Krise der EU: Die nächste Runde

Martin Suchanek, Neue Internationale 229, Juni 2018

Eine Kette bricht bekanntlich an ihrem schwächsten Glied – und der Europäischen Union mangelt es nicht an solchen. Zur Zeit steht Italien im Mittelpunkt der politischen Dauerkrise.

Politische Instabilität

Nach Wochen kam schließlich die rechte Koalitionsregierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung unter dem Regierungschef Conte doch noch zustande. Staatspräsident Mattarella, selbsternannter Garant „europäischer Interessen“, also jener des Finanzkapitals der großen Staaten, gab schließlich sein Veto gegen die Kabinettsbildung auf, nachdem die Rechten den EU-Gegner Savona als Finanzminister zurückgezogen hatten.

Eine Lösung der politischen Krise wird dieser Schritt sicher nicht bringen, allenfalls eine Atempause. Will die rechte Regierung die heterogene Klientel beider Parteien bei der Stange halten, muss sie wenigstens zum Schein die vollmundigen Wahlversprechen bedienen. Diese reichen von der neo-liberalen „Flat-Tax“ von 15 Prozent, die die Mittelschichten, das Kleinbürgertum, vor allem aber das Kapital „entlasten“ sollen, bis zu einem „Grundeinkommen“, das die Fünf-Sterne-Bewegung ihren AnhängerInnen versprochen hatte. Die Steuergeschenke für die Reichen werden wohl kommen, während das „bedingungslose Grundeinkommen“ allenfalls als befristeter Brosamen für die Armen das Licht der italienischen Welt erblicken wird. Die „freiwillige“ Aufnahme unbezahlter oder schlecht bezahlter Arbeit soll nämlich zur Bedingung des Erhalts des Grundeinkommens werden. Hartz IV lässt grüßen.

Das Bindeglied der neuen Regierung heißt Rassismus. Während es um eine Reihe von Versprechen Gezerre mit dem Präsidenten, zwischen den Koalitionspartnerinnen und vor allem der EU geben wird, wird die Regierung rasch darangehen, MigrantInnen und Geflüchtete noch mehr zu entrechten, das Lagersystem auszubauen, Abschiebungen zu forcieren und die EU-Außengrenzen militärisch abzuriegeln. Während die extreme Rechte in Europa – die Orbáns, Straches, Le Pens oder Gaulands dieser Welt – über diesen Kurs in Jubel ausbrechen werden, werden „HumanistInnen“ wie Merkel und Macron insgeheim erleichtert sein, schaffen ihnen doch die Rechten ein Problem vom Hals.

Doch die politische Instabilität beschränkt sich längst nicht auf Italien. In Spanien musste der erz-konservative Reaktionär Rajoy seinen verdienten Abschied nehmen. Ob und wie lange sich sein Nachfolger, der Sozialdemokrat Sánchez, dessen Partei PSOE nur über eine Minderheit im spanischen Parlament verfügt, halten kann, wird sich zeigen. Wie wenig er eine Verbesserung der sozialen Lage anstrebt, zeigt sein Festhalten am Haushalt der konservativen Regierung; wie wenig er gewillt ist, die Unterdrückung der katalanischen oder baskischen Bevölkerung anzugehen, zeigt sich darin, dass auch er diesen Nationen das Selbstbestimmungsrecht verweigern wird.

Politische Instabilität offenbart sich auch in zahlreichen anderen Ländern Europas – zur Zeit vor allem im Wachstum rechter und rechts-extremer rassistischer Parteien wie in Osteuropa oder Österreich.

In den letzten Monaten trat aber auch die ArbeiterInnenklasse mit Massenaktionen und Streiks in Erscheinung. So führen die französischen EisenbahnerInnen einen zähen Abwehrkampf gegen einen strategischen Angriff von Macron. In Griechenland wurden die Fähren und damit ein zentraler Teil des Transportwesens lahmgelegt.

Die politische Krise in Südeuropa ist aber vor allem eine Krise der EU. Natürlich ist es kein Zufall, dass sie sich besonders heftig in Südeuropa manifestiert, den Ländern, deren Ökonomien und Bevölkerungen am meisten unter den von Deutschland durchgesetzten Austeritätsprogrammen leiden mussten. Griechenland wurde unter den Spardiktaten in den Ruin getrieben und konnte nur mit Hilfe der Syriza-geführten Regierung wieder im Interesse der EU stabilisiert werden. In Spanien erfüllten Konservative und SozialdemokratInnen diese Aufgabe.

Ökonomische Verwerfungen

In Italien haben die Verwerfungen der Krise nicht nur zu hoher Arbeitslosigkeit von 11 Prozent (gegenüber 5,8 Prozent vor 2007) geführt, zu Kürzungen sozialer Leistungen und Reallohnverlusten, zur Beschränkung von Gewerkschaftsrechten, zur Ausweitung von Billiglohn und größeren regionalen Differenzen. Gerade aufgrund der Politik zur Rettung der Banken und zur Stabilisierung des Finanzsystems sind auch die Schulden – staatliche wie private – massiv angewachsen, trotz der Kürzungsprogramme. Allein im öffentlichen Sektor summiert sich die Staatsschuld auf 2,3 Billionen Euro. Die drückenden Rückzahlungen hängen wie ein Klotz am Bein, die Pleite droht permanent. Vor allem aber machen die Schwierigkeiten des Bankensektors zu schaffen. Neue spekulative Blasen haben sich gebildet insbesondere auf den Anleihemärkten, aber auch im Grundstücks- und Immobiliensektor. Gerät auch nur eines dieser Probleme außer Kontrolle, so droht sich das nicht nur auf alle anderen auszudehnen – vor allem könnte ein Zusammenbruch in Italien die gesamte EU und den Euro mitreißen.

Dabei haben die EU und die Eurozone in den letzten Jahren sogar einen schwächlichen Aufschwung der Konjunktur erlebt. Eine Finanzkrise in Italien kann diesen nicht nur leicht zunichtemachen, sondern zu einer tiefen Krise führen.

Hinzu kommt natürlich, dass die Frage der Schulden Italiens nicht nur ein finanzpolitisches Problem darstellt. Vielmehr geht sie mit der Frage der Ordnung Europas einher, der Frage, welche imperialistische Macht was diktieren oder durchsetzen kann.

Politik und Ökonomie

Zweifellos ist die neue italienische Regierung extrem rassistisch, reaktionär und „europafeindlich“. Die Tatsache, dass sie die Forderung nach einer Neuordnung des europäischen Finanzsystems und einem Schuldenschnitt von 250 Milliarden erhebt, ist jedoch nicht nur vom Standpunkt des italienischen Gesamtkapitals nachvollziehbar, sondern sogar von dem einer „Reformstrategie“ der EU, die den „schwächeren“ Ländern etwas mehr Luft zum Atmen lassen würde.

Vom Standpunkt der vorherrschenden deutschen Finanzpolitik erscheint der „Schuldenschnitt“ wie dereinst die Forderung Griechenlands als höchste Form der „Europafeindlichkeit“. Natürlich nutzen die italienische Regierung und Rechte den Druck auf Berlin, Paris oder Brüssel, um sich als „wahre Verteidigerinnen“ Italiens zu präsentieren. Nicht die kapitalistischen Verhältnisse oder ihre kapitalfreundliche Regierungspolitik, sondern die EU wären allein Schuld an der Misere des Landes.

Umgekehrt schieben natürlich auch Deutschland und Frankreich jede Verantwortung für die Krise in Italien der aktuellen Regierung in die Schuhe – als ob die von Berlin forcierte und von Paris etwas modifizierte Finanzpolitik eine Erfolgsgeschichte für die Massen Europas wäre. Die Schuldenkrise Italiens hat daher nicht nur zerstörerische Sprengkraft – zugleich bietet sie für das Finanzkapital und die Regierungen Deutschlands und Frankreichs auch ein Druckmittel, da das Kabinett in Rom letztlich auf Unterstützung der EZB und der EU angewiesen ist, um eine Explosion der Finanzkrise zu vermeiden.

Der drohende Handelskrieg mit den USA verschärft diese Lage ungemein. Zur Zeit betrifft der Konflikt noch relativ geringe Teile der Wirtschaft. Aber die Errichtung von Handelsbarrieren schreit geradezu nach „angemessenen“ Vergeltungsmaßnahmen, also einer Eskalation. Früher oder später droht sie, vom Warenverkehr auf den Kapitalverkehr überzugehen. Die EU befindet sich dabei – wie in ihrer gesamten gegenwärtigen Lage – in einer Situation, die die inneren Widersprüche nicht nur dieser Institution, sondern auch zwischen den europäischen Staaten, den verschiedenen nationalen Kapitalen, aber auch innerhalb dieser offenbart. Während die einen den Fehdehandschuh aufgreifen und so ihre Weltmachtstellung beweisen wollen, bläst ein anderer Teil zum Rückzug.

Inner-imperialistische Konkurrenz

All das zeigt, dass wir es nicht nur mit den Auswirkungen der globalen Krise zu tun haben, die vor 10 Jahren die Welt erschütterte. Zweifellos bilden deren bis heute ungelöste Ursachen die Basis für die politischen, ideologischen, sozialen Erschütterungen, die die Welt im letzten Jahrzehnt durchlief – und auch die Grundlage dafür, dass diese in den kommenden Jahren heftiger, explosiver, bedrohlicher werden müssen.

Auch wenn die Krise 2007/2008 als Finanzkrise begann, so war und ist sie eine des kapitalistischen Gesamtsystems. In allen wichtigen Ökonomien waren die Profitraten langfristig gefallen. Womit wir es zu tun haben, ist eine „klassische“ Überakkumulationskrise, die bis heute nicht gelöst ist. Im Gegenteil. Die unmittelbare Antwort der herrschenden Klassen in den imperialistischen Staaten auf den drohenden Zusammenbruch des Welthandels, des globalen Finanz- und Währungssystems bestand in der Rettung der großen Kapitale sowohl im industriellen Bereich, vor allem aber im Finanzsektor. Natürlich wurde in den ersten Krisenjahren auch massiv Kapital vernichtet und viele Länder (z. B. in Südeuropa) haben im Gegensatz zu Deutschland bis heute längst noch nicht die industriellen Kapazitäten wieder aufgebaut, über die sie vor 2007 verfügten. Darin zeigt sich, nebenbei bemerkt, dass die Kosten der Krise nicht nur auf die Lohnabhängigen, sondern auf die weniger konkurrenzfähigen Länder (respektive deren Bevölkerung) abgewälzt wurden.

Das begünstigte zwar eine Stabilisierung der Weltwirtschaft – zugleich wurden aber mit der Politik des „billigen Geldes“, des „quantitative easing“ der US-amerikanischen Notenbank und Europäischen Zentralbank die Schuldenlast der imperialistischen Kernländer reduziert, der Kredit für deren Unternehmen verbilligt und darüber hinaus neue spekulative Anlagefelder für das „überschüssige“ Kapital geschaffen. Die Zinsen in den abhängigen, halb-kolonialen sowie den schwächeren imperialistischen Staaten blieben jedoch weiter hoch, deren Schuldenproblem vergrößerte sich, wie aktuell an Italien oder der Türkei zu beobachten ist. Die Vernichtung des Großkapitals blieb weit hinter dem zurück, was für einen neuen Akkumulationsschub notwendig wäre. Die Masse an überschüssigem Kapital wuchs vielmehr.

Der Grund dafür liegt in der imperialistischen Ordnung selbst. Welche Finanzkapitale, welche großen Monopole weichen müssen, entscheidet sich im Kampf um die ökonomische und politische Neuaufteilung der Welt – ganz so wie in Europa der Kampf um die „Formierung“ der EU in der Konkurrenz zwischen den historisch gewachsenen imperialistischen Mächten und Großkapitalen entschieden wird.

Damit wird notwendigerweise nicht nur die ökonomische Konkurrenz härter. Es verschärft sich natürlich auch der Kampf um Einflusszonen, wie wir aktuell z. B. im Nahen Osten sehen können. Die US-Politik gegenüber dem Iran ist auch eine, um den Einfluss der europäischen Konkurrenz zu schwächen, die französischen und deutschen InvestorInnen zum Rückzug zu zwingen.

Krise der EU

Die imperialistischen Mächte in der EU sind – im Vergleich zu den großen KonkurrentInnen China und USA, aber in gewisser Weise selbst dem wirtschaftlich schwächlichen Russland – in einer Position, wo sie geo-strategischen Boden verlieren, statt zu gewinnen. Dies erwächst aus den ungelösten Widersprüchen des EU-Projekts wie auch inneren Gegensätzen der Kapitale in den führenden Ländern.

Anders als die USA, China oder Russland ist die EU selbst kein Staat. Sie wird natürlich vom deutschen und, in geringerem Maße, vom französischen Imperialismus dominiert – zugleich ist sie aber auch der Austragungsort der gegensätzlichen Interessen dieser Mächte. Auch wenn z. B. Italien längst nicht die Stellung Deutschlands innehat, so ist es doch auch ein, wenn auch schwächerer, imperialistischer Staat, der seine Interessen möglichst hartnäckig verteidigt. Dass die EU diese Gegensätze überwinden kann, ist überaus fraglich. Die wahrscheinlichste Variante ist sicherlich das Scheitern dieser Einigung oder deren Modifikation (z. B. in Form eines Europas der zwei Geschwindigkeiten).

Die Schwierigkeiten erwachsen jedoch nicht nur im Inneren, sondern auch unter verschiedenen Fraktionen des nationalen Kapitals. Die einzelnen Großunternehmen sind vor allem an ihren kurzfristigen Renditen interessiert. Eine Politik, die rasche Profite sichert, ist aber keineswegs gleichbedeutend mit einer im langfristigen Interesse des Gesamtkapitals eines Landes. Zwischen den unmittelbaren Konkurrenzerfordernissen einzelner Kapitale und dem Gesamtkapital besteht vielmehr ein Widerspruch, der gerade in Krisenperioden deutlicher hervortritt. Der Staat muss dabei als Sachwalter des Gesamtkapitals auftreten – zugleich ist er aber auch Lobbyist der Einzelkapitale, d. h. der Widerspruch zieht sich durch die gesamte staatliche Politik und damit natürlich auch durch die politische Parteienlandschaft.

Dieser kann nur durch die vernichtende Wirkung der Konkurrenz gelöst werden – sei es den Ruin der schwächeren Kapitale, sei es durch die Neuaufteilung der Welt unter den großen Mächten.

In gewisser Weise besteht das Verdienst von Trump darin, dass er das mit seiner „America First“-Doktrin offen ausspricht, während seine europäischen KonkurrentInnen auf „Verständigung“, „Kooperation“ und „gemeinsame Werte“ pochen.

In jedem Fall besteht aber das Problem der EU als imperialistischem Projekt Deutschlands, Frankreichs, aber auch Italiens und anderer Staaten der Gemeinschaft darin, dass die Krise der EU und damit auch des Euro nicht gelöst werden kann, wenn die inneren Widersprüche nicht überwunden werden. Solange Europa ein kapitalistisches Europa ist, kann das freilich nur bei Klärung der Führungsfrage unter den imperialistischen Mächten des Kontinents erfolgen. Auch in dieser Hinsicht ist die Krise Italiens qualitativ anderer Art als jene Griechenlands.

Politische Herrschaftsformen

Die Konturen der politischen Krise aufzuzeigen und auf ihre tieferen Widersprüche zu verweisen, ermöglicht ein Verständnis der aktuellen Zickzacks europäischer oder auch deutscher Politik. Eine schnelle Änderung ist hierbei nicht in Sicht. Der gesamte Kontinent und vor allem EU und Eurozone werden eine längere Phase der wirtschaftlichen und politischen Instabilität durchlaufen. Wir stehen nicht kurz vor Lösungen, sondern vielmehr kurz vor weiteren Verschärfungen und Zuspitzungen der inneren Widersprüche der europäischen Krise.

Politisch manifestieren sich diese in einer Krise der tradierten politischen Herrschaftsformen, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa etabliert wurden.

Am markantesten und für Millionen Lohnabhängige, vor allem Flüchtlinge und MigrantInnen, unmittelbar bedrohlich ist der Aufstieg der Rechten, die sich in Regierungen, in rechts-populistischen bis faschistischen Parteien manifestiert. Ihr als Alternative stellen sich die „Koalitionen der Vernünftigen“ entgegen wie die deutsche „Große Koalition“. Verzweifelt versuchen sie, eine Gesellschaft „zusammenzuhalten“, deren innere Widersprüche immer offener zutage treten. Ironischerweise sind die SozialdemokratInnen und Gewerkschaften oft die entschiedensten BefürworterInnen einer solchen Konstellation, auch wenn sie damit ihren eigenen Niedergang vorantreiben. Die gesamte sozialdemokratische Bewegung – einschließlich vieler GegnerInnen der „Großen Koalitionen“ und auch große Teile der europäischen Linksparteien – beschwört nämlich die Wiederherstellung der verlustig gegangenen „Sozialpartnerschaft“, eines institutionalisierten Klassenkompromisses, der in den 1960er und 1970er Jahren so perfekt zum Wohle aller funktioniert hätte. Daher landen sie – auch bei linkeren Versprechen – letztlich im Koalitionsbett mit bürgerlichen Parteien, beim Sozialabbau mit sozialdemokratischen Bauchschmerzen. Im Rahmen der EU hoffen sie auf eine Renaissance dieser Politik – und unterstützen derweil Macron und Merkel.

Sicherlich besteht der Vorzug dieser Politik für das Kapital darin, dass sie den „sozialen Frieden“ zu sichern verspricht, mit anderen Worten: die gewerkschaftlich organisierte ArbeiterInnenklasse ruhigstellt.

Doch auch für die Erfordernisse der herrschenden Klassen ist das zu wenig. Sie setzen vermehrt auf autoritärere, dem Bonapartismus ähnliche Herrschaftsformen, die sich immer weniger auf die parlamentarische Bühne stützen. Das trifft nicht nur auf rechts-extreme oder direkt rechte Regierungen zu. Auch die Regierung Macron ist ein Beispiel für diese populistische Neoformierung bürgerlicher Herrschaft. Über seine Präsidialpartei wird eine politisch amorphe, über keine reale Kontrolle verfügende Masse an AnhängerInnen und Wahlvolk mobilisiert und geformt, die sich gleichzeitig an der Illusion betören kann, Frankreich wieder in Bewegung zu setzen.

Während Macron für seine Politik der Reichen die Werte der „Mitte“ und der „Republik“ heranzieht, setzt die Rechte auf Rassismus, Nationalismus. Sie verspricht den real oder vermeintlich vom Abstieg bedrohten KleinbürgerInnen, deklassierten oder von der Konkurrenz bedrohten politisch rückständigeren ArbeiterInnen, aber auch Teilen des Kapitals „Stabilität“ durch nationale und kulturelle Einheit.

Die kommenden Jahre werden nicht von der Durchsetzung eines „Modells“ geprägt sein, sondern vielmehr von einer raschen Ablösung verschiedener Formen. Von der Großen Koalition zum rechten Block, vom „EU-feindlichen“ Regime zur „pro-europäischen“ Front von ReformistInnen und Großkapital, …

Angriffe

Umbruch- und Krisenperioden zeichnet nämlich nicht aus, dass eine bevorzugte Herrschaftsform – in unserem Fall die parlamentarische Demokratie – mit einem Schlag durch eine andere ersetzt wird. Vielmehr wird die EU von Schwankungen geprägt sein, von einem politischen Hin und Her. Es wird jedoch bei allem Hin und Her auch wichtige Gemeinsamkeiten geben.

Erstens werden wir in ganz Europa weitere Einschränkungen demokratischer Rechte der MigrantInnen und Geflüchteten, aber auch der Gewerkschaften und ArbeiterInnenbewegung erleben. Diese Angriffe schließen auch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes unterdrückter Nationen (z. B. KatalanInnen, BaskInnen) ein.

Zweitens werden wir in allen Ländern eine Zunahme des Militarismus, von Aufrüstung und deren nationaler Begründung erleben, die sich gegen imperialistische Konkurrenz und gegen die zu befriedenden „Unzivilisierten“ vor allem im Nahen Osten und in Afrika richtet. Dies ist zugleich ein weiterer Nährboden für Rassismus.

Drittens werden wir eine Welle von europaweiten Angriffen auf die Lohnabhängigen erleben. Das betrifft sowohl strategisch wichtige Sektoren wie z. B. die EisenbahnerInnen in Frankreich wie auch die Frage einer grundlegenden Neustrukturierung des Arbeitsprozesses und der globalen Arbeitsteilung (Stichwort Industrie 4.0).

Krise als Chance

Im Grunde genommen eröffnen die tiefe Krise der EU, die inneren Widersprüche der europäischen Bourgeoisie wie auch des Reformismus für die klassenkämpferische Linke, ja für die ArbeiterInnenbewegung und die Linke insgesamt auch große Chancen.

Doch die Niederlagen der letzten Jahre haben nicht nur in der Klasse zu einem Rückzug, sondern auch zu einem Anwachsen von Rassismus und Chauvinismus geführt. Die Niederlage in Griechenland oder der Niedergang der Unterstützung für die Geflüchteten hatten auch eine demoralisierende Wirkung auf viele AktivistInnen. Das Scheitern von Parteien wie Syriza, die Krise von Podemos und auch das Schrumpfen der radikaleren NPA in Frankreich haben nicht nur die Schwächen reformistischer, links-populistischer oder zentristischer Projekte offenbart, sie haben auch Millionen enttäuscht und skeptisch(er) gemacht.

Hinzu kommt, dass der europaweite Rechtsruck, der Vormarsch der Rechten in praktisch allen Ländern mit einem weiteren Niedergang grenzübergreifender, europäischer Aktionen der Linken und der ArbeiterInnenbewegung einherging.

Inmitten der tiefsten Krise der EU, wo sich die nationale Abschottung als falsche Alternative zur „kapitalistischen Vereinigung“ präsentiert, ziehen sich die Linke und die ArbeiterInnenbewegung selbst zunehmend auf ihr nationales Terrain zurück.

Dieser falsche Rückzug zum scheinbar Unmittelbaren, zum „eigenen“ Stadtteil, Kleinprojekt, zum falschen „Unten“ ist selbst ein Resultat von Niederlage und politischer Borniertheit.

Für die ReformistInnen gibt es einen aus der Logik ihrer politischen Konzeption erwachsenden Grund, sich im Klassenkampf auf ein nationales Terrain zu beschränken, weil für ihre Reformpolitik der bürgerliche Nationalstaat unverzichtbar ist.

Für Anti-KapitalistInnen, für revolutionäre KommunistInnen und InternationalistInnen ist der Klassenkampf jedoch wesentlich international. Die Antwort auf die Krise der EU kann nicht in der reaktionären Abschottung auf das nationale Terrain bestehen, sondern liegt vielmehr in der europaweiten und internationalen Vereinigung im Klassenkampf, im Kampf für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa. Das erfordert gemeinsame Aktionen, gemeinsame Koordination und ein Aktionsprogramm gegen die Rechten, gegen Rassismus, gegen Nationalismus, Militarismus und Imperialismus. Zu diesem Zweck schlagen wir europaweite, koordinierte Abwehrbündnisse aller Kräfte der ArbeiterInnenbewegung und Unterdrückten vor.

Aber es braucht auch eine politische, strategische Antwort, die in einem eigenen Programm zur Überwindung der europäischen Krise zusammengefasst wird – und damit auch eine über die Grenzen hinausgehende revolutionäre Organisation. Daher treten wir, die Gruppe ArbeiterInnenmacht und die kommunistische Jugendorganisation REVOLUTION, für den Aufbau solcher neuen revolutionären Parteien und einer neuen, Fünften Internationale ein.




AfD und rechten Hetzern entgegentreten – gemeinsam, entschlossen, organisiert!

Aufruf der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur Mobilisierung gegen den AfD-Parteitag in Augsburg, Neue Internationale 229, Juni 2018

Am 30. Juni und 1. Juli findet der Bundesparteitag der AfD in Augsburg statt. Damit soll ein weiterer Schritt zur Festigung und zum Aufbau einer rechtspopulistischen, rassistischen Partei vollzogen werden. Große interne Abrechnungen wie auf vergangenen Parteitagen sind nicht zu erwarten. Vielmehr werden der „respektable“, rechts-konservative und neo-liberale sowie der ultra-nationalistische, völkische und proto-faschistische Flügel ihre Gemeinsamkeiten hervorheben: ungebremster Rassismus, extremer Nationalismus, Deutschtümelei, Frauenfeindlichkeit, Deregulierung im vermeintlichen Interesse des „kleinen (deutschen) Mannes“ und der Ruf nach einem starken, autoritären Staat.

Gesellschaftlicher Rechtsruck

Auch wenn die AfD selbst keine faschistische Partei ist, so ist sie der konzentrierte, parteipolitische Ausdruck des Rechtsrucks der letzten Jahre. Hat sie ihn auch nicht verursacht, so ist sie dennoch nicht bloß seine Nutznießerin, sondern treibt ihn aktiv voran. Protest, Mobilisierung gegen die Rechten – nicht nur gegen die AfD – ist daher Pflichtprogramm für die gesamte Linke und die ArbeiterInnenbewegung – im Kampf gegen Rassismus, gegen Spaltung, sexistische Hetze oder Versuche, sich mit rechten Listen betrieblich zu verankern.

Die Große Koalition hat dem Aufstieg der AfD nicht nur nichts entgegengesetzt, sondern ihn durch ihre eigene staatliche, rassistische Politik begünstigt: Schleifung der sowieso schon begrenzten Asylrechte, Kriminalisierungen und Diffamierungen von FlüchtlingshelferInnenstrukturen nicht nur durch die AfD, sondern auch die CSU und die bürgerlichen Medien und nicht zuletzt eine extrem rigide Abschiebepolitik, in der zahlreiche Länder zu „sicheren Drittstaaten“ bzw. „sicheren Herkunftsländern“ erklärt werden, obwohl dort Krieg wie etwa in Afghanistan herrscht. Die jüngst durch Horst Seehofer vorgestellten „AnKER-Zentren“ (Ankunft – Kommunale Verteilung – Entscheidung – Rückführung) , die lediglich dazu dienen, die Asylverfahren durchzupeitschen, und eine schnellere Abschiebung ermöglichen sollen, verschärfen diese Politik weiter – und sind zugleich Wasser auf die Mühlen der AfD.

Aber auch die Politik von SPD und Gewerkschaftsführungen, ja selbst der Linkspartei spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die SPD verschärft in sozial-chauvinistischer Manier die rassistischen Gesetze gemeinsam mit der Union, während sie mit den Gewerkschaftsspitzen bei der sog. Standortpolitik den Schulterschluss mit dem deutschen Kapital übt. Die „RegierungssozialistInnen“ und der Wagenknechtflügel in der Linkspartei betreiben im Grund dieselbe Politik. Für sie sind die Lohnabhängigen keine internationale Klasse, die entlang nationaler Linien gespalten wird, sondern vor allem eine nationale Größe, die sich zuerst um ihr Fortkommen im „eigenen Land“ zu kümmern hätte. Entsolidarisierung und Spaltung sind somit vorprogrammiert.

Ein weiterer Grund für das Erstarken der AfD liegt in der Krise der (radikalen) Linken nicht nur, aber auch hier in Deutschland. Dadurch, dass man auf die Folgen der Agenda-Politik keine wirklichen Antworten parat hatte und auch während der Krise vor 10 Jahren die Lösungsansätze der (radikalen) Linken gegen die Angriffe eher dürftig blieben, wandten sich viele, die auf Veränderungen gehofft hatten, enttäuscht ab und suchten nach vermeintlich einfacheren Lösungen.

Perspektive

Aus diesen Gründen rufen wir zur Beteiligung an den Protesten gegen den AfD-Bundesparteitag auf. Lasst uns den rechten HetzerInnen klar machen, dass sie weder in Augsburg noch sonst wo erwünscht sind!

Um unseren Protest lautstark auf die Straße zu tragen und den Parteitag effektiv zu blockieren, müssen wir aber viele sein. Die bayrische Polizei will die Tagung der Rechten mit 2000 PolizistInnen schützen. Während das Versammlungsrecht in Bayern und bundesweit durch neue Polizeigesetze und weitere Einschränkungen beschnitten wird, soll der AfD-Parteitag gegen AntirassistInnen und AntifaschistInnen durchgepeitscht werden. Wir müssen daher unseren Protest organisiert auf die Straße tragen, um unser Demonstrationsrecht gegen rechte, AfD-nahe SchlägerInnen und Provokationen der Polizei zu verteidigen.

Um den Rechtsruck zu stoppen, müssen wir aber mehr tun, als uns an Großdemos gegen die AfD oder andere rechte Kräfte zu beteiligen.

Wir brauchen ein bundesweites Aktionsbündnis gegen Rassismus, Angriffe auf Geflüchtete und MigrantInnen und für deren Schutz vor Abschiebungen. Ein solches Bündnis sollte für die Abschaffung aller rassistischen Sondergesetze, für volle Bewegungsfreiheit, Abschaffung des Lagersystems, aller Einreisebeschränkungen und für offene Grenzen eintreten.

Darüber hinaus ist es unerlässlich, sich mit anderen Protesten zusammenzuschließen wie z. B. jenen gegen die Polizeiaufgabengesetze in Bayern oder Sachsen, welche einen massiven Angriff nicht nur auf Linke, sondern auch auf GewerkschafterInnen bedeuten und die ebenfalls im Kontext des Rechtsrucks zu sehen sind, um Solidaritätsaktionen bspw. mit von Abschiebungen betroffenen Flüchtlingen zu kriminalisieren.

Es gibt nur einen Weg, der Konkurrenz zwischen Geflüchteten, MigrantInnen und den schon länger hier lebenden Lohnabhängigen entgegenzuwirken – der gemeinsame Kampf für gleiche Rechte, für volle StaatsbürgerInnenrechte für alle, die hier leben, für die Verkürzung der Arbeitszeit sowie einen garantierten Mindestlohn und Wohnraum für alle. Wir rufen dazu auf, in den Gewerkschaften den Kampf gegen rechte HetzerInnen zu organisieren, die AfD und rechte Gruppierungen konsequent politisch zu bekämpfen und die Gewerkschaften für alle MigrantInnen und Geflüchteten zu öffnen.

Der Kampf gegen den Rassismus ist mehr als der Kampf gegen die AfD. Angesichts der verschärften globalen Konkurrenz wird jede bürgerliche Regierung ein Programm massiver Angriffe, des Rassismus und der Repression fahren. Dies sind keine zufälligen „Ausrutscher“, sondern untrennbar mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbunden. Wenn wir den Kampf wirksam führen wollen, dürfen wir daher nicht nur die Auswirkungen des Rechtsrucks bekämpfen, sondern müssen auch seine Ursachen ins Visier nehmen. Das ist unser Ziel, deshalb kämpfen wir für den Aufbau eine neuen revolutionären Partei und Internationale!




Gesundheitsministerkonferenz am 20. Juni in Düsseldorf: Gewerkschaften rufen zum Protest

Anne Moll, Neue Internationale 229, Juni 2018

Die letzte Große Koalition hat die Krise im Gesundheitswesen ausgesessen – zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in allen Bereichen der Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsberufe hat sie nichts getan. Die „neue“ Koalition aber will es anders machen! Gesundheitsminister Spahn verkündet: „Wir haben das Problem erkannt“.

Er verspricht „Reformen“ – oder, genauer, droht damit: Schließungen von Notfallambulanzen, Ausweitung der Praxisstunden für ÄrztInnen, Einführung der Hebammenausbildung an Hochschulen, Einführung einer generalisierten Pflegeausbildung und damit praktisch die Abschaffung der Kinderkrankenpflege. Außerdem verspricht er, höhere Löhne für die Pflegeberufe und bundesweit 8.000 oder vielleicht „sogar“ 13.000 zusätzliche Stellen in der Altenpflege zu schaffen. Eine Arbeitszeitverkürzung von 20 % bei vollem Lohnausgleich wird zwischendurch erwogen …. Vielleicht sollen die Pflegeberufe aus der Krankenhausfinanzierung rausgenommen werden? Und gleichzeitig sollen die Krankenkassenbeiträge sinken, …

Der neue Gesundheitsminister präsentiert sich nicht nur als Reformer, er schlägt auch – frei nach dem Motto „Viel hilft viel“ – einander widersprechende Maßnahmen vor. Wird die Gesundheitsministerkonferenz dazu beitragen, dass die Versorgung von Pflegebedürftigen und Kranken besser wird?

Das darf angezweifelt werden. Alles, was wir von den EntscheidungsträgerInnen hören, ist nichts weiter als billiger Populismus und weit entfernt von guten Lösungen. Wundern muss uns das nicht, denn mit der Einführung der DRGs (Diagnosis Related Groups) 2004 (der Abrechnung nach sog. „Fallpauschalen“) wurden die politischen Weichen für eine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung gestellt und das Ergebnis wird zunehmend sichtbar. Ändern kann sich das nur durch massiven Druck der Beschäftigten.

Und ver.di?

Seit es beachtliche Streiks für mehr Personal im Krankenhaus an der Berliner Uniklinik Charité 2015 und 2017 gab, hat sich die Gewerkschaft ver.di diesen Themas mit einer bundesweiten Kampagne angenommen. In mehreren Städten gibt es Bündnisse für mehr Personal im Krankenhaus. In den letzten 14 Monaten fand einiges an Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit und fanden auch Demonstrationen und Streikaktionen statt.

Dass auch diese alles in allem doch recht schwachen und auf wenige Krankenhäuser beschränkten Aktivitäten schon für Druck gesorgt haben, zeigt die Reaktion von den Krankenhausbetreibergesellschaften, aber auch das schnelle Einlenken der ver.di-FunktionärInnen bei Konflikten. So wurde versucht, Demonstrationen und Warnstreiks zu verbieten. Ver.di hat bei Verhandlungsangeboten die Aktionen zumeist ausgesetzt. Nirgendwo versuchen die Gewerkschaftsführung und der Apparat, die aktiven Beschäftigten auf weitere Streikaktionen vorzubereiten.

Das zeigt erstens, dass die politischen Absichtserklärungen, etwas zu verbessern, vor allem Beruhigungspillen für alle im Gesundheitssystem Beschäftigten sind, und zweitens, dass ver.di dabei die Rolle einer Vermittlerin und auch einer Kontrollinstanz spielt. Die Kraft der Beschäftigten, sollten sie gemeinsam bundesweit für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, wird von der gesamten Branche und der Regierung gefürchtet. Es gibt durchaus enormes Potential, die Belegschaften auf die Straße zu bringen. Doch zugleich zeigen sich die Schwierigkeiten auch bei der Vorbereitung und Mobilisierung zur Demonstration am 20. Juni. Ver.di ruft zur Demonstration gegen die Gesundheitsministerkonferenz auf und stellt auch durchaus richtige Forderungen. Aber die Mobilisierung findet nicht flächendeckend, sondern mit sehr unterschiedlicher Intensität statt. In vielen Städten wird fast nichts dafür getan. Vor allem aber gibt es keine Kampfperspektive über die Demonstration hinaus. Die Gewerkschaftsführungen versuchen allenfalls, über Volksbegehren und andere Initiativen politische Dynamik zu entfalten, während die Perspektive eines politischen Streiks für mehr Personal, gleiche Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, hinreichende Ausfinanzierung, Enteignung der Gesundheitskonzerne und Verbesserung der Gesundheitsversorgung nicht thematisiert wird.

Dabei ist die schlechte Situation in Krankenhäusern und in der Pflege einer breiten Öffentlichkeit bewusst. Die LINKE will eine dauerhafte Kampagne zu diesem Thema machen. Das müsste ver.di eigentlich nutzen und die betrieblichen und gewerkschaftlichen Kampagnen damit verbinden. Auch die SPD müsste unter Druck gesetzt werden, dass sie sich an öffentlichen Kampagnen beteiligt. Doch dazu braucht es auch in ver.di einen Kurswechsel.

Jetzt mehr Personal!

Und zwar überall, das heißt einheitlich und bundesweit! Für alle, das heißt für alle Bereiche und alle Berufsgruppen. Genug Personal heißt: für eine bedarfsgerechte Versorgung und gesunde Arbeitsbedingungen, kontrolliert von den Beschäftigten! Der Kampf dafür muss aber gerade auch von ver.di systematisch organisiert werden. Wir schlagen vor:

  • Bildet überall Betriebsgruppen und Aktionskomitees, wo es noch keine gibt! Fordert von ver.di aktive Unterstützung!
  • Für eine bundesweite Aktionskonferenz aller Betriebs- und Aktionsgruppen, um einen landesweiten Aktionsplan zu erstellen, der in einen gemeinsamen Streik zum Erkämpfen dieser Forderungen mündet!



Neustrukturierung von Ver.di – Sinnvolle Reform oder bürokratische Flickschusterei?

Helga Müller, Neue Internationale 229, Juni 2018

Seit Jahren entwickelt ver.di neue Projekte, um dem Mitgliederschwund und der schwindenden Bindung der Gewerkschaft in den Branchen entgegenzuwirken. Die letzte nannte sich „ver.di wächst“. Als die Pilotphase in Bayern vor ca. einem Jahr gerade abgeschlossen wurde und die Umsetzung in den diversen Landesbezirken anlief, kam dann der Bundesvorstand am 23. Juni 2017 mit einem neuen Papier daher. Es trägt die Überschrift: „Position des Bundesvorstandes zur Zukunft der Fachbereiche in ver.di“.

Veränderungen

Alle bisherigen Projektvorhaben sind mehr oder weniger kläglich gescheitert. Nicht in allen, aber in vielen Fachbereichen stagnieren Mitgliederzahl und damit auch Beitragseinnahmen weiterhin, von denen wiederum die Finanzierung des Apparates abhängt. Dies hat unterschiedliche Ursachen: Im bisherigen ver.di-Fachbereich 8, in dem vor allem die bei Medien Beschäftigten organisiert sind, liegt es u. a. auch an der ständigen Umstrukturierung der Branche, verändertem Mediennutzungsverhalten der LeserInnen, Abbau von Überkapazitäten im Druckbereich und Konzentrationsprozessen, die für den Kapitalismus charakteristisch sind.

Aber ver.di umfasst im Gegensatz z. B. zur IG Metall auch Branchen wie den Erziehungs- und Pflegebereich, die traditionell nicht gut organisiert sind. Das hat sich aber in den letzten Jahren radikal verändert, weil der Druck auf die Beschäftigten enorm zugenommen hat. Traditionell gut organisierte Bereiche wie die Müllabfuhr sind privatisiert und damit zersplittert worden und entsprechend auch die Tarifverträge. Statt eines großen gemeinsamen Tarifvertrages wie den BAT – gibt es jetzt viele kleine Spartentarifverträge, die unterschiedliche Laufzeiten haben.

Aber auch die Tarifpolitik von ver.di trägt maßgeblich dazu bei, wie dies auch die letzten Tarifrunden im öffentlichen Dienst gezeigt haben. Kampagnen wie für die Entlastung in den Krankenhäusern setzten nicht auf die vollständige Kampfkraft und den Kampfeswillen der Beschäftigten, um die Forderungen der KollegInnen z. B. nach mehr Personal durchzusetzen, sondern endeten immer wieder in faulen Kompromissen mit den Geschäftsführungen, was selbst eine auslaugende Wirkung auf die Arbeitenden hat.

Projekt des Bundesvorstandes

Der Bundesvorstand möchte in dieser Situation, dass aus bisher 13 Fachbereichen vier etwa gleich große entstehen. Vor allem der neue Fachbereich A (Arbeitstitel) ist sehr umstritten. Dieser soll aus den bisherigen Fachbereichen 1 (Finanzdienstleistungen), Fachbereich 2 (Ver- und Entsorgung), Fachbereich 8 (Medien und Industrie) und Fachbereich 9 (Telekommunikation) bestehen. Der ursprünglich auch für einen neuen Fachbereich A vorgesehene Bereich 5 (Bildung, Wissenschaft und Forschung) hat entschieden, sich dem neuen Fachbereich B anzuschließen. Vor allem die ehrenamtlichen KollegInnen des Fachbereichs 8 befürchten, in diesem neuen großen Gebilde unterzugehen und an Fachkompetenz zu verlieren, was gerade in diesem Bereich für die Gewinnung neuer Mitglieder sehr wichtig ist aufgrund der Konkurrenz zu anderen Gewerkschaften. Auch der neue Fachbereich B, der hauptsächlich aus denen des öffentlichen Dienstes neu entstehen soll, ist in der Gesamtorganisation umstritten, da bei Entstehung von ver.di die ehemalige ÖTV auf verschiedne Fachbereiche verteilt wurde, damit sie nicht zu viel (tarif-)politische und finanzielle Macht in ver.di erhält.

Der neue Fachbereich C, der aus den bisherigen Fachbereichen 10 (Postdienste, Spedition, Logistik) und 12 (Handel) entstehen soll, wird wohl nicht zustande kommen, da der Fachbereich 12 die Art und Weise des Umstrukturierungsprozesses ablehnt. Allein der bisherige Fachbereich 3 (Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) bleibt als neuer Fachbereich D bestehen, da dies der einzige ist, der neue Mitglieder gewinnt und nach Einschätzung des Bundesvorstandes gute Zukunftschancen hat.

Die Art und Weise und auch der Vorschlag des Neuzuschnitts sind in den meisten Fachbereichen auf heftigen Widerstand gestoßen – vielleicht mit Ausnahme derer aus dem öffentlichen Dienst, die jetzt die Chance haben, wieder als einer zu agieren, was sicherlich auch sinnvoll ist. Gerade im Fachbereich 8 wird kritisiert, dass zu wenig Zeit ist, um über den Vorschlag zu diskutieren und Änderungen einzubringen. So kritisiert der Bezirksvorstand des ver.di-Bezirks München und Region in einem Schreiben an den Bundesvorstand und den Gewerkschaftsrat vom 26.7.17, dass „eine neue Fachbereichsstruktur vorrangig nach Branchen-, Betriebs- und Konzernstrukturen, entlang der Wertschöpfungsketten und gemäß der tarifvertraglichen Zusammenhänge zu gestalten“ sei.

Offene Fragen

Viele Fragen sind noch offen. So ist bis heute unklar, was aus der sogenannten 4. Ebene wird,. Das sind die Ortsvorstände oder Betriebsgruppen, die die untersten Organe der Gewerkschaft darstellen und in denen sich einfache Mitglieder organisieren können. Unklar ist auch, wie in den verschiedenen Fachbereichen die Tarifpolitik ausgerichtet werden soll. So gibt es beim Fachbereich 8 noch Branchentarifverträge, die aber stark unter Druck geraten, da die „Arbeitgeber“verbände vor allem im Medienbereich kein großes Interesse daran weiter haben. Im Fachbereich 9 dominiert der Konflikt bei der Telekom die Tarifauseinandersetzung – was nichts anderes als ein Haustarifvertrag ist. Die anderen Betriebe und Konzerne der Telekommunikation spielen hier kaum eine Rolle. Wenn sich in dem neuen Fachbereich A diese Orientierung durchsetzt, würde das in ver.di größere Probleme heraufbeschwören und bestehende nur in einer neuen Form reproduzieren.

Nach den Vorstellungen des Bundesvorstandes sollen der Prozess der Neustrukturierung der Fachbereiche bis 2023 abgeschlossen und die neuen Strukturen bei den Organisationswahlen 2022/23 bereits umgesetzt sein.

Im Jahr 2017 wurde zwar die Diskussion auf der Ebene der Bezirke und Landesbezirke geführt – durchaus sehr kritisch auch mit Mitgliedern aus dem Bundesvorstand, aber bis auf wenige kosmetische Änderungen an dem Zuschnitt hat sich an den Vorhaben, wie im Papier des Bundesvorstandes skizziert, nichts geändert. Kein Wunder, dass der anfängliche Widerstand gegen dieses Projekt bei den ehrenamtlichen Mitgliedern in Resignation umgeschlagen ist. Mittlerweile sind die Diskussion und Entscheidung auf die Gremien der Bundesebene verlagert worden. Einfache aktive Mitglieder haben keine Chance mehr, an dem Prozess etwas zu ändern.

Echtes Problem – bürokratische Antwort

Es spricht nichts dagegen, dass sich der Bundesvorstand 17 Jahre nach Gründung von ver.di Gedanken macht, wie ihre „Geburtsfehler“ geändert werden und sich die Strukturen mehr an die neuen Gegebenheiten anpassen können . Im Grunde sind die Fachbereiche nichts anderes als die Widerspiegelung der in ver.di eingegangenen Gewerkschaften mit Ausnahme der ÖTV, die auf verschiedene Fachbereiche aufgeteilt wurde. Genauso wenig spricht etwas dagegen, dass sich der Bundesvorstand Gedanken machen muss, wie man die Mitgliederbeiträge stabilisiert, wenn sie ständig zurückgehen und der Apparat auf dieser Grundlage nicht mehr zu finanzieren ist. Auch spricht nichts dagegen, dass sich eine Gewerkschaft neu strukturiert, wenn sich die sogenannte Wertschöpfungskette ändert oder neue technische Entwicklungen wie die im Papier des Bundesvorstandes viel zitierte Digitalisierung Auswirkung auf den Zuschnitt von Branchen haben.

Im Gegenteil, in einer solchen Situation ist es sogar dringlich notwendig, dass sich eine Gewerkschaft neu strukturiert und aufstellt, um ihre gewerkschaftliche Kampfkraft und Durchsetzungsfähigkeit zu erhalten. Wir meinen auch, dass dies eine Aufgabe wäre, die sich ver.di stellen müsste. Dies würde aber nicht nur ver.di selbst betreffen, sondern auch andere Gewerkschaften. Z. B. im Bereich der Logistik ist die IG Metall seit längerem relativ erfolgreich, ver.di zu verdrängen. Notwendig wäre es also, sich im gesamten DGB-Bereich Gedanken zu machen, wie sich die neuen technischen Entwicklungen und die Wertschöpfungskette insgesamt, dazu gehört die Digitalisierung vorrangig (s. auch die ganze Diskussion um Industrie 4.0), auch in den Strukturen der Gewerkschaften niederschlagen und diese entsprechend neu ausgerichtet werden können.

Letzten Endes ging es beim Vorhaben des Apparates aber nie wirklich um die Neuausrichtung der Gewerkschaften aufgrund neuer Branchenzuschnitte und technischer Entwicklungen, sondern darum, wie am besten bei den hauptamtlichen FunktionärInnen der unteren und mittleren Ebene eingespart werden kann. Gerade in den Bezirken fehlen aber ausreichend GewerkschaftssekretärInnen, um die Betriebe und tarifpolitischen Auseinandersetzungen sinnvoll betreuen zu können, geschweige denn, um verloren gegangene Betriebe wieder in die gewerkschaftlichen Strukturen zu integrieren oder gar neue Betriebe und Branchen für die Gewerkschaft zu erschließen.

Im Grunde hat sich in den 17 Jahren Existenz von ver.di nichts geändert: War die Gründung von ver.di schon aus der Not geboren, da die kleinen Gewerkschaften wie die IG Medien aufgrund ihres Mitgliederrückgangs gezwungen waren, sich in einen größeren Verband einzubringen, um nicht unterzugehen, stellt auch der neue Vorschlag des Bundesvorstandes nichts anderes dar. Anstatt auf die Ursache des Mitgliederschwundes zu reagieren, wird ein rein technokratisches Programm – vier ungefähr gleich große Fachbereiche mit einer ähnlichen Personalausstattung – durchgeführt, um die Probleme oberflächlich zu beheben.

Hier rächt sich, dass es in ver.di keine starke sichtbare politische Kraft gibt, die auf einer klassenkämpferischen Basis in der Lage ist, eine Alternative für eine neue und notwendige Neustrukturierung von ver.di und der gesamten Gewerkschaftsbewegung aufzuzeigen.




Opel: IG Metall knickt ein

Frederik Haber, Neue Internationale 229, Juni 2018

Sie nennen es Zukunftssicherung. Sicher ist dass 3700 Arbeitsplätze weg sind. Angeblich sollen die betroffenen Beschäftigen schon weitgehend freiwillig ausgeschieden sein oder dies unterschrieben haben. Wie das in Eisenach bei 450 abzubauenden Plätzen von 1800 funktionieren soll, dazu schweigt die Erklärung des IG Metall-Bezirks Mitte. Ein Kündigungsschutz für die Verbleibenden soll fünf Jahre gelten bis 2023. Dafür verzichten die Opel-Beschäftigten auf das tarifliche Zusatzgeld, das erst jetzt für alle MetallerInnen vereinbart worden war und die einzige Tariferhöhung für das Jahr 2019 darstellt. Zukünftige Erhöhungen sollen verzögert werden.

Erpressung

Erreicht hat PSA-Chef Tavares diese Zugeständnisse durch einen Investitionsstreik: Alte Modelle laufen aus oder werden – wie der Corsa – verlagert, neue Aufträge wurden zurückgehalten. IG Metall und Gesamtbetriebsrat haben den Forderungen zugestimmt, die sie zuvor noch als „Erpressung“ bezeichnet hatten.

IG Metall-Chef Hofmann feiert „den wichtigen Schritt zur Sicherung aller Standorte“. Nur, dass die eigentlich auch vorher als gesichert galten. Und dass dafür schon einiges hergegeben wurde. Für die Sicherung von OPEL waren auch schon mal die Bochumer Produktionswerke stillgelegt worden. Eisenach dürfte die nächste Zukunftssicherung nicht überleben.

Zugleich gibt es Berichte über mehrere hundert LeiharbeiterInnen, die in den Werken eingesetzt werden. Ist das Teil des Projekts, um „OPEL als starke deutsche Marke“ (Hofmann) zu erhalten? Macht OPEL gar – mithilfe der IG Metall und des Gesamtbetriebsrates – den Billigheimer, mit dem die anderen Belegschaften des PSA-Konzerns erpresst werden sollten?

Schon zu General Motors-Zeiten suchten IG Metall-Spitze und Gesamtbetriebsrat nie die internationale Solidarität im Konzern, sondern versuchten immer, den Abbau auf Werke in England, Belgien oder Spanien abzuladen. Auch der deutsch dominierte Europa-Betriebsrat wurde dahingehend instrumentalisiert, bis es schließlich den englischen KollegInnen zu bunt wurde und sie – wie in Deutschland die Bochumer Belegschaft – auf die „Hilfe“ des Gesamtbetriebsrates verzichteten. Letztlich gingen sie allein auch unter.

Die Alternative zur ständig wiederkehrenden Erpressung durch die Kapitalisten und zum gemeinsamen Selbstmord auf Raten, wie er auch jetzt ein gutes Stück weitergetrieben wurde, ist nicht der einsame Tod. Es ist der solidarische gewerkschaftliche Kampf! Über alle Grenzen in jedem Konzern und in der gesamten Branche!

Von der IG-Metall- und Betriebsratsspitze ist eine Politik nicht nur nicht zu erwarten, sie werden sie direkt zu verhindern versuchen – umso dringender ist, dass die Beschäftigen, die um ihre Existenz kämpfen wollen, sich selbst, als klassenkämpferische Basisbewegung organisieren, um die Gewerkschaften und die Betriebsräte den sozialpartnerschaftlichen FreundInnen der Konzernführung zu entreißen.




Gegen Berlins Ausverkauf: Schulprivatisierung stoppen!

REVOLUTION, Neue Internationale 229, Juni 2018

Wortwörtlich fällt manchen von uns der Putz auf die Köpfe. Die Toiletten hätten schon vor 5 Jahren saniert werden können und wenn wir neue Klassenräume brauchen, bekommen wir Container. Vom LehrerInnenmangel, Leistungsdruck oder genügend Räumen, die wir als SchülerInnen selber nutzen können, ganz zu schweigen! Das alles sollte besser werden, versprachen fast alle Parteien im Wahlkampf.

Und was will der Berliner Senat jetzt im Sommer hinter verschlossenen Türen tun? Unsere Schulen verschenken, um danach für sie Miete zu bezahlen! Kein Scherz: Der Berliner Senat will unsere Schulen an die Berliner Wohnungsbaugesellschaft HOWOGE Wohnungsbaugesellschaft mbH verpachten und zwar über 750 Stück. Das bedeutet: Sie verwalten staatliches Eigentum unter privatwirtschaftlicher Führung und entscheiden nun, wie viel Geld in die Schulen gesteckt wird. Denn kommt der Beschluss durch, ist die Wohnungsbaugesellschaft für Sanierung, Strom, Grünflächen verantwortlich und die Stadt zahlt dafür dann Miete. Das heißt: Überwachungskameras, um für „Sicherheit“ auf dem Schulhof zu sorgen, oder noch mehr verwahrloste Gebäude können auf uns zukommen. Schließlich geht’s der HOWOGE um ihren Profit. Den kann sie sich auch durch „Fremdnutzung“ nach Schulschluss oder in den Ferien sichern – und weil niemand darüber Mitspracherecht hat, könnten AfD-Schulungszentren oder sonstiger Müll auf uns zukommen.

Das können wir nicht zulassen! Schließlich kennen wir die Auswirkungen von Privatisierungen in Berlin schon. Wuchernde Mieten und Wohnungsmangel, die uns, wenn wir ausziehen und hier wohnen bleiben wollen, den letzten Nerv kosten werden, sind mitunter Ergebnis der Wohnungsprivatisierung des rot-roten Senats Anfang 2000. Aber nicht nur dort: auch in unserem Gesundheitssystem wurde kräftig privatisiert und es wurde an Pflegekräften gespart – also an unserer Gesundheit. Das zeigt klar, dass solche Vorhaben nicht uns allen zugutekommen, sondern nur den Investor_Innen, die staatliches Eigentum für ihren Profit herunterwirtschaften. Deswegen werden wir nicht stillschweigend hinnehmen, dass man an uns und unserer Bildung spart. Wir müssen die Teilprivatisierung verhindern.

Lasst uns deswegen gemeinsam an unseren Schulen aktiv werden und gegen den Ausverkauf unserer Stadt kämpfen! Lasst uns am 21. Juni gemeinsam streiken als Startschuss für den Widerstand, der auch im Herbst weitergeht! Also: Lasst uns am 21. Juni auf die Straße gehen, um dem Berliner Senat lautstark zu zeigen, dass er nicht stillschweigend unsere Schulen verscherbeln kann!

  • Gegen Schulprivatisierung! Für mehr LehrerInnen, kleinere Klassen und volle Ausfinanzierung unseres Bildungssystems!
  • Schluss mit der Selektion und dem Leistungsdruck! Für die Organisierung des Schullebens durch die Lernenden und Lehrenden!
  • Nein zur Schuldenbremse! Für den Ausbau von sozialem Wohnungsbau, Schulen und Jugendfreizeitangeboten etc. statt Sparkurs! Spart nicht an uns, sondern besteuert die Reichen!

Aktuelle Informationen

www.onesolutionrevolution.de

www.facebook.com/events/2057551697833456




Mietproteste: “Deutsche Wohnen” und Co enteignen!

Christine Schneider, Neue Internationale 229, Juni 2018

Das Berliner MieterInnenbündnis hat sich die Enteignung der „Deutsche Wohnen“ (im folgenden nur noch DW genannt) zum Ziel gesetzt und fordert dazu einen Volksentscheid. Das Bündnis setzt sich aus den einzelnen MieterInnen-Initiativen zusammen, die sich in den letzten Jahren aufgrund der massiven Missstände in den DW-Siedlungen gebildet haben, sowie Mitgliedern linker Gruppierungen, darunter großer Teile der „Interventionistischen Linken“.

Warum die DW?

Der Konzern ist der größte private Vermieter mit rund 110.000 Wohnungen in Berlin und der zweitgrößte in der BRD. Die DW AG erzielte im Jahr 2017 einen Gewinn von 1,7 Milliarden Euro. Zu den größten Investoren zählen das BlackRock Asset Management und der staatliche norwegische Pensionsfonds.

Die Summe alleine verrät schon, dass dieser große Gewinn und der Druck der AktionärInnen auf dem Rücken der MieterInnen ausgetragen werden. Eine der besten Methoden zur Profitmaximierung heißt „energetische Modernisierung“ nach § 559 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Dieser Paragraf besagt, dass 11 % der Modernisierungskosten jährlich auf die Miete draufgeschlagen werden können. Dazu ein kleines Rechenbeispiel: Die Modernisierung einer Wohnung kostet 20.000 Euro. 11 % davon würden einer monatliche Mieterhöhung von 184 Euro über etwa 9 Jahre entsprechen. Danach wäre die Modernisierung vom/von der MieterIn abbezahlt, aber die höhere Miete bleibt und das Unternehmen macht mit der Modernisierung zusätzlichen Gewinn.

Ziel der ganzen Modernisierung soll angeblich sein, dass MieterInnen die Mieterhöhung durch geringere Energiekosten wieder einsparen – was sich in der Praxis nicht beweisen lässt. In vielen Fällen erweist sich die Sanierung gar als schädlich für die Bausubtanz, da sie durch die außen angebrachten Dämmplatten nicht mehr richtig atmen kann. Die Folge davon sind Feuchtstaus mit möglicher Schimmelbildung und oft werden dadurch historische Denkmalsubstanzen zerstört. Der ganze Spaß wird von der Bundesregierung durch die KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) noch gefördert.

In der Praxis der DW sieht das so aus, dass oft jahrelang notwendige Reparaturen und Sanierungen nicht durchgeführt werden, für die eigentlich der/die VermieterIn aufkommen müsste. Beschwerden von MieterInnen werden ignoriert, auf lange Warteschlagen im Callcenter abgewälzt oder es wird gar die Schuld an den Reparaturen auf die MieterInnen geschoben. Die notwendigen Reparaturen werden dann im Zuge der „energetischen Modernisierung“ mitgemacht und zu 100 % auf die MieterInnen abgewälzt. Eine weitere Methode der Profitmaximierung besteht darin, den Berliner Mietspiegel juristisch anzugreifen und somit die eigene Vorstellung von zulässigen Mietgrenzen per Gericht durchzusetzen. Ähnliche Machenschaften finden auch bei den nächstgrößten Konzernen am Berliner Wohnungsmarkt, Vonovia und Akelius, statt.

Das MieterInnenbündnis hat sich zum Ziel gesetzt, einen Volksentscheid zur Enteignung der DW durchzuführen und diese in kommunales Eigentum in Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts überzuleiten, die ohne Gewinnabsichten und mit besonderem Mieterschutz betrieben werden soll. Diese Enteignung soll über die §§ 14 und 15 des Grundgesetzes und die §§ 23 und 24 der Berliner Landesverfassung erfolgen. Diese Paragrafen beinhalten eine Entschädigungszahlung nach Verfahrenswert. Die Idee des Bündnisses ist es nun, die Entschädigung über den Sachwert laufen zu lassen. Der Beschluss des Volksentscheides soll kein Gesetzesentwurf sein, sondern eine Handlungsanweisung mit Verpflichtungsklausel für den Senat. Neben der Enteignung soll sie Berlin verpflichten, dass es keine privaten WohnungseigentümerInnen mit mehr als 3000 Wohnungen mehr geben darf. Über den Sommer ist eine Vielzahl an Aktionen geplant, um die Verhältnisse in der DW offenzulegen.

Nächste Aktion

Die nächste Aktion startet am 15. Juni um 11 Uhr vor der DW-Zentrale in Berlin, Mecklenburgische Straße 57. An diesem Tag findet die Aktionärsversammlung der DW in Frankfurt/Main statt. Auch Gewerkschaften (ver.di, IG BAU) sollen sich beteiligen, denn die Arbeitsverhältnisse der MitarbeiterInnen der DW sind ähnlich beschissen wie die Situation der MieterInnen. Eine engere Verbindung der Kämpfe der MieterInnen mit jenen der Beschäftigten wäre ein großer Schritt vorwärts. Ebenso soll in die Handlungsanweisung an den Senat die Forderung nach sozial verträglichem Neubau, eine sinnvolle Nachverdichtung der Innenstadt ohne Zerstörung von Grün- und Freizeiträumen sowie die Nachnutzung von leer stehenden Gebäuden (beispielsweise Industrieanlagen, Flughäfen wie Tempelhof und Tegel) aufgenommen werden.

Ein Volksentscheid zur Enteignung der DW kann und sollte ein wichtiger Schritt sein, den „linken“ Senat zu zwingen, Farbe zu bekennen. In jedem Fall können und sollen damit Druck aufgebaut und die Organisierung der MieterInnen vorangetrieben werden. Die gesetzliche Forderung einer Entschädigung offenbart nicht nur den bürgerlichen Charakter des Grundgesetzes und der Landesverfassung – sie stellt auch ein Hindernis für die Mobilisierung dar, weil EnteignungsgegnerInnen aus Senat und Opposition bis zur Spekulantenlobby zetern werden, dass so erst recht der DW das „Geld hinterhergeworfen“ würde. Daher sollte die Mobilisierung von Beginn an mit der weitergehenden Forderung nach entschädigungsloser Enteignung und Abschaffung der Entschädigungsvorschriften in der Landesverfassung und im Grundgesetz einhergehen.

Schließlich warnen wir wie bei jedem Volksentscheid vor Illusionen in den bürgerlichen Staat. Ergebnisse von Volksentscheiden verpflichten die Regierung und den Staat zu nichts. Es kommt also vielmehr darauf an, eine Bewegung aus MieterInnen und Beschäftigten sowie deren Gewerkschaften aufzubauen, die ein Gegengewicht gegen und Kontrollinstrument über den Wohnungsmarkt in Deutschlands Hauptstadt und anderswo darstellen kann.

 




Bundeshaushalt 2018: Gerangel im Zeichen der “Schwarzen Null”

Jürgen Roth, Neue Internationale 229, Juni 2018

Der Bundeshaushalt setzt sich zum überwiegenden Teil aus Steuern und Abgaben der BundesbürgerInnen und Unternehmen zusammen. Der Bund gibt das meiste Geld aus für die Bereiche Arbeit und Soziales, für die Bundeswehr, Verkehr und Zinszahlungen.

341 Mrd. Euro will er in diesem Jahr ausgeben und einnehmen. Im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung sollen es an deren Ende im Jahr 2022 367 Mrd. sein.

Kritik aus der Regierungskoalition

Wie sein Vorgänger Wolfgang Schäuble (CDU) hält auch der jetzige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) am Konzept der schwarzen Null fest – nicht nur für 2018. Ohne Neuverschuldung soll die Schuldenquote – das Verhältnis von aufgelaufenem Schuldenstand zur im Bruttoinlandsprodukt (BIP) ausgewiesenen Wirtschaftsleistung – in diesem Jahr auf 61 %, bis 2021 auf 53 % sinken. Die Bundesschuld betrug am 31.12.2017 1,24 Billionen Euro, die Maastricht-Kriterien erlauben nur eine Quote aller Staatsschulden (einschließlich der von Bundesländern und Gemeinden) von bis zu 60 %. Dafür erntet Scholz mehr Lob von den UnionsparlamentarierInnen als von den Abgeordneten seiner eigenen Partei. Scholz geht davon aus, dass die niedrigen Zinsen bald der Vergangenheit angehören werden und somit künftige Neuverschuldung schwerer zu finanzieren sein wird.

Entwicklungsminister Gerd Müller und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gaben ihre Unzufriedenheit mit der Regierungsvorlage zu Protokoll, was ungewöhnlich ist. Von der Leyen verlangt 12 Mrd. Euro mehr für die Bundeswehr statt der geplanten 5,5 Mrd. Der Anteil der Entwicklungshilfe am BIP sänke von derzeit 0,5 % auf 0,47 % im Jahr 2022. Druck auf die Erhöhung des Wehretats übt nicht nur die Union aus, sondern auch der SPD-Wehrbeauftragte Peter Bartels unter Verweis auf eine „neue Situation“, der zufolge die Bundeswehr nicht nur Auslandseinsätze mit überschaubaren Kontingenten durchführen können müsse, sondern auch wieder die „kollektive Verteidigung Europas“ – gemeint ist wohl an der russischen Grenze.

Müller und von der Leyen argumentieren zum Zwecke der Stärkung ihrer Ressorts nahezu übereinstimmend. Die Bundeswehr soll bei der Bekämpfung des „Terrors“ und der „Fluchtursachen“ helfen sowie bei der „Stabilisierung der europäischen Nachbarschaft“, „Entwicklungshilfe“ soll den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive geben, damit sie sich erst gar nicht auf den Weg nach Deutschland machen – eine Perspektive vorrangig in von Stacheldraht umzäunten und von Militär bewachten Lagern! Doch Scholz will die bis 2022 erwarteten Steuermehreinnahmen, die noch nicht in den Koalitionsverhandlungen bereits verplant wurden (Finanzspielraum von 10,8 Mrd. Euro), zunächst in den Ausbau von Breitbandverbindungen, dann in den Abbau der „kalten“ Steuerprogression stecken und erst an 3. Stelle für Militär und „Entwicklungshilfe“ ausgeben, obwohl laut Koalitionsabkommen neue finanzielle Spielräume vorrangig in letztere zu gleichen Teilen investiert werden sollten.

Schwerpunkt Aufrüstung im Inneren

Höheres Kindergeld, neu aufgelegtes Baukindergeld (welches v. a. den Reichen und Mittelschichten zugutekommen wird), Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen, mehr Geld für die Kommunen, für Bildung und Forschung, sozialen Wohnungsbau und Förderung von Langzeitarbeitslosen sowie ein teilweiser Abbau des Solidaritätszuschlags am Ende der Legislaturperiode sind die wichtigsten sog. prioritären Maßnahmen mit einem Volumen von 46 Mrd. Euro der mittelfristigen Finanzplanung.

Nach dem neuen Zuschnitt umfasst das Innen-/Heimatministerium auch die Bereiche Wohnungsbau und Stadtentwicklung. Sein Budget von 13,76 Mrd. Euro für 2018 (ein Plus von 4,78 Mrd. ggü. 2017) ist also auch deshalb auffällig stark gewachsen. Den Löwenanteil schluckt jedoch der Bereich Innere Sicherheit, davon 3,42 Mrd. für die Bundespolizei (2017: 3,29 Mrd.). 15.000 neue Polizeistellen sollen in Bund und Ländern geschaffen werden. Zur „Terrorabwehr“ sollen nicht nur neue Dienstpistolen her, sondern auch Mitteldistanzwaffen (Sturmgewehre) für normale Streifenwagen zur Verfügung gestellt werden. Aufklärungsmittel wie Quadrocopterschwebeplattformen und neue Fahrzeuge (gepanzerte Patrouillengefährte Enok LAPV 6.1, größere Gruppenpanzerfahrzeuge mit Minenschutz und Türmen für großkalibrige Maschinengewehre sowie Einsetzbarkeit in extremen Klimazonen aus dem Hause Krauss-Maffei-Wegmann) stehen auf dem Wunschzetttel. Nur die Farbe unterscheidet diese Vehikel noch von solchen des Militärs!

Für den Bereich Integration und Migration stehen im Haushaltsentwurf nur 990,49 Mio. Euro zur Verfügung, damit nicht doch aus Versehen mehr Menschen nach Deutschland gelockt werden.

Die staatstragende „Opposition“

FDP-Chef Christian Lindner äußerte in der Bundestagsdebatte sein Missfallen über die Ausgaben im Bereich Arbeit und Soziales und warf der Regierung vor, „mit Geld Zustimmung zu kaufen“. (Neues Deutschland, 17.5.2018, Seite 2) FDP-Fraktionsvize Christian Dürr gehen die Steuererleichterungen (Teilwegfall des „Soli“ erst ab 2021, mögliche Abschaffung der „kalten Progression“, Erhöhung der Grundfreibeträge) nicht weit genug: „Die Arbeitnehmer in Deutschland zahlen historisch viel Steuern…Wie kann man die hart arbeitende Mitte der Gesellschaft entlasten?“

Hinter der demagogischen Sorge um die „Arbeitnehmer“ steht bei der gelben Steuerdumpingpartei nichts weiter als die Fürsprache für die überproportionale Entlastung von Reichtum und Vermögen der BesitzerInnen und AgentInnen des Kapitals, denn insbesondere die Großkonzerne sind die größten Nutznießer von Steuersenkungen.

Gesine Lötzsch und Professor Heinz-Josef Bontrup wenden sich gegen schwarze Null im Haushalt und Schuldenbremse im Grundgesetz. Gerade jetzt seien durch Staatsverschuldung finanzierte Investitionen leistbar und notwendig. Dieser gar nicht so linke Keynesianismus verkehrt die Krisenursache von mangelnder Profitaussicht fürs Kapital in ein Nachfrageproblem. Der Bundesfinanzminister konterte, die BRD-Industrie stehe kurz vor der Vollauslastung und es mache daher keinen Sinn, wenn der Staat noch mehr Nachfrage erzeuge. Der Bund steigere zudem seine Ausgaben im Rahmen der „MifriFi“ um 46 Mrd. Euro und damit auch die Investitionen, z. B. in 2018 auf 37 Mrd. Erst ab 2021 sänken sie wieder auf unter 34 Mrd., doch erhielten die Länder ab 2020 mehr Geld, das bisher als Bundesinvestition verbucht wird, so dass die Investitionsquote gar nicht sinke. Wofür die Bundesländer die steigenden Bundeszuweisungen ab dann verwenden werden, entscheiden sie jedoch im Zweifel selbst. Schuldenbremse und schwarze Null hängen auch wie ein Damoklesschwert insbesondere über den „armen Schluckern“ unter ihnen.

Aus Sicht der Grünen kritisiert Haushaltsexperte Sven-Christian Kindler, die Koalition wisse nicht, wohin mit dem Geld, und klagt mehr Engagement beim Klimaschutz ein. Dazu könne man den Bundeshaushalt auch um Milliardensubventionen für Diesel und Flugbenzin entlasten.

AfD-Abgeordneter Peter Boehringer, Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Bundestag, bemängelte, dass die gesamten Eurorettungskosten nicht eingeplant seien. Das stimmt auch für zu erwartende höhere Überweisungen an den EU-Haushalt im Zuge des Brexit oder die Kosten für ein noch nicht berücksichtigtes Rentenpaket. All das wird wie der gesamte Vortrag des Rechten mit Rassismus und Chauvinismus unterlegt.

DIE LINKE

Die soziale Seite der Linkspartei brachte unter dem Motto „Die soziale Spaltung stoppen!“ der Abgeordnete Matthias W. Birkwald in seiner Rede anlässlich der o. a. Haushaltsdebatte im Bundestag zum Vorschein. Seine Vorschläge gingen dabei ausdrücklich nicht über die der Gewerkschaften und Sozialverbände hinaus: Sofortprogramm zum Abbau der Langzeiterwerbslosigkeit (offiziell 800.000 Menschen), gesetzlicher Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde, Anhebung des Regelsatzes für Grundsicherung und Hartz IV um monatlich 154 Euro, vollständige Übernahme der Miet- und Heizkosten, 96 Euro monatlich steuerfinanzierte „Mütterrente“ für jedes Kind statt ab 3 vor 1992 geborenen Kindern. Im Klartext bedeuten 12 Euro Mindeststundenlohn weniger als die vom Bundesarbeitsministerium (!) genannten 12,63 Euro, um im Alter den Weg zum Sozialamt zu verhindern. Sein Sofortprogramm ist auch nur für alle Erwerbslosen, die 1 Jahr oder länger arbeitslos sind, ausgelegt (300.000) statt der vom Arbeitsministerium geförderten 20.000, die 8 Jahre oder länger in Hartz IV feststecken.

Das sind zwar Verbesserungen, doch für eine Partei, die einst für die Abschaffung von Hartz IV angetreten war, nicht mehr als gebremster Sozialschaum! Immerhin beklagte er die ab 2024 vorgesehenen Verteidigungsausgaben von 2 % des BIP (70 Mrd. Euro statt 38,5 Mrd. in 2018). Die deutschen Militärausgaben stiegen von 2014-2017 um 11,2 % auf 36,7 Mrd. Euro. Höher waren sie zuletzt im Jahr 1999. Ab 2024 wäre die BRD beim NATO-Ziel von 2 % des BIP und damit stärkste Militärmacht Europas. Russland senkte seine Rüstungsausgaben zum Vergleich von 69,3 Mrd. US-Dollar (2016) auf 55,3 Mrd. (2017) und kündigt für 2018 und 2019 weitere Senkungen an. Die Ausgaben der 29 NATO-Staaten summierten sich 2017 auf 881 Mrd. US-Dollar, das beinahe 16-Fache der russischen!

Ein Thesenpapier der Bundestagsfraktion von DIE LINKE fasst die Stellung der Partei zum Haushalt gut zusammen: Die Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte haben die Steuern für Unternehmen und Besserverdienende fortlaufend gesenkt, aber gleichzeitig über Mehrwertsteuererhöhungen die Belastungen für Normal- und GeringverdienerInnen erhöht. Die Große Koalition setzt die Politik der Vergesellschaftung der Milliardenverluste der Finanzbranche fort. Der Umverteilung von unten nach oben muss ebenso ein Ende gesetzt werden wie der Sparpolitik in der EU. Diese Maßnahmen haben die Einnahmebasis des Staats ausgehöhlt, der als Reaktion darauf mit dem Druckmittel Schuldenbremse einen Sachzwangvorwand für Sozialabbau implementiert hat. Für die Einnahmenseite fordert DIE LINKE: Millionärs- und Finanztransaktionssteuer, Erhöhung des Einkommensteuerspitzensatzes, Versteuerung von Veräußerungsgewinnen beim Verkauf von Kapitalgesellschaften. Auf der Ausgabenseite will sie die Rüstungsausgaben deutlich senken, die Auslandseinsätze der Bundeswehr beenden, Armut und soziale Ausgrenzung bekämpfen, neue Arbeitsplätze, Kinderbetreuung und Bildung fördern und ein europaweites Zukunftsinvestitionsprogramm auflegen.

Dieses reformistische Programm ist ein äußerst zahmes. Es nennt keine Zahlen und Methoden, wie diese Forderungen durchgesetzt werden sollen. Die Partei scheint zumindest in Zeiten guter Konjunktur vom Glauben an die Rückkehrmöglichkeit zur Sozialpartnerschaft beseelt und nennt das Umkehr der Umverteilung. Häufig wird dies damit begründet, es sei genug Geld da. Aber dies ist ja im Kapitalismus das Problem: je größer der Kapital- und Vermögensstock desto schwieriger seine Vermehrung (Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate)! Gerät der Kapitalismus in ein Konjunkturtal, sieht sich der Reformismus gemäß seiner eigenen Logik gezwungen zuzugestehen, dass die Arbeitenden „auch“ Opfer bringen müssten, solange diese nur „ausgewogen“ wären. Der zweite Kurzschluss dieser Herangehensweise besteht im Irrglauben, das Kapital sei zu Zugeständnissen immer leichter bereit, je besser es ihm gehe. Der Bundeshaushalt ist ein Beleg für die Falschheit dieser trügerischen, reformistischen Denkweise.

Die Linkspartei hegt über sozialpolitisch gefärbte und beschränkte Kritik hinaus offensichtlich keine Skrupel mit dem Klassencharakter jedes bürgerlichen Haushalts, weil sie keine Einwände gegen das Hauptrepressionsinstrument Staat der Bourgeoisie hat. Keinen Groschen für Militär, Polizei, stehenden Verwaltungsapparat und Justiz? Fehlanzeige bei den Nachkommen August Bebels!

Gerangel in Brüssel

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger warb für einen Gemeinschaftshaushalt, der trotz des Austritts Großbritanniens von 2021 bis 2027 auf 1,279 Bill. Euro anwachsen soll. Aus Deutschland sollen künftig jährlich 11-12 Mrd. mehr fließen als bisher, davon 3,5-4 Mrd. für das Schließen der Brexit-Lücke. Um die Beitragserhöhungen nicht noch höher ausfallen zu lassen, kürzt Oettinger die Hilfen für Landwirte und strukturschwache Regionen um 4-5 %. Die Agrarsubventionen sind der größte Budgetposten (58 Mrd. Euro jährlich). Erhöht werden sollen die Ausgaben für Bildung und Forschung (z. B. Programme wie Erasmus plus oder Horizon). Zusätzliche Einnahmen will die EU-Kommission mittels einer neuen Plastikmüllsteuer erzielen. Die BRD ist größte Beitragszahlerin in den EU-Gemeinschaftshaushalt (23,2 Mrd. Euro 2016).

Kritik an den Plänen der EU-Kommission kommt aus den Niederlanden, Österreich, Frankreich und – Bayern! Frankreich kritisiert die Agrarkürzungen, die manchen wiederum nicht weit genug gehen. Österreich, die Niederlande und CSU-Landesgruppenchef Dobrindt fordern ein Schrumpfen des Etats nach dem Brexit statt eines Anschwellens. Die EU gehöre einer grundlegenden Revision unterzogen, so der CSU-Politiker. Parteifreund und Ministerpräsident Söder legt den Schwerpunkt seiner Kritik auf den Verteilungsschlüssel, der die BRD benachteilige. Auch die SPD-Bundesminister Maas und Scholz argumentieren in die gleiche Richtung von „fairer Lastenverteilung“, nicht etwa für Budgetkürzung.

Hinter diesen unterschiedlichen Auffassungen ist eine politische Differenz im Lager der EU-Bourgeoisien, auch in dem des deutschen Bürgertums erkennbar. Der pro-europäische Flügel will sich die EU durchaus auch mehr kosten lassen und setzt auf Konsens, für den euroskeptischen haben die Ausgaben für eine Staatenbundplattform nur Sinn, wenn diese den Griff der BRD nach der Weltmacht genügend unterstützt und trotzdem nicht zu teuer ist. Zwischen beiden wird der Konflikt im Fall einer erneuten Eurokrise (Italien) in bisher ungeahnter Heftigkeit erneut ausbrechen und das Projekt Europäische Union überhaupt in Frage stellen. Das Kalkül der deutschen „PaneuropäerInnen“ beruht dabei auf der militärischen Schwäche Deutschlands. Sie sehen die EU und insbesondere Frankreich hier als notwendigen Lückenschluss, was sich auch im EU-Haushaltsansatz widerspiegelt (Schwerpunkte: Terrorabwehr, Verteidigung der europäischen Grenzen, Eindämmung der Einwanderung, Auslandseinsätze, erste Ansätze kollektiver Verteidigung unabhängig von der NATO stärken).

Flankiert werden sie dabei von Linksparteifraktionschefin Sahra Wagenknecht, die in der Bundestagshaushaltsdebatte Mitte Mai u. a. eine eigenständige europäische Außenpolitik voranzutreiben forderte. Dieser EU-Chauvinismus passt wie eine Zierkirsche auf ihren sozialchauvinistischen Nationalcocktail, das Hohelied auf den rheinischen BRD-Kapitalismus und „seine“ soziale Marktwirtschaft.

Vor der Kulisse der Krisenperiode

Das Berliner und Brüsseler Theater ist nur zu verstehen, wenn man sich 2 Sachen klarmacht: Diese Periode ist Ausdruck einer strukturellen Überakkumulationskrise, die nicht in diesem Konjunkturaufschwung ihr Ende gefunden hat und auch nicht im nächsten finden wird. Das sog. Primat, ja Diktat der Finanzmärkte ist nicht Resultat einer falschen, neoliberalen Angebotspolitik, sondern des tendenziellen Falls der Durchschnittsprofitrate, der dazu führt, dass sich Extraprofite, also Investitionsanreize nahezu ausschließlich aus Rationalisierungs-, nicht Erweiterungsinvestitionen speisen (Aufkäufe und Fusionen, Firmenmonopoly). Diese müssen aber zur Erzielung von Gründergewinnen auf immer höherer finanzieller Stufenleiter jonglieren. Daher die Bedeutung finanzieller Hebel (leverage), von spekulativen Papieren wie Derivaten, Immobilien etc.

Zweitens wird der Monopolkapitalismus von heute immer parasitärer. Die Ansprüche der großen Vermögen auf wenigstens eine Rente bzw. Verzinsung, wenn sich schon nur noch immer weniger und riskantere Realinvestitionen lohnen, nehmen zu. Gleichzeitig drosseln sie dadurch die industrielle Akkumulation, weil diese mehr als Renten bzw. Verzinsung erwirtschaften muss. Das Dilemma stellt sich in der Zentralbankpolitik dar: Eine Beibehaltung der Niedrigzins„politik“ befeuert Börse und Firmenmonopoly, untergräbt aber den Wert der Finanzanlagen (Wertpapierinflation). Umgekehrt erleichtert ein Anstieg der Leitzinsen eine Beseitigung überakkumulierten, fiktiven Kapitals, beschleunigt aber Crash und Rezession. Dieses fragile Finanzgebäude erlaubt eben keine Zugeständnisse an die Lohnarbeit, sondern erfordert im Gegenteil erhöhte Ausbeutung, fiskalische Disziplin (Schuldenbremse, schwarze Null, Troika) und soziale Sparpolitik. Ohne diese Methoden der absoluten Mehrwertproduktion kommt das Investitions- wie Vermögenskettenkarussell zusehends weniger hin, ohne aus der Bahn geworfen zu werden. Die linksreformistischen KeynesianerInnen inner- und außerhalb der Linkspartei (Bontrup, Schui, Hickel…) stellen Ursachen und Wirkungen dagegen auf den Kopf. Ihre Einwände gegen bürgerliche Haushaltspolitik verkommen zu überaus bescheidener Bettelei, gegen den Kapitalismus als System sind sie ganz verflüchtigt.




Neuwahlen in der Türkei: Zwischen Erdogan-Regime und türkisch-nationalistischer Opposition

Svenja Spunck, Neue Internationale 229, Juni 2018

Darauf, dass AKP (Adalet ve Kalkıma Partisi, „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung/Entwicklung“) und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, „Partei der nationalistischen Bewegung“) mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nicht bis November 2019 warten würden, deutete bereits vieles hin. Mitte März 2018 wurde dann bekannt, dass die Hohe Wahlkommission YSK 500 Millionen Umschläge für Stimmzettel in Auftrag gegeben hatte. Da es jedoch nur 55 Millionen Wahlberechtigte in der Türkei gibt, witterte die Opposition darin erste Vorbereitungen für Wahlbetrug im großen Maßstab. So war es bereits beim Verfassungsreferendum im April 2017 geschehen. Damals wurden nicht offiziell gestempelte Stimmzettel in das Ergebnis mit eingerechnet – bei all diesen war „Evet“ angekreuzt, also ein „Ja“ zum Präsidialsystem.

Um diesen Betrug zu legalisieren, stimmten AKP- und MHP-Abgeordnete ebenfalls im März diesen Jahres über ein Reformpaket ab, das dieser Koalition den Wahlsieg sichern soll. In einer Sitzung mitten in der Nacht wurde unter Ausschluss der Presse beschlossen, dass ungestempelte Wahlzettel gültig sein sollen. Anstatt die extrem hohe Sperrklausel von 10 Prozent zu senken, wurde außerdem entschieden, dass es möglich sein soll, sich innerhalb einer Koalition die Stimmen zu teilen. Es treten also Wahlbündnisse an und falls eine der Bündnisparteien unter 10 Prozent der Stimmen erhält, kann sie von ihren stärkeren Koalitionspartnerinnen trotzdem ins Parlament gehievt werden.

Praktisch soll damit verhindert werden, dass die MHP in einzelnen Bezirken verpassen könnte, einen Abgeordneten zu stellen. Die MHP, die momentan theoretisch in der Opposition ist, aber praktisch schon eng mit der AKP zusammenarbeitet und mit ihr ein Wahlbündnis vorbereitet, hat nach einer Spaltung mit starkem Stimmenverlust zu kämpfen. Die Abspaltung formierte sich unter Meral Aksener als IYI-Parti („Gute Partei“) und kommt in den meisten Umfragen locker über die 10-Prozent-Hürde.

Aktuell ist sie eine von zwei Parteien aus dem sogenannten „Bündnis der Nation“, das sich aus CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, „Republikanische Volkspartei“), IP (Iyi Parti, „Gute Partei“), Saadet Partisi (Saadet Partisi, „Partei der Glückseligkeit“) und der DP (Demokrat Parti, „Demokratische Partei“) zusammensetzt. Nur die CHP und die IP sind zur Zeit im Parlament vertreten. SP und DP sehen in dem Bündnis eine Möglichkeit, sich auf die politische Bühne in der Türkei zurückzubefördern.

Obwohl alle vier Parteien aus unterschiedlichen politischen Traditionen stammen, eint sie nicht nur die Opposition zur AKP und MHP. Übereinstimmung herrscht ebenfalls darüber, die pro-kurdische HDP (Halkların Demokratik Partisi, „Demokratische Partei der Völker“) aus ihrer Koalition auszuschließen und sie somit als einzige Partei übrig zu lassen, die tatsächlich im Alleingang die 10-Prozent-Hürde überwinden muss.

Im WDR wurde diese Koalition von Kürsat Akyol als eine „demokratisch-einheitliche Allianz“ gefeiert, durch die die Wahlen in der Türkei in ein „Fest der Demokratie“ verwandelt werden könnten. Doch dass es sich hierbei keineswegs um eine Opposition oder gar eine demokratische Alternative zur aktuellen Regierung handelt, zeigt die genauere Betrachtung der einzelnen Mitgliedsparteien.

CHP

Die CHP, Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal (Atatürk), ist die älteste Partei der Türkei und die größte Oppositionspartei im Parlament. Ihre Kernwählerschaft bilden säkulare TürkInnen aus dem Westen des Landes und den größeren Städten. Außerdem wird sie von der religiösen Minderheit der AlevitInnen unterstützt. Die oft in irreführender Weise als sozialdemokratisch bezeichnete Partei beteiligte sich zwar beim Verfassungsreferendum im April 2017 an der Mobilisierung des „Nein“-Lagers, stimmte jedoch im Mai 2016 im Parlament für die Aufhebung der Immunität von 50 der 59 HDP-Abgeordneten. Sie bereitete somit den Weg für die Inhaftierung der damaligen Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, denen nun in unzähligen Verfahren der Prozess gemacht wird.

Bei dem Angriff der türkischen Armee auf die kurdische Stadt Afrin in Nordsyrien zu Beginn des Jahres lieferte sich die CHP einen regelrechten Kampf mit der AKP um das Ausmaß der Unterstützung für diesen Einsatz. Der Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroglu sagte kurz nach dem Beginn der „Operation Olivenzweig“: „Es handelt sich um ein nationales Problem und die Sicherheit der Grenzen der Türkei steht in Frage. Deshalb werden wir die in unserer Hand liegende Unterstützung liefern. Es ist wichtig, dass wir zur moralischen Unterstützung unserer Armee beitragen.“ Im selben Interview kritisierte er Erdogan, dieses Thema für WählerInnenfang zu nutzen und fügte hinzu, dass dieser sich wohl gestört fühle von der Zustimmung durch die CHP.

Für die Präsidentschaftswahl entschied die Partei, den Kandidaten Muharrem Ince ins Rennen zu schicken. Er ist seit 2002 CHP-Abgeordneter im türkischen Parlament und hatte dort den Posten des Fraktionsvorsitzenden inne. Er gilt auch als Konkurrent des Parteivorsitzenden Kılıçdaroglu, dem er zweimal bei der Wahl um dessen Amt unterlag. Dass er nun als Präsidentschaftskandidat ausgewählt wurde, deutet auch auf einen politischen Wechsel innerhalb der CHP hin. Seine Reden sind voller Populismus und Rassismus, vor allem gegen Geflüchtete aus Syrien. Der Bevölkerung verspricht er, ähnlich wie Erdogan, was alles gebaut werden soll, dass der Mindestlohn angehoben werden würde und den Studierenden Stipendien geschenkt werden sollen. Würde man ihn fragen, wie er das finanzieren will, dann würde er antworten, dass er das Geld lieber „seinem“ Volk statt den SyrerInnen geben würde. Dass syrische Geflüchtete in der Türkei in extrem bitterer Armut leben, dass sie entweder über gefährliche Routen weiter nach Europa fliehen oder schon die Kinder der Familie in Sweatshops arbeiten schicken müssen, ignoriert er komplett.

Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, hat er gute Chancen, gegen Erdogan in der Stichwahl, also der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl anzutreten. Kommt es zur Stichwahl, würde Ince auch keine schlechten Chancen haben, die Wahl sogar zu gewinnen. Denn die Opposition ist sich fast einig darüber, denjenigen zu unterstützen, der es wagt, Erdogan herauszufordern, auch wenn es sich dabei um einen rassistischen Kemalisten handelt.

IP

Frank Nordhausen bezeichnete die IP-Vorsitzende Meral Aksener in der Frankfurter Rundschau als „türkische Marine Le Pen“. Sie ist kein neuer Stern am Politikerhimmel. Aus der MHP wurde sie im September 2016 ausgeschlossen, da sie den Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli herausforderte. Ihr Hauptkritikpunkt war dessen Zusammenarbeit mit Erdogans AKP. Dieser wirft sie wiederum vor, den Friedensprozess mit der PKK eingeleitet zu haben und nicht mehr mit aller Härte gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung vorzugehen. Gegenüber der kurdischen Bevölkerung lautet die Devise der IP also deutlich: erzwungene Assimilation statt kultureller oder gar politischer Gleichberechtigung.

Doch wofür sonst steht die Partei, die direkt nach ihrer Gründung in den Umfragen bei fast 20 Prozent liegt? In erster Linie inszeniert sie ihre Ablehnung des Präsidialsystems, das Erdogan gerne einführen möchte. Dennoch tritt Aksener vorsichtshalber als Präsidentschaftskandidatin an und könnte ebenfalls im zweiten Wahlgang Gegenkandidatin Erdogans werden. Andere vermuten, dass sie im Falle der Kandidatur des Kemalisten Ince doch noch die Seiten wechselt und zur Unterstützung Erdogans aufruft. Doch eigentlich wollen sie und ihre Partei eine Alternative für die enttäuschten WählerInnen von AKP und MHP darstellen.Obwohl vor allem die CHP viel daran setzt, ihr Wahlbündnis als große Alternative zur AKP/MHP-Regierung zu präsentieren, zeigt die genauere Betrachtung doch eher, dass es sich lediglich um einen Zusammenschluss rechter Kräfte handelt, die keineswegs für Demokratie, Gerechtigkeit oder ein friedliches Zusammenleben stehen. Stattdessen verfolgen sie ihre eigenen Pläne, den türkischen Staat zu verwalten, wobei ihnen die inneren Widersprüche dieses Bündnisses oft im Weg stehen. Bei der Präsidentschaftswahl treten zwei KandidatInnen aus diesem Bündnis an: Muharrem Ince für die CHP und Meral Aksener für die IP. Da beide momentan ungefähr gleichauf liegen, könnte auch hier im zweiten Wahlgang die Frage entscheidend werden, welcheR KandidatIn die Unterstützung der kurdischen Bewegung gewinnen kann.

HDP – die einzige Opposition?

Die AKP verliert zur Zeit ihre Wählerbasis unter konservativen KurdInnen, die auf den Friedensprozess hofften und nun vom türkisch-nationalistischen Kurs enttäuscht sind. Diese verlorenen Stimmen versucht die Partei, durch die nationalistische Stimmung, erzeugt durch den Angriff auf Afrin, über die MHP wieder reinzuholen. Doch schafft es die HDP, die von der AKP enttäuschten KurdInnen auf ihre Seite zu ziehen?

Die massive Repression gegen PolitikerInnen der HDP, gegen ihre Presseorgane und gegen kleinere linke Organisationen wächst stetig, seitdem die Partei im Juni 2015 zum ersten Mal ins Parlament eingezogen ist. Das Ziel der Regierung ist es, die Strukturen der Opposition komplett zu zerstören und ein erneutes Aufbegehren im Keim zu ersticken. Die HDP wird ihrer einfachsten demokratischen Rechte beraubt, obwohl sie nach wie vor theoretisch eine legale Partei im türkischen Parlament ist.

Die Politik der AKP bestimmt auch die Strategie der HDP in den Wahlen. Bereits vor einigen Monaten wurde bei den Debatten um den neuen Parteivorsitzenden die parteiinterne Spaltung zwischen – einfach gesagt – VertreterInnen der türkischen Linken einerseits und der kurdischen Bewegung andererseits deutlich. In der HDP gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, demzufolge die Doppelspitze der Parteiführung nicht nur nach Geschlecht paritätisch besetzt ist, sondern auch immer einE VertreterIn aus der sozialistischen und der/die andere aus der kurdischen Bewegung kommen soll. Der gezielte Angriff der türkischen Armee gegen die KurdInnen in der Türkei und in Syrien wurde durch kurdischen Nationalismus in der HDP beantwortet. Die Co-Vorsitzende Pervin Buldan sagte: „Als ihr nach Afrin gegangen seid, habt ihr von einer osmanischen Ohrfeige gesprochen, die ihr dort austeilen wolltet. Macht euch bereit für eine kurdische Ohrfeige. Ihr werdet niedergehen an den Liedern, die ihr auf dem Weg nach Afrin gesungen habt.“ Mit dieser Wortgewalt will sie zu Recht Erdogan in die Schranken weisen und Vergeltung für den Angriff auf das kurdischen Volk ankündigen. Doch eine Strategie, die Spaltung der Unterdrückten in der Türkei zu überwinden und tatsächlich eine Partei für all diese zu schaffen, kann die HDP leider nicht präsentieren.

Ob die HDP den Einzug ins Parlament schaffen wird, ist ungewiss. Umfragen sagen ihr zwischen acht und elf Prozent voraus. Während der Wahlkampf in der Türkei massiv eingeschränkt ist, mobilisieren HDP-AnhängerInnen im Ausland rund um die Uhr.

Die HDP spekuliert darauf, dass unter dem neuen Wahlsystem, unter dem Parteien sich ihre Abgeordnetensitze untereinander hin und her zuschieben können, eventuell eine andere Partei der HDP die fehlenden Sitze überlässt, damit die AKP/MHP-Koalition im Parlament geschwächt wird. Denn wenn die HDP die 10-Prozent-Hürde nicht überwände, wären ihre Sitze ein direkter Gewinn für AKP/MHP, was Druck auf das CHP-Bündnis ausübt. Die jüngste Vergangenheit hat jedoch auch gezeigt, dass selbst die oft als „sozialdemokratisch“ beschriebene CHP die HDP sofort ans Messer liefert, um sich erstens nicht selbst zu gefährden und zweitens ihre Hoffnung auf eine Beteiligung am neuen Präsidialsystem aufrechtzuerhalten. Auch das Fehlen einer klaren Strategie zur zweiten Runde der Präsidentschaftswahl seitens der HDP deutet eher darauf hin, dass man sich die Tür offen halten will, um sich eventuell der CHP anzubiedern. Dies ist jedoch innerhalb der HDP eine heiß diskutierte Frage. Es ist zu hoffen, dass sich die Kräfte durchsetzen, die eine solche „Taktik“ ablehnen. Sie schadet dem Kampf gegen Erdogan wie gegen die reaktionäre Opposition.

Größte Schwäche Erdogans

Die extrem angeschlagene Wirtschaft der Türkei ist der wunde Punkt der Regierung, der Erdogan bereuen lässt, die Neuwahlen ausgerufen zu haben. Zum ersten Mal seit Jahren erlebt man ihn in einer eher defensiven als aggressiven Rolle. Die Einschüchterung der Zivilbevölkerung durch massiven Druck von Seiten der Regierung, aber auch die gefährdete Sicherheitslage hatten den Niedergang von ausländischen Investitionen zur Folge, auf die die Türkei angewiesen ist. Zunächst machte die Tourismusbranche, die eine der zentralen Einnahmequellen der Türkei ist, hohe Verluste. Dies verband sich nun in den vergangenen Monaten mit einer wachsenden Schuldenkrise, die für die türkische Wirtschaft bedrohlich geworden ist. Die Gesamtschulden türkischer Unternehmen betragen mittlerweile 70 Prozent der Wirtschaftsleistung und diese wurden meist in ausländischen Währungen aufgenommen. Mit dem Wertverlust der Lira im Vergleich zu Dollar und Euro sowie dem Rückgang von Investitionen in die Türkei wird deutlich, dass die Wirtschaftspolitik der AKP gescheitert ist. Die Türkei ist auf langfristige ausländische Investitionen angewiesen, die jedoch durch die angespannte politische Lage ausbleiben. Während die Inflation momentan bei 10 Prozent liegt, ist auch die Jugendarbeitslosigkeit auf 20 Prozent angestiegen und der Reallohnverlust ist in der Bevölkerung zunehmend spürbar. Viele sehen in der wirtschaftlichen Lage eines der größten Risiken für die AKP-Regierung, während diese ihr Finanzproblem als Intrige ausländischer Mächte darstellt und die Bevölkerung zum Zusammenhalt und dem Umtausch ihrer letzten Dollars aufruft.

In dieser Situation sehen Erdogan und die AKP ihre Mehrheit bei den Wahlen gefährdet. Umgekehrt stellt das Oppositionsbündnis um die CHP keine fortschrittliche Alternative dar. In manchen Fragen steht dieses bzw. stehen einzelne Parteien der Opposition sogar rechts von der AKP. Darüber hinaus ist es durchaus möglich, dass eine dieser Kräfte auch zu einer Koalition mit Erdogan bereit ist, wenn der politische Preis stimmt.

In jedem Fall wird es aber darum gehen, die heraufziehende Wirtschaftskrise auf Kosten der Bevölkerung zu lösen, den Krieg gegen die kurdische Bewegung und die Besetzung Afrins fortzusetzen, die Position der Türkei als Regionalmacht zu behaupten – und all das mit einer Mischung aus Nationalismus, Demagogie und Rassismus, also durch Spaltung und Verhetzung der Masse in Stadt und Land zu legitimieren.

Bei den Wahlen unterstützen wir die HDP kritisch, obwohl sie keine ArbeiterInnenpartei, sondern eine kleinbürgerliche, klassenübergreifende Partei darstellt. Sie repräsentiert aber den Kampf des seit Gründung der Türkei unterdrückten kurdischen Volkes und den Widerstand gegen die Besetzung Afrins. Das Abschneiden der HDP stellt also auch einen Gradmesser für die Ablehnung der Politik Erdogans und des expansiven türkischen Nationalismus dar.

Zugleich sind jedoch in den letzten Jahren die programmatischen und politischen Schwächen der HDP immer deutlich geworden. Sie schwankt vielmehr zwischen „harter“ Opposition und opportunistischen Manövern wie z. B. hinsichtlich einer möglichen Unterstützung des CHP-Kandidaten Ince im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl. Der entscheidende Grund dafür liegt darin, dass sie als kleinbürgerliche Partei nicht auf eine auf die Interessen der Lohnabhängigen, der BäuerInnen und der Unterdrückten orientierte sozialistische Klassenpolitik setzt. Eine solche Politik müssten aber die sozialistischen Kräfte in der HDP aktuell vorschlagen und öffentlich machen, denn die kommende Krise kann, ja wird – egal ob nun die reaktionäre AKP oder die genauso reaktionäre Opposition gewinnt – , den türkischen Kapitalismus erschüttern und neue Möglichkeiten im Klassenkampf eröffnen.




Brasilien: Der Aufstand der LKW-FahrerInnen

Markus Lehner, Neue Internationale 229, Juni 2018

Ende Mai ging in Brasilien fast nichts mehr. Entscheidende Lebensnerven der Ökonomie wie Autobahnkreuze, Häfen, Flughäfen und Raffinerien wurden durch etwa 500 Blockaden mit jeweils um die 150 LKWs lahmgelegt. Der größte Hafen Südamerikas, der Hafen von Santos nahe Sao Paulo, wurde ebenso stillgelegt wie mehrere große Flughäfen. Schulen und Universitäten mussten durch den Zusammenbruch des Transportsystems schließen. Ebenso gab es Probleme in der Versorgung der Supermärkte und natürlich der Tankstellen.

Überraschenderweise war und ist diese Aktion der LKW-FahrerInnen populär und findet viel Zuspruch in der Bevölkerung (laut Umfragen liegt die Zustimmung bei 87 %), da sie ein zentrales Problem des Alltagslebens der Masse der BrasilianerInnen aufgreift: Die Preiserhöhungen bei Benzin und Diesel seit Antritt der Temer-Regierung treffen nicht nur die LKW-FahrerInnen, sondern sind Preistreiberinnen für alle Güter des täglichen Lebens (auch das viel verwendete Haushaltsgas wurde immer unerschwinglicher).

Hintergrund ist der politische Kampf um die Privatisierung des staatlichen Ölkonzerns Petrobras (der mit etwa 250.000 Beschäftigten größte Industriekonzern Brasiliens), der von der Temer-Regierung weiter betrieben wird. Sofort nach ihrer Amtsübernahme wurde ein neuer Petrobras-Chef ernannt (Pedro Parente), der unter anderem die Preise der Produkte an „Weltmarktpreise“ angleichen sollte. Dies führte seit Juli 2017 z. B. zu einer Erhöhung der Dieselpreise um 50 %.

Entwicklung der Auseinandersetzung

Die Bewegung der LKW-FahrerInnen begann absonderlicher Weise eigentlich als Aussperrung durch die Transportunternehmen. Auch in Brasilien hat die Art der aktuellen kapitalistischen Arbeitsteilung zu einem enormen Anstieg von Transportleistung und Konzentration zu großen Transportunternehmen mit vielen Subunternehmen geführt. Den 6 Verbänden der großen Unternehmen ging es vor allem um Druck auf die Regierung wegen deren Pläne zur Aufhebung von Steuererleichterungen. Als Verhandlungsmasse kündigten sie die Einstellung der Transportleistungen an – was einer Aussperrung gleichkam. Doch als es zu einem Abkommen am 24. Mai mit dem Großteil der Verbände zu diesem Thema kam, war die Aktion schon längst deren Kontrolle entglitten. Die selbstständigen FahrerInnen hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon über soziale Medien zu selbstorganisierten Blockadeaktionen verabredet. Insbesondere der Verband der autonomen FahrerInnen stellte die Forderungen nach Dieselpreissenkungen und der Streichung der Autobahnmaut für Leerfahrten in den Vordergrund der spontan immer mehr um sich greifenden Aktionen.

Inzwischen ist ein Kampf um die politische Führung dieser Bewegung entbrannt. Einerseits versucht die politische Rechte, Einfluss zu nehmen. Ein Kern von rechten FahrerInnen hatte schon in der Bewegung zum Sturz der PT-Regierung eine unrühmliche Rollte gespielt. Jetzt fallen sie wieder auf durch Sprüche und Transparente, die das Hinwegfegen der „korrupten PolitikerInnen“ durch eine Regierung der „Ordnung“, durch das Militär fordern. Faschistoide Gruppierungen wie die MBL versuchen, sich zu verankern, indem sie den LKW-FahrerInnen Lebensmittel und Kaffee zu den Blockadepunkten bringen, so wie sich auch der faschistische Präsidentschaftskandidat Bolsonaro öffentlich mit den FahrerInnen solidarisiert. Andererseits gab es auch linke Unterstützungsaktionen bei Blockaden und Solidarisierungen durch die Gewerkschaften anderer Bereiche. Insbesondere hat die CUT-Sektion bei Petrobras, die FUP (Föderation der ÖlarbeiterInnengewerkschaften) für den 30. Mai zu einem dreitägigen Solidaritätsstreik aufgerufen. Dieser wurde als politischer Streik kurz vor Beginn vom obersten Arbeitsgericht verboten. Als typisch legalistische Gewerkschaft hat daraufhin die FUP-Führung den Streik zunächst ausgesetzt. Dabei ist auch für viele LKW-FahrerInnen die Solidarisierung mit den ÖlarbeiterInnen das zentrale Anliegen.

Die Regierung hat auf die Blockaden mit Nervosität reagiert. Temer kündigte den Einsatz des Militärs an (daraufhin wurde er in Karikaturen als Panzerfahrer dargestellt, der feststellen muss, dass er kein Benzin mehr hat). Am 26. Mai wurde eine Senkung des Dieselpreises per staatlicher Subvention um 0,46 Real (portug.: Reais) zugestanden sowie eine monatliche Preisberatung. Auch bei der Autobahnmaut gab es Zugeständnisse. Trotzdem setzte der Großteil der LKW-FahrerInnen, denen die Zugeständnisse nicht weit genug gingen, den Streik fort. Am 30. Mai schließlich wurde der Hafen von Santos durch das Militär unter heftigen Straßenkämpfen geräumt. Die Auseinandersetzung wird sich sicherlich in den nächsten Tagen und Wochen weiter zuspitzen.

Hier die Erklärung unserer GenossInnen der Liga Socialista vom 26. Mai 2018 zu den Aufgaben der Linken.