen „Europastrategie“, was eine
Verschärfung der Konflikte, Gegensätze, ja ein Zerfallen der EU und selbst der
Euro-Zone entlang nationaler Interessen wahrscheinlich macht. Die europäischen
Bourgeoisien können offenkundig Europa nicht einigen, selbst wenn die
Wirtschaft, der Austausch zwischen den Menschen längst über die Nationalstaaten
hinausdrängen.

Auch wenn es im
eigentlichen Sinn keine europäischen Parteien gibt, so zeichnet sich doch eine
klare Polarisierung bei den Wahlen ab und eine deutliche Verschiebung nach
rechts.

Die europäischen
rechts-populistischen Parteien werden mit Sicherheit einen deutlich größeren
Block darstellen. Dabei zeichnet sich eine Umgruppierung bzw. Vereinigung der
Rechten um „Europa der Nationen und Freiheit“ (ENF) mit „Europa der Freiheit
und der direkten Demokratie“ (EFFD) und „Europäischen Konservativen und
Reformern“ (EKR) ab, was einer Verbindung von französischem „Rassemblement
National“ (RN), italienischer Lega, der FPÖ, der AfD, der dänischen Volkspartei
und der „Wahren Finnen“ gleichkäme.

ENF umwirbt
außerdem die ungarische Fidesz, die noch noch der „Europäischen Volkspartei“
(EVP) angehört, und die polnische PiS. Die Stärkung der ENF als
Gravitionszentrum des Rechtspopulismus wird außerdem durch den wahrscheinlichen
Austritt Britanniens aus der EU verstärkt, da die beiden konkurrierenden
rechten Fraktionen (EFFD, EKR) mit den UKIP und Tories ihre mandatsstärksten
Parteien verlieren würden.

Gegen die
Rechten treten gleich drei Fraktionen/Parteienbündnisse der „bürgerlichen
Mitte“ an.

Die größte
Fraktion des EU-Parlaments dürfte wieder die EVP werden. Ihr Erfolg gilt als
ziemlich sicher – zugleich wird sie jedoch Stimmen und Mandate verlieren.
Wahlprognosen vom April gehen davon aus, dass sie künftig 176 Mandate erhalten
würde (bisher 217), bei einer Wahl in Britannien sogar nur 165.

Aber die
vereinigten rechten und rechtspopulistischen Parteien werden insgesamt etwa
gleich stark wie die EVP, bei einer Wahl in Britannien womöglich sogar stärker.

Neben der
Volkspartei treten mit der „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“
(ALDE), der neben FPD und „Freien Wählern“ auch Macrons „La République en
Marche“ angehört, und den „Die Grünen/Europäische Freie Allianz“ (DG/EFA) zwei
weitere Fraktionen der bürgerlichen „Mitte“ an. Beide gerieren sich
pro-europäisch und reden einem „demokratisch“ bemäntelten imperialistischen
Europa das Wort, einmal in seiner offen neo-liberalen Variante, das andere Mal
mit einem „Green New Deal“.

So werden die
Europawahlen vordergründig zu einem Kampf zwischen „pro-europäischen“ und
nationalistischen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, zwischen Pest
und Cholera.

Die
ArbeiterInnenbewegung?

Das liegt jedoch
auch daran, dass die Parteien der ArbeiterInnenbewegung und der Linken selbst
wenig mehr als Anhängsel dieser beiden Lager bilden.

Die Europäische
Sozialdemokratie tourt weiter mit ihren Versprechungen von einem „sozialen
Europa“. Nur glauben immer weniger daran. Sie führt ihren Wahlkampf erst gar
nicht mit dem Ziel, die Politik der EU zu bestimmen, sondern als
Koalitionspartnerin der „pro-europäischen“ offen bürgerlichen Parteien zu
fungieren. Auch wenn niemand eine „Große Koalition“ in Europa wollen sollte, so
steht die Sozialdemokratie dafür schon mal in den Startlöchern. Dass sie dabei
für jede Schweinerei zu haben ist, dass ihre „sozialen“ Versprechungen auf
europäischer Ebene noch wertloser als im nationalen Maßstab sind, hat sie
hinlänglich bei der Erpressung Griechenlands bewiesen.

Doch auch die
europäischen „Linksparteien“ vermögen keine Alternative zu präsentieren. Im
Gegenteil. Während sich die europäische Sozialdemokratie fest dem
„pro-europäischen“ Flügel der Bourgeoisie anschließt, hadern sie bezüglich
ihrer Europastrategie. Ein Teil versucht es mit der Neuauflage eines
„europäischen Reformprogramms“, das eine reformistische Reformstrategie für die
EU vertritt. Da sich dafür keine Bündnispartnerin (offen bürgerlich oder Labour
bzw. Sozialdemokratie) anbietet, kann sich dieser Flügel noch vergleichsweise
„internationalistisch“ und kämpferisch geben und stellt sich zumindest in
Worten der Wende zum Nationalismus in vielen Ländern entgegen.

Der andere
Flügel der europäischen Linken setzt hingegen auf eine Hinwendung zu nationaler
Politik, auf den Austritt aus der EU, eine Abkehr von „Klassenfixierung“ hin zu
einer linkspopulistischen Politik. Hierfür stehen Kräfte wie „La France
insoumise“ oder „Aufstehen“ in Deutschland, die selbst – bei aller berechtigter
Kritik an den utopischen Seiten des „pro-europäischen“ Reformismus – auf
nationale Anpassung setzen und die reformistischen bürgerlichen ArbeiterInnenparteien
durch linke „Volksparteien“, also klassenübergreifende Organisationen, ersetzen
wollen.

Diese
grundlegende Kritik bedeutet jedoch nicht, dass wir den Wahlen zur EU einfach
den Rücken kehren dürfen. Ein Wahlsieg der Rechten, eine Stärkung der
verschiedenen offen bürgerlichen Fraktionen wird auch das Kräfteverhältnis
ungünstiger gestalten. Wo reformistische Parteien eine bedeutende Verankerung
in der Klasse haben und Illusionen der Lohnabhängigen auf sich ziehen, sollten
sie daher kritisch unterstützt werden (wie z. B. Labour in Britannien), ohne
die Kritik an ihrem Programm und ihrer reformistischen, d. h. letztlich
bürgerlichen Ausrichtung zu verschweigen. In Deutschland rufen wir zu einer
kritischen Unterstützung der Linkspartei auf – trotz ihres reformistischen
Programms und ihrer Illusionen in eine Reformierbarkeit nicht nur der EU,
sondern auch des Kapitalismus. Unseren Aufruf verbinden wir mit der Forderung
an die Linkspartei, sich aktiv am Widerstand und Mobilisierungen gegen die laufenden
und kommenden Angriffe zu beteiligen und die Organisierung einer europaweiten
Aktionskonferenz des Widerstandes aktiv zu unterstützen, die an die besten
Seiten der europäischen Sozialforen anknüpft.

Alternative

Dabei gibt es
trotz des Aufstiegs der extremen Rechten keinen Mangel an Kämpfen. Die
existenzielle Krise in der EU, der Ansturm auf die demokratischen Rechte in den
Mitgliedsstaaten, hat ArbeiterInnen, Jugendliche und unterdrückte Minderheiten
immer wieder zu Hunderttausenden, ja Millionen auf die Straße getrieben. Die
nächste Rezession und die Verschärfung der interimperialistischen Rivalität
sowohl in wirtschaftlicher als auch in militärischer Hinsicht werden dies noch
verstärken.

Dies ist keine
Zeit, in der der Kapitalismus große Reformen zulassen kann, außer beim Ausbruch
großer Klassenkämpfe, die zu eine revolutionären Zuspitzung führen könnten. Die
derzeitigen Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien – rechten
wie linken – sowie der „linken“ PopulistInnen haben zweifellos ihre
Unfähigkeit bewiesen, dieser Herausforderung zu begegnen. Es bedarf vielmehr
einer europaweiten revolutionären Alternative, neuer revolutionärer Parteien,
die in einer Internationalen vereint sind. Natürlich kann ein solcher Prozess
nicht ohne das Bestreben stattfinden, die antikapitalistischen und
internationalistischen AktivistInnen der bestehenden reformistischen Parteien
zu gewinnen. Eine solche Partei braucht jedoch Einheit im Handeln und damit ein
Aktionsprogramm, das diese Kämpfe mit dem Kampf für die Vereinigten
Sozialistischen Staaten von Europa verbindet.

Genau diese
grundlegende Alternative zur imperialistischen Vereinigung wie zur
nationalistischen Abschottung fehlt jedoch der ArbeiterInnenklasse wie auch der
“radikalen” Linken. Ohne ein solches Programm, ohne eine solche Perspektive
erweist sie sich regelmäßig als unfähig zur Lösung aller großen Probleme des
Kontinents, verurteilt sich selbst zu Ohnmacht oder Nachtrabpolitik hinter
einen Flügeln der herrschenden Klasse.

Die Losung der
„Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“, eines Europas auf der Basis
demokratischer Planung und von ArbeiterInnenregierung, stellt daher in der
aktuellen Krise keine „abstrakte“ oder ferne Zukunftsvision dar, sondern die
einzige realistische Alternative zu Nationalismus und Imperialismus – mag sie
auch noch so schwer zu erkämpfen sein.




„Aufschwung“ der deutschen Wirtschaft am Ende: Vor der nächsten Krise?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 237, Mai 2019

Von der Krisengewinnerin Deutschland spricht keiner mehr. Konnte die
BRD in der Eurokrise dem europäischen Süden noch den Stempel aufdrücken und das
Exportkapital satte Gewinne einfahren, kann heute von einer solchen Stabilität
nicht mehr die Rede sein. Nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene geraten Sektoren
wie die Automobilindustrie ins Wanken und kündigen Massenentlassungen an. Auch
die Zerfaserung in der Parteienlandschaft und das Auslaufmodell „Große“
Koalition stehen für eine fehlende Gesamtstrategie des Kapitals und des
deutschen Imperialismus.

Aufschwung? Nur ein laues Lüftchen!

Deutschland samt seiner Exportorientierung wankt, der Koloss steht auf
tönernen Füßen. Die Krise der EU ist vor allem auch seine eigene. Die
zunehmende internationale Unsicherheit und Konkurrenz gehen mit riesigen
Drohgebärden einher, die die Ungewissheit ihrerseits verschärfen. Angesichts
dieser Ausgangslage werden internationale Bündnisse (bspw. NATO) und Abkommen
(WTO, Klimaschutz) in Frage gestellt, konkurriert Deutschland mit
traditionellen Verbündeten wie den USA und neuen imperialistische Nationen wie
China. Diese begreifen den EU-Binnenmarkt als Austragungsort der Konkurrenz und
machen dort durch Firmenkäufe und Abkommen mit Staaten wie Italien ihre
Ansprüche geltend. In solch einer Situation wird die Stellung Deutschlands
wackelig.

Die Konjunkturprognosen machen die Sache nicht leichter. Die
Wachstumserwartungen für 2019 wurden in etwa halbiert – von 1,5 % auf
0,8 %. Schuld hieran sind vor allem (zu erwartende) Markteinbrüche in der
Automobil- und Chemieindustrie, zwei Standbeinen der deutschen Wirtschaft. Auch
die Fusionsdiskussionen von Deutscher Bank und Commerzbank gehen mit drohenden
Entlassungswellen einher – beide Konzerne sind zusätzlich schwach aufgestellt.
Geplant sind bei VW, allein in Deutschland, etwa 23.000 Stellenstreichungen,
der Chemiekonzern Bayer plant nach der Fusion mit Monsanto davon 4.500.
Zeitungen wie das Handelsblatt rechnen mit Entlassungen in ähnlichen
Größendimensionen bei den 30 DAX-Konzernen aufgrund geringer Absatzzahlen. Die
hochgelobte Konjunktur, die wir im letzten Jahr erlebten, scheint somit einen
nur kurzfristigen Aufwärtstrend darzustellen.

Das Bundeswirtschaftsministerium versucht, hier noch mit „Optimismus“
gegenzuhalten, und verspricht nach einer Delle für 2020 eine rasche Erholung.
2020 solle das Bruttoinlandsprodukt wieder um 1,5 % wachsen – auch nicht
gerade üppig. Aber selbst diese Hoffnung ist angesichts des Abschwungs der
Weltwirtschaft, enormer Risiken und geringer Möglichkeiten zur konzertierten
Gegenaktion zweifelhaft. Auch Altmaiers „Wirtschaftsprogramm“ – die Errichtung
neuer europäischer „Champions“, also von Monopolkonzernen wie Airbus unter der
Führung des deutschen Kapitals – und in Aussicht gestellte Steuerentlassungen
für Reiche und Mittelschichten werden kaum zu einer raschen Belebung der
Wirtschaft führen.

Das Ziel eines kapitalkonformen Anti-Krisenprogramms, wie es Altmaier
vorschwebt, ist natürlich klar: wieder auf gleicher Stufe wie die
außereuropäische Konkurrenz zu stehen. Die Kosten dafür müssen freilich andere
tragen – schwächere Nationen, das KleinbürgerInnentum und „natürlich“ die Masse
der Lohnabhängigen. Der BDI (Bundesverband der deutschen Industrie) hat gegen
Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse sicher nichts einzuwenden, sieht aber
seine mittelständischen Unternehmen gefährdet und hadert mit Altmaiers
Vorhaben. Der Spaß geht soweit, dass der BDI das Wirtschaftsministerium nicht
zu seiner 70-Jahr-Feier einlud.

Dahinter stehen reale Gegensätze innerhalb der herrschenden Klasse.
Die kommenden Jahre werden wenig Spielraum für einen „harmonischen“ Ausgleich
bieten. Schließlich sind die Grundprobleme der Weltwirtschaft, fallende
Profitraten und gigantische Überakkumulation von Kapital, die zur Finanzkrise
und zur globalen Rezession führten, bis heute ungelöst.

Und die Gewerkschaften?

Die Sorgen von Regierung und Unternehmen hätten die Gewerkschaften
eigentlich noch verstärken können. Bei den Tarifauseinandersetzungen der
letzten beiden Jahre demonstrierten hunderttausende Lohnabhängige ihre
Bereitschaft zur härteren Auseinandersetzung. Doch letztlich folgten die
Verhandlungen und Abschlüsse immer demselben Schema. Zwar wurden nominell
höhere Abschlüsse erzielt, zugleich wurde jedoch eine lange Laufzeit und damit
Friedenspflicht der „Tarifparteien“ vereinbart.

Hinzu kommt, dass diese Auseinandersetzungen zum Großteil die
Kernschichten der deutschen ArbeiterInnenklasse betreffen. Zwei Aspekte hat
dies. Zum einen präsentiert sich die Große Koalition als auf den „sozialen
Ausgleich“ bedacht, während sie vor zugespitzten Arbeitskämpfen durch die
Gewerkschaftsführungen geschützt wird, die ihrerseits an der Koalition und
einer SPD-Regierungsbeteiligung eisern festhalten. Dies stellt für die
Regierung zwar keine Bestandsgarantie dar, aber doch einen gewissen Schutz.

Zum anderen kann bei Teilentlassungen von Belegschaften oder
Betriebsstilllegungen das Kampfpotential verringert werden, weil lange
Laufzeiten auch eine lange Friedenspflicht bedeuten. Schließlich haben für
einen stets anwachsenden Teil der Bevölkerung dieses Landes die
Tarifverhandlungen schon seit langem keine direkten Auswirkungen. 39,6 %
der Vollzeitbeschäftigten arbeiten mittlerweile in sogenannten atypischen
Beschäftigungsverhältnissen. Hier verlieren die Gewerkschaften zunehmend ihre
Stellung.

Klassenkampf statt Co-Management!

Dies hat System: namentlich die Politik des Co-Managements. Die
sozialdemokratische Flankendeckung hat in den letzten Jahren vor allem eines
erreicht – die Einheit der Klasse der Lohnabhängigen zu schwächen. Diese
klassenversöhnlerische Politik bietet uns keinerlei Schutz vor den drohenden
sozialen Angriffen. Sie antwortet, wenn überhaupt, auf Entlassungen mit
Sozialplänen und nicht mit Widerstand. In der Krise stellen sich jene Kräfte
als treueste Stützen des Systems zur Verfügung, selbst wenn ihre
Errungenschaften ins Visier genommen werden.

Angesichts der kommenden Angriffe und des Rechtsrucks der letzten
Jahre – insbesondere, aber nicht nur, des Aufstiegs der AfD – wird sich die
Politik der Sozialpartnerschaft und des Co-Managements als hilflos, ja oft
sogar als verlängerter Arm von Unternehmens- und Regierungsinteressen in der
ArbeiterInnenklasse erweisen. Damit spaltet sie nicht nur. Co-Management,
Standort-Zusammenarbeit mit dem Kapital bei der Verfolgung seiner
Weltmarktambitionen bereiten ihrerseits den Boden für Nationalismus und
Rassismus in der ArbeiterInnenklasse. AfD und FaschistInnen radikalisieren
gewissermaßen die Zusammenarbeit mit „unseren“ Betrieben gegen die
„ausländische“ Konkurrenz.

Wer solche FreundInnen hat, braucht eigentlich keine FeindInnen mehr.

Bewegungen

In den letzten Monaten entstanden jedoch auch eine Reihe sozialer
Bewegungen und Proteste. Ob die Seebrücken-Bewegung, #Unteilbar, die Proteste
zum Erhalt des Hambacher Forstes, der Frauen*streik, Fridays for Future oder
die aufkommenden MieterInnenproteste. Sie zeigen ein Potential des Widerstandes
auf, jedoch ebenfalls seine Flüchtigkeit, sofern er nicht auch offen ein
klassenkämpferisches Programm diskutiert und die Mobilisierung mit
Selbstorganisation in Schule, Büro und Betrieb kombiniert.

Eine Verbindung des Kampfes gegen die Auswirkungen der Krise, gegen
kommende Entlassungen, aufsteigenden Rassismus, Aufrüstung, Militarismus,
Sexismus und drohende Zerstörung unserer Umwelt böte dabei gigantische
Möglichkeiten. Sie trüge in die unterschiedlichen Bewegungen die Frage des
Klassenwiderspruchs hinein, somit den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital.

Zur Zeit haben die meisten sozialen Bewegungen, die in den letzten
Monaten entstanden sind, jedoch einen klassenübergreifenden Charakter und
werden von klein-bürgerlichen, reformistischen oder links-bürgerlichen Kräften
wie den Grünen dominiert. Dies liegt natürlich in erster Linie an der
staatstragenden Politik von SPD und Gewerkschaftsführungen und dem Unvermögen
der Linkspartei, eine sichtbare Alternative zu entwickeln.

Die Stärke kleinbürgerlicher Ideologie in diesen Bewegungen äußert
sich auch in einem bemerkenswerten Widerspruch. Einerseits wird der bestehende
bürgerliche Staat immer repressiver, verabschiedet rassistische Gesetze,
schränkt bürgerlich-demokratische Rechte ein und verstärkt die Überwachung der
Bevölkerung. Zugleich appellieren die Führungen und SprecherInnen dieser
Bewegungen an den Staat als Träger von Veränderung und „Verantwortung“, als ob
er keine Klasseninteressen repräsentieren und verfolgen würde.

Andersherum bieten die Mobilisierungen jedoch auch die Möglichkeit,
ihre Kampfkraft auf die Straße und auch dorthin zu tragen, wo es wehtut: in die
Betriebe. Dazu braucht es jedoch das bewusste und organisierte Eintreten für
eine klassenkämpferische Ausrichtung dieser Bewegungen.

Widerstand organisieren!

Hierfür ist eine gemeinsame Initiative der Organisationen und Parteien
der ArbeiterInnenbewegung nötig – ob Kräfte der Gewerkschaftslinken, der Partei
DIE LINKE, oppositionelle Teile der SPD oder der radikalen Linken. Was wir
brauchen ist somit eine Aktionskonferenz des Widerstandes. Eine Konferenz, die
nicht einfach nur ein Zusammenkommen unterschiedlicher Kräfte bedeutet, sondern
die verbindliche, gemeinsame Forderungen festlegt, Aktionen und einen
Mobilisierungsplan beschließt, offen und kontrovers über die Ziele spricht und
streitet. Nur im gemeinsamen Kampf können wir die kommenden Angriffe abwehren –
und nur im Kampf wird sich erweisen, welche Politik, welche Strategie, welche
Taktik und Kampfmethoden dazu nötig sind.

Ebenso wie die Angriffe darf auch der Widerstand nicht an nationalen
Grenzen haltmachen! Unser Feind ist global aufgestellt – wir müssen es auch
sein. Und wir können dabei auch noch effektiv sein. Als im Januar ArbeiterInnen
von Audi in Ungarn für die Angleichung des Lohnniveaus an westeuropäische
Verhältnisse streikten, konnten schon Mitte der Woche bei Audi in Ingolstadt
keine Autos mehr vom Band laufen. Gerade in Zeiten nationalistischer
Abschottung muss eine internationale ArbeiterInnenbewegung ein starker Ausdruck
von Solidarität sein.

Deshalb heißt für uns Klassenpolitik, nicht nur am Ersten Mai
gemeinsam auf die Straße zu gehen. Es ist 
vielmehr unsere Pflicht, den Kampf für den Sozialismus mit den
Herausforderungen im Hier und Jetzt 365 Tage im Jahr zu verbinden.




Auto-Krise: Next Level

Frederik Haber, Neue Internationale 237, Mai 2019

7.000 Arbeitsplätze will VW
vernichten, 10.000 Daimler. Beide haben in den letzten Wochen sogenannte
„Sparprogramme“ angekündigt. In den Pressemeldungen wurde zugleich auf die in
beiden Fällen lange laufenden „Sicherungen“ verwiesen, die Entlassungen der
Stammbelegschaften in Deutschland verhindern würden.

Auch bei den ZuliefererInnen
wird gespart. Der weltweit größte, Bosch, hat intern schon klargemacht, dass
bei der Produktion von Dieselmotor-Komponenten bis zu 90 % der Arbeitsplätze
wegfallen werden. Im letzten Jahr sind schon 600 abgebaut worden. Die
Betriebsräte in Stuttgart-Feuerbach und Bamberg trieb dies bereits zu
Protestkundgebungen und dazu, zu lokalen Demos gegen Diesel-Fahrverbote
aufzurufen.

Der viertgrößte deutsche
Zulieferer Mahle hat ebenfalls ein Sparprogramm einschließlich Stellenabbau
verkündet und darauf hingewiesen, dass die dort gültige Standortvereinbarung
nur bis Ende 2019 gilt.

Gründe

Daimler und VW sprechen von
einem Rückgang der Zulassungszahlen und von notwendigen Investitionen in
Elektromobilität und Digitalisierung. Tatsächlich sind die Zulassungszahlen –
wenn überhaupt – nur leicht gesunken. In Deutschland wurden im März 19 zwar 0,5
% weniger Autos neu zugelassen als im Vorjahresmonat, im ersten Quartal 19 aber
sind es 0,2 % mehr als im entsprechenden Zeitraum 2018. Auch weltweit kann noch
nicht von einem wirklichen Einbruch des Absatzes gesprochen werden.

Diese Begründungen sind also
nur ein Teil der Geschichte.

Mit dem Verbrennungsmotor, insbesondere
mit dem Diesel, haben die deutschen Autokonzerne Milliarden verdient und ihre
Position auf dem Weltmarkt ausgebaut. Unter den 10 größten AutobauerInnen (nach
Umsatz) befinden sich drei deutsche, unter den 30 größten ZuliefererInnen vier.
Im Segment Elektro-Autos, so klein es auch ist, führen andere, vor allem
chinesische Firmen.

Die Zahl der verkauften
Elektroautos ist aber sprunghaft angestiegen. Zwar sind von den im März 19 in
Deutschland zugelassenen nur 1,9 % E-Autos, aber die Zahl stieg in einem Jahr
um fast 75 %. Solche Zuwächse wecken Begehrlichkeiten.

Für Elektrotechnologie sind
allerdings gewaltige Investitionen nötig: in die Entwicklung der
Antriebstechnik, der Produktionstechnik und die Maschinerie selbst. Das Geld
dafür wollen die Autokonzerne und die ZuliefererInnen aus existierenden Anlagen
und Technik raussaugen. Angesichts dessen, dass der Großteil der verkauften
Autos nach wie vor mit Verbrennungsmotoren ausgestattet ist, hat sich die
Konkurrenz auf diesem Sektor ebenfalls verschärft. Wer jetzt nicht genug Profit
saugen kann, spielt im nächsten Level nicht mehr mit.

Schlechte Aussichten

Die Ankündigungen aus den
Konzernetagen sind ernst zu nehmen. Die Sparpläne von VW und Daimler setzen auf
schon laufenden Programmen auf. So hat VW schon seit 2016 eines laufen,
weltweit 30.000 Stellen abzubauen, 23.000 davon in Deutschland. Im Gegenzug
sollen 9.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Dazu kommt eine massive
Entlassungswelle von LeiharbeiterInnen. Bei Daimler-Untertürkheim werden allein
über 800 entlassen, um die Motorenproduktion zu verlagern und
„Zukunftstechnologien“ anzusiedeln.

Diese „Transformation“ ist
keineswegs ein ökologischer Fortschritt. Der Verkehrsexperte Winfried Wolf
bemerkt völlig zu Recht:

„Weniger Klimabelastung in
den USA und Europa? Umgekehrt: Mit der Elektromobilität wachsen die
CO2-Emissionen sogar in den hoch motorisierten Ländern. Die reine CO2-Bilanz
eines E-Pkw ist im Vergleich zu einem Benzin- oder Diesel-Pkw maximal um ein
Viertel günstiger – wenn der gesamte Lebenszyklus des Autos betrachtet wird.
Und wenn es kleine Elektroautos sind. Nun sind die E-Auto-Modelle inzwischen
deutlich schwerer und oft größer als herkömmliche Mittelklasse-Pkw. Der VW
Käfer wog 700 Kilogramm. Der aktuelle Golf bringt 1,3 Tonnen auf die Waage. Der
E-Golf wiegt 1,6, ein Tesla Model S dann 2,1 Tonnen.“

Dass es den Autokonzernen
mitnichten um ökologische Ziele geht, belegt auch das kriminelle Verhalten
einiger ihrer führenden Köpfe. Die EU beschuldigt die drei führenden deutschen
Auto-Konzerne, Absprachen zulasten der VerbraucherInnen getroffen zu haben. Sie
hatten vereinbart, keine weiteren schadstoffreduzierenden Technologien zu
entwickeln. In trauter Eintracht hatten sie zuvor schon Abgasmessungen
manipuliert und Abschaltvorrichtungen eingebaut.

IG Metall

Die stärkste
Industriegewerkschaft der Welt verhält sich bemerkenswert ruhig. Es gibt keine
Erklärung zu den Einsparplänen bei VW oder Daimler, schon gar keinen Protest.
Der Abbau von 30.000 Jobs bei VW wurde 2016 mit dem Betriebsrat vereinbart. Die
vage Zusicherung, dass die anderen Arbeitsplätze gesichert wären, reicht
Betriebsrat und IG Metall, dem Kapital freie Hand zu geben.

Es gibt auch keine Debatte
in der IG Metall über Verkehrssysteme. Die einfache Logik des Handelskrieges
reicht: Wenn China die Elektroautos baut, dann sind unsere Arbeitsplätze weg
und unser Wohlstand auch.

Also trabt die IG Metall
weiter hinter dem Großkapital her. So wie sie die Exportoffensive und die
Abgaspolitik bei der EU unterstützt hat, am selben Strang ziehend wie Merkel
und die Industrie. So wie sie die Agenda 2010 unterstützt hat, die Einführung
der Niedriglöhne und die Ausweitung der Leiharbeit, gerade auch in den großen
Autofabriken. Wie die Ausgliederung von Produktion an
„Logistik“-DienstleisterInnen und die Änderung des Streikrechts, die genau
verhindern kann, dass die NiedriglöhnerInnen bei diesen Betrieben mit Streiks
die Wertschöpfungskette unterbrechen können.

Mitgefangen

Die Krise der
Automobilindustrie ist so auch zu der der Gewerkschaft geworden. Das Konzept
der deutschen AutobauerInnen beinhaltete, die Welt mit immer mehr, immer
größeren und schwereren Oberklassenautos zuzuschmeißen. Sie haben dies mit
KanzlerInnen-Hilfe abgesichert.

Die Strategie der IG Metall
bestand in der engstmöglichen Zusammenarbeit mit dem Exportkapital. Das war
immer schon Verrat an den LeiharbeiterInnen und den NiedriglöhnerInnen, an den
Beschäftigten bei ZulieferInnen und im Ausland. Sie hat eine Mentalität bei den
Stammbelegschaften erzeugt, dass der eigene Arbeitsplatz am besten geschützt
ist, wenn möglichst viele andere ungeschützt sind. Dass die eigenen
Arbeitsplätze auf Kosten anderer mit „Standortsicherungen“ verteidigt werden
müssen und Sonderzahlungen aus den Profiten, d. h. der Ausbeutung, im Ausland
finanziert werden sollen. Sie hat die Solidarität völlig untergraben, aber dies
hat scheinbar funktioniert.

Jetzt wird diese Strategie
für deutlich weniger Menschen aufgehen. Die Ankündigungen von Stellenabbau und
Entlassungen der letzten Wochen sind ein Warnschuss. Es wird der IG Metall
nicht gelingen, diese Arbeitsplatzstreichungen aufs Ausland zu verschieben. Im
Gegenteil: Eine in Deutschland eingesparte Stelle spart mehr als eine im
Ausland. Neue Stellen aus „Transformation“ werden hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit
nicht in Deutschland geschaffen.

Mobilisierung oder Ersatzhandlung?

Offensichtlich wird es auch
den StrategInnen im Vorstand in Frankfurt ungemütlich. Sie wollen nicht, dass
sich gar nichts tut. Sie rufen zu einer Kundgebung am 29. Juni in Berlin auf:

„Eine gerechte
Transformation geht nur mit uns. Wirtschaft und Gesellschaft verändern sich
rasant. Die IG Metall will den Wandel im Sinne der Beschäftigten mitgestalten.
Egal, ob die Schlagwörter Digitalisierung, Elektromobilität, Industrie 4.0 oder
Globalisierung heißen: Wir kämpfen für eine soziale, ökologische und
demokratische Transformation. ‚Wandel geht nur gerecht – gegen Profitgier,
Politikversagen und Spaltung‘, schreiben wir uns auf die Fahnen.“

Die Rolle der Konzerne kommt
nicht vor. Der Kapitalismus kommt nicht vor. Gerade mal „Profitgier“ gibt es,
aber wo fängt die an? Wo doch die IGM-Betriebsräte selbst betonen, dass die
Gewinne nötig sind, um die Zukunft zu meistern?

Die Forderungen „für sichere
und tarifgebundene Arbeitsplätze“, nach „Zurückdrängung prekärer Arbeit“, für
„ein Recht auf Weiterbildung und Qualifizierung“, „Einhaltung der
Klimaschutzziele, Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, Investitionen in
nachhaltige und innovative Industrie“ und „mehr Beteiligung und Mitbestimmung“ sind
so unkonkret und beliebig wie ein Wahlplakat der SPD. Damit wird die
Gewerkschaft weder wirklich mobilisieren können noch einen nachhaltigen
Widerstand aufbauen.

Es ist auch fraglich, ob und
wie sich aus der Mobilisierung für Berlin ein solcher entwickeln kann, wenn es
keine Debatte über die konkreten Probleme gibt. Wenn weiterhin die Nähe zu den
Bossen so eng ist, dass weder die „Transformation“ noch die Digitalisierung
noch die E-Autos in Frage gestellt werden.

Ansatzpunkte

Eine Alternative zur Politik
der IG Metall-Führung kann nicht sein, die Kapitulation vor den Angriffen der
Konzerne nur etwas sozialer zu gestalten oder etwas mehr zu kämpfen. Eine
Alternative muss die ganze Situation im Blick haben:

  • Welche Verkehrssysteme entsprechen den Bedürfnissen der Massen in Stadt und Land?
  • Wie können sie durchgesetzt und umgesetzt werden – national und international?
  • Wer kann was produzieren und wer entscheidet darüber?

Die IG Metall fordert in
ihrer Satzung die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. In der Gewerkschaft
selbst ist das ein Tabu. Doch es ist eine richtige Idee, die Macht der
Autokonzerne zu brechen. Aber die Verantwortung dürfen nicht Regierungen und
Staat übernehmen.

Wir schlagen eine
entschädigungslose Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle vor: Die
Entscheidung, was und wo entwickelt wird, müssen die Beschäftigten demokratisch
fällen – keine Konkurrenz, sondern Zusammenarbeit für die besten Lösungen. Über
die Verkehrssysteme darf nicht der Markt entscheiden, sondern das muss die
Gesellschaft tun.

Brennpunkte

Aus dem heutigen Alltag im
Betrieb heraus erscheint eine solche Diskussion verwegen, ja abseitig. Heute
beschäftigen sich nur wenige weitblickende KollegInnen damit.

Doch wenn wir die Tiefe der
Krise des Kapitalismus, die Notwendigkeit einer grundlegenden Umstrukturierung
des gesamten Energie- und Verkehrssystems in Rechnung stellen, so sind solche
Fragstellungen nicht abseitig, sondern notwendig, wenn wir eine
fortschrittliche Antwort im Interesse aller arbeitenden Menschen – ob nun in
der Autoindustrie oder anderen Branchen – entwickeln wollen. Wenn die
Ankündigungen der ManagerInnen konkret werden, wenn Entlassungen im Raum stehen
und Schließungen, dann wird sich die Lage ändern – die Frage des Kampfs gegen
alle Entlassungen muss spätestens dann mit der nach dem für die
Umstrukturierung der gesamten Industrie, ja der gesamten Gesellschaft verbunden
werden. Dann muss gekämpft werden und dann werden KollegInnen dazu gezwungen
sein, weil die Kapitalseite die Sozialpartnerschaft aufkündigt.

In solchen Situationen
müssen Alternativen auf den Tisch: Das „Schlimmste verhindern“ und ein paar
Arbeitsplätze retten oder gemeinsam für alle die Arbeitsplätze vereidigen? Auf
Lohn verzichten und die eigene Haut „standortsichern“ oder betriebsübergreifend
und international gemeinsam handeln?

Die Bosse „an ihre
Verantwortung erinnern“ oder die Betriebe besetzen, die sie schließen wollen?

Bereiten wir uns darauf vor,
Alternativen präsentieren zu können! Die KapitalistInnen haben den Klassenkampf
ausgerufen. Wir rufen auf, eine klassenkämpferische Bewegung in der IG Metall
aufzubauen! Eine solche Bewegung muss jetzt die Krise der Autoindustrie als
eine des Kapitalismus thematisieren. Sie muss jetzt auf die Vorbereitung des
Abwehrkampfes drängen, auf Besetzungen und politische Massenstreiks gegen
Schließungen, Verlagerungen und Massenentlassungen. Sie muss dies von der
Gewerkschaftsführung einfordern, auf Kongressen, in den Gremien und vor allem
in den Betrieben einbringen, ohne auch nur eine Minute politisches Vertrauen in
die Bürokratie zu setzen.

Und sie muss diesen Kampf
organisiert führen – als klassenkämpferische Bewegung, die mit dem
Co-Management der eigenen Organisation bricht.




Heraus zum roten 1. Mai in Dresden! Keinen Fußbreit den FaschistInnen!

Peter Böttcher, Neue Internationale 237, Mai 2019

Der 1. Mai ist
traditionell der internationale Kampftag der ArbeiterInnenklasse. Am 14. Juli
1889, zum 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille, wurde auf dem Internationalen
Sozialistinnenkongress, dem Gründungskongress der II. Internationale (am 20.
Juli gegründet) erstmals beschlossen, am 1. Mai eine internationale
Manifestation der ArbeiterInnenbewegung durchzuführen, um den
8-Stunden-Arbeitstag zu fordern. Zeitgleich sollte an diesem Tag der Opfer des
sogenannten Haymarket Riot vom 1. Mai 1886 in Chicago erinnert werden.

Mit der Entstehung der
faschistischen Bewegung versuchte diese von Anfang an, den Kampftag der
ArbeiterInnenklasse zu zerschlagen. Doch dies gelang ihr nicht durch Überfälle
ihrer bewaffneten SchergInnen auf Kundgebungen und Demonstrationen der
Gewerkschaften, der sozialistischen und kommunistischen Parteien, sondern
konnte in Deutschland erst mit dem Verbot der Organisationen der
ArbeiterInnenklasse und der Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung als Ganzes
nach der Machtergreifung der NSDAP umgesetzt werden.

Vereinnahmung

Seither versuchen die
FaschistInnen, den 1. Mai für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Gerade in den
ostdeutschen Bundesländern gibt es seit Jahren eine Kontinuität bei den
Versuchen, den Kampftag der ArbeiterInnenklasse politisch von rechts zu
besetzen: NPD, JN, Der III. Weg und AfD inszenieren sich immer wieder an diesem
Tag als angebliche soziale Alternativen und als VertreterInnen der Interessen
der Lohnabhängigen. Damit einher geht stets eine verkürzte, oftmals
antisemitische, im Kern jedoch nationalistische „Kritik“ am Kapitalismus.

Es wird zwischen einem
angeblich „schaffenden“, einheimischen Kapital und einem „raffenden“, ausländischen
Kapital unterschieden. Das „raffende“ Kapital oder wahlweise auch die
Globalisierung seien demnach verantwortlich für die vorherrschenden sozialen
Missstände. Die willkürlich konstruierte „Volksgemeinschaft“ würde durch die
Geflüchteten und MigrantInnen bedroht, die als von den „Eliten“ gesteuerte
LohndrückerInnen dargestellt werden.

Davon, dass
Arbeitslosigkeit, Armut, Niedriglöhne, Ausbeutung etc. unmittelbar mit der
kapitalistischen Produktionsweise, also mit der privat organisierten Produktion
für den Profit, zusammenhängen, und wir daher gemeinsam, international mit
allen Lohnabhängigen, unabhängig von Herkunft und Konfession, zusammen für eine
von den ArbeiterInnen kontrollierte und nach den Bedürfnissen der Menschen
ausgerichtete Produktion kämpfen müssen, liest man bei den Rechten natürlich
nichts.

Stattdessen versuchen
diese, uns ArbeiterInnen mit ihrem Rassismus und Nationalismus zu spalten und
gegeneinander aufzuwiegeln. Daher ist es unerlässlich, den Versuchen der
Vereinnahmung des 1. Mai von rechts massenhaft und militant entgegenzutreten.

Faschistische
Mobilisierungen und AfD-Wahlkampfauftakt

Auch dieses Jahr werden
bundesweit wieder etliche Aufmärsche rassistischer und faschistischer Parteien
stattfinden. So will die rechtsradikale Partei „Der III. Weg“ in Plauen
aufmarschieren, „Pro Chemnitz“ in Chemnitz. In Dresden rufen NPD und ihre
Jugendorganisation JN unter dem Motto „Sozial geht nur National“ zur
Demonstration auf, die AfD plant eine Wahlkundgebung am Neumarkt. In Erfurt
wollen die ostdeutschen Landesverbände der AfD mit einer angekündigten
„Großdemonstration“ – erwartet werden bis zu 10.000 TeilnehmerInnen – ihren
Wahlkampfauftakt in Sachsen, Thüringen und Brandenburg einläuten.

Es ist kein Zufall, dass
diese Demonstration ausgerechnet in Erfurt stattfindet. Hier wurde 2015 auch
die „Erfurter Resolution“ beschlossen, woraufhin sich der
völkisch-nationalistische Flügel um Björn Höcke gründete. 2015-2017 fanden in
Erfurt beinahe wöchentlich AfD-Aufmärsche mit bis zu 5.000 Demonstrierenden
statt. Hierbei wurde auch der Schulterschluss mit offen faschistischen Kräften
und Nazihooligans gesucht. Immer wieder kam es in diesem Zusammenhang auch zu
organisierten Angriffen auf GegendemonstrantInnen.

Was tun?

Zum 1. Mai dürfen wir
nichts unversucht lassen, um die Vereinnahmung und Instrumentalisierung unseres
Tages durch NPD, III. Weg und AfD zu verhindern. Wir müssen ihre Aufmärsche
blockieren und dürfen ihnen keinen Meter auf der Straße überlassen. Letztlich
lassen sich organisierte faschistische Kräfte sowie der Siegeszug der AfD nur
effektiv aufhalten, indem wir nicht nur am 1. Mai, sondern immer und überall,
wo Rechte und RassistInnen offen auftreten, gegen diese ankämpfen. Wir müssen
an den Orten, wo wir lernen, arbeiten und leben, also in der Schule, Uni, im
Viertel und Betrieb antifaschistische Komitees aufbauen, uns vernetzen und
Aktionskonferenzen organisieren. Um den Rechtsruck in der Gesellschaft zu
stoppen, braucht es die Basis und daher auch die gemeinsame Aktionseinheit aller
Organisationen der ArbeiterInnenklasse, also der Gewerkschaften, linken
Parteien und Organisationen.

Um diesem Ziel einen
Schritt näher zu kommen, aber auch, um eine revolutionäre und sozialistische
Perspektive gegen den Rechtsruck und die herrschenden Verhältnisse aufzuwerfen,
werden wir am 1. Mai in Dresden zusammen mit anderen Jugendlichen,
sozialistischen Jugendorganisationen und Parteien eine antikapitalistische
Demonstration durchführen. Diese geht vom Alaunplatz, wo das Picknick der
Partei DIE LINKE stattfindet, zum Gewerkschaftshaus, wo der DGB gemeinsam mit
dem sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer (CDU) eine Kundgebung abhalten
wird. Im Anschluss an unsere Demonstration werden wir uns den Protesten und
Aktionen gegen den Naziaufmarsch von NPD und JN anschließen.

Gegen die Rechten am 1.
Mai

Chemnitz

9.00, Karl-Marx-Kopf:
Aufstehen gegen Rassismus

10.00 Uhr, Neumarkt:
Kundgebung des DGB

Dresden

12.00, Alaunplatz: Heraus
zum revolutionären 1. Mai

Erfurt

30.04., 18.00,
Bahnhofsvorplatz: Vorabenddemo/Mahngang „Erinnern heißt handeln“

01.05., 9.00,
Hirschgarten/Staatskanzlei: Auftaktkundgebung der Gewerkschaftsdemo

10.00,
Löberstr./Kaffeetrichter/Arnstädter Str.: „Die AfD in die Zange nehmen“




Deutsche Wohnen, Vonovia und Co. enteignen! Bundesweite MieterInnenbewegung nötig!

Susanne Kühn, Neue Internationale 237, Mai 2017

Am 6. April
gingen bundesweit Zehntausende gegen den Mietenwahnsinn auf die Straße. Allein
durch Berlin zogen mindestens 40.000 Menschen. Nach Jahren rasanter Preissteigerungen
am Wohnungsmarkt und immer größerer Gewinne der Immobilienhaie entsteht eine
Massenbewegung.  Und sie ist längst
überfällig.

ArbeiterInnenmacht
ist in verschiedenen Städten in der MieterInnenbewegung aktiv. In Berlin
unterstützen wir die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ und deren
Forderung nach einem Volksentscheid.

Ursachen

Die aktuelle
Misere auf dem deutschen Wohnungsmarkt mit rasant steigenden Mieten ist das
Resultat des stetigen Abbaus sozialer Förderprogramme bei gleichzeitiger
Privatisierung. Bundesweit wurde 1990 die Wohnungsgemeinnützigkeit ersatzlos
abgeschafft, die Wohnungsbauförderung 2001 faktisch beendet und 2006 die
Zuständigkeit dafür an die Bundesländer delegiert. Allein zwischen 1995 und
2010 wurden mehr als 1 Million öffentlicher Wohnungen privatisiert. Auch heute
noch fallen jedes Jahr durchschnittlich 130.000 günstige Mietwohnungen weg. Die
ImmobilienspekulantInnen wie Vonovia oder Deutsche Wohnen machen
Milliardenprofite.

Zugleich hat
sich die Zahl der Wohnungslosen in den letzten 10 Jahren von 200.000 auf 1,2
Millionen versechsfacht. Ein Grund hierfür sind die in diesem Zeitraum extrem
gestiegenen Mieten. Der andere sind stagnierende Einkommen, Billiglohn, Hartz
IV oder Armut.

Das bedeutet
eine Verdrängung von Gering- und NormalverdienerInnen in die Vorstädte, ein
allmähliches Absterben der städtischen Vielfalt und Kultur. Die
Filetgrundstücke luxussanierter Wohnungen teilen InvestorInnen, Hedgefonds und
Immobilienverwaltungen untereinander auf, um sie einer kleinen,
finanzkräftigeren Klientel statt den bisherigen BewohnerInnen anzubieten.

Bürgerliche
Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich lediglich gegen „spekulative
Auswüchse“, also nicht gegen das private Grundeigentum. Unions-Parteien, FDP
und AfD springen den ProfiteurInnen der Wohnungsmisere bei und fordern noch
mehr Privatisierung und einen noch „freieren“ Markt. Die SPD „bremst“ mit
leeren Worten und halbherzigen Maßnahmen, die wie die sog. Mietpreisbremse noch
zusätzlich verwässert werden.

Symptome oder
Ursachen bekämpfen?

Der
Wohnungssektor ist Teil des kapitalistischen Gesamtsystems. Der Kampf der
MieterInnen muss daher als Klassenkampf geführt werden. Hausbesetzungen, welche
den Leerstand aufzeigen, können dabei ein Mittel gegen Wohnungs- und
Mietspekulation sein. Allerdings stoßen sie rasch an ihre Grenzen, wenn diese
Kämpfe isoliert von der Klasse stattfinden.

Daher ist es
wichtig, die Gewerkschaften und andere Organisationen, die sich auf die
ArbeiterInnenklasse beziehen, in diesen Kampf einzubinden. Wir können uns nicht
mit der Besetzung und Beschlagnahme vorhandenen Wohnraums sowie einer
Mietpreisbremse begnügen, sondern schlagen auch ein Programm öffentlicher
Wohnungsbau- und Sanierungsmaßnahmen vor, wo die Beschäftigten zu Tariflöhnen bezahlt
und die aus Unternehmerprofiten finanziert werden:

  • Der Staat soll selbst sozialen Wohnungsbau betreiben, nicht das private Wohnungskapital subventionieren! Die Immobilienwirtschaft und WohnungsbauspekulantInnen müssen entschädigungslos enteignet werden
  • Kommunalisierung des Grund und Bodens! Baubetrieb in kommunale Hand für Neubau und Altbausanierung!
  • Bezahlung des Wohnbaus und von Sanierungen im Interesse der MieterInnen durch das beschlagnahmte Vermögen des Wohnungs- und Baukapitals und eine progressive Besteuerung der Profite!
  • Kontrolle der Wohnungsbaugesellschaften, Verwaltungen und der Mietpreise durch die MieterInnen, deren VertreterInnen und MieterInnengemeinschaften, begleitet von ArbeiterInnenkontrolle über das Wohnungsbauwesen!
  • Bundesweite Aktionskonferenz aller MieterInneninitiativen und Bündnisse, um die Bewegung zu koordinieren!



Bewegungslinke in der Linkspartei: Auf zu neuen Ufern?

Tobi Hansen, Neue Internationale 237, Mai 2019

Zum Europaparteitag der Linkspartei ist eine neue Strömung gegründet worden, die den Anspruch hat, links zu sein. Zumindest innerhalb der Partei wird sie auf dem linken Flügel verortet.  „Bewegungslinke“ nennt sich diese. Im Frühjahr 2018 fand das erste Arbeitstreffen statt, nun folgt die flächendeckende Organisierung in der Partei.

In diesem
Zusammenschluss ist z. B. marx 21 aktiv, aber es sind auch viele GenossInnen
der „Sozialistischen Linken“ (SL) dabei, welche dem „Aufstehen“-Lager nicht
folgen wollten, manche gewerkschaftlich Aktive wie auch Personen, die der
Interventionistischen Linken (IL) oder akademischen StichwortgeberInnen
„popularer Klassenbündnisse“ (Thomas Goes/Violetta Bock) zuzuordnen sind. Diese
Potpourri umfasst also eine bunte Mischung dessen, was sich als „links“ in der
Linkspartei versteht.

Ziele

Nachdem mit
„Aufstehen“ eine sog. „Sammlungsbewegung“ innerhalb und außerhalb der Partei
zur Zeit den Weg in die Selbstdemontage beschreitet, gründet sich nun eine
„Bewegungslinke“, die zumindest behauptet, dass sie die bestehende Partei
ändern möchte. Ähnlich wie bei „Aufstehen“ wird der Zusammenhang von
Klassenpolitik und Migration als ein „Gründungsgrund“ benannt, nur im Gegenteil
zu Lafontaine/Wagenknecht eben nicht mit einer offen sozialchauvinistischen
Ausrichtung:

„Wir sind keine
klassische Parteiströmung wie andere, sondern eine übergreifende
Erneuerungsbewegung der LINKEN für bewegungs- und klassenorientierte Politik.
Wir wollen eine politische Kultur stärken, die solidarisch ist und Lust aufs
Mitmachen macht. Vorschläge für eine klassenpolitische Praxis erarbeiten und
selbst ausprobieren. Mit denen ins Gespräch kommen, die das auch wollen. (…)

Für uns stellt sich deshalb die Frage, wie eine auf den Aufbau von Klassenmacht zielende Politik, die nicht an nationalen Grenzen halt machen und rassistische und sexistische Unterdrückung nicht als Nebenwidersprüche vernachlässigen will, heute nicht nur gedacht, sondern auch praktisch umgesetzt werden kann.“ (https://bewegungslinke.org/wp-content/uploads/2014/09/Diskussionsgrundlage.pdf)

Der 2. Absatz
des Zitats stellt ein löbliches Ziel dar, dem wir nicht widersprechen wollen.
Immerhin bezieht sich die „Erneuerungsbewegung“ positiv auf „Basics“ der
Klassenpolitik und versucht diese im Gegensatz zu „Aufstehen“ auch zu
artikulieren. Die Crux in einer reformistischen Partei mit aktueller
Regierungsbeteiligung in drei Bundesländern bleibt aber, dass die wohlgemeinten
Worte, wie auch nicht minder wohl gemeinte Änderungswünsche im Widerspruch zu
ihrer politischen Realität stehen.

Wie das Programm
und die Praxis verändert werden sollen, ob und wie dazu mit anderen linken
Strömungen wie der „Antikapitalistischen Linken“ (AKL) zusammengearbeitet wird,
darüber finden wir freilich wenig. Stattdessen soll „Organizing“ helfen, diese
Partei in der Klasse zu verankern und somit ihren parlamentarisch fixierten
Charakter zu verändern. Das langfristige Ziel der Erneuerung wird wie folgt
benannt:

„So könnte aus der LINKEN gleichzeitig Bewegungspartei, wirkungsvolle Opposition und antikapitalistische Gestaltungskraft werden, die durch Reformkämpfe die Macht und das Selbstvertrauen der Vielen vergrößert. Eine politische Kraft, die um Hegemonie in der Gesellschaft kämpft, indem sie ihre Radikalität und Nützlichkeit im Alltag beweist.“ (Ebenda)

Zauberwort

Warum die Partei
trotz zahlreicher Absichterklärungen bislang nicht zu einer „Bewegungspartei“
wurde, was sie daran hindert, bleibt jedoch außen vor. Stattdessen wird das
Zauberwort „Organizing“ ständig beschworen – eine inhaltliche
politisch-strategische Antwort oder Alternative zum praktizierten und
programmatisch kodifizierten Reformismus und Parlamentarismus der Linkspartei
stellt dies aber nicht dar.

Es wird jedoch
suggeriert, dass Programm, Praxis und politische Ausrichtung der Linkspartei
bloß durch aktivistischere Rekrutierung und einen aktiveren Zugang zu
Bewegungen prozesshaft geändert werden könnten. Der Reformismus der Linkspartei
wird nicht als eine politische Strategie und eine Form bürgerlicher
ArbeiterInnenpolitik begriffen, sondern erscheint bloß als Mangel an
„Organizing“, verbindender Netzwerkerei und Aktivismus.

Daher wird die
Frage, mit welchen Forderungen und BündnispartnerInnen (z. B. AktivistInnen von
„Seebrücke“, von antirassistischen Initiativen und Vereinen) gegen den
staatlicher Rassismus der Landesregierungen anzukämpfen wäre, erst gar nicht
gestellt. Trotz mancher direkten Formulierung wie „für offene Grenzen im
Programm“ finden wir wenig darüber, wie in der Praxis Sozialchauvinismus und
Standortpolitik in der Linkspartei angegriffen werden müssen. Kein Wunder, denn
schließlich würde das unvermeidlich die Frage aufwerfen, ob die Linkspartei
überhaupt zur viel beschworenen „Bewegungspartei“ werden kann oder nicht
vielmehr ein politischer Bruch mit dem Reformismus notwendig wäre.

Welcher
Antikapitalismus?

Stattdessen
finden wir linksreformistische oder linkspopulistisches Schlagwörter wie
„sozialistische Demokratie“ oder „populare Klassenpolitik und Bündnisse“ –
weniger Sitzungen, mehr Aktionen, heißt es im Gründungsaufruf zuspitzend. In
dessen längerer Version, welche etwas versteckt auf der Webseite vorhanden ist,
heißt es zur Regierungsbeteiligung:

„Dabei eint uns eine skeptische und kritische Haltung zu linker Regierungsbeteiligung und die Erfahrungen auf Länderebene bestärken uns darin. Wir wissen aber auch, dass wir die Macht übernehmen müssen, um die Welt zu verändern.“ (https://bewegungslinke.org/wp-content/uploads/2014/09/Diskussionsgrundlage.pdf)

In Abgrenzung
zum bürgerlichen Parlamentarismus wäre dann doch die Frage, wie und wodurch
übernehmen „wir“ die Macht? Hat die Bewegungslinke einen revolutionären
Anspruch oder verstecken „wir“ uns hinter Begrifflichkeiten wie Transformation,
Reformkämpfe und Gegenhegemonie? Dieser Verzicht auf Klarheit wäre allenfalls
„klassischer“ Zentrismus, das Schwanken zwischen Reform und Revolution. Statt
ein klares Programm und eine strategische Zielsetzung in die Klasse oder in
„Bewegungen“ hineinzutragen, finden wir ein Potpourri zentristischer und
postmoderner Visionen für die zu führenden antikapitalistischen Kämpfe.

„Ein Projekt,
das Mehrheiten erreichen will, ohne dabei seine Seele zu verleugnen. Ein
bündnisfähiges Projekt solidarischer Gegenhegemonie, tief verankert in den
arbeitenden Klassen.

Solch ein
Projekt ist unser mittelfristiges strategisches Ziel als LINKE. Wir wollen
gemeinsam mit den unteren und mittleren Klassen ein fortschrittliches soziales
und ökologisches Transformationsprojekt entwickeln – ein populares
Unten-Mitte-Bündnis.

Statt dieses
Kapitalismus‘ wollen wir eine Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen abgeschafft ist; eine Gesellschaft, in der kein Mensch sich
vor einem anderen bücken muss und in der die Sorge um Kinder, Kranke und Alte
genauso viel wert ist wie jede andere Arbeit.

Wir wollen eine
sozialistische Demokratie, in der die BürgerInnen selbst bestimmen, in der ihre
Sichtweisen und Interessen nicht mit Füßen getreten werden. Deshalb müssen
unsere Parlamente in neue Einrichtungen direkter Räte-Demokratie eingebettet
werden. Ein System, in dem die Menschen regieren und die Regierung gehorcht und
folgt.“

(https://bewegungslinke.org/wp-content/uploads/2014/09/2018_Diskussionsgrundlage_Solidarit%C3%A4t-ist-unteilbar_E1.pdf)

Illusion

Hier geht das
politische Potpourri munter weiter. Das „Transformationsprojekt“ soll in ein
System münden, das „unsere“ bürgerlichen Parlamente in eine „neue“
Räte-Demokratie einbettet. Hier ging so mancher Kautsky verloren oder wird von
Noske auf dem Weg zur „Einbettung“ der Räte erschossen. Zumindest waren das die
Lehren der letzten Novemberrevolution. Das Projekt der USPD und des
Kautskyianismus, bürgerliche Demokratie und Rätedemokratie zu kombinieren,
entpuppte sich als Illusion und politisches Verwirrspiel, das scheitern musste,
weil zwei antagonistische Klassen respektive deren (potentielle)
Herrschaftsorgane nicht gleichzeitig herrschen können. Die Räte mussten der
„Demokratie“ weichen. Statt Herrschaft des Proletariats erfolgte die Festigung
der konterrevolutionären Bourgeoismacht.

Daran ändert
auch der Begriff „Gegenhegemonie“ der akademischen Linken herzlich wenig. Hier
werden idealistische Demokratieillusionen – namentlich die Leugnung des
Klassencharakters der bürgerlichen Demokratie – mit Begriffen der
ArbeiterInnendemokratie, der Räteherrschaft vermengt. Das ist nicht
zielführend, sondern politisch gefährlich.

Wessen
Herrschaft?

Entweder
herrscht die ArbeiterInnenklasse und übt ihre Diktatur vermittelt durch die
Räte aus – nämlich zur Unterdrückung von Kapital und Konterrevolution – oder
eben nicht. In der Frage unklar, verschwommen und letztlich irreführend zu
agieren ist vielen angeblichen „AntikapitalistInnen“ in der Linkspartei eigen.
Eine sozialistische, revolutionäre Perspektive und Strategie stellt das jedoch
nicht dar.

Der Zusammenhang
zwischen „Menschen regieren“ und die „Regierung gehorcht und folgt“ bringt auch
vieles durcheinander. Statt mit solchen Allerweltsphrasen aus den Lehrbüchern
der bürgerlichen demokratischen Herrschaft hausieren zu gehen, sollte vielmehr
klar ausgesprochen werden, wessen Macht gebrochen werden muss, damit „Menschen“
eine Regierung ohne die Bourgeoise bilden können. Das populare
„Unten-Mitte“-Bündnis hört sich erst mal nicht nach „Volksfront von unten“,
also eine klassenübergreifende Politik von unten an, ist aber de facto nichts
anderes. Hier muss dann auch klar formuliert werden, was denn unter
„Unten-Mitte“ verstanden wird und welche Politik ein solches Bündnis umsetzen
soll, bzw. was vorgeschlagen wird, um z. B. Mittelschichten für den Kampf der
ArbeiterInnenklasse zu gewinnen. Auch das wird mit neuen akademischen Formeln
wie „populares“ Bündnis umgangen.

Bei den
Wagenknecht-AnhängerInnen wird die „Bewegungslinke“ erst mal parteiintern im
„Verdacht“ stehen, dem Vorstand zu folgen. Und damit liegen die PopulistInnen
nicht einmal falsch.

Strömung für
oder gegen den Vorstand?

Schließlich
praktiziert die „Bewegungslinke“ real den Schulterschluss mit Kipping und
Riexinger, präsentiert sich als deren linke Ratgeberin und eben nicht als
kämpferische Alternative Dafür bräuchte es nämlich ein klares sozialistisches
Programm, nicht allein für die BRD, sondern auch für Europa, damit man der
reformistischen Regierungsrealität auch was entgegensetzen, worum man einen
realen linken Bruch in der Partei organisieren könnte. Aber darum geht es den
InitiatorInnen weniger. Trotz mancher Veränderungswünsche soll hier vor allem
das „eigene“ Bild von einer Linkspartei gezeichnet werden, die nur noch in die
richtige Richtung Bewegung werden müsse.

Wenn die
„Bewegungslinke“ sich nicht gegen diese faktische Unterordnung unter den
Linksreformismus organisiert und mit dem reformistischen Programm der
Linkspartei bricht, wird daraus nur eine weitere zahnlose Strömung, die sich
kämpferisch präsentiert, aber weder an Programm noch Praxis etwas ändert.
Schlimmer noch, sie präsentiert sich als „kritische“ Unterstützung einer
Parteiführung, die letztlich noch immer auf Rot-Rot-Grün auf Bundesebene hofft.




Ukraine nach den Präsidentschaftswahlen: Land vor dem Abgrund

Paul Neumann, Neue Internationale 237, Mai 2019

Präsident Poroschenko hat
auch die Stichwahl am 22. April 2019 haushoch verloren. Es erging ihm wie allen
„HoffnungsträgerInnen“ des Westens vor ihm seit der Unabhängigkeit 1991. Mit
fast 74 % der Stimmen siegte Wolodymyr Selenskyj, der „Comedian“, der in einer
TV-Serie den wackeren Präsidenten im Kampf gegen die um sich greifende
Korruption im Lande spielt. Das Wahlergebnis spiegelt vor allem die
Enttäuschung aller Schichten der ukrainischen Gesellschaft über die
wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung im Land wider.

Poroschenkos Niedergang

Die Wahl Poroschenkos 2014
war die Folge des Putsches vom 22. Februar 2014 unter Führung der ultrarechten
Maidan-Bewegung, gestützt von den USA und der EU, gegen den damaligen
Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch. Dieser hatte sich geweigert, ein bereits
ausgehandeltes Kooperationsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Getragen
wurde die anschließende Wahl Poroschenkos von der nationalistischen Euphorie
der Maidan-Bewegung, die eine rosige Perspektive für die Ukraine im Bündnis mit
den USA und der EU versprach.

Davon sind heute nur die
versteinerte Spaltung des Landes und ein perspektivloser Krieg im Osten der
Ukraine übrig geblieben. Poroschenko war nicht in der Lage, auch nur eines der
Probleme zu lösen, die durch die nationalistische Maidan-Bewegung und den
umfassenden Zugriff des Westens auf das Land erst geschaffen oder verschärft
wurden. Weder konnte er die Spaltung des Landes überwinden noch eine neue
ökonomische Perspektive für die Ukraine schaffen. Im Gegenteil, das Land sitzt
heute fest im Würgegriff der Staatsverschuldung von westlichen Staaten und IWF,
die der Ukraine den Stellvertreterkrieg gegen Russland auf Kredit finanzieren
und als GläubigerInnen die Bedingungen diktieren.

Ökonomischer Niedergang

Die Illusionen in den
Westen, der wirtschaftliche Prosperität und eine „anständige“ Demokratie
versprach, sind ersatzlos geplatzt. Das BIP von 2017 (112,5 Mrd. USD) liegt
deutlich unter dem von 2014 (133,5 Mrd. USD). Trotz der Umstellung
industrieller Normen weg vom russischen zum europäischen System sind
Investitionen weitgehend ausgeblieben, während ökonomische Verbindungen zum
russischen Markt politisch zerstört wurden, mit einer Ausnahme: Die Einnahmen
durch die russischen Öl- und Gas-Pipelines durch die Ukraine nach Westeuropa
bilden nach wie vor den größten Posten im Staatshaushalt. Aber auch diese
werden mit der Fertigstellung der neuen Pipeline „Nord Stream 2“ weitgehend wegbrechen.

Westliche InvestorInnen und
BankerInnen haben das Land zwar nach dem Maidan besucht und auf lohnende
Investitionen begutachtet, sind aber meist wieder unverrichteter Dinge
abgefahren, weil lohnende Geschäfte in einem günstigen Investitionsklima kaum
gefunden wurden. Mit Ausnahme der fruchtbaren „schwarzen Böden“ in der Ukraine,
die schon auf der Liste der Kriegsziele des Deutschen Kaiserreiches standen,
die sich US- und EU-Agrarkonzerne nun ganz „friedlich“ mit der Macht ihrer
Kapitale „angeeignet“ haben, wurde wenig Profitables gefunden. Diese „schwarzen
Böden“ ernähren heute nicht mehr die Menschen in der Ukraine, sondern
produzieren für den Weltmarkt. Ökonomisch betrachtet, hat es die Ukraine nicht
einmal in den Status einer verlängerten Werkbank der deutschen Exportindustrie
geschafft, wie Polen oder Ungarn. Auch die mit der Westausrichtung versprochene
EU-Mitgliedschaft rückte in weite Ferne.

Wofür steht Selenskyj?

Wolodymyr Selenskyj
repräsentiert trotz seines überwältigenden Wahlergebnisses von 74 % vor
allem  sich selbst. Er hat bisher
kein Programm vorgelegt, mit dem er den ausgemachten Übeln der ukrainischen
Gesellschaft zu Leibe rücken will. Und auch kein/e WählerIn hat ein solches
Programm im Wahlkampf von ihm eingefordert. Die Illusionen der Menschen sind
auf Selenskyj projiziert worden – sei es als Akt der Resignation oder der
Abrechnung mit Poroschenko. Selenskyjs größter Pluspunkt ist, dass er nicht zur
alten korrupten Polit-Elite der Ukraine gehört. Auf der letzten großen
Wahlveranstaltung am 19. April im Kiewer Olympiastadion, im Duell mit
Poroschenko, hat er lediglich von sich gegeben, dass er die Westbindung
beabsichtigt aufrechtzuerhalten, kriminelle OligarchInnen hinter Gittern und
die korrupte Oberstaatsanwaltschaft sowie die Führungen von Polizei und Militär
auswechseln will. Weiter will er mit Putin über die Beendigung des Krieges im
Osten und die Krim sprechen und über alle großen Fragen beabsichtigt er,
Volksabstimmungen durchzuführen. Das scheint sein ganzes Programm zu sein.

Tatsächlich verfügt er
nicht einmal über eine politische Basis in der Rada, dem ukrainischen
Parlament, weil seine Partei „Sluga Naroda“ (Diener des Volkes) erst vor einem
Jahr gegründet wurde. Auch hier fragt es sich, auf welcher politischen und
sozialen Basis hat sich diese konstituiert? Welche Klasseninteressen drückt sie
aus? Wird sie nicht in der ersten ernsthaften politischen Auseinandersetzung
genauso schnell zerbrechen, wie sie sich gegen Poroschenko gefunden hat? Selbst
wenn Selenskyj die nationalen Wahlen vom Herbst 2019 vorziehen und er mit einer
Mehrheit seiner Abgeordneten in der Rada sitzen sollte, was sogar möglich
erscheint, sind seine parlamentarischen Möglichkeiten sehr begrenzt – wie die
seines Vorgängers Poroschenko. Er bleibt ein Gefangener des ukrainischen
Politsystems und der Abhängigkeit von den imperialistischen Mächten. Den
„OligarchInnen-Kapitalismus“ wird er kaum mit 2/3-Mehrheit und Volksabstimmung
beseitigen können.

Selenskyj präsentierte sich
als wackerer bürgerlicher Demokrat, mit ein bisschen Mut zu lästern über „die
da oben“, aber ohne Vorstellung von einer besseren Welt und die Mittel, diese
zu erreichen. Sein Kniefall bei der ukrainischen Nationalhymne in Kiewer
Olympiastation lässt eher vermuten, dass sein Herz auch für die nationale Sache
schlägt. Als Medienunternehmer und Filmproduzent gehört er zudem auch zur
nationalen Elite und ist eng mit dem Oligarchen Kolomojskyj verbunden, dem  unter Poroschenko die Kontrolle des Öl-
und Gaskonzerns Ukrnafta entzogen wurde. Er blieb jedoch Eigentümer eines
Medienimperiums, darunter auch des Kanals „1plus1“, das Selenskyjs „Diener des
Volkes“, namensgebende Show für dessen Partei, ausstrahlte.

Der Hauptvorwurf gegen
Poroschenko wie schon gegen seine Vorgänger lautet, er habe die Korruption
nicht in den Griff bekommen oder, noch schlimmer, sie nicht ernsthaft bekämpfen
wollen oder sei ihr selbst verfallen. Alle vorstellbaren Facetten der
Korruption beherrschen seit Jahren die Diskussion in und über die Ukraine.
Während US-Präsident Trump das Land eher als ein Nebenthema behandelt, hat sein
Vorgänger Obama es über seinen Vize Biden sehr intensiv betreuen lassen und in
dutzenden Vorsprachen bei Poroschenko ein konsequenteres Durchgreifen gegen
Korruption und besonders die Unabhängigkeit der Justiz eingefordert –
allerdings ohne nachhaltiges Resultat. Das wirft die Frage nach den sozialen
Ursachen der Korruption auf.

OligarchInnen-Demokratie…

Die Korruption ist im
Allgemeinen eine unvermeidliche Erscheinungsform der kapitalistischen Konkurrenz.
Doch in der Ukraine und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat sie eine
weitere soziale Wurzel und eine andere Qualität. Sie entspringt den besonderen
ökonomischen und sozialen Bedingungen der Entstehung und Entwicklung dieser
Staaten hin zum Kapitalismus. Die Umwandlung von Industrie, Handel und
Landwirtschaft in eine kapitalistische Produktionsweise bedeutete in erster
Linie die Aufhebung des staatlichen Gemeineigentums durch umfassende
Privatisierung. Die Wirtschaft dieser Länder bestand durchweg aus
Großbetrieben, Kombinaten und LPGen/Kolchosen und wurde an FunktionärInnen des
alten Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparates für einen Appel und ein Ei
verscherbelt.

So entstand eine kleine
Schicht von Superreichen, die sog. OligarchInnen. Sie verfügten damit über viel
Privatbesitz und Geld, aber noch nicht über Kapital und keine konkurrenzfähige
Maschinerie, um produktiv auf dem Weltmarkt mithalten zu können. Sie waren in
diesem Sinne noch keine KapitalistInnen, die ihr Geld produktiv einsetzten konnten
zum Zwecke seiner Vermehrung. Mit der Privatisierung der ehemals
verstaatlichten Produktionsmittel an eine kleine Schicht von „OligarchInnen“,
der sich nur langsam entwickelnden Verwertung des Geldes zu Kapital, entstanden
auch keine in sich abgestufte Kapitalisten- und erst recht keine breiteren
ökonomisch verankerten Mittelkassen.

Monopole entstanden nicht
aus der Konkurrenz und der Kapitalakkumulation über eine längere Periode,
sondern aus der parasitären Aneignung und Plünderung des ehemaligen Staatseigentums.

Damit fehlte die
gesellschaftliche Basis für eine bürgerliche Demokratie im westlichen Sinn, mit
Gewaltenteilung und Rechtsstaat und dem anderen Zubehör, auf das ihre
FreundInnen im Westen so stolz sind. Die Aufgabe des Staates ist es, diese
Gesellschaftsverhältnisse mit seinen Machtmitteln (Recht, Justiz, Polizei,
Militär) zu sichern und die Konkurrenz der verschiedenen konkurrierenden
Kapitalfraktionen durch Gesetzgebung und Rechtsprechung zu regeln. In der
Ukraine – und in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – wurde der Staat
faktisch zum Privatbesitz der OligarchInnen, die ihrerseits zwischen den
imperialistischen Blöcken (USA, Russland, EU) lavieren mussten. Die Parlamente
waren und sind hohle, inhaltsleere Gebilde und wurden zur leichten Beute der
einzigen wirklichen HerrInnen in diesen Ländern, der OligarchInnen. Sie kauften
im wahrsten Sinne des Wortes die demokratische Hülle für ihre Interessen mit
Haut und Haaren.

Diese innere Struktur, vor
allem aber der geo-strategische Kampf um die Ukraine, die de facto Spaltung des
Landes bilden die Ursache dafür, dass die Investitionen aus dem Westen
ausblieben – und wohl auch ausbleiben werden.

Autoritarismus

Zugleich bilden sie die
Grundlage dafür, dass solche Länder immer zu autoritären und bonapartistischen
Herrschaftsformen drängen. Nach dem blutigen Putsch des Maidan, Jahren des
Niedergangs haben sich freilich alle „respektablen“ Kräfte des Landes politisch
so weit erschöpft, dass ein „Comedian“ anstelle des Oligarchen trat.

Die ArbeiterInnenklasse
wurde nach dem reaktionären Sieg des Maidan praktisch als politische und
gewerkschaftliche Bewegung gebrochen, die Linke marginalisiert, verfolgt und zu
einem beträchtlichen Teil aus dem Land vertrieben.

Die bürgerlichen und
kleinbürgerlichen – bis hin zu faschistischen und halbfaschistischen – Parteien
entpuppten sich wieder einmal als Anhängsel konkurrierender
OligarchInnen-Fraktionen. Hinzu kommt, dass Rechtsextremismus und
Ultra-Nationalismus selbst vor dem Problem standen, ihre nationalistischen
Versprechungen – die Rückeroberung des Donbass oder gar der Krim – nicht
einlösen zu können. Die Kriegstreiberei entpuppte sich für viele als
Selbstmordkommando. So bleibt nur der Ruf nach NATO-Schutz und westlicher
Wirtschaftshilfe, nach Aufrüstung und Investitionen – letztlich nach stärkerer
Abhängigkeit – einerseits und nach einer „Verhandlungslösung“ mit Putin
andererseits.

Sicher ist heute nur, dass
auch Selenskyj ein Gefangener des OligarchInnen-Systems sein wird – selbst wenn
er versuchen mag, sich einen gewissen Schein von Unabhängigkeit zu geben, und
mit mehr oder minder kosmetischen Maßnahmen gegen die Korruption vorgehen mag.
Wie oft in dieser Lage verspricht auch er eine „ExpertInnenregierung“, die
unabhängig von den verschiedenen Kapitalfraktionen sein soll. Die deutsche
Bundesregierung, die Adenauerstiftung der CDU, die EU und auch die USA werden
sicher bereit sein, solche „ExpertInnen“ zu „beraten“ – in ihrem Interesse,
versteht sich. Zu einer Lösung der grundlegenden Probleme der Ukraine wird
freilich auch Selenskyj angesichts des Kampfes um Einflusssphären zwischen den
Großmächten nicht in der Lage sein.

Ausweg

Die Ironie der Situation
besteht darin, dass der einzige Ausweg für die Ukraine darin läge, das gesamte
OligarchInnen-System zu zerschlagen, die privatisierten Unternehmen unter
ArbeiterInnenkontrolle zu enteignen, die Schulden zu streichen und die
Wirtschaft gemäß eines demokratischen Plans zu reorganisieren. Dies würde
jedoch nicht nur den Bruch mit der Oligarchie, sondern auch mit der
Marktwirtschaft und die Unabhängigkeit von allen imperialistischen Mächten
erfordern.

Dazu ist jedoch nur eine
gesellschaftliche Kraft in der Lage: die ArbeiterInnenklasse. Der Kampf gegen
das zunehmende Elend durch kapitalistische Krise, OligarchInnen-Willkür und
IWF-Spardiktate, zur Verteidigung ihrer Lebensgrundlage, für demokratische
Rechte, die Beendigung des Kriegs (einschließlich der Anerkennung des
Selbstbestimmungsrechtes für Krim und Donbass) kann, ja muss den Ausgangspunkt
für den Wiederaufbau der ArbeiterInnenbewegung, von Gewerkschaften und einer
revolutionären ArbeiterInnenpartei in der Ukraine bilden.




Nach dem Wahlsieg Netanjahus: Nächste Stufe der Eskalation

Andy York, Neue Internationale 237, Mai 2019

Nach den Wahlen am 9. April kann der
rechtsgerichtete israelische Ministerpräsident Benjamin „Bibi“ Netanjahu für
eine fünfte Amtszeit planen. Sein Wahlkampf rückte die israelische Politik noch
weiter nach rechts – vor allem mit der Drohung, die israelischen Siedlungen im
Westjordanland zu annektieren und so das von der Palästinensischen
Autonomiebehörde formell kontrollierte Gebiet weiter zu reduzieren. Schon zuvor
hatte US-Präsident Trump die Einverleibung der Golanhöhen anerkannt.

Wie im Jahr 2015 nutzten AktivistInnen
der Likud-Partei die sozialen Medien, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, indem
sie rassistische Paranoia über israelische arabische WählerInnen schürten. Eine
PR-Firma, die mit Likud zusammenarbeitet, platzierte sogar 1.200 Kameras in
Wahllokalen, um palästinensische WählerInnen einzuschüchtern, vorgeblich um
einen „arabischen Wahlbetrug“ zu verhindern. Der Sieg Netanjahus, der
mittlerweile der längste amtierende israelische Premierminister aller Zeiten
ist, signalisiert die Konsolidierung der israelischen Politik im
rechtsnationalistischen, ultrarassistischen Sinn und weitere administrative und
militärische Angriffe auf das palästinensische Volk und seine nationalen Rechte.

Dass Netanjahu es nur knapp geschafft
hat, die Opposition, die neu gegründete „Blau-und-Weiß“-Allianz
(Zusammenschluss der Parteien „Widerstandskraft für Israel“ von Benny Gantz und
„Es gibt eine Zukunft“ von Yair Lapid), zu schlagen, mag naiven BeobachterInnen
etwas Hoffnung geben – aber dies ist eine trügerische. Das Wahlergebnis wurde
zunächst als Unentschieden gewertet, mit je 35 Sitzen für Likud und „Blau und
Weiß“, aber Netanjahu erzielte 15.000 zusätzliche Stimmen (weniger als ein
Prozent der Wähler) und einen weiteren 36. Sitz. Zusätzlich verfügt der rechte
Block mit dem Likud im Zentrum über insgesamt 66 in der 120 Abgeordnete
umfassenden Knesset, eine komfortable Mehrheit. Fügt man „Blau und Weiß“ hinzu,
so ist Israels Parlament damit überwiegend rechts-nationalistisch
zusammengesetzt.

Während Netanjahu vorgab, dass die Wahl
vorgezogen werden müsse (sie war ursprünglich im November 2019 fällig), weil
seine Regierung wegen der Frage des Militärdienstes für Ultraorthodoxe in eine
Sackgasse geraten war, bildete den eigentlichen Grund für die Vorziehung eine
drohende Anklage der israelischen Staatsanwaltschaft in drei Fällen von
strafbarer Korruption. Vor der Wahl hatte er dies als „Hexenjagd“ verurteilt
und behauptet, er würde nicht als Premierminister zurücktreten, selbst wenn die
Anklage gegen ihn erhoben würde. Die israelischen WählerInnen, denen die
Wahlabstimmung als Referendum über Netanjahu präsentiert wurde, haben „König
Bibi“ verteidigt.

Neue Normalität

Die verschiedenen Aspekte dieser Wahl
zeigen, wie sehr sich die rechtsgerichtete, gewaltsam chauvinistische
politische Ausrichtung der israelischen Politik in den letzten zehn Jahren zur
„Normalität“ entwickelt hat.

Die einst mächtige Arbeitspartei
(haAwoda: „Die Arbeit“), Bollwerk des israelischen Staates im zwanzigsten
Jahrhundert, erlebte ein Schrumpfen ihres Wähleranteils auf ein Allzeittief von
sechs Mandaten (von 120 Sitzen). Sie verlor gegenüber 2015 14,24 Prozent der
Stimmen und liegt nun bei 4,43 Prozent. BeobachterInnen stellten ihre Zukunft
als Partei in Frage. Zu Recht – ihr neuer Führer Avraham „Avi“ Gabbay, ein
ehemaliger Telekom-Chef und von Mai 2015 bis Mai 2016 Umweltminister in der
letzten Netanjahu-Regierung, versuchte es mit offenen Appellen an den
israelischen Chauvinismus und behauptete, dass „die Linke vergessen hat, was es
heißt, jüdisch zu sein“. Er versprach, den Großteil der israelischen Siedlungen
im Westjordanland in jedem Friedensabkommen und einem israelischen Referendum
über den künftigen Status des palästinensischen Ostjerusalems im Bestand zu
sichern. Avraham Daniel „Avi“ Nissenkorn, bis März 2019 Generalsekretär der
israelischen Gewerkschaftsföderation Histadrut, ging – einmalig in der
israelischen Geschichte – von Bord der Arbeitspartei, um sich „Blau und Weiß“ anzuschließen.
Einschließlich der linksliberalen Parteien Meretz („Stärke“) und der
zusammengebrochenen Hatnuah („Die Bewegung“) , der Blockpartnerinnen von
haAwoda im Jahr 2015, fiel Israels sogenannte „zionistische Linke“ von 31 auf
zehn Sitze.

Die gemeinsame Liste der israelischen
Kommunistischen Partei und des arabisch-israelischen Ta’al („Arabische Bewegung
für Erneuerung“) gewann sechs Sitze und zog damit mit der Arbeitspartei gleich.
Insgesamt verloren die arabischen Parteien jedoch drei Sitze, da sich ihre
WählerInnen fernhielten und deren Wahlbeteiligung auf 49 % sank. In einigen
Fällen mag dies daran gelegen haben, dass junge AktivistInnen aufgrund des
neuen Nationalstaatsgesetzes für einen Boykott kämpften. Aber auch die PR-Firma
Kaizler Inbar, die wie gesagt Kameras in Wahllokalen einsetzte, prahlte: „Dank
unserer Beobachter in jedem Wahllokal konnten wir die Wahlbeteiligung der
AraberInnen auf unter 50 Prozent senken, die niedrigste der letzten Jahre!“
Dank ihrer „tiefen und engen Partnerschaft mit den besten Menschen im Likud
haben wir eine Operation ins Leben gerufen, die entscheidend zu einer der
wichtigsten Errungenschaften des rechten Blocks beigetragen hat“.

Trotz eines Last-Minute-Wahlkampfes der
arabischen Parteien in den Moscheen ist das Gefühl der Sinnlosigkeit zweifellos
unbestritten. Jegliche Zusammenarbeit mit palästinensischen Parteien wird in
der gegenwärtigen Mainstream-Politik in Israel sowieso als „Hochverrat“
gebrandmarkt. Etwa ein Fünftel der israelischen Bevölkerung wird so systematisch
aus der „einzigen Demokratie“ der Region ausgegrenzt. Die linksliberale Zeitung
„Haaretz” warnte angesichts des Auftritts der Rechtsparteien sogar davor, dass
dies die letzte Wahl gewesen sein könnte, an der nicht-jüdische Parteien
überhaupt teilnehmen konnten.

Und es ist daher wichtig, sich vor
Augen zu halten, was „Mitte-Rechts“ im politischen Spektrum des zionistischen
Staates bedeutet, der eine offen annektionistische Politik betreibt. Die
„Mitte-Rechts“-Partei „Blau und Weiß“ wurde von der neuen Partei „Israelische
Widerstandskraft” angeführt, die vom ehemaligen Stabschef der Armee (IDF) Benny
Gantz im Dezember 2018 gegründet wurde. Sie wird prominent vertreten durch drei
ehemalige Stabschefs und Minister aus früheren Netanjahu-Regierungen, darunter
den ehemaligen Verteidigungsminister Mosche „Bogie“ Jaalon an der Spitze der
Telem-Partei („National-Staatsmännische Bewegung“) . Laut BBC wetteiferten die
„Blau und Weiß“-FührerInnen untereinander, wer für die meisten Tötungen
palästinensischer Militanter verantwortlich gewesen sei. Sie betonten Gantz‘
Rolle bei der Invasion 2014 in Gaza inklusive der Bombardierungen, bei denen
2.251 PalästinenserInnen, zumeist ZivilistInnen, getötet und Schäden im Wert
des dreifachen BIP von Gaza hinterlassen wurden. Gantz versprach in seiner
Kampagne, „die Siedlungsblöcke und die Golanhöhen zu stärken, aus denen wir uns
nie zurückziehen werden“ und ein vereintes Jerusalem als Hauptstadt Israels zu
erhalten (nachdem Trump es 2017 als solche anerkannt hatte).

Netanjahus 2018 verabschiedetes neues
Grundgesetz legt fest – was eigentlich immer schon Realität in Israel war -,
dass es allein der Staat seiner jüdischen Bevölkerung ist. Dies macht seinen
Charakter als Apartheid-Staat immer deutlicher – was bei Teilen der israelischen
Gesellschaft auch zu einem gewissen Unbehagen geführt hat. Dem kam Gantz mit
dem Versprechen von „Nachbesserungen“ dieses Gesetzes nach, während er
gleichzeitig die Siedlerbewegung legitimiert und das Arabische als Amtssprache
fallen lässt.

Viele der zionistischen Liberalen
Israelis analysieren, dass Gantz‘ Hinterhertrotten hinter Netanjahu bedeutete,
dass die Menschen sich entschieden haben, für das Original zu stimmen.
Grundsätzlich hatten die vermeintlichen Alternativen – Gantz oder Arbeitspartei
– bereits viele der Positionen, die Netanjahu mit Trumps Unterstützung auf
Kosten der PalästinenserInnen eingenommen hat, übernommen. Die Ankündigung,
dass „Blau und Weiß“ in der Knesset vereint bleiben werde, um (in Gantz‘
Worten) „Netanjahus Leben zur Hölle zu machen“, stellt allenfalls eine verbale
Drohgebärde einer schwachen, patriotischen und korrupten Opposition dar, die
tatsächlich nur „demokratische“ Begleitmusik zur nationalistischen Kakophonie
hervorbringen wird.

Dazu kommt, dass sich die Rechtskoalition
von Netanjahu durch Verschiebungen im ultra-nationalistischen Bereich auf noch
extremere Rechtsparteien stützen wird müssen. Die „Union der Rechtsparteien“,
nunmehr eine wichtige Koalitionspartnerin, umfasst auch die „Vereinigte
Nationalpartei“ des Bezalel Joel Smotrich, der Frieden in Palästina nur für
möglich hält, wenn es alle Nicht-Juden/-Jüdinnen „verlassen“ haben. Mit solchen
Regierungsbestandteilen ist eine weitere Eskalation der Unterdrückung,
Entrechtung und Vertreibung von PalästinenserInnen vorprogrammiert. Eine
nächste Regierung Netanjahu und auch die zionistische „Opposition“ wollen keine
„Verhandlungslösung“, sondern Kapitulation seitens der PalästinenserInnen.

 Totengräber der Zweistaatenlösung

Während von den Regierungen und der
„Demokratie“ des imperialistischen Europa weiter die Zweistaatenlösung
beschworen wird, hat sie sich in den letzten Jahren als politische Fiktion
entpuppt, die durch die Politik des Zionismus selbst als solche entlarvt wird.
Das zeigte sich auch im Wahlkampf. Zwei Wochen vor dem Urnengang behauptete die
israelische Zeitung „Haaretz“, dass nur noch drei wahlwerbende Parteien sie
offen unterstützten, die in Umfragen noch 34 % der Israelis repräsentierten,
während bereits 42 % die Annexion der Siedlungen oder des gesamten (!)
Westjordanlandes befürworteten.

Israel begann den Prozess der
Besiedlung nach dem Krieg von 1967, in dem Ost-Jerusalem, das Westjordanland
und der Gazastreifen erobert wurden, eine Politik der Kolonisierung, die eine
zukünftige Annexion bedeutete. Der Prozess, die Besatzung dauerhaft zu machen,
ist der logische Endpunkt des zionistischen Projekts und war von Anfang an im
Gang. Der Alltag von Besatzung und Militärrecht, der schleichenden Vertreibung
durch SiedlerInnen und der Gesetze zu deren Legalisierung oder Diskriminierung
der PalästinenserInnen läuft weitgehend ohne Protest der „Weltöffentlichkeit“
ab, bleibt für die „Menschen im Westen“ eine verdrängte Realität. Netanjahu
strebt den nächsten Schritt an, indem er die Siedlungen annektiert und
weiterhin das gesamte Gebiet des Westjordanlandes „kontrolliert“: „Drei Dinge
habe ich ihnen gesagt: Erstens, ich vertreibe keinen Juden aus dem
Westjordanland, keine Gemeinschaft. Es wird keine Siedler oder Siedlungen
geben, die entfernt werden. Der zweite Punkt ist, dass wir Jerusalem nicht
teilen werden. Der dritte Punkt ist, dass wir weiterhin das gesamte Gebiet
westlich des Jordans kontrollieren werden.“

Er gratulierte Trump zu seinem Schritt,
der Israels Annexion von Golan anerkennt, und legte Begründungen vor, die
ebenso leicht auf das Westjordanland angewendet werden können: „Israel gewann
die Golanhöhen in einem gerechten Krieg der Selbstverteidigung und die Wurzeln
des jüdischen Volkes im Golan reichen Tausende von Jahren zurück.“

US-Außenminister Michael Richard „Mike“
Pompeo sagte, er habe keine Bedenken gegen Netanjahus Pläne und deutete an,
dass der bevorstehende Friedensplan, der von der Trump-Administration unter
Chefberater Jared Kushner entwickelt werde, von der Zweistaatenlösung Abschied
nehmen würde: „Ich denke, dass die Vision, die wir darlegen werden, eine
signifikante Veränderung gegenüber dem verwendeten Modell darstellen wird.“

Die Zweistaatenlösung, die unter den
gegebenen Kräfteverhältnissen, der „Aufteilung“ des Landes und der vielen
ungelösten Probleme (palästinensische Flüchtlinge, Jerusalemfrage,
Zerstückelung der arabischen Gebiete und Durchsetzung mit Siedlungen,…) nur
eine reaktionäre Scheinlösung sein konnte, wurde unter Netanjahus langer
Herrschaft immer tiefer begraben. Die Realität der Einstaatenlösung – der
israelische Staat – existiert bereits. Der Kampf muss darin bestehen, die
Herrschaft der israelischen, zionistischen herrschenden Klasse zu zerbrechen
und zu stürzen, das Recht der PalästinenserInnen auf Rückkehr und
Selbstbestimmung zu erkämpfen und einen einheitlichen säkularen,
multi-ethnischen Staat zu errichten. Dies wird nur möglich sein, wenn der
reaktionäre Nationalismus, Zionismus und Imperialismus, die heute in der Region
dominieren, durch internationalistischen Sozialismus überwunden werden.




Revolution im Sudan: Ursachen und Perspektiven

Dave Stockton, Neue Internationale 237, Mai 2019

Der Sudan befindet sich inmitten einer wirklich
erstaunlichen Volksrevolution, bei der Frauen neben Jugendlichen,
GewerkschafterInnen und unterdrückten nationalen Minderheiten eine wichtige
Rolle spielen. Zu den Slogans gehörten „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“
und „Gerechter Sturz“. Als die Sicherheitsdienste Darfuris unter der Menge aufs
Korn nahmen, kam die Parole auf: „Ihr arroganten RassistInnen, wir sind alle
Darfur!“ (In der Region Darfur führt die sudanesische Regierung bis heute einen
besonders blutigen und rassistischen Krieg gegen die Bevölkerung). Teile der
einfachen SoldatInnen haben die DemonstrantInnen geschützt und sich ihnen sogar
angeschlossen.

Zuerst dachte das Regime, es könnte dies einfach
aussitzen und reagierte auf die sich entwickelnde Bewegung mit Repression,
einschließlich eines scharfen Feuers von den speziellen Sicherheitskräften und
islamistischen Parteimilizen. Eine Reihe von Protestierenden wurde getötet. Der
Stabschef der Armee, Kamal Abdelmarouf, warnte im Januar: „Wir werden nicht
zulassen, dass der sudanesische Staat zusammenbricht oder ins Chaos stürzt.“ Zu
seiner Bestürzung verteidigten junge OffizierInnen und SoldatInnen die Menge
und vertrieben ihre AngreiferInnen.

Absetzung des Diktators

Seitdem haben die Massen immer wieder Kompromisse des
Militärs und der Sicherheitsdienste, die die Grundlage des Regimes bilden,
abgelehnt. Die zentrale Forderung ist, dass das gesamte Regime, das Omar
al-Baschir 30 Jahre lang an der Macht gehalten hat, abgebaut wird und dass das
militärische Oberkommando die Macht abgeben und an die Zivilbevölkerung
aushändigen muss. Obwohl ihre Zukunft und ihr Ergebnis nicht gesichert sind,
wird die sudanesische Revolution in der gesamten Region eine Inspiration sein.

Nach viermonatigen Freitagsdemonstrationen, die in der
dauerhaften Besetzung des Gebietes um das Militär- und Präsidialhauptquartier
in Khartum gipfelten, feierten Hunderttausende die Verhaftung des brutalen
Diktators, der den Sudan seit der Machtergreifung bei einem Staatsstreich 1989
mit eiserner Faust regiert und einen Völkermordkrieg in Darfur durchgeführt
hatte, bei dem bis zu 400.000 Menschen starben, sowie den langen Krieg im
Südsudan, bei dem 2 Millionen Menschen starben, auch an Hunger und Krankheit.

Einige von den Protestierenden auf der Straße und in
der demokratischen Opposition werden sich zweifellos noch erinnern: Als
al-Baschir die Macht übernahm, beendete er vier Jahre relativer demokratischer
Freiheiten nach einer Revolution 1985, unterdrückte politische Parteien und
unabhängige Gewerkschaften und führte eine repressive „islamische“ Verfassung
ein. In dieser Zeitspanne töteten Geheimdienste, Polizei und
GefängniswärterInnen Tausende und viele weitere wurden von seinem Regime
gedemütigt, gefoltert und terrorisiert.

Als der Verteidigungsminister Ahmed Awad Ibn Auf das
Ende der Herrschaft al-Baschirs im nationalen Fernsehen ankündigte, setzte
massiver Jubel ein. Er kündigte aber auch an, dass ein Militärrat für die nächsten
zwei Jahre vor jeder Neuwahl die Exekutivmacht im Land behalten wolle. Es war
also kein Wunder, dass die Menschen auf den Straßen eindeutig klarmachten, sie
würden das auf keinen Fall akzeptieren.

Militärrat

Als angeblich versöhnlichere Figur wurde
Generalleutnant Abdel Fattah al-Burhan dann als Leiter eines Transitional
Military Council (Übergangsmilitärrat, TMC) angekündigt. Al-Burhan bestand
darauf, dass der TMC „komplementär zum Aufstand und zur Revolution“ stehe und
„verpflichtet ist, die Macht an das Volk zu übergeben“.

Diese Ankündigung war jedoch eindeutig nicht das
Ergebnis einer „demokratischen“ Bekehrung durch das Oberkommando, das
al-Baschir jahrzehntelang gedient hatte. So  brachen die ProtestführerInnen die Gespräche mit den
Militärbehörden rasch ab und erklärten, dass es der Militärjunta nicht ernst
damit sei, die Macht auf Zivilpersonen zu übertragen, sondern dass sie
tatsächlich aus Überresten des islamistischen Regimes von al-Baschir bestand.
Sie gelobten, die Demonstrationen zu intensivieren.

Kurz danach wurden die Verhandlungen jedoch wieder
aufgenommen und in einer Erklärung am 25. April verlängert, nachdem das Militär
einige weitere Zugeständnisse – so die Demission von 3 islamistischen Generälen
– gemacht hatte. Zur Zeit der Drucklegung des Artikels, am 26. April, werden
die Verhandlungen wie auch die Massenmobilisierung fortgesetzt.

Entwicklung

Seit vier Monaten befindet sich der Sudan inmitten
einer tiefgreifenden revolutionären Situation. Unmittelbarer Auslöser war die
Ankündigung von Preiserhöhungen bei Brot und Benzin. Deren Hintergrund bildet
die grassierende Arbeitslosigkeit, die steigende Inflation sowie die lähmende
Nahrungsmittel- und Kraftstoffknappheit. Rund 80 Prozent der Bevölkerung muss
mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen und fast 2,5 Millionen Kinder
leiden an schwerer Unterernährung.

Die Abspaltung des Südsudans im Jahr 2011 entzog dem
Land drei Viertel seiner Öleinnahmen und löste eine anhaltende Wirtschaftskrise
aus. Dennoch gab das Regime weiterhin schätzungsweise 70-80 Prozent der
verbleibenden Einnahmen für Kräfte der inneren Sicherheit und das Militär aus.
Es ist völlig korrupt und jede/r weiß das.

Obwohl die Nahrungsmittel- und Treibstoffknappheit die
Bewegung antrieb, erhoben die DemonstrantInnen schon bald politische Losungen –
„Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit“ und „Revolution ist die Wahl des Volkes“!

Junge Menschen und Frauen bildeten das Herzstück der
Bewegung, wobei die Kampagne „Nein zur Unterdrückung von Frauen“ eine führende
Rolle spielte. Die zentrale Stellung der Frauen bei den Protesten wird durch
die Figur von Alaa Salah symbolisiert, einer Frau, die während eines
Sitzstreiks im militärischen Hauptquartier ein Gedicht rezitierte, in dem sie
die Bewegung vom Dach eines Autos aus lobte und ihre Zeilen mit dem Schrei
„Thowra!“ – „Revolution“ auf Arabisch – unterlegte.

Die DemonstrantInnen fordern einen vollständigen Bruch
mit dem kulturell und bildungspolitisch unterdrückenden islamistischen Regime,
das besonders hart zu Frauen ist.

Der Aufstand begann in Städten nördlich der Hauptstadt
Khartum, an Orten wie Atbara, einem Eisenbahnproduktionszentrum und Wiege der
sudanesischen Gewerkschaftsbewegung. Die Straßenproteste am Freitag wurden
durch Besetzungen von Universitäten und Schulen, Streiks von ArbeiterInnen des
öffentlichen und privaten Sektors, einschließlich derjenigen in Port Sudan (Bur
Sudan) am Roten Meer, verstärkt. Die starke Organisationstradition der
sudanesischen ArbeiterInnenbewegung wurde am 5. und 13. März in landesweiten
Streiks demonstriert.

Die liberale Opposition und die Kommunistische Partei

Die Kundgebungen wurden von der „Allianz für Freiheit
und Wandel“ organisiert, zu der Berufsverbände, Gewerkschaften und
Oppositionsparteien gehören. Sitzungen des Koordinierungsgremiums fanden am
Sitz der sudanesischen Kommunistischen Partei SCP statt, die darauf abzielt,
„ein möglichst breites Bündnis von politischen Parteien, bewaffneten Gruppen,
demokratischen Massenorganisationen, Gewerkschaften der Freischaffenden,
ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenbewegungen sowie StudentInnen- und
Frauenverbänden aufzubauen“.

Die 1946 gegründete SCP war eine mächtige Kraft im
Land und in der Armee bis zu ihrer Teilnahme am gescheiterten Staatsstreich von
1971, der mit dem Sieg von General Dschafar Muhammad an-Numairi und der
Hinrichtung der wichtigsten FührerInnen der SCP endete. Seit vielen Jahren
operierte sie im Untergrund und die von ihr beeinflussten Gewerkschaften wurden
aufgelöst. In jüngster Zeit ist die Partei wieder aufgetaucht, obwohl ein Teil
ihrer Führung, darunter 16 Mitglieder ihres Zentralkomitees, immer noch im
Gefängnis sitzt.

Es ist zu erwarten, dass die SCP, die in
unerschütterlicher stalinistischer Tradition steht, die Strategie der
Volksfront übernehmen, d. h. auf eine Regierung drängen wird, die
VertreterInnen der besitzenden und der ausgebeuteten Klassen vereint. Dies
wäre, wie es immer war, ein Rezept für eine Katastrophe, und die
ArbeiterInnenklasse und die Armen würden der Früchte ihres revolutionären
Kampfes beraubt.

Die entscheidende Frage ist, wie bei jedem zutiefst
revolutionären Umsturz, ob die ArbeiterInnenklasse dabei eine unabhängige Rolle
spielt. Nur wenn die ArbeiterInnen die Führungsrolle übernehmen, die ihnen ihr
Platz in der Produktion ermöglicht, können die Ziele der Demokratie gesichert
werden, ganz zu schweigen von den sozialen Bedürfnissen der ArbeiterInnen,
Bauern/Bäuerinnen und Armen.

Der Verband der freien Berufe Sudans hat als Sprecher
der Bewegung eine herausragende Rolle gespielt. So hat er beispielsweise
wiederholt gefordert, dass das Oberkommando der Armee eingreift, um al-Baschir
zu beseitigen, ein Wunsch, der jetzt erfüllt wurde. Bisher sind seine
Bestrebungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer radikalen Zerstörung des alten
Regimes bewundernswert klar. Er hat eine „Regierung aus patriotischen
ExpertInnen“ sowie eine „vollständig zivile Regierung“ verlangt.

Unabhängig von den demokratischen Bestrebungen ihrer
Mitglieder wird sie sich zweifellos gezwungen sehen, die Interessen des
Großkapitals und des ausländischen Imperialismus zu wahren, solange die
Repressionsmaschinerie, die über den Massen der Bevölkerung steht und ihnen
nicht verantwortlich ist, existiert und die reale Macht monopolisiert.

Sudanesische RevolutionärInnen werden zweifellos an
das Schicksal des arabischen Frühlings 2011 in Ägypten, Syrien, Jemen und
Libyen denken, wo trotz des Mutes der jungen RevolutionärInnen ihre Bewegungen
durch eine brutale Rückkehr des alten Regimes zerstört wurden. Solange das Oberkommando
der Armee, die islamistischen Parteien und die staatliche Bürokratie intakt
bleiben, auch wenn ihre derzeitigen FührerInnen zurück- oder beiseitetreten,
bleibt die Gefahr einer Konterrevolution bestehen. Die einzige Antwort ist eine
Revolution, die den ganzen Weg geht, die repressive Macht des Staates auflöst,
die Kontrolle über die Wirtschaft von der korrupten KapitalistInnenklasse
übernimmt und die Macht in die Hände der Werktätigen legt.

Was nun?

Der zukünftige Fortschritt der Bewegung hängt von zwei
Dingen ab. Erstens müssen die ArbeiterInnen auf jede Razzia des TMC mit einem
umfassenden und unbefristeten Generalstreik antworten. Zweitens müssen die
SoldatInnen des Heeres, die Marineränge und das Luftwaffenpersonal gewonnen
werden, um sich tatsächlich den Massen auf den Straßen anzuschließen und ihre
Waffen mitzubringen. Sie müssen SoldatInnenkomitees in den Kasernen bilden und
OffizierInnen entfernen, die AgentInnen des alten Regimes geblieben sind.
SoldatInnen und MatrosInnen sollten in der Tat ihre Kommandeurinnen selbst
wählen.

Es ist offensichtlich, dass der TMC beabsichtigt, von
seinem ägyptischen Gegenstück zu lernen, um die Revolution unter seine
Kontrolle zu bringen und zu zerschmettern. Die Antwort der revolutionären
Bewegung muss darin bestehen, weiter unablässig daran zu arbeiten, die
einfachen SoldatInnen, untere Polizeiränge usw. für die Seite der Revolution zu
gewinnen. Wirkliche Sicherheit für das Volk wird nur gewährleistet sein, wenn
sich die  Basis der Streitkräfte
den ArbeiterInnen, StudentInnen und Jugendlichen bei der Wahl der
revolutionären DelegiertInnenräte anschließt und eine Volksmiliz bildet.

Jede provisorische Regierung muss sich auf diese Räte
stützen und ihnen gegenüber verantwortlich sein. Nur auf solche Kräfte kann man
sich verlassen, wenn es darum geht, Wahlen zu organisieren und die
demokratische Rechenschaftspflicht einer souveränen verfassunggebenden
Versammlung zu gewährleisten.

Aber sobald sie geschaffen sind und Macht in ihren
Händen halten, sollten solche Räte weitergehen und eine auf ihnen basierende
Republik gründen – eine, die die dringenden Bedürfnisse der Armen in Stadt und
Land auf Kosten der reichen und korrupten Elite, der großen UnternehmerInnen
usw. erfüllen kann. Kurz gesagt, die demokratische Revolution muss durch das
Handeln der ArbeiterInnenklasse, der Frauen, der Jugendlichen und all der
Ausgebeuteten und Unterdrückten in Stadt und Land in eine soziale Revolution
umgewandelt werden.

Die internationale Antwort

Al-Baschir hatte die Unterstützung des ägyptischen
Diktators, Präsident Abdel Fatah El-Sisi (Abd al Fattah as-Sisi) und von
Mohammed bin Salman, dem mörderischen saudischen Kronprinz. Er wurde außerdem
stillschweigend von Donald Trump und auch von Benjamin Netanjahu unterstützt.
Auch Wladimir Putin kann in die Gemeinschaft der imperialistischen DiebInnen
aufgenommen werden, die den sudanesischen Diktator unterstützten, sowie der

„Khartum-Prozess“ der Europäischen Union, um
Flüchtlinge von der Mittelmeerüberquerung abzuhalten. Jetzt haben all diese
Kräfte ihre Unterstützung auf den TMC übertragen und werden jedem Versuch
Hilfestellung leisten, die Ordnung wiederherzustellen.

Aus all diesen Gründen sollten SozialistInnen und
GewerkschafterInnen sowie die Frauen- und Jugendbewegungen auf der ganzen Welt
ihre Stimme zum Beistand für die Revolution im Sudan laut erheben und ihre
Regierungen auffordern, die Unterstützung jeglichen Militärregimes gegen das
Volk einzustellen. Da sich Algerien noch immer in revolutionären Turbulenzen
befindet und in Marokko Massendemonstrationen ausbrechen, wird es nötig und
möglich sein, die Revolution in eine gegen alle diktatorischen Regime in der
arabischen Welt und auch in Afrika südlich der Sahara auszuweiten.