200 Jahre Marx: Kein toter Hund

Martin Suchanek, Neue Internationale 228, Mai 2018

Jahrestage dienen nie einer bloßen Rückbesinnung auf das geschichtliche Werk einer Person. Handelt es sich um einen epochemachenden Theoretiker wie Marx, der gemeinsam mit seinem Freund und Kampfgefährten Engels den „wissenschaftlichen Sozialismus“ begründete, so gibt es für die herrschende Klasse oder auch den linken Flügel des Bürgertums, die reformistischen Organisationen, nur zwei Möglichkeiten: zu Tode schweigen oder zu Tode gedenken.

Ein Toter, der ständig wiederkehrt

Im Jahr 2018, besonders im Mai, häufen sich Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen. Marx‘ Geburtsstadt Trier nimmt den Jahrestag ihres bekanntesten Sohnes nicht zum Anlass von „Würdigungen“ und Veranstaltungen, sondern will aus dem Kapitalkritiker auch Kapital schlagen. Selbst die CDU stimmte im Stadtrat für den Bau einer überlebensgroßen Statue und die Massenproduktion von Devotionalien, vor allem für den chinesischen Markt.

Kaum ein großer Verlag lässt sich finden, der nicht eine „neue“ Marx-Biographie veröffentlicht, kaum eine renommierte wissenschaftliche Institution, die nicht zumindest eine Vortragsreihe oder ein Symposium veranstaltet, keine bürgerliche Zeitung, die ohne Nachruf auskommen dürfte.

Tote leben eben länger. Auch wenn die offizielle Gedenkkultur eher der Leichenschändung als einer Würdigung gleichkommt, so liegt selbst in der bürgerlichen Vereinnahmung und Entstellung von Marx etwas unfreiwillig Entlarvendes.

Kaum ein Theoretiker, kaum ein wissenschaftliches Werk wurde so oft für „tot“, „überholt“ und „widerlegt“ erklärt. Sogar etliche neu auf den Mark gekommene Marx-Biografien wie jene von Stedman Jones aus dem Jahr 2016 werden nicht müde, seine Arbeit und Politik als „illusionär“ zu entlarven. Es fragt sich jedoch, warum ausgerechnet ein schon tausend Mal für tot Erklärter noch einmal auf tausenden Seiten in hunderten Büchern und Artikeln „widerlegt“ werden muss.

Der Tote ist eben nicht tot. Die Marx-„Kritik“ nach dem Zweiten Weltkrieg, wie z. B. in Karl Poppers „Elend des Historizismus“ dargelegt, war sicherlich nicht viel dümmer oder klüger als die heutigen „Widerlegungen“. Aber vor dem Hintergrund der ökonomischen Expansion der 1950er und 1960er Jahre konnte sie auf eine ständige Verbesserung der Lebensbedingungen aller verweisen, wie es auf der gesellschaftlichen Oberfläche erschien. Die Krisentheorie und die bei Marx entwickelte relative Verelendungstheorie schienen widerlegt, das Proletariat „verschwunden“, integriert und zur „Mittelklasse“ aufgestiegen.

Außerdem war die revolutionäre Theorie unter Stalin und Mao zum „Marxismus-Leninismus“ kanonisiert worden und zur Legitimationsideologie einer herrschenden Kaste verkommen, die Theorie, Programm und Politik von Marx und Lenin in ihr Gegenteil verkehrte. Im Westen wiederum brachen die Frankfurter Schule und andere Spielarten des „Neo-Marxismus“ mit dem revolutionären Kern der Theorie. Der „organisierte Kapitalismus“ wäre fähig zur erfolgreichen staatlichen Krisenabfederung, das Proletariat unfähig, sich als revolutionäres Subjekt zu konstituieren. So konnte man besonders „kritisch“ und zugleich im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb erfolgreich sein.

Marx is back

Die gegenwärtige globale Krisenperiode und die mit ihr einhergehende verschärfte inner-imperialistische Konkurrenz entziehen natürlich jeder Theorie einer allmählichen Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse, des sozialen Aufstiegs und der Abschwächung des Klassenwiderspruchs den Boden.

Im ersten Band des „Kapital” legt Marx bekanntlich eine Theorie der relativen Verelendung der ArbeiterInnenklasse dar. Dieser begegnen wir selbst in Phasen der Expansion und der Erhöhung des Arbeitslohns, denn ihr entspricht auch dann, dass der neu geschaffene Reichtum in Form des Mehrwerts beständig auf Seiten des Kapitals angehäuft wird. „Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, ob hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.“ (Das Kapital, Band 1, S. 674/675) Es wächst also auch in der Periode der kapitalistischen Expansion die ökonomische Abhängigkeit der ArbeiterInnenklasse, die Dominanz des Kapitals.

Die bürgerliche Wissenschaft, aber auch der Reformismus sind für die Theorie der relativen Verelendung blind, weil sie die immer stärkere Herrschaft der toten über die lebendige Arbeit aus dem Auge lassen, die immer umfassendere Unterordnung, Vereinseitigung und Entfremdung. Im sozialdemokratischen Modell des Sozialstaats, aber auch im Stalinismus verkommt die „Befreiung“ der Klasse zu einer staatlichen Wohlfahrtsleistung, die die Entfremdung nicht aufheben kann, sondern nur schöner ausgestalten will. Für Marx hingegen bleibt auch die etwas besser bezahlte Lohnsklaverei – Lohnsklaverei.

Heute leben wir in einer Periode, wo auch immer größere Teile der Klasse mit sinkenden Einkommen zu kämpfen haben, wo selbst in den tradierten imperialistischen Zentren wie Deutschland Millionen zu prekär Beschäftigten wurden, zu einem Heer von „working poor“ samt Kindern und RentnerInnen in Armut. In Ländern wie China und Indien, wo sich die industrielle Produktion fieberhaft ausdehnt, wächst auch die Zahl der überausgebeuteten Armen.

Unabhängig von akademischen Debatten lesen sich Marx‘ Theorie und Beschreibungen der allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Akkumulation im ersten Band des Kapitals über weite Strecken wie eine Darstellung „neuester“ Ausbeutungsformen. Die Krisentheorie scheint heute wieder plausibel. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate – zu Recht von Marx als eine seiner zentralen Entdeckungen hervorgehoben – erweist sich als weitaus realitätstauglicher, als eine ganze Reihe revisionistischer KritikerInnen behauptet.

Entwicklung und Kampf

Die heutige bürgerliche Marx-Kritik und ihre (links)reformistische Spielart vermögen es daher nicht, Marx zur Gänze abzulehnen. Sie akzeptieren bestimmte Momente seiner Theorie oder Begriffe. Aber sie lehnen umso entschiedener die Totalität und den revolutionären Kern des Marx’schen Werkes ab.

So wird der ökonomische Theoretiker, der Autor von „Das Kapital“, als scharfsinniger Kritiker anerkannt, von dem auch IdeologInnen der herrschenden Klasse lernen können. Aber seine revolutionären Schlussfolgerungen, die Zuspitzung der Krise zur revolutionären Überwindung, die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution werden als „widerlegt“, „einseitig“ oder reine „Wunschvorstellungen“ abgetan. Auf dem Gebiete einzelner Erscheinungen mochte Marx sogar recht behalten haben, aber seine Schlussfolgerungen bezüglich der Bewegungsgesetze des Kapitalismus, seiner inneren Entwicklungslogik hätten keinen wissenschaftlichen Charakter, wären allenfalls literarisch interessante Spekulationen. Auf dem Gebiet der Politik hätte Marx einen fatalen und längst überholten „übertriebenen“ Anspruch gehegt – nämlich der Programmatik und Taktik einer revolutionären Partei eine wissenschaftliche Fundierung zu geben. In Wirklichkeit hätte auch er – wie jeder bürgerliche Politikaster – nur im Trüben gefischt.

Diese Methode, Aspekte des Marx’schen Werkes als wissenschaftlich zu akzeptieren, aber die Verbindung zum Gesamtzusammenhang abzulehnen, ist nicht neu. Sie findet sich keineswegs nur bei bürgerlichen oder akademischen KritikerInnen, sondern vor allem im Revisionismus alter wie neuer Spielart. Nachdem sich der Marxismus schon zu Lebzeiten von Marx und Engels gegen ideologisch kleinbürgerliche Strömungen wie den Proudhonismus und Anarchismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, wurden die revolutionären Schlussfolgerungen in der ArbeiterInnenbewegung selbst relativiert. Der entstehende Revisionismus und Reformismus traten zwar teilweise offen gegen Marx auf, oft genug aber auch verdeckt, indem sie nur „Teilaspekte“ zu aktualisieren vorgaben. Später wurde ein mehr oder minder entstellter Marx selbst noch zur Kritik des revolutionären Kommunismus herangezogen – eine Methode, die heute z. B. auch bei der Linkspartei und der Luxemburg-Stiftung im Gebrauch ist. Der Vorteil liegt dabei auf der Hand: Man hofft so, die eigene reformistische Politik im Rekurs auf Marx (oder Engels oder Luxemburg) auch noch als „revolutionär“ und besonders „kritisch“ hinzustellen. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, wollen wir uns noch einmal dem Erbe von Marx zuwenden.

Entstehung des Marx’schen Werkes

Die wissenschaftliche Methode von Marx und Engels und ihre Politik bilden sich in der Auseinandersetzung mit drei großen Strömungen ihrer Zeit heraus: dem Hegelianismus, der politischen Ökonomie und dem Frühsozialismus.

Diese Theorien bedeuteten einen enormen Fortschritt im Verständnis der modernen, entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, aber sie waren schon in den Jugendjahren von Marx und Engels an ihre inneren Grenzen gestoßen.

Hegels dialektische Methode ermöglichte eine Revolutionierung des Geschichtsverständnisses. Die Veränderung, das Werden, die Entstehung des Neuen und des Fortschritts aus den inneren Widersprüchen öffnete nicht nur einen veränderten Blick auf den historischen Prozess, sondern auch auf die entstehende bürgerliche Gesellschaft. Aber der Hegelianismus blieb – wie auch seine linken Schüler – dem Idealismus verhaftet, die geschichtliche Entwicklung letztlich eine Form der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes. Die dialektische Methode Hegels betont das Moment der Entwicklung, des Historischen und damit auch des unvermeidlichen Untergehens bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Formen. Aber Hegels idealistisches System erforderte auch einen Endpunkt dieser Entwicklung, die mit einer Form der „absoluten Wahrheit“ abschließen musste. Diese konservative, affirmative Seite der Hegel’schen Philosophie führte aus den geistigen Höhen des Systems zu „zahmen politischen Schlussfolgerungen“ (Engels), in die profanen Niederungen des preußischen Absolutismus.

Adam Smith und David Ricardo versuchten, die Gesetzmäßigkeiten der politischen Ökonomie auszuarbeiten, ihnen auf den Grund zu gehen. Sie entwickelten wichtige Aspekte der Werttheorie. Aber sie waren nicht in der Lage, die Klassenschranken ihrer Theorie zu überwinden und somit vorhandene innere Widersprüchlichkeiten ihrer Arbeiten. Insbesondere vermochten sie nicht, den historischen, vergänglichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise selbst zu verstehen. Vielmehr teilen sie mit der aktuellen akademischen Wirtschaftswissenschaft, wenn auch vom theoretischen Anspruch her weit über dieser stehend, die Vorstellung, dass der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sei.

Der Frühsozialismus griff die universellen Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft auf, wandte sie als Maßstab gegen die zur Macht gekommene Bourgeoisie. Die herrschende Klasse erfüllte die eigenen Versprechen von Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechten nicht. Damit verwies der Frühsozialismus zwar auf den antagonistischen Charakter der Gesellschaft, doch seine Vorstellung einer besseren, sozialistischen war selbst noch im bürgerlichen Rechtshorizont befangen, daher wesentlich moralisch. Eine wissenschaftliche Fundierung fehlte. Den bestehenden, kapitalistischen Verhältnissen wurden einfach „bessere“, herrschaftsfreie entgegengestellt – teils in genialen, inspirierenden Betrachtungen, teils indem der verallgemeinerten Warenproduktion wie z. B. im Proudhonismus eine vermeintlich gerechtere Form ebendieser entgegengestellt wurde.

Der Marxismus entstand im Bruch mit diesen Ideen. Auf der Basis der Kritik und der Polemik gegen die zeitgenössischen, letztlich immer reaktionärer werdenden ParteigängerInnen dieser Theorien entsteht die Marx’sche, wird seine Politik wissenschaftlich fundiert.

Historische Rolle des Proletariats

Im Zentrum steht für Marx und Engels dabei von Beginn an das Verständnis der historischen Rolle des Proletariats. Das ist der Springpunkt, um den sich die Marx’sche theoretische Arbeit, sein politisches Wirken, sein Gesamtwerk drehen.

Für Marx stellt die ArbeiterInnenklasse keine bloß sozial-statistische Kategorie dar, die sich beispielsweise durch geringes Einkommen, eingeschränkten Zugang zu kulturellen Ressourcen, strukturelle Benachteiligung usw. auszeichnet. Vielmehr kann die ArbeiterInnenklasse nur im Verhältnis zum Kapital, ja zur Gesamtheit der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Totalität verstanden werden. Das Proletariat ist keine Ansammlung von Individuen mit gleichen Eigenschaften – es muss vielmehr im Verhältnis zur KapitalistInnenklasse verstanden werden, im Rahmen eines Widerspruchsverhältnisses.

Daher muss die ArbeiterInnenklasse selbst auch immer in ihrem Werden, ihrer Veränderung verstanden werden – nicht nur in dem Sinne, dass sich ihre Zusammensetzung, ihre Struktur usw. infolge der Kapitalzusammensetzung ständig ändern, umwälzen, sondern vor allem auch darin, dass das Proletariat nur im Kampf, in seiner Organisierung, und indem diese mit der marxistischen Theorie verbunden wird, zu einer Klasse für sich werden kann. Gewerkschaften stellen dabei elementare Organisationsformen dar. Entscheidend ist aber für Marx die Konstituierung der Klasse zur politischen Partei, zu einem Zusammenschluss der bewusstesten Teile der Klasse, ihrer Avantgarde auf Grundlage eines gemeinsamen Programms zum Sturz des Kapitalismus.

Schon in den Frühschriften und im Kommunistischen Manifest arbeiten Marx und Engels heraus: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr ureigenstes Produkt.“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472)

Anders ausgedrückt: Die kapitalistische Produktionsweise bringt ihren eigenen „Totengräber“ hervor, jene Klasse, die sowohl die Fähigkeit besitzt, diese Verhältnisse umzustürzen, wie sie sich – im Unterschied zu früheren unterdrückten Klassen – nur befreien kann, indem sie als kollektiv produktionsmittellose Klasse die Produktivkräfte unter gesellschaftliche, planmäßige Leitung stellt. Dazu müssen die „Enteigner“, also das „Kapital“, enteignet werden.

Die theoretische Arbeit von Marx z. B. im „Kapital“ dient zur Fundierung, zum Verständlichmachen und zur Begründung der revolutionären Rolle des Proletariats. Die Abschnitte, die sich z. B. auf den Kampf um den 10-Stunden-Tag beziehen und erst recht jene, die die Notwendigkeit der politischen Machtübernahme des Proletariats hervorheben, sind keine „unwissenschaftlichen“ Zusätze zum „Kapital“, sondern vielmehr die entscheidenden Schlussfolgerungen aus der Kritik der politischen Ökonomie. So legt Marx im „Kapital” z. B. den Sinn wie auch die Schranken ökonomischer Kämpfe dar, indem er nach der Entwicklung der Wertform, der Verwandlung von Geld in Kapital zeigt, dass im Kapitalbegriff auch der Klassenantagonismus, der Kampf um die Verteilung des Mehrwerts schon eingeschlossen ist. Er erklärt, warum der Wert der Ware Arbeitskraft als Arbeitslohn erscheinen und im Lohnfetisch das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise verschleiert werden muss.

Auch wenn „Das Kapital“ selbst unvollendet blieb, so entwickelt es doch die inneren Gesetzmäßigkeiten der Produktionsweise, die Zuspitzung ihres inneren Widerspruchs und die Lösung, zu der er drängt:

„Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums hat geschlagen. Die Expropriateure werden expropriiert.“ (Das Kapital, Band 1, S. 791)

Die umfassende wissenschaftliche Analyse, die Marx im „Kapital“ vorlegt, wäre ohne Kritik der bürgerlichen Ökonomen, ohne die Analyse und Verallgemeinerung der entstehenden ArbeiterInnenbewegung und ihrer Kämpfe und ohne die dialektische Methode unmöglich gewesen. Marx mixt diese jedoch nicht wie die „moderne“ bürgerliche Universität eklektisch, sondern schafft eine neue Methode. Deren entscheidendes Wahrheitskriterium liegt nicht im akademischen „Diskurs“, sondern in der Praxis, genauer in der revolutionären Praxis der ArbeiterInnenklasse.

Staat und Revolution

Was vom „Kapital“ gesagt werden kann, trifft auch auf alle anderen Aspekte des marxschen Werkes zu. Es geht nicht darum, nur einen Teil der Gesellschaft zu erklären, sondern die Gesamtheit ihrer Verhältnisse. Auch wenn etliches nur bruchstückhaft bleibt, so ist Marx wie Engels (und allen großen MarxistInnen) gemein, sämtliche wichtigen gesellschaftlichen Probleme und Auseinandersetzungen als Teil des Klassenkampfes zu verstehen. Das zeigt sich unter anderem bei der Behandlung der nationalen Frage, der Frauenunterdrückung, des Mensch-Natur-Verhältnisses, der Kriegsfrage und des Verhältnisses von Reform und Revolution.

Für Marx muss die ArbeiterInnenklasse die politische Macht ergreifen, um überhaupt die Gesellschaft bewusst umgestalten zu können. Aus seiner Kapitalanalyse ergibt sich zwingend, dass das Proletariat im Rahmen der bestehenden Gesellschaft keine neue Produktionsweise aufbauen kann, weil es gerade durch sein Nicht-Eigentum an Produktionsmitteln charakterisiert ist. Es muss schon deshalb die KapitalistInnenklasse enteignen und die wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen in einer Hand, dem Staat zentralisieren.

In der Analyse der Revolution von 1848 (z. B. in Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ oder Engels, „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“) wird deutlich, dass die ArbeiterInnenklasse den bestehenden bürgerlichen Staatsapparat nicht einfach übernehmen kann, sondern dass dieser vielmehr im Zuge des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat als Herrschaftsinstrument perfektioniert wird:

„Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihrem Kampfe wider die Revolution gezwungen, mit den Repressivmaßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsgewalt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten diese Maschine statt sie zu brechen.“ (Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, S. 197)

Marx dazu in einem Brief an Kugelmann am 17. April 1871:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines ‚Achtzehnten Brumaire‘ nachsiehst, wirst Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent.“ (MEW 33, S. 205)

Die politische Form dieser Herrschaft, der Diktatur des Proletariats, ist schließlich in der Kommune, in den Räten gefunden.

„Das ist also die Kommune – die politische Form der sozialen Emanzipation, der Befreiung der Arbeit von der Usurpation (der Sklaverei) der Monopolisten der Arbeitsmittel, die von den Arbeitern selbst geschaffen oder Gaben der Natur sind. So wie die Staatsmaschine und der Parlamentarismus nicht das wirkliche Leben der herrschenden Klassen, sondern nur die organisierten allgemeinen Organe ihrer Herrschaft, die politischen Garantien, Formen und Ausdrucksweisen der alten Ordnung der Dinge sind, so ist die Kommune nicht die soziale Bewegung der Arbeiterklasse und folglich nicht die Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit, sondern ihr organisiertes Mittel der Aktion. Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf, durch den die arbeitenden Klassen die Abschaffung aller Klassen und folglich aller [Klassenherrschaft] erreichen wollen (…), aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiedenen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“ (Marx, Erster Entwurf zum ‚Bürgerkrieg in Frankreich‘, MEW 17, S. 545 f.)

Die Kommune war also wesentlich eine „Regierung der Arbeiterklasse“ (Marx). Diese erfüllt aber nur ihre eigentliche geschichtliche Funktion, wenn sie auch wirklich im historischen Interesse der Klasse agiert – ansonsten verkommt auch diese Form zum „Betrug“ (ähnlich wie es die Räte in Russland gewesen wären, wenn die Bolschewiki nicht die Mehrheit erobert und sie zum Aufstand im Oktober geführt hätten).

Marx entdeckte daher nicht nur die historische Bedeutung der Kommune – seine Einschätzung stand auch im krassen politischen Gegensatz zur Einschätzung der AnarchistInnen. Er solidarisierte sich nicht nur mit den RevolutionärInnen der Kommune, er unterzog auch deren Schwächen und Halbheiten einer scharfen Kritik.

Es ist kein Zufall, dass diese Aspekte des Marx’schen Werkes, die revolutionäre Kulmination seines Denkens und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen, nicht nur in der offen bürgerlichen Kritik bekämpft werden, sondern auch immer schon Kritikpunkte des Revisionismus waren.

Revolutionsstrategie

Marx‘ und Engels‘ Kampf für eine proletarische Partei und Internationale durchzieht ihr gesamtes Lebenswerk. Dabei stand für sie – ohne sektiererisch zu werden – immer programmatische Klarheit in Verbindung mit prinzipienfester Vereinigung.

Im „Bund der Kommunisten“ hatten Marx und Engels die voluntaristischen und utopischen Positionen der AnhängerInnen Weitlings und andere entschieden bekämpft und dem Bund in Form des „Kommunistischen Manifests“ eine wissenschaftliche programmatische Grundlage verschafft.

Das Eingreifen von Marx und Engels bei der Entstehung der Ersten Internationale kann – wie Dawid B. Rjazanow richtig herausarbeitet – als eine frühe Form der ArbeiterInnenparteitaktik betrachtet werden. Marx und Engels war – wie die Inauguraladresse von 1864 zeigt – durchaus bewusst, dass sich nicht nur „marxistische“ Elemente in der Internationale versammeln würden, sondern auch die VertreterInnen von Massengewerkschaften oder die AnhängerInnen Proudhons als stärkstem ideologischen Gegengewicht.

Aber Marx und Engel betrachteten eine solche gemeinsame Partei nicht als Ziel, sondern als Übergang zu einer fortschreitenden Klärung, die sie auch in Schriften, Polemiken wie „Lohn, Preis, Profit“, den Entschließungen der Kongresse der Internationale usw. forcierten. Die Einschätzung und die Folgen der Kommune markierten einen Wendepunkt, der zugleich auch einen Fortschritt darstellt hinsichtlich des Bruchs mit den AnarchistInnen. Die Polemiken aus dieser Zeit – insbesondere zum Londoner Kongress 1871 und zum Haager Kongress 1872 – stellen bis heute einen enormen Fundus der Kritik an schein-revolutionärem Linksradikalismus sowie des eigentlich kleinbürgerlich-doktrinären Charakters dieser Politik dar.

Bis heute kritisiert eine ganze Reihe ReformistInnen und VersöhnlerInnen Marx dafür, gegenüber den AnarchistInnen und SyndikalistInnen zu „dogmatisch“ und hart gewesen zu sein. Sie unterstellen, dass die Spaltung der Internationale, der Bruch mit den AnarchistInnen so hätte vermieden werden können.

In Wirklichkeit ging es um Grundfragen revolutionärer Politik. Marx‘ Einschätzung der Kommune als Kampfinstrument der Klasse bedeutet auch, dass er von ihr entschiedene Maßnahmen gegen die Konterrevolution erwartete.

In diesem Kontext muss auch Marx‘ Kritik an den KommunardInnen verstanden werden, die es versäumt hätten, die Bank von Frankreich zu enteignen und gegen die in Versailles konzentrierte Konterrevolution zu marschieren.

Marx wirft dem Zentralkomitee der Nationalgardisten aber auch vor, zu früh der gewählten Kommune die Führung überlassen zu haben und diese somit in die Hände „zufälliger“ und politisch verwirrter Elemente zu legen, statt der eigenen politischen Verantwortung nachzukommen.

Kautsky, der schon die Unterstützung des „Terrors“ gegen die Konterrevolution in der Rheinischen Zeitung als eine „Jugendsünde“ von Marx hinstellte, fand das in seiner, eigentlich gegen die Bolschewiki gerichteten Polemik „Terrorismus und Kommunismus“ „unverständlich“.

In Wirklichkeit ist das nur unverständlich für Menschen, die abstrakte „demokratische“ Verfahren, Dogmen über die Erfordernisse einer Revolution, also des revolutionären Sieges und seiner Verteidigung stellen. Es illustriert sehr gut den Unterschied zwischen einem konsequenten Revolutionär wie Marx und einem Zentristen, der zwischen Reform und Revolution schwankt. Dieser mag zwar auch die „Revolution“ wollen und die „Diktatur des Proletariats“ – aber nur solange sie nicht „schmutzig“ wird, nicht gezwungen ist, diktatorische Schritte umzusetzen, die demokratischen oder anderen „Prinzipien“ widersprechen, weil solcherart die Gefahr entstünde, dass die Revolution selbst zur autoritären Herrschaft über das Proletariat verkomme. Diese Gefahr als solche kann natürlich niemand leugnen. Aber umgekehrt gehen Revolutionen unvermeidlich mit solchen Gefahren einher, wo die Erringung oder Verteidigung der Herrschaft der ArbeiterInnenklasse despotische, diktatorische Maßnahmen gegen die (ehemals herrschenden) UnterdrückerInnen und ihre ParteigängerInnen erfordern.

Der Ausweg aus diesem Problem liegt nicht darin, es durch Prinzipien oder Dogmen „wegzudenken“, sondern sich diesem zu stellen. Die mit solchen Maßnahmen zweifellos verbundenen Gefahren können nur durch entschlossenes revolutionäres Handeln und eine korrekte Strategie der Ausweitung der Revolution, deren Internationalisierung überwunden werden.

Die Grundfrage, die nach der Niederlage der Pariser Kommune letztlich zum Scheitern der Ersten Internationale führte, war nicht, ob die Internationale „offener“ oder „enger“, mehr oder minder „autoritär“ sein sollte. Marx und Engels zogen aus der Kommune nicht nur bezüglich der Staatsfrage zentrale Schlussfolgerungen, sondern betonten auch die zentrale Bedeutung der Schaffung einer politischen ArbeiterInnenpartei, die alle Aspekte des Klassenkampfes systematisch führen könne.

Hier stießen sie aber sowohl auf den Widerstand von Gewerkschaften und SyndikalistInnen, die im ökonomischen Kampf den eigentlichen Klassenkampf erblickten, wie auch der AnarchistInnen, die sich gegen politische Aktionen, den Kampf um politische Teilforderungen aussprachen. Beide wollten von der Eroberung der politischen Macht und der Errichtung der Diktatur des Proletariats nichts wissen – die einen, weil sie die blutige Repression und den Bürgerkrieg fürchteten, die anderen, weil sie von der sofortigen Abschaffung des Staates und aller Autorität träumten.

„Aber die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat mit einem Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partie muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen.“ (Engels, Von der Autorität, MEW 18, S. 308)

Zweifellos wurde der Bruch mit AnarchistInnen und SyndikalistInnen auch dadurch forciert, dass Marx und Engels eine weitere, mit der Revolutionsstrategie untrennbar verbundene Frage in den Vordergrund rückten – die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären ArbeiterInnenpartei. So beschloss der Londoner Kongress der Ersten Internationale auf ihren Antrag mehrheitlich, „daß die Konstituierung der Arbeiterklasse als politische Partei unerlässlich ist für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels – Abschaffung der Klassen“ (Marx/Engels, Beschlüsse der Londoner Delegiertenkonferenz der IAA, MEW 17, S. 422)

Dem Auseinanderbrechen der Ersten Internationale lagen also grundlegende politische Differenzen zugrunde. Der Bruch war nicht nur unvermeidlich, sondern auch ein historischer Fortschritt zur Klärung proletarischer Strategie und Taktik.

Von Kautsky zur Luxemburg-Stiftung

Genau diese Tatsache versuchen seit Jahrzehnten „linke“ KritikerInnen des revolutionären Marxismus zu verschleiern. Die ReformistInnen der Luxemburg-Stiftung treten in die Fußstapfen von Kautsky und anderen, wenn es um die Frage der revolutionären Politik und Strategie geht.

In einem Sonderheft mit dem Titel „Marxte noch mal?!“ (LuXemburg 2-3/2017) soll nicht nur Marx gewürdigt werden, sondern auch die Politik der Linkspartei. Das ist freilich ohne eine Kritik an angeblichen Fehlern von Marx und „des Marxismus“ natürlich nicht möglich. Schließlich ist ihre „Transformationsstrategie“ parlamentarisch, friedlich und auf eine lange Phase von „Verschiebungen“ der gesellschaftlichen Hegemonie ausgelegt. Der Begriff der „Räte“ ist, sofern er vorkommt, jedes revolutionären Gehalts beraubt.

Marx wird daher einerseits zum Gebrauchtwarenladen, aus dem sich einzelne TheoretikerInnen der Partei bedienen, um letztlich die Realpolitik der Linkspartei theoretisch zu unterfüttern und ihr obendrein einen „marxistischen“ Anspruch zu geben. Schließlich will auch sie den Toten ausschlachten, der sich nicht mehr wehren kann.

Zum anderen werden z. B. von Bini Adamczak angebliche Schwächen beim „traditionellen Marxismus“ beklagt: „Der Umsturz erhielt ein großes Gewicht gegenüber der Umwälzung, die Insurrektion gegenüber der Transformation.“ (S. 133) Statt dessen will sie die Entwicklung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen „in dem Sinne von Produktions- und Verkehrsverhältnissen“ verstanden wissen, „die sich parallel zu den dominanten entwickeln.“ (S. 131) Vorwärts also zum Frühsozialismus!

Autoren wie Michael Brie wiederum versuchen, Marx und seine Taktik beim Aufbau der Ersten Internationale als „Modell“ für den Aufbau einer „vermittelnden Partei“, also einer Partei verschiedenster ideologischer Schattierungen, zu präsentieren. Der Bruch der Internationale erscheint als Betriebsunfall der Geschichte, den nicht zuletzt Marx wegen seiner Unnachgiebigkeit zu verantworten hätte. Klar: Wer eine Partei wie DIE LINKE zusammenhalten will, die Opposition spielt und Koalitionspartnerin in einer bürgerlichen Regierung sein will, kann Unnachgiebigkeit und Prinzipienfestigkeit nicht gebrauchen. Marx‘ und Engels‘ Rolle in der Ersten Internationale wird deshalb zu der von Moderatoren zwischen AnarchistInnen, GewerkschafterInnen und KommunistInnen umgedeutet, zurechtgestutzt.

Diese „Anerkennung“ – und Entstellung – von Marx stellt einen gefährlichen theoretischen Angriff auf den revolutionären Gehalt seines Werkes dar. Die bürgerliche und akademische „Würdigung“ verfolgt den Zweck, seinem Werk die Kanten abzuschleifen und so den Klassenstandpunkt des Proletariats mit dem der Bourgeoisie zu versöhnen. Der Zweck der Marx-Interpretation der Luxemburg-Stiftung besteht letztlich in der Rechtfertigung reformistischer Politik, also einer Politik des Ausgleichs zwischen Klassen, nicht der Aufhebung des Klassengegensatzes.

Für RevolutionärInnen besteht die Aktualität des Marx’schen Werkes in seiner Zwecksetzung, die Bewegungsgesetze des Kapitalismus und die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution darzulegen, die ArbeiterInnenklasse theoretisch und programmatisch für ihre historische Aufgabe zu rüsten, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und ein verächtliches Wesen ist.” (Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843-44 MEW 1, S. 385)




Bayrisches Polizeiaufgabengesetz: Gefahr für uns alle

Veronika Schulz, Neue Internationale 228, Mai 2018

Im Vorfeld des bayerischen Landtagswahlkampfs profiliert sich die CSU einmal mehr als Vorreiterin in Sachen Repression und Überwachungsstaat. Eine für Mai geplante Reform des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) ebnet den Weg zu ihrer militärischen Aufrüstung und zum massiven Ausbau der Kontrolle über BürgerInnen und ihre Privatsphäre. Die neuen Befugnisse heben die ohnehin nur scheinbare Trennung von Polizei und Geheimdiensten weiter auf und reihen sich nahtlos in die bereits umgesetzten Einschnitte in Grund- und Bürgerrechte der letzten Jahre ein.

Repressionswelle

Pünktlich vor dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg durfte sich die Polizei in ganz Deutschland über eine Ausweitung ihrer Befugnisse freuen: von „Integrationsgesetzen“ über die Verschärfung von §114 StGB bis hin zum sogenannten „Gefährdergesetz“ wurden nach und nach die Hürden für Strafverfolgung gesenkt.

So ist nun schon bei einer nicht näher definierten „drohenden Gefahr“ die Eingriffsschwelle für die Polizei gegeben, um – ohne richterlichen Beschluss! – eine Fülle von Maßnahmen anzuwenden: Einsatz von Bodycams (auch in Wohnungen), Ausweitung von Online-Durchsuchungen und Betreten der Wohnung zur Installation von Überwachungssoftware, intelligente Videoüberwachung, erweiterte DNA-Analyse mit Bestimmung der „biogenetischen Herkunft“ (racial profiling), Einsatz von Explosivmitteln wie Blend- oder Handgranaten und Maschinengewehren. Alles, was technisch möglich ist, wird durch das geplante Gesetz legalisiert.

Der Freistaat verfügt zurzeit laut Landespolizeipräsident Schmidbauer über keine bewaffneten Drohnen, ihr Einsatz wird durch das neue Gesetz auch ermöglicht. Dies alles ergänzt die bereits eingeführte präventive „Unendlichkeitshaft“ bei bloßem Verdacht, wobei lediglich alle drei Monate ein neuer richterlicher Beschluss erfolgen muss, ohne dass tatsächlich ein Strafverfahren gegen den/die Beschuldigte/n eröffnet wird. Außerdem kann die Polizei Kontaktverbote, Aufenthaltsgebote und -verbote aussprechen, aber auch Kontenpfändungen vornehmen.

Bei Haftstrafen ab drei Monaten wird die Lage für die Beschuldigten schnell existenzgefährdend, da Verlust von Arbeitsplatz und Wohnung vorprogrammiert sind – wohlgemerkt, auf bloßen Verdacht hin. Wenn dann auch noch die Konten gepfändet werden, kann der/die Beschuldigte froh sein, wenn er/sie anwaltlichen Beistand bekommt, den er/sie zunächst nicht einmal bezahlen kann. Kurz: Menschen, denen in keinster Weise Straftaten oder deren Vorbereitung nachgewiesen werden können, sind um ein Vielfaches schlechter gestellt als Verdächtige in Strafverfahren, so betreffs Schadensersatz, sollte sich die Polizei „geirrt“ haben.

Auch das aktuelle PAG sieht keine Rechtsbeschwerdemöglichkeiten vor. Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung, die Maßnahmen greifen sofort.

Statt eines Strafprozesses wird im Verfahrensfall auf Basis des „Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) verhandelt. Ein Anspruch auf Pflichtverteidigung ist dabei nicht gegeben. Dadurch werden die Möglichkeiten für eine anwaltliche Verteidigung der Beschuldigten enorm erschwert. Während bei einem Strafprozess ein strenges Beweisverfahren vorgeschrieben ist und Ausnahmen begründet werden müssen, sieht das FamFG Ermessensentscheidungen vor, d. h. es bleibt den RichterInnen überlassen, ob sie Beweisen überhaupt nachgehen, wobei dies selbst dann nur „in geeigneter Form“ passieren muss. Auch die Akteneinsicht kann eingeschränkt werden, was eine Verteidigung und die Entkräftung von Vorwürfen schwer bis unmöglich macht.

Modell für die gesamte Bundesrepublik

Die CSU will sich vor der Landtagswahl, bei der ihre absolute Mehrheit auf dem Spiel steht, um jeden Preis als Garantin für innere „Sicherheit“ profilieren und versucht auf diesem Weg, sich die AfD als rechte Konkurrenz vom Hals zu halten. Landespolizeipräsident Schmidbauer rechtfertigt das geplante Polizeiaufgabengesetz als notwendig, Innenminister Herrmann und Ministerpräsident Söder rühmen die CSU als Vorreiterin, der es gelingt, das „härteste Polizeigesetz Deutschlands“ umzusetzen.

Bayern macht dabei nur den Anfang auf dem Weg zum deutschlandweiten Polizeistaat. Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Sachsen planen ähnliche Gesetze. Horst Seehofer als neuer Bundesinnenminister hat seinerseits selbstbewusst angekündigt, sich bayerische Maßstäbe für ganz Deutschland zum Vorbild zu nehmen. Der Grad der inneren Aufrüstung hat sich schon im letzten Jahr zum G20-Gipfel gezeigt, als in Hamburg Einsatzkräfte aus ganz Deutschland erfolgreich und mit Duldung von Bundesregierung und Hamburger Senat den Ausnahmezustand geprobt haben.

Nicht nur das PAG ist ein Angriff auf uns alle. Anwaltsverbände kritisieren die bereits vollzogene Verschärfung des §114 StGB als Sonderrecht für eine Berufsgruppe, die im Dienst des Staates steht. Vorgeblich um PolizistInnen besser zu schützen, wurde im Mai 2017 – rechtzeitig vor Gipfelbeginn in Hamburg – der „tätliche Angriff“ gegen VollstreckungsbeamtInnen neu definiert. Die Mindeststrafe ist eine Haftstrafe, wobei weder eine Verletzung vorliegen noch der Versuch dazu nachgewiesen werden muss. Die Hamburger Staatsanwaltschaft legte dies wie folgt aus: „Schon das gemeinsame Zugehen im Pulk auf Polizeibeamte stelle eine erhebliche Kraftentfaltung dar, die auf einen unmittelbaren körperlichen Zwang gerichtet sei. Einer tatsächlichen Berührung bedürfe es nicht.“

Bei diesem Szenario liegt das Mindeststrafmaß sogar bei 6 Monaten Haft, da hier von einem „gemeinschaftlichen tätlichen Angriff“ ausgegangen wird. Diese Interpretation durch Staatsanwaltschaften und Gerichte zeigt, wie ein Gesetzestext mit Leben gefüllt wird und welch massive Repression gegen jede Demonstration, jede Versammlung, jede Protestaktion, jeden Streik bereits jetzt befürchtet werden muss. Daher ist es auch und gerade im Sinne aller Gewerkschaften, sich gegen weitere Gesetze dieser Machart zur Wehr zu setzen.

Widerstand ist notwendig

Mitte Mai sollen der bayerische Landtag und der Ausschuss für Innere Sicherheit das Gesetz beschließen – in beiden hält die CSU die Mehrheit. Grüne und auch die SPD bauen auf das Verfassungsgericht, das die grundgesetzwidrigen Vorhaben kassieren soll. Das mag zwar einzelne Änderungen einfordern, die Verschärfung des Gesetzes, geschweige denn die bestehenden Befugnisse der Polizei und anderer Repressionsorgane lassen sich so nicht verhindern.

Was wir brauchen, um die weitere Militarisierung der bayerischen Polizei zu stoppen, ist eine entschiedene Opposition auf der Straße, in Betrieben, Schulen und an den Universitäten. Die Gewerkschaften machen – natürlich mit Ausnahme der reaktionären Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) im Deutschen Beamtenbund (DBB), die das Gesetz unterstützt (!), so der Vorsitzende ihres bayerischen Landesverbandes Rainer Nachtigall – den Anfang, indem sie für den 10. Mai zu einer Demonstration in München aufrufen. Dennoch darf sich der Protest gegen das PAG nicht auf Bayern beschränken und auch die Gewerkschaften müssen bundesweit dagegen mobilisieren. Es gilt, diesem unverhohlenen Angriff auf demokratische Rechte mit der drohenden Entwicklung zum Polizeistaat entgegenzutreten.

Die „drohende Gefahr“ ist das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz selbst! Lassen wir uns also weder einschüchtern noch spalten, unsere Solidarität gilt allen, die bereits von Repression betroffen sind.

  • Nein zum Polizeiaufgabengesetz! Keine Sonderschutzrechte für PolizistInnen!
  • Gewerkschaft der Polizei (GdP) – raus aus dem DGB!
  • Gegen willkürliche Kriminalisierung und Überwachung!
  • Gegen Polizeistaat und Aufrüstung – innen wie außen!



Bayrisches Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz: Entrechtung von Kranken

Veronika Schulz, Neue Internationale 228, Mai 2018

Zusätzlich zur Militarisierung der Polizei vollzieht die CSU auch eine Kriminalisierung von psychisch Kranken. Der harmlose Name „Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz“ (BayPsychKHG) verschleiert das neueste Vorhaben, Menschen, die in Psychiatrieeinrichtungen behandelt werden, in einer „Unterbringungsdatei“ zu registrieren. Statt um „Hilfe“ geht es hauptsächlich um Zwangseinweisung psychisch Kranker zur „Gefahrenabwehr“. Die PatientInnen zu heilen oder ihren Zustand zu verbessern, bleibt nur untergeordnetes Ziel. Die geplanten Vorschriften orientieren sich deshalb am Strafrecht und am Maßregelvollzug für StraftäterInnen. Daten sollen zum Zweck der Strafverfolgung verarbeitet werden dürfen.

Allein in Bayern werden jedes Jahr ca. 12.000 Menschen wegen Selbst- oder Fremdgefährdung in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht und behandelt. Statt die Ursachen für die Zunahme psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu benennen und zu beseitigen, geht es der CSU um eine gezielte Stigmatisierung von Menschen, die professionelle Hilfe brauchen und auf diese Weise abgeschreckt werden, diese in Anspruch zu nehmen. Die geplante Registrierung und zeitlich unbegrenzte Speicherung von Daten erinnert stark an die bereits vor Jahrzehnten aufgestellten Forderungen der Herren Gauweiler und Seehofer (beide CSU) zwecks Erfassung Homosexueller und HIV-Positiver sowie deren äußerlicher Kennzeichnung, die dabei bewusst Parallelen zum Nazi-Regime in Kauf genommen haben.

  • Gegen jede Kriminalisierung und öffentliche Stigmatisierung psychisch Kranker!
  • Gegen die unkontrollierte Sammlung und massenhafte Speicherung von PatientInnendaten!



Massaker in Gaza: Der Widerstand geht weiter!

Dave Stockton, Neue Internationale 228, Mai 2018

Seit dem 30. März, dem Tag des Bodens, nehmen zehntausende BewohnerInnen von Gaza an einer wöchentlichen Demonstration teil, die der „Große Rückkehrmarsch“ genannt wird, um an die Enteignung ihres Heimatlandes im Jahr 1948 zu erinnern. Mehr als 60 Prozent der Menschen in Gaza sind Flüchtlinge und ihre Nachkommen, die aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Aus jedem Teil Gazas versammeln sie sich jeden Freitag friedlich an fünf Punkten entlang der Grenze. Seit dem 30. März zelten dort Hunderte. Sie wollen bis zum 15. Mai bleiben, wenn der Protest seinen Höhepunkt erreichen soll. Dennoch sind sie dem tödlichen Feuer von Scharfschützen der sogenannten Verteidigungsstreitkräfte Israels (IDF = Israeli Defense Forces) ausgesetzt. Mehr als 40 PalästinenserInnen wurden bis zum 25. April getötet, die Zahl steigt jede Woche. Darüber hinaus wurden 1.600 Menschen durch scharfe Munition verwundet.

Demonstration und Reaktion

Es handelt sich bei den Demonstrationen um überwiegend friedliche; es werden traditionelle Speisen serviert, kulturelle Veranstaltungen finden statt. Israelische BeamtInnen behaupten, dass sie gewalttätig sind, weil einige Protestierende Steine auf die SoldatInnen werfen und Reifen verbrennen. Doch die Entfernung zwischen den DemonstrantInnen und den israelischen SoldatInnen liegt nach Zeugenaussagen zwischen 250 und 300 Metern. Es braucht wahrlich wundersame Kraft, um letztere überhaupt zu treffen.

Die IDF-Politik des Schießens in Tötungsabsicht hat nichts mit dem Schutz der stark befestigten Grenzen Israels und seiner Armee, der mächtigsten in der Region, zu tun. Sie soll ganz einfach verhindern, dass Demonstrationen den 70 Jahre alten Landraub des zionistischen Siedlerstaates an dem palästinensischen Volk verdeutlichen. Die westlichen Medien und die Regierungen der USA und der EU sind mitschuldig an diesen Gräueltaten. Stellen Sie sich nur ihre Reaktion vor, wenn sie in Venezuela durchgeführt würden! Werden sie von der IDF begangen, werden sie unter den Teppich gekehrt.

Darüber hinaus sollten die Ereignisse in Gaza die Aufmerksamkeit auf die schrecklichen Zustände der 1,8 Millionen Menschen lenken, die auf einer Fläche von nur 160 Quadratkilometern zusammengepfercht sind und unter einer jahrzehntelangen Belagerung gelitten haben. Zahlen der Weltbank zeigen, dass 80 Prozent der Menschen in Gaza auf internationale Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind; die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 58 Prozent.

1995 baute Israel einen elektrischen Zaun und eine Betonmauer um Gaza und unterbrach damit die Verbindungen zu den besetzten palästinensischen Gebieten im Westjordanland. Im Jahr 2001 bombardierte und zerstörte Israel den Flughafen, nur drei Jahre nach seiner Eröffnung. Tatsächlich waren Schulen, medizinische Einrichtungen und Kulturzentren, die von internationalen StifterInnen gebaut wurden, Ziele von israelischen Bombardements. Seit Beginn der Belagerung hat Israel drei große militärische Angriffe auf Gaza gestartet.

Im Jahr 2008 dauerte der erste große israelische Angriff – „Operation Bleigießen“ – 23 Tage. Dabei wurden 1.440 PalästinenserInnen getötet, 920 ZivilistInnen verwundet und 47.000 Häuser zerstört.

Im Jahr 2012, bei einem achttägigen Angriff – „Operation Säule der Verteidigung“ – töteten israelische Streitkräfte 167 PalästinenserInnen, darunter 87 ZivilistInnen. Unter den Todesopfern befanden sich 35 Kinder und 14 Frauen. Die Infrastruktur des Gazastreifens wurde gezielt angegriffen; 126 Häuser wurden vollständig zerstört, Schulen, Moscheen, Friedhöfe, Gesundheits- und Sportzentren, Medieneinrichtungen verwüstet.

Zwei Jahre später, 2014, in der „Operation Schützende Klinge“ tötete Israel 50 Tage lang mehr als 2.100 PalästinenserInnen, darunter 1.462 ZivilistInnen und fast 500 Kinder. 11.000 PalästinenserInnen wurden verwundet, 20.000 Häuser zerstört und eine halbe Million aus ihren Häusern vertrieben.

Nach jedem Angriff hat Israel systematisch das Anliefern von Baumaterial blockiert, mit dem die schrecklichen Schäden repariert werden sollten, die von IDF-Panzern und Kampfflugzeugen mutwillig angerichtet wurden. Das Stromerzeugungssystem wurde zerstört und nur begrenzte Lieferungen erfolgen aus Israel und Ägypten. Das Wasser- und Abwassersystem ist zu 90 Prozent verunreinigt und abwasserbedingte Krankheiten breiten sich aus. Auch die medizinische Versorgung ist massiv eingeschränkt.

Kurzum, die Menschen dieser kleinen Enklave sind einer grausamen kollektiven Bestrafung ausgesetzt, die eindeutig gegen das Völkerrecht und zahlreiche UN-Resolutionen verstößt. Doch das erweckt wenig oder gar keine Sympathie geschweige Aktion bei den „westlichen Demokratien“ oder ihren Medien. Ganz im Gegenteil – die USA, Großbritannien und Frankreich lehnen regelmäßig alle Resolutionen ab, die Israel verpflichten würden, seine völkermörderischen Aktionen zu zügeln.

Solidarität!

Mehr denn je brauchen das palästinensische Volk und die Bevölkerung von Gaza die Hilfe und Unterstützung der ArbeiterInnen und Jugendlichen weltweit – einschließlich der fortschrittlichen Minderheit in Israel selbst. Wir müssen die gegenwärtigen Schrecken durch die israelischen HeckenschützInnen aufdecken, aber auch die gewaltigen ethnischen Säuberungen in den Jahren 1948 und 1967, die diesen Staat für immer unrechtmäßig machen. Keine Nation kann ihr Recht auf Selbstbestimmung beanspruchen, wenn es mit sich bringt, das Recht eines anderen Volkes zu verweigern – und zwar durch ethnische Säuberung zu diesem Zweck.

Die in Oslo geplante und von den USA, Großbritannien usw. unterstützte „Zwei-Staaten-Lösung“ hat sich als Utopie erwiesen. Israel hat sie nie umgesetzt, sondern unter dem Deckmantel von Oslo den verbleibenden zusammenhängenden Teil Palästinas mittels neuer Siedlungen weiter zerstückelt. Die einzige Lösung ist ein einheitlicher bi-nationaler Staat für Israelis und PalästinenserInnen.

Das hat nichts mit einer Vertreibung der Juden und Jüdinnen zu tun. Aber es bedeutet das Rückkehrrecht für alle PalästinenserInnen in ihre Heimat und das Ende eines Staates, der ausschließlich von und für jüdische Israelis regiert wird. Wir glauben, dass nur die ArbeiterInnenklasse beider Nationalitäten und des gesamten Nahen Ostens eine fortschrittliche Lösung herbeiführen kann. Wir treten dafür ein, dass ein bi-nationaler Staat ein sozialistischer sein sollte, da nur so die Beendigung der nationalen Unterdrückung mit einer gerechten Reorganisation der Wirtschaft im Interesse aller Lohnabhängigen, Bauern und Bäuerinnen verbunden werden kann.

  • Solidarität mit den Protesten in Gaza und dem Großen Rückkehrmarsch!
  • Beteiligt Euch an den Solidaritätsaktionen und den Aktionen zum Gedenken an die Nakba um den 15. Mai!



Berliner Schulen: Stoppt die Privatisierung!

Wilhelm Schulz, REVOLUTION, Neue Internationale 228, Mai 2018

Der rot-rot-grüne Berliner Senat plant die (Teil)Privatisierung der 798 Schulen des Landes. Mittels einer Privat-Public-Partnership (Öffentlich-Private-Partnerschaft = PPP) soll staatliches Eigentum schleichend unter die Interessen privatwirtschaftlicher InvestorInnen gestellt werden. Doch wieso?

Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und der Linken aus dem Jahr 2016 kündigten diese massive Investitionen bis zum Jahre 2026 in den Neubau und die Sanierung von Berliner Schulen an. Von 5,5 Milliarden Euro war die Rede. Dringend notwendig wären diese allemal.

So sind sogenannte Container-Klassenräume, also in einem Stück gelieferte Klassenzimmer, die über- oder nebeneinander gestapelt werden, keine Ausnahme mehr. Diese Dauerprovisorien stehen symbolisch für Jahrzehnte der Austeritätspolitik. Sie sind oft schlecht isoliert, kurzfristig und teuer gemietet. Andere Schulen sparen an der Sanierung und Erneuerung des Bestandes und greifen schon mal auf Baugerüste vor Schuleingängen zurück, damit die SchülerInnen vor herunterfallendem Putz geschützt sind. Das ist schließlich kurzfristig billiger, als die ganze Fassade zu renovieren. Die Entlohnung der immer öfter nur befristet angestellten Berliner LehrerInnen passt zu diesen Zuständen. Das Land Berlin hat sich in dieser Hinsicht den letzten Platz aller Länder über Jahre wacker erkämpft.

Unter solchen Bedingungen müssen wir Berliner SchülerInnen leben und lernen. Da war bei einigen die Hoffnung groß, dass R2G etwas verbessern wird. Aber nach der alten Faustregel „Links blinken, rechts abbiegen“ erleben wir einen versteckten Angriff.

Sparprogramm und Schuldenbremse

Den Hintergrund für die geplante Privatisierung von fast 800 Schulen bildet die Zielsetzung der rot-rot-grünen Regierung, einen ausgeglichenen Haushalt zu gewährleisten. So kommt es, dass das Land seit knapp 6 Jahren eine Sparpolitik fährt, die versucht, die Neuverschuldung auf null zu halten. So kommt es auch dazu, dass die Investitionen des Landes im Jahresdurchschnitt nur um 0,5 % wachsen – also geringer als die Inflationsrate, die 2017 bei 1,6 % lag.

Den bundespolitischen Hintergrund für die geplanten Privatisierungen bildet die sogenannte Schuldenbremse. Gemäß dieser dürfen die Bundesländer und Kommunen ab 2020 keine neuen Schulden machen, somit keine Kredite mehr aufnehmen. Das bringt ein Investitionsverbot in bitter notwendige soziale Infrastruktur mit sich. In Berlin gibt es hierfür neben den Schulen noch das „klitzekleine Problem“ mit dem Wohnungsmangel und den dafür dringend erforderlichen massiven staatlichen Investitionen.

Die bürgerliche Politik, die die Schuldenbremse zu verantworten hat, verbindet mit dieser „Einführung griechischer Verhältnisse“ auch eine klare Zielsetzung. Wenn Länder und Kommunen nicht oder nicht ausreichend investieren dürfen, so müssen diese eben staatliches Eigentum verscherbeln. Dieser Ausverkauf soll Investitionsmöglichkeiten für das Kapital schaffen. Solcherart werden Milliarden billig verschleudert zum Nutzen der InvestorInnen, die sich über sichere und regelmäßig steigende Gewinne freuen dürfen.

Hierfür gibt es bereits ein bundesweites Pilotprojekt. Es stammt aus dem allgemein für seinen „überproportionalen“ Reichtum bekannten Offenbach. Offenbach ist in den letzten Jahrzehnten infolge der Deindustrialisierung der Stadt extrem verarmt. Der Landkreis hatte mittels einer PPP im Jahre 2004 die Grundstücke seiner 88 Schulen an die Baukonzerne Hochtief und Vinci vergeben. Seit dem Verkauf mietet die Stadt Grundstück und Schulen an. Die vereinbarte Jahresmiete belief sich ursprünglich auf 52 Millionen Euro. Im Jahre 2014 betrug sie jedoch schon 82 Millionen, und bei Vertragsende 2019 sollen es 95 Millionen sein. „Nachtijall, ick hör dir trapsen“, sagen wir dazu in Berlin.

Auch international gibt es ähnliche Beispiele. So wurden unter Margaret Thatcher Ende der 1970er Jahre große Teile der Wasserversorgung verkauft. Heute gibt es in Großbritannien Haushalte, die im Keller eine Art Münzeinwurf haben, um Zugang zu Wasser zu erhalten. Auch wenn wir an dieser Stelle glücklicherweise darauf hinweisen können, dass Thatcher tot ist, so blieb uns ihr neoliberales Vermächtnis leider erhalten. Es bleibt hier zu sagen, dass in all diesen Fällen die versprochenen Investitionen von Kapitalseite ausblieben. Warum sollte es auch anders sein? Sie investiert gemäß der Logik der Gewinnmaximierung, nicht zur Sicherung des Gemeinwohls. So steht die Bundesrepublik aktuell im Rechtsstreit mit der Telekom, Vinci und Daimler im PPP der Autobahn-Maut wegen Minderleistungen von 7 Milliarden Euro!

Was genau plant das Land?

Der Senat will der Berliner Wohnungsbaugesellschaft HOGOWE GmbH mittels Erbpacht die Gebäude der 798 Berliner Schulen übertragen. Dies soll durch eine Tochtergesellschaft, im Arbeitstitel Schul-GmbH genannt, geschehen. Auch wenn rot-rot-grün nun den Namen der Gesellschaft neu „überdenken” will, so bleibt das Problem das gleiche.

Die Wohnungsbaugesellschaft ist eine teilstaatliche, d. h. sie verwaltet formal staatliches Eigentum, jedoch unter privatwirtschaftlichen Rentabilitätskriterien. Das Land kann zwar Verhaltensweisen des Konzerns kritisieren, jedoch nicht eingreifen. So auch bereits 2010 geschehen, als die HOGOWE ohne Ausschreibung Großaufträge vergab. Die Kritik war zwar groß, der Auftrag blieb jedoch. Vor allem ist davor zu warnen, da das Land Berlin zu Beginn der 2000er Jahre viele städtische Wohnungsbaugesellschaften bereits vollständig privatisierte.

Diese Schul-GmbH soll zukünftig alle schulspezifischen Aufgaben koordinieren, also Bau, Sanierung, inneren Betrieb außerhalb des Bildungsauftrags wie HausmeisterInnen, Grünpflege, „Sicherheit“, Instandhaltung, „Gas, Wasser, Scheiße“ usw. usf. Hierfür zahlt das Land die bereits angesprochene Miete. Auch kann es zu zeitlichen Begrenzungen des Nutzungsrechts kommen. So kann es sich beispielsweise tagsüber um eine Schule und abends um ein AfD-Schulungszentrum handeln oder ein „Hotel der anderen Art“ in den Schulferien – mal als fiktive Beispiele.

Solche Verträge laufen 25 Jahre. Somit hat das Land für diesen Zeitraum kein wirkliches Recht, hiergegen Sturm zu laufen. Hier werden also gerade die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt und das mit dem „Versprechen“ zu investieren. Zur Gewinnsteigerung sind hier dann auch alle möglichen anderen Tricksereien vorstellbar. Beispielsweise könnten sie Tür und Tor für kommerzielle Werbung an den Schulen öffnen. Dann darf nicht mehr „nur“ die Bundeswehr für ihr sogenanntes „Werben fürs Sterben“ in Schulen touren. Nein, wie wär’s mit einer Turnhalle, „powered by McFit“, oder einer Kantine, „präsentiert von Pizza Hut“? Kurzum, eine allgemeine Öffnung des Bildungswesens fürs Kapital mag sich hier anbahnen.

Was bleibt?

Szenarien wie diese könnten nicht nur den Schulbereich betreffen. Sie könnten in den kommenden Jahren auch in anderen staatlichen Einrichtungen bevorstehen, z. B. die Privatisierungen von Bäderbetrieben, Stadtwerken, Rathäusern, Hochschulen, Müllabfuhren. Das Personal dieser könnte durch billigere Arbeitskräfte und LeiharbeiterInnen ersetzt werden, getragen durch private DienstleisterInnen.

Hiergegen gilt es, Widerstand zu organisieren! Dafür müssen wir nicht abwarten, bis das umgesetzt wird oder bis wir viele schlechte Erfahrungen gesammelt haben. Wir dürfen uns auch nicht davon einlullen lassen, dass der Senat geringfügige Modifikationen machen will, um den KritikerInnen Wind aus den Segeln zu nehmen, oder so tut, als wäre die Privatisierung keine, weil ja alles unter Kontrolle der HOGEWO stünde.

Was wir brauchen, ist der gemeinsame Kampf von Gewerkschaften, Jugendorganisationen und Kräften, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen, gegen diesen Angriff. Das bedeutet auch, dass wir die Hand in Richtung der Basis von SPD und Die Linke ausstrecken müssen und sie auffordern, mit der Politik ihrer Parteien aktiv zu brechen und für eine Aufhebung dieser Gesetzesvorhaben zu kämpfen. Diese werden von ihnen als alternativlos bezeichnet und zur „kreativen“ Umschiffung von Problemen schöngeredet, die auf Bundesebene geschaffen wurden, einer Bundesebene, auf der in den vergangenen 4 Jahren die SPD im Schulterschluss mit CDU/CSU regiert hat. Rot-Rot-Grün unterläuft die Schuldenbremse und deren Folgen nicht „kreativ“, sondern macht sich vielmehr zum Erfüllungsgehilfen einer neo-liberalen Politik, die den Reichen Milliarden bringt, Leistungen für die Masse verteuert und verschlechtert.

Widerstand regt sich

Der Widerstand hiergegen regt sich bisher im Kleinen. So gibt es die Initiative „Gemeingut in BürgerInnenhand“, die unter anderem zu diesem Thema arbeitet. Sie plant eine Volksinitiative. Bis Mitte des Jahres sammelt sie Unterschriften, damit es hierzu eine öffentliche Abstimmung geben kann. Dies halten wir für eine begrenzte, jedoch begrüßenswerte Maßnahme und fordern zur Unterstützung dieser auf. Genaueres findet Ihr auf ihrer Internetseite (https://www.gemeingut.org/volksinitiative-unsere-schulen-unterschreiben-wie-geht-das/).

Wir halten die Maßnahmen des Senats nicht für alternativlos. Nein, es sind selbstgemachte Probleme. Es sind Eingriffe, die vor allem der Stärkung des deutschen Kapitals dienen. Sie ermöglichen in Zeiten zunehmender Konkurrenz und wirtschaftlicher Unsicherheit „sichere“ Gewinne, für die die Allgemeinheit, also vor allem die lohnabhängige Bevölkerung zu zahlen hat. Zugleich verlagern sie das Problem der fehlenden staatlichen Einnahmen infolge von Jahrzehnten der Steuergeschenke an die Reichen, an Kapital- und VermögensbesitzerInnen. Die Sanierung der Schulen wird nicht aus der Besteuerung der Reichen oder Gewinne und Großvermögen finanziert, sondern „ausgelagert“. Der „linke“ Senat will so gleich zwei politischen und gesellschaftlichen GegnerInnen ausweichen. Einmal den KapitalbesitzerInnen und privaten InvestorInnen, die rasche Gewinne wittern, zum anderen der Bundesregierung, die die Schuldenbremse durchziehen will. Statt den Kampf gegen dieses Gesetz und dessen Umsetzung zu führen, ziehen die HeldInnen aus dem Abgeordnetenhaus lieber ihre WählerInnen und AnhängerInnen über den Tisch.

Das Land mag dann zwar schuldenfrei sein, dafür zahlen die SchülerInnen bzw. deren Eltern mehr. Solche „Haushaltssanierung“ trifft diejenigen, die sich die privatwirtschaftlichen „Angebote“ nicht leisten können. Dieser massive Angriff zeigt eindeutig, auf welche Seite sich die rot-rot-grüne Landesregierung stellt, auf die Seite des Kapitals. Dagegen müssen wir kämpfen!




Erklärung 2018 – BildungsbürgerInnen unterschreiben rechts

Tobi Hansen, Neue Internationale 228, Mai 2018

Rechtsruck wird oft mit Ansammlungen à la PEGIDA und Co. verbunden oder mit den Demonstrationen gegen AsylbewerberInnen wie in Freital oder Heidenau. In der medialen Darstellung erscheint rabiater Rassismus als Eigenheit dummer Unterschichten, insbesondere aus dem Osten. Tatsächlich wirkt es unfreiwillig komisch, wenn deutschtümelnde Rechte rassistische Parolen falsch schreiben. Aber nicht nur die Wahlerfolge der AfD haben deutlich gezeigt, dass der Rechtsruck kein ausschließliches Phänomen der „unteren“ Bildungsschichten ist. Er findet auch unter AkademikerInnen und im Feuilleton statt.

Die FAZ beschreibt den Koalitionsvertrag allen Ernstes als „sozialistisch“ und den Werdegang der CDU unter Merkel als „Sozialdemokratisierung der Union“. Aus dieser „Szene“ kommen dann auch Spahn und Dobrindt, die versuchen, ihre konservativen und neoliberalen Konstrukte mit Begriffen wie „Konservative Revolution“ zu popularisieren.

Im Wortlaut

Andere aus der Elite sind da weiter und radikaler. Die „Erklärung 2018“ vom 15. März bringt den Rechtsruck der (klein)bürgerlichen Intelligenz und derer, die sich dafür halten, zum Ausdruck. Diese solidarisiert sich offen mit den Rechten auf der Straße, die „friedlich“ gegen Migration und MigrantInnen demonstrieren. Wir zitieren den vollständigen Wortlaut, um zu verdeutlichen, was die selbsternannte Bildungselite 2018 bewegt:

„Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“

Explizit wurde sich z. B. mit den neuen „Frauendemos“ der AfD zum Schutze des weiblichen Volkskörpers solidarisiert. Ähnliche Stellungnahmen wurden auch zu den rechten Demos in Kandel veröffentlicht. Dass bei diesen „Frauendemos“ zumeist nur in der ersten Reihe Frauen laufen, dann aber bald ein männliches Milieu folgt, mit dem wahrscheinlich die meisten Erziehungsberechtigten im Land ein Problem hätten, sei nur am Rande erwähnt. Fakt ist: Hier solidarisieren sich BildungsbürgerInnen mit gewalttätigen RassistInnen und Nazis. Hogesa, Identitäre, NPD-Reste, die Rechte, der III. Weg und der nationale Flügel der AfD organisieren diese Aufmärsche. Das sind auch diejenigen, die glauben, dass Masseneinwanderung dem „Volkskörper“ schade. Nun haben sie prominente Unterstützung bekommen.

Vera Lengsfeld initiierte die Erklärung, die zuerst nur Intellektuelle und Prominente umfassen sollte. Unter den ErstunterzeichnerInnen finden sich „übliche Verdächtige“ wie Thilo Sarrazin oder Eva Herman. „Neu“ waren die Autoren Uwe Tellkamp und Henryk M. Broder, die Spitze der Islamophobie im Land. Abgerundet wurde die Liste vom Herausgeber der „Jungen Freiheit“, Dieter Stein.

Volksnah, wie sich diese Elite nun einmal gibt, wurde die Unterschriftenliste geöffnet – und die UnterzeichnerInnen kamen in Scharen. Bislang unterstützen mehr als 140.000 den rechten Ordnungsruf, der auch dem Bundestag vorgelegt werden soll. Unter den Unterzeichnenden selbst dürfte ein beachtlicher Teil der „besseren Gesellschaft“ angehören, wie sich an ihren akademischen Titeln, Berufsbezeichnungen und Ämtern ablesen lässt. Diese Antwort des rechten „Bildungsbürgertums“ auf die Große Koalition ist viel Wasser auf die Mühlen der AfD.

Umkehrung der Realität

Andere haben schon darauf hingewiesen, wie realitätsfern die „Sorgen“ dieser Elite und der 140.000 weiteren UnterzeichnerInnen sind. Massenmigration ist ein konstantes Merkmal in der Geschichte Deutschlands. Ohne die Einwanderung und Überausbeutung polnischer ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert wäre das Ruhrgebiet nur schwerlich zu einem industriellen Zentrum des globalen Kapitalismus geworden, ohne die sog. „GastarbeiterInnen“ das „Wirtschaftswunder“ kaum möglich gewesen. Der deutsche Imperialismus hat von Migration profitiert. „Beschädigt“ wurden vielmehr die Millionen, die in Weltkriegen, als ZwangsarbeiterInnen oder im Vernichtungslager systematisch ermordet wurden. Bedrohlich war und ist der deutsche Imperialismus für „Fremde“, für MigrantInnen – nicht umgekehrt.

Die „rechtsstaatliche Ordnung“, die den UnterzeichnerInnen so heilig ist, interessiert sie einen Dreck, wenn es um den rechten Mob geht. Die massenhafte Flucht und Einreise war leider ohnedies nur einige Tage möglich. Bezeichnend aber ist umso mehr für den geistigen und moralischen Zustand dieser Elite, dass sie die Flucht von Menschen vor Kriegen, Hunger, Vergewaltigung, die selbst das Völkerrecht als legitim anerkennt, als „Rechtsbruch“ begreift. Wenn sie von der Sorge um die viel gepriesene „rechtsstaatliche Ordnung“ faselt, so meint sie in Wirklichkeit die Beschneidung demokratischer Rechte für Menschen in Not. Trump hätte seine Freude mit diesen „fake news“ und „alternative facts“.

Warum aber unterschreibt ein aufgeregtes Bürgertum eine Erklärung, die nahelegt, dass es keine rechtsstaatliche Ordnung an der Grenze gebe, illegale Masseneinwanderung täglich Salafismus und Kalifatsaufbau vorantreibe und die Kanzlerin vielleicht noch als heimliche Strategin einer von langer Hand geplanten „Umvolkung“ fungiere? Auch wenn die Erklärung das nicht offen ausspricht, so kann sie solche abstrusen Vorstellungen immerhin „anstoßen“. Dadurch hätten wir dann auch „Anschlussfähigkeit“ an faschistische Ideologien hergestellt.

Die geistige Dürftigkeit, die in der „Erklärung 2018“ zum Ausdruck kommt, ist jedoch kein Zufall. Sie spiegelt die generelle Tendenz des Bürgertums zum Irrationalismus in einer Krisenperiode, ja in der imperialistischen Epoche wider.

Irrationalismus

Die wachsende Konkurrenz und Instabilität bedrohen nicht nur die unteren Schichten der ArbeiterInnenklasse, sondern auch KleinbürgerInnentum und Mittelschichten. Das trifft auch auf die Intellektuellen zu, die selbsternannten TrägerInnen der nationalen Kultur und Tradition. Sie erahnen die Bedrohung für ihre eigene relativ privilegierte Stellung, die sie – nebenbei bemerkt – als BeamtInnen oder AkademikerInnen oft genug der Arbeit anderer verdanken. Wie jede „Elite“ verklären sie ihr Privileg zum „natürlichen“ Recht. Sie spüren, dass die Schönwetterreden der „demokratischen“ Mitte die krisenhaften Tendenzen der Gesellschaft nicht überwinden, sondern allenfalls verkleistern können. Aufgrund ihres Klassendünkels und ihrer reaktionären Tradition sind die „Eliten“ aber auch unfähig zu einer rationalen Erklärung der Welt. Daher wenden sie sich nach rechts. Die Unterminierung der Stellung der Mittelschichten, des Kleinbürgertums wird verklärt zum Angriff auf die „Kultur“, die „Zivilisation“, die „rechtsstaatliche Ordnung“. Nicht die heilige kapitalistische Konkurrenz, sondern ausgerechnet jene, die von ihr tatsächlich um Leib und Leben gebracht werden, werden zur Bedrohung stilisiert.

Diese „Eliten“, zumindest „Bildungseliten“, sind nicht nur Teil der Spaltung von oben gegen die Masse der Bevölkerung, sondern gehören auch zu jenen, die sie aktiv forcieren. Eine Regierung aus Union, FDP und AfD dürfte vielen von ihnen heute als „Rettung“ der Gesellschaft, als Mittel zur Sicherung der „Rechtsstaatlichkeit“ erscheinen. Ihre imaginierte, selbstgefällige „kulturelle“ Überlegenheit ist nichts weiter als Rassismus, der der Barbarei den Weg zu ebnen droht.




Linkspartei: Richtungsstreit reloaded

Tobi Hansen, Neue Internationale 228, Mai 2018

Wir stellen uns kurz vor, die Linkspartei würde nicht allein aufgrund der Eskapaden und Konflikte ihrer Führung an die Öffentlichkeit treten, sondern im Sinne ihrer WählerInnen Politik gegen die neue Große Koalition machen. Dabei gäbe es einiges zu tun. Z. B. gälte es, den Plänen von Gesundheitsminister Spahn zur Schließung von über 600 Notfallambulanzen in ländlichen kommunalen Krankenhäusern Paroli zu bieten und dort Beschäftigte und die PatientInnen zu mobilisieren. Oder den rassistischen Plänen von Neuheimatminister Seehofer, welcher subsidiär Geflüchteten, wenn sie denn schon Sozialleistungen beziehen, den ohnedies eingeschränkten Familiennachzug nicht gewähren will. Da ist eine SPD an der Regierung, die vor der Union Woche für Woche einknickt, deren Vorsitzende und Führungsspitze, wie am letzten Parteitag gesehen, alles andere als sicher im Sattel sitzen.

Es gäbe also nicht nur viel zu tun für eine engagierte Linkspartei. Sie könnte auch vom stetigen Niedergang der SPD profitieren, wenn sie diese mit politischen Forderungen und Kampagnen vor sich hertriebe. Aber weit gefehlt.

Flügelbildung

Die Linkspartei betreibt nicht nur in den Landesregierungen selbst eine Politik, die sich kaum von jener der SPD unterscheidt. Sie hat ihrerseits einen Richtungsstreit.

Erst kürzlich stellten sich 25 Abgeordnete der Parlamentsfraktion offen gegen deren Vorsitzende Wagenknecht. Diese hatte Mitte März im Neuen Deutschland (ND) ziemlich offen die Parteiführung kritisiert und für den ständigen Konflikt verantwortlich gemacht. Namentlich beschuldigte sie Riexinger und Kipping, „gegen“ die Fraktionsführung zu arbeiten, statt die Partei anständig zu führen.

Die „Sozialistische Linke“ (SL, inkl. marx21) stand beim Parteitag 2014 noch klar auf dem damaligen Lafontaine/Wagenknecht/Riexinger-Flügel in der Auseinandersetzung mit Bartsch, die damals als eine Konfrontation von „links“ und „rechts“, von „West“ und „Ost“ dargestellt wurde. Am 21. April hielt die SL einen „Ratschlag für eine bewegungsorientierte Linke“ ab, der die links-reformistischen, gewerkschafts- und „bewegungs“nahen Flügel neu gruppieren und im Oktober fortgesetzt werden soll.

Wagenknecht und Lafontaine hingegen wollen weiterhin vor dem Sommer ihre Ideen für eine „neue linke Sammlungsbewegung“ vorstellen, sicher ohne SL, Riexinger und Co.

Debatte um offene Grenzen

Zuerst zugespitzt hatte sich dieser Konflikt in der Führung an der Frage der Migrationspolitik. Kipping und Riexinger vertreten offiziell weiterhin die Forderung nach offenen Grenzen, wie sie, wenn auch verschwommen, im Parteiprogramm zu finden ist. Zugleich beteiligt sich Kipping an der Debatte um ein „modernes“ Einwanderungsgesetz, das bislang kaum eine Bundesregierung hinbekommen hat. Auch wenn die in der Linkspartei (z. B. im Heft 1/2017 der Zeitschrift LuXemburg) vorgestellten Konzepte das Recht auf Asyl wie auch das Bleiberecht für Geflüchtete gesetzlich verankern wollen, so kennen diese doch Grenzen für die „offenen Grenzen“. Dies beträfe vor allem die Regulation der „Integrationsperspektive“, die insbesondere ArbeitsmigrantInnen vorzulegen hätten. Zu Recht lehnt eine Reihe Linker in der Linkspartei jede gesetzliche Beschränkung ab, da jede auch noch so humanitär verbrämte staatliche Regulation der Flucht und Migration in letzter Konsequenz zu einer Selektion führen muss, welche Menschen nach Kriterien des imperialistischen deutschen Staates hinsichtlich seiner „Perspektiven“ die Einwanderung zugesteht oder ablehnt.

Letztlich laufen auch die Vorschläge der Linkspartei auf Quoten hinaus, wenn auch diese mit den Vorstellungen der Großen Koalition und zur Zeit wohl selbst mit SPD und Grünen unvereinbar sind. Aber unter veränderten politischen Bedingungen kann und wird ein solcher Gesetzesvorschlag eben auch zur Verhandlungsmasse für eine heute in weite Ferne gerückte „R2G-Koalition“ (Rot-Rot-Grün). In der Zwischenzeit spielt er die humanitäre Begleitmusik zu Abschiebungen in von der Linkspartei mitregierten Bundesländern. Man tut so, als wäre ein „Einwanderungsgesetz“ nur eine Form, „offene Grenzen“ praktisch und, wenn möglich, europaweit umzusetzen. So sollen SupporterInnen-Strukturen und das linksradikale Milieu weiter bei der Stange gehalten werden.

Dies wurde massiv zuvorderst von Lafontaine angegriffen, welcher den Slogan „no border, no nation“ als Losung des Finanzkapitals darstellt. Das Finanzkapital wäre immer an der Zerschlagung der Nationalstaaten interessiert gewesen und somit auch an der Zerschlagung des Sozialstaates und der Sozialsysteme. Dementsprechend sollte eine Linkspartei nicht diese „unrealistische“ Forderung unterstützen, sondern sich vielmehr für den Erhalt des Sozialstaats im nationalen Rahmen einsetzen.

Lafontaine und Wagenknecht stehen hier eindeutig und klar auf dem rechten Flügel der Partei. In der Linkspartei selbst wurde diese Politik als „national-sozial“ kritisiert. Die Tatsache, dass diese Vorwürfe von KritikerInnen kommen, die ihrerseits ein offenes Herz für sozial-liberale Positionen haben, die EU verklären oder in Regierungen soziale Angriffe umsetzen, ändert nichts daran, dass Latontaine und Wagenknecht eine offen sozial-chauvinistische Position vertreten, die letztlich den Rechts-PopulistInnen der AfD in die Hände spielt.

Welche Bewegung?

Auch ihre Vorstellung einer „linken Sammlungsbewegung“ ist ein Vorschlag für eine Rechtsentwicklung der Linkspartei. Diese soll von einer reformistischen Partei, also einer bürgerlichen Partei, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, zu einer populistischen Partei transformiert werden bzw. in einer solchen Bewegung aufgehen. Ein ähnliches Konzept verfolgt Mélenchon in Frankreich. Es ist daher nur folgerichtig, dass Wagenknecht in ihrem Buch „Reichtum ohne Gier“ die linke Kritik an „nationalen Identitäten“ und den „Kosmopolitismus“ ins Visier nimmt.

Ein politischer Bruch mit Lafontaine und Wagenknecht ist sicher unumgänglich. Aber heute besteht die Gefahr, dass die Linke in der Linkspartei die Fehler ihrer Haltung zu Lafontaine und Wagenknecht aus dem Jahre 2014 unter anderen Vorzeichen wiederholt.

Während diese auf einen populistischen Kurs setzen, bildet eine Allianz aus „RegierungssozialistInnen“, die nicht früh genug ein rot-rot-grünes „Experiment“ auch auf Bundesebene starten wollten, und linkeren ReformistInnen wie Riexinger die Parteiführung. Kipping nimmt eine Zwischenstellung ein und spielt auch noch die „Bewegungsnahe“.

Wenn aus der Linkspartei wirklich, wie von der SL in ihrem Aufruf vorgeschlagen, eine „Bewegungslinke“ werden soll, so muss sich die Linke in der Linkspartei politisch und programmatisch eigenständig aufstellen. Ob die SL und die AKL diesen Schritt konsequent gehen werden, muss anhand ihrer bisherigen Praxis bezweifelt werden. Ihre Ernsthaftigkeit lässt sich jedoch an zwei Faktoren messen: (a) Jetzt die Initiative zum Aufbau gemeinsamen Widerstandes gegen die GroKo ergreifen und dazu eine Aktionskonferenz initiieren, die alle Kräfte der ArbeiterInnenbewegung und der radikalen Linken einbezieht, die einen solchen Kampf gemeinsam führen wollen! (b) Öffnung des „Ratschlags“ nicht nur für Mitglieder und SympathisantInnen der Linkspartei, sondern für die gesamte Linke!




Die Bundeswehr rüstet auf – SPD knickt ein

Susanne Kühn, Neue Internationale 228, Mai 2018

18 Rüstungseinkäufe mit einem Mindestwert von jeweils 25 Millionen Euro plant das Verteidigungsministerium für 2018. Darunter fallen waffenfähige Drohnen des Typs Heron TP. Diese wurden schon „erfolgreich“ von der israelischen Armee gegen PalästinenserInnen eingesetzt und sollen nun als Übergangslösung bis 2025 geleast werden – sofern bis dahin die sog. Eurodrohne einsatztauglich ist.

Andere Anschaffungsmaßnahmen betreffen Transportflugzeuge vom Typ Hercules, die Entwicklung eines neuen Radarsystems für den Eurofighter, Raketenwerfer und verbesserte Container für Landungskapazitäten.

Die SPD ist bei den Drohnen schon eingekickt, hatte sie doch ursprünglich die Anschaffung waffenfähiger Geräte verhindern wollen. Nun soll der Bundestag über die ethischen Voraussetzungen für die Bewaffnung entscheiden. Das Gewissen von Union, AfD und FDP dürfte der Verteidigungsministerin sicher sein. Theoretisch könnten die Vorhaben auch noch am Finanzminister scheitern. Das ist aber angesichts der Bedeutung militärischer Aufrüstung für die Bundesregierung praktisch auszuschließen. Einwände werden allenfalls kosmetischer Natur sein.

Der „Bundeswehrverband“ baut inzwischen weiteren Druck auf. Die Vorhaben blieben hinter den Anforderungen zurück und könnten längst nicht die Lücken in der Ausstattung der Armee schließen. Vom längerfristigen Interesse des deutschen Kapitalismus aus gesehen, die militärische Lücke gegenüber seinen Konkurrenten zu schließen, ist das zweifellos richtig. Daher muss das Beschaffungsprogramm auch als das verstanden werden, was es ist: ein Schritt zur Aufrüstung der Bundeswehr und zum Ausbau militärischer Kooperation mit den „EU-Partnern“, d. h. vor allem mit Frankreich.

Verbrämt wird diese imperialistische Politik als „Übernahme globaler Verantwortung“, als rührige Sorge um „unsere Soldaten und Soldatinnen“ und „unsere Friedensmissionen“.

Auf parlamentarischer Ebene werden die Rüstungsprojekte nicht verhindert werden. Dazu braucht es vielmehr Massenmobilisierungen – auf der Straße, in den Gewerkschaften, in den Betrieben. Vor allem aber braucht es Klarheit: Die Bundeswehr ist nicht „unsere“ Armee, sie ist die Armee des deutschen Imperialismus. Beim Militärhaushalt ist die schwarze Null angebracht. Keinen Cent für diese Truppe!




Intersektionalität: Richtige Fragen, falsche Antworten

Katharina Wagner, Neue Internationale 228, Mai 2018

Intersektionalität gewinnt vor allem in der feministischen Bewegung und vielen linken Strömungen immer mehr an Bedeutung. Auch Wirtschaft und Werbebranche haben sie mittlerweile für sich entdeckt, um Produkte besser bewerben und verkaufen zu können. Doch was ist darunter eigentlich zu verstehen?

Was bedeutet Intersektionalität?

Laut Wikipedia beschreibt Intersektionalität das Überschneiden verschiedener Diskriminierungen, wie beispielweise nach Geschlecht, sexueller Ausrichtung oder „Rasse“, in einer Person. Diese addieren sich aber nicht einfach, sondern führen zu völlig neuen individuellen Unterdrückungsverhältnissen [1]. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen, vergleichen wir die Situation einer schwarzen heterosexuellen mit der einer weißen homosexuellen Frau. Beide werden aufgrund verschiedener zusammenwirkender Persönlichkeitsmerkmale Opfer von Unterdrückung. Allerdings ist die jeweilige individuelle Situation der beiden Betroffenen eben nicht dieselbe, auch wenn beide in zweifacher Hinsicht (bezogen auf die oben erwähnten Diskriminierungskategorien) unterdrückt werden.

Die Intersektionalität beansprucht also, ein Werkzeug zu liefern, mit dessen Hilfe der Fokus auf das jeweilige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird und gleichzeitig die Wechselwirkungen der einzelnen sozialen Kategorien analysiert werden können [2].

Diese Methode knüpft in mancher Hinsicht an die Triple-Oppression-Theorie (Dreifach-, Race-Class-Gender-Unterdrückung) an, welche in den 80er/90er Jahren entwickelt wurde. Diese geht von drei Unterdrückungsverhältnissen (Rassismus, Sexismus und Ausbeutung) aus, die, miteinander verwoben, die Gesellschaft prägen.

Innerhalb des Konzepts Intersektionalität existiert eine Vielzahl von Diskriminierungskategorien. Zu den wichtigsten und unstrittigsten gehören dabei, wie bereits erwähnt, „Rasse“, Geschlecht und Klasse. Des Weiteren werden, je nach dem/r jeweiligen TheoretikerIn, zusätzliche Kategorien wie beispielsweise Alter, Körper (darunter wird vor allem Gesundheit und Attraktivität verstanden), Religion, Nationalität sowie gesellschaftlicher Entwicklungsstand hinzugefügt, sodass man auf über 14 verschiedene Kategorien kommt. Doch damit nicht genug, wird auch an dieser Zahl noch Kritik geübt. Um auch ja keine Kategorie auszuschließen, wird häufig am Ende noch ein „etc.“ angehängt. Judith Butler schreibt in Ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, dass aus ihrer Sicht die Kategorisierungen eines Subjekts nie vollständig sein können [3]. Zudem stellt sich die Frage, ob alle Kategorien gleich gewichtet sein sollten und wer überhaupt entscheidet, welche Bedeutung Unterdrückungsverhältnissen beigemessen und welche unberücksichtigt werden dürfen/sollten [4].

Ursprung der Intersektionalität

Um zu ihren Anfängen zu gelangen, müssen wir bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Bereits 1851 stellte die amerikanische Frauenrechtlerin Sojourner Truth die Frage „And ain´t I a woman?“ und kritisierte das damals noch fehlende Stimmrecht für Frauen ebenso wie Rassismus und Klassenprivilegien innerhalb der damaligen Frauenbewegung. In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts formierte sich in den USA eine feministische Bewegung schwarzer Frauen, die die sog. „re-visionist feminist theory“ schuf, welche allerdings aufgrund starker Diskriminierung in der Gesellschaft kaum wahrgenommen wurde. Im Jahre 1974 kam es schließlich zur Gründung des „Combahee River Collective“ in Boston, initiiert von schwarzen, lesbischen und sozialistischen Feministinnen. 1977 wurde von ihnen die Erklärung „A Black Feminist Statement“ veröffentlicht, um deutlich zu machen, dass sie sich von der damaligen feministischen Bewegung nicht repräsentiert fühlten, welche von heterosexuellen Frauen der Mittelschicht dominiert wurde.

Die bekanntesten Wegbereiterinnen der nordamerikanischen Intersektionalitätsbewegung sind sicher die Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young und die Rechtswissenschaftlerin Martha Minow. Sie gehen davon aus, dass anhand gruppenbezogener Identitätspolitiken wichtige Impulse zur Überwindung gesellschaftlicher Diskriminierungen geschaffen werden können. Werden die jeweiligen Differenzen dagegen ausgeklammert und nicht beachtet, führt dieser Umstand langfristig zu einseitiger Diskriminierung innerhalb von verschiedensten Bewegungen. Sehr deutliche Beispiele für diese These liefern zum einen die „Black Consciousness“-Bewegung, einseitig dominiert von schwarzen Männern, und zum anderen die damalige Frauenbewegung, welche, wie bereits erwähnt, von weißen Frauen des (klein)bürgerlichen Spektrums gelenkt wurde.

Auch in Deutschland entwickelte sich in den 1880er Jahren erste Kritik an der Eindimensionalität der feministischen Bewegung, vorgebracht von Clara Zetkin. Sie verwies auf den grundlegenden Zusammenhang zwischen Geschlecht und Klasse und kritisierte gleichzeitig, dass einzig die Interessen der bürgerlichen Frauen im Zentrum der damaligen Frauenbewegung standen. Als in den 1970er/80er Jahren der Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen §218 StGB geführt wurde, waren Frauen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen in der damaligen feministischen Bewegung nicht repräsentiert. Tatsächlich wurde die besondere Diskriminierungssituation dieser Frauen nicht berücksichtigt, ging es ihnen doch in erster Linie nicht um den Kampf für legalisierte Abtreibung, sondern darum, ihr Kind behalten zu können/dürfen, denn schließlich waren bis in die 1990er Jahre Zwangssterilisationen ohne Einwilligung der Betroffenen erlaubt.

Wegbereiterinnen der Intersektionalitätsbewegung in Deutschland waren hauptsächlich Migrantinnen, Frauen mit Beeinträchtigungen sowie schwarze deutsche und jüdische Frauen. Sie verwiesen immer wieder auf spezifische Probleme, welche von der feministischen Bewegung marginalisiert wurden. Dazu zählten zum einen Anerkennung weiblicher Asylgründe wie sexistische Verfolgung und Vergewaltigungen, aber auch die Übernahme von Reproduktionsarbeiten in deutschen Haushalten. Für Frauen mit Beeinträchtigungen ging es zusätzlich um den Kampf für Barrierefreiheit und für gleichwertige Strafen bei sexuellen Übergriffen.

Tatsächlich benutzt wurde der Begriff Intersektionalität schließlich erstmals im Jahre 1989 von der amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw, welche dieses Konzept aufgrund juristischer Fallanalysen entwickelte. Sie bediente sich hierbei der Metapher „Straßenkreuzung“, um deutlich zu machen, dass Diskriminierungen aus verschiedenen Richtungen erfolgen und sich dabei überschneiden können. Allerdings sollte hierbei die Theorie nicht auf die Metapher reduziert werden, ist sie doch um einiges vielfältiger. Vor allem sollte nicht der Trugschluss erfolgen, dass die einzelnen Diskriminierungen außerhalb der Straßenkreuzung getrennt voneinander existieren, geht es doch in der Intersektionalität in erster Linie darum, eindimensionale Sichtweisen auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu überwinden.

Kritik an der Intersektionalität

Kritik an diesem theoretischen Werkzeug gibt es viel und aus verschiedenen Richtungen. Zum einen kommt Kritik aus der soziologischen Wissenschaft selbst. Diese bezieht sich zumeist auf die Anzahl der Kategorien und die Möglichkeit, in deren Folge regelrechte Diskriminierungshierarchien aufzustellen. Eine Kritik speziell im deutschsprachigen Raum richtet sich direkt gegen die Gender-Studies, welche die Theorie lediglich auf die oben beschriebene Metapher „Straßenkreuzung“ reduzieren. D. h. sie gehen davon aus, dass die einzelnen Diskriminierungskategorien getrennt voneinander und somit isoliert existieren.

Auch gibt es zusätzlich Kritik seitens der Betroffenen selbst. So kritisieren z. B. MigrantInnen die nicht ausreichende Berücksichtigung des Kolonialismus oder des gegenwärtig stärker werdenden Eurozentrismus, welcher internationale Arbeitsteilung und Ausbeutung vernachlässigt. Zudem wird die Intersektionalitätsforschung zunehmend von weißen AkademikerInnen betrieben. Theoretische Impulse von Personen mit Migrations-, Exil- oder Diasporahintergrund werden meist abgewertet oder schlicht verleugnet.

Aber auch wir als MarxistInnen müssen die Intersektionalität kritisch hinterfragen und auf Schwachstellen und kritische Punkte deutlich hinweisen. Denn zunächst erscheint die Intersektionalität als ein progressiver Ansatz zur Befreiung der Unterdrückten, gibt sie ihnen doch eine Stimme innerhalb der Gesellschaft. Allerdings wird die Klassenfrage in allen Befreiungskämpfen schlicht verdeckt und verschleiert. Klasse wird innerhalb der Intersektionalität lediglich als eine unter vielen Diskriminierungskategorien angesehen.

Kapitalismus und Unterdrückung

Tatsächlich wird Kapitalismus nicht als eine spezifische Gesellschaftsform und Produktionsweise analysiert, von welcher Diskriminierungen ein unlösbarer Bestandteil sind, sondern einzig und allein als ökonomisches Unterdrückungsinstrument der Bourgeoisie gegen das Proletariat. Dies bedeutet im Klartext, dass innerhalb dieser Theorie keinerlei Anerkennung dafür besteht, dass Kapitalismus Unterdrückungsformen und Diskriminierungen erst schafft bzw. vorhandene stets weiter reproduziert, umformt und für sich nutzt.

MarxistInnen sehen Klassenherrschaft als das bestimmende geschichtliche Moment seit Ende der Urgesellschaft an, somit als letztlich ausschlaggebend für die Auswirkungen in Bezug auf Diskriminierung und Unterdrückung. Die Überwindung der einzelnen Unterdrückungsverhältnisse ist folglich erst nach der vollständigen Abschaffung der Klassenherrschaft möglich. Die essentielle Kraft für eine Revolution, also den kompletten Sturz des Kapitalismus, geht von der ArbeiterInnenklasse als Ganzer aus. Doch genau hier liegt ein weiteres Problem der Intersektionalität. Diese Ideologie ist entstanden, um Erfahrungen von Menschen, die von mehreren Diskriminierungen betroffen sind, angemessen zu berücksichtigen und geht dieses Problem auf zwei unterschiedliche Arten an. Zum einen wird die jeweilige Basis der vorgeschlagenen Organisationsformen immer enger definiert, was zu einem kaleidoskopischen Trenneffekt nach den einzelnen „intersektionalen Identitäten“ führt, und zum anderen werden wichtige Punkte zu Fragen einzelner Individuen innerhalb einer breiten Bewegung reduziert. Dies bedeutet in der Praxis, dass man sich immer weiter weg vom Kollektiv und hin zu individuellen Identitäten bewegt, was eine Vereinigung der gesamten ArbeiterInnenklasse erschwert.

Alternative

Daher sollten MarxistInnen diese Theorie nicht unterstützen, sondern ihre eigenen Methoden einsetzen, um Sexismus, Rassismus, Homophobie und weitere Unterdrückungsformen zu bekämpfen, welche auch in linken Organisationen, Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen auftreten können. Wir treten daher für gesonderte Treffen, sog. Caucuses, ein, um unterdrückten Gruppen die Möglichkeit zu geben, Fragestellungen im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Unterdrückungssituation zu erörtern, kollektive Lösungen zum Kampf gegen Unterdrückung zu finden und dementsprechende Maßnahmen direkt der jeweiligen Mitgliedschaft bzw. der Führung vorzulegen. Denn wenn die politischen Forderungen einer Organisation zu diesen Fragen nur von denjenigen aufgegriffen werden, die unter den bestimmten Unterdrückungssituationen leiden, bricht dies nicht mit der „Hierarchie der Unterdrückung“, sondern manifestiert diese. [5]

Wie beim Eintreten für das nationale Selbstbestimmungsrecht muss die Arbeiterinnenklasse in ihrer Gesamtheit den Kampf gegen alle Unterdrückungsformen führen, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die den Blick auf den grundlegenden Klassenantagonismus erschweren und damit das Kampfpotenzial als gesamte Klasse durch deren Spaltung schwächen. Dies ist ein gänzlich entgegengesetztes Herangehen als das der TheoretikerInnen des Feminismus, der Triple Oppression und des Intersektionalismus, die eine letztlich willkürliche unterschiedliche Benotung der Auswirkungen einzelner Unterdrückungsformen auf das jeweilige Individuum vornehmen.

Endnoten

[1] Wikipedia, Intersektionalität

[2] Walgenbach, Katharina (2012): Intersektionalität – eine Einführung; http://portal-intersektionalitaet.de/ theoriebildung/ueberblickstexte/walgenbach-einfuehrung/

[3] Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M.

[4] Degele, Nina/Winker, Gabriele (2007): Intersektionalität als Mehrebenenanalyse; http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/degelewinker/

[5] http://www.workerspower.co.uk/2013/ 11/intersectionality-not-the-basis-for-the-liberation-struggle/




DGB vor dem Bundeskongress: Weiter so – wohin?

Frederik Haber, Neue International 228, Mai 2018

Mit Metallindustrie und öffentlichem Dienst haben zwei wichtige Branchen ihre Tarifrunden beendet: im Ergebnis besser als die letzten, aber jeweils deutlich von den geforderten 6 Prozent entfernt. Es gab große Warnstreiks, bei Metall auch Eintagesstreiks, aber die Kampfkraft wurde deutlich nicht ausgeschöpft – von der Kampfbereitschaft der Beschäftigten her wäre deutlich mehr drin gewesen.

Über die wirtschaftliche Lage sagt dies indirekt aus, dass von der weltweiten Erholung Deutschland besonders profitiert. Über die Gewerkschaftsführungen sagt es aus, dass ihnen das Wichtigste ist, dass die deutsche Exportoffensive weitergeht. Dafür soll die von Ihnen unterstützte Große Koalition sorgen. Dafür wird den Metall-Konzernen gezeigt, dass nur die IG Metall die Massen im Griff hat, selbst wenn diese streiken. Dafür wird das Konzept der Agenda weitergeführt: Eine Elite von Stammbeschäftigten in der Exportindustrie wird befriedigt, die Dienstleistungssektoren werden kurzgehalten, die Niedriglohnbereiche samt Leiharbeit und Werkverträgen werden reguliert, aber ausgebaut.

Garniert wird das Ganze mit den traditionellen Wunschlisten. Zum Ersten Mai fordert der DGB:

  • „Niedriglöhne, Mini- und Midijobs sind keine Perspektive für die Zukunft: Schluss damit! Sie gehören abgeschafft, nicht ausgeweitet! Die Schonzeit für die Arbeitgeber ist vorüber!
  • Überstunden und Überlastung im öffentlichen Dienst gehören abgeschafft! Wir fordern mehr Personal!
  • Finger weg vom Arbeitszeitgesetz – mehr Mitbestimmung der Beschäftigten bei ihrer Arbeitszeitplanung!
  • Investiert endlich in bessere Bildung und Infrastruktur. Sofort!
  • Eine Lohnlücke von 21 Prozent bei der Bezahlung von Frauen ist ungerecht. Beendet das!
  • Arbeitgeber, die aus der Tarifbindung flüchten, verweigern gerechte Löhne. Verbietet es ihnen!
  • Reiche müssen mehr tragen als Arme – wir fordern ein gerechtes Steuersystem. Jetzt!
  • Europa ist ein fantastisches und einzigartiges Projekt, es darf nicht scheitern. Stärkt ein soziales und solidarisches Europa!”

Wie für diese Forderungen kämpfen? Aus den Formulierungen wird schon deutlich, dass hier an die Regierung appelliert wird. Es gibt keinen Aufruf an die Arbeitenden und Arbeitslosen, dafür zu kämpfen. Nicht mal einen Aufruf, sich dafür gewerkschaftlich zu organisieren und Betriebsräte zu bilden. Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Betrieben ohne Betriebsrat und ohne Tarifbindung. Stattdessen wird der Regierung zugerufen: „Werde mutiger!“

Für die Zukunft ist dieses Konzept absolut untauglich. Jeder Abschwung international oder in Deutschland wird zu neuen Angriffen führen, zu Ausgliederungen im öffentlichen Dienst, zur Verlagerung von Produktion ins Ausland, zu Angriffen der Regierung auf die ArbeiterInnenklasse. Je mehr SPD und DGB mit der CDU gemeinsame Sache machen, je mehr die Sozialpartnerschaft in den Betrieben blüht, je weniger die Betriebsräte und Gewerkschaften Konzepte für Widerstand haben und Mobilisierungen üben, umso einfacher ist der Einfall der rechten DemagogInnen in die ArbeiterInnenklasse.

Wenn IGM-Hofmanns Antwort auf die rechten Betriebsratskandidaturen ist, die „erfolgreiche Arbeit weiter zu machen“, dann will er die AfD-Wahlerfolge und die Unterstützung für rechte Betriebsratslisten nicht sehen. Wenn die IG Metall zentralistisch festlegt, welche Betriebe streiken dürfen und welche nicht, wenn die Belegschaften der Großbetriebe an Streiktagen bewusst nicht zu Versammlungen aufgerufen werden, dann gibt man den Rechten die Chance, sich als diejenigen zu präsentieren, die nicht nur für die Arbeitenden eintreten, sondern auch zum Handeln aufrufen.

Für den DGB reduziert sich der Kampf gegen den Rassismus auf den Protest gegen AfD und gelegentlich gegen die CSU. Offene Grenzen und gleiche Rechte für alle, die hier leben und arbeiten sind kein Thema. Internationale Solidarität beschränkt sich auf Sonntagsreden.

Die internationale Politik der Bundesregierung wird manchmal kritisch, letztlich aber wohlwollend begleitet. Trotz Austeritätsdiktaten der EU, Auslandseinsätzen und Aufrüstung existiert der deutsche Imperialismus für die Gewerkschaftsbürokratie allenfalls in der Vergangenheit. Totschweigen ergänzt die Standortpolitik.

Die linken, kämpferischen Kolleginnen und Kollegen müssen in dieser Situation eine klare pollitische Kritik an den Gewerkschaftsführungen formulieren, auch wenn große Teile der Beschäftigten mit deren „Erfolgen“ zufrieden sind oder die Bürokratie unterstützen, damit die Rechten nicht stärker werden.

Es gilt, sich an alle die zu wenden, die aus dem „Modell Deutschland“ jetzt schon rausfallen, die von Arbeitsplatzvernichtung oder Angriffen auf Löhne und Sozialleistungen betroffen sind. An alle, die sich mit eigenen Listen gegen BetriebsratfürstInnen wehren. Es gilt, eigene Initiativen zu ergreifen und zu unterstützen. Es gilt, das „Weiter so“ anzugreifen und die oppositionellen Kräfte in den Betrieben und an der Gewerkschaftsbasis zu unterstützen und zu vereinen.

Das ist der Weg, die Rechten zu blockieren und die bürokratischen Machtapparate in den Gewerkschaften anzugreifen. Das ist der Weg, die Klassenkämpfe vorzubereiten, die die kommende Krise des Kapitalismus bringen wird und für die sich Kapital und Staat schon rüsten!