GroKo in der Krise: Merkel geht – und die Regierung?

Tobi Hansen, Neue Internationale 233, November 2018

Überraschungen brachten die Landtagswahlen in Bayern und Hessen keine mehr. Dafür schaffte es Angela Merkel, ihre AnhängerInnen wie GegnerInnen zu verblüffen, indem sie erklärte, im Dezember nicht mehr für den Vorsitz der CDU zu kandieren. Einmal noch riss sie das Heft des Handelns an sich – mit dem absehbaren Ende ihrer eigenen Ära. Selbst wenn die ihr nahestehende Kramp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden gewählt werden sollte, zeichnet sich das Ende der Großen Koalition (GroKo) ab, es sei denn, die SPD mag ihr eigenes Siechtum über die Halbzeit der Legislaturperiode hinaus verlängern. Das Ende der Großen Koalition, von Beginn an eine politische Totgeburt, ist letztlich nur noch eine Frage der Zeit. Ihre Agonie mag aber noch andauern, da sowohl die Unionsparteien wie die SPD nicht recht wissen, ob sie das weitere Wursteln, das weitere Beschwören von „Sacharbeit“ der Koalition mehr fürchten als Neuwahlen.

Wahlergebnisse

Dass die Regierungsparteien massiv abgestraft wurden, konnte niemanden überraschen. Die SPD fuhr gleich zweimal ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis ein, in Bayern einstellig, in Hessen unter 20 %. CDU (-11,3 %) bzw. CSU (-10,5 %) erlitten ebenfalls Rekordverluste.

In beide Landtage zog die AfD zweistellig ein (Bayern 10,1 %, Hessen 13,1 %) und ist damit in allen 16 Landesparlamenten vertreten. Auch die FDP konnte in beide Parlamente einziehen, profitierte somit auch von den massiven Verlusten der Union. Die Linkspartei konnte in Hessen einen Prozentpunkt hinzugewinnen und schaffte somit den erneuten Einzug in den Landtag, in Bayern scheiterte sie an der 5-Prozent-Hürde.

Die Regierungsbildung in den Ländern wird trotz historischer Verluste für die GroKo-Parteien keine großen Überraschungen bringen. In Bayern werden die „Freien Wähler“, eine CSU-Abspaltung, den Christlich-Sozialen dabei eifrig zur Seite stehen, in Hessen gibt es noch eine knappe schwarz-grüne Mehrheit mit Option auf „Jamaika“, also FDP inklusive.

Außer der Koalitionsarithmetik ist noch entscheidend: Die Grünen profitieren neben der AfD als einzige von der Regierungskrise, die bürgerlichen Medien sprechen schon von der „grünen Volkspartei“.

Der Aufschwung der Grünen

Die Grünen konnten als einzige Oppositionskraft neben der AfD von der Krise profitieren. In Bayern (17,5 %) konnten sie die SPD deutlich überflügeln, in Hessen (19,8 %) gleichziehen. Die Grünen profilieren sich dabei als pragmatische, pro-kapitalistische, ökologische und auch humanitäre Oppositionspartei, teilweise ohne selber viel dazu beizutragen. Dabei präsentieren sie sich als einzig glaubwürdiger Gegenpart zur AfD. Sie profitieren dabei von der Krise der CDU/CSU und SPD gleichermaßen, indem sie all jene ansprechen, die „soziale Marktwirtschaft“ mit ökologischem Umbau, BürgerInnenrechten und sozialer Gerechtigkeit verbinden wollen. Dass sie bundesweit mit allen außer der AfD Koalitionen bilden, wird ihnen nicht als Beliebigkeit, sondern als „Flexibilität“ anrechnet.

Diese Mannigfaltigkeiten des bürgerlichen Charakters der Grünen in der Regierungsbildung wie auch der vorherrschende „Realo-Pragmatismus“ ermöglichen ihnen, wie einst der FDP, eine Rolle als „Scharnier“ zwischen den vermeintlich größeren Parteien zu spielen.

Anders als die FDP können sich die Grünen jedoch auch als führende Kraft von Bewegungen darstellen – am besten immer noch in der Ökologie-Bewegung, aber auch bei der „Seebrücke“ und #unteilbar waren die Grünen führend mit dabei und stellen auf dieser Ebene auch die Linkspartei in den Schatten.

Merkels Rücktritt auf Raten

Nach 18 Jahren Parteivorsitz wird Angela Merkel beim Bundesparteitag im Dezember nicht mehr antreten. Auch wenn sie noch bis 2021 Kanzlerin bleiben will und die CDU weiter diese Absicht proklamiert, so geht ihre Regierungszeit klar dem Ende entgegen. In den Unionsparteien wird es in den nächsten Monaten zu einer offenen Auseinandersetzung um den zukünftigen politischen Kurs kommen. Seehofers Rücktritt vom Parteivorsitz ist auch nur noch eine Frage der Zeit.

Bei der Neuwahl des/der CDU-Vorsitzenden geht es jedoch um eine Richtungsentscheidung. Bislang treten drei seriöse BewerberInnen an – CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer, Gesundheitsminister Spahn, der einstige Merkelgegner Merz. Eine mehr oder minder offene Konfrontation über die Politik der bürgerlichen Führungspartei ist daher unvermeidlich. Zweifellos wird sie sich bemühen, diese in Grenzen zu halten, die „Einheit“ beschwören wollen – aber zugleich müssen sich die drei notwendigerweise auch politisch-inhaltlich präsentieren. Vor allem aber bringen sie wirkliche strategische Differenzen im bürgerlichen Lager wie auch dessen eigene Fragmentierung zum Ausdruck.

Diese bilden den Hintergrund für die politische Krise der Union. Außer als „KanzlerInnenwahlverein“ (wie zu Kohls Zeiten!) steht die Union derzeit noch für den Status quo der EU, teilweise für die Sozialpartnerschaft, für weiteres militärisches Engagement – aber strategisch hat Kanzlerin Merkel eben derzeit keine Perspektive. Die Union ist wie die herrschende Klasse selbst uneins über den weiteren grundsätzlichen Kurs. Soll sie einen weiteren Anlauf zur „Vertiefung“ der EU, also zur Neuordnung Europas unter deutscher (und französischer?) Führung nehmen? Oder bedarf es einer anderen Strategie, der Ausrichtung auf ein „Kerneuropa“ oder gar ein Einstellen auf ein Scheitern der EU? Soll der deutsche Imperialismus (als Führungsmacht der EU) zu einem eigenständigen Player im Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden oder sich – womöglich in Nachfolge Britanniens – um die Rolle als engster Verbündeter der USA bemühen? Soll die EU dem aggressiven US-Imperialismus folgen, als „Juniorpartnerin“ fungieren oder wie beim letzten „Syrien-Gipfel“ gemeinsam mit Russland, Frankreich und der Türkei eigenständige Geopolitik im Nahen und Mittleren Osten betreiben?

Weichenstellungen

Auch in der Innenpolitik stehen neue Weichenstellungen an. Soll die Christenunion die nächste „Agendapolitik“ auflegen, die nächste Privatisierungswelle starten? Welche aktuellen Ziele des deutschen Imperialismus stehen für sie ganz oben auf der Agenda? Die Antwort bestand zuletzt in dem klassisch-konservativen „Weiter so“.

Diese „Haltung“ war bis zu einem gewissen Grad erfolgreich. Doch die jüngsten Zuspitzungen im Kampf um die Neuaufteilung der Welt offenbarten die fehlende strategische Orientierung und die inneren Differenzen des deutschen Imperialismus.

In der Hinsicht steht die Kandidatin Kramp-Karrenbauer am ehesten für eine Fortsetzung der Merkel’schen Politik. Ihre Wahl würde eine Fortsetzung der Koalition mit der SPD zumindest für das Jahr 2019 wahrscheinlicher machen. Friedrich Merz und Jens Spahn stehen für einen deutlich offeneren neo-liberalen, transatlantischen, wert-konservativen und wohl auch rassistischeren Kurs. Beide würden für das neoliberal-konservative Spektrum antreten und die Partei nach rechts rücken wollen.

Dabei wäre ein Parteivorsitzender Spahn sicherlich derjenige, der es auf einen Bruch mit der SPD ankommen ließe – und umgekehrt auch der SPD leichter einen Vorwand zur „nachvollziehbaren“ Aufkündigung der Koalition liefern könnte. Schließlich würde er wahrscheinlich den deutschen Imperialismus stärker an den USA ausrichten. Schon in der Vergangenheit unterhielt er Beziehungen zu US-Sicherheitsberater Bolton. Andererseits würde eine Wahl Spahns ziemlich sicher auf Neuwahlen hinauslaufen, da er – anders als Kramp-Karrenbauer – nur schwerlich eine Regierung unter Einbeziehung der Grünen formieren könnte.

Die SPD

Während die Unionsparteien um eine mögliche politische Neuausrichtung ringen, versucht die SPD nur noch, irgendwie die totale Katastrophe zu vermeiden. Dass die Arbeit in der Bundesregierung der SPD bei nichts helfen würde, war sogar relativ vielen Delegierten Anfang des Jahres klar, als um die 45 % gegen die Aufnahme der Verhandlungen mit der Union stimmten. Tausende wurden sogar im Zuge der #nogroko-Kampagne Mitglied, um dann mit knapp 33 % (ca. 120.000) gegen den ausgehandelten Koalitionsvertrag zu stimmen.

Seitdem hat die SPD den rassistischen Innenminister Seehofer täglich gedeckt, hat bei der Koalitionskrise zur „Migration/EU“ keine eigene Position gehabt, außer dass sie am Ende jedem Unionskompromiss zustimmte. Ähnlich verhielt sie sich in der „Causa Maaßen“, bei der sie spät „merkte“, dass eine Beförderung für Lügen, die rassistische Gewalt relativieren wollen, nicht sonderlich gut in der Öffentlichkeit ankommt, schon gar nicht bei der schmaler werdenden eigenen WählerInnenschaft. Nach den jüngsten katastrophalen Wahlniederlagen steht die SPD in den aktuellen Meinungsumfragen bei gerade 15 %.

Kein Wunder, dass wieder einmal die Forderung erhoben wurde, die Große Koalition zu beenden, um der Partei den Tod in der Wahlurne zu ersparen. Die Führung um Nahles zieht – sicher auch aus Gründen des politischen Selbsterhaltes – den Schrecken ohne Ende offenbar dem Ende mit Schrecken vor. Die Partei- und Faktionsvorsitzende und Generalsekretär Klingbeil sprachen nach der Hessenwahl von einem „Ultimatum“ für die Große Koalition, das darin bestand, die Regierung müsse sich „ändern“, endlich „liefern“ und die „Sacharbeit“ aufnehmen. Eine Frist für ihr „Ultimatum“ nannten die beiden wohlweislich nicht.

Nahles beklagt, dass die Regierung, die sie täglich stützt, kaum etwas auf die Reihe kriegt und, statt dies zu beenden, wird regelmäßig die Leier der „Sacharbeit“ abgespielt. Die strategische Parole der SPD „Zuerst das Land, dann die Partei“, also zuerst die Regierungsfähigkeit für das deutsche Großkapital, kommt an ihr Ende. Die SPD wird bald nicht mehr gebraucht, höchstens vielleicht als eine weitere Juniorpartnerin der Union.

Diejenigen, die diesem Procedere nicht zuschauen wollen, müssten eigentlich in der Partei und vor allem in den Gewerkschaften auf die Barrikaden gehen. Selbst der ehemalige SPD-Finanzminister, Vizekanzler und Großkoalitionär, Peer Steinbrück, fordert jetzt eine Wende nach links. Allein, die SPD hofft offenbar, dass ihr die CDU die Aufgabe abnimmt, die Große Koalition aufzukündigen. Die versprochene Erneuerung wird derzeit mit jeder Wahl und von jedem Regierungssachzwang zermalmt, so dass „gute“ Ideen wie die „Abkehr“ vom Hartz-IV-System kaum in die Öffentlichkeit kommen, geschweige denn das Handeln der Partei irgendwie beeinflussen. Auch die Gewerkschaftsführungen müssten sich eigentlich die Frage stellen, ob sie dem langsamen Siechtum „ihres“ parlamentarischen Arms weiter zusehen wollen oder noch ein subjektives Interesse daran haben, dass die SPD zumindest „konkurrenzfähig“ erscheint. Die Krise und der politische Niedergang der Sozialdemokratie sind anscheinend so tief, ihre Konzept- und Perspektivlosigkeit ist so groß, dass sie wie paralysiert darauf zu warten scheint, mit der Großen Koalition gleich mit zu Grabe getragen zu werden.

Bewegung auf der Straße

Die aktuelle Krise der Regierung sollte von uns genutzt, nicht nur abgewartet werden.

Mit den Demonstrationen der letzten Wochen in Hamburg (Welcome United), gegen die Rodung vom Hambacher Forst (#hambibleibt), den Seebrücke-Demos, den Mobilisierungen gegen AfD und Nazis, gegen die Polizeiaufgabengesetze haben sich viele Hunderttausend gegen den Rechtsruck und Rassismus positioniert. Es ist nun gerade die Aufgabe der Linken, der Organisationen der ArbeiterInnenklasse, dies mit mehr Inhalt zu füllen. Dass sich die Gewerkschaften und Massenparteien wie DIE LINKE vor dieser Aufgabe drücken, ist nicht die Schuld des „breiten“ Protestes auf der Straße, sondern zeigt deren politisches Unvermögen an.

Hier wäre es wichtig, auf (Folge)-Konferenzen von #unteilbar den antirassistischen Kampf zu verallgemeinern, ihn mit den „anderen“ sozialen Kämpfen zusammenzuschweißen und gemeinsame Initiativen zu entwickeln. Wohnungsnot, schlechte Ausstattung des Bildungsbereichs, anstehende Privatisierungen des öffentlichen Dienstes, weitere Verschärfung der inneren Repression durch Landesgesetze, Aufrüstung und Kriegspolitik, eine drohende neue wirtschaftliche Krise – all dies kann zusammengeführt werden in den lokalen Kämpfen wie auch in bundesweiten Mobilisierungen.

Es ist nicht zwingend, dass eine Massendemonstration mit Hunderttausenden ins politische Fahrwasser der Grünen und NGOs geführt wird, es bei einem einmaligen Ereignis bleibt und bei einer vagen Plattform ohne konkrete Forderungen und Kampfmethoden. Doch die Aufgabe, eine solche Ausrichtung in die Bewegung zu tragen, können RevolutionärInnen nicht an andere delegieren. Es ist notwendig, dass dazu alle Kräfte der „radikalen Linken“, die für ein Aktionsbündnis gegen den Rechtsruck und die Angriffe der Regierung eintreten, gemeinsam versuchen, die Massenorganisationen zur Aktion zu zwingen.




Gesundheit: Stückwerk Pflegepolitik

Jürgen Roth, Neue Internationale 233, November 2018

Der Pflegenotstand spitzt sich zu. Bis zum Jahr 2035 werden 4 Millionen Menschen in Deutschland auf Pflege angewiesen sein. Die Zahl der Pflegefachkräfte müsste bis dahin um 44 % steigen. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) konnten sich bis zum 30. Juni 2018 nicht auf Personaluntergrenzen auf sog. pflegesensitiven Stationen einigen, die Anfang 2019 in Kraft treten sollten. Laut einer Gesetzesänderung von 2017 müsste jetzt eigentlich das Bundesgesundheitsministerium eine Verordnung dazu erlassen. Wahrscheinlicher ist aber eine Zwangsschlichtung.

Eine Einbeziehung von PatientInnenorganisationen und Gewerkschaften in die Verhandlungen erfolgte nicht. Für die Ermittlung der Untergrenzen sollen die personell am schlechtesten besetzten 25 % der Krankenhäuser als Maßstab bestimmt werden – eher ein Anreiz zum Stellenabbau in den übrigen 75 % als zur Personalaufstockung! GKV und DKG haben sich zudem nur auf 6 Fachabteilungen mit Untergrenzen einigen können. Der Entwurf des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn von Ende August sieht sogar nur 4 vor! Ver.di bemängelt außerdem, dass die Quote für Hilfskräfte zu hoch sei und für den Nachweis der Einhaltung der Mindestbesetzung nur ein monatlicher Durchschnittswert reichen soll.

Mogelpackung I: Koalitionsvertrag

Das Grundlagenwerk der Großen Koalition sieht für die Altenpflege eine gesetzlich geregelte Personalbemessung vor. Ein Sofortprogramm soll zeitnah 8.000 Stellen schaffen, Spahn kündigte 13.000 an. In 13.000 Einrichtungen fehlen aber 63.000! Gibt’s denn wenigstens bessere Löhne? Die Tarifverträge sollen zwar flächendeckend zur Geltung kommen. Es fehlt aber jede Angabe, welcher Leittarifvertag zugrunde liegen und wie er für allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Ver.di verhandelt seit 28. September bisher nur mit nichtkirchlichen Trägern der Altenhilfe. Sollen Caritas und Diakonie davon ausgenommen werden?

Für die Krankenhauspflege stellt der Koalitionsvertrag die Systematik der Untergrenzen nicht in Frage, will sie aber im Gegensatz zur bisherigen, aber unwirksamen Einigung wenigstens in diesem Punkt zwischen GKV und DKG und zu Spahn auf alle bettenführenden Bereiche anwenden. Doch deren Verhandlungen sind gescheitert. Eine politische Regelung ist nicht vorgesehen. Wie viele Stellen geschaffen werden sollen, darüber schweigt sich die GroKo aus. Pflegewissenschaftler Michael Simon errechnet einen Bedarf von 100.000. Dem steht ein Gutachten von 6.000 gegenüber, das in den Verhandlungen zwischen DKG und GKV eine Richtschnur darstellte.

Die Krankenhausinvestitionen, von den Ländern zu tragen, sollen lediglich „deutlich erhöht“ werden. Woher die Mittel kommen sollen, wird nicht gesagt. Steuererhöhungen werden aber ausgeschlossen!

Mogelpackung II: Spahns „Reformen“

Spahns Pflegepersonal-Stärkungsgesetzentwurf (PpSG) beinhaltet ein paar Verbesserungen wie die vollständige Refinanzierung zusätzlicher Pflegestellen, Tariferhöhungen und Ausbildungsvergütungen. Zudem sollen ab 2020 die Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (DRGs) herausgerechnet werden. Doch das führt nicht automatisch zu mehr Pflegepersonal – ebenso wenig wie das Pflegestellenförderprogramm, dessen Mittel 2016 und 2017 von den Krankenhäusern nur etwa zur Hälfte abgerufen wurden. Ohne verbindliche Vorgaben zur Personalausstattung wird das nichts. In einem komplizierten, bürokratischen Verfahren soll bis Mitte 2020 für jedes Krankenhaus das Verhältnis von Pflegekräften zu Pflegeaufwand errechnet werden. Dieses orientiert sich jedoch nicht am tatsächlichen Pflegeaufwand, sondern an vorgegebenen Kostengrößen. Kliniken, die am schlechtesten abschneiden, sollen durch finanzielle Abschläge sanktioniert werden. Es steht außerdem zu befürchten, dass für die Pflegepersonalleistungen Pflege-DRGs eingeführt werden, die viel subtiler und wirksamer als generelle Fallpauschalen den Rationalisierungswettbewerb in der Pflege anheizen sowie die Konkurrenz zwischen ÄrztInnen und Pflegekräften steigern.

Seit 11. Oktober 2018 gilt die Verordnung über Pflegepersonaluntergrenzen (PpUGV) in den Bereichen Geriatrie, Unfallchirurgie, Kardiologie und Intensivmedizin. Kurz vor deren Inkrafttreten wurde sie noch einmal zugunsten der KlinikbetreiberInnen verwässert. Nicht ab 2019, sondern erst ab 2021 gilt der geplante Personalschlüssel auf Intensivstationen, der sich sowieso schon am schlechtest besetzten Viertel aller Intensivpflegeeinrichtungen orientiert. Zudem ist z. B. im Nachtdienst der Geriatrie eine hohe Quote an Nichtfachkräften zugrunde gelegt worden (40 %). Die Einhaltung der Personaluntergrenzen gilt zudem nur im statistischen monatlichen Durchschnitt. Überdies bleibt undurchsichtig, ob Stationsdienstleitungen auf die Arbeit am Krankenbett angerechnet werden. Zudem gibt es kein Verbot, Personal- und Patientenverlagerungen zu verhindern. Mal eben schnell Herrn Meier von Intensiv auf Intermediate Care (IMC) verlegt, Schwester Alice aus der Inneren Medizin zur Aushilfe auf die Kardiologie beordert – schon wird die PpUGV eingehalten!

Ver.di fordert gegenüber der Mogelpackung PpUGV zu Recht: Minimalbesetzungen müssen vollständig durch Pflegefachkräfte abgedeckt, unbedingt schichtbezogen, also täglich eingehalten werden. Zudem muss es für alle bettenführenden Stationen eine gesetzliche Pflegepersonalregelung (PPR) geben, die bedarfsorientiert ausfällt und sich auf pflegewissenschaftlich fundierte Personalbemessungsinstrumente stützt. Das Problem der Gewerkschaft liegt nicht in diesen Forderungen, sondern im ausbleibenden Kampf dafür!

Arbeitsbedingungen in der Pflege

Die Zahl der 2019 neu eingestellten Pflegekräfte dürfte die Grundlage für den Pflegefonds ab Mitte 2020 abgeben. Doch angesichts der miesen Arbeitsbedingungen und Bezahlung fliehen viele Beschäftigte aus ihrem Beruf, was die Zahl der Neueinstellungen mangels Fachkräfteangebots niedrig halten dürfte. So „reguliert“ der Pflegenotstand selbst die angeblichen Mittel zu seiner Bekämpfung wie PpSG und PpUGV bestenfalls auf ein Aufhalten von weiteren Verschlechterungen!

Beschäftigte in der Krankenpflege stehen unter hohem psychischen Druck. Auf 100 AOK-Versicherte entfallen jährlich durchschnittlich 17,6 Krankheitstage auf psychische Erkrankungen (Durchschnitt aller Versicherten: 11,2). EmpCARE-Training und einjähriges Coaching sind rührige, aber letztlich unzureichende Versuche zu deren Bekämpfung, ist doch deren „empathischer Kurzschluss“ Resultat hoffnungsloser Unterbesetzung und extremer Arbeitshetze!

Laut „Neues Deutschland“ (20. Juni 2018, S. 6) liegt der bundesweite Stundendurchschnittslohn bei 16,97 Euro; in der Altenpflege verdienen examinierte (!) Kräfte 14,24 Euro, in der Krankenpflege 16,23 Euro. HelferInnen kommen auf höchstens 11,49 Euro. Ganz im Gegensatz zum Bundestrend erfolgt im Gesundheitswesen geradezu eine Flucht in die Leiharbeit, erklärlich angesichts Pflegenotstands und schlechter Bezahlung! Oft verdienen sie dort gleich viel wie als Angestellte, manchmal mehr, können sich die Dienstzeiten eher aussuchen als in festem Arbeitsverhältnis, müssen aber bezüglich ihres Einsatzorts äußerst flexibel sein. Von den regulär Angestellten werden sie einerseits als Entlastung empfunden, andererseits müssen sie für sie auf weniger Schichten nach Wunsch ausweichen und die Zeitarbeitskräfte neu eingearbeitet werden. Eine kollektive Interessenvertretung ist zudem erschwert. Im Vergleich zum Niveau tarifgebundener Einrichtungen ist der Leiharbeitslohn aber immer noch mies. Für diese Häuser ist Leiharbeit zwar ein finanzielles Minusgeschäft (das Zeitarbeitsunternehmen verdient ja noch mit), aber offenbar ist ihnen das noch lieber, als die Arbeitsbedingungen generell zu verbessern. Noch 2005 waren 3.000 Zeitarbeit„nehmer“Innen in den Gesundheits- und Pflegeberufen eine vernachlässigbare Größe, im Dezember 2017 hatte sich deren Zahl verzwölffacht auf ca. 38.200!

Finanzierungssystem und Marktwirtschaft

Spahn will den Zusatzbeitrag der GKV senken (von 1,0 auf 0,9 %), den Pflegeversicherungsbeitrag ab 1. Januar 2019 aber um 0,5 % erhöhen und überdies Hand an ihre finanziellen Reserven legen (momentan bei 20 Mrd. Euro, etwas mehr als einer Monatseinnahme). Die Kassen beklagen zusätzliche bürokratische Auflagen, die ihren Wettbewerb um (zahlungskräftige, junge und gesunde!) neue Mitglieder einschränken, sowie Ausgaben, die ihnen durch zukünftige Finanzierung nachgewiesener Krankenhausselbstkosten (einzig positiver Bestandteil der Mogelpackung II von außerdem wohl geringer Zeitdauer und Reichweite aufgrund geplanter Pflege-DRGs und Berufsflucht) entstehen würden. Zusätzliche Vergütungen für niedergelassene ÄrztInnen (Terminservice- und Versorgungsgesetz), Kofinanzierung „versicherungsfremder“ Leistungen durch ihre Mitglieder (wie die andauernd höheren Ausgaben als die vom Bund zugewiesenen Pauschalen für ALG-II-EmpfängerInnen) sind diesen ehemaligen Hilfskassen der organisierten ArbeiterInnenbewegung, die längst zu Gesundheitsunternehmen mutiert und vollständig in die kapitalistische Marktlogik integriert sind, ein Dorn im Auge.

Die Reaktion der Krankenkassen richtet sich jedoch nicht gegen den Balken im Kopf des Gesundheits(un)wesens: das kapitalistische Profitprinzip, im Krankenhaus symbolisiert durch DRGs! Diese nutzen die Kliniken zur Steigerung ihrer Einnahmen. Wie lange die Verweildauer für eine/n PatientIn ausfällt, richtet sich nicht mehr allein danach, wie krank sie/er ist, sondern wie gewinnbringend sich ihre/seine Behandlung abrechnen lässt. Dies führt zu einer Selektion nach Profitabilitätskriterien von schwer kranken Menschen, zu vorzeitigen „blutigen“ Entlassungen, also Unterversorgung einer-, Überversorgung andererseits. „Profitable“ Fälle werden kreiert: 85 % aller Bandscheibenoperationen gelten als medizinisch unnötig, Unfallopfer mit chronischen Beschwerden werden dagegen rasch entlassen. Der Spitzenverband der GKV schlägt gegen diese ihn teuer zu stehen kommende medizinische Irrationalität Pflästerchen vor, die der gleichen Profitlogik gehorchen: „Pay for Performance“, „Selektivverträge durch Marktpreise“. Senken diese wirklich ihre Ausgaben, dann doch wohl gerade auf Kosten der unterversorgten Kranken!

Wer soll das bezahlen?

Es ist also sicher, dass das, was diese „Reform“ideen bei ihrer Umsetzung an geringfügigen Verbesserungen brächten, von den Versicherten, also Lohnabhängigen und RentnerInnen, aufzubringen sein wird. Die Pflegeversicherung übernimmt als Teilversicherung nur einen Kostenanteil, den Rest zahlen HeimbewohnerInnen bzw. Angehörige. Die Zusammenfassung des Kassendschungels zur GKV-Einheitskasse, die Aufhebung der Konkurrenz gegeneinander; dringend notwendiger Umbau zu einer Pflegevollversicherung; eine GKV-Versicherungspflicht für alle bei Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen; eine progressive Gewinn- und die Einführung einer Vermögenssteuer zur Investitionsfinanzierung durch die Bundesländer – all diese für ein rationelles Gesundheitswesen unverzichtbaren Maßnahmen sind gar nicht erst angedacht. Ein Umbau des Gesundheitswesens mittels Umverteilung von oben nach unten fehlt vollständig. Der Pflegenotstand wird so nicht bekämpft, sondern festgeschrieben!




Mietenproteste: Immobilienkonzerne enteignen!

Lucien Jaros, Neue Internationale 233, November 2018

Das Bündnis „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ hat nicht weniger als „ein Gesetz zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Art. 15 Grundgesetz“ zum Ziel. Der Berliner Senat soll per Volksentscheid beauftragt werden, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden.

Die Praxis hat gezeigt, dass weder Mietpreisbremse noch Wohnraumversorgungsgesetz die steigenden Mieten effektiv eindämmen. So kommt der Senat der Berliner Verfassung nicht nach, ausreichend bezahlbaren Wohnraum (Art. 28) bereitzustellen.

Immobilienfirmen inklusive Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder sonstige angeschlossene Unternehmen mit einem Bestand von über 3000 Wohnungen in ihrem Besitz sollen enteignet, in einer Anstalt des öffentlichen Rechts zusammengefasst, unter Verwaltung der MieterInnen, der Angestellten, VertreterInnen der Landesregierung, der Stadtgesellschaft und der anderen landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften gestellt und Wohnraum zu unterdurchschnittlichen Mieten angeboten werden. Eigentlich sollten die Unternehmen entschädigungslos enteignet werden. Doch dies würde den Volksentscheid im Voraus rechtlich ungültig machen. Daher hatte sich das Bündnis entschlossen zu fordern, dass die Unternehmen unter Marktwert entschädigt werden sollen. Ausgenommen von dieser Regelung sind Mietobjekte, die bereits unter Kontrolle der MieterInnen stehen oder genossenschaftlich verwaltet werden.

Durch günstigen Wohnraum soll die ortsübliche Vergleichsmiete reduziert und die Preisspirale gemindert werden. Auch soll damit Berlin als Spekulationsobjekt für Immobilienfirmen, InvestorInnen und Banken weniger attraktiv erscheinen. Schließlich war es dieser Umstand, der in der Vergangenheit zu explodierenden Mieten geführt hat.

Erhöhung der Kosten für Miete für Arbeitslosengeld-II-(Hartz-IV)-BezieherInnen, im sozialen Wohnungsbau oder durch öffentlich-private Partnerschaften führt zwangläufig dazu, dass das Privatkapial durch Steuermittel subventioniert wird. Damit ist Enteignung das einzige Mittel, diese Entwicklung aufzuhalten.

Start der Initiative

Gestartet wurde die Initiative von AktivistInnen vergangener Volksbegehren, MieterInneninitiativen und linken Gruppen. Das Feedback ist groß: VertreterInnen des Bündnisses werden wöchentlich als GastrednerInnen oder ReferentInnen geladen. Die letzte Veranstaltung des Bündnisses am 25. Oktober war mit 140 Leuten übervoll, das Treffen musste per Video-Konferenz in einen weiteren Raum übertragen werden.

Die Initiative stößt auf großen Zuspruch. Bei einer Veranstaltung in Spandau, in einer der größten Deutsche-Wohnen-Siedlungen im Falkenhagener Feld reagierten die 150 MieterInnen auf die Enteignungsforderung mit minutenlangen stehenden Ovationen! Selbst in konservativen Wohngegenden in Wilmersdorf-Charlottenburg ergaben Umfragen bei CDU-WählerInnen eine mehrheitliche Zustimmung. Unterstützt wird das Bündnis durch politische Gruppen wie die Interventionistische Linke, die SAV, marx21, die Gruppe ArbeiterInnenmacht und Teile der Linkspartei. Sogar einzelne SPD-PolitikerInnen sympathisieren mit der Kampagne. Eine Unterstützung durch Teile der Berliner Grünen, ver.di und den DGB ist wahrscheinlich.

Neben Artikeln beim Tagesspiegel, in der Berliner Zeitung, im Neuen Deutschland und Sendungen im RBB äußern sich langsam auch die politischen GegnerInnen: der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) brandmarkt die Kampagne als „populistische Stimmungsmache“. Sebastian Czaja, Vorsitzender der FDP im Berliner Abgeordnetenhaus, hält die Enteignungsforderungen für „inflationäre Parolen (…) in Klassenkampf-Manier“. Auch die Berliner AfD lehnt die Enteignung kategorisch ab und sieht darin einen Eingriff in die „Freiheit“.

Die positive Resonanz bei der Masse der MieterInnen auf der einen und die kritische von VertreterInnen bürgerlicher Parteien und Immobilienfirmen auf der anderen Seite zeigen, dass die Enteignungsforderung die Interessen der lohnabhängigen MieterInnen klar zum Ausdruck bringen, durch ihr Potenzial realistisch sind und gerade keine populistische Forderung darstellen, die das Problem mit scheinbaren Heilmitteln umgehen.

2019 wird die erste Stufe der Kampagne gestartet: das Volksbegehren. Benötigt werden zunächst 20.000 Unterschriften. Die Gruppe ArbeiterInnenmacht ruft alle Gruppen und Einzelpersonen dazu auf, diese Bewegung zu unterstützen und bekannter zu machen. Bringt Euch mit Euren Fähigkeiten ins Bündnis oder in den verschiedenen AGen ein! Baut MieterInneninitiativen bei Euch im Kiez auf, um für das Volksbegehren und zukünftige Aktionen zu mobilisieren! Diese Bewegegung und die richtige Orientierung auf Enteignung unter eigener Kontrolle könnte nicht nur eine praktische und signifikante Verbesserung der Lebensqualität der EinwohnerInnen darstellen, sondern im Sinne einer Verallgemeinerung dieser Logik in andere gesellschaftliche Lebensbereiche hinein ein Schritt sein, die Stadt im Sinne der BewohnerInnen zu erobern. Eine solche Bewegung könnte, wenn sie stark genug wird, zugleich auch erzwingen, dass die Enteignung ohne die gesetztlich geforderte Einschränkung, also entschädigungslos erfolgt.

 

Deutsche Wohnen und Co. enteignen

Nächstes offenes Bündnistreffen

Berlin, 13. November, 19.00 Uhr

Nachbarschaftshaus Urbanstraße 21




Klima und Kapital: Die K-Frage stellen!

Martin Suchanek, Neue Internationale 233, November 2018

In den letzten Wochen gingen Zehntausende gegen die „Klimapolitik“ der Kohleindustrie und der Bundesregierung auf die Straße:

  • 50.000 demonstrierten am 6. Oktober am Hambacher Forst gegen die Rodung des Waldes und die Braunkohleverstromung. Schon zuvor hatten AktivistInnen trotz brutalen Polizeieinsatzes, bei dem ein Journalist ums Leben kam, den Wald besetzt und gegen die drohende Abholzung verteidigt. Unterstützt wurden sie dabei von der Bevölkerung der Region und regelmäßigen Waldspaziergängen.
  • Ende Oktober versuchte „Ende Gelände“, noch ein Zeichen zu setzen, indem der Tagebau von RWE blockiert wurde – auch das trotz massiver Repression, Festnahmen und Drohungen.
  • Für den 1. Dezember sind bundesweite Großdemonstrationen geplant. Sie sollen die scheinheilige Politik der sog. „Kohlekommission“ und des UN-Klimagipfels anprangern, der Anfang Dezember in Polen tagen und dort – schon jetzt absehbar – vor allem heiße Luft produzieren wird.

Der Kampf gegen die heuchlerische „Umweltpolitik“ der Bundesregierung nimmt offenkundig wieder Fahrt auf. Die Große Koalition macht’s nötig. Woche für Woche werden wir mit ihrer aberwitzigen „Klima- und Energiepolitik“ konfrontiert. Beim Diesel-Skandal stehen die Profitinteressen der Automobilkonzerne im Fokus der Ministerien. Jede neue „Lösung“ soll den Schaden begrenzen – natürlich nicht jenen der AutokäuferInnen oder der Bevölkerung in den Großstädten, die unter immer mehr Abgasen leiden muss. Bedient werden vor allem die Konzerne, die Verursacher, die sich „aussuchen“ können, ob sie an der Beseitigung des von ihnen angerichteten Schadens mitwirken oder nicht.

Ebenso kapitalfreundlich agiert die „Kohlekommission“. Nach der Aussetzung der Rodung des verbliebenen Waldstückes am Hambacher Forst rechnet RWE stellvertretend für alle anderen Energiemonopole vor, dass jedes Jahr eines „frühen“ Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung „teuer“ wird – sei es für die Haushalte, also die Masse der Bevölkerung in Form steigender Strompreise, oder für den Staat, also die SteuerzahlerInnen, in Form von „Entschädigung“ für entgangene Monopolprofite.

In jedem Fall sollen die Lohnabhängigen die Zeche der Konzerne zahlen.

Obwohl die Prognosen der globalen Erwärmung und der verheerenden Auswirkungen für das Weltklima, somit die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit, immer bedrohlicher und dramatischer werden, kennzeichnet die internationale Politik Stagnation. Mittlerweile ist nicht einmal mehr die Verabschiedung hochtrabender „Klimaziele“ selbstverständlich.

Die zunehmende internationale Konkurrenz und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt blockieren auch die „Klimapolitik“, machen alle ihre Ziele, alle Versprechungen einer „grünen“ Wende letztlich zur Makulatur. Bei der „Umweltpolitik“ geht es vor allem darum, anderen – sei es der imperialistischen Konkurrenz, vor allem aber den Ländern der sog. Dritten Welt und der arbeitenden Bevölkerung – die Kosten dieser Politik aufzuhalsen.

Die USA unter Donald Trump sind ohnedies längst aus den Klimaschutzabkommen ausgestiegen und betrachten Fracking und andere umweltschädliche Technologien als Konkurrenzvorteil. Bolsonaro, der neu gewählte, halbfaschistische Präsident Brasiliens, will den Amazonas zur Abholzung freigeben.

All das zeigt eindeutig: Klima- und Umweltschutz scheitern regelmäßig an den Konzerninteressen! Das Privateigentum an Produktionsmitteln und der Imperialismus müssen ins Visier genommen werden, wenn die Frage gelöst werden soll.

Ansonsten droht nicht nur, dass die Probleme weiter verschleppt oder auf illusorische Bahnen gelenkt werden wie z. B. den sog. „Green New Deal“ und die Bevölkerung für die bürgerliche Umweltpolitik zahlen muss. In den letzten Wochen konnten wir auch bemerken, dass es RWE – unter großzügiger Mithilfe der IG BCE und der lokalen SPD – gelang, tausende BergarbeiterInnen gegen die Umweltbewegung in Stellung zu bringen. Das kann nur verhindert werden, wenn die Gewerkschaften und die Linke für die entschädigungslose Enteignung der Konzerne unter ArbeiterInnenkontrolle kämpfen und dafür, dass die Beschäftigten im Bergbau bei vollen Bezügen weiterbeschäftigt werden. Ihr Wissen kann einen wertvollen Beitrag zum rationalen Umbau des Energiesektors gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft und ökologischer Nachhaltigkeit liefern. Vor allem aber kann so einer falschen Frontstellung entgegengewirkt werden – nicht nur am Hambacher Forst, sondern auch in der Lausitz und in der gesamten Branche.

Daher schlagen wir folgende Eckpunkte einer Klimapolitik vor, die diese mit einer klassenkämpferischen Perspektive verbinden:

  • Solidarität mit den BesetzerInnen und „Ende Gelände“! Nein zu jeder Repression gegen die Bewegung! Organisierte Gegenwehr gegen Räumungsversuche von Aktionen! Keine Räumung des Forsts und der umliegenden Gemeinden! Massenaktionen gegen RWE und Kohleindustrie! Bundesweite Aktionskonferenz zur Durchsetzung des organisierten, geplanten Kohleausstiegs!
  • Für die ökologischen Katastrophen ist die herrschende Klasse verantwortlich – daher soll sie für die Schäden aufkommen! Entschädigungslose Enteignung der Energie- und Transportindustrie unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für den schnellstmöglichen organisierten Ausstieg aus der fossilen Energiegewinnung und den Einstieg in klimaneutrale Erzeugung im Rahmen eines rationalen Gesamtenergieplans unter ArbeiterInnenkontrolle! Für einen solchen Plan auf europäischer und weltweiter Ebene, der Verkehr, Industrie, Haushalte, Strom- und Wärmegewinnung integriert!
  • Weg mit dem Emissionsrechtehandel und der blinden Subventionierung von „regenerativer Energie“! Den Marktmechanismen setzen wir das bewusste, planmäßige Eingreifen in die Produktion entgegen. Für die Förderung von Energie und Ressourcen sparenden Techniken, bezahlt vom Kapital!
  • Für ein globales Programm zur Wiederaufforstung von Wäldern, der Renaturierung von Mooren und zum Schutz des Bodens und der Meere als CO2-Senken! Entschädigungslose Enteignung von LandbesitzerInnen, nachhaltige Bewirtschaftung unter Kontrolle der ArbeiterInnen und BäuerInnen!
  • Für Forschung nach neuen Energien wie Kernfusion und zur Lösung der Speicherproblematik der erneuerbaren Energien, zur Minimierung bzw. Beseitigung des Schadstoffproblems (Atommüll) unter ArbeiterInnenkontrolle und auf Kosten der Energiekonzerne!
  • Gegen die Spaltung von Umweltbewegung und Beschäftigten in umweltgefährdenden Betrieben! Umschulung und neue Arbeitsplätze zu gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen! Gegen prekäre Beschäftigung in der Branche erneuerbarer Energien: gleiche Bedingungen für alle Beschäftigten in Windkraft-, Solarbetrieben wie für jene in Bergbau, AKWs und bei den Stromkonzernen!



Hetze gegen linke SchülerInnen und LehrerInnen: AfD eröffnet Denunziationsportal

Jan Hektik, Neue Internationale 233, November 2018

Mit dem Neutralitätsgebot der Schule und dem Beutelsbacher Konsens, der eine neutrale Darstellung vorschreibt, kämpfen Linke an der Schule seit Ewigkeiten. Ob als SchülerIn, der/die einen Vortrag halten möchte, in dem ein Rätesystem tatsächlich behandelt wird, oder als Lehrkraft, die zu antifaschistischen Protesten aufrufen will – immer wird es einem vorgehalten. Doch was seit kurzem von der AfD initiiert wurde, ist neu.

Ihr Hamburger Landesverband hatte die Plattform „Neutrale Schule“ gestartet. Diese soll SchülerInnen und Lehrkräften ermöglichen, LehrerInnen zu melden, die sich kritisch über diese Partei äußern. Nach Hamburg planen die RechtspopulistInnen, die Plattform in 9 weiteren Ländern an den Start zu bringen: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

In Berlin war sie bereits online, während in Brandenburg (noch) „technisch-juristische“ Probleme zu lösen waren. Zur Rechtfertigung ihrer Kampagne führt die AfD unter anderem die „Zustände“ an der Paul-Schmidt-Schule in Lichtenberg an. Dort habe eine Unter-18-Wahl unter SchülerInnen stattgefunden, bei der sogar die FDP, nicht jedoch die AfD behandelt worden wäre. Dabei verschweigt die Partei geflissentlich, dass sie nicht aufgeführt wurde, weil sie auf die Anfrage, Informationen für die Wahl zur Verfügung zu stellen, nicht antwortete und deshalb nicht einbezogen wurde.

Widerstand dagegen gibt es bislang vor allem von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Nachdem juristisch wahrscheinlich wenig gegen das Portal auszurichten ist, hat die GEW dazu aufgerufen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Weiter als diese eher schwache Maßnahme ging die Aktivität von Lehrkräften und LehrerInnen in der Ausbildung. In Hamburg musste die Plattform zeitweise geschlossen werden, da massive Fake-Anzeigen eingingen und die Seite mit riesigen Uploads lahmgelegt wurde. Auch haben sich diese in Massen selbst auf den Seiten angemeldet. Auf der Website „Change.org“ wurde unter dem Motto „Mein Lehrer fetzt“ eine Petition an die Kultusministerkonferenz initiiert. Diese ist zwar nicht sonderlich aussagekräftig, erklärt sich aber solidarisch mit AfD-kritischen Lehrkräften.

Ziele der Rechten

Diese Plattformen sind jedoch nur ein Teil des Versuchs der AfD, auf Schulen einzuwirken. Im Landtag von Sachsen-Anhalt hat sie beantragt, die Landesmittel für das Projekt „Schule ohne Rassismus“ zu streichen, weil „dieses Netzwerk doch stark genutzt wird, um Stimmungsmache gegen demokratisch gewählte Parteien – in dem Fall gegen unsere Partei – zu betreiben“, wie Fraktionschef Oliver Kirchner gegenüber dem Deutschlandfunk erklärte.

Mit ihren Kampagnen verfolgt die AfD mehrere Ziele:

  • Einschüchterung linker und aller AfD-kritischen LehrerInnen und SchülerInnen
  • Disziplinarmaßnahmen gegen Beschäftigte
  • Kontakt zu rechten SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen, um so selbst Strukturen aufzubauen.

Daher werden Petitionen oder auch das Lahmlegen von Servern auf die Dauer wirkungslos bleiben. Notwendig ist offensiver und kollektiver Widerstand gegen die rechtspopulistische Denunziation. Versammlungen der Beschäftigten, SchülerInnen und Eltern sollten sich gegen die AfD-Plattform stellen, über deren reaktionären Charakter an der Schule aufklären und zugleich einen Kampf gegen die Einschränkung politischer Betätigung und Meinungsfreiheit an den Schulen aufnehmen.

Dass sich die AfD auf das „Neutralitätsgebot“ an den Schulen beruft, ist darüber hinaus bis zu einem gewissen Grad selbst eine Farce, weil sie so einen Freibrief für Rassismus, Hetzpropaganda und DenunziantInnentum erhalten will.

Aber das Neutralitätsgebot und der Beutelsbacher Konsens sind zugleich auch Einschränkungen linker politischer Betätigungsfreiheit an den Schulen. Sie richten sich auch gegen das Verteilen von Flugblättern linker Jugendgruppen, antirassistische oder antifaschistische Propaganda an den Schulen. Schließlich können solche Gesetze auch gegen offen politische Aktivitäten von Gewerkschaften, das Aufrufen zu politischen Protestkundgebungen während der Schulzeit herangezogen werden – und sei es nur zum Zweck der Einschüchterung.

  • Nein zum AfD-Denunziationsportal! Weg mit allen Einschränkungen freier politischer Betätigung für LehrerInnen und SchülerInnen!
  • Versammlungen der LehrerInnen und sonstigen Beschäftigten, der SchülerInnen und Eltern, um eine gemeinsame Kampagne gegen die AfD, Rechtspopulismus und Rassismus zu organisieren!



100 Jahre Novemberrevolution: Revolution und Tragödie

Tobi Hansen, Neue Internationale 230, November 2018

Für das deutsche BürgerInnentum bildet die Novemberrevolution von Beginn an eine zwiespältige Angelegenheit, offenbart sie doch, dass Krieg, Militarismus und Monarchie gegen es beendet werden mussten. Es war eine, wenn auch auf halbem Wege stecken gebliebene Revolution, die zur Weimarer Republik und einer bürgerlich-demokratischen Verfassung führte, die weder das BürgerInnentum, geschweige denn die Reaktion noch die revolutionären ArbeiterInnen gewollt hatten. Sie waren vielmehr Abfallprodukte der Revolution.

Kein Wunder also, dass in erster Linie die Sozialdemokratie, die selbst der Revolution die Spitze nahm, sich mit der Konterrevolution zur „Rettung der Republik“ verbündete, mit deren Ausgang identifizierte und als einzige Verteidigerin der „Demokratie“ inszenierte.

Der Aufstand der Matrosen in Kiel, der Soldaten an der Front wie auch die Demonstrationen, Streiks und Kämpfe der ArbeiterInnen seit 1917 werden nachträglich in das enge Korsett der „Entstehung“ der Weimarer Republik gezwängt. Deren proletarisch-revolutionäre, sozialistische Impulse und Zielsetzung werden in der sozialdemokratischen und liberalen Auffassung als letztlich hoffnungsloses Minderheitenprogramm dargestellt.

Demgegenüber wollen wir hier in Kürze versuchen, zentrale Lehren zusammenzufassen. Eine umfassendere Darstellung findet sich in Nummer 26 unseres theoretischen Journals „Revolutionärer Marxismus“.

Imperialismus, Krieg und ArbeiterInnenklasse

Der Erste Weltkrieg offenbarte den Charakter der imperialistischen Epoche. Aus dem Aufrüsten, dem Wettlauf um die Kolonien, dem Kampf der Monopole und Nationalstaaten um die Kontrolle der globalen Märkte entstand der erste industriell geführte Massenkrieg. Millionen krepierten als Kanonenfutter an der Front, wurden verwundet, während die Massen im Land hungerten. Diese Realität des Krieges, des entstehenden Elends nicht allein an der Front, sondern vor allem in der „Heimat“ zeigte aber auch, dass diese „Kriegsordnung“ auf Sand gebaut war. Hatten 1914 Nationalismus und Chauvinismus auch große Teile des europäischen Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft erfasst, so erschütterten die Erfahrungen des Krieges dieses Bewusstsein.

Die Zweite Internationale hatte schon im August 1914 vor dem entfesselten Nationalismus kapituliert. Die Resolutionen der internationalen Kongresse hatten zwar stets von Maßnahmen gegen den drohenden Krieg gesprochen, im Angesicht der Katastrophe war sie jedoch zu keiner Gegenaktion fähig. Im Gegenteil: Die führenden Parteien der europäischen und internationalen Sozialdemokratie wurden zu „Vaterlandsverteidigerinnen“, zur aktiven aktive Stütze einer „Burgfriedenspolitik“ für die Dauer des Krieges. Die Interessen der Massen und der Klassenkampf wurden den Kriegserfordernissen des jeweiligen „eigenen“ imperialistischen Regimes untergeordnet. Die KriegsgegnerInnen wie die Bolschewiki oder die Linken um Luxemburg in der deutschen Sozialdemokratie waren Teil einer kleinen Minderheit, die ihrerseits in revolutionäre InternationalistInnen einerseits, pazifistische oder gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie versöhnlerische Kräfte andererseits zerfiel. Der Imperialismus hatte dadurch schon zu Beginn des Krieges einen großen Sieg gefeiert, nämlich die Ausschaltung der Internationale.

Speziell an der „Heimatfront“ waren die Verwerfungen des Imperialismus und des Krieges spürbar. Massenhafter Arbeitszwang, die Ausschaltung demokratischer Rechte, der Einzug von politisch missliebigen Personen an die Front gehörten zum Alltag der ArbeiterInnenklasse. Die gesamte Produktion wurde den Kriegszwecken untergeordnet. Doch dagegen protestierten und revoltierten die ArbeiterInnen zunehmend, z. B. in Berlin mit einem Massenstreik in der Rüstungsindustrie im Januar 1918. Während sich die Lebensverhältnisse der ArbeiterInnenklasse wie auch der Bauern/Bäuerinnen und großer Teile des städtischen KleinbürgerInnentums massiv verschlechterten, konnten Großkapital und Großgrundbesitz noch höhere Gewinne einfahren.

Verelendung

Für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung hieß Krieg ein täglicher Kampf um Brot, Kohle und Lohn – die GroßagrarierInnen und KapitalistInnen bereicherten sich daran noch mit überteuerten Produkten immer schlechter Qualität. Die Realeinkommen sanken während des Krieges um 40 Prozent, der durchschnittliche tägliche Kalorienaufnahme fiel von 3400 am Beginn des Kriegs auf 1000 (!) im Jahr 1917. Zugleich wurden Arbeitsschutzbestimmungen aufgehoben, der Arbeitstag stieg auf 14 bis 17 Stunden. Nicht nur Proletariat und Bauern-/Bäuerinnenschaft fielen ins Elend, auch die Einkommen des Bildungsbürgertums (BeamtInnen, Angestellte) sanken beträchtlich. Zugleich stiegen die Profite der Großkonzerne. Allein die 16 wichtigsten Stahl- und Montanbetriebe konnten bis 2017 ihren Gewinn um durchschnittlich 800 % steigern. „Die Dividenden steigen, die Proletarier fallen,“ bemerkte Rosa Luxemburg zutreffend. Diese Entwicklungen bildeten den sozialen Ausgangspunkt der proletarischen Revolte.

Politisch spiegelte sich die Desillusionierung und Radikalisierung der Massen in einer Spaltung der Sozialdemokratie wider. 1916 entstand die USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) nach dem Ausschluss der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, die die Zustimmung zu den Kriegskrediten verweigerten. Im März 2017 zählte sie rund 120.000 Mitglieder (gegenüber etwa 240.000 der Mehrheitssozialdemokratie, MSPD, um Ebert).

Die „Gruppe Internationale“ um Liebknecht und Luxemburg formierte sich 1914, agierte allerdings noch bis 1916 in der SPD. Die unter dem Namen „Spartakusbund“ bekannte Gruppierung stellte mit anderen „Linksradikalen“ den Pol der entschlossenen, revolutionären KriegsgegnerInnen. Die Avantgarde der Klasse fand sich jedoch zum größten Teil in der USPD, darunter auch wichtige Anführer des Kieler Matrosenaufstandes und die „Revolutionären Obleute“, die schon die Januarstreiks initiiert hatten.

Der Revolution entgegen

Der Ausbruch der Novemberrevolution hatte sich schon lange angekündigt – und zwar nicht nur in Form von massiver Unzufriedenheit und Kriegsmüdigkeit der arbeitenden Bevölkerung.

Im April 1917 forderte eine Streikwelle eine Erhöhung der Brotrationen. Im Januar 1918 erschütterte ein politischer Massenstreik, der von den „Revolutionären Obleuten“ v. a. in den Berliner Rüstungsbetrieben organisiert worden war, das Land. Dieser wurde unter den Bedingungen der Illegalität gezielt vorbereitet, erhob neben sozialen auch politische Forderungen wie die nach sofortigem Frieden ohne Annexionen oder der Aufhebung des Belagerungszustandes. Auch wenn dieser Kampf in einer Niederlage enden sollte und tausende KämpferInnen an die Front versetzt wurden, wo viele als Kanonenfutter krepieren sollten, so wurden die Zeichen der revolutionären Gärung immer deutlicher.

Gleichzeitig war auch klar, dass das Deutsche Reich und seine Alliierten den Krieg nicht gewinnen konnten. Die Jännerstreiks in Österreich zeigten, dass das verbündete Habsburger Reich zu implodieren drohte. Die Russische Revolution drohte trotz des Friedens von Brest Litowsk auf Europa überzugreifen.

Doch die Oberste Heeresleitung, das eigentliche Machtzentrum während des Krieges, das Kaiser und Fürsten zur Staffage gemacht hatte und letztlich auch der parlamentarischen Mehrheit aus Fortschrittspartei, Zentrumspartei und Sozialdemokratie den Takt vorgab, wollte um jeden Fall eine Kapitulation vermeiden. Ludendorff, der politisch-strategische Kopf der Heeresleitung und der deutschen Reaktion, musste zwar erkennen, dass eine Niederlage nicht mehr abzuwenden war, die „Schande“ eines Waffenstillstands und etwaiger Friedensbedingungen der Alliierten sollte aber eine zivile Regierung entgegennehmen. Diese zweifelhafte Ehre fiel dann einer solchen unter der Sozialdemokratie zu, die sich der „Verantwortung“ nicht zu entziehen vermochte. Die Oberste Heeresleitung und Ludendorff waren dabei fein raus und strickten auf dieser Basis an der revanchistischen „Dolchstoßlegende“, der zufolge das Heer im Feld unbesiegt geblieben und von den ParlamentarierInnen, „ZivilistInnen“ und insbesondere den SozialdemokratInnen verraten worden wäre.

In Wirklichkeit holte die MSPD dem deutschen Kapitalismus die Kastanien aus dem Feuer. Sie drängte auf die Abdankung des Kaisers, um ihre Politik den Massen als Erfolg zu verkaufen. Ebert und Scheidemann war nur zu bewusst, dass nicht nur die Monarchie und der Krieg am Ende waren, sondern dass die Ereignisse auch sie hinwegspülen konnten.

Ausweitung

Der Kieler Matrosenaufstand vom 3.-11. November und die Ausweitung der Revolution innerhalb von nur wenigen Tagen auf das ganze Land zeigten, wie realistisch diese Gefahr war. Die Soldaten waren nicht mehr bereit, auf die ArbeiterInnenmassen zu schießen, die Revolution eroberte die Städte. Der MSPD-Führung um Ebert und Scheidemann war bewusst, dass sie ihre eigene Basis nur dann bei der Stange halten und der Revolution die Spitze abbrechen konnte, wenn sie sich selbst „revolutionär“ gab, also an die Spitze der Rätebewegung zu stellen versuchte.

Sie musste die Regierungsgewalt im Namen der Räte ausüben – oder sie drohte ihren Einfluss zu verlieren. Die MSPD sah sich gezwungen, um die Mehrheit in den ArbeiterInnen- und Soldatenräten zu kämpfen und diese zu organisieren. Geschickt manövrierte sie die USPD in eine Koalition, um somit alle ihre Maßnahmen von dieser links absichern zu lassen. In den Räten stützte sie sich letztlich auf eine Mehrheit, die sie vor allem über die politisch rückständigeren Soldaten sicherte.

So wie in Berlin, der Hauptstadt, verlief es auch in den meisten Städten. Die Räte übernahmen die formale Macht, praktisch als Ausschuss von MSPD und USPD. Oft wurden die ArbeiterInnenräte von den Parteivorständen nominiert und dann per Akklamation gewählt.

Die MSPD errang somit erste politische Siege Mitte November 1918. Sie konsolidierte ihre Machtstellung bei den Wahlen zum Reichsrätekongress im Dezember. Von den 489 Delegierten – 405 ArbeiterInnendelegierte und 84 Soldatenräte – waren 288 Mitglieder der MSPD, 90 der USPD, darunter 10 des Spartakusbundes. Weder Liebknecht noch Luxemburg waren gewählt worden und beiden wurde das Rederecht verweigert.

Ohne Partei und Programm kein Sieg

Der wichtigste Unterschied zur Russischen Oktoberrevolution bestand im Fehlen einer revolutionären Massenpartei mit entsprechendem Programm. Hatten die Bolschewiki 1917 mit den Leninschen Aprilthesen eine programmatische Neuausrichtung erfahren, sich auf den Kampf um die Räte konzentriert, so war die Lage bei den Räten der Novemberrevolution eine völlig andere. Speziell die Matrosen aus Wilhelmshaven und Kiel bildeten direkt Soldatenräte, nachdem sie den Befehl verweigerten, auf Geheiß der Admiralität eine aussichtslose Schlacht gegen die britische Marine zu führen, und orientierten sich an den russischen Soldatenräten und deren Erlässen gegen die Offiziere. Auch der „Zentrale Vollzugsrat“ in Berlin unter Führung der Revolutionären Obleute und USPD, die flächendeckend gewählten ArbeiterInnen- und Soldatenräte und später die Räterepubliken wie in Bremen und München orientierten sich organisatorisch am Beispiel der russischen Räte des Jahres 1917. Nur fehlte ihnen entscheidend das Programm zur Niederringung der Konterrevolution, eine Taktik gegen die MSPD wie auch eine Klarheit über die Rolle der Räte selbst und die Ziele der Revolution.

Rolle der USPD

Die USPD war eine zentristische Organisation, die zwischen Reform und Revolution, zwischen radikalem Kampf und Anpassung an die Mehrheitssozialdemokratie und, über diese vermittelt, an die Konterrevolution schwankte. Während die Führung der MSPD die sozialistische Revolution mit allen Mitteln verhindern wollte und in Zusammenarbeit mit dem Bürgertum und der Armee auch abwürgte, wollte die USPD-Spitze die Revolution, aber gewissermaßen nur halb.

Ideologisch zeigt sich das darin, dass ihre FührerInnen wie Kautsky Räte und Nationalversammlung miteinander kombinieren wollten. Die Doppelmachtsituation zwischen den (potentiellen) Machtorganen einer neuen Ordnung, den ArbeiterInnen- und Soldatenräten, und der verfassungggebenden Versammlung, die als Sammelpunkt und Symbol für die Konterrevolution diente, sollte verewigt werden, statt sie zu entscheiden.

Die Politik der USPD war umso tragischer, als die Revolutionären Obleute zwar subjektiv mehr und mehr zur Revolution drängten, aber in den ersten Revolutionsmonaten nicht den entscheidenden Bruch mit ihr vollzogen. Der Spartakusbund vereinigte sich mit den „Internationalen KommunistInnen Deutschlands“ (den „Bremer Linksradikalen“) und anderen KriegsgegnerInnen zur „Kommunistischen Partei Deutschlands“ (KPD). Letztlich kam diese Gründung (30. Dezember 1918-1. Januar 1919) zu spät. Die Partei selbst war noch politisch unreif, die Obleute konnten für die Gründung nicht gewonnen werden, der linke Flügel der USPD trat erst 1920 der KPD bei.

Die zentristische Politik der USPD und die Schwäche der KPD erleichterten der MSPD unter Ebert und Scheidemann, die Kontrolle über die ArbeiterInnen- und Soldatenräte zu erlangen und ihr Programm zur Niederhaltung der proletarischen Revolution im Bündnis mit Reichswehr und Großkapital umzusetzen.

Konterrevolutionäre MSPD

Die MSPD verfügte nicht nur über eine Mehrheit in den Räten. Im Unterschied zur USPD hatte sie auch ein klares, konter-revolutionäres Programm. Ebert, Scheidemann, Wels, Noske und andere sozialdemokratische Parteiführer spielten dabei auf mehreren Ebenen.

Einerseits verschleppten sie alle fortschrittlichen Entscheidungen, jede bedeutende Maßnahme gegen die Reaktion. Ein zentrales Mittel dabei war der ständige Appell an die „Einheit“ der ArbeiterInnenklasse und die Legendenbildung, dass der „undemokratische Radikalismus“ der Spartakus-Leute und der USPD-Linken (revolutionäre Obleute etc.) die Errungenschaften der Republik und den Frieden gefährden würden. Alle wichtigen Entscheidungen sollten auf die Konstituierende Versammlung vertagt werden. Schließlich sollte die „Minderheitenherrschaft“ der Räte der viel repräsentativeren Nationalversammlung, dem gesamtem Volk, nicht vorgreifen. Die USPD war politisch-ideologisch selbst nicht in der Lage, dem etwas entgegenzusetzen, da sie den konterrevolutionären Charakter der Nationalversammlung erst gar nicht begriff oder wahrhaben wollte.

Andererseits konspirierte die Sozialdemokratie mit den nach Berlin und in andere städtische Zentren zurückgeholten Truppen, der bürgerlichen und reaktionären Presse. Unter Führung der MSPD wurden dem alten, nach wie vor existierenden Beamten-, Polizei- und Militärapparat immer weiter gehende Zugeständnisse gemacht, so dass sich die konterrevolutionären Kräfte, darunter auch die erz-reaktionären Freikorps, konsolidieren konnten. Diese Politik beinhaltete „selbstverständlich“ wiederholte Provokationen gegen die Linken, die ArbeiterInnenräte und gegen die Matrosen, die zum Schutz der Revolution in Berlin eilten. Zugleich versäumten es die Linken – einschließlich der Obleute – die ArbeiterInnen politisch und organisatorisch auf die Konfrontation vorzubereiten. So waren z. B. viele ArbeiterInnen bewaffnet, eine Miliz wurde jedoch nicht aufgebaut. Die USPD protestierte zwar gegen etliche Maßnahmen und Manöver der MSPD, zum Bruch mit der „Einheit“ in den Räten war sie aber nicht bereit. Somit legitimierte sie einerseits die Politik von Ebert und Noske, andererseits desorientierte sie auf diese Weise die eigenen AnhängerInnen und diskreditierte sich selbst.

Bald schon suchten die MSPD und die mit ihnen verbündeten Militärs bewusst die Konfrontation mit der Berliner Avantgarde der ArbeiterInnenklasse. Die Absetzung des USPD-Polizeipräsidenten Eichhorn zum Jahreswechsel 1918/19 sollte eine Machtprobe erzwingen. Der sog. „Spartakusaufstand“ war in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung, in die die Berliner Linken ohne ausreichenden Rückhalt im Land gedrängt werden sollten – und in den sie auch gezwungen wurden. Während sich die USPD-Linke verbal-radikal gab, ließ sich auch ein Teil der KPD, v. a. Liebknecht, in eine verfrühte Machtprobe manövrieren.

Von der Novemberrevolution zur Niederlage

Anders als die Julitage 1917, wo auch die Petersburger ArbeiterInnenklasse und die Bolschewiki in eine solche verfrühte Machtprobe gezogen wurden, hatte die Niederlage des „Spartakusaufstandes“ sehr viel tiefgehendere konterrevolutionäre Auswirkungen. Sie markierte den Anfang vom Ende der Revolution.

Dazu trug zweifellos auch bei, dass die deutsche Gegenrevolution aus den russischen Erfahrungen gelernt hatte. Die Reaktion verfügte über verlässliche, vom Geist der Abrechnung mit der ArbeiterInnenklasse und den „Roten“ durchdrungene Truppen, die sich auf die reaktionäre Gesinnung des BürgerInnentums und der KleinbürgerInnen stützen konnten. Außerdem entpuppten sich die MSPD und ihr Apparat als entschlossenere konterrevolutionäre Kräfte als die Menschewiki und SozialrevolutionärInnen.

Die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs unter dem Freikorps-Führer Pabst erfolgte auf politische Verantwortung des „Bluthundes“ Noske. Für die Morde, mit denen der revolutionären ArbeiterInnenschaft der Kopf abgeschlagen werden sollte, trägt die Sozialdemokratie die politische Verantwortung.

Mit der Niederschlagung der kurzlebigen Bremer Räterrepublik, der Wahl zur Nationalversammlung und der Ernennung Eberts zum Reichskanzler konsolidierte sich die Konterrevolution vorerst.

In Wirklichkeit lieferten diese Niederlagen jedoch nur das Vorspiel zu weiteren entscheidenden Machtproben zwischen ArbeiterInnenklasse und deutschem Imperialismus. Der Aufstieg des Nationalsozialismus und die Errichtung der faschistischen Diktatur bildeten den eigentlichen konterrevolutionären Abschluss der Novemberrevolution.

Ist die ArbeiterInnenklasse nicht in der Lage, eine Revolution zu Ende zu führen, so wird sie die Reaktion blutig beenden.




Lage in Palästina: Verleumdung, Illusionen, Besatzung

Leo Drais, Neue Internationale 233, November 2018

Die deutschen Medien berichten wöchentlich über die vermeintliche Selbstverteidigung Israels gegen angebliche Aggression aus den besetzten Gebieten. Zu dieser „Selbstverteidigung“ gehört in ihren Augen wohl auch das Erschießen von mittlerweile über 200 Menschen bei den seit März an der Grenze des Gazastreifens stattfindenden Protesten des „Großen Rückkehrmarsches“. In den letzten Wochen wurden vermehrt Raketen aus Gaza in Richtung Tel Aviv abgefeuert, welche die IDF (Israeli Defence Forces) umgehend mit Militärschlägen beantwortete.

Gleichzeitig müssen sich AntiimperialistInnen hierzulande, wie jüngst die GenossInnen der internationalistischen Jugendorganisation REVOLUTION in Dresden, gegen allerhand Lügen und Verdrehungen von sogenannten Antideutschen zur Wehr setzen. Diese Kräfte werden nicht müde, die berechtigte Solidarität mit den PalästinenserInnen im Kampf gegen die Besatzung als Antisemitismus ganz auf Linie der deutschen und US-amerikanischen ImperialistInnen zu verleumden.

Auf der anderen Seite der Mauer

Während von den deutschen Medien über jede Rakete in Richtung Tel Aviv, fast schon über jeden Steinwurf auf israelische SoldatInnen „umfassend“ berichtet wird, erfahren wir umso weniger über die Situation in Gaza und der Westbank. Damit meinen wir nicht nur die Hunderte Toten, Verletzten und politisch Inhaftierten, die der israelische Staat zu verantworten hat, die weiter vor sich gehende Vertreibung, den Landraub oder das Zerschlagen von Demonstrationen. Auch meinen wir nicht nur die von den imperialistischen Staaten gedeckten rassistischen Übergriffe von SiedlerInnen auf PalästinenserInnen.

Nein, das fängt schon mit der Lebensrealität an. Diese ist für viele in der Westbank prekär. Israel hat Zugriff auf die Wasser- und Stromversorgung und stellt den Strom auch mal für ein paar Tage ab, wenn in Dörfern Proteste stattfinden. Die israelischen Siedlungen zapfen den Dörfern teilweise das Wasser ab. Die Infrastruktur ist vielerorts in schlechtem Zustand, die ärztliche Versorgung ist unzureichend, vor allem in den Camps der Vertriebenen.

Die Lage in Gaza ist mit einem riesigen Freiluftgefängnis vergleichbar. Laut der Weltbank sind 80 % der dort lebenden Menschen auf internationale Nahrungsmittelhilfe angewiesen; die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 58 %.

1995 baute Israel einen elektrischen Zaun und eine Betonmauer um Gaza und unterbrach damit die Verbindungen zu den besetzten palästinensischen Gebieten im Westjordanland. Seit Beginn der Belagerung hat Israel drei große militärische Angriffe auf Gaza gestartet. Der letzte große Angriff fand 2014 unter dem Namen „Operation Schützende Klinge“ statt. Die israelische Armee tötete mehr als 2.100 PalästinenserInnen, darunter 1.462 ZivilistInnen und fast 500 Kinder. 11.000 wurden verwundet, 20.000 Häuser zerstört und eine halbe Million Menschen aus ihren Häusern vertrieben.

Da seit den letzten Monaten der Widerstand in Gaza wächst, mehren sich in der israelischen Regierung die Rufe nach einem nächsten Militärschlag. Insbesondere der Verteidigungsminister Avigdor Lieberman wirbt für neue Bomben, damit wieder „vier, fünf Jahre Ruhe herrsche“. Er verbindet diesen Ruf auch gleich mit den regionalen Ansprüchen Israels, indem er durchblicken lässt, die Schläge nicht nur auf Gaza zu beschränken – die Drohung könnte dem Libanon, Syrien oder auch dem Iran gelten.

Hinsichtlich der Westbank hat Israel auch schon den nächsten großen Schritt im Visier. Beflügelt von Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt, zielt das zionistische Regime auf eine Teilung der Westbank und ein komplett israelisches Jerusalem ab, was eine neue massenhafte Vertreibung bedeuten würde. Die Likud-Partei lässt bei all dem keine Gelegenheit aus, immer wieder auch die Annexion des gesamten Westjordanlandes ins Spiel zu bringen (Likud = dt. „Zusammenschluss“).

Nur der jahrzehntelange heroische Widerstand der palästinensischen Bevölkerung hat bisher die vollständige Unterjochung, Besetzung und weitere Vertreibung verhindert. Die imperialistischen Medien und die zionistische Propaganda stellen dies auf den Kopf. Nicht die fortgesetzte Aggression der UnterdrückerInnen, nicht die Entrechtung und Vertreibung, sondern der Widerstand gegen dieses Unrecht gilt als Ursache des Konflikts. Die palästinensischen Massen erscheinen als „unruhestiftend“, weil sie sich nicht ihrem Schicksal ergeben. Dabei ist es in Wirklichkeit der zionistische Staat, der berechtigten, heldenhaften und mitunter auch verzweifelten Widerstand immer wieder provoziert und hervorruft. Für RevolutionärInnen und InternationalistInnen ist völlig eindeutig, auf welcher Seite Linke hier zu stehen haben.

Antizionismus und Befreiungskampf

Auf der einen Seite finden wir einen hoch-militarisierten, kapitalistischen Staat, der die Interessen von EU- und US-Imperialismus in der Region vertritt und sich zugleich als Regionalmacht weiter zu festigen versucht. Dieser fußt auf der Ideologie des Zionismus, auf Rassismus und Nationalismus. Die Verfassungsänderungen durch die gegenwärtige Regierung haben das noch weiter verschärft. Das „Selbstbestimmungsrecht“ der „israelischen Nation“ beruht auf der gewaltsamen und fortgesetzten Vertreibung der PalästinenserInnen, der Verweigerung ihres Rückkehrrechts. Die Verteidigung eines solchen Staates ist ebenso reaktionär wie er selbst.

Israel ist auch weder Schutzraum für die Juden und Jüdinnen noch ein Bollwerk gegen den Antisemitismus. Ein Staat von 6 Millionen JüdInnen, der auf der Unterdrückung von 9 Millionen PalästinenserInnen beruht, bedarf nicht nur eines beträchtlichen militärischen Aufwands, um sich in der Region behaupten zu können und tagtäglich seine Rolle zu festigen.

Er ist auch ein kapitalistischer Staat, der die israelische ArbeiterInnenklasse ausbeutet oder in eine Uniform steckt, um die militärischen Interessen der Bourgeoisie umzusetzen. Er ist ein „Schutzraum“ für die Bourgeoisie, die Reaktion und die Interessen des westlichen Imperialismus. Solange die jüdische ArbeiterInnenklasse in Israel diesen Staat und das zionistische Regime verteidigt, wird sie selbst Stütze der „eigenen“ herrschenden Klasse und des Imperialismus bleiben müssen, sich selbst nicht befreien und allenfalls als relativ privilegierte Ausgebeutete fungieren können.

Der Bruch der israelischen ArbeiterInnenklasse mit dem Zionismus und „ihrem“ Staat bildet eine unerlässliche politische Voraussetzung für einen realen gemeinsamen Kampf. Als RevolutionärInnen unterstützen wir die kleine Minderheit internationalistischer, antizionistischer Kräfte in Israel. Trotz ihrer Schwäche zeigt sie einen Weg in die Zukunft.

Diese antizionistischen jüdischen Linken sind selbst der Diffamierung und Hetze durch „ihren“ Staat, westliche „DemokratInnen“ und auch sog. „Antideutsche“ ausgesetzt – gerade weil sie sich auf die Seite des palästinensischen Befreiungskampfes stellen.

Antisemitismus und Antizionismus

Natürlich wissen auch wir, dass es auch unter der palästinensischen Bevölkerung – wie in jeder (!) Nation – reaktionäre und rassistische Ideologien gibt, darunter sicher auch Formen des Antisemitismus. Doch die bürgerliche Reaktion stempelt geflissentlich alle PalästinenserInnen oder AraberInnen als „antisemitisch“ ab und ordnet sie selbst rassistisch ein.

Dabei werden Ideologie und Politik reaktionärer, islamistischer Organisationen wie der Hamas oder des Islamischen Dschihad mit „den PalästinenserInnen“ gleichgesetzt.

Zweitens wird der nachvollziehbare und berechtigte Hass auf den israelischen Unterdrückerstaat und dessen tägliche Repression – und damit auch jede Empörung und erst recht jeder organisierte Massenwiderstand dagegen zum „Antisemitismus“ erklärt. Wir wollen dabei keineswegs bestreiten, dass einige ihre aus dieser Unterdrückung resultierende Wut nicht nur auf Israel, sondern auch auf JüdInnen selbst projizieren. Das kann aber keinesfalls auf die gesamte Bevölkerung übertragen werden. Antisemitische Vorurteile und Einstellungen müssen zweifellos offensiv bekämpft werden. Sie sind nicht nur erzreaktionär, sondern auch Gift für den Befreiungskampf – sei es, um ArbeiterInnen aus dem zionistischen Block zu brechen, sei es um internationale Solidarität zu organisieren. Dass viele Organisationen der palästinensischen „Zivilgesellschaft“ und der Linken Antisemitismus bekämpfen, wird hierzulande gern verschwiegen.

Entscheidend ist jedoch, dass reaktionäre Einstellungen unter den Unterdrückten nur erfolgreich bekämpft werden können, wenn auch der Befreiungskampf gegen Zionismus und Imperialismus konsequent unterstützt wird. Dass die Führung der PalästinenserInnen zur Zeit von erz-reaktionären, islamistischen und korrupten Kräften oder einer eher noch viel korrupteren, pro-imperialistischen und bürgerlichen Palästinensischen Autonomiebehörde und Fatah gestellt wird, kann nicht bedeuten, dem Widerstand unsere Solidarität zu versagen.

Es muss vielmehr heißen, im Kampf gegen die Besatzung für das Rückkehrrecht aller PalästinenserInnen, für gleiche Rechte aller einzutreten. Das ist mit dem zionistischen Staat letztlich unvereinbar. Die einzig realistische Lösung besteht in einem gemeinsamen Staat aller, die in Palästina leben, in einem multinationalen Staat, in dem wirklich gleiche Rechte für alle garantiert und gewährleistet sind. Ein solcher wird nicht auf einer bürgerlichen Grundlage reale Gleichheit sichern können – die Überausbeutung der PalästinenserInnen, die Rückgabe des ihnen geraubten Eigentums usw. wird auf einer kapitalistischen Grundlage notwendigerweise zu Verteilungskämpfen zwischen Klassen und Nationen führen. Das kann nur auf der Basis des Gemeineigentums von Grund und Boden, von Banken und Konzernen, kurzum auf einer sozialistischen Grundlage gewährleistet werden. Daher treten wir für ein einheitliches, säkulares und sozialistisches Palästina ein.

Unrealistische Einstaatenlösung?

Gegen ein einheitliches Palästina gibt es im Grunde zwei Arten von Gegenargumenten.

Sie sind beide reaktionär, weil sie das Recht Israels auf Vertreibung und Ausbeutung als Grundlage entweder akzeptieren oder nicht antasten wollen – die eigentliche Substanz seines „Existenzrechts“. Es ist durchaus bezeichnend, dass diese Kräfte nicht nur die Einstaatenlösung, sondern „natürlich“ auch das Rückkehrrecht der PalästinenserInnen und deren volle rechtliche Gleichstellung in Israel ablehnen, ja ablehnen müssen. Und das mit einer gewissen reaktionären Konsequenz, weil sie so fürchten, dass die Unterdrückten mit einer demokratischen Mehrheit die Verhältnisse verändern könnten. Die „größte Demokratie“ im Nahen Osten endet dort, wo es um substantielle Rechte der unterdrückten und verbliebenen palästinensischen Nation geht.

Der zweite Einwand lautet, dass die Einstaatenlösung unrealistisch, eine Zweistaatenlösung daher ein „geringeres Übel“ sei. Die zionistische Expansion, die fortgesetzte Vertreibung zerstören aber selbst den „Realismus“ dieser Vorstellung. Seit Jahrzehnten schrumpfen selbst die unter Teilkontrolle palästinensischer Behörden stehenden Gebiete. Gaza und Westbank sind getrennt, immer größere „Schneisen“ werden in letztere gerissen…

Diese „Lösung“ dient vor allem als Beschwörungsformel des „demokratischen Imperialismus“, für die EU, für die UN, für reaktionäre arabische Regime und ihre Kooperation mit dem Zionismus. Mit der Schimäre der „Zweistaatenlösung“ soll das palästinensische Volk vertröstet werden.

Letztlich hängen auch alle führenden Fraktionen der palästinensischen Bevölkerung – Fatah wie Hamas – an einer Zweistaatenlösung – und sei es als „vorläufige“. Die PLO und Fatah haben längst Israel anerkannt, hoffen allenfalls, über diplomatischen Druck und mit Hilfe des Imperialismus und reaktionärer arabischer Regime einen „Reststaat“ zu erhalten. De facto ist auch die Hamas durch den Druck ihrer reaktionären Verbündeten längst auf die Anerkennung Israels eingeschwenkt -wenn auch weniger offen ausgesprochen.

In der Realität ist die Zweistaatenlösung längst gestorben. Der einzig realistische Ausweg für den Befreiungskampf besteht im organisierten Massenwiderstand, den eine Dritte Intifada mit sich bringen könnte. Diese wäre aber auch auf die aktive internationale Solidarität der arabischen Massen ebenso angewiesen wie der ArbeiterInnenklasse und Linken weltweit. Eine solche Bewegung könnte auch die Einheit in Israel selbst erschüttern und zumindest Teile der ArbeiterInnenklasse zu einem Bruch mit dem Zionismus treiben.

Das würde notwendigerweise bedeuten, eine aktive Klassenpolitik auch in Palästina, nicht nur in Israel zu betreiben – eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei als Alternative zu Hamas und Fatah aufzubauen, die den Kampf gegen den Zionismus, gegen die Besatzung mit dem für eine soziale Umwälzung, für einen einheitlichen ArbeiterInnenstaat in Palästina und die permanente Revolution im Nahen und Mittleren Osten verbindet.




Britannien: Gespenst Brexit

Svenja Spunck, Neue International 233, November 2018

Am 20. Oktober demonstrierten im Zentrum Londons über 700.000 Menschen aus ganz Britannien für eine Volksabstimmung über den Brexit-Deal. Auf vielen Plakaten und Transparenten wurden Mitglieder der Regierung als LügnerInnen und VerräterInnen bezeichnet.

2016 hatte eine knappe Mehrheit der BritInnen für den Austritt aus der EU gestimmt. Viele erhofften sich mehr Souveränität gegenüber der EU-Bürokratie, weniger ImmigrantInnen und ein stärkeres Auftreten Britanniens im weltweiten Imperialismus. Bis heute konnte die konservative Regierung unter Theresa May kein Verhandlungsergebnis mit der EU vorlegen. De facto bedeutet das, es ist fast unabsehbar, welche realen Konsequenzen der Brexit am 29. März 2019 mit sich bringen wird.

Stattdessen werden Vorkehrungen getroffen, die den Anschein erwecken, man erwarte eine Naturkatastrophe. Doch der Brexit ist keine Laune der Natur, er ist das Ergebnis realer politischer Entscheidungen, deren Konsequenzen den VerursacherInnen über den Kopf wachsen. Die Regierungspartei ist gespalten über die Frage des Brexits. Während Theresa May zur Not auch ohne Deal durchziehen will, und damit beispielsweise eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland in Kauf nimmt, erwartet Labour vom anderen Flügel der Konservativen Widerstand gegen May bei einer für November erwarteten Abstimmung über den Brexit-Deal.

Der Brexit ist ein Problem höchster Priorität in Britannien, dessen Entwicklung sogar die Regierung in Bedrängnis bringt. Dies wäre eine gute Chance für Labour, mit einer klaren Position gegen den Brexit und gegen die Tories ein erneutes Referendum und vorgezogene Neuwahlen zu erzwingen und für sich zu entscheiden. Doch die Labour-Führung wehrt sich stur dagegen, klar Stellung zu beziehen.

Brexit auf der Labour-Konferenz in Liverpool

Obwohl die Mehrheit der Mitglieder in Labour wie auch die Gewerkschaften gegen einen Brexit sind, hat sich die Partei als Ganzes nicht klar positioniert. Ein Argument für Linke innerhalb und auch außerhalb der Partei ist, dass eine Anti-Brexit-Position die Rechten und damit die Gegner Innen Corbyns stärken würde. Realität sind jedoch Umfragen, nach denen Labour vorgezogene Wahlen gewänne, wenn es sich klar für ein zweites Referendum ausspräche. Doch auf dem Peoples Vote-March war die Partei nur marginal vertreten und bot somit keinen Anlaufpunkt für diejenigen, die klar gegen den Brexit sind. Stattdessen war die Demonstration voller „I love EU“-Schilder, die Anlass für die Lexiters, die VerteidigerInnen eines „linken Brexit“, boten, die Massendemonstration als Ganze zu diskreditieren. Somit riskiert die Labour-Führung, dass sich Millionen, die die mit einem Brexit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Einbrüche vermeiden wollen, vor den Karren liberaler oder kleinbürgerlicher EU-BefürworterInnen spannen lassen.

Das bietet außerdem auch dem rechten Flügel der Labour-Party die Möglichkeit, Brexit-GegnerInnen zu organisieren, beziehungsweise schürt Illusionen in die EU an sich bei denjenigen, die für den Verbleib stimmen. Labours Aufgabe wäre es heute, für ein zweites Referendum, für Neuwahlen und für den Verbleib in der EU zu mobilisieren, während es klare Forderungen gegen den EU-Imperialismus, für den gemeinsamen politischen und gewerkschaftlichen Kampf in ganz Europa aufstellt. An erster Stelle müssten dabei die Forderungen nach offenen (EU-Außen-)Grenzen stehen sowie nach vollen StaatsbürgerInnenrechten für alle, die in der EU leben. Das Ziel einer Labour-Regierung sollte nicht sein, die EU im internationalen Gerangel zwischen den ImperialistInnen an erste Stelle zu bringen oder, wie momentan von einigen Konservativen imaginiert, das „British Empire“ wiederauferstehen zu lassen. Die Aufgabe von Labour an der Regierung läge darin, die Vereinigung der arbeitenden Bevölkerung in der EU, die Vernetzung der Gewerkschaften, die Koordinierung von Protesten der Unterdrückten, gegen das Kapital, das momentan die eigentliche Regierung der EU darstellt, voranzubringen.

Während die bürgerlichen Medien es als „Staatskunst“ bezeichnen, dass Labour keine klare Stellung bezieht und vergeblich versucht, die Pro- und Anti-Brexit-Flügel zu vereinen, trifft „Opportunismus“ die aktuelle Politik wohl eher. Ein zweites Referendum, wie es die linke Plattform „Another Europe is Possible”, AEIP, fordert, wäre zwar ein Anfang, jedoch entbehrt dies allein noch der politischen Entscheidung, wie sich Labour in diesem Referendum positionieren würde. Die Labour-Konferenz in Liverpool im September zeigte deutlich, dass die Parteiführung alles andere als interessiert ist an einer Demokratisierung der Partei. Anträge der Parteilinken, die sich für eine klare Anti-Brexit-Position aussprachen, wurden nicht behandelt.

Sechs Punkte

Stattdessen versuchte die Parteiführung, ihre Mitgliedschaft zu beschwichtigen, indem sie versprach, gegen jeden Brexit-Deal zu stimmen, der den Sechs-Punkt-Test nicht besteht. Diese sechs Punkte lauten:

„1. Gewährleistet er eine starke und kooperative zukünftige Beziehung zur EU?

2. Bietet er die ,genau gleichen Vorteile‘, wie wir sie derzeit als Mitglieder des Binnenmarkts und der Zollunion haben?

3. Gewährleistet er eine gerechte Steuerung der Migration im Interesse der Wirtschaft und der Gemeinschaften?

4. Verteidigt er Rechte und Schutz und verhindert einen Wettlauf nach unten?

5. Schützt er die nationale Sicherheit und unsere Fähigkeit, grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen?

6. Liefert er für alle Regionen und Nationen des Vereinigten Königreichs?“

Die sechs Bedingungen der Labour-Party sind einerseits davon geprägt, dass sie die Partei als Regierungsalternative präsentieren wollen. Dafür werden bewusst die Interessen der MigrantInnen jenen der Wirtschaft und „Gemeinschaften“, also der chauvinistischen Haltung eines Teils der britischen ArbeiterInnen, untergeordnet. Zweitens sind sie – nicht anders als die „Rosinenpickerei“ Mays – illusorisch. Warum sollte die EU einem Land, das ausgetreten ist, die „genau gleichen Vorteile“ wie Mitgliedern garantieren?

Was tun?

Da die Regierungspartei mit Sicherheit nicht einmal einen der Punkte durchsetzen können wird, ist eigentlich klar, dass die Labour-Abgeordneten einen „Deal“ ablehnen müssten. Doch auch wenn alle geschlossen im Unterhaus dagegen stimmten, hätte Labour keine Mehrheit und wäre auf die Opposition in den Reihen der Tories angewiesen. Ob diese nun mit Labour stimmen und damit Neuwahlen provozieren werden, bei denen ein Ende ihrer Regierung absehbar wäre, ist mehr als ungewiss.

Ein Argument, mit dem die Labour Führung immer wieder versucht, dem Interesse ihrer Basis auszuweichen, ist der „Respekt“ gegenüber dem Ergebnis von 2016. Nun, auch 1975 gab es in Großbritannien ein Referendum. Damals wurde für den Verbleib Britanniens in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgestimmt.

Die ergebnislosen Verhandlungen der Tories und die absehbaren Nachteile für die internationale ArbeiterInnenklasse sollten die Führung einer linken Partei dazu zwingen, sich klar gegen die Brexit-Katastrophe zu positionieren. Da die Parteiführung sich jedoch mit allen Mitteln dagegen wehrt und insgeheim hofft, den Brexit unter ihrer eigenen Regierung nach ihren Vorstellungen gestalten zu können, ist es mehr als drängend für die linke Opposition in der Partei, gegen die rechten BürokratInnen Stellung zu beziehen und das reale Interesse der ArbeiterInnenklasse zu verteidigen.




Marsch der Geflüchteten in Mittelamerika: Solidarität gegen rassistisches US-Grenzregime!

Tobi Hansen, Neue International 233, November 2018

Seit vielen Wochen sind sie unterwegs: Mehr als 7.000 Geflüchtete aus Honduras, Guatemala und El Salvador haben die Flucht gewählt, da sie in „ihrem“ Staat keine Perspektive mehr sehen und sind jetzt in Mexiko gelandet. Es sind Familien, jung und alt haben sich gemeinsam auf den Weg gemacht. Auch dies ist weniger Ausdruck einer politischen Manifestation, sondern vor allem eine objektive Notwendigkeit. Sie flüchten gemeinsam, da sie sich so schützen können vor denjenigen, die an der Flucht verdienen wollen: SchleuserInnen, kriminellen Banden, die viele Geflüchtete für ihre Interessen benutzen wollen (Drogenhandel, Prostitution). Seit vielen Jahren nimmt die Flucht aus den zentralamerikanischen Staaten wie Costa Rica, Honduras, El Salvador und Guatemala zu – Ziel sind die USA. Allein im ersten Halbjahr 2018 haben diese und Mexiko mehr als 37.000 Geflüchtete wieder nach Honduras ausgewiesen – ein Kreislauf aus Flucht, Repression und Abschiebung.

Ihr Zielland, das „land of the free“, hat wegen der Geflüchteten bereits den „Notstand“ ausgerufen. Ca. 7.000 zusätzliche ArmeesoldatInnen sollen gemeinsam mit der Grenzschutzbehörde und der Nationalgarde die texanisch-mexikanische Grenze schützen. Präsident Trump droht täglich mit Gewalt.

Rassismus und Verschwörungstheorien

Die US-Administration sieht in den Geflüchteten eine „geplante“ Einmischung in die „midterm“-Wahlen am 6. November. Ein Teil der GouverneurInnen und SenatorInnen sowie das Repräsentantenhaus steht zur Zwischenwahl in der Halbzeit der Amtsperiode der/des PräsidentIn. Daher soll angeblich eine Allianz, die von der Regierung Venezuelas bis zum Milliardär Soros reicht, den Treck finanzieren und „linke Gangs“ und Kriminelle in die USA einzuschleusen beabsichtigen. Trump spekuliert bereits über die Kosten der Internierungslager, die gebaut werden müssten (höchstwahrscheinlich von sog. Hispanics). Deswegen kündigt der Immobilienspekulant „nette Zelte“ als Unterkunft an und wiederholt, er sei bereit, Waffengewalt einzusetzen.

Die katholische Kirche in Honduras, welche wie viele in Mittelamerika sich um die Armen vor Gott zu kümmern hat, deshalb vielleicht für die US-Administration auch zur „linken Verschwörung“ gehört, brachte die oft genannten Fluchtursachen ganz pragmatisch auf den Punkt: „…dass die massiven Fluchtbewegungen das Ergebnis einer seit Jahren anhaltenden Krise im Land und der ,schlechten Regierungsführung‘ seien, die sich in ,Armut, Ungleichheit und fehlenden Möglichkeiten‘ äußert und nun in einer ,menschlichen Tragödie‘ mündete. “ (Zitiert nach: https://amerika21.de/2018/ 10/215958/honduras-demonstration-fuer-fluechtende)

Die hier erwähnte schlechte Regierung unter Präsident Juan Orlando Hernández ist auch Tippgeberin, was die Hintergründe der Geflüchteten angeht. Diese sagt brav dem US-Imperialismus, was dieser hören will. Andererseits haben Honduras wie auch die angrenzenden Staaten bereits US-Finanzhilfen gekürzt bekommen, weil die Flüchtlinge nicht vor Ort gestoppt wurden. Diesen Druck erhöht die US-Administration jetzt auf Mexiko. Der noch amtierende Präsident Nieto (Obrador regiert ab dem 1.12.) offerierte jetzt, dass die Geflüchteten dort Asyl beantragen könnten, speziell „Frauen und Kinder“ würden bevorzugt behandelt. Bis auf wenige Hundert haben die Geflüchteten das abgelehnt. Sie wollen für ihr Recht auf ein besseres Leben ihren Marsch fortsetzen. In den Interviews stellen besonders die HonduranerInnen die schlechten Lebensbedingungen heraus, die sie zur Flucht bewegten.

Honduras galt lange als eine der „Bananenrepubliken“ des US-Imperialismus. Die entsprechenden Monopolkonzerne sind auch weiterhin die größten Großgrundbesitzer im Staat, wie auch die Landwirtschaft weiterhin 15 % des BIP erwirtschaftet, hauptsächlich über die Exportgüter Kaffee, Bananen und Tropenhölzer. Die Nationalökonomie ist abhängig von den Überweisungen der „ExilhonduranerInnen“, knapp 4 Mrd. US-Dollar kommen so jährlich in ein Land mit einem BIP von 23 Mrd. US-Dollar (2017). Alle ökonomischen Sektoren werden letztlich vom US-Imperialismus dominiert, so auch die Textilindustrie in Küstennähe oder Dienstleistungszentren der US-Konzerne für Mittelamerika. Gleichzeitig gab es in Honduras nie eine „Landreform“. Das fehlende Ackerland treibt die Bauern/Bäuerinnen in die Städte. Dort landen sie zumeist in den Slums, je nach Schätzung gelten 70-80 % der Bevölkerung als akut arm.

Auch Wikipedia muss zur sozialen Lage Folgendes konstatieren: „Mehr als die Hälfte der Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze, ein Fünftel sind Analphabeten. Unter- und Fehlernährung sind weit verbreitet. Die medizinische Versorgung auf dem Land ist miserabel.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Honduras)

In Interviews mit den Geflüchteten sagten viele: „Wir wollen Jobs, wir wollen Land und Brot“, eine Perspektive für die Kinder, die sie in Honduras nicht bekommen, in den USA aber dank besserer Jobs und Löhne zu erhalten hoffen. Dort gehören sie dann zur Gruppe der „Hispanics“, welche größtenteils in der Land-, Bauwirtschaft und den „einfachen“ Dienstleistungen ausgebeutet wird und als Niedriglohnprekariat täglicher Diskriminierung und Rassismus ausliefert ist. Ebenfalls sind sie dort den rassistischen Banden außerhalb des Weißen Hauses ausgesetzt. Viele von diesen paramilitärisch Organisierten wollen jetzt den Grenzschutz in die eigenen Hände nehmen.

Der Kampf gegen Rassismus und für offene Grenzen

Diese Situation zeigt deutlich, wie wichtig der Kampf für offene Grenzen, für Bewegungsfreiheit der Geflüchteten ist. Steht die internationale ArbeiterInnenbewegung im Abseits bei dieser Frage, bezieht sie sich positiv auf die „Relikte“ nationalstaatlicher Ordnung, dann verweigern wir die Solidarität gegenüber den Geflüchteten! Wenn selbst alle bürgerlichen Medien die Zusammenhänge zwischen Marktbeherrschung und dortiger Fluchtbewegung herstellen können, dass nämlich jede Produkt der imperialistischen Dominanz ist, dann müssen auch die ArbeiterInnenorganisationen sich aktiv in den Kampf gegen die rassistischen Grenzregime einbringen.

Wir dürfen den Trumps, Salvinis, dem gesamten rassistischem und nationalistischem Abschaum nicht den Umgang mit den Flüchtenden überlassen. Diese werden sie letztlich genau wie die israelische Besatzung im Gaza-Streifen sehenden Auges an den Grenzen sterben lassen bzw. den Schießbefehl geben. Während die Ökonomie der imperialistischen Staaten die Halbkolonien der Welt ausbluten lässt, werden die MigrantInnen, die keine Perspektive in ihren Staaten besitzen, zum Opfer des Rechtsrucks, des staatlichen Rassismus an den Grenzen.

Für die Geflüchteten muss es jetzt um eine politische Perspektive ihres Protestes, ihres Recht auf Bewegungsfreiheit gehen. Dafür brauchen sie die Unterstützung der mexikanischen und der US-amerikanischen ArbeiterInnenbewegung.

Gerade wenn ein US-Präsident eine Mauer an der Grenze errichten will, steht dieser Flüchtlingstreck für den Kampf gegen imperialistische Willkür. Wenn die US-Konzerne im Hinterhof Lateinamerika die Lebensbedingungen von Millionen ruinieren, dann ist es deren Recht, diese Staaten zu verlassen. Dafür brauchen sie die internationale Solidarität.

Vor Ort wäre es wichtig, das eben die mexikanische Gewerkschaftsbewegung, die Studierenden, die Widerständigen aus Oaxaca und Chiapas die Geflüchteten nicht allein zur waffenstarrenden Grenze laufen lassen, sondern diesen Marsch unterstützen und mit Zehn-, Hunderttausenden zur Grenze ziehen.

Trump stoppen

Es darf nicht zugelassen werden, dass die Geflüchteten interniert, sie den Grausamkeiten bis zum Tod ausgeliefert werden. Dazu wäre eine Mobilisierung auf der „anderen“ Seite der Grenze hilfreich gegen die paramilitärischen Milizen einerseits, aber auch für das Recht der Geflüchteten einzureisen, wie es laut der Freiheitsstatue ja vor allen den Ärmsten der Armen gestattet sein soll. Eine Masssenmobilisierung, eine Menschenmauer des Willkommens für die verarmten Klassengeschwister aus Mittelamerika wäre dazu nötig, um sie vor Trumps Truppen und den Paramilitärs zu schützen! Jene Städte, die bisher Geflüchteten Schutz boten (sanctuary cities) und die Umsetzung der Politik Trump verweigerten, könnten dafür ein guter Ausgangspunkt sein- und müssten zugleich gegen drohende Repression durch die US-Regierung verteidigt werden.

Darüber hinaus muss die US-amerikanische ArbeiterInnenbewegung politische Demonstrationen und Streiks gegen das Grenzregime „ihrer“ Regierung, für volle Staatsbürgerrechte aller im Lande Lebenden und gegen alle Einwanderungsbeschränkungen durchführen. Die Verlegung von Truppen und Nachschub an die Grenze zu Mexiko muss blockiert und boykottiert werden.

Es handelt sich um einen Marsch, einen Exodus der Verzweiflung an der Willkür des Imperialismus, gegen seine Grenzen, seinen Rassismus – als solchen müssen wir auch den Kampf für offene Grenzen verstehen und führen, sei es im Mittelmeer oder an der US-amerikanischen Grenze!




Brasilien: Stoppt Bolsonaro!

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 30. Oktober 2018, Neue Internationale 233, November 2018

Jair Bolsonaro, ein Halbfaschist, hat bei den Präsidentschaftswahlen in Brasilien 55 Prozent gewonnen, gegenüber 45 Prozent für Haddad/Manuela, den Kandidaten der ArbeiterInnenpartei, PT. Dieser Sieg wird ihm ein „demokratisches Mandat“ geben, um den Angriff auf die brasilianische ArbeiterInnenklasse, BäuerInnen, schwarze und indigene Bevölkerung, Frauen und LGBTIA+-Personen sowie auf die ArbeiterInnenparteien, Gewerkschaften und Massenorganisationen von StudentInnen, obdachlosen und landlosen ArbeiterInnen zu Ende zu führen.

Karneval der Reaktion

Nach der Siegeserklärung gingen seine AnhängerInnen triumphierend auf die Straße. Es war ein Karneval der Reaktion, ein offener Ausdruck ihres Klassenhasses, ihres Rassismus und Sexismus. Militär und Polizei schlossen sich ihnen an und fuhren durch die Straßen der Großstädte. Ihnen wurde von den rechten UnterstützerInnen von Bolsonaro Beifall gezollt, die die Situation nutzten, um die BewohnerInnen der Favelas, die städtischen Armen, einzuschüchtern, die sie als Kriminelle unter dem neuen Präsidenten, jetzt ohne jegliche rechtliche Zurückhaltung, ins Visier nehmen werden. Während seines Wahlkampfes haben seine rechten oder gar faschistischen AnhängerInnen mehrere seiner GegnerInnen, Schwarze oder AktivistInnen aus der LGBTIA+-Bewegung getötet. In der Wahlnacht wurde in Rio ein bekannter schwuler Aktivist getötet.

Ziel der neuen Präsidentschaft ist es, den im August 2016 vom derzeitigen Präsidenten Michel Temer und der Justiz im Namen der brasilianischen Bourgeoisie, der GroßgrundbesitzerInnen und des US-Imperialismus begonnenen Putsch zu vollenden. Der neoliberale Wirtschaftsberater von Bolsonaro, Paulo Guedes, wird für die brasilianische Wirtschaft verantwortlich sein und ein „Superministerium“ leiten. Er hat eine weitere „Rentenreform“ angekündigt, d. h. drastische Kürzungen, eine massive Privatisierung der größten staatlichen Unternehmen wie Petrobras. Er und Bolsonaro haben angekündigt, dass sie alle sozialen und ökologischen Restriktionen aufheben werden, um die Amazonasregion zu „modernisieren“, d. h. den Regenwald im Interesse der Rohstoffe abbauenden Industrie und des Agrobusiness zu zerstören.

Kein Wunder, dass Donald Trump seinem rechten Kollegen sofort gratulierte, und versprach, oder genauer gesagt, drohte, mit ihm „Hand in Hand“ zu arbeiten. Offensichtlich sind Temers Staatsstreich und jetzt der Sieg von Bolsonaro auch Siege für den US-Imperialismus, der seinen Einfluss in Brasilien erhöht und den größten Staat Lateinamerikas wieder zu einem festen US-Verbündeten macht. Andere imperialistische Mächte sind über diese Bekräftigung der amerikanischen Hegemonie „besorgter“, da sie befürchten, dass sie ihren Einfluss schwächen könnte. Sie alle erkennen jedoch die Legitimität des neuen Präsidenten an, obwohl er auf der Grundlage eines parlamentarischen und gerichtlichen Putsches gegen die frühere PT-Präsidentin Dilma Rousseff und durch dem Staatsstreich freundlich gesonnene RichterInnen gewonnen hat, die den früheren Präsidenten Lula gefangen genommen haben und ihm verbaten, bei den Wahlen anzutreten.

Kapitalistische Offensive und der Staat

Bolsonaro und sein Kabinett stehen nicht nur für eine bösartige kapitalistische Offensive. Sie stellen auch eine autoritäre, bonapartistische Form der Herrschaft dar. Niemand sollte sich von seinem Treueeid zur Verfassung täuschen lassen. Abgesehen davon, dass die verfassungsmäßigen Institutionen der brasilianischen „Demokratie“ selbst ein wesentlicher Bestandteil des Putsches gegen Dilma und die PT waren, sollte niemand die Drohungen von Bolsonaro vergessen, das Land von den „Roten“, also der ArbeiterInnenbewegung, zu säubern.

Um diese Drohungen Realität werden zu lassen, will Bolsonaro die Kräfte der Reaktion gegen die ArbeiterInnenbewegung und die Unterdrückten entfesseln. Mindestens drei Ministerien sollen von Führungskadern der Armee geleitet werden; nicht nur die Verteidigung, sondern auch das Innere und die Bildung! Im Moment werden er und seine Regierung bestrebt sein, sich bei der Erfüllung ihrer reaktionären Aufgaben in erster Linie auf den Staatsapparat zu verlassen. Er wird der Polizei und dem Repressionsapparat freie Hand lassen, um seine GegnerInnen in den linken Parteien, in den Gewerkschaften und unter den Armen in den Favelas anzugreifen oder gar zu töten. Bereits im vergangenen Jahr wurden rund 5.000 Menschen von der Polizei umgebracht, davon 80 Prozent farbige Menschen. Diese „legalen“ Morde dürften zunehmen.

Gleichzeitig wird eine spezielle und militarisierte Polizei gegen die BäuerInnen, die Armen und ArbeiterInnenaktionen eingesetzt, wobei die bereits unter Temer eingeführte gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung genutzt wird. Darüber hinaus werden die Staatsorgane und GroßgrundbesitzerInnen insbesondere bei ihren Razzien gegen die landlosen und armen BäuerInnen auch paramilitärische Banden einsetzen, von denen einige faschistischen Sturmtruppen ähneln.

Die Landlosenbewegung MST dürfte eines der ersten Ziele des neuen Systems sein. Während seines Wahlkampfes drohte Bolsonaro damit, sie als „terroristische Organisation“ zu verbieten. Er hat ein Ende des „Flirts mit Sozialismus, Kommunismus, Populismus und Linksextremismus“ gefordert und im Stil von Trump behauptet, Brasilien „wieder groß zu machen“.

Während des Wahlkampfs, in dem Bolsonaro sich mit seiner typischen abscheulichen rassistischen, frauenfeindlichen und homophoben Demagogie hervortat, drohte er wiederholt mit der Zerstörung der ArbeiterInnen-, Landlosen- und Eingeborenenbewegungen und mit der Rücknahme der Rechte, die Frauen seit dem Ende der Militärdiktatur Anfang der 80er Jahre gewonnen haben.

Er bedrohte die FührerInnen und AktivistInnen der ArbeiterInnenpartei PT: „Entweder sie gehen ins Ausland oder ins Gefängnis. (…) Diese roten Gesetzlosen werden aus unserer Heimat verbannt. Es wird eine Säuberung sein, wie sie in der brasilianischen Geschichte noch nie stattgefunden hat.“ Er hat auch versprochen, die Führung der PT und des Gewerkschaftsverbandes CUT sowie anderer Massenorganisationen wegen „Korruption“ zu säubern und vor Gericht zu stellen. In Wirklichkeit werden alle diese Anschuldigungen nur ein Vorwand sein, um die ArbeiterInnenbewegung zu schwächen und zu enthaupten, um ihre Organisationen wie eine Salami Stück für Stück zu zerschneiden.

Jetzt handeln!

Der Aufstieg der Rechten und der Niedergang der PT können nicht verstanden werden, ohne das Schicksal der brasilianischen Wirtschaft zu betrachten. In den ersten fünf Jahren von Lulas Präsidentschaft 2003 – 2008 wurden zwanzig Millionen BrasilianerInnen aus der Armut geholt, aber dann brach 2008 die Große Rezession aus. Kaum hatte sich das Land davon erholt, als es 2012 in den zweiten Einbruch katapultiert wurde, ausgelöst durch die Sparforderungen des IWF und der US-KreditgeberInnen. Dies dauerte bis ins Jahr 2016 und war die Grundlage für Massenmobilisierungen gegen Dilma und die PT und im August desselben Jahres für den Putsch von Temer, Führer der erzbürgerlichen Partei PMDB.

Die Erholung ist seitdem schwach ausgefallen, nicht zuletzt, weil auch die Regierung Temer die Schrauben bei den Staatsausgaben angezogen hat. Die sozialen Folgen waren nicht nur zunehmende Armut, grassierende Ungleichheit und Massenarbeitslosigkeit, sondern auch ein Anstieg der Gewaltkriminalität, der Kampf zwischen Drogenbanden und mit der Polizei in den Armenvierteln. Die Arbeitslosenquote, die 2013 auf einen Tiefstand von 6,05 Millionen gesunken war, lag im August 2018 bei 12,7 Millionen. Mehr als fünfzig Millionen BrasilianerInnen, fast 25 Prozent der Bevölkerung, leben unterhalb der Armutsgrenze.

Die Tatsache, dass Dilma im Amt war, als die zweite Krise zuschlug, und dass sie den IWF-Forderungen nach sozialen Einsparungen nachgab, erlaubte es den rechten Medien, den evangelikalen Kirchen und den rechtsgerichteten DemagogInnen, die die sozialen Medien nutzten, alles auf die PT zu schieben. Sie wurde als korrupt identifiziert und der Verschwendung von Geldern an die Armen bezichtigt, die sie nicht verdient haben. Dies verstärkte die Krisen- und Abstiegsgefühle innerhalb der Mittelschicht und der ArbeiterInnenaristokratie. Auf dieser Grundlage gewann eine Kampagne des bösartigen Hasses gegen die Armen, die Gewerkschaften, die schwarzen und indigenen Teile der Bevölkerung an Fahrt, während Teile der Bevölkerungsbasis der PT durch die Kürzungen bei den unter Lula geschaffenen Wohlfahrts- und Sozialdiensten, demoralisiert wurden.

Wenn es Bolsonaro und dieser Regierung gelingt, ihr Programm und ihre Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse, BäuerInnen und Unterdrückten umzusetzen, wäre dies eine historische Niederlage für die Bewegung nicht nur in Brasilien, sondern auch international. Dieser Erfolg liegt jedoch noch vor ihm, und es ist wichtig, dass keine Zeit mehr mit der Mobilisierung verloren geht, um ihn aufzuhalten.

Haddad hat angekündigt, dass er die Demokratie „verteidigen“ wird, aber weder er noch die FührerInnen des wichtigsten Gewerkschaftsbundes, der CUT, haben einen Aktionsplan nach dem Wahlkampf ausgearbeitet. Diese reformistischen FührerInnen befürchten, dass jeder Aufruf zu Massenaktionen die Reaktionskräfte entfesseln und ihre Organisationen zerschlagen oder illegalisieren könnte.

Die Passivität gegenüber den Bedrohungen wird jedoch die Herzen von Bolsonaro oder seinen AnhängerInnen nicht erweichen; ganz im Gegenteil, sie wird sie nur ermutigen, noch wilder zu sein.

Deshalb sind jetzt entschlossene Maßnahmen erforderlich. Es gibt natürlich Millionen, nicht zuletzt die 45 Millionen, die für Haddad gestimmt haben, die nicht wollen, dass ihre Organisationen oder ihre sozialen Errungenschaften von Bolsonaro und den Kräften hinter ihm zerstört werden. Während des Wahlkampfes entstand eine Frauenmassenbewegung, die Millionen gegen Bolsonaro sammelte. Guilherme Boulos, ein Führer der Obdachlosenbewegung MTST und der Partei des Sozialismus und der Freiheit, PSOL, hat Protestaktionen und die Bildung von „frente amplia“, einer breiten Front, gegen die Vertiefung des Putsches und für Massendemonstrationen am 30. Oktober als Ausgangspunkt gefordert.

Eine Einheitsfront, bestehend aus PT, CUT, MST, MTST und allen linken, sozialistischen, indigenen und Frauen-Organisationen, ist von entscheidender Bedeutung. Sie sollte nicht nur auf einer Vereinbarung über Aktionen zwischen den Führungen beruhen, sondern auch in Aktionsräten an den Arbeitsplätzen, in den Büros, in den ArbeiterInnenvierteln und den Favelas, in den Schulen und Universitäten, in den Städten und auf dem Land verankert sein. Auf dieser Grundlage könnten die ArbeiterInnen, die BäuerInnen, die rassistisch Unterdrückten, die Frauen und die Jugendlichen auf den Ansturm von Bolsonaro mit einem gemeinschaftlich vereinten Klassenkampf reagieren. Wenn beispielsweise Bolsonaro die MST tatsächlich illegalisiert, müssen sich alle zur Unterstützung zusammenschließen, nicht nur mit Massendemonstrationen, sondern auch mit einem politischen Generalstreik.

Ein solcher Streik würde jedoch den Aufbau von Selbstverteidigungseinheiten ab der ersten Minute erfordern, um die streikenden ArbeiterInnen, die Armen in den Favelas oder die Landlosen gegen die polizeilichen, paramilitärischen oder faschistischen Banden zu verteidigen. Eine solche Einheitsfront müsste an die Wehrpflichtigen in der Armee appellieren, nicht gegen die ArbeiterInnen und BäuerInnen missbraucht zu werden, sondern sich an die Seite der Bevölkerung zu stellen und SoldatInnenausschüsse und -räte zu bilden.

Um die konterrevolutionäre Bedrohung durch Bolsonaro zurückzuwerfen und zu beseitigen, müssen die ArbeiterInnenklasse und all die Unterdrückten revolutionäre Mittel einsetzen: den Generalstreik, die Bildung von Aktionsräten und deren Zentralisierung, den Aufbau von Selbstverteidigungsorganen als ersten Schritt zu einer ArbeiterInnen- und Volksmiliz.

Die revolutionären und linken Kräfte müssen dies erkennen und den reformistischen ArbeiterInnen erklären. Bolsonaro kann nur durch entschlossenes Handeln gestoppt werden, aber das bedeutet, die Frage der Macht an die ArbeiterInnenklasse und die Linke selbst zu stellen. Ein unbefristeter politischer Generalstreik wird seinerseits die Frage der Bildung einer ArbeiterInnenregierung auf der Grundlage der Streikorgane, der Aktionsräte und Selbstverteidigungsorgane aufwerfen, die im Laufe des Kampfes in ArbeiterInnenräte (Sowjets) und Milizen umgewandelt würden.

Eine solche ArbeiterInnenregierung müsste den repressiven Apparat des brasilianischen Staates zerbrechen und die konterrevolutionären, reaktionären Kräfte entwaffnen. Sie würde alle reaktionären Gesetze streichen und die Gleichberechtigung der rassistisch unterdrückten, der indigenen Bevölkerung, der Frauen und der sexuell unterdrückten Menschen sicherstellen. Sie würde Großkapital und Land unter der Kontrolle der Werktätigen verstaatlichen, einen Notfallplan einführen, um den brennenden Bedürfnissen der ArbeiterInnen und der Armen gerecht zu werden und die Wirtschaft nach den Bedürfnissen der Menschen und der ökologischen Nachhaltigkeit neu zu organisieren.

Internationale Solidarität jetzt!

Der Sieg von Bolsonaro wird den mächtigen Rechtsruck in Europa, Nordamerika und sogar rund um den Globus beflügeln und fördern. Das tatsächliche Ausmaß und die Auswirkungen der potenziellen Katastrophe, vor der eine der stärksten ArbeiterInnenbewegungen der Welt steht, müssen der internationalen Bewegung unserer Klasse nahegebracht werden.

Die Gewerkschaften, die sozialdemokratischen und Labour-Parteien sowie alle linken Parteien müssen die Solidarität auf den Straßen organisieren. Sie müssen die Freilassung von Lula und anderen inhaftierten PT-FührerInnen fordern, gegen alle Maßnahmen der neuen Regierung gegen unsere Bewegung protestieren und Ressourcen und direkte Aktionen wie ArbeiterInnenboykotte mobilisieren, während die Angriffe von Bolsonaro auf unsere GenossInnen in Brasilien niederprasseln.