Krieg im Jemen – Kampf um die regionale Vormachtstellung

Tobi Hansen, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

Es gibt Kriege und Bürgerkriege, die stehen im Mittelpunkt des internationalen medialen Interesses. Das Gegenteil davon verkörpert der Krieg im Jemen seit 2013. Das ärmste Land der Arabischen Halbinsel steht kaum im Fokus der Öffentlichkeit. Neulich schaffte es ein Beinahe-Raketenbeschuss des Flughafens von Riad in die Weltpresse, aktuell ist es der Tod des Ex-Präsidenten Ali Abdullah Salih, welcher in Sanaa, wahrscheinlich von seinen ehemaligen Verbündeten, ermordet wurde.

Der Ausbruch einer Choleraepidemie, Millionen von Binnenflüchtlingen, massive Ernteausfälle, Hunger und Elend haben eines der ärmsten Länder der Welt in die Katastrophe gestürzt. Die Welt aber schaut zu und der „Westen“ unterstützt die kriegführenden Saudis, die 2015 einmarschiert sind.

2013 brach die Regierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi zusammen. Sein Vorgänger Salih hatte seit 1978 den Nordjemen (Jemenitische Arabische Republik, Hauptstadt Sanaa) regiert und nach der Vereinigung 1990 mit der Demokratischen Volksrepublik (Südjemen, Hauptstadt Aden) auch den Gesamtstaat (Republik Jemen). Das Land wurde schnell von der Protestwelle des „Arabischen Frühlings“ erfasst. Als in Tunesien die Massen auf die Straße gingen, protestierten die Menschen in Sanaa und Aden. Diese Massenbewegung führte auch zum Ende der Regierung Salih. Dessen Nachfolger Hadi konnte aber kein stabiles Regime aufbauen.

Seit 2013 führten verschiedene Fraktionen im Jemen Bürgerkrieg: Generäle, die sich mit ihren Truppen als „Warlords“ gerierten; al-Qaida-Milizen, die als sunnitische Extremisten speziell die schiitische Bevölkerung attackierten; wie auch die schiitischen Huthi-Rebellen, die ihrerseits nach der Macht im gesamten Staat griffen. Sunnitische Milizen wie al-Qaida unterstützten zusammen mit Teilen des Militärs den Ex-Präsidenten Hadi, andere Teile des Militärs wie auch die schiitische gläubige Bevölkerung (30 – 40 Prozent der EinwohnerInnen) die Huthi-Rebellen. Diese eroberten 2015 die Provinzhauptstadt Ibb, beherrschten Teile der Hauptstadt Sanaa, lösten das Parlament des Jemen auf und ernannten ihr „Revolutionskomitee“ zur alleinigen Regierung. Dies erklärt auch, warum die Huthi inzwischen Ministerien wie zur Zeit das des Inneren unter Kontrolle haben.

Hintergründe und Auswirkungen des Bürgerkriegs

Wie viele andere Halbkolonien ist auch der Jemen vom Verkauf der natürlichen Ressourcen abhängig. Das ärmste Land der Arabischen Halbinsel muss seine Öl- und Gasreserven ausplündern lassen, was vor allem US-amerikanische, französische und südkoreanische Unternehmen besorgen. Daraus erwachsen dem Land die einzigen nennenswerten Deviseneinnahmen und folglich auch die bedeutendsten Einkommensquellen. Ex-Präsident Salih hatte den im ehemaligen Nordjemen verankerten Huthis mehr Teilhabe an den Erlösen zugesichert. Einige Quellen bezeichneten ihn deshalb als „Überläufer“. Ihm gegenüber stand sein Nachfolger Hadi, welcher sich vor allem auf die Machtstrukturen des ehemaligen Südjemen stützte. Außerdem gibt es in beiden Landesteilen Sezessionsbestrebungen, welche natürlich vor allem den jeweiligen Eliten der Abtrünnigen zugutekommen sollen. Jede Kompradorenclique versucht, die alleinige Kontrolle über die Öl- und Gasfelder zu erlangen.

Ökonomisch betrachtet ist die Landwirtschaft weiterhin größtes Beschäftigungsfeld für die rund 28 Millionen JemenitInnen. Das BIP (2014 ca. 28 Mrd. US-Dollar) wird zu ca. einem Viertel im Agrarsektor erwirtschaftet, der über 50 % aller Arbeitskräfte beschäftigt. Die Industrie mit einem Anteil von knapp 9 % ist extrem unterentwickelt (15 % der Beschäftigten), der Dienstleistungssektor (vor allem rund um die Landwirtschaft und die Öl- und Gasbranche) hat einen Anteil von 67 % am BIP (ca. 36 % aller Beschäftigten).

90 % der Wasserressourcen des Landes müssen zur Bewässerung der Landwirtschaft aufgewendet werden, auch weil nur ca. 3 % des Landes agrarisch nutzbar sind. Der Bürgerkrieg und der Einmarsch Saudi-Arabiens haben Millionen ihrer Existenz beraubt. Die Ernten fielen aus, die Felder konnten nicht bestellt werden, Millionen sind auf der Flucht. Für die Resultate des Krieges sind auch die imperialistischen Staaten wegen ihrer Unterstützung der Saudi-Monarchie verantwortlich!

Der Angriff Saudi-Arabiens

Der Erfolg der Huthi-Rebellen im Bürgerkrieg veranlasste diese aufstrebende Regionalmacht zum Angriff auf das Nachbarland. Offiziell soll die gescheiterte Regierung Hadis unterstützt werden, de facto geht es aber um die Verhinderung eines schiitischen Regimes auf der Arabischen Halbinsel. Schon 2012 schickte das Königshaus Truppen nach Bahrain, als dort die schiitische Bevölkerung gegen ihre Unterdrückung und Benachteiligung im Staat als Teil des „Arabischen Frühlings“ aufbegehrte und tagelang die Hauptstadt lahmlegte. Mit tausenden Soldaten, Panzern und Luftwaffe wurde ein friedlicher Protest zusammengeschossen. Die saudische Kriegsführung im Jemen ist allerdings nur vordergründig ein Konflikt zwischen SunnitInnen und SchiitInnen.

Die Blockade und Isolation von Katar zeigen deutlich: Religion ist nur Fassade! Der saudischen Hofclique geht es allein um die Beherrschung der Halbinsel und vor allem darum, jeglichen möglichen Einfluss des großen regionalen Konkurrenten, des Iran, zu verhindern.

In der Geschichte des Jemen hatte es lange relativ wenig religiöse Konflikte gegeben, im Gegenteil: Zwischen schiitischen ZaiditInnen und sunnitischen SchafiitInnen gab es regelmäßigen religiösen Austausch wie z. B. gegenseitige Predigten in den Gotteshäusern. Diese eher ausgleichende Praxis zwischen den islamischen Strömungen fand ihr Ende mit den 2000er Jahren. Der sunnitische Extremismus konnte sich in Form von al-Qaida-Gruppierungen wie (A)QAP (engl. Abkürzung für: al-Qaida on the Arabian Peninsula) verankern. Seit 2015 ist auch ein Ableger des sog. „Islamischen Staates“ im Jemen aktiv.

2015 bildete Saudi-Arabien eine Militärkoalition zum Einmarsch in den Jemen. Das Prinzip wurde von den USA übernommen, eine Koalition der Willigen zusammengesucht bzw. -gekauft. So wurden Ägypten, Bahrain, Katar, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Marokko, Sudan und Senegal Teil der sog. „Operation Decisive Storm“. Zunächst war auch Pakistan Teil des Militärbündnisses, lehnte aber die Luftangriffe ab und ist somit ähnlich wie Marokko eher passiver Teil der Allianz, während alle anderen Staaten Armeeeinheiten schickten. Dieses Militärbündnis wird logistisch, vor allem nachrichtendienstlich, von den USA, Frankreich und Großbritannien unterstützt. Diese imperialistischen Staaten setzen auf „ihren“ langjährigen Verbündeten Saudi-Arabien. Erst im Frühjahr 2017 unterschrieben die Saudis einen Rüstungsdeal mit den USA, welcher ein Volumen von über 300 Mrd. US-Dollar haben soll. Dazu kommen noch unzählige Abkommen mit europäischen Staaten wie Deutschland. Saudi-Arabien verfügt über eine moderne Armee und will diese für seine Ziele einsetzen.

Die Ambitionen des Königshauses

Kronprinz Mohammed bin Salman hat sich in den Nachfolgekämpfen innerhalb der Dynastie durchgesetzt. Teile seiner Verwandtschaft sind wegen Korruption angeklagt und stehen in einem Luxushotel unter Hausarrest. Dort war auch der libanesische Ministerpräsident Saad Hariri kurzzeitig untergebracht. Dieser innere Machtkampf wird aktuell mit besonders aggressiver Rhetorik nach außen begleitet – nicht gerade ein Zeichen für innere „Stabilität“. Die internen Skandale, speziell mit dem Vorwurf der „Korruption“ garniert, erinnern der Form halber auch an die „Säuberungen“ innerhalb der chinesischen Bürokratie. Obwohl sich alle Teile des Königshauses wie auch seiner Hofbürokratie am erarbeiteten Reichtum bereichert haben, wird der Korruptionsvorwurf nur jenen zum Verhängnis, die in diesem Machtkampf unterliegen.

Die westlichen KommentatorInnen verweisen schnell auf diese Gegensätze am Persischen (Arabischen) Golf. Schließlich will auch die Regionalmacht Iran ihre Ambitionen aufrechterhalten, nicht nur im Irak, in Syrien und im Libanon. Diese Konfliktstellung zwischen beiden Regionalmächten ist Folge der zugespitzten imperialistischen Konkurrenz, insbesondere zwischen ihren im Hintergrund agierenden Schutzmächten USA und Russland. Es ist auch nicht verwunderlich, dass Saudi-Arabien eine aggressivere Politik einschlägt, gerade wenn die USA das Nuklearabkommen mit dem Iran aufkündigen wollen und im Kabinett stramme Kriegsbefürworter gegen diesen Staat sitzen.

Kriegstaktik

So sehr die unmittelbar revolutionäre Perspektive auch im Jemen durch den Krieg verschüttet scheint, so schnell kann sich diese Lage ändern. Weder die Führung der Huthis, welche vor allem ihre Pfründe im Staat erhöhen will, noch der Ex-Präsident Hadi mit der saudischen Luftwaffe im Rücken werden dem jemenitischen Volk Frieden, geschweige denn eine Perspektive bieten können. Was den Bürgerkriegsaspekt des Konflikts betrifft, dürfen RevolutionärInnen keines der beiden Lager um Hadi- und Salih-AnhängerInnen unterstützen.

Doch neben den lange Zeit dominierenden Bürgerkriegscharakter im jemenitischen Krieg ist mit dem direkten militärischen Eingreifen Saudi-Arabiens, neben Israel eine der beiden Hauptstützen des US-Imperialismus in Nahost, eine zweite, zunehmend an Bedeutung gewinnende Komponente getreten. Die Bekämpfung dieser Aggression ist auch ein Ziel aller fortschrittlichen Kräfte. Im heutigen Konflikt treten wir deshalb für die vollständige Niederlage des saudischen Aggressors ein. Das schließt auch die Zusammenarbeit mit den jemenitischen Kräften wie den Huthi-Milizen ein, die sich der Intervention entgegenstellen, ohne deren politische Ziele und Führung auch nur einen Moment zu unterstützen.

Vor allem in Saudi-Arabien wie auf der gesamten Arabischen Halbinsel ist es darum Pflicht der ArbeiterInnen- und BäuerInnenmassen, den Kriegsanstrengungen der Monarchie eine Niederlage beizufügen. Dies gilt auch für die organisierte ArbeiterInnenbewegung weltweit. In Deutschland muss z. B. der Export von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien gestoppt werden.

Diese Taktik könnte sich freilich ändern, wenn der regionale Aspekt des Kriegs die Oberhand gewänne, also die beiden verfeindeten Streithähne als Stellvertreter Riads/Washingtons oder Teherans/Moskaus, also als diesen untergeordnete Kampfverbände, agierten und der Krieg zu einem reinen StellvertreterInnenkrieg werden würde.

Der Arabische Frühling kann wieder kommen

Jemen war einer der ersten Staaten, die von den Massenprotesten 2011/2012 erfasst wurden. Diese führten zum Ende der über 30-jährigen Amtszeit Salihs. Heute müssen viele JemenitInnen in Saudi-Arabien arbeiten, sind z. B. als Tagelöhner und im Haushalt der Willkür des saudischen Herrschaftssystems ausgeliefert. Dieses islamistisch-klerikale System ist ähnlich der iranischen Theokratie im Inneren nicht stabil. Jede demokratische Bewegung, jedes Eintreten für die mindesten Frauenrechte, jegliche Bewegung der Millionen ArbeitsmigrantInnen kann diese Dynastie beenden und somit ein Zentrum der Reaktion, Ausbeutung und Unterdrückung in dieser Region zerschlagen. Letztlich müssen die BäuerInnen, die Armut in Stadt und Dorf, die ArbeiterInnen auf den Öl- und Gasfeldern und in der Stadt sich politisch organisieren, müssen für ihre sozialen und demokratischen Rechte eine Partei ihrer Klasse aufbauen, eine Partei der ArbeiterInnen, die die permanente Revolution, gestützt auf die BäuerInnenschaft, auf die Arabische Halbinsel trägt!




Pakistan: Einheitsfront gegen Islamisten und Militär

Martin Suchanek, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

Das letzte Novemberwochenende war ein Alptraum für die Bevölkerung Pakistans. Seit dem 8. November hatten reaktionäre islamistische Kräfte, angeführt von der Partei „Tehreek-e-Labbaik Ya Rasool Allah“ (Tehreek-e-Labaik, TLP), das Autobahnkreuz Faizabad in der Hauptstadt Islamabad blockiert. Über Wochen beteiligten sich hunderte bis einige tausend AnhängerInnen dieser Ultra-Reaktionäre an der Aktion.

Anlass für den Sitzprotest war eine Änderung der im Wahlgesetz für die Parlamentswahlen 2018 vorgesehenen Bezeichnung für den Eid, den Abgeordnete am Beginn einer Legislaturperiode leisten müssen. Dieses Bekenntnis zu Mohammed als dem „letzten Propheten“ sollte nur eine „Erklärung“ sein. Obwohl die Regierung die Formulierung rasch als „Schreibfehler“ zurücknahm und das Parlament am 16. November die traditionelle Formel wieder einführte, wurden die Proteste nicht beendet, sondern mit der Forderung nach Rücktritt des Justizministers Zahid Hamid fortgesetzt. Den Wortführern der Islamisten zufolge wäre die Reformulierung ein bewusstes Zugeständnis an die religiöse Minderheit der Ahmadi (Ahmadiyya) gewesen. Diese Glaubensgemeinschaft wurde bereits 1974 zu Nicht-MuslimInnen erklärt und wird im Land systematisch diskriminiert. Anders als ChristInnen oder Hindus werden sie nicht als religiöse Minderheit anerkannt, da sie sich weiter als MuslimInnen bezeichnen. Offenes Bekenntnis zu ihrem Glauben und Werbung für ihn gilt als Gotteslästerung, die als Schwerverbrechen (bis hin zur Todesstrafe) betrachtet wird. Anschuldigungen wegen Blasphemie führen in Pakistan regelmäßig zu Lynchmorden durch reaktionäre Mobs, die von Parteien wie der TLP oder der Jamaat-e-Islami angeführt werden. Oft sind die Vorwürfe auch ein Vorwand, um ArbeiterInnen- und StudentInnenaktivistInnen auszuschalten.

Am Wochenende des 25. und 26. November spitzte sich die Lage zu. Schon am 16. November hatte der Oberste Gerichtshof die Räumung der Straßenblockade und Zelte angeordnet. Die Regierung zögerte mit der Umsetzung und wollte das Sit-In durch Vermittlung hoher islamischer Geistlicher beenden.

Zuspitzung und reaktionärer Ausgang

Schließlich begannen am 25. November tausende Polizisten und Grenzschützer mit der Räumung. Doch die Sicherheitskräfte mussten die Aktion auf halbem Weg abbrechen, angeblich da sich der Wind gedreht hatte und sie nun vom eigenen Tränengas blockiert würden. Der demagogische Anführer der TLP, Allama Khadim Hussain Rizvi, nutzte die Lage und rief zu Aktionen auf, um das Land zum Stillstand zu bringen. Innerhalb weniger Stunden brachen Unruhen in Karatschi, Lahore, Hyderabad und Faisalabad aus. Sechs Tote wurden gemeldet, hunderte Menschen verletzt. Der Staat wiederum legte die sozialen Medien (Facebook, Youtube) für Stunden lahm, um die Mobilisierung der Islamisten zu unterlaufen. Vergeblich, wie sich rasch zeigte.

Die Regierung sah sich gezwungen, sich an die Armeeführung zu wenden, um die Lage zu befrieden. Diese erklärte zwar, dass sie zur „verfassungsmäßigen Ordnung“ stehe – forderte aber ihrerseits die Regierung auf, eine „friedliche Lösung“ zu suchen. Solcherart führte sie dem Ministerpräsidenten vor Augen, dass er nicht mehr Herr der Lage war. Das durch Korruptionsskandale und Enthüllungen der Panama-Papers angeschlagene Kabinett beugte sich dem Druck. Die Armeeführung löste den Konflikt „friedlich“ und vermittelte ein Abkommen zwischen den Islamisten und der Regierung.

Dieses sieht den sofortigen Rücktritt des Justizministers Zahid Hamid vor. Im Gegenzug erklärte sich die TLP bereit, gegen ihn keine Fatwa (ein religiöses Urteil) zu verhängen und seine Familie nicht anzugreifen. Alle bei den Protesten festgenommenen Islamisten sollen freigelassen werden und eine neue Kommission soll die Polizeigewalt und die Handlungen der Regierung vom 25. November untersuchen. Darüber hinaus machte die Regierung den Islamisten weitere Zugeständnisse wie die Einbeziehung von Repräsentanten der TLP bei religiösen und rechtlichen Fragen.

Unterzeichnet wurde das Abkommen neben Vertretern der Regierung und der Protestierenden auch von solchen der Generalität, denen abschließend für ihre Anstrengung bei der „Abwendung einer Katastrophe für das Vaterland“ gedankt wurde.

Sieger und Verlierer

Daraus wird nur allzu deutlich ersichtlich, wer die Sieger und Verlierer der Konfrontation waren. Die Regierung musste eine schwere politische Niederlage einstecken. Sie ist offenkundig ein Auslaufmodell. Das Militär und der ebenfalls in die Verhandlungen einbezogene Geheimdienst präsentierten sich wieder einmal als scheinbar über allen politischen und sozialen Kräften stehende „Retter der Nation“. Die Armee ging also neben den Islamisten ebenfalls als eindeutige Siegerin hervor.

Schon seit Jahren erleben wir eine stetige Verschiebung der Macht weg von den zivilen Institutionen hin zu den Streitkräften. Diese bestimmen schon heute weitgehend die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. Die Armee ist nicht nur eine „Garantin“ des Kapitalismus, viele ehemalige und aktive Militärs sind selbst Teil der herrschenden Klasse.

Schwäche der Regierung

Die Schwäche der Regierung spiegelt nicht nur deren Korruption und Vetternwirtschaft wider, sondern auch ihr Unvermögen, die enormen politischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Probleme des Landes zu lösen. Pakistan mit seinen rund 200 Millionen EinwohnerInnen bildet einen konzentrierten Ausdruck aller Aspekte der aktuellen, historischen Krisenperiode: ökonomische Instabilität und Niedergang; Konfrontation zwischen den USA und China sowie zahlreichen Regionalmächten; Pakistans eigene Ambition, zu einer Regionalmacht aufzusteigen; Krieg und Bürgerkrieg; ökologische Krise; Überausbeutung der ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft; Unterdrückung der Frauen, nationaler und religiöser Minderheiten; Aufstieg ultra-reaktionärer und selbst klerikal-faschistischer Kräfte.

Diese Widersprüche bereiten einerseits den Boden für eine Militärdiktatur vor. Eine „parlamentarische“ rechtsstaatliche Lösung der Krise scheint immer weiter in die Ferne zu rücken. Die Organe der legislativen, judikativen und exekutiven Gewalt stehen zueinander in mehr oder minder offener Konfrontation. Andererseits sind es ebendiese Widersprüche, die bislang auch die Armee vor einer offenen Machtübernahme zurückschrecken lassen, müsste sie doch auch die politische Verantwortung für deren Lösung übernehmen und das Land auf dem Weg in eine unsichere Zukunft führen. Pakistan entwickelte sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Verbündeten Chinas, das einen bedeutenden Teil der geplanten neuen Seidenstraße – darunter Infrastrukturprojekte wie Straßen, Bahnen, Hochseehäfen – durch das Land baut. Andererseits existieren weiter Verbindungen zu den USA und finanzielle Abhängigkeiten von den internationalen Finanzmärkten. Pakistan unterhält Verbindungen zu Saudi-Arabien, aber auch zum Iran. Indien gilt als Erzfeind, andererseits soll der Handel „normalisiert“ werden. Regierung und Militär müssen daher lavieren.

Diese widersprüchliche Lage bedeutet auch, dass strategische Gegensätze nicht einfach zwischen den Institutionen (z. B. Armee versus gewählte Regierung) verlaufen, sondern durch diese hindurch. Darüber hinaus werden sie noch durch nationale und regionale Gegensätze verschärft.

All diese Faktoren verdeutlichen, warum die Führung der Streitkräfte es bislang vorzieht, ihren politischen Einfluss bei Beibehaltung einer zivilen Regierung auszuüben oder auch auszubauen – aber die innere Dynamik der Gegensätze im Land drängt mehr und mehr auf eine Militärdiktatur.

Aufstieg der Islamisten

Die Ereignisse vom November haben auch eine andere erschreckende Gefahr zutage treten lassen – die einer islamistischen, halb-faschistischen oder gar faschistischen Lösung der Krise. Das Militär versucht, sich zur Zeit dieser Kräfte zu bedienen, aber das bedeutet keineswegs, dass sich die Kräfte, die der Regierung eine Niederlage zufügten, nicht zu einer reaktionären, kleinbürgerlichen Massenbewegung formieren könnten.

Die gesellschaftliche Krise des Landes hat nicht erst seit kurzem den Nährboden für den Aufstieg radikaler Islamisten bereitet. Die bürgerlichen Parteien Pakistans wie auch das Militär haben außerdem eine lange unsägliche Tradition, sich im Fall politischer Krisen der Islamisten zu bedienen, ihnen politische Zugeständnisse zu machen, um so die gesellschaftliche Basis ihres jeweiligen Regimes zu erweitern. Einen besonderen Schub erlebte diese Entwicklung unter der Diktatur Zia-ul-Haqs (1977 – 1988), der gemeinsam mit den USA für den Krieg in Afghanistan islamistische Kräfte aufbaute, aber auch zur Unterdrückung der Linken, Gewerkschaften und demokratischer Opposition im Inneren nutzte.

Auch wenn die islamistischen Parteien bis heute politisch, religiös und national durchaus zerstritten sind, so stellen deren Wachstum und eine größere Vereinheitlichung dieser Strömungen eine reale unmittelbare Gefahr dar.

In Deutschland denken viele beim Islamismus an Gruppierungen wie die Taliban oder den saudischen Wahhabismus. Zweifellos bestehen auch Querverbindungen zwischen diesen Gruppierungen. Von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung kann aber sein, dass die Kräfte, die am 25. und 26. November in Erscheinung traten, anderen islamischen Richtungen angehören.

So ist z. B. die „Tehreek-e-Labaik“ ( TLP) selbst eine recht junge Partei. Ihr Anführer Rivzi hat mit dem Wahhabismus ideologisch nichts zu schaffen, sondern entstammt vielmehr einer dem Sufismus nahestehenden Koran-Schule. Diese Traditionslinie des Islam ist in Pakistan weit verbreitet.

Wie in anderen Ländern mit einer starken religiösen Tradition greifen auch in Pakistan reaktionäre kleinbürgerliche Kräfte auf ebendiese Ideologie zurück und begründen damit rechts-populistische oder gar faschistische Programme. So ist es kein Wunder, dass solche Kräfte sich auch auf sufistische Traditionen berufen. Hinzu kommt, dass sie größeren Zugang zu kleinbürgerlichen Massen finden können als die vielen Pakistani fremde Tradition des Wahhabismus.

Auch wenn die TLP im November nur wenige tausend eigene AktivistInnen mobilisieren konnte, so vermochte sie ihren reaktionären Protest so weit öffentlich zu machen, dass sich alle anderen islamistischen Strömungen gegen die Regierung solidarisierten und ihrerseits gewaltsame Aktionen in verschiedenen Städten initiierten. Auch das ist nicht ganz neu, aber es offenbart das reaktionäre Potential dieser Kräfte, die zusammen Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende mobilisieren können. Auch wenn keinesfalls jede dieser Gruppierungen einen direkt faschistischen Charakter hat, so vertreten sie in unterschiedlichen Abstufungen reaktionäre Ideologien und befürworten die Diskriminierung von religiösen Minderheiten, von Frauen, aber auch der ArbeiterInnenbewegung, Linken, liberalen und nicht-sektiererischen Kräften. Dies mag von aktiven Angriffen bis hin zur passiven Unterstützung „dem Inhalt nach“ reichen.

Gefahr

So gab es etliche, die die TLP direkt unterstützten. Weitaus größere Schichten sprachen sich jedoch gegen deren Methoden aus, befürworteten aber die Forderungen der TLP. Es ist daher falsch anzunehmen, diese Parteien wären reine Befehlsempfängerinnen des Staates ohne eigene soziale Basis. Diese Einschätzung, wie sie unter anderem von der IMT (International Marxist Tendency, in Deutschland: Der Funke) vertreten wird, ist eine gefährliche Verharmlosung – eine Verharmlosung, die einige ihrer FührerInnen bisher als Ausrede genutzt haben, um eine gemeinsame Einheitsfront abzulehnen oder deren Notwendigkeit herunterzuspielen.

Der Sieg in Islamabad hat das Selbstvertrauen der äußersten Reaktion zweifellos enorm gestärkt. In den letzten Wochen kam es vermehrt zu physischen Angriffen und Einschüchterungen politischer GegnerInnen. All das bedeutet, dass sich in Pakistan eine ultra-reaktionäre, klerikal-faschistische Bewegung zu formieren droht.

Diese stellt für die ArbeiterInnenbewegung, für alle Unterdrückten eine unmittelbare Gefahr dar. Eine dramatische weitere Rechtsentwicklung wird zunehmend unmittelbar bedrohlich. Das Wachstum und die Vereinheitlichung einer proto-faschistischen Bewegung kann darüber hinaus auch die Errichtung einer Militärdiktatur begünstigen, die Ordnung schafft und alle verbliebenen demokratischen Rechte aushebelt.

Einheit

Daher erfordert die Situation rasches Handeln und Einheit auf Seiten der ArbeiterInnenklasse, der Linken, der Unterdrückten. Unsere GenossInnen der „Revolutionary Socialist Movement“ (RSM) haben einen Aufruf zur Schaffung einer Einheitsfront an Gewerkschaften, fortschrittliche StudentInnenorganisationen und die pakistanische Linke mit folgenden fünf Punkten gerichtet:

„1. Wir, die UnterzeichnerInnen dieser Erklärung, rufen die Gewerkschaften und linken Parteien, alle fortschrittlichen Studenten-, Frauen- und Bauernverbände auf, eine vereinigte Front gegen den klerikalen Faschismus und gegen jeden Versuch des Militärs, mehr Macht zu erlangen oder eine neue Militärdiktatur zu errichten, zu gründen.

2. Als UnterzeichnerInnen verpflichten wir uns und unsere Organisationen zum Aufbau einer landesweiten Einheitsfront.

3. Dies erfordert die Bildung von Aktionsausschüssen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene.

4. Die Aufgabe dieser Ausschüsse ist es, eine Kampagne zu starten, die unsere Stimme gegen den klerikalen Faschismus und die Militärregierung aus der Sicht der ArbeiterInnenklasse erheben soll.

5. Dazu gehört auch die Vereinbarung zur gegenseitigen Selbstverteidigung gegen Bedrohungen und Angriffe und das Ziel, die arbeitenden Massen so zu organisieren, dass sie ihre Bezirke und Gemeinden, ihre Fabriken und Schulen vor sektiererischen und faschistischen Angriffen schützen können. Es bedeutet auch, unsere Klasse so zu organisieren und auszubilden, dass sie im Falle eines faschistischen oder militärischen Putschversuchs in der Lage ist, Massenstreiks durchzuführen.“




TV Stud II aufgekündigt: Studentisch Beschäftigte kämpfen um Tarifvertrag

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

Ab 31. Dezember 2017 wird der „Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte 2“ (TV Stud II) durch ver.di und GEW in Berlin gekündigt! Nach 16 Jahren ohne Erhöhung des Entgelts bei gleichzeitiger Streichung des Weihnachtsgeldes und einem Reallohnverlust von 25 % sind die StudentInnen gezwungen zu streiken.

Das Ganze ist keine spontane Angelegenheit. Seit Jahren laufen die Verhandlungen um eine Erhöhung des studentischen Mindestlohns an den Hochschulen. Dieser beträgt seit 2001 10,98 Euro pro Stunde brutto. In einer ersten Verhandlungsrunde schlugen die Hochschulen eine Erhöhung um 44 Cent vor. Nachdem dies abgelehnt wurde, verringerten sie ihr Angebot auf nur noch 26 Cent. Gegen diese lächerlich billige Abfertigung gilt es zu kämpfen!

So bildete sich in den vergangenen Jahren eine Gruppe von Studierenden, politischen Organisationen und den Gewerkschaften heraus, die sich das Durchsetzen eines neuen Tarifvertrags (TV Stud III) auf ihre Fahnen schreibt, der für die rund 8.000 studentischen Beschäftigten in Berlin gelten soll. Im Zuge der Kampagne sind schon über 1.000 Studierende den Gewerkschaften beigetreten. Die Kernforderungen von TV Stud III betreffen folgende drei Punkte:

1. Stundenlohn von 14 Euro brutto

2. Tariflich abgesicherte Vertragslaufzeiten von mindestens 4 Semestern

3. Gleichbehandlung aller Hochschul-Beschäftigtengruppen bezüglich des Urlaubsanspruchs sowie dynamische Anpassung an Gehaltssteigerungen anderer Beschäftigtengruppen

(weitere Informationen findet ihr unter: https://tvstud.berlin/forderungen/)

Ab Januar treten die Studierenden in den Streik. Wir werden diesen Arbeitskampf unterstützen. Dabei hat der Kampf um die Erhöhung eines studentischen Mindestlohns eine besondere Bedeutung, weil die Universitätsleitungen deren Tarife bewusst niedrig halten, um so eine Gruppe von billigen Arbeitskräften zu schaffen.

Studentische Hilfskräfte ersetzen nämlich auch Vollzeitstellen samt deren tariflicher Zahlung plus Lohnnebenkosten wie Sozialabgaben-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungsanteile, die der/die „ArbeitgeberIn“ trägt. Sie sind deshalb auch bei gleichem Netto-Stundenlohn ein weitaus geringerer Kostenfaktor als eine Bedarfsdeckung durch in Vollzeit beschäftigte, ausgebildete ArbeiterInnen und Angestellte.

Mittlerweile stellen die Studierenden die größte Beschäftigtengruppe innerhalb der Berliner Hochschulen dar, was den Prekarisierungsprozess des wissenschaftlichen Mittelbaus und die finanzielle Aushöhlung des Bildungswesens verdeutlicht.

Wir stehen auf der Seite der kämpfenden Studierenden. Viele von ihnen sind neben dem Studium zum Jobben gezwungen, um sich über Wasser zu halten. Die Losung der Gleichbehandlung aller Hochschul-Beschäftigtengruppen hat hierbei einen bedeutenden fortschrittlichen Charakter, da sie einerseits die studentischen Beschäftigten finanziell und arbeitsrechtlich besser absichern, andererseits deren möglichem Missbrauch als LohndrückerInnen entgegenwirken soll.

Wir konkretisieren diese Forderung durch die Losung des gleichen Lohns für gleiche Arbeit inklusive aller Lohnnebenkostenanteile seitens der Bildungseinrichtungen und eine Übernahme nach dem Studium, sofern das die Studierenden wünschen. Dadurch wollen wir ein gegenseitiges Ausspielen der Angestellten-Gruppen der Hochschulen verhindern und die gemeinsame Kampfbereitschaft fördern.

Diskussionen um den Streik

Unter den studentischen Hilfskräften hört man dabei in vereinzelten Diskussionen, ob ein Streik das richtige Mittel sei, um Druck in den Tarifverhandlungen aufzubauen. Schließlich würde dies unmittelbar die Qualität der Lehre treffen und weniger die Geldbeutel der VerhandlungsgegnerInnen.

Mit moralischen Gegenargumenten müssen sich nicht nur Studierende herumschlagen. Streikende Beschäftigte im Bereich staatlicher oder privater Berufe, die einen Dienst an anderen Menschen verrichten wie PflegerInnen, ErzieherInnen sehen sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, den SchülerInnen, Eltern oder PatientInnen zu schaden – und nicht ihrem „Arbeitgeber“.

Dabei leisten natürlich nicht nur diese Menschen, sondern auch die studentisch Beschäftigten gesellschaftlich nützliche, notwendige Arbeit. Aber sie produzieren nicht alle Mehrwert für ein Einzelkapital, womit sie in der Tat mit dem Problem konfrontiert sind, dass die unmittelbaren ökonomischen Auswirkungen ihres Kampfes geringer sind als z. B. bei streikenden IndustriearbeiterInnen.

Schon deshalb sind sie auf die Solidarität anderer Beschäftigter und der Masse der Studierenden angewiesen, um den Druck auf die Universitätsleitungen zu erhöhen. Wir lassen uns nicht durch pseudo-moralische Argumente abspeisen! Wir brauchen eine volle Ausfinanzierung durch die massive Besteuerung jener, die von der gesellschaftlich nützlichen Arbeit an den Unis profitieren: der Banken und Konzerne.

Widersprüchliche Lage

Ein anderes Problem, mit dem die Hilfskräfte oft konfrontiert sind, ist ihr schwieriger Status. Sie sind auf der einen Seite Angestellte der Hochschulen und zum anderen Studierende. Somit können sie im Arbeitskampf einem doppelten Druck ausgesetzt werden. Auch wenn sie rein rechtlich gesehen streiken und dafür keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen erleiden dürfen, so sind ihre direkten Vorgesetzten in vielen Fällen ebenfalls ihr Lehrpersonal. Hier gilt es Studierende vor eventueller Willkür zu schützen. Am besten lässt sich dies verwirklichen durch eine kollektive Niederlegung der Arbeit an den Hochschulen und durch Solidarität mit den studentischen Beschäftigten. Kurzum: Wir brauchen einen Vollstreik, der den Hochschulbetrieb lahmlegt!

Denn diese kollektive Aktion birgt eine Chance, die Individualisierung im wissenschaftlichen Alltag zu durchbrechen. Hier ist die Streikbereitschaft allgemein recht gering. Viele fürchten, wenn sie sich als zu kämpferisch unter den KollegInnen darstellen, das ihren beruflichen „Aufstieg“ behindern würde. Denn dieser steht, vielen Demokratisierungsversuchen zum Trotz, vor allem unter Kontrolle der ProfessorInnen und DirektorInnen der Institute. Wir stellen dem die demokratische Kontrolle der Hochschule durch Studierende, Lehrende und die ArbeiterInnenbewegung entgegen.

Letztlich liegt es auch in der Verantwortung von ver.di und GEW, den Arbeitskampf mit den vielen Tarifrunden, die Anfang 2018 beginnen, zu verbinden. Die Tarife für die studentisch Beschäftigten sollten außerdem in Zukunft koordiniert mit allen Beschäftigten an den Unis geführt werden. So kann der Arbeitskampf erfolgreich gestaltet und die gewerkschaftliche Organisierung unter den Studierenden massiv gesteigert werden.




Gegen den Kahlschlag – Solidarität den Siemens-Beschäftigten!

Jürgen Roth, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

Weltweit will der Siemens-Konzern 6.900 Stellen in der Gasturbinen- und Antriebstechnik streichen, davon die Hälfte an deutschen Standorten. In dieser Sparte arbeiten dort noch rund 16.000 Menschen in den Werken Mülheim/Ruhr, Berlin, Leipzig, Essen, Duisburg, Erfurt, Offenbach und Görlitz. Die Turbinenwerke in Görlitz und Leipzig sollen ganz geschlossen werden. Das beträfe 920 Arbeitsplätze, in Berlin 870 und in Mülheim 640. Auf der Kippe steht auch der Offenbacher Betrieb. Zusammen mit Erfurt bildet diese Fabrik den Siemens-Bezirk Mitte mit 1.500 Jobs.

Im Laufe des November fanden Proteste mit mehreren tausend TeilnehmerInnen in Leipzig, Erfurt, Görlitz, Offenbach und Berlin statt. Allein am 23. vergangenen Monats versammelten sich 2.500 Protestierende aus allen Standorten vor dem Neuköllner Estrel-Hotel, wo der Siemens-Gesamtbetriebsrat tagte, zu einer eindrucksvollen Kundgebung.

Wirtschaftlicher Hintergrund

Besonders erregt die Beschäftigten, dass die Schließungs- und Entlassungsankündigungen knapp 2 Wochen nach der Bekanntgabe eines Rekordkonzerngewinns von ca. 6 Mrd. Euro erfolgte. Zudem will Siemens ein Viertel seiner Aktienanteile der Medizinsparte an der Frankfurter Börse platzieren. Es wird erwartet, dass der Börsengang ca. 10 Mrd. Euro einbringen wird und damit mindestens den zweitgrößten Gründergewinn (Kapitalisierung von Aktienanteilen) in der Geschichte der BRD nach der Börsennotierung der Telekom 1996.

Begründet wird dies von Siemens-Geschäftsführer Joe Kaeser und seiner Personalchefin Janina Kugel mit Überkapazitäten: die Energiewende verringere die Nachfrage nach Gaskraftwerken, die Industrie ordere zudem immer weniger große Elektromotoren. Eine vernünftige Energie- und Verkehrswende müsste dagegen die Nachfrage auf beiden Sektoren sprunghaft ansteigen lassen, will man den Ausstieg aus Kohle und Verbrennungsmotoren ernsthaft forcieren. Gaskraftwerke lassen sich kurzfristig zu- und abschalten, was für eine Glättung der Stromproduktion angesichts unstet anfallender elektrischer Energie aus Sonnen- und Windkraft die ideale Ergänzung darstellte, solange nicht das Speicherproblem der erneuerbaren Energien gelöst ist.

Empörung

Die Kundgebungen, Demonstrationen und Schweigemärsche erfuhren verbale Zustimmung durch Gewerkschaften, SPD und DIE LINKE, darunter Bodo Ramelow, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und der SPD-Vorsitzende Martin Schulz. Aus dem IG Metall-Funktionärskörper war Kritik an Siemens-Vorstand und -Aufsichtsrat zu hören wie: soziale Kälte, kurzlebige Profitinteressen. Es wurde darauf verwiesen, dass Siemens jüngst das größte Gas- und Dampfturbinenkraftwerk in Ägypten ausgerüstet habe. Die Konzerngeschäfte allein auf dem Energiesektor seien mit 7 Mrd. Euro Hermesbürgschaften (staatliche Exportkreditgarantien) gestützt worden. Ein solcher Kahlschlag nahezu im gleichen Atemzuge mit der Verkündung des Mega-Börsengeschäfts löste nur Kopfschütteln aus. Die zu erwartenden Einnahmen daraus überstiegen außerdem bei weitem die Einsparmöglichkeiten im Turbinen- und Elektromotorengeschäft. Schließlich verstießen die Schließungs- und Kündigungspläne gegen die seit 10 Jahren geltende Vereinbarung zur Standort- und Beschäftigungssicherung.

Dass sich AfD-Rechtsaußen Höcke einige Zeit unbehelligt in den vorderen Reihen der IGM am Erfurter Schweigemarsch beteiligen durfte, wurde noch als schlaue Taktik durch die Bezirksleitung verkauft, um ihn und seine Partei nicht durch Handgreiflichkeiten noch mediale Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Was haben Mitglieder einer Landtagsfraktione, die rassistisch gegen andere Lohnabhängig hetzen und sich obendrein im Parlament auf die Seite des Unternehmens gestellt haben, auf einer gewerkschaftlichen Gegendemonstration zu suchen?

Außer Spesen nix gewesen?

Nach Bekanntwerden der Pläne hatten Betriebsrat und IG Metall Werksschließungen und betriebsbedingte Kündigungen als tabu bezeichnet, Gespräche darüber abgelehnt und mit Streiks gedroht. Am 30. November erklärten sie sich jedoch zu ergebnisoffenen Gesprächen mit dem Management bereit. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, dass zeitgleich die SPD ihre „Prinzipien“ gegenüber einer Neuauflage der Großen Koalition mit ähnlichen Worten über Bord warf!

Dies ist ein Stoß in den Rücken der Siemens-Belegschaft und zeigt den Wert der „Kritik“ am Siemens-Kapitalismus der IG Metall-Spitze: moralisches Pfaffengeschwätz, Jammern über die Auswüchse des Kapitalismus bei Unterstützung seines Profitstrebens, magischen Glauben an den Zaubertrank „Beschäftigungs- und Standortsicherung“, Sozialplan statt Streik, Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf!

  • Für vollständige Rücknahme der Schließungs- und Entlassungspläne bei Siemens!
  • Vollstreik statt Sozialplanverhandlungen!



IG Metall: Tarifrunde in Zeiten der Regierungskrise

Frederik Haber, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

Die Metall-Tarifrunde hat begonnen. Die erste Verhandlungsrunde hat in den verschiedenen Tarifbezirken bereits stattgefunden. Traditionell werden da nur Erklärungen abgegeben. Es gehört aber auch zum Verhandlungsritual, dass die IG Metall dieses erste Gespräch mit einer Kundgebung verbindet – meist einer kleinen, damit die darauffolgende umso größer wird.

Erstaunlicherweise war die größte dieser Vorfeldkundgebungen in Zwickau, wo mit über 1.500 DemonstratInnen mehr als erwartet kamen, während in Sindelfingen im starken Bezirk Baden-Württemberg nur 300 erschienen.

Zum einen beteiligten sich starke Delegationen von Bombardier und Siemens in Zwickau, die von der Stilllegung ihrer Werke bedroht sind. Zum anderen zeigt dies, wie hoch der Druck im Osten ist, das Thema 35-Stundenwoche endlich anzugehen. Beide Fragen beherrschten auch die Reden in Zwickau, obwohl doch die IG Metall das Thema Osten nur als Nebenforderung aufgestellt hat – gegen den ursprünglichen Willen des Vorstandes: „Für die ostdeutschen Tarifgebiete will die IG Metall eine belastbare Verhandlungsverpflichtung für einen Prozess zur Angleichung der Entgelte, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen erreichen.“

Wie ernst es dem Vorstand mit dieser in Bürokratenlyrik verpackten Forderung ist, belegt die „metallzeitung“ vom Dezember: Weder im Vorwort des Vorsitzenden noch im 6 Seiten langen Hauptartikel kommt sie auch nur andeutungsweise vor.

Der Angriff auf die Arbeitsplätze bei Siemens und Bombardier ist sicher kein Ausrutscher. Es steht eine neue Welle von Schließungen und Entlassungen an. Die Forderungen der Unternehmerverbände an die gescheiterten Jamaika-KoalitionärInnen zeigen, wohin die Reise gehen soll: Rentenalter erhöhen, also auch Renten kürzen, Arbeitszeiten entgrenzen und so auch verlängern.

Arbeitszeitverkürzung ist auch eine Antwort auf Arbeitslosigkeit durch Stilllegungen, Verlagerung und Rationalisierung – nicht nur eine vorübergehende Sache, um „zum Leben zu passen“, wie die IG Metall ihre Forderung nach befristeter individueller Arbeitszeitverkürzung verkauft.

Der Weg, in dieser Tarifrunde aus der Defensive zu kommen, heißt:

  • Die Kontrolle über den Kampf dadurch zu erlangen, dass die Entscheidung über die Aktionen bei der Belegschaft, den Gewerkschaftsmitgliedern und von ihnen gewählten Streikkomitees oder ihren VertreterInnen, den Vertrauensleuten, liegt.
  • Die Kontrolle über die Arbeitszeit: Die Beschäftigten müssen in ihren Abteilungen Forderungen nach mehr Personal zur Entlastung der Arbeitenden aufstellen. Die Betriebsräte müssen sich das zu eigen machen. Die Strategie der Konzernführung, überall noch mehr aus den Menschen rauszupressen, muss von der Gewerkschaft generell bekämpft werden – nicht mit Trostpflastern für die, die nicht mehr können.
  • Zusammenlegung und enge Koordinierung des Kampfs um Entgelt, Verteidigung der Arbeitsplätze und Arbeitszeitregelung im Westen mit dem um Verkürzung auf 35 Stunden im Osten – dazu braucht es Kontrolle über die Kampftaktik und über etwaige Verhandlungen. Kein Abschluss, kein Aussetzen von Aktionen ohne Zustimmung der Basis!

Die Regierungsbildungskrise gibt dieser Tarifrunde eine zusätzlich politische Tragweite: Will die IG Metall im Schlepptau der SPD wieder an den Katzentisch einer Großen Koalition oder wieder mehr Unabhängigkeit von Kabinett und Kanzlerin, um gegen die Angriffe des Kapitals zu kämpfen?

In der letzten Regierung stellte den Preis für ein – vorübergehend – abgesenktes Renteneintrittsalter für „besonders langjährig Versicherte“ der Verzicht auf den Kampf für eine Rücknahme der Rente mit 67 und gegen ein Absinken des Rentenniveaus auf 44 Prozent des letzten Einkommens dar. Der Preis für eine Reform des Leiharbeitsgesetzes lag im Verzicht auf eine Reform der Erbschaftssteuer, was für die LeiharbeiterInnen gar nichts, den reichen ErbInnen Millionen brachte.

In der nächsten Koalition wird das Kapital von der SPD wieder ganz anderes fordern als nur den Verzicht auf schon in Koalitionsverträgen zugesagte Reformen. Die UnternehmerInnen verlangen die Zustimmung zu Angriffen auf die Arbeiterklasse im Stile einer Agenda 2010.

Eine kämpferische Tarifrunde ist also zugleich eine gute Basis für GewerkschafterInnen dafür, um der SPD zu sagen: keine Große Koalition! Wenn ihr was Gutes tun wollt, dann kämpft auf der Straße und in den Betrieben gegen alle Angriffe auf Arbeitende, Arbeitslose und RentnerInnen! Für die Einheit der Klasse gegen das Kapital!

 




Palästina – Trump entsorgt Zweistaatenlösung

Susanne Kühn, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

Am 6. Dezember, kurz bevor wir in Druck gehen, verkündet Donald Trump die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels. Es war kein spontaner Tweet, sondern ein bewusster Schritt reaktionärer Eskalation.

Zweifellos war der Schritt auch innenpolitisch motiviert. Seine rassistische Fangemeinde aus weißen Evangelikalen bis zu Hardcore-Neocons jubelt. Das US-Politestablishment kritisiert allenfalls Form und Zeitpunkt der Entscheidung, nicht jedoch den Inhalt. Der Sprecher der RepublikanerInnen im Abgeordnetenhaus, Paul Ryan, zeigte sich gar in selten freudiger Einigkeit mit seinem Präsidenten.

Natürlich begrüßt die Regierung Netanjahu den Beschluss, stellt er ihr doch einen weiteren Freibrief für Expansion, Aggression und die schrittweise Vertreibung der PalästinenserInnen aus. Der zionistische Staat wird die aktuelle Situation wahrscheinlich zu einer weiteren Offensive bis hin zu groß angelegten Vertreibungsaktionen zu nutzen versuchen.

In Verlegenheit bringt Trump jedoch die pro-amerikanischen, arabischen Regime in Ägypten, Jordanien und insbesondere Saudi-Arabien. Diese haben sich längst mit dem zionistischen Regime arrangiert. Mit Trumps Ankündigung wurden jedoch die sog. „Zweitstaatenlösung“ und der „Friedensprozess“ einmal mehr als politische Feigenblätter der kolonialen Expansion eines pro-imperialistischen Frontstaats entlarvt.

Das Klagelied, dass der „Friedensprozess” ständig unterminiert würde, erinnert an politische Leichenbeschwörung. Die „Zweistaatenlösung“ – eine politische Sackgasse von Beginn an – wird mit Trumps Außenpolitik wohl endgültig zu Grabe getragen.

Das Problem der saudischen, jordanischen oder ägyptischen Regierung – und auch der Führung der „Palästinensischen Autonomiebehörde“ besteht darin: Nicht der „Friedensprozess“ hat mit der Entscheidung Trumps an Substanz verloren – die hatte er ohnedies nie. Vielmehr wird dieser Rechtfertigungsformel für Kollaboration mit dem Zionistenregime der Boden entzogen.

Unsere Solidarität gilt in dieser Stunde den Unterdrückten, der palästinensischen Bevölkerung, die mit einem Generalstreik, mit Tagen des Zorns ihren Widerstandswillen zeigt. Eine neue Intifada steht auf der Tagesordnung.

Solidarität!

Diese könnte die „Neuordnung der Region in Frage stellen. Dabei dürfen wir nicht auf falsche Verbündete – die reaktionären Regime in Teheran, Ankara oder Damaskus – vertrauen, deren „Anti-Imperialismus“ nur die notdürftige Fassade zur Legitimation ihrer menschenverachtenden Herrschaft darstellt.

Entscheidend wird die Reaktion der Massen sein. Die Verbindung des Befreiungskampfes mit dem Widerstand gegen die reaktionären Regime könnte eine neue fortschrittliche und revolutionäre Dynamik in der gesamten Region entfalten. In den imperialistischen Ländern, deren Regierungen offene UnterstützerInnen der Besatzungspolitik sind, müssen wir einen politischen Kampf gegen die Unterstützung Israels führen.

Zweifellos wird unsere Ablehnung der US-amerikanischen und israelischen Politik wie deren Unterstützung durch den deutschen Imperialismus bedeuten, dass unsere Solidarität mit den vom zionistischen Staat Unterdrückten diffamiert wird. In den letzten Monaten haben wir das immer wieder erlebt – bei der versuchten Kriminalisierung palästinensischer Organisationen, bei Kampagnen gegen BDS oder auch gegen den Internationalistischen Blocks durch sog. Linke.

So wenig wir mit den reaktionären „anti-zionistischen“ Regimen gemein haben, so deutlich haben wir immer wieder gemacht, dass Antizionismus kein Antisemitismus ist, dass AntisemitInnen, die sich dem Befreiungskampf anschmieren wollen, aus unseren Reihen vertrieben werden. Nicht jene, die sich mit den PalästinenserInnen solidarisieren, die ihren Kampf gegen die UnterdrückerInnen unterstützen, haben sich zu rechtfertigen. Wer sich mit Trump und der Besatzung solidarisiert, diese in Schutz nimmt oder relativiert, entlarvt sich nur selbst als rassistischer Helfershelfer der bestehenden Ordnung.




Scheitern der Sondierung offenbart politische Krise

Thesen der Gruppe ArbeiterInnenmacht, 8. Dezember 2017, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18

1. Das Scheitern der Sondierungen um eine Jamaika-Koalition lässt eine tiefe politische Krise offen zutage treten. Diese kommt nicht überraschend, wenn auch deren unmittelbare Ursache – der Abbruch der Verhandlungen durch die FDP – verwundert hat.

2. Seither ist auch deutlich geworden, dass der Schritt der Liberalen keineswegs „spontan“ erfolgte, sondern vorbereitet war. Neben parteitaktischen Überlegungen lagen dem Scheitern durchaus reale Differenzen zugrunde, obwohl die Sondierungen knapp vor der Einigung standen. Die Grünen hatten einen weiteren Schritt nach rechts und zum „Patriotismus“ hin gemacht. Bei der Frage der Migration setzte sich die CSU weitgehend durch.

3. Die Verhandlung scheiterte an der FDP, weil sie eine andere, weit stärker neo-liberale Ausrichtung bürgerlicher Politik verfolgt und vor allem in der Europafrage zu weit gehende Zugeständnisse an „Umverteilung“, „Etatismus“ und „grüne Umweltpolitik“ erblickt. Hinzu kommt, dass die FDP stärker auf einen national-liberalen Kurs schwenkt, für den der österreichische ÖVP-Kanzler Kurz teilweise als Vorbild dient. Zweifellos waren alle 4 verhandelnden Parteien „pro-europäisch“ in dem Sinn, dass sie eine globale Stärkung der EU unter deutscher Vorherrschaft anstreben. Aber die Liberalen vertraten eine Linie, den halb-kolonialen Ländern des Südens keine Zugeständnisse in der Frage Schulden und Austerität zu machen und auch Frankreich keinen Spielraum für Investitions- und Konjunkturprogramme zu gewähren. Die Mehrheit der Union und die Grünen verfolgten und verfolgen ähnlich der SPD einen anderen Kurs. Sie gehen davon aus bzw. sehen sich gezwungen anzuerkennen, dass eine Überwindung der EU-Krise und der Aufbau eines schlagkräftigen Blocks im längerfristigen Interesse des Gesamtkapitals auch gewisse Konzessionen an den strategischen imperialistischen Verbündeten Frankreich und selbst an die schwächeren Staaten erfordern. Ansonsten droht die EU und auch die Euro-Zone zu zerbrechen.

4. Auch wenn diese Frage in den öffentlichen Stellungnahmen von denen der „ökologischen Wende“, der Migration, des Soli, … überlagert wurde, so bildet sie den Kern der Probleme und auch der politischen Krise. Die deutsche Bourgeoisie vermochte zwar ihre ökonomische Dominanz über die anderen Länder in Europa zu stärken, aber sie konnte die EU nicht erfolgreich zu einem Block formieren, der federführend um die Neuaufteilung der Welt kämpft. Im Gegenteil, diese ist krisengeschüttelt (Brexit, Lage in Spanien, Italien, …) und die deutsche Vorherrschaft geschwächt. So konnte die Regierung Merkel zwar eine Austeritätspolitik gegenüber Griechenland durchsetzen, aber sie wurde in der sog. „Flüchtlingskrise“ erfolgreich von rechts herausgefordert. Ebenso wenig konnte sie den Brexit Britanniens verhindern. In den meisten europäischen Ländern – und mit dem Wahlerfolg der AfD auch hierzulande – sind rechts-populistische, nationalistische, rassistische, rechts-extreme oder gar (halb)faschistische Gruppierungen auf dem Vormarsch, deren gemeinsamen Nährboden das drohende Scheitern der EU bildet. All das führt dazu, dass die EU trotz eines gewissen konjunkturellen Aufschwungs in einer tiefen, historischen Krise steckt, die auch die anderen Fragen prägt. Der „geschäftsführende Ausschuss“ der herrschenden Klasse und die deutschen Think-Tanks haben keine einheitliche Antwort auf die Frage, ja sie wird in der Regel nicht einmal offen diskutiert. Das „System Merkel“, das die deutsche Vormachtstellung „moderierend“ einführen wollte, sich vor allem auf das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands und auf die Dominanz von EU-Institutionen verließ, ist praktisch gescheitert. Das ist die eigentliche Ursache seines „Autoritätsverlustes“. Das hat zugleich reaktionäre Antworten gestärkt – insbesondere in Form der AfD, aber darüber hinaus auch im gesamten übrigen bürgerlichen Lager. Das Scheitern der Sondierungsgespräche schafft für die EU ein weiteres Problem, da ihre Führungsmacht geschwächt wurde und wenig bis gar nicht in Erscheinung treten kann. Daher droht ein weiteres Zurückfallen hinter die USA und China, aber auch Russland.

5. Die Verhandlungen fanden zugleich vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung im Inneren statt. Seit dem Beginn des Jahrhunderts und vor allem seit Einführung der Agenda-Gesetze wächst die soziale Ungleichheit zwischen den Klassen, aber auch innerhalb ihrer. Auch das schwächte die Bindungskraft von CDU/CSU und SPD in ihren „traditionellen“ Milieus nachhaltig. Da die SPD ohnedies die Politik der herrschenden Klasse administrierte und die Linkspartei zu keiner kämpferischen, sichtbaren Oppositionspolitik fähig war, verschob sich das politische Spektrum nach rechts. Nicht nur die SPD verlor Millionen Lohnabhängige. Immer größere Teile von ihnen fallen permanent durch den Rost „sozialpartnerschaftlicher“ Politik – und jene, die noch davon mäßige Verbesserungen erfahren, fürchten selbst früher oder später zum wachsenden Teil „prekärer“ Sektoren entsorgt zu werden. Die Krise der CDU/CSU führte dazu, dass sie ihre Funktion als vereinheitlichende bürgerliche „Volkspartei“ nicht mehr erfüllen kann. So fürchten AnhängerInnen aus kleinbürgerlichen und Mittelschichten, dass ihnen die CDU/CSU keine Zukunft und Stabilität sichern könne und suchen nach Alternativen. Das offen bürgerliche Spektrum ist heute de facto in fünf Parteien (AfD, CDU, CSU, Grüne, FDP) im Parlament zersplittert. Diese Uneinheitlichkeit des bürgerlichen Lagers spiegelt nicht nur die tiefe Spaltung der Bourgeoisie selbst wider, sondern auch die zunehmende Schwierigkeit, andere Klassen an sie zu binden. Es wird zunehmend schwieriger, eine Regierung des ideellen Gesamtkapitalisten zu bilden, weil schließlich immer mehr divergierende, ja entgegengesetzte bürgerliche Ideologien und Interessensgruppen unter einen Hut gebracht werden müssen.

6. Die herrschende Klasse ist in dieser Situation gezwungen, eine politische Krise offen anzuerkennen. Sie kann von Glück sagen, dass die konjunkturelle Lage zur Zeit noch relativ günstig ist. Das moderate Wachstum wird sich wahrscheinlich 2018 in Deutschland wie in der EU fortsetzen. Das ermöglicht kurzfristig eine Entschärfung der Verschuldungsproblematik auf dem Kontinent und hierzulande auch gewisse Verteilungsspielräume. Andererseits wird der Niedriglohnsektor, der Bereich unsicherer oder prekärer Verhältnisse fortbestehen, wenn nicht sogar anwachsen. Für mehr und mehr RentnerInnen droht Altersarmut. Das Wachstum der Wirtschaft könnte zu entschiedener geführten Tarifrunden führen, weil der Verteilungsspielraum noch günstig ist. Zugleich stellen aber auch drohende Massenentlassungen wie bei Siemens und Thyssen-Krupp Vorbotinnen für kommende Entwicklungen dar.

7. In der aktuellen politischen Krise drängen die herrschende Klasse, bürgerliche Medien, „ExpertInnen“ und alle „respektablen“ bürgerlichen Parteien, also die vier, die an der Sondierung beteiligt waren, auf die „staatspolitische Verantwortung“ der SPD. Neuwahlen sollen vermieden werden. Sie würden wahrscheinlich nicht nur die AfD stärken, sondern gleichzeitig auch keine anderen Koalitionsmöglichkeiten eröffnen. Während die Grünen, Teile der CDU und die SPD die FDP für den hinterlassenen „Scherbenhaufen“ verantwortlich machen, zeigen eine Reihe bürgerlicher Leitartikel oder Kommentare, z. B. in der FAZ, Verständnis für die Liberalen. Diese dürften für das Scheitern nicht allein verantwortlich gemacht werden. Dahinter steht, dass von etlichen bürgerlichen Kreisen der FDP die Rolle einer „respektablen“ Opposition zugedacht wird, die einerseits mehr Neo-Liberalismus einfordern, andererseits der AfD die Rolle der rechten Kritikerin an der Regierung streitig machen soll.

8. Eindeutlich favorisiert wird in der aktuellen Lage von bürgerlicher Seite die Bildung einer erneuten „Großen Koalition“. Diese wird sowohl Neuwahlen wie auch einer Minderheitsregierung von CDU/CSU oder aus Union/Grünen vorgezogen. Auch ein Einbeziehen der Grünen in eine Kenia-Koalition mit CDU/CSU und SPD ist unwahrscheinlich. Daher wurde seit dem Scheitern der Sondierung der Druck auf die SPD massiv erhöht. Noch am Montag, dem 20.11., hatten Parteivorstand und der Vorsitzende eine Große Koalition (GroKo) ausgeschlossen. Dann sollte zumindest darüber gesprochen werden. Der Druck kam dabei nicht nur aus dem offen bürgerlichen Lager. Ein Flügel der SPD forderte offen ein „Überdenken“ der Position. Bundespräsident Steinmeier übernahm eine besonders wichtige und bedeutende Funktion. Er hatte erste Gespräche mit auf den Weg gebracht und wird auch in Zukunft die beträchtliche formelle Macht seines Amtes sowie seine über den Parteien zu stehen scheinende Autorität für die Lösung der politischen Krise in die Waagschale werfen. Die Führungen der Industriegewerkschaften sind eindeutig Treiberinnen für eine neue GroKo, betrachten sie doch die letzte als eine Regierung, in der vieles für die „ArbeitnehmerInnen“ getan worden sei: Nahles-Rente, Mindestlohn, Leiharbeit und – was sie nicht offen sagen – die Einschränkung des Streikrechts für missliebige KonkurrentInnen. Mit seiner Entscheidung, „ergebnisoffen“ in Gespräche mit CDU/CSU einzutreten, ist der SPD-Vorstand dem Druck weitgehend entgegengekommen. Die Parteiführung bemüht sich zwar immer wieder zu betonen, dass „alles offen sei“, dass ein „Maximum“ an sozialdemokratischer Politik in einer etwaigen Koalition sichtbar sein müsse. Dies sind aber vor allem Mittel, die SPD-Mitgliedschaft schrittweise auf eine neue politische Katastrophe einzustimmen. Der Mehrheitsbeschluss des SPD-Parteitages vom 7. Dezember ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.

9. Die Bildung einer Großen Koalition (oder einer GroKo plus unter Einschluss der Grünen) wäre ein politischer Rückschlag für die ArbeiterInnenklasse. Sie würde eine weitere Periode der Klassenkollaboration zwischen der Hauptpartei der Bourgeoisie und der bürgerlichen ArbeiterInnenpartei SPD in Regierungsform bedeuten. Die SPD würde, vermittelt über die Gewerkschaftsbürokratie und deren Apparat, die zumindest in den industriellen Kernbereichen einer Großen Koalition zuneigen, die Lohnabhängigen auf politischer Ebene an die Regierung, an das Kapital binden. Die Gewerkschaftsführungen würden wie schon in den letzten vier Jahren etwaige gewerkschaftliche und betriebliche Auseinandersetzungen immer in Hinblick auf die Stabilität der Regierung führen, sprich beschränken oder hintertreiben. Die drohende Stärkung der AfD würde nicht nur von SPD-Seite als Argument für die Große Koalition verwendet werden, sondern auch für die Gewerkschaften zur Rechtfertigung einer „moderaten“ Politik, die auf Partnerschaft mit Kapital und Kabinett abzielt. In Wirklichkeit wird die Beteiligung der SPD an einer Großen Koalition und die Fortsetzung der Gewerkschaftspolitik der letzten Jahre weitere unzufriedene WählerInnen aus der ArbeiterInnenklasse in Richtung AfD treiben. Der Sozial-Chauvinismus und die Standortpolitik werden sich auch unter einer neuen Großen Koalition nicht als Mittel gegen die Rechten, sondern als deren Wegbereiter erweisen.

10. Die Bildung einer Großen Koalition ist jedoch keine ausgemachte Sache. Schulz und die Mitglieder des SPD-Vorstandes wissen, dass ihre Aufkündigung eine der wenigen populären Entscheidungen seiner Zeit als Parteivorsitzender war. Nun sollen die Mitglieder für eine weitere Große Koalition durch angeblich „offene“ Gespräche, die jedoch auf eine Neuauflage der Katastrophe zielen, weichgekocht werden. Die CDU wird sich dabei vergleichsweise handzahm zeigen, während die SPD-Spitzen so tun werden, als hätten sie „eine neue Situation“ geschaffen. Ähnlich wie bei den Jamaika-Verhandlungen wird es heftigere Konflikte mit der CSU und dem rechten Flügel der Union bei der Frage des Familiennachzugs für geduldete Geflüchtete wie generell in der Migrationspolitik geben (Abschiebungen nach Syrien, Obergrenze). Auf keinen Fall sollte sich irgendjemand auf angeblich „rote Linien“ der SPD-Führung in den Verhandlungen verlassen. Natürlich ist sich die Führung der Partei bewusst, dass eine weitere Große Koalition die deutsche Sozialdemokratie ähnlich ruinieren könnte wie die Politik Hollandes die französische. Daher will sie die Verantwortung für eine solche Katastrophe wie für die Koalitionsbildung insgesamt auf die Mitglieder in Form einer Urabstimmung abwälzen. Zugleich behält sie jedoch die volle Kontrolle über die Verhandlungsführung und auch über die Präsentation des möglichen Ergebnisses von Gesprächen und Koalitionsverhandlungen. Diese pseudo-demokratische Taktiererei muss scharf angegriffen werden.

11. Inner- wie außerhalb der SPD müssen alle, die gegen die Neuauflage einer Großen Koalition sind, eine offensive Kampagne dagegen starten. Sie müssen jedes Zugeständnis, jeden Winkelzug der SPD-Führung entlarven. Alle SPD-Gliederungen sollen dem Beispiel der Jusos folgen, die sich offen gegen eine neue Große Koalition gewandt haben, gegen Sondierungsgespräche und etwaige Verhandlungen. Aber auch die Position der Jusos ist inkonsequent, wenn sie die Unterstützung einer offen bürgerlichen Minderheitsregierung nicht ausschließen. Daher muss die Ablehnung von Koalitionsverhandlungen um die Forderung ergänzt werden, dass die SPD auch keine bürgerliche Minderheitsregierung der Union oder von Union/Grünen tolerieren oder stützen darf. Darüber hinaus sollte der sofortige Rücktritt der SPD und ihrer MinisterInnen aus der „geschäftsführenden Regierung“ gefordert werden. In den Gewerkschaften sollten ebenfalls möglichst viele Gliederungen offen gegen eine Neuauflage der Großen Koalition eintreten. Aktive, klassenkämpferische Mitglieder sollten die Diskussion der Regierungsfrage und eine klare Positionierung der Gewerkschaften auf Versammlungen einfordern. Die Linkspartei sollte ebenfalls eine Kampagne gegen eine neue Große Koalition starten.

12. DER LINKEN käme eine Schlüsselrolle in der aktuellen Lage zu. Sie könnte eigentlich die SPD vor sich hertreiben, von links unter Druck setzen. Doch sie bleibt wesentlich passiv, erklärt, dass sie „vor Neuwahlen keine Angst hätte“ und mit der SPD in der Opposition zusammenarbeiten will. Was das heißen soll, für welche Forderungen und Ziele sie kollaborieren will, lässt sie im Dunkeln. Das Wort Mobilisierung kommt ihr nicht über die Lippen. Stattdessen beharkt sich die Führung der Partei selbst. Oskar Lafontaine greift die Linke von rechts an, wenn er eine „neue Sammlungsbewegung“ propagiert, die – natürlich unter seiner unhinterfragten Führung – Linkspartei- und SPD-übergreifend eine neue „einigende“ Kraft etablieren soll, die ähnlich wie Mélenchons „La France insoumise (Das widerspenstige Frankreich)“ Sozial-Chauvinismus, Patriotismus und Rückkehr zum Sozialstaat verbinden möge. Diese links-populistische Linie vertritt auch Wagenknecht in der Linkspartei. Die Krise der Linken wird dieses Projekt, sofern es über eine Kopfgeburt hinauskommen sollte, nicht lösen, sondern nur vergrößern.

13. Doch auch die Linken in der Linkspartei und links von ihr verharren in eigentümlicher Passivität angesichts der Lage. Ein Teil (z. B. Der Funke) fordert Neuwahlen, von denen angeblich auch die Linkspartei profitieren würde – sei es mit einer anderen Politik, die anscheinend vom Himmel fallen sollte, oder einfach aufgrund des Rechtsrucks der Grünen und der Unfähigkeit der SPD, die der Linken Stimmen quasi-automatisch zutreiben würden. Neuwahlen als solche werden nichts lösen (für Linke). Die Forderung liefert vielmehr einen falschen, elektoralen Fokus auf die politische Krise. Ein großer Teil der „radikalen Linken“ hat sich bis heute zum Ende der Sondierung nicht oder nur sehr knapp geäußert. Die „post-autonomen“ Strömungen widmen sich der politischen Krise erst gar nicht, die MLPD hat noch nichts veröffentlicht, die DKP stellt in einem Absatz gerade mal fest, dass die „Krise der Regierung“ nicht unsere sei. Die AKL veröffentlicht die recht ausführliche SAV-Stellungnahme, die ihren Fokus auf die Vorbereitung der Linken zu Neuwahlen legt. RIO kommentiert auch nur das Zeitgeschehen und fürchtet, dass von allen Entwicklungsmöglichkeiten die Rechten profitieren. Kaum eine Gruppierung fordert von der SPD, keine Große Koalition zu bilden oder eine Minderheitsregierung nicht zu unterstützen. An ehesten findet sich eine Andeutung davon noch bei ISO und der Führung der Linkspartei. Diese unmittelbar zentrale Frage wird beim Gros aber einfach ausgeblendet, womit die „radikale“ Linke (jedenfalls bisher) politisch hinter die Führung der Linkspartei oder die Jusos zurückfällt!

14. Eine Kampagne gegen eine Neuauflage einer Großen Koalition inner- und außerhalb der SPD und vor allem in den Gewerkschaften sollte damit verbunden werden, von SPD, Linkspartei, Gewerkschaften, der radikalen Linken, sozialen Bewegungen zu fordern, die politische Krise zu ihren Gunsten zu nutzen. Dazu braucht es auf der Straße, in den Betrieben, an Schulen und Unis eine Mobilisierung für unmittelbare soziale und politische Forderungen – kurz eine ArbeiterInneneinheitsfront zum Kampf gegen rechts und die zu erwartenden Angriffe auf Errungenschaften unserer Klasse. Für eine solche Einheitsfront schlagen wir folgende Forderungen vor:

  • Kampf gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse – Abschaffung der Hartz-Gesetze und aller Zwangsgesetze gegen Arbeitslose! Verbot von Leiharbeit und sachgrundlosen Befristungen! Gesetzliche Mindestpersonalbemessung in der Pflege! Mindestlohn von 12 Euro/Stunde netto! Mindestunterstützung von 1600,- für Arbeitslose und RentnerInnen! Gleicher Lohn für Frauen und MigrantInnen! 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Öffentliche Wohnungsbauprogramme für alle – finanziert aus der Besteuerung der Reichen, Immobilienspekulation und Kapitalgewinne! Enteignung leerstehenden Wohnraums zur unmittelbaren Linderung der Wohnungsnot! MieterInnenkomitees zur Kontrolle der Preise und des Baus!
  • Kampf dem Rassismus! Mobilisierung gegen AfD, rechte, rassistische und faschistische Gruppierungen! Keine Abschiebungen! Nein zur Hetze gegen MuslimInnen! Offene Grenzen für alle, gleiche StaatsbürgerInnenrechte, Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnortes für alle Flüchtlinge und MigrantInnen!
  • Programme gesellschaftlich nützlicher Arbeiten zum Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, Unis, von Gesundheit und Kultur unter ArbeiterInnenkontrolle! Programm zum ökologischen Umbau von Energiewirtschaft und Verkehr, Enteignung der Großkonzerne in diesem Sektor unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Abschaffung der Schuldenbremse! Finanzierung obiger Maßnahmen durch progressive Besteuerung von Vermögen, Unternehmen und Gewinnen!
  • Nein zur Einschränkung der demokratischen Rechte! Abschaffung aller Geheimdienste! Aufhebung aller sog. „Sicherheitsgesetze“ zur staatlichen Überwachung!
  • Nein zu Militarismus und Auslandseinsätzen! Rückzug aller deutschen Truppen aus dem Ausland! Keine Aufrüstung der Bundeswehr! Keinen Cent für die Armee!
  • Statt Nationalismus und europäischem Imperialismus: europaweiter gemeinsamer Klassenkampf gegen Austerität und zur Verteidigung der Interessen der ArbeiterInnenklasse!

15. Eine solche Einheitsfront oder selbst der entschiedene Kampf für einzelne Forderungen könnte eine Wende im Klassenkampf bewirken. Auch wenn wir keineswegs die Illusion hegen, dass die SPD-Führung, die Spitzen der Gewerkschaften oder auch die Linkspartei daran teilnehmen würden oder wollen, so schlagen wir allen Organisationen der Linken und ArbeiterInnenbewegung vor, möglichst rasch eine Aktionskonferenz einzuberufen, die nicht nur die aktuelle Lage diskutiert, sondern vor allem auch gemeinsame Aktionen beschließt und zu deren Umsetzung regionale und lokale Mobilisierungsstrukturen aufbaut. Dieser Vorschlag richtet sich insbesondere auch an die anti-kapitalistische Linke. Wenn sie in dieser Situation ihre Kräfte bündelt, zu Absprachen in der Aktion kommt, so kann sie auch auf größere Organisationen, auf Parteien wie die Linke, Gewerkschaftsgliederungen oder auf SPD-Teile, die gegen eine Neuauflage der Großen Koalition sind, realen Druck ausüben. Sie kann so dem näherkommen, was wir angesichts des Rechtsrucks brauchen: einer glaubwürdigen, klassenkämpferischen und mobilisierungsfähigen linken gesellschaftlichen Kraft, die auf alle, die die Schauze voll von Rassismus, Chauvinismus, Billiglohn und der ganzen Scheiße haben, aber keine Perspektive sehen, eine Anziehungskraft ausübt. Versucht die radikale Linke keinen Anstoß in dieser Lage zu geben, so droht eine weitere Schicht von Lohnabhängigen politisch enttäuscht zu werden, in Frust, in Passivität zu verfallen oder gar nach rechts zu gehen.

 




#MeToo-Kampagne: Erschreckende Spitze des Eisbergs

Svenja Spunck, Neue Internationale 225 Dezember 2017

Mag es auch nur die Spitze des Eisbergs sein, so ist sie schon erschreckend genug. Am 15. Oktober 2017 startete die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano mit folgendem Satz die internationale #Metoo-Kampagne über Twitter: „Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder angegriffen wurden, ‚Ich auch‘ als Status schrieben, könnten wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben.“ Daraufhin folgten über 12 Millionen Beiträge in allen möglichen sozialen Netzwerken, in denen sexuelle Gewalt gegen Frauen, oft mit sehr privaten Erlebnissen verbunden, thematisiert wurde.

Milano verbreitete diesen Hashtag, nachdem viele Missbrauchsskandale über den Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein und andere Männer aus der Filmbranche bekannt wurden. Diese Verbrechen reichen bis in die 80er Jahre zurück und waren ein offenes Geheimnis, das jahrelang nicht thematisiert wurde.

Ursprung

Ursprünglich wurde die #MeToo-Kampagne schon 2006 von der sozialen Aktivistin Tarana Burke ins Leben gerufen. Hierbei ging es in erster Linie um eine Vernetzungsmöglichkeit von afroamerikanischen Frauen wie Burke selbst, die sexuellen Missbrauch erfahren hatten. Die Aufmerksamkeit, die durch bekannte Hollywood-Darstellerinnen ausgelöst wurde, hatte die ursprüngliche Kampagne jedoch bei weitem nicht. In einem Interview mit der Washington Post erklärt Burke, dass sie aber weitaus mehr erreichen wollte, als auf das Problem aufmerksam zu machen.

Es ging auch um weitergehende Unterstützung der Betroffenen, um Selbstorganisierung und Ermutigung für alle, die ihre Erlebnisse zuvor niemandem mitteilen konnten. Sie bezweifelt jedoch, dass die aktuelle Kampagne dies leisten kann. Diese Kritik ist berechtigt, denn der Fokus der aktuellen Kampagne liegt auf dem Sensationscharakter, auf der kurzzeitigen und mutigen Stellungnahme vieler Frauen im virtuellen Raum. Vereinzelte Demonstrationen und Kundgebungen schlossen sich an, doch in der Realität überwiegen die Maßnahmen, die alle erkämpften Frauenrechte erneut in Frage stellen. Eine weitergehende Organisierungsperspektive besteht nicht.

Reaktionen

Ausgehend von dem Weinstein-Skandal zeigten unzählige Betroffene in sozialen Netzwerken, wie „normalisiert“ sexuelle Grenzüberschreitungen im Alltag sind. Der entscheidende Grund hierfür ist nicht individuelle Bösartigkeit einzelner Männer, sondern dass Frauen sich nach wie vor in sozialen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen befinden.

Ein Beispiel hierfür ist die Verurteilung der Frauenärztin Dr. Kristina Hänel aus Gießen Ende November 2017 zu einer Geldstrafe von 6000 Euro, da sie online über die Möglichkeiten der Abtreibung in ihrer Praxis informierte. Abtreibung ist in Deutschland unter bestimmten Bedingungen bis zum dritten Schwangerschaftsmonat nicht strafbar – diese zwölf Wochen werden jedoch vielen Frauen mit einer schlechten Beratung, familiärem oder religiösem Druck zur Hölle gemacht. In Berlin ziehen jedes Jahr bei dem „Marsch für das Leben“ tausende christlich-fundamentalistische AbtreibungsgegnerInnen durch die Straßen und bilden dabei einen Schulterschluss mit der AfD. Frauke Petry meint zur #MeToo-Kampagne, sie würde „von einer Minderheit instrumentalisiert, die im Stande ist, viel Vernünftiges und Liebgewordenes an Gewohnheiten und Traditionen in diesem Land zu beseitigen.“ Frauen seien objektiv anders als Männer und deshalb habe sie „nichts dagegen, dass Frauen das schwache Geschlecht sind“. In solchen Momenten fragt man sich, wo genau der Pfeiler steht, gegen den diese Person gerannt ist, die ohne die Rechte, die Frauen für sich erkämpft haben, heute nicht da wäre, wo sie ist.

Es ist nach wie vor in polizeilichen Behörden gang und gäbe, dass Frauen, die sexuelle Gewalt anzeigen wollen, nach ihrer Kleidung zum Tatzeitpunkt gefragt werden, ihnen vorgehalten wird, dass sie sich ihren Freund oder Ehemann selbst ausgesucht hätten, oder auch Hartnäckigkeit (= Stalking, Bedrohung etc.) doch eigentlich etwas wäre, worüber die Frau sich freuen solle. Den Großteil der sexualisierten Gewalt erleben Frauen in ihrem familiären Umfeld oder bei Bekannten und „Freunden“. Umso schwieriger ist es, Gehör zu finden und sich mitzuteilen, wenn den Täter alle bisher als den netten Typen von nebenan gekannt haben. Für viele Frauen ist die #MeToo-Kampagne ein emotionaler Befreiungsschlag, mit dem sie zum ersten Mal eine distanzierte, aber konkrete Aufmerksamkeit erhielten. Dennoch sollte bedacht werden, dass sich nicht alle Betroffenen äußerten und somit die Veröffentlichungen nur die Spitze des Eisberges darstellen, der kurzzeitig sichtbar wurde. Außerdem ging es im Großteil der Posts um die Ängste, die Schuldgefühle, die Wut der Frauen. Nur sehr wenige konnten ihre Täter direkt adressieren, einen #YouToo-Hashtag gibt es nicht.

Wie nicht anders zu erwarten, ließen sich auch sexistische reaktionäre Antworten nicht lange bitten. So mussten sich Frauen anhören, dass sie Männern nicht erklären würden, wo die Grenze zwischen Flirten und Belästigung liege, dass das alles ja „nur nett“ gemeint sei, oder ob sie die Reaktionen nicht provozieren würden, wenn sie sich „so“ präsentierten. Besonders verletzend war es für diejenigen, deren Erfahrungen als Lügen verunglimpft wurden, da sie nicht einmal „für eine Vergewaltigung attraktiv genug“ seien. So wurden Betroffene zum zweiten Mal angegriffen und gedemütigt. Die #MeToo-Kampagne allein konnte und kann diesen psychischen Terror nicht auffangen.

Perspektive

Hier kommt auch ein grundlegendes Problem der Kampagne zum Vorschein, deren Erfolg davon abhängt, wie viele Frauen sich individuell entscheiden, extrem persönliche Dinge der Öffentlichkeit mitzuteilen, um dem strukturellen Problem des Sexismus größere Dringlichkeit zu verleihen. Was wäre gewesen, wenn sich niemand getraut hätte, etwas zu erzählen? Oder anders gefragt: Haben sich die sexistischen Verhältnisse geändert, nachdem nun viele wissen, wer aus dem Bekanntenkreis wann, wo und wie genau sexuell belästigt wurde?

Nein, es hat sich nichts verändert. Müssen wir Frauen uns immer erst in die Opferrolle begeben, um ein paar Menschen davon überzeugen zu können, dass wir strukturell unterdrückt werden? Können wir nicht unsere Erlebnisse nur mit den Menschen teilen dürfen, denen wir vertrauen, und trotzdem politische Debatten über Sexismus führen?

Nicht nur die brutalen Geschichten der Betroffenen sind es, die Betroffenheit, Interesse und vielleicht sogar Widerstandsdrang auslösen sollten. Es wären die Geschichten der Täter, die Zahl der Schuldigen, die erniedrigenden Gedanken und die Worte, mit denen sie Frauen peitschen, die etwas in der Gesellschaft auslösen sollten, doch all dies bleibt vage im Hintergrund.

Die #MeToo-Kampagne thematisiert zwar die Unterdrückung, macht Erfahrungen öffentlich. Aber sie bietet keine Handlungsperspektive, benennt nicht ihre unter dem Schutt von Jahrtausende alten Unterdrückungsverhältnissen begrabenen Wurzeln in der geschlechtlichen Arbeitsteilung – den Kern des stummen gesellschaftlichen Zwangs.

Es geht nicht um die Masse an Einzelschicksalen, die bis auf null verringert werden muss, um das Problem der Frauenunterdrückung zu lösen. Es geht um die Struktur, die vollkommen abgetragen werden muss, damit Frauen gleichberechtigt leben können. Frauenunterdrückung beginnt nicht bei der sexualisierten Gewalt. Sie wird vermittelt durch die Einteilung in der Schule in „geschlechterspezifische“ Ausbildung, setzt sich am Arbeitsplatz mit ungleicher Bezahlung fort und an der Uni mit der elitären Manifestierung der Rollenbilder fest, verankert sich im alltäglichen Leben der Kleinfamilie. All dies sind die Orte, an denen man aufstehen, sich organisieren und wehren muss.

Ihre Wurzel hat die Unterdrückung der Frau in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die auch in der bürgerlichen Gesellschaft herrscht, die Fesselung der Frau an Familie und private Hausarbeit. Daher nimmt der Kampf um Gleichstellung, Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, gleiche Entlohnung, gegen Prekarisierung eine wichtige Funktion ein. Der Arbeitsmarkt muss in jeder Hinsicht für Frauen zugänglich gemacht und diese gleich entlohnt werden wie Männer. Schutzmöglichkeiten für Frauen, die Opfer von Gewalt jeglicher Form geworden sind, müssen ausgebaut und zugänglich sein – in verschiedenen Sprachen, in ländlichen Gebieten und anonym. All das zielt auf die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Dass dies alles im Kapitalismus umgesetzt werden kann, glaubt wohl niemand. Deshalb ist eine erfolgreiche Bewegung gegen Frauenunterdrückung immer geknüpft an die Bewegung der ArbeiterInnenklasse, die um ihre Macht kämpft und den Kapitalismus überwindet. Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung – keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus!




Polizeirazzien gegen G20-AktivistInnen – Solidarität mit allen Betroffenen!

Martin Suchanek, Infomail 976, 5. Dezember 2017

Heute Morgen, am 5. Dezember, hat die Polizei bundesweit begonnen, Wohnungen, Läden und Versammlungsorte linker AktivistInnen und Gruppierungen zur durchsuchen. Die Razzien erfolgen nach langer Vorbereitung unter Federführung der Sonderkommission „Schwarzer Block“. Sie soll lt. Tagesschau „GewalttäterInnen“, vorgebliche „OrganisatorInnen und LogistikerInnen“ dingfest machen.

Insgesamt sollen mindestens 24 linke Treffpunkte und Privatwohnungen in 8 Bundesländern, darunter in Städten wie Hamburg, Braunschweig, Hannover, Göttingen, Stuttgart und München, durchsucht worden sein. Besonders die GenossInnen des „Roten Aufbau Hamburg“ sind dabei offenbar ins Visier der FahnderInnen und Dienste geraten. Ein Sprecher der polizeilichen Sonderkommission erklärte in einem Interview mit dem NDR, dass Ende des Jahres 3000 Ermittlungsverfahren eingeleitet werden. 155 Personen hätten sie bislang anhand von Video-Material identifizieren können.

Die Hausdurchsuchungen und Razzien verfolgen wie die gesamte Tätigkeit der Sonderkommission nur einen Zweck: die Kriminalisierung des Widerstandes gegen den G20-Gipfel im großen Stil. Die Hausdurchsuchungen sind wahrscheinlich nicht der Höhepunkt, sondern nur ein Schritt in einer weit umfassenderen Repressionswelle.

Wozu dient die Kriminalisierung?

Natürlich sind dabei die Polizeigewalt und die Außerkraftsetzung demokratischer Rechte kein Thema. Die „Krawalle“ sollen vielmehr zur Rechtfertigung des staatlichen Vorgehens dienen. Auch deshalb müssen die Durchsuchungen als von langer Hand geplante, über Netzwerke vorbereitete Aktionen gelten. Das soll z. B. durch an Demorouten angelegte „Depots“ der Protestierenden belegt werden, die ihnen ein Umkleiden auf dem Weg zu den Aktionen erlaubt hätten. Die Vorwürfe entbehren nicht einer gewissen Lächerlichkeit, dienen aber als Vorwand für eine ernstzunehmende Sache.

Die realen Verhältnisse werden dabei auf den Kopf gestellt. Die Polizei hat bekanntlich die Stadt abriegelt und in überwachte Zonen aufgeteilt, legte wirkliche Depots mit Mitteln zur Aufstandsbekämpfung an, zog tausende Einsatzkräfte in Kasernen zusammen, räumte Protestcamps, verweigerte Menschen Schlaf und Zugang zu sanitären Einrichtungen. Dabei hat sie sich wenig um das bürgerliche Recht gekümmert, umso mehr jedoch um dessen Beugung. Den Protestierenden wirft die Sonderkommission nun vor, der Polizei die Arbeit auch noch erschwert zu haben, indem nicht alle geordnet und leicht zu durchsuchen an Kontrollpunkten vorbeiliefen. Sie präsentiert gar das Umziehen auf dem Weg zu einer Demonstration als „kriminellen Akt“.

Als andere „Belege“ sollen „Drohvideos“ herhalten. Während jeden Tag rechte und rassistische HetzerInnen in Deutschland Abschiebung fordern dürfen, Volk, Blut und Heimat beschwören, MigrantInnen, Geflüchteten und „Gutmenschen“ mit Gewalt nicht nur drohen, so soll ausgerechnet ein Video, das sich gegen die menschenverachtende Politik der G20, gegen Imperialismus, Krieg, Rassismus und Ausbeutung wendet, Teil eines groß organisierten Komplotts sein.

So albern die Vorwürfe, so bitter ernst ist ihr Zweck. Es geht um die Kriminalisierung von Gruppierungen und Menschen, die über Monate an der Vorbereitung von Protest- und Widerstandaktionen gegen die G20 gearbeitet haben. Natürlich haben diese auch „Infrastruktur“ von Vorbereitungstreffen, Protest-Camps, Lebensmittelversorgung bis hin zu Schlafplätzen organisiert. Ohne solche Organisation und Logistik wäre kein längerer Protest oder gar Kampf möglich – sei es gegen eine reaktionäre Veranstaltung wie den G20-Gipfel, sei es gegen den Braunkohletagebau, sei es eine bundesweite antirassistische Mobilisierung oder ein Streik gegen Entlassungen oder für höhere Löhne.

Mit den Durchsuchungen und den weiteren Ermittlungen der Sonderkommission soll die Kriminalisierung von Protest und Widerstand massiv vorangetrieben werden – und zwar nicht nur die vom Juli 2017 in Hamburg, sondern auch alle zukünftigen. Zugleich wird der Boden für eine weitere Einschränkung demokratischer Rechte und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse vorbereitet.

  • – Solidarität mit allen von den Durchsuchungen betroffenen Personen, Gruppen und linken Zentren!
  • – Niederschlagung aller Verfahren gegen G20-AktivistInnen, Freilassung aller Festgenommenen und noch in Untersuchungshaft Befindlichen! Einstellung aller Ermittlungsverfahren und Auflösung der Sonderkommission!
  • – Beteiligt Euch an Solidaritätsaktionen mit den betroffenen GenossInnen!
  • – Gemeinsam gegen die Einschränkung demokratischer Rechte!

 




AfD-Parteitag: Die extreme Rechte wächst – und die Gegenwehr?

Bruno Tesch, Infomail 976, 4. Dezember 2017

Angesichts des Scheiterns der Regierungsverhandlungen konnte sich die AfD beruhigt und weithin unbehelligt von den anderen Parteien, die im Augenblick vor allem mit sich selbst beschäftigt sind, der Abhaltung ihres Parteitags widmen. Auch die mittlerweile wieder hoch gehandelte Neuauflage der GroKo aus den beiden großen WahlverliererInnen würde einen Rückschlag für die ArbeiterInnenklasse bedeuten, denn eine solche Regierungsbildung würde wieder große Teile der Klasse v. a. über die Gewerkschaftsbürokratie zum Stillhalten bei einem verschärft arbeiterInnenfeindlichen Programm und gesteigerten Offensiven der Bosse veranlassen.

Letztlich würde diese fortgesetzte Politik weitere Kreise der Lohnabhängigen enttäuschen und das Wählerpotenzial für die AfD erhöhen können. Eine etwaige Minderheitsregierung der Union würde die Instabilität erhöhen und das traditionelle Politmanagement der Bourgeoisie und dessen Handlungsfähigkeit noch deutlicher in Frage stellen, so dass scheinbar unverbrauchtere Kräfte Nutzen daraus ziehen und ihren Vorschlägen zur Krisenlösung mehr Gewicht in der öffentlichen Diskussion verschaffen könnten. In dieser Hinsicht ist die jetzige Lage eine Win-win-Situation für die AfD, die in der Opposition ihr rassistisches neo-liberales Programm mit einem guten Schuss Chauvinismus „sozial“ drapieren kann.

Ernsthafte Kopfschmerzen mussten dem nunmehr rechten Flügel des Parlaments auch nicht die inneren Auseinandersetzungen bereiten, die noch am Wahlabend nach außen traten, denn diese haben ihrem Status keinen Abbruch getan.

Ergebnisse des Parteitags

Auch die AfD ist selbst ein Spiegelbild der Krise der bürgerlichen Gesellschaft und als Partei noch längst kein einheitlicher Block. Der Parteitag sollte nach dem erstmaligen Einzug in den Bundestag einen wichtigen Beitrag leisten, die Fronten zu klären und die Marschrichtung der Partei festzuzurren.

Die „gemäßigte“ Richtung war nach dem Austritt der mittlerweile fraktionslosen Frauke Petry ohnedies längst erledigt. Ihrem Beispiel war kaum jemand gefolgt. Den „Blauen“ blüht wohl dasselbe Schicksal wie der wirtschaftskonservativen Lucke-Gründung „Alfa“, von der inzwischen niemand mehr spricht. Der „gemäßigte“ Flügel ist aktuell vereinzelt. Zwar gründete Beatrix von Storch Anfang Oktober die „Moderaten“ mit knapp 160 Teilnehmenden, jedoch formieren sich diese aktuell weit unterhalb vergangener Größe. Die Bahn schien also frei gemacht für die rechtsnationalistischen ParteistrategInnen, die auf Mobilisierung von in der Grundrichtung reaktionär gesinnten Elementen der Gesellschaft setzen.

Inhaltlich hat sich seit den 7 Monaten nach der Kölner Programmformierung zwar nicht viel verändert. Die programmatischen Anträge der ostdeutschen Landesverbände, die mehr „soziales“ Profil der AfD einfordern, wurden vertagt und in eine Strategiekommission ausgelagert. Aber das darf nicht über die Verschiebung der Kräfte in der AfD hinwegtäuschen.

Die personellen Entscheidungen auf dem Parteitag am 2. Dezember verdeutlichen, dass ohne den rechtsnationalistischen Flügel keine Position mehr durchsetzbar ist. Bei der Wahl der zweiten Spitze neben Jörg Meuthen ergab sich in zwei Wahlgängen keine Entscheidung zwischen dem neuerdings als „nur konservativ“ geltenden früheren Bundesgeschäftsführer Georg Pazderski und seiner von der völkisch geprägten Seite stärker favorisierten schleswig-holsteinischen Landessprecherin Doris Fürstin von Sayn-Wittgenstein.

Alexander Gauland, der selbst stark auf rechtspopulistische Mobmobilisierungen setzt, „rettete“ schließlich die Situation und ließ sich zum zweiten Bundessprecher wählen. Zweifellos stellt er nun den eigentlichen Parteivorsitzenden dar. Sein Co-Vorsitzender Meuthen ist wohl nur wegen seiner politischen Biegsamkeit weiter im Amt.

Auch wenn die Wahl zu den stellvertretenden Vorsitzenden und zu den BeisitzerInnen relativ ruhig über die Bühne ging, so ist eindeutig, dass gegen den rechts-nationalistischen Flügel – selbst eine Allianz aus extrem-nationalistischen, völkischen und faschistischen Kräften – in der AfD nichts geht. Natürlich will die Mehrheit der AfD längerfristig an die Regierung, aber, wie es Gauland formulierte, nur auf „gleicher Augenhöhe“, ähnlich der FPÖ in Österreich. Als Juniorpartner fürchten die Rechten verschlissen zu werden wie vor einigen Jahren die FDP.

Die GegnerInnen einer raschen Regierungsoption umfassen jedoch zwei Lager. Gauland und seine AnhängerInnen orientieren sich klar am FPÖ-Vorbild. Das Rechtsaußen-Lager um Leute wie Tillschneider will die Regierung erst übernehmen, sobald die AfD die Mehrheit stellt – ob per Wahl oder Putsch, lässt es dabei offen.

Daher wird die AfD in den nächsten Monaten und Jahren weiter nach rechts gehen, noch mehr auf Rassismus, auf „Heimat“, Volk und Boden setzen. Sie wird sich weiter Bewegungen wie Pediga „öffnen“, denen die Tore der Partei ohnedies nie verschlossen waren. Zugleich wird sie aber auch an ihrer eigenen „Normalisierung“ arbeiten – sei es in den Kommunen, wo erste Bündnisse mit „respektablen“ bürgerlichen Kräften nur eine Frage der Zeit sind, oder in einzelnen Landtagen, wo sie eine Zusammenarbeit mit der CDU gerade in Fragen wie „klassischen“ rechts-konservativen Themen suchen wird, von Abschiebungen, „Kriminalitätsbekämpfung“ bis hin zum Feindbild „Linksextremismus“.

ArbeiterInneneinheitsfront

Beunruhigt hätte die AfD einzig und allein durch eine massive Widerstandswelle werden können, die sie als zugespitztesten Ausdruck des Rechtsrucks in Frage stellte.

Der 2. Dezember 2017 in Hannover übertraf zwar mit an die 10.000 TeilnehmerInnen den Aufmarsch gegen den Parteitag im November 2015 sowohl in den Widerstandsformen wie auch in der Anzahl der Menschen, die sich gegen die reaktionäre Provokation in Bewegung setzte. Er blieb aber mengenmäßig um ein Drittel hinter dem Protest gegen den Hagida-Haufen im Januar 2016, ebenfalls in Hannover, zurück. Natürlich war der Staatsapparat bestens vorbereitet und tat unter Einsatz von rund 5000 PolizistInnen, also etwa 15 % des Aufgebots beim G-20 Gipfel in Hamburg, alles, um dies zu verhindern.

Im Vorwege wurde das Zoo-Viertel zu einer Festung ausgebaut. Straßenbahn- und Busverkehr in der Nähe wurden gesperrt und Halteverbotszonen für PKWs eingerichtet.

Trotzdem versuchten rund 1500 Menschen mit vier Blockaden seit dem frühen Morgen, den 600 Delegierten den Weg zu ihrem Parteitag zu versperren. Ein zusätzlicher unangekündigter fünfter Finger war ebenfalls präsent und wurde massiv angegriffen. Immerhin konnten die Blockaden erreichen, dass der AfD-Parteitag um eine Stunde verspätet starten musste. Mehr war aber angesichts der Kräfteverhältnisse an diesem Tag auch nicht möglich.

Die Polizei räumte einzelne Blockaden, wobei mittels Wasserwerfern gegen die DemonstrantInnen vorgegangen wurde, wobei es etliche Verletzte gab. Mehrere Personen wurden in Gewahrsam genommen.

Die Blockaden hätten jedoch auch effektiver sein können, wenn sie auch größere Kräfte unterstützt hätten. So wurden sie vor allem von Gruppierungen der radikalen Linken, anti-rassistischen und anti-kapitalistischen Kräften getragen.

Die Verantwortung dafür liegt eindeutig beim reformistischen und kleinbürgerlichen Teil der VeranstalterInnen der Protestaktionen. Einige ihrer SprecherInnen schmusten sich regelrecht als gehorsame StaatsdienerInnen an. Sie hatten anders als beim Parteitag im November 2015 die Demoroute in umgekehrte Richtung, also vom AfD-Tagungsort weg, verlegt. Hannovers DGB-Bezirkschef Reiner Eifler meinte ganz stolz: „Wir hoffen auf deeskalierende Wirkung.“

Die Zusammensetzung und politische Ausrichtung der Bewegung offenbarte jedoch auch ihre Schwächen. Wie schon die Erfahrung der Proteste gegen G-20 lehrt, genügt es nicht, Bündnisse zu haben, die jetzt zwar allenthalben entstanden sind und sich als buntes Farbenspektrum zur Schau stellen, aber nur zu bestimmten Anlässen und gegen die gröbsten Auswüchse von Reaktion und Rassismus zu Felde ziehen. Auch überlagern oft Diskussionen über die Mittel des Widerstands, wo die Frage der „Gewaltfreiheit“ endlos rauf und runter dekliniert wird, das Geschehen und drängen Erkenntnisse über politische Zusammenhänge und perspektivische Schlussfolgerungen an den Rand.

In Hannover stellten linke Organisationen und Bewegungen das Gros der Demonstration. Außer den Refugees, die aber nicht festgefügt auftraten, hatten von den politischen MigrantInnenorganisationen nur kurdische Gruppen eine größere Abordnung zur Stelle. Die Linkspartei verfügte auch über ein recht ordentliches Aufgebot. Von den Gewerkschaften, obwohl offizielle Anmelderinnen, war weit weniger zu beobachten. KirchenvertreterInnen erhielten Rederecht, traten jedoch beim Marsch ebenso wenig wie NGOs in Erscheinung – Zerrbild dessen, welche Kräfte wirklich zum Kampf gegen Rassismus bereit sind.

Nicht nur die RednerInnenliste, auch die Inhalte der Kundgebungen blendeten den Bezug zum Klassenkampf fast völlig aus. In den Beiträgen wurden sowohl der verhängnisvolle ideologische Gleichklang der gewerkschaftlichen Standortlogik mit dem Programm der AfD wie auch die Unternehmerangriffe (Siemens, Thyssen/Krupp und Pflegenotstand) ebenso wie die Notwendigkeit der Wappnung gegen unweigerliche Attacken einer kommenden Regierung mit Folgen der Ausweitung des Prekariats unterschlagen.

Zum Kampf gegen Rassismus gehört auch ein Eintreten für gewerkschaftliche Organisierung von MigrantInnen.

Dirk Schulze (IGM-Metall) äußerte völlig korrekt: „Die AfD ist eine arbeitnehmerfeindliche Partei. Sie stellt die gewerkschaftliche Mitbestimmung in Frage und hat sich für längere Lebensarbeitszeit und Kürzung der Rente ausgesprochen.“ (nach: Neue Presse Hannover). Aha – aber trifft das nur auf die AfD zu? Wäre eine Regierung, an der die AfD ja nicht beteiligt sein wird, nicht ebenso gefährlich, weil sie mindestens einige Punkte davon umsetzen könnte? Wenn dies zu „roten Haltelinien“ erklärt wird, müsste dann der Protest nicht noch massiver und massenhafter gegen eine arbeiterInnenfeindliche und rassistische Politik – nicht nur der AfD – mobilmachen?

Diese Fragen wären Ausgangspunkte für die ArbeiterInneneinheitsfront und müssten auch Gegenstand einer Aktionskonferenz sein, die ein gemeinsames und nachhaltiges Handeln gegen Regierung und Rassismus beschließen sollte.