Rassismus bekämpfen – europaweit!

Robert Teller, Neue Internationale 231, September 2018

Der Rechtsruck bestimmt in Europa den öffentlichen Diskurs und die politische Realität. Vor wenigen Jahren galt es noch als moralischer Makel, dass Tausende im Mittelmeer vor den Toren des „zivilisierten“ Europa den Tod fanden. Heute gilt deren Rettung auf See nicht nur als unmoralisch, sondern als kriminell. Die Weigerung der italienischen und maltesischen Regierungen, Schiffe mit aus Seenot Geretteten einlaufen zu lassen, behördliche Maßnahmen der Flaggenstaaten gegen die Schiffe wie im Fall der „Aquarius“ und das Strafverfahren gegen den Kapitän der „Lifeline“ Claus-Peter Reisch sollen nicht nur die private Seenotrettung unterbinden, sie sollen auch den MigrantInnen vor Augen führen, dass ihr Leben in Europa nichts bedeutet und ihre Flucht übers Mittelmeer aussichtslos ist.

Allein im Juni 2018 starben laut der mit der UNO eng verbundenen Organisation IOM (Internationale Organisation für Migration) mindestens 629 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer. Obwohl weniger Menschen als früher die Überfahrt wagen, ist der Sommer 2018 der bislang tödlichste im Mittelmeer. Das ist auch eine direkte Folge dessen, dass Seenotrettungs-NGOs durch behördliche Schikanen zeitweise nicht einsatzfähig waren, weil ihre Schiffe in Häfen festlagen oder – wie im Falle der „Lifeline“ und der „Aquarius“ – auf der Suche nach einem Hafen durchs Mittelmeer irrten. Die italienische Regierung beabsichtigt, unter Bruch internationalen Rechts Schiffbrüchige an die libysche Küstenwache zu übergeben. Diese interniert die Aufgegriffenen in Gefangenenlagern, wo Krankheiten, Folter und Tod an der Tagesordnung sind.

Das Massensterben im und um das Mittelmeer ist ein Teil der transkontinentalen „Kraftanstrengung“ der europäischen Regierungen, den „Flüchtlingsstrom“ zu stoppen. Während im Nahen Osten und südlich der Sahara ganze Regionen militärisch durch imperialistische Konflikte oder wirtschaftlich durch die Gesetze des Weltmarkts verwüstet werden, wollen hierzulande die ImperialistInnen selbst bestimmen, für wie viele der von ihnen Ruinierten sich die Tür nach Europa öffnet. Der grassierende Rassismus und die Abschottung Europas ist aber nicht einfach nur ein Problem mangelnder Menschlichkeit. Er ist vor allem eine Konsequenz der allgemeinen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und des Versagens der ArbeiterInnenbewegung und der Linken, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen.

In Italien, Polen, Österreich und Ungarn sind rechtsextreme oder rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt. In ganz Europa befinden sie sich im Aufschwung. Der Rechtsruck in Italien wird seit Anfang des Jahres begleitet von einer Welle teils tödlicher rassistischer Gewalttaten gegen MigrantInnen. Matteo Salvini möchte 500.000 „illegale“ MigrantInnen abschieben. Ganz Europa sieht sich scheinbar bedroht von einer Migrationswelle, auf die mit Gesetzesverschärfungen, neuen Schikanen und Fluchthindernissen sowie Aufrüstung des Polizeiapparats reagiert wird.

Rassistische Gesetzesverschärfungen in Deutschland

Nach dem Beinahe-Bruch der Unionsparteien im Juni am „Asylstreit“ folgt nun die Umsetzung des Beschlossenen. An der deutsch-österreichischen Grenze werden in Zukunft Menschen zurückgeschickt, für die nach den Dublin-Regeln andere Länder zuständig sind. Auch wenn der „Asylstreit“ stellenweise wie ein Stück aus dem Tollhaus wirkt, so hat die neue bayerische Grenzpolizei innerhalb des ersten Monats nach ihrer Aufstellung genau eine Person an der Grenze abweisen können. Somit ist der reaktionäre Charakter der beschlossenen Maßnahmen ebenso klar wie deren ganz realen Auswirkungen für MigrantInnen. Die Errichtung der lange diskutierten „Transitzentren“ hat den Sinn und Zweck, ein Kasernierungssystem für Flüchtlinge zu schaffen, in welchem in Schnellverfahren und mit eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten über Asylanträge entschieden wird. Die Transitzentren verfolgen auch den Zweck, die Segregation der „Flüchtlinge ohne Bleibeperspektive“ – d. h. der Unerwünschten – zu verschärfen, um dem „Problem“ zu begegnen, dass die Integration der MigrantInnen in die hiesige Gesellschaft oftmals rechtliche oder faktische Abschiebungshindernisse schafft. Letztlich zeigen auch die bekanntgewordenen Fälle rechtswidriger Abschiebungen nach Afghanistan und Tunesien, wohin die Reise gehen soll: Der bürgerliche Staat erträgt es nicht, dass jede/r – unabhängig von ihrer/seiner Herkunft – Anspruch auf rechtliches Gehör haben soll. Im Zweifelsfall werden dann einfach Fakten geschaffen.

Gegenüber dem Beschluss im „Asylkompromiss“ gehen Seehofers Vorstellungen im „Masterplan Migration“ noch weiter: Er sieht u. a. vor, dass in Zukunft laufende Rechtsmittelverfahren nicht mehr unbedingt ein Hinderungsgrund für Abschiebungen darstellen sollen, der Rechtsschutz damit zur Farce wird. Beschleunigte Asylverfahren sollen ausgeweitet werden. Bei ausbleibender Mitwirkung, fehlenden Papieren usw. sollen auch Widerrufsverfahren automatisch zum Nachteil der Betroffenen entschieden werden. Neben weiteren Ländern soll u. a. Algerien als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft werden, wo die Regierung regelmäßig Flüchtlinge nahe der Grenze zum Niger in der Sahara zur Rückkehr per Fußmarsch absetzt. Zudem fordert Seehofer, einen weiteren rechtlichen Status für Flüchtlinge unterhalb des Duldungsstatus einzuführen.

Das Ziel der Bundesregierung ist die „Verbesserung“ der rassistischen Selektion von MigrantInnen. Die dauerhafte „Bleibeperspektive“ soll daran geknüpft werden, wie nützlich eine MigrantIn fürs Kapital ist. Natürlich ist genau das schon immer eine wesentliche Funktion von nationalstaatlichen Grenzen. Die von der SPD geforderte „Spurwechsel“-Regelung und das geplante Einwanderungsgesetz zielen darauf ab, „brauchbaren“ Flüchtlingen mit Berufsausbildung eine Bleibeperspektive zu bieten. Diese Logik rechtfertigt im Umkehrschluss natürlich auch, die „unbrauchbaren“ Arbeitskräfte umso schneller loszuwerden, wogegen die SPD keine Einwände hat. Vor allem aber ist damit auch klar, als was die MigrantInnen im Kapitalismus gelten: als TrägerInnen der Ware Arbeitskraft, die bisweilen durchaus willkommen sind, sofern die Arbeitskraft fürs Kapital verwertbar ist. Im Kapitalismus kann die Einwanderungsgesetzgebung daher aber auch nichts anderes sein als institutionalisierte rassistische Selektion im Interesse des Kapitals. Das bedeutet keinesfalls, dass wir keinen Kampf für Verbesserungen im Asylrecht führen sollten. Es bedeutet aber, dass der Kampf gegen Rassismus nicht einfach eine Frage von Menschlichkeit ist, sondern eine Klassenfrage.

Welcome United

Für den 29. September wird zur „Welcome United“-Parade nach Hamburg mobilisiert. Die Kampagne richtet sich gegen die Gesetzesverschärfungen gegen AsylbewerberInnen, zunehmende staatliche Schikanen, Abschiebungen und die allgegenwärtige chauvinistische Hetze. Die Mobilisierung wird bislang von etwa 300 linken, antirassistischen und Refugee-Gruppen unterstützt und kann durchaus zu einem wichtigen Bezugspunkt antirassistischen Protests werden. Damit eine solche Bewegung zu einer realen gesellschaftlichen Kraft werden kann, muss sie aber eine Strategie entwickeln, die Antirassismus als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung, d. h. als Teil des politischen Klassenkampfes auffasst. Der Mobilisierungsaufruf unter dem Titel „Gegen Abschiebung, Ausgrenzung und rechte Hetze – für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle!“ wirft zwar viele wichtige Fragen auf. Die Schlussfolgerung, für welche Forderungen und Ziele wir kämpfen sollten, bleibt er jedoch schuldig – getreu dem Motto: „Der Weg ist das Ziel“.

„Mit Lautsprecherwagen, Performances, Texten, Musik und Karneval verjagen wir die Kälte, den Rassismus, die Herzlosigkeit aus den Straßen der Stadt. Gemeinsam zeichnen wir ein Bild auf der Straße: das Bild unserer Freundschaft, das Bild eines solidarischen, vielfältigen und angstfreien Lebens. Wenn wir uns bewegen, bewegt sich die Welt!“

Leider kann man den Rassismus nicht einfach mit Musik wegfeiern und mit Blumen kann man die Festung Europa nicht überwinden. Dem wird ein großer Teil der linken UnterstützerInnen des Aufrufs auch zustimmen. Der „Vorteil“ der politischen Beliebigkeit des Aufrufs besteht wohl darin, dass sich von „ganz links“ bis zu offen bürgerlichen Kräften fast jede/r darin wiederfinden kann. Der Nachteil ist allerdings, dass mit einem solchen Bündnis kein Kampf gegen Asylrechtsverschärfungen, rassistische Übergriffe und den Ausbau der Festung Europa zu gewinnen ist. Dies deshalb, weil „breite BürgerInnenbündnisse“ in der Praxis immer im Fahrwasser bürgerlicher Kräfte enden, auch wenn die „radikale Linke“ im antikapitalistischen Block ihr eigenes Ding inszeniert.

Linke sollten in der „Flüchtlingsfrage“ für die Forderung nach offenen Grenzen kämpfen, d. h. für das Recht auf Bewegungsfreiheit aller. Dabei sollten wir auch klar machen, dass dies nicht die „utopische“ Forderung ist, als die sie oft verstanden wird, sehr wohl aber einen grundlegenden Angriff auf das „Recht“ des bürgerlichen Staates zu entscheiden, wer sich im Land aufhalten darf und wer nicht, zum Ausdruck bringt. Wer nicht für offene Grenzen ist, muss zwangsläufig für eine Selektion der MigrantInnen durch den bürgerlichen Staat sein. Das Ziel dieser Forderung ist daher, jede Ungleichbehandlung von MigrantInnen durch ihn zu bekämpfen. Solche Ziele können nur auf Grundlage einer ArbeiterInneneinheitsfront erkämpft werden. Dafür sollten wir an die gesamte ArbeiterInnenbewegung herantreten, einschließlich ihrer reformistischen Teile.

Anti-Rassismus ist Klassenkampf

Den Anti-Rassismus als Teil des Klassenkampfes begreifen bedeutet, die Forderungen der Geflüchteten und MigrantInnen mit jenen der Masse der Lohnabhängigen zu verbinden. Wir treten für volle Bewegungsfreiheit, das Recht auf Arbeit und uneingeschränkte StaatsbürgerInnenrechte für alle ein – auch, weil so der Kampf viel leichter gemeinsam geführt werden kann, ohne ständige Ausgrenzung und drohende Abschiebung. Ein gemeinsame Kampffront gegen den Staat und die RassistInnen kann geschaffen werden, wenn wir gegen Armut, Kürzungen, Ausspielen von MigrantInnen und InländerInnen vorgehen, indem wir die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, nach Beschäftigung zu tariflichen und Mindestlöhnen oder nach bezahlbarem Wohnraum für alle in den anti-rassistischen Kampf integrieren. Hier zeigt sich auch, warum die ArbeiterInnenklasse, der die meisten Flüchtlinge und MigrantInnen ohnedies angehören, zur zentralen Kraft im Kampf gegen Rassismus werden kann und muss.

Die Überwindung der bestehenden rassistischen Spaltung der ArbeiterInnenklasse liegt nämlich im Interesse aller Lohnabhängigen. Die Tatsache, dass die Masse der Arbeitenden von diesem Bewusstsein weit entfernt ist, spricht nicht gegen diese Notwendigkeit. Wohl aber verdeutlicht sie, dass es eines organisierten, hartnäckigen Kampfes in den Gewerkschaften, in den Betrieben, in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung gegen Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus und Standortdenken bedarf.

Um diesen Kampf organisiert, gemeinsam – als Kampf von Linken, MigrantInnen, klassenkämpferischen GewerkschafterInnen, anti-rassistischen Bündnissen und linken Parteien – zu führen, bedarf es der Klärung unserer Ziele und der Verabredung verbindlichen gemeinsamen Vorgehens, kurzum der koordinierten bundesweiten und europaweiten Aktion gegen staatlichen Rassismus, gegen die Festung Europa.




MieterInnenbündnis wehrt sich: Gegen das Berliner Mietenmonopoly!

Jürgen Roth, Neue Internationale 231, September 2018

Die erste Stufe in Richtung des geplanten Volksbegehrens mit dem Ziel, der Berliner Senat möge ein Gesetz zur Enteignung der Deutsche Wohnen AG beschließen, ist eingeleitet.

Volksentscheid

Im Jahr 2015 scheiterte die „Initiative für soziales Wohnen“ mit einem Berliner Mietenvolksentscheid über einen von ihr ausgearbeiteten Entwurf eines Wohnraumversorgungsgesetzes. Dieses hätte zeitgleich mit den Landtagswahlen im September 2016 zur Abstimmung stehen sollen, wurde jedoch juristisch gekippt. Der neue rot-rot-grüne Senat sah sich jedoch gezwungen, ein paar Brosamen aus dem gescheiterten Gesetzentwurf aufzunehmen.

Das Wohnraumversorgungsgesetz Berlin sah vor: eine Umwandlung der Landeswohnungsunternehmen von bestehenden privaten Rechtsformen (AG, GmbH) in Anstalten öffentlichen Rechts (AöR); Senkung der Mieten in den öffentlich geförderten Wohnungsbeständen mittels Richtsatzmieten; Förderung von Wohnungsneubau, -modernisierung und -ankauf durch einen staatlichen Fonds zur Zweckbindung und Kontinuität im sozialen Wohnungsbau (Finanzierung der landeseigenen Gesellschaften, Mietkappungen in geförderten Wohnungen).

An der realen Verschärfung und Verschlechterung der Lage in Berlin haben einige halbherzige Initiativen des Senats nichts zu verändern vermocht. Im Gegenteil. Die Mietpreise steigen in der Bundeshauptstadt im Rekordtempo. Die „Deutsche Wohnen“, größte private Wohnungseigentümerin in Berlin, verfügt über rund 110.000 Mietwohnungen und erzielte mit den üblichen üblen Geschäftspraktiken, die allesamt auf eine schnelle Rendite aus sind, allein 2017 einen Gewinn von 1,7 Milliarden Euro. Die „sozialen Maßnahmen“ der Landesregierung bleiben demgegenüber Makulatur. Sie verspricht zwar sozialen Wohnungsbau und „Beschränkung“ der Profitmacherei, mit der Wohnungsbaulobby will sie sich aber auch nicht anlegen. Ja, die Geschichte der rot-rot-grünen Landesregierung ist auch eine Geschichte des ständigen Rückzugs und fauler Kompromisse.

Deutsche Wohnen enteignen!

Das Berliner Mieterbündnis hat sich daher die Forderung nach der Enteignung von Deutsche Wohnen und der anderen großen privaten Wohnungsbaukapitale auf die Fahnen geschrieben. Im Unterschied zu 2015 soll kein eigener Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt werden, sondern der Senat wird aufgefordert, die bundes- wie landesverfassungsrechtlichen Mittel dazu auszuschöpfen. Laut Grundgesetz und Landesverfassung ist eine entschädigungslose Enteignung aber ausgeschlossen. Diese soll jedoch möglichst gering ausfallen. Das Bündnis sah sich aber gezwungen, in diesen sauren Apfel beißen zu müssen, um die Möglichkeiten eines Volksentscheides überhaupt zur Mobilisierung nutzen zu können. Dieser wird mittlerweile von den Mietervereinigungen, linken Gruppierungen und einer Reihe von MieterInneninitiativen z. B. von solchen der „Deutsche Wohnen“ unterstützt.

Bei allen grundsätzlichen Grenzen und Schwächen von Volksentscheiden, trägt die Initiative das Potential, eine Massenbewegung zu einem der entscheidenden politischen Themen in Berlin und zahlreichen anderen Städten zu entfachen, die außerdem die Wohnungsfrage mit der Eigentumsfrage direkt verknüpft.

Wir unterstützen daher die Initiative und werden uns nach Kräften an ihr beteiligen. Wir fordern auch alle anderen linken Gruppierungen und alle Organisationen der ArbeiterInnenbewegung, insbesondere die Gewerkschaften, dazu auf, das Mieterbündnis zu unterstützen.

Grundsätzlich stehen wir der Methode des Volksentscheids, auch mit unterstützenswerten Forderungen, kritisch gegenüber und warnen vor Illusionen in den Staat. Selbst bei einer Mehrheit für den Volksentscheid ist dessen Umsetzung nicht gesichert. So sind schon die einzelnen Abgeordneten im Zweifelsfall ihrem „Gewissen“ und nicht der demokratischen Entscheidung verantwortlich. Selbst bei Übernahme seiner Forderungen durch ein Parlament stehen immer noch Exekutive und Judikative vor deren Um- bzw. Durchsetzung.

Im Verlauf einer Kampagne müssen wir also den Schwerpunkt auf ihren Ausbau zu einer organisierten Massenbewegung setzen, die sich dadurch die Mittel zur Kontrolle der Durchsetzung der Volksentscheidsforderungen im Falle seiner Annahme verschafft und im Falle seiner Ablehnung zu drastischeren Methoden des Klassenkampfs übergehen kann. Der Volksentscheid kann daher nur der Hebel sein, den Widerstand zu organisieren.

Entschädigung?

Grundsätzlich treten wir für eine entschädigungslose Enteignung ein. Zudem verknüpfen wir diese Forderung mit der nach Kontrolle des enteigneten Unternehmens durch die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und der MieterInnen – ArbeiterInnenkontrolle also, die aber auch die NutzerInnen der Wohnungen einschließen muss.

Ferner würden wir von Anfang an die entschädigungslose Enteignung eines einzelnen Unternehmens unter ArbeiterInnenkontrolle nur als Übergang zur Kontrolle der ganzen Branche, ja der ganzen Wirtschaft propagieren. Eine sozialistische Insel im kapitalistischen Ozean kann auf Dauer nur zu einem Laden wie jeder andere degenerieren, wenn das Wertgesetz nicht durch gesamtgesellschaftliche Bedürfnisplanung und Arbeitszeitaufwandsrechnung zurückgedrängt und schließlich ganz ersetzt wird.

Darüber hinaus gehört unserer Meinung nach zu einer solchen Kampagne, dass sie die Organisationen der Arbeiterinnenbewegung – Gewerkschaften, Parteien, aber auch den sozialdemokratisch dominierten Deutschen Mieterbund – auffordert, ihre Forderungen zu unterstützen und dazu Mittel des Klassenkampfs einzusetzen wie Streiks (der Beschäftigten bei Deutsche Wohnen), Besetzungen (z. B. bei Verdrängungen), Offenlegung der Bücher und Kontrolle des operativen Geschäfts (Reparaturen, Beschwerdeannahme, Zahlungsverkehr, Mahnwesen, Mietklagen) des Wohnungsunternehmens. Natürlich gehört zu einer solchen Kampagne auch, andere MieterInnen in die Kampagne einzubeziehen , z. B. diejenigen, an die sich der letzte Berliner Mietenvolksentscheid mit seinem Wohnraumversorgungsgesetzentwurf richtete, der ja durchaus unterstützenswerte, wenn auch geringfügige Verbesserungsvorschläge enthielt.

Aber es wäre vollständig sektiererisch, diese Kritikpunkte zum Vorwand zu nehmen, der Volksentscheidskampagne den Rücken zu kehren. Eine solche Kritik liefe darauf hinaus, einer realen, gegen die Wohnungsbaukapitale und den Berliner Senat gerichteten Kampagne nicht existente, bloß gedachte „höhere“ Kampfformen gegenüberzustellen.

Die politische Brisanz eines solchen Volksbegehrens darf vielmehr nicht unterschätzt werden. Schließlich handelt es sich bei der Wohnungsfinanzindustrie wie Deutsche Wohnen, Vonovia & Co. um OperateurInnen gewaltigsten Kalibers, die genau nach den Grundprämissen und strategischen Zielen handeln wie die weltweit führenden Akteure des monopolistischen Finanzkapitals, die immer schneller (fiktive) Kapitalsummen durch ganze Volkswirtschaften schleusen, auf der Jagd nach dem aktuell höchsten Extraprofit. Die Deutsche Wohnen AG steht quasi als Symbol für die Nervenzentren und Schaltzentralen des modernen Kapitalismus. Ein Angriff auf sie wird erbitterte Reaktionen der gesamten Kapitalistenklasse und ihrer politischen VertreterInnen heraufbeschwören. Umso erbitterter und entschlossener muss unser Kampf sein!

 

Grundrisse eines Programms in der Wohnungsfrage

Schon Friedrich Engels stellte in seiner Kritik an den bürgerlichen und proudhonistischen „Lösungen“ der Wohnungsfrage die ersten marxistischen Forderungen auf (Zur Wohnungsfrage, MEW 18; Vorwort zur 2., durchgesehenen Auflage, MEW 21): Ablehnung der Rückkehr zum eigenen privaten Wohnungsbesitz, Staatseingriffe (z. B. Beschlagnahme leerstehenden Wohnraums). Außerdem legte er dar, dass es sich beim Verhältnis zwischen VermieterIn und MieterIn nicht um ein Klassenausbeutungsverhältnis handelt.

Bürgerliche Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich lediglich gegen „spekulative Auswüchse“, nicht gegen das auch der Wohnungsfrage zugrunde liegende Kapitalverhältnis, nicht einmal gegen das private Grundeigentum oder die aus sekundärer Ausbeutung resultierende Monopolrente. Maßnahmen des sozialen Wohnungsbaus in der BRD beschränkten sich auf staatliche Subventionierung der Differenz zwischen Kostenmiete, die die „Kapitalverzinsung“ deckt, und der Sozialmiete für den/die MieterIn einer Sozialwohnung. Der zunehmende Abstand zwischen beiden ist eine der Ursachen für immer wenigere und immer teurere neu erstellte Sozialwohnungen. Zudem ist die Vollsubvention zugunsten befristeter abgeschafft worden (auslaufende Sozialbindung).

Die aufstrebende, noch revolutionäre Bourgeoisie forderte die Verstaatlichung des Grund und Bodens. Damit sollte dem ehemals feudalen Grundbesitz die Existenzquelle entzogen und die Grundrente in die Taschen des ideellen Gesamtkapitalisten gelenkt werden. Heute hat sie dies längst aufgegeben. Ein Angriff auf arbeitslose Einkommen des Grundbesitzes ist in der Ära des Monopolkapitals mit dessen parasitären Zügen für die gesamte Klasse viel zu gefährlich. Das moderne Wohnungsbaukapital stellt auch keine Kapitalfraktion im eigentlichen Sinn dar. Die Grundeigentumsaneignung erfolgt durch Industrie-, Bank- und Wohnungsbaukapital. Zudem sind die letzten beiden enger als in anderen Kapitalanlagesphären miteinander verbunden.

Darum müssen Übergangslosungen entwickelt werden, die den Kern des heutigen Wohnungsmarkts angreifen. Dabei können wir uns nicht mit der Requirierung vorhandenen Wohnraums begnügen, sondern schlagen auch ein Programm öffentlicher, nützlicher Wohnungsbau- und Sanierungsmaßnahmen zu Tariflöhnen und bezahlt aus Unternehmerprofiten vor. Der Staat soll selber sozialen Wohnungsbau betreiben, nicht das private Wohnungskapital subventionieren.

Ansätze dazu gab es im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit. Das bedeutet nicht nur Kommunalisierung des Grund und Bodens, sondern Baubetrieb in Staatshand zwecks Neubau wie Altbausanierung, bezahlt aus dem beschlagnahmten Vermögen des entschädigungslos enteigneten Wohnungs- und Baukapitals bzw. einer progressiven Steuer auf alle Unternehmensprofite.

Erst auf dieser Grundlage kann eine echte Selbstverwaltung bzw. Mitsprache der MieterInnen stattfinden, begleitet von ArbeiterInnenkontrolle über das Wohnungsbauwesen. Dies schließt die Planung über eine gleichmäßige Verteilung der Industrie, des Handels, des Bankwesens, der Infrastruktur und des Transports ein, aber auch der Besiedlung. Es handelt sich hier um nichts weniger als gesamtgesellschaftliche Bedürfnisplanung und Arbeitszeitkalkulation von Arbeits-, Freizeit- und Wohnmöglichkeiten im großen, kollektiven Maßstab. Es geht dabei auch um ökologische Aspekte, denn – worauf Friedrich Engels bereits hinwies – die Aufhebung des Unterschieds zwischen Stadt und Land mit all seinen negativen Auswirkungen auf Mensch und übrige Natur ist erst unter diesen Bedingungen der Abschaffung des Kapitalverhältnisses möglich!

 




Die neue Wohnungsfrage

Jürgen Roth, Neue Internationale 231, September 2018

Das Besondere am jüngsten Immobilienboom der BRD liegt darin, dass er einsetzte, als er in anderen Ländern (z. B. USA) zu Ende ging, nämlich mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008. Die zusätzlichen Kapitalströme waren hier nicht deren Auslöser, sondern ihre Folge. 2016 beruhten nur 32,4 % der Wohnungsbauaktivitäten auf Neubauten, fast doppelt so viele auf sog. Bestandsleistungen. Ein Viertel aller Immobilientransaktionen erfolgte in den 7 größten deutschen Städten mit über 600.000 EinwohnerInnen (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf). Dabei wohnen dort nur 12 % der deutschen Bevölkerung! Seit 2009 bleibt der Quotient aus Kauf- zu Bodenpreis weitgehend konstant. Da die Anzahl der Transaktionen nahezu unverändert blieb, steigen die Baulandpreise in derselben Geschwindigkeit wie die der Gesamtimmobilien. Die Preiszuwächse bei Eigenheim- und Mehrfamilienhäuserbauplätzen nehmen exorbitant zu.

Finanzindustrielle Wohnungskonzerne – eine räuberische Formation

Schon Ende der 1990er Jahre kauften sich Private Equity Fonds in großem Stil besonders auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt ein. Nach durch o. a. Krise verzögerter Umschuldung und Verkauf wurde die Nutzung der Immobilien für die Konstruktion global konkurrenzfähiger Finanzanlageprodukte zum Kerngeschäft der neuen finanzindustriellen Wohnungskonzerne wie Vonovia SE, Deutsche Wohnen AG, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien AG. Diese großen Vier (Big 4) bilden einen Bestandteil eines der vier Hauptsegmente des deutschen Wohnungsmarkts neben individueller, privater Kleinvermietung; selbstgenutztem Wohneigentum; staatlichen, genossenschaftlichen und gemeinnützigen WohnungsversorgerInnen.

Diese neu entstandenen Konzerne stellen eine Sonderform privater Wohnungsbauunternehmen (Segment 4) dar, weil bei ihnen die Kalküle der Konstruktion und Vermarktung von Finanzanlageprodukten die wohnungswirtschaftlichen Aktivitäten dominieren. Heute gehören ihnen in Deutschland etwa 1,2 Millionen Wohnungen, zum Besitz der Big 4 ca. 748.000. Sie weisen markante Überschneidungen bei ihren größten AktionärInnen auf. Zudem sind sie intern stark verflochten. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der vier Konzerne ist ihre strategische Ausrichtung auf die untere und mittlere Preiskategorie, die Bestandsinvestitionen („Modernisierung“) zum Kern hat.

„Kredite werden nicht mehr aufgenommen und gewährt, um Finanzierungslücken bei der Produktion oder Erneuerung von Wohnungen zu schließen. Vielmehr werden Wohnungen erworben, um diese mit Zinsen und Dividenden ,belasten’ zu können. Ziel ist nicht mehr die Tilgung der auf den Wohnungen lastenden Kredite, sondern die Besicherung einer im Grunde endlosen Reihe von Schulden durch das Immobilienvermögen. Diese Schulden bestehen nur noch zum Teil bei externen Banken, sondern überwiegend aus Anleihen und Verbriefungen, die von dem Immobilienkonzern selbst als Wertpapiere ausgegeben werden.“ (Knut Unger: Mieterhöhungsmaschinen. Zur Finanzialisierung und Industrialisierung der unternehmerischen Wohnungswirtschaft, in: PROKLA 191, 48. Jahrgang, Nr. 2, Juni 2018, S. 211)

Ganz wie die Praxis der Geschäftsbanken gehen die Big 4 zu Werke, denn zu einem beträchtlichen Teil handelt es sich bei diesen Mietwohnungen um fiktives Kapital: erstens ist ein Teil des in ihnen verkörperten Kapitals deshalb fiktiv, weil die Mieten weit über die Refinanzierung der Erstellungs- und Erhaltungsaufwendungen hinaus Monopolrenten darstellen; zweitens fließen in die Zeitwertbestimmung der Immobilien Diskontierungen zukünftiger Mietzahlungsströme ein; drittens gehen die Renditeansprüche von AktionärInnen und AnleihhalterInnen nicht mit Verfügungsgewalt über das eingesetzte Kapital einher.

In Zeiten flauer Profite setzen diese Firmen, Banken und Fonds alles auf die Sammlung von Kapital zum Erwerb lukrativer Objekte, die sie mit Gründergewinn verkaufen oder ausschlachten. Dabei bedienen sie sich der Methoden des Shareholdervalue. Es zählt der Cashflow, der liquide Überschuss, den sie als großen Hebel (leverage) für die erwartete Wertsteigerung einsetzen. Dieses Vorgehen kann als betrügerische, ja räuberische Formation bezeichnet werden. Die finanzindustrielle Unterwerfung hat zwingend die sofortige, möglicherweise auch nur kurzfristige Erzielung eines Cashflow zur systemisch zwanghaften Voraussetzung: Mietsteigerungen („Modernisierung“, Verdrängung von AltmieterInnen, Wohnungsaufteilung, Nachverdichtung), Kostensenkung (Auslagerung und Zentralisierung des Gebäudemanagements sowie Aufbau eigener Instandhaltungsflotten zum Minimaltarif, Standardisierung der Wohnungsverwaltung (z. B. Beschwerden über anonyme Callcenter statt bei Hausmeister Krause – Ordnung muss sein!), transnationale Expansion, Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat sind ihre dabei angewandten drastischen Mittel.




Gesundheitswesen: Aufstand gegen Pflegenotstand

Bruno Tesch, Neue Internationale 231, September 2018

Die Gegenwehr gegen den Notstand in der Alten- und Krankenpflege ist zur Bewegung geworden, die das gesamte Bundesgebiet erfasst hat. Das hat die Demonstration Ende Juni in Düsseldorf bei der Konferenz der GesundheitsministerInnen und haben etliche Streiks seit 2015 an verschiedenen Kliniken gezeigt.

Am 22. September soll nun in Hamburg eine weitere große Demonstration stattfinden, die den Protest gegen die unhaltbare Situation für Personal und PatientInnen zum Ausdruck bringt. Organisiert wird diese Demonstration vom Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus. Dieses Bündnis umfasst mehrere Organisationen mit gewerkschaftlichem wie politischem Hintergrund (v. a. Linkspartei) sowie auch einzelne AktivistInnen aus dem inner- wie auch außergesundheitlichen Bereich. Ein halbes Dutzend Stadtteilgruppen sind gerade im letzten halben Jahr aufgebaut worden. Als Erfolg ist auch zu werten, dass der schwerfällige und senatsnahe DGB-Apparat in Hamburg zumindest in Worten ein Bekenntnis zum Anliegen des Bündnisses abgelegt hat. Unter dem Motto „Gute Pflege für alle – Menschenwürde vor Profit“ ruft es „PatientInnen und Angehörige, Beschäftigte in Krankenhäusern, Altenpflege und ambulanter Pflege, Hebammen, Reinigungskräfte, PhysiotherapeutInnen, ÄrztInnen, ApothekerInnen, privat Pflegende und alle solidarischen Menschen“ zur Demonstration auf.

Verengung

Der große Mangel an diesem Aufruf ist jedoch die damit verbundene Kampagne. Während es Ansätze zu Streiks und Aktionen an den Krankenhäusern gab, verengt diese Ausrichtung der Kampagne die Aktivitäten auf einen Volksentscheid, um ein verbessertes Krankenhausgesetz zu erwirken. Dazu wurden bereits in der ersten Stufe, der Volksinitiative, 30.000 Unterschriften gesammelt. Dieser schwerpunktmäßige Ansatz bindet Kräfte, sein Ausgang ist ungewiss und kann sich, da das Verfahren gerichtliche Hürden zu überwinden hat, sehr in die Länge ziehen und die AktivistInnen ermüden. Außerdem verengt die Auseinandersetzung mit dem Senat und die Beschränkung auf Hamburger Verhältnisse die wirklich erfolgversprechende Kampfperspektive und die kann nur in der Mobilisierung der Beschäftigten in den Betrieben und anderen gewerkschaftlichen Bereichen und deren Ausweitung auf das Bundesgebiet liegen.

Die Chancen dafür stehen eigentlich nicht schlecht, denn seit Ende Juli befinden sich wieder Krankenhausbeschäftigte im Streik, so z. B. in den Unikliniken Düsseldorf und Essen. Dort hat sich auch ein weiteres Bündnis gegen den Pflegenotstand frisch gegründet. Hier wäre also ein weiterer Anlass gegeben, eine bundesweite Koordination auf- und auszubauen, die sich die Vorbereitung eines flächendeckenden und gleichzeitigen Streiks zum Ziel setzt.

Die brisante Lage hat selbst die Bundesregierung erkannt und durch Gesundheitsminister Spahn (CDU) will sie die Ausbreitung von Infektionsherden des Unmuts unter den Beschäftigten unterbinden, indem die nochmalige Aufstockung von Pflegestellen auf 13.000 und die Einführung eines Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes eingebracht wird. Damit sollen natürlich nur Beruhigungspillen mit Placebo-Effekt verabreicht werden, denn diese Maßnahmen würden, so sie denn tatsächlich eintreten, weder am grundsätzlichen System noch an der finanziellen Belastung der PatientInnen etwas ändern .Schließlich hält Spahn eine Erhöhung der Pflegebeiträge für unumgänglich.

Die Geschichte der Krankenhausfinanzierung in Deutschland kennt über Zwischenetappen zwei wesentliche Wendepunkte. Anfang der 1970er Jahre wurde das Abrechnungssystem umgestellt. Bis dahin wurden die Ausgaben für Krankenhäuser, ihre Einrichtungen und Behandlungen nach deren Bedarf vollständig staatlich gedeckt (Kameralistik). Ab 1972 erfolgte die Einführung eines sogenannten dualen Finanzierungssytems, bei dem sich die Kosten in Investitionsanteile, die von den Bundesländern aufgebracht werden sollen, und die Betriebs- und Behandlungskosten nach Pflegesätzen, die von den Krankenkassen, d. h. den Versicherten, getragen werden, aufspalteten. Die staatlichen Investitionen wurden daraufhin zurückgefahren und gedeckelt. Der Anteil für die Kassen, also für die Versicherten, an den Personalkosten stieg. Das Märchen von der „Kostenexplosion des Gesundheitswesens“ machte die Runde und ist bis heute nicht ausgerottet.

2002 kam dann die gesetzlich verordnete Öffnung des Krankenhausbereichs für die freie Konkurrenz. Ein Privatisierungsschub setzte ein. Die diagnosebezogene Fallpauschale (DRG) bei gleicher Budgetierung auch für die noch staatlichen Krankenanstalten regiert nun in einem profitorientierten Abrechnungssystem.

Der Hochrisikopatient Gesundheitswesen kann nur genesen, wenn

  • alle größeren medizinischen Versorgungseinheiten wieder in öffentliche Hand überführt werden
  • die Budgetdeckelung und Abrechnungen nach lukrativen Gesichtspunkten, die „Fallpauschalen“, fallen
  • Einsichtnahme in alle gesundheitsrelevanten Unterlagen durch gewählte berichtspflichtige und abberufbare Kontrollkommissionen gewährleistet ist
  • Vergütung, Ausbildung, Dienstpläne, Schichten, Arbeitsbedingungen, Betreuungsquoten unter Beteiligung der Beschäftigten und PatientInnen erfolgen – keine Verhandlung über „Ober- oder Untergrenzen“ im Personalbereich

All dies muss unter ArbeiterInnenkontrolle vonstatten gehen. Sie bietet die einzige Gewähr, dass diese Maßnahmen auch verwirklicht und eingehalten werden können. Vorbereitet werden muss dies durch die Verbindung der bisher noch losen Bündnisse, deren Zentralisierung und die Einleitung von gewerkschaftlichen Streikmaßnahmen, im Zuge dessen sich gewählte rechenschaftspflichtige Streikausschüsse formieren können.

Bundeskonferenzen in Stuttgart vom 19.-21. Oktober und Hamburg 9.-10. November könnten die Weichen für ein gemeinsames Handeln stellen.

 




Landtagswahlen in Bayern: Keine Wahl wie jede andere

Helga Müller, Neue Internationale 231, September 2018

Sollte es der CSU trotz anderslautender Prognosen gelingen, die absolute Mehrheit in Bayern zu verteidigen – wovon derzeit nicht auszugehen ist -, würde dies auch bundesweit den Rechtsschwenk weiter befeuern. Aber selbst in einer Koalitionsregierung – in welcher auch immer – wird die CSU ihren bundespolitischen Einfluss geltend machen.

Nicht nur in der Bundesregierung wird sich Innenminister Seehofer (CSU) weiterhin als Garant für „Sicherheit“ durch geschlossene Grenzen aufspielen und auch an Abschiebungen festhalten. Auch in anderen – vor allem den unionsregierten – Bundesländern muss mit Maßnahmen gerechnet werden, die verstärkte Repression ermöglichen. So ist zwar die Verschärfung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) die erste und härteste ihrer Art. Andere Länder wie NRW und Sachsen – die auch CDU-regiert sind – ziehen jedoch bereits nach.

Gerade von der CSU in Bayern und von ihrem Innenminister Horst Seehofer wird immer wieder die Debatte um die angeblich zu vielen Flüchtlinge, die unseren armen „Sozialstaat“ zusätzlich belasten, angeheizt und liefert den Vorwand, die angeblich daraus resultierende terroristische Gefahr mit einem neuen Polizeiaufgabengesetz bekämpfen zu können. Dieses wurde in einem Hauruckverfahren durch den Landtag gepeitscht. Ein PAG, von dem sogar liberale JuristInnen sagen, dass dieses die Grundrechte eines/r jeden BürgerIn dermaßen einschränkt, wie es die Bundesrepublik seit ihrer Existenz noch nicht erlebt hat. Dieses Gesetz diente wiederum den anderen CDU-geführten Bundesländern als Muster. Weitere werden nachziehen.

Konflikte und Prognosen

Momentan sieht es allerdings eher nach einem Debakel für die CSU aus, kommt sie bisher laut Umfragen „nur“ auf 37 %. Doch auch im Falle erheblicher Stimmenverluste bleibt zu erwarten, dass sich die CSU weiterhin an der AfD orientieren und deren Forderungen soweit wie möglich in die Tat umsetzen wird.

Aber die derzeitigen Umfrageergebnisse zeigen gerade, dass die maßlose Verschärfung des PAG und die Grundrechtseinschränkungen auch den Widerstand und die Empörung breitester Bevölkerungsteile provozieren: Die Demonstration gegen das neue PAG vom 10. Mai mit ca. 50.000 TeilnehmerInnen, die ein breites Spektrum umfasste, war eine der größten seit Jahren in Bayern. Auch die Demo #ausgehetzt gegen den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft und gegen Grundrechtseinschränkungen am 22. Juli – gerade mal einen Monat später – mit wiederum ca. 40.000 Menschen zeigt, dass in breiten Schichten – auch gerade bei CSU-AnhängerInnen – ein tiefes Misstrauen in die Politik des neuen Ministerpräsidenten Söder herrscht.

Aber auch Seehofer ist in der CSU nicht unumstritten. Risse über den zukünftigen Kurs – auch und gerade in der Flüchtlingspolitik – tun sich auf. Ein Indiz dafür ist, dass einige Vorsitzende in CSU-Bastionen Oberbayerns aufgrund der Flüchtlingspolitik von Seehofer und vor allem seiner Vorgehensweise zurückgetreten sind.

Dass die CSU – wenn sie auch eine sogenannte Regionalpartei ist – ein großes „Wörtchen“ im Bund mitzureden hat, zeigt die ganze Debatte um die „richtige“ Flüchtlingspolitik. Schon vor der Sommerpause geriet Merkels CDU unter Druck und Seehofer stellte ein Ultimatum nach dem anderen, um zu zeigen, dass an der CSU kein Weg vorbeiführt. Die SPD verhielt sich wahlweise passiv oder opportunistisch, keinesfalls kritisch oder kompromisslos in dieser Auseinandersetzung. Dabei sind die Grundrechtseinschränkungen und Erweiterungen polizeilicher Befugnisse nur ein Baustein im allgemeinen Rechtsruck der CSU in Bayern.

Die Landes-SPD war zwar in den Bündnissen gegen die Verschärfung des PAG dabei und hat auch RednerInnen auf den Demonstrationen gestellt, aber auf die drängenden Themen auch oder gerade im „reichen“ Bayern und in München wie steigende Mieten, Altersarmut und vor allem den Mangel an Pflegepersonal gaben sie keine Antwort. Folglich kann die Sozialdemokratie von der Krise der CSU nicht profitieren. Die bisherigen Wahlprognosen bestätigen dies: In aktuellen Umfragen liegt die SPD mit 12 % sogar hinter der AfD (13 %)!!

Auch DIE LINKE ist nur wenig in der Lage, aus dem Debakel der CSU Profit zu schlagen. Sie liegt in den Umfragen bei 4 % und könnte abermals an der undemokratischen Sperrklausel scheitern und nicht in den Landtag einziehen. Dies obwohl sie und ihre Jugendorganisation [’solid] an den Bündnissen gegen AfD aktiv – aktiver als die SPD – beteiligt waren. Dies auch, obwohl sie z. B. das bayerische Volksbegehren gegen Pflegenotstand (unsere Kritik am Volksbegehren ist in unserer Frauenzeitung „Fight“ unter „Druck machen muss anders gehen“! nachzulesen) – initiiert hat und aktiv vorantreibt. Die einzigen Parteien, die in der Lage sind, von der Wahlschlappe der CSU zu profitieren, sind die AfD und teilweise auch DIE GRÜNEN mit 17 %. Die AfD wird mit Sicherheit in den Landtag einziehen und zu befürchten ist, dass sie vor der SPD zur drittstärksten Partei in Bayern anwachsen könnte.

Themen

Themen gäbe es viele, mit denen sowohl die SPD als auch DIE LINKE gerade bei den Arbeitslosen und sozial Schwachen, aber auch beim Großteil der arbeitenden Bevölkerung in Bayern punkten könnten: preiswerte Mieten, ausreichend Pflegepersonal, Schutz gegen Altersarmut, ausreichend LehrerInnen, Jugendfreizeiteinrichtungen etc…

Um nur ein Beispiel herauszunehmen: Am 15. September wird eine Demonstration gegen die horrenden Mieten in München stattfinden, die von Mieterselbstorganisationen initiiert wurde. Diese wird sicherlich wieder die 10.000er-Marke überschreiten. Anstatt sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen und effektiv gegen Mietspekulation, die mit ein Grund für die exorbitanten Mieten in München ist, für einen bedarfsgerechten Ausbau des sozialen Wohnungsbaus im Bund, für eine effektive Mietpreisbindung zu kämpfen, kommt ein „Reförmchen“ von SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter. Dieses beinhaltet z. B., dass die soziale Zusammensetzung eines Stadtteils nicht durch Luxussanierungen auseinandergerissen werden darf. Noch schwerer wiegt, dass Reiter nach einem Protest von GrundstückseigentümerInnen gegen eine geplante städtebauliche Maßnahme im Münchner Norden, die auch die Möglichkeit von Enteignung vorsah, wenn sich diese gegen das Vorhaben der Stadt sträuben sollten, auf deren Durchsetzung verzichtet hat. So macht man sich natürlich gerade bei dem Bevölkerungsteil, der auf preiswerte Wohnungen angewiesen ist, keinen guten Namen.

Aber auch von der Partei DIE LINKE, die viele richtige Forderungen in ihrem Wahlprogramm hat – wie z. B. Beschlagnahme von Wohnraum, der aus Spekulationsgründen leer steht -, ist in dieser Frage nicht viel zu sehen. Und es gibt im Programm auch keine klare Vorstellung, wie dies durchzusetzen wäre im Falle des Widerstands von VermieterInnen und SpekulantInnen – was real passieren wird, wie am Beispiel oben geschildert. So bleibt diese Forderung in den Augen vieler – zu Recht – reiner Wunschtraum und ein bloßes Wahlversprechen.

Wahltaktik

Trotzdem rufen wir in den bayerischen Landtagswahlen zur Wahl der Partei DIE LINKE auf. Nicht weil wir der Meinung sind, dass das Wahlprogramm die Lösung aller Probleme in Bayern darstellt, trotz vieler richtiger Forderungen, die wir auch als RevolutionärInnen unterstützen können. Sondern erstens, weil in der derzeitigen Konstellation jede Stimme für DIE LINKE eine Ablehnung der aktuellen Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung, auf die Jugend, auf die RentnerInnen, Arbeitslosen und ImmigrantInnen und gegen die AfD und den allgemeinen Rechtsrutsch darstellt. Genau aus diesem Grund sehen zweitens gerade viele Jugendliche und die bewusstesten Teile aus der ArbeiterInnenklasse nur in der Wahl von DIE LINKE die Möglichkeit, auf Wahlebene ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Wir als RevolutionärInnen teilen diese Illusion nicht, deswegen fordern wir DIE LINKE dazu auf, konsequent für ihre Forderungen auf der Straße zu mobilisieren und in den Gewerkschaften den Kampf dafür zu führen. Das ist die beste Möglichkeit zu überprüfen, ob das Programm nur ein leeres Wahlversprechen ist oder Ausgangspunkt für einen Kampf gegen neoliberale Politik und Rechtsrutsch. Daher ist es notwendig, nicht nur DIE LINKE zu wählen und zu hoffen, dass sie ihr Programm wahrmacht, sondern für die Verteidigung der Arbeits- und Lebensbedingungen gemeinsam den Kampf aufzunehmen.

 




Britische Labour Party: Querelen vor dem Parteitag

Arthur Milton, Neue Internationale 231, September 2018

Vor dem Parteitag Ende September steckt Labour in einer Diskussion, die sich v. a. um 2 Punkte dreht: seine Haltung zum Brexit und zu den Vorwürfen von Antisemitismus gegen Corbyn und andere führende Mitglieder. Im folgenden beschäftigen wir uns mit der Debatte um den Brexit.

Zum Klassencharakter des Brexit-Referendums

Das Referendum wurde von Ex-Premier Cameron anberaumt, um die Bruchlinien innerhalb seiner Konservativen Partei zu kitten. Sein Resultat kam unerwartet und vom Standpunkt der herrschenden britischen Klasse aus unerwünscht. Es wurde allgemein als Protest gegen das „Establishment“ gewertet. Doch dies besagt nicht viel, schrieben sich doch sowohl die rechtspopulistische UKIP wie die zentristische SWP den Sieg auf ihre Fahnen.

Entscheidend war die Stoßrichtung der Abstimmung. Es ging darum, ob die von Cameron ausgehandelten Zugeständnisse an Britannien seitens der EU genug waren. Sie betrafen v. a. eine Einschränkung der Freizügigkeit für die Arbeitsmigration innerhalb der Union. Das EU-Einwanderungssystem war Cameron nicht rassistisch genug, betraf es doch „nur“ BürgerInnen von außerhalb der Staatengemeinschaft. Die Abstimmung stand also ganz im Zeichen dieses Themas und förderte einen weiteren Rechtsruck zutage. Aus diesem Grunde haben unsere britischen GenossInnen von Red Flag beim Referendum für den Verbleib in der EU gestimmt, während ein Großteil der übrigen Linken im Vereinten Königreich (UK) für den Brexit eintrat und somit den entscheidenden Punkt im Kontext des Volksentscheids außer Acht ließ.

2 Jahre danach: Tories zerrissen

Im Oktober werden die Weichen über die Art des britischen Ausstiegs aus der EU gestellt. Alles was seit der Abstimmung in Britannien passierte, besonders die Zunahme rassistischer Angriffe, bekräftigt, dass das Votum zum Austritt einen ernstzunehmenden Fortschritt für die reaktionärsten Kräfte in der britischen Politik darstellt.

Die Premierministerin Theresa May kann bis jetzt ihre Partei zusammenhalten, indem sie die Rhetorik der Brexit-Hardliner öffentlich bekräftigt, während sie bei den aktuellen Verhandlungen mit der EU Zugeständnisse an allen Fronten machen muss. Viele Mitglieder in Kabinett und der Konservativen Partei hoffen auf einen akzeptablen Weg, um das Referendumsresultat umdrehen zu können. Ein Verschieben der endgültigen Entscheidung mittels „Übergangsperioden“ und „erweiterter Umsetzung“, ein Aussitzen also, erscheint ihnen als passende Option. Doch es gibt eine zweite: Das Vereinigte Königreich könnte am 29. März 2019 die EU ohne Abkommen verlassen. Dies wäre der sog. harte Brexit.

Seine BefürworterInnen wie David Davis sehen in diesem Szenario die Möglichkeit, mit dem Rest der Welt für Britannien vorteilhafte Verträge abschließen zu können. Auch wenn wir unterstellen, dass das so leicht möglich wäre, erhebt sich die Frage, wer davon profitieren könnte? Sicher nicht die Arbeitslosen und NiedriglöhnerInnen in den deindustrialisierten Regionen des Landes, sondern eine Schicht kleinen und mittleren Kapitals, die auf lokale Märkte orientiert und skeptisch gegenüber Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen wie anderen Einschränkungen ihrer Geschäfte ist. Das Großkapital kann außerhalb der EU auf einen bilateralen Deal z. B. mit den USA hoffen. Dieser wäre jedoch vor allem ein Geschenk für US-amerikanische Konzerne, die auf eine Übernahme und Privatisierung des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS spekulieren würden.

Die Brexit-Hardliner stellen zur Zeit nur eine vergleichsweise kleine Gruppe unter den konservativen ParlamentarierInnen. Sie haben keine Möglichkeit, eine Mehrheit unter den Tory-Abgeordneten gegen May zu finden. Aber mittels der reaktionären Presse können sie die WählerInnen und Mitgliedschaft aufzurütteln versuchen, so dass May sich auf Labourstimmen stützen muss oder eine Verhandlungsposition einnimmt, die die EU nur ablehnen kann und zum ungeordneten Rückzug aus ihr führen muss. Das neue Weißbuch Mays und der Rücktritt einiger Hardliner aus der Regierung (Boris Johnson, David Davis, Steve Baker) durchkreuzen diesen Plan jedoch einstweilen.

Britannien schlägt jetzt eine Freihandelszone für Fertig- und Agrarwaren vor, in der die existierenden Regeln weiter gelten sollen. Das würde einen Deal mit den USA, mittels dessen letztere den britischen Markt mit billigen Landwirtschaftsgütern überschwemmen könnten, unmöglich machen – ein wichtiges Zugeständnisse an die Brexit-SkeptikerInnen. Doch ob Mays Hybridmodell von der EU-Verhandlungskommission akzeptiert werden wird, erscheint fraglich. Es bedeutet schließlich eine Aufspaltung in freie Bewegung und einträchtige Regulation für Güter, aber nicht für Kapitaltransfers, Dienstleistungen und EU-Niederlassungsfreiheit inkl. freizügiger EU-Binnenmigration. Auf dem gemeinsamen Gipfel im Oktober werden die Würfel fallen, ob das Vereinte Königreich eine ähnliche Rolle im Verhältnis zur EU spielen kann wie Norwegen.

Brexit und Labour

Der rechte Flügel der Labour Party möchte eine auf die Bedürfnisse der herrschenden Klasse beschränkte Parlamentsdebatte um die Details (erweiterte) Zollunion, Einheitliche Europäische Akte oder Handelsblock. Auf dem Parteitag soll möglichst nicht kontrovers über den Brexit diskutiert werden. Das will auch der linke Parteiflügel nicht. Er ist zudem über der Frage gespalten. Ein Teil vertritt aktiv und offensiv einen Brexit unter Bezug auf das alte Programm der Stalinistinnen und des linken Labourflügels um Tony Benn aus den 1970er Jahren, „dem britischen Weg zum Sozialismus“.

Der andere Flügel besteht mehrheitlich aus AnhängerInnen eines „sanften“ Ausstiegs. Sie vertreten de facto Corbyns Position und sehen hinter jeder Kritik eine Schmälerung der Chancen auf einen Sieg bei möglichen vorgezogenen Parlamentswahlen. Diese Position vertritt mehrheitlich auch Momentum, die Sammlungsbewegung zur Unterstützung einer Labourregierung unter Corbyn. Doch in Momentum gibt es auch Opposition zur aktuellen „Lasst den Brexit geschehen!“-Position. Diese Minderheit fordert eine offene Debatte auf der Labourkonferenz im September und eine zweite Abstimmung über den Brexit, diesmal in Gestalt des Ergebnisses der Verhandlungen mit der EU.

Die offizielle Haltung Labours ist in dem Beschluss „Sechs Kriterien“ zusammengefasst. Die EU soll verlassen werden, gleichzeitig sollen aber alle Vorteile bleiben, die Zollunion und Gemeinsamer Binnenmarkt mit sich bringen. Bezüglich der Arbeit„nehmer“Innenfreizügigkeit fordert Labour „eine faire und geregelte Arbeitsmarktmigration“, also das Ende der Bewegungsfreiheit auch für EU-BürgerInnen. Es gibt also nur einen geringfügigen Unterschied zu Mays Hybridmodell. Die Parteivorstandsmehrheit weigert sich einzugestehen, dass die einzige Wahl nur die zwischen einem klaren Bruch mit allen Konsequenzen für Beschäftigung und Investitionen einerseits oder einer Opposition gegen den Brexit andererseits besteht, also einem Eintreten für ein Alternativmodell zur EU an der Seite der Einheit mit der europäischen ArbeiterInnenbewegung.

Red Flag

Inner- oder außerhalb der EU: eine Corbyn-Regierung fände ihren unversöhnlichsten Feind stets in der „eigenen“ herrschenden Klasse! Red Flag tritt für volle Debatte über den Brexit auf dem kommenden Labour-Parteitag ein und unterstützt eine Petition der Minderheit innerhalb Momentums. Ferner soll Labour gegen jedes Abkommen stimmen, das Großbritannien aus der EU entfernt.

Der Kampf gegen die reaktionäre Politik der EU wie ihrer Mitgliedsstaaten, für eine Alternative zum Brexit kann nicht nur im nationalen Rahmen geführt werden. Eine fortschrittliche Lösung kann nur in der gemeinsamen Aktion, im gemeinsamen Widerstand der europäischen ArbeiterInnenklasse erkämpft werden. Nur so kann der Kampf gegen Spardiktate, Militarismus und Imperialismus in Osteuropa und Afrika, gegen das Flüchtlingselend aufgenommen und verstärkt werden.

Eine sozialistische Vision für das 21. Jahrhundert kann nur reale Gestalt annehmen gemeinsam mit den anderen Lohnabhängigen Europas. Nur die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas können die Produktivkräfte und Ressourcen, die die kapitalistische EU geschaffen hat, weiterentwickeln, den Kontinent auf fortschrittliche Weise einen und mit Ausbeutung, Armut und Unterdrückung Schluss machen.




Türkische Wirtschaft am Abgrund

Markus Lehner, Neue Internationale 231, September 2018

Schon Anfang Juni stellte der bekannte Ökonomieprofessor Kenneth Rogoff im Guardian die Frage: „Sind die überkochenden Wechselkurs- und Schuldenkrisen in Argentinien und der Türkei lokale Ereignisse? Oder sind sie Warnzeichen für tiefer liegende Brüche in den aufgeblähten globalen Schuldenmärkten im Umfeld steigender Zinsen?“ (Guardian, 11.6.2018). Auch wir haben bereits länger auf eine seit 2016 zu beobachtende geänderte weltwirtschaftliche Situation hingewiesen, die insbesondere für eine Reihe von „Schwellenländern“ („emerging markets“) zu Problemen führen muss. Die Krise in der Türkei ist eben kein Einzelfall. Sie weist viele Parallelen mit ähnlichen auf, die sich in den letzten Monaten in Argentinien, Ägypten, Südafrika und Pakistan zugespitzt haben. Das wieder steigende Zinsniveau in den USA, die US-Steuerreform und die gerade anlaufende starke Investitionswelle in den imperialistischen Zentren haben die Kapitalflüsse umgekehrt – massiv werden Investments aus nicht mehr so profitabel angesehenen „emerging markets“ in die Triaden-Länder zurückgeführt.

Nach außen hin, zum Teil auch in den deutschen Medien, erscheint es so, als ob sich die derzeitige Zuspitzung der Wirtschaftskrise in der Türkei durch das Zusammenstoßen von zwei irrationalen Egomanen, dem türkischen Autokraten Erdogan und dem US-Präsidenten Trump, ergeben habe. Erdogan selbst versucht, die Aktionen des US-Präsidenten zu nutzen, um die eigentlichen Probleme als Ergebnis eines „terroristischen Wirtschaftskrieges“ gegen die Türkei darzustellen. Sicherlich haben die US-Sanktionen wegen der Affäre um den US-amerikanischen Pastor Brunson (der wegen angeblicher Verbindungen zu der Gülen-Bewegung und „Terrorunterstützung“ in türkischer Untersuchungshaft sitzt) und die bald darauf folgenden Strafzölle für Stahl und Aluminium den bereits vorher schon katastrophalen Verfall des Werts der türkischen Lira nochmals beschleunigt.

Inflation und Verschuldung

In den letzten sechs Monaten hat die Lira 40 % ihres Werts gegenüber dem Dollar verloren, in der Woche nach der Verkündung der Sanktionen gleich noch mal 20 %. Momentan liegt die Teuerungsrate offiziell bei 15 % und mit der jüngsten Verteuerung von Importen ist mit noch sehr viel mehr zu rechnen. Dies ist an sich schon ein politisch gefährlicher Wert. Viel schlimmer ist, dass der Währungsverfall Ausdruck eines Verschuldungsproblems von Kernbestandteilen der türkischen Ökonomie ist. In den letzten Jahren konnte in der Türkei hohes Wachstum nur durch massiven Zufluss ausländischen Kapitals gesichert werden: Ihre Leistungsbilanz ist seit mehr als einem Jahrzehnt negativ (2017: -5,5 % des Bruttoinlandsproduktes), d. h. kann nur durch entsprechenden Kapitalzufluss aus dem Ausland gedeckt werden. Dies stellt de facto (auch wenn es die Form von „Investitionen“ annimmt) eine jährlich wachsende Verschuldung türkischer Haushalte und Unternehmen in US-Dollar in der Höhe von 3-5 % der Jahreswirtschaftsleistung dar und führte zu wachsenden Auslandsschulden türkischer Privatunternehmen, aktuell in einer Höhe von 220 Milliarden US-Dollar. Diese Summe entspricht den tatsächlich in US-Dollar bestehenden Verbindlichkeiten abzüglich der eigenen Dollar-Vermögen. Insgesamt sind die türkischen Privatunternehmen in Höhe von 60 % des BIP verschuldet, die Hälfte davon in den besagten Fremdwährungen. Mit Einnahmen in Lira wird gerade deren Bedienung in Dollar immer teurer. Doch auch die Lira-Schulden werden von den Banken oft über Fremdwährungs-Gegenwerte finanziert, so dass sich das Schuldenproblem bei ihnen noch viel gravierender darstellt. Unmittelbar müssen sie und nicht-finanzielle Unternehmen in diesem Jahr noch 51 bzw. 18,5 Milliarden US-Dollar an Schuldendienst tilgen. Angesichts des beschleunigten Lira-Verfalls, des Einbruchs der türkischen Börse (40 Milliarden Verlust in der Woche nach den Trump-Aktionen) und der politischen Weisung Erdogans, Zinserhöhungen um jeden Preis zu verhindern, ging logischerweise in der Wirtschaftswelt die Angst vor einer baldigen Zahlungsunfähigkeit wichtiger türkischer Banken um – dies auch mit beträchtlichen Folgen für einige europäische Großbanken (insbesondere in Spanien und Italien). Erschwerend kommt hinzu, dass die Türkei im Vergleich zu anderen Schwellenländern geringe Dollarreserven angelegt hat. Diese wurden jetzt zur vorläufigen Stabilisierung des Lira-Werts eingesetzt, aber inzwischen sind die Devisenreserven auf den Gegenwert von Importen für 4 Monate gefallen. Mitte August stuften die Rating-Agenturen Moody’s und S&P türkische Staatsanleihen von „Ramsch“ auf „hoch spekulativ“ herab. In jedem Fall verteuern sich alle Geschäfte mit ausländischer Kapitalbeteiligung durch die „Kreditwürdigkeitskriterien“ auch anderer Finanzinstitutionen um ein Vielfaches und sind mit immer größeren Auflagen verbunden.

Der mit viel Pomp verkündete 15-Milliarden-Kredit aus Katar ist angesichts des dargestellten Schuldenproblems ein Witz. Ebenso wenig bringt eine mögliche Hinwendung zu Russland wirtschaftlich. Das Land wird vielmehr selbst von einer schweren ökonomischen Krise und von Auslandsverschuldung heimgesucht. Diese häufig in den deutschen Medien zitierte Hinwendung drückt eher Befürchtungen der deutschen Außenpolitik aus als eine tatsächliche Strategie Erdogans. China, das sich bei anderen „Problemfällen“ derzeit stark engagiert (z. B. Pakistan, Iran) hat überhaupt keine Veranlassung, seinen Konflikt mit den USA auch noch durch Unterstützung der Türkei zu verschärfen und Geld zu riskieren, das man gerade im Handelskonflikt mit den USA anderweitig braucht. Tatsächlich deutet einiges in die Richtung, dass man angesichts der Lage wieder eine Annäherung an die EU (insbesondere an das deutsche Kapital) versucht. Die plötzliche Aufhebung der Ausreisesperre für die deutsch-türkische Journalistin Mesale Tolu ist ein Indiz dafür. Dies wäre der einzige Geldgeber von Gewicht außerhalb des IWF, ohne einen Kniefall vor den USA tun zu müssen. Allerdings wäre auch hier der politische Preis hoch, da der deutsche Imperialismus so seinen Einfluss in der Region unverhofft wieder ausbauen könnte.

Die Bundesregierung, in erster Linie die SPD-MinisterInnen Nahles und Scholz, ließen bereits ihre Bereitschaft verlauten, den NATO-Partner Türkei unterstützen zu wollen und dabei auch einmal über politische Differenzen mit Erdogan hinwegzusehen.

In der Schuldenfalle

Früher oder später müsste Erdogan nach kapitalistischer Logik also zwei Dinge machen: rasche und heftige Erhöhung des Zinsniveaus und die Anfrage um ein wirksames Kreditprogramm des „Internationalen Währungsfonds“ (IWF). Dies geschah etwa vor kurzem im Fall von Argentinien und Ägypten. Das Problem für Erdogan und die AKP: Massive Zinserhöhungen würden einerseits zu einer massiven Pleitewelle in Bauwirtschaft, Einzelhandel, Unternehmensneugründungen etc. führen, andererseits dazu, den IWF und seine „BeraterInnen“ ins Land zu holen, die dann de facto die Wirtschaftspolitik übernehmen. Denn der IWF knüpft seine Milliardenkredite zumeist an sehr konkrete Forderungen in Bezug auf Wirtschafts- und Sozialpolitik und bestimmt, welche Unternehmen zu eliminieren seien. Die AKP würde also einen großen Teil ihrer (klein)bürgerlichen Wählerschaft offen ins Messer laufen lassen und Erdogan schnell das Gesicht als vermeintlicher „Anti-Imperialist“ verlieren. Die Alternative wären Verstaatlichungen überschuldeter Wirtschaftszweige und die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. Dies wiederum würde die türkische (nicht-kemalistische) Bourgeoisie mit der AKP brechen lassen.

Angesichts der bisherigen Erklärungen Erdogans und seiner MinisterInnen und BeraterInnen ist nicht erkennbar, dass sie zu einem dieser beiden Wege bereit sind. Wenn das Verschuldungsproblem, das Dahinschmelzen der Devisenreserven, der Verfall der Währung und die Explosion der Inflation so weiter gehen, droht die Zahlungsunfähigkeit großer Banken und der Zusammenbruch wichtiger Unternehmen. Angesichts des Umfangs der investierten Werte werden insbesondere EU-Kapitalien wie Deutschland sicher versuchen gegenzusteuern und „Angebote“ machen. Möglicherweise wird die Unzufriedenheit von Teilen der die AKP unterstützenden Kapitale und Schichten schon vorher einen Kurswechsel erzwingen. Dies könnte sogar zum Sturz Erdogans oder zu einem diesmal professionell durchgeführten Putsch führen.

ArbeiterInnenklasse

Für die türkische ArbeiterInnenklasse bedeutet die Krise schon jetzt einen massiven Einschnitt. Nicht nur die Verteuerung des alltäglichen Lebens, auch eine wachsende Arbeitslosigkeit (offiziell bei 10 %) schmerzen. Für kommendes Jahr gehen die internationalen Agenturen von einer Rezession mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung um 0,5 % (nach den starken Wachstumsraten der letzten Jahre eine völlige Umkehr) und einer Inflation von über 20 % aus. Zusammen mit Firmenpleiten wird dies die Arbeitslosigkeit nochmals in die Höhe schnellen lassen. Der Widerstand der ArbeiterInnenklasse in der Türkei ist weiterhin durch die gewerkschaftsfeindliche Politik, die Einschränkungen für betriebliche und überbetriebliche Organisierung und die Aushebelung demokratischer Rechte durch das Regime extrem schwierig. Hinzu kommt, dass die Unterdrückung der KurdInnen und der türkische Nationalismus auch in der ArbeiterInnenklasse wirken, diese spalten und schwächen.

Erfolge wie beim für den Yves-Rocher-Konzern arbeitenden Kosmetik-Betrieb Flormar im östlich von Istanbul gelegenen Gebze (Anerkennung der Vertretung durch die Gewerkschaft Petrol-Is) sind Zeichen für einen möglichen Wandel angesichts der ökonomischen Krise (labournet, 17.8.2018). Erdogan scheint sich des Potentials bewusst zu sein, das von einer organisierten, widerständigen ArbeiterInnenklasse in der Krise ausgehen könnte. Daher verschärfte er auch per Dekret vom 15. Juli die Kontrolle und staatliche Aufsicht über die Gewerkschaften. (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1095149.repression-in-der-tuerkei-gewerkschaften-in-erdogans-visier.html)

Angesichts von Inflation, Arbeitslosigkeit, Firmenpleiten etc. liegen die Kampfziele für die ArbeiterInnen auf der Hand: Kampf um die Anpassung der Lohn- an die Preisentwicklung, keine Entlassungen, Aufteilung der Arbeit auf alle durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverzicht, Kontrolle über die Betriebe, Öffnung der Bücher etc. Unter den Bedingungen der Türkei kann dies nur im Verbund mit dem Kampf um elementare demokratische Rechte, für Gewerkschafts- und Streikrechte, gegen die politische Repression und Unterdrückung von Organisationen geschehen, die die ArbeiterInnenklasse, die Interessen des kurdischen Volkes, anderer Minderheiten und der Geflüchteten vertreten. Dazu wird die ArbeiterInnenklasse jedoch eine politische Organisation brauchen, die in der Lage ist, ein Programm gegen die Krise des Kapitalismus aufzustellen und in den Kampf um die politische Macht umzusetzen. Es wäre die Zeit für Linke in der HDP, für ein sozialistisches Programm zu kämpfen und sich gegen den rechten Flügel zu behaupten, der sogar mit einem IWF-Kredit liebäugelt.

Gegenüber der sich notwendigerweise verschärfenden Krisenpolitik des Kapitals muss sich die türkische ArbeiterInnenklasse auf ihre schärfste Waffe, den Massenstreik bis hin zum Generalstreik, besinnen! Ein solcher Kampf würde freilich sofort die Frage der Selbstverteidigung gegen die Repression, die Notwendigkeit von Streikkomitees und Selbstverteidigungsmilizen aufwerfen. Er würde die Machtfrage stellen in einer Form, die Erdogans Regime und der bürgerlichen Herrschaft ein Ende setzen könnte. Die internationale ArbeiterInnenbewegung muss ihre von Verelendung und blutiger Repression bedrohten KlassengenossInnen in der Türkei dabei mit allen Mitteln unterstützen!




Spaltung der Europäischen Linkspartei: Zwischen Reformismus und Populismus

Tobi Hansen, Neue Internationale 231, September 2018

Die Auseinandersetzungen in der Europäischen Linken (EL) haben Anfang Juli zum Bruch geführt. Obwohl der Konflikt schon seit Jahren schwelte, traf er die große Mehrheit der insgesamt rund 500.000 Mitglieder in Europa unvorbereitet. Darüber diskutieren, geschweige denn entscheiden, durften sie nicht.

Dabei war der Auslöser durchaus eine wichtige Frage für die europäische Linke. Es ging um die von der griechischen Syriza-Regierung und dem ehemaligen Spitzenkandidaten der EL bei den Europawahlen 2014, Tsipras, durchgesetzte Austeritätspolitik. Die französische Parti de Gauche (PdG) und die Sammlungsbewegung La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) unter der Führung von Mélenchon hatten schon länger die Umsetzung der EU-Diktate, die Einschränkung des Streikrechts und Rentenkürzungen kritisiert und den Ausschluss von Syriza aus der EL verlangt.

Beschluss der Parti de Gauche

Am 1. Juli zog der Parteitag der PdG die Konsequenzen und verließ die EL. Die Regierung in Athen verfechte die Sparpolitik: „Bis zu dem Punkt, an dem das Streikrecht angegriffen, die Renten drastisch gekürzt, ganze Wirtschaftssektoren privatisiert wurden – alles Maßnahmen, gegen die unsere Parteien in jedem unserer Länder kämpfen. Jegliche Ambivalenz gegenüber dieser Politik, jegliche Umsetzung dieser Politik von einer Mitgliedspartei der EL missachtet die Anti-Austeritätspositionen der anderen Mitgliedsparteien.“ (Beschluss der PdG, zitiert aus Neues Deutschland, 4. Juli 2018)

Mit diesem Beschluss wurde die EL ein Jahr vor den nächsten Europawahlen deutlich geschwächt. Schließlich folgten dem Appell Podemos aus Spanien, Bloco de Esquerda (Linksblock) aus Portugal, die Rot-Grüne Allianz aus Dänemark, die schwedische Vänsterpartiet (Linkspartei) und der finnische Linksbund. Außerdem scheint auch DiEM 25, das eher linksliberale, postmodernistische Projekt rund um den ehemaligen griechischen Finanzminister Varoufakis, eine Kandidatur zu den Europawahlen zu Planen, so dass drei unterschiedliche „linke“ Bündnisse 2019 antreten könnten.

Die neue europäische „Liste“ soll den Namen „Maintenant le Peuple“ (MLP, Jetzt das Volk) tragen und für eine „demokratische Revolution“ in Europa eintreten, die „Zwangsjacke der europäischen Verträge abstreifen“ und steht hinter dem sog. „Plan B“ Projekt, das de facto den Austritt aus der EU fordert bzw. dies als linke Forderung erheben will.

Abspaltung nach links?

Natürlich sind die Ablehnung der Austeritätspolitik und vor allem deren Durchsetzung durch eine ArbeiterInnenpartei ein nachvollziehbarer Grund, die EL zu verlassen. Nach außen wirkt es auf jeden Fall „radikaler“, „linker“ als die unverbrüchliche „Treue“ zu Syriza. Allerdings ist es auch überraschend, dass Willfährigkeit gegenüber der bürgerlichen Herrschaft als Ausschlussgrund gilt. Ketzerisch könnten man auch feststellen, scheint es eher eine Grundvoraussetzung, um als „Linkspartei“ in der EU anerkannt zu werden. Die deutsche Linkspartei, durch den aktuellen EL- Vorsitzenden Gysi vertreten, agiert als braver Koalitionspartner der SPD und Grünen auf Landesebene, diskutiert auch Koalitionen mit der CDU in Ostdeutschland.

Mélenchon selbst, damals noch im Bündnis mit der KPF, stimmte dem unter Hollande verhängten Ausnahmezustand zur Rettung der Republik und den Militärinterventionen in Mali zu. Zugleich lehnt er offene Grenzen für MigrantInnen entschieden ab und wähnt die „Unabhängigkeit“ des imperialistischen Frankreichs gefährdet. FI ist eine populistische, nationalistische Bewegung. Während Mélechon Syriza für seine Kapitulation vor dem Diktat des deutschen Imperialismus, der EU und des IWF zurecht angreift, so bleibt seine Kritik angesichts der eigenen chauvinistischen und pro-imperialistischen Politik, die sich als noch staatstragender als jene von Syriza inszeniert, doppelbödig und verlogen.

Nur Syriza?

Das gilt umso mehr, als auch die dänischen und schwedischen Bundes GenossenInnen jede Minderheitsregierung stützten. So unterstützte die Vänsterpartiet von 1998 – 2006 und seit 2014 eine sozialdemokratisch geführte Minderheitsregierung. In Dänemark stützt die Einheitsliste – Die Rot-Grünen 2011 bis 2015 die Regierung Thorning-Schmidt aus Sozialdemokraten, Sozialliberalen und Sozialistischer Volkspartei. In Portugal unterstützt der Linksblock seit 2015 ebenfalls eine reformistisch geführte Regierung. Und Podemos stützt bekanntlich die Regierung Sanchez in Spanien.

All das verwundert nicht, dann für Mélanchon und seinen Flügel der ehemaligen EL bedeutet linke Politik ein links-nationalistisches, keynesianisch orientiertes Programm. Dieses gibt sich zwar hinsichtlich der „Sparpolitik“ unnachgiebiger, geht aber zugleich mit einer recht umstandslosen Stärkung des „eigenen“ bürgerlichen Staates einher.

Daran ändert auch nichts, dass die „Verteidigung“ der europäischen Linkspartei gegen die Kritik von Mélanchon und Co. selbst an Zynismus kaum zu überbieten ist.

Der EL-Vorsitzende Gysi preist bei einer Tagung der Leiharbeitsfirmen in Deutschland die Integration der Geflüchteten durch Leiharbeit als „Lösungsansatz“ an – nur kleine Anekdote des pro-kapitalistischen, reformistischen Charakters der EL.

In einer Replik auf die Kritik aus der PdG Frankreichs verweist ein Mitglied der Syriza-Regierungsmannschaft darauf, dass seit dem OXI 2015 leider auch wenig europäische Unterstützung für Griechenland gekommen sei, so dass sie letztlich keine andere Wahl gehabt hätten. Dass es zu wenig Solidarität mit der griechischen Bevölkerung gab, stimmt sich. Die Syriza-Regierung vergisst nur, dass ihre Politik selbst diese Solidarität untergraben hat und dass eine Unterstützung der Lohnabhängigen nach 2015 eine Unterstützung des Widerstandes gegen die „linke“ Regierung hätte sein müssen. Es ist geradezu grotesk so zu tun, als wäre die eigene Kapitulation „alternativlos“ gewesen.

Rechtsruck

Die Niederlage in Griechenland hat zweifellos den Rechtsruck in Europa befördert – und damit die Wende zu einer national-staatlich orientierten Ausrichtung größeren Teil der europäischen Linkspartei, darunter auch die Syriza-Kritiker um Mélenchon.

Der Rechtsruck und das Erstarken reaktionärer, rechtpopulistischer, gegen die EU gerichteter Parteien und Bewegungen, welche schon 2014 bei den Europawahlen große Erfolge feiern konnten, veränderten nicht nur das Kräfteverhältnis in Europa. Sie hatten bei den (links)reformistischen Parteien große Debatten zur Folge, ob nicht die Forderung nach einem Austritt aus der EU aufnehmen sollten. Einig war man sich, dass die EU hauptsächlich dem Kapital dient, um den europäischen Binnenmarkt herzustellen. Die Mehrheit der EL Gysi vertrat und vertritt aber weiterhin die Ausrichtung, dass die EU reformiert werden könne, um dann auch etwas „Umverteilung“, etwas mehr „soziale Standards“ durchsetzen zu können. Andere ReformistInnen wie Lafontaine oder Mélenchon treten dafür ein, die EU zu verlassen, weil es im Nationalstaat es ein besseres „Kampfterrain“ gäbe, als gegen Brüssel.

Der Kampf für ein sozialistisches Europa oder eine antikapitalistische Ausrichtung stand enbezeichnenderweise erst gar nicht zur Debatte, obwohl sich manche der Parteien dieses Attribut zuschreiben. Damit fallen die Parteien, die den Anspruch haben „links“ von der etablierten Sozialdemokratie wie der SPD, PS oder Labour zu stehen, auf deren Niveau zurück bzw. zeigen wenig Anzeichen wirklich „linker“ zu sein. Diese Diskussion und deren aktuelles „Zwischenergebnis“ fällt sogar hinter die Zeiten zurück, als das „Europäisches Sozialforum“ zumindest für ein „anderes Europa“ eintrat und die Möglichkeit bot, eine sozialistische und antikapitalistische Perspektive zu diskutieren.

Populismus als Alternative?

In dem Zusammenhang muss diese aktuelle Auseinandersetzung wahrgenommen werden. Mélenchon und die MLP wollen das „Nein“ zu Europa besetzen, wollen „jetzt das Volk“ gegen die EU aufwiegeln. Der Bezug auf das „Volk“ statt auf die ArbeiterInnenklasse ist dabei kein Zufall. Der Flügel der Europäischen Linkspartei, der sich um Mélanchon abspaltet, vertrat zum Teil schon seit Jahren eine links-populistische Ausrichtung. Besonders deutlich war das im Fall von Podemos. Der Vormarsch der Rechten bestärkt diesen ehemaligen Flügel der EL darin, dass der Rechts-Populismus nur durch eine „links-populäre“ oder links-populistische Alternative zu schlagen wäre. Die „traditionelle“ Linke, zu der sowohl der Links-Reformismus wie die radikale Linke zugerechnet würden, wäre unfähig, sich den „Gefühlen“ und Ängsten der Masse – nicht nur der ArbeiterInnenklasse, sondern generell des „Volkes“ zu öffnen und würden sich mit weltfremden Spinnereien wie dem Kampf für Bewegungsfreiheit „isolieren“.

In Deutschland bildet die #aufstehen-„Bewegung“ von Lafontaine und Linkspartei-Fraktionschefin Wagenknecht die „volksnahe“ Entsprechung zu Mélanchon. Es wäre durchaus möglich, dass sie 2019 mit auf den Zug der Europawahlen aufspringen würde, schließlich gilt FI für #aufstehen als Vorbild. Das solche Ideen in den „Herzländern“ der reformistischen und „bürgerlichen“ Gewerkschaftsbürokratien und Parteien aufkommen ist auch ökonomisch/sozial zu erklären, so könnte FI z.B. die zerfallende PS beerben, durchaus verlockende nationalstaatliche Perspektiven, als „linker“ Sachwalter der Republik.

Trotz aller berechtigter Kritik an Syriza, markiert die „Volksbewegung“ der MLP eine Anpassung an den „Rechtsruck“. Die Krise der EU soll durch eine Rückkehr zum Nationalstaat, zum System des „Ausgleichs“ unter den Klassen samt moderatem Bekenntnis zur „eigenen“ Nation, welches der Patriotismus angeblich darstellen würde, gelöst werden – nicht durch den gemeinsamen, ländergreifenden Klassenkampf. Am deutlichsten tritt der reaktionäre Charakter diese Politik in der Frage der Migration hervor. Die Klassenbrüder- und schwestern, die auf der Flucht umkommen, an den Grenzen festgehalten werden, haben eben Pech gehabt. Die Spaltung der Lohnabhängigen in In- und AusländerInnen wird „links“ reproduziert.

Die MLP ist aber nicht nur eine national ausgerichtet, sondern auch in einem anderen Sinn eine rechte Abspaltung von der EL, auch wenn die Kritik an Syriza „links“ wirkt. Vor allem wollen Melenchon und seine FI weg von der „klassischen“ ArbeiterInnenpartei, einer Partei die sich sozial und organisch auf eine bestimmte Klasse stützt und in der bürgerlichen Gesellschaft als deren politischer Arm in Erscheinung tritt. Das FI betrachtet sich ebenso wie Podemos als linkspopulistische „Sammlungsbewegung“. Ähnlich wie beim deutschen #aufstehen wird hier der Begriff „Partei“ vermieden. Alles soll möglichst „breit“ das „Volk“ widerspiegeln. Als Antwort auf den Rechtsruck, den Aufstieg des Rechtspopulismus wird bereits die „Volksfront“ geübt, der klassenübergreifende Versuch, sich mit den „sozialen“, „nationalen“ und binnenmarktorientierten Teilen des Bürgertums zu verständigen.

Der gesellschaftliche Rechtsruck spiegelt sich im Reformismus in der Form wider, dass die Formation „ArbeiterInnenpartei“ als „überholt“ angesehen wird. Angebliche oder wirkliche Führerchen versuche diese selbst zu liquidieren. Die formale Demokratie in reformistischen Parteien wie Parteitage, Wahlverfahren wird durch eine „virtuelle“ Demokratie nach dem Modell Podemos ersetzt. Politisch wird auch programmatisch der historische Bezug zur ArbeiterInnenklasse und zum Sozialismus weiter zurückgedrängt – oft unter dem Vorwand, das „Volk“ sprechen zu lassen, war historisch immer dazu geeignet das Programm bürgerlicher Politik kleinbürgerlichen Forderungen anzupassen.

Und so wird ein Kleinbürgertum, wie auch „progressives“ Bürgertum gesucht, welches am besten auch auf den nationalen Binnenmarkt orientiert ist, um die Sammlungsbewegung zu komplettieren.

Als erstes werden sämtliche antirassistischen Forderungen gekippt, vor allem die nach „offenen Grenzen“. Dann folgt der positive Bezug zu den inneren Organen. So wird mehr Polizei“ gefordert, letztlich soll natürlich auch, um den „Terrorismus“ zu bekämpfen und dann könnte der nationale Sozialstaat endlich Wirklichkeit werden.

Zwei Seiten

Somit haben wir zwei Entwicklungstendenzen des Reformismus vor uns. Beiden gemeinsam ist die Auffassung, dass eine Politik der schrittweisen Reformen und Verbesserung in Allianz mit „demokratischen“ oder „fortschrittlichen“ Bürgerlichen Kräften heute die einzig „realistische“ Strategie wäre. Die einen halten jedoch die EU für das beste Reformterrain, während die anderen im Nationalstaat die Rettung erblicken. Daher unterscheiden sich auch die jeweiligen „Bündnispartner“, die im bürgerlichen Lager anvisiert werden. Die zweite Differenz besteht in der sozialen Basis und im Typus der Partei, die heute „zeitgemäß“ wäre.

Beiden ist aber gemeinsam, dass sie Schärfe der kapitalistischen Krise seit 2008 und des Kampfe um die Neuaufteilung der Welt unterschätzen. Die Krise führt derzeit zu offenen Handelskonflikten der führenden Mächte oder sich formierenden Blöcke wie USA, China und der EU. Die Kurve der Umverteilung zeigt nicht nach unten, sondern nach oben.

Reformistische oder populistische „Umverteilungspolitik“ stößt heute auf den erbitterten Widerstand des Kapitals. Der Rechts-Populismus macht sich hier oft noch zum entschiedensten Vorreiter, indem er Neo-Liberalismus mit extremen Rassismus kombiniert. Das Kapital und seine politischen Handlanger inklusive der rechtspopulistischen Akteure bereiten die nächsten Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse vor. Keine Großmacht, kein Konzern will in dieser zugespitzten Krise im Nachteil sein. Größeres Projekt aller Kapitalakteure ist ein weiterer neoliberaler Anlauf zur Privatisierung öffentlicher Güter, wie auch die „Einführung“ der „Industrie 4.0“ weitere Angriffe mit sich bringen wird. Dahinter lauern die Risiken der Börsen, der Staatsschulden, der „toxischen“ Papiere, des massiv angehäuften Spekulationskapitals, welche die kommende tiefe Finanzkrise in den nächsten 2-3Jahren ankündigt. Wer die Sparpolitik stoppen und Umverteilung durchsetzen will, muss daher dafür den Klassenkampf mit Massenstreiks, Massenmoblisierungen, Besetzungen, Aufbau von Streikposten und Selbstverteidigungskomitees führen.

Was Europa braucht

Europas „Linke“ ist derzeit vom Streik zwei ungenügender, falscher Ansätze für die Wahlen 2019 geprägt. Entweder wir hoffen auf regulative Politik der EU-Kommission mit etwas Investition und eingebildeter Gerechtigkeit oder wir verlassen einfach diese EU, weil wir hoffen, mit „unserem“ Kapitalismus im Nationalstaat bessere „Lösungen/Erfolge“ zu erreichen. Beides setzt nicht auf die Kampfkraft einer europäischen ArbeiterInnenklasse, obwohl auch diese Parteien und ihre Gewerkschaftsflügel nur Ergebnis der vorhandenen Stärke der Klasse sind. Die Quelle der eigenen Stärke wird vernachlässigt, stattdessen werden neue Illusionen in Parlamentarismus und Demokratie auf nationaler Ebene oder durch institutionelle Reform gestreut. So droht die reformistische und populistische Linke gegen die Rechtspopulisten zu verlieren – und damit die ArbeiterInnenklasse mit in die nächste Niederlage zu führen.

Nötig ist dagegen ein Programm des europäischen Klassenkampfs, ein Programm das sich gegen Rechtsruck, Rassismus und Nationalismus richtet. Die verschiedenen europäischen Kapitalfraktionen werden nur zu einer reaktionären Perspektive der EU in der Lage sein. Dies könnte Spaltung in konkurrierende Blöcke, eine EU der „zwei Geschwindigkeiten“, also Zentrum und Sonderwirtschaftszone bedeuten, oder einen Block der dann widerspruchslos von Deutschland und Frankreich geführt wird.

Dieser „Alternative“ in der Krise der EU muss eine revolutionäre Politik die Schlagkraft von Massenmobilisierungen, von europaweiten Generalstreiks und Internationalismus entgegenstellen. Die kapitalistische EU kann mit einem sozialistischen und antikapitalistischen Programm herausgefordert werden, die Klasse muss den Kampf um die Zukunft Europa zu ihrem Kampf machen. Hier gibt es die „zentrale“ Möglichkeit die angesammelten nationale Bourgeoisien im Klassenkampf zu schlagen, diese Möglichkeit wird durch den Rückzug auf den Nationalstaat vertan.

Sicherlich erscheint die Losung „Vereinigte sozialistische Staaten von Europa“ derzeit eher entfernt, allerdings ist dies die einzige realistische Alternative gegen das Erstarken von Nationalismus, Rassismus, Rechtspopulismus und letztlich Faschismus für die europäische ArbeiterInnenklasse.

Wir brauchen hier nicht zu erwähnen, was der Faschismus in Europa historisch angerichtet hat, wir brauchen nur auf das tägliche Sterben im Mittelmeer hinzuweisen, dies ist eine Verpflichtung die Festung Europa zu bekämpfen.

Gemeinsamer Kampf

Wenn wir in Europa die ArbeiterInnenbewegung gegen das Lohndumping, gegen die Konkurrenz der unterschiedlichen Lohn -und Reproduktionskosten, für die dringend benötigte Solidarität untereinander bewegen können, dann ist es mit den Geflüchteten möglich, ein Bewusstsein und eine Praxis als europäische Klasse zu entwickeln. Als die Anti-Krisen Proteste gegen die Schuldenkrise mehrere Hunderttausende auf die Straße brachten oder in früheren Zeiten das ESF Millionen gegen den imperialistischen Krieg mobilisieren konnte, da zeigte sich, welche ungeheure Kraft in den koordinierten Aktionen der ArbeiterInnenbewegung liegen kann. Jede europäische Produktionskette kann in Windeseile lahm gelegt werden, europäische koordinierte Streiks stellen eine strategische Bedrohung für das Kapital dar, ein europäischer Generalstreik würde in sich die Machtfrage stellen können.

Für diese Ziele und diese Methode müssen wir revolutionäre Politik entwickeln und MitstreiterInnen gewinnen, um dem Rechtsruck, auch innerhalb der ArbeiterInnenbewegung Einhalt zu gebieten. Der Kampf für die Sozialistischen Staaten von Europa, wie auch der konkrete antifaschistische und antirassistische Kampf sind die Klammer für eine revolutionäre Politik in dieser Periode.

Die Einheitsfront gegen Reaktion, Kapital und Faschismus, der gemeinsame soziale und ökonomische Kampf – dies muss eine europäische Perspektive bekommen, dann kann das Proletariat den reaktionären Zerfall aufhalten und schlagen. Ein bloßer Austritt aus der EU, wie von Mélenchon vorgeschlagen, hilft uns dabei nicht, auch wenn das „Volk“ beschworen wird. Die Klasse führt ihre Kämpfe auf dem Terrain, den das Kapital vorgibt, dafür braucht es ein Programm, das ist die entscheidende Frage der Zeit!




Bundesweite Verschärfung der Polizeigesetze: Keine bloße Ländersache

Jan Hektik, Neue Internationale 231, September 2018

Die Verschärfung des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in Bayern ist vielen bekannt und hat ziemliche Aufmerksamkeit erregt. Weniger Menschen wissen, dass dies keine Ausnahme darstellt, sondern im Rahmen einer bundesweiten Entwicklung stattfindet, die ihren Anfang mit der Verschärfung des BKA-Gesetzes im Sommer 2017 nahm.

Die Verschärfungen weisen in den Bundesländern zwar Unterschiede auf, vor allem aber einige Gemeinsamkeiten. Alle laufen auf eine Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten durch die Polizei und das Verlagern auf die möglichen Maßnahmen vor dem Begehen einer Straftat (sogenannte GefährderInnen bzw. die sogenannte drohende Gefahr) hinaus. Alle führen zu einer massiven Aufrüstung, einer regelrechten Militarisierung der Polizei. In einigen Ländern werden Maßnahmen wie Fußfesseln eingeführt, Haftmöglichkeiten und ähnliche freiheitsbeschränkende Maßnahmen insbesondere für „GefährderInnen“, also Personen, die noch gar keine Straftaten begangen haben, ausgeweitet.

Im Einzelnen

Im Einzelnen sollen nun einige Beispiele für diese Verschärfungen angeführt werden. Im Grün-Schwarz regierten Baden-Württemberg etwa wurde schon im November beschlossen, dass die Polizei künftig Software zum Mitlesen verschlüsselter Chats auf den Geräten der Betroffenen installieren, elektronische Fußfesseln als Präventivmaßnahme einsetzen oder in Ausnahmefällen Handgranaten verwenden darf.

Die Befugnisse der bayerischen Polizei wurden bereits umfassend erweitert: Online-Durchsuchungen inklusive Datenveränderung und -löschung, der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware auf Demonstrationen, die erweiterte DNA-Analyse oder das Abfangen von Paketen gehören künftig dazu. Vor allem aber ist mit dem Konstrukt der „drohenden Gefahr“ eine rechtliche Kategorie geschaffen, die der Polizei ermöglicht, künftig auch ohne konkrete Verdachtsmomente aktiv zu werden.

Andere Länder planen ähnliche Verschärfungen. Laut Zeitungsberichten plant das Dresdner Innenministerium außerdem, die Panzerfahrzeuge der Polizei mit Maschinengewehren auszustatten. Zusätzlich sollen, wie in vielen anderen Bundesländern, sogenannte GefährderInnen mit Aufenthalts- und Kontaktverboten und einer Fußfessel belegt werden können, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Außerdem ist das Abhören und Unterbrechen von Handyverbindungen geplant. Innerhalb eines 30-Kilometer-Korridors entlang der Grenze zu Tschechien und Polen soll es möglich sein, SchwerverbrecherInnen mittels Gesichtserkennung über stationäre Anlagen zu ermitteln. Die Einrichtung stationärer Systeme zur Kennzeichenerfassung ist folglich auch Teil des Entwurfs.

Diese Maßnahmen reihen sich ein in eine bundesweite Tendenz: die automatische Erfassung von Gesichtern, Kennzeichen und sonstigen Identifikationsmerkmalen voranzutreiben, eine Aufrüstung der Polizei (z. B. mit Maschinengewehren) und geheimdienstlichen Mitteln (z. B. Staatstrojaner und andere digitale Überwachungsmaßnahmen) sowie eine Vorverlagerung des Zeitpunktes zum Eingreifen, da für eine Überwachung in vielen Bundesländern keine Straftat mehr notwendige Voraussetzung ist, sondern eine drohende Gefahr oder eine Einschätzung des Opfers der staatlichen Überwachung als GefährderIn ausreicht.

Welche Länder sind betroffen?

In Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt sowie im Saarland gingen die Gesetzesänderungen bereits durch die Landtage. Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Niedersachsen wollen bald nachziehen. Veränderungen stehen auch in Schleswig-Holstein, Hamburg und Berlin an. Hier sind bislang aber kaum Details bekannt. In Brandenburg ist nur klar, dass das Polizeirecht verschärft werden soll. Bremen und Hessen sind Sonderfälle. In Bremen liegt eine von der SPD geplante Verschärfung nach Intervention der grünen Koalitionspartnerin gerade auf Eis. In Hessen ist zwar keine Polizeigesetz-Novelle geplant, dafür sollen die Befugnisse des Verfassungsschutzes ausgeweitet werden. Thüringen gibt an, sein Gesetz nur „geringfügig anpassen“ zu wollen. Also verschärfen eigentlich alle!

Die Proteste in Bayern und auch in Nordrhein-Westfalen haben zumindest eines gezeigt: Es besteht ein großer Unmut in der Bevölkerung und eine Bereitschaft, gegen die Verschärfungen auf die Straße zu gehen. Doch bisher wurden die Angriffe nur in den einzelnen Ländern bekämpft.

Wie dagegen kämpfen?

Das ist genau der Holzweg, auf den sie uns führen wollen, indem sie die (im Grunde gleichen) Änderungen in den Bundesländern einzeln und nacheinander durchführen. So besteht die Gefahr, dass der Protest auf die einzelnen Bundesländer und verschiedene Zeiträume beschränkt bleibt.

Wir brauchen eine bundesweite Protestbewegung gegen die Verschärfung aller Polizeigesetze – egal ob ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) oder PAG (Polizeiaufgabengesetz) – und die Rücknahme aller bereits erfolgten Verschlechterungen, einschließlich der Verschärfung des BKA-Gesetzes.

Dazu ist zunächst eine Vernetzung der einzelnen Inititiativen und Bündnisse gegen die jeweiligen Gesetze notwendig. Im Berliner Bündnis, welches gegen die Verschärfung des ASOG kämpfen möchte, treten wir deshalb für die Koordinierung, Absprache und gemeinsamen Kampf aller dieser Bestrebungen ein. Dasselbe trifft für unsere GenossInnen in anderen Bundesländern zu.

Außerdem wird es notwendig, die Gewerkschaften und alle Organisationen, die sich auf die arbeitende Klasse stützen, einzubinden und einen gemeinsamen Kampf zu führen. Die Polizeigesetze richten sich schließlich nicht nur gegen Demos und Aktionen auf der Straße, sondern können und werden auch gegen Arbeitskämpfe und Streiks eingesetzt werden.

  • Rücknahme aller beschlossenen und drohenden Gesetzesverschärfungen, einschließlich des BKA-Gesetzes!
  • Für ein bundesweites Aktionsbündnis gegen die Polizeigesetze und eine gemeinsame, bundesweite Großdemonstration als ersten Schritt zur Bündelung der Aktionen!



Pakistan in stürmischen Zeiten

Shahzad Arshad, Revolutionary Socialist Movement, Infomail 1013, 8. August 2018

Bei den Parlamentswahlen in Pakistan am 25. Juli gewann die „Pakistan Tehreek-e-Insaf“ (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) von Imran Khan Niazi 116 Sitze mit 16,8 Millionen Stimmen. Dies war jedoch weit von den 137 Sitzen entfernt, die für eine Mehrheit in der Nationalversammlung mit 342 Sitzen erforderlich waren, so dass die Partei Partner für eine Koalition finden musste. Dies wurde nun gelöst, vor allem durch die Unterstützung von „Muttahida Qaumi Movement-Pakistan“ (MQM-P) und Khan wird wahrscheinlich am 14. August als Premierminister vereidigt.

Viele Parteien im ganzen Land erhoben schwere Vorwürfe wegen der Versuche, die Wahl zu manipulieren, und machten die Wahlkommission Pakistans (ECP) dafür verantwortlich, dass sie nicht für eine freie und faire Wahl gesorgt hat. Die „Pakistanische Muslimliga (Nawaz)“ (PML-N), die ehemalige Regierungspartei und Hauptkonkurrentin der PTI, die mit 12,9 Millionen Stimmen 64 Sitze gewann, lehnte das Wahlergebnis vollständig ab und sagte, dass ein Mandat für Imran Khans Partei nicht akzeptabel sei. Dennoch stimmte die Partei zu, ihre Sitze in der Nationalversammlung einzunehmen.

Die nahezu gleichen Klagen wurden von allen anderen großen Parteien erhoben, die die Wahl angefochten haben, einschließlich der „Pakistanischen Volkspartei“ (PPP) der ehemaligen PremierministerInnen Zulfikar Ali Bhutto und Benazir Bhutto, die jetzt von Bilawal Bhutto Zardari angeführt wird und 43 Sitze mit 6,9 Millionen Stimmen erhielt. Gegenwärtig sind in einer Reihe von Wahlkreisen Nachzählungen angeordnet worden.

Auf Provinzebene war die PML (N) die größte Partei in Punjab (Pandschab), aber die PTI wird eine Koalition mit der PML-Q (Quaid-e-Azam-Gruppe) bilden. Die PTI wird auch die Regierung in Khyber Pakhtunkhwa (von 1901 – 2010 Nordwestliche Grenzprovinz) bilden, während die PPP an ihrer traditionellen Machtbasis in Sindh festhielt. Die ECP hat auch zwei verbotene islamische Parteien zur Wahlkandidatur zugelassen. Tehreek-e-Labbaik Pakistan (Hier-bin-ich-Bewegung Pakistan; TLP), eine klerikale faschistische Partei, die nach der Hinrichtung von Mumtaz Qadri wuchs, gewann 2,2 Millionen Stimmen und zwei Provinzversammlungssitze in Karatschi. Die Muttahida Majlis-e-Amal (Vereinter Aktionsrat ; MMA), ein traditionelles Bündnis religiöser Parteien, gewann ebenfalls 2,5 Millionen Stimmen.

Michael Gahler, Leiter der EU-Wahlbeobachtungsmission, sagte auf einer Pressekonferenz in Islamabad, sein 120-köpfiges Team habe am Wahltag selbst keine Manipulationen beobachtet, aber er hat ernsthafte Kritik an der Vorwahlzeit geübt. Er sagte, es habe Druck auf die Medien gegeben, „weitaus stärkere“ Bemühungen als üblich, WählerInnen und sogar KandidatInnen zum Parteienwechsel zu ermutigen, und dass „Justizverhalten“, d. h. die Verwendung von Korruptionsvorwürfen zur Verhinderung der Kandidatur, die Abstimmung negativ beeinflusst habe. „Wir haben festgestellt, dass es an Chancengleichheit mangelte“, sagte er und fügte hinzu, dass der Gesamtprozess „nicht so gut“ gewesen sei wie 2013, obwohl das Ergebnis seiner Meinung nach „glaubwürdig“ blieb.

Rückschlag für traditionelle Parteien

Das Ergebnis ist ein großer Rückschlag für die traditionellen Parteien, die jahrzehntelang die Politik dominierten. Die PTI ist eine relativ neue Partei, deren wichtigste Parolen sich gegen Korruption richteten und, wie die Reichen und Mächtigen von der staatlichen Schirmherrschaft profitieren. In Wirklichkeit ist sie eine bürgerliche rechtspopulistische Partei und voll von Milliardären, Großgrundbesitzern und korrupten Beamten, aber sie hat große Unterstützung von den Mittelschichten erhalten.

Schon Kurz nach der Wahl reklamierte Imran Khan den Sieg für sich: „Wir waren erfolgreich und erhielten ein Mandat“. Er sprach davon, dass seine Partei in der Regierung das Leben der Armen verbessern, die Korruption bekämpfen, die Gesundheitsversorgung und Bildung verbessern, sich auf die menschliche Entwicklung konzentrieren, eine dynamische Wirtschaft aufbauen, in den nächsten fünf Jahren zehn Millionen Arbeitsplätze schaffen und fünf Millionen Häuser bauen würde. Er versprach auch einen „islamischen Wohlfahrtsstaat“, lobte Chinas Wirtschaftspolitik und Erfolge und bezeichnete den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor, CPEC, als „Game changer“, das Lieblingsschlagwort seiner Vorgänger.

Alle diese Versprechungen sind natürlich beliebt, stehen aber in krassem Widerspruch zur wirtschaftlichen Situation in Pakistan. Das Land hat jetzt ein Leistungsbilanzdefizit von 18 Milliarden US-Dollar. Das sind 45 Prozent mehr als im Vorjahr. Noch vor zwei Jahren waren es 4,9 Milliarden US-Dollar. Das jährliche Haushaltsdefizit beträgt 2,2 Billionen Rupien und Pakistans Währung, die Rupie, hat gegenüber dem Dollar 20 Prozent ihres Wertes verloren. Die Inflation steigt und die Devisenreserven sind alarmierend zurückgegangen, so dass man jetzt nur noch mit der Deckung von Importen für zwei Monate rechnet. Exporte wie z. B. Textilien sind von billigeren Produkten regionaler Wettbewerber, darunter auch China, betroffen.

AnalystInnen sagen, dass sich die neue Regierung fast sofort an den Internationalen Währungsfonds, den IWF, wenden muss, um eine Rettungsaktion in Höhe von 12 Milliarden US-Dollar durchzuführen, die zweite seit 2013. Sie erwarten auch, dass harte Entscheidungen zur Eindämmung der Ausgaben in einer Regierung, die Khan beherrschen kann, einfacher sein werden. Asad Umar, der von der PTI für das Amt des Finanzminister vorgesehen ist, hat nicht ausgeschlossen, an die Türen des IWF zu klopfen, aber es gibt andere Optionen wie die Vereinbarung von Krediten mit China und Saudi-Arabien, obwohl sie sich wahrscheinlich als begrenzt und teurer erweisen werden.

Eine Rettungsaktion für Pakistan wird durch den Kampf zwischen den USA und China auf globaler Ebene erschwert. Die Vereinigten Staaten haben damit gedroht, jede Rettungsaktion zu blockieren, es sei denn, es kann garantiert werden, dass kein Geld zur Rückzahlung von Krediten aus China verwendet wird.

Politische AnalystInnen plädieren für eine Reform der Wirtschaft und die Umsetzung der IWF-Agenda von Ausgabenkürzungen und Privatisierungen und sagen, dass Imran Khan den Willen haben muss, die Wirtschaft in einer Weise umzustrukturieren, wie es den vorhergehenden Regierungen nicht möglich war. Sie meinen, dass die Nawaz-Regierung nach dem massiven Widerstand der ArbeiterInnen in der Energiewirtschaft, der WAPDA, und der nationalen Fluggesellschaft PIA nicht in der Lage war, den öffentlichen Sektor zu privatisieren. Die PTI mag für einen islamischen Wohlfahrtsstaat plädieren und die Massen stärken und die Armut beseitigen wollen, aber in Wirklichkeit wird es weitere massive soziale Angriffe auf die Massen im Namen einer guten Regierung und des „nationalen Interesses“ geben.

Wir können uns auch weitere Schritte in Richtung einer autoritäreren Herrschaftsform erwarten, was bedeutet, dass auch die demokratischen Rechte weiter angegriffen werden. Eine jüngste Erklärung des Obersten Richters des Obersten Gerichtshofs zeigt, wie weit die herrschende Klasse zu gehen bereit ist. Er sagte, wenn die Verfassung dies zulasse, würde er die Gewerkschaften verbieten, weil sie „für viele Probleme verantwortlich seien“.

Linke Gruppen und Parteien kandidierten für 50 Sitze der National- und Provinzversammlungen, aber sie erhielten zusammen nicht mehr als 50.000 Stimmen bei den Parlamentswahlen. Dies zeigt die wahre Schwäche der ArbeiterInnenbewegung in Pakistan. Die einzige gute Nachricht bei der Wahl war der Sieg von Ali Wazir, einer führenden Persönlichkeit der PaschtunInnen-Verteidigungsbewegung und Mitglied der Gruppe „Kampf“, der seinen Sitz mit mehr als 16.000 Stimmen gewann.

Angriffe

Es besteht kein Zweifel, dass die neue Regierung wenig Zeit verlieren wird, bevor sie ihre Angriffe auf den Lebensstandard und die demokratischen und ArbeiterInnenrechte starten wird. Obwohl es, wie auch frühere Regierungen erfahren mussten, Widerstand seitens der ArbeiterInnenklasse und der Armen geben wird, wird gegen eine neu gewählte Regierung mehr als entschlossener Widerstand in einzelnen Unternehmen oder Branchen erforderlich sein, um Erfolg zu haben. Was wir brauchen, ist eine Einheitsfront von Organisationen der ArbeiterInnenklasse, die bereit sind, den Kampf zu koordinieren und zu vereinen.

Mindestens ebenso wichtig ist, dass die pakistanische Linke, die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen sich mit der Notwendigkeit einer politischen Alternative zu allen bürgerlichen Parteien befassen müssen. In den letzten Jahren ist es der Linken nicht gelungen, eine kämpferische Alternative aufzubauen, eine Partei des Kampfes gegen jede imperialistische Herrschaft, nationale und soziale Unterdrückung und zur Verteidigung der demokratischen Rechte sowie zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme der ArbeiterInnen und zur Stärkung der Gewerkschaften.

Die chronische Schwäche und Zersplitterung der ArbeiterInnenbewegung kann nur überwunden werden, wenn es einen gemeinsamen Widerstand gegen die Angriffe der Regierung, des Staates, der ImperialistInnen und der rechten islamistischen Kräfte gibt. Es besteht ein dringender Bedarf für alle AktivistInnen und KämpferInnen in den Gewerkschaften, den linken Organisationen, den Massenbewegungen wie der PaschtunInnen-Verteidigungsbewegung, den StudentInnen- und Frauenorganisationen, die dies anerkennen, in die Diskussion für eine neue ArbeiterInnenpartei einzutreten, die einen solchen vereinten Kampf anführen könnte.

Unserer Organisation, die „Revolutionäre Sozialistischen Bewegung“ (RSM) vertritt die Auffassung, dass die Partei auf einem Programm beruhen sollte, das diese unmittelbaren Probleme mit dem Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung und eine sozialistische Revolution in Pakistan verbindet.

Die Angriffe der nächsten Regierung und die anhaltende tiefe Krise des pakistanischen Kapitalismus werden sicherlich die Notwendigkeit und die Chance für einen vereinten Widerstand und Gegenwehr erhöhen. Aber das wird nur zustande kommen, wird nur gelingen, wenn die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse angegangen und gelöst wird. Die Wahlen zeigen, dass die Linke viel Zeit und Boden verloren hat. Dies muss dringend rückgängig gemacht werden.