Deutscher Imperialismus und die Neuaufteilung der Welt

Tobi Hansen, Neue Internationale 222, September 2017

Inmitten wachsender globaler Konkurrenz und Konflikte präsentieren sich Kanzlerin Merkel und die CDU/CSU als Hort der Stabilität. Wer von den Wirren unserer Zeit verschont bleiben will, der möge doch sie und ihre Partei wählen – der passende Koalitionspartner wird sich dann schon finden.

Während Merkel verspricht, dass alles beim Alten bleiben werde, ist auch klar: Die internationale wirtschaftliche und politische Entwicklung bestimmt wesentlich, wie es um die inneren Verhältnisse in der nächsten Legislaturperiode bestellt sein wird.

Es gehört dabei zur zweifelhaften „Normalität“ des deutschen politischen Systems, dass alle grundlegenden Fragen der Außenpolitik im Wahlkampf wenig Erwähnung finden, allenfalls an den „Rändern“ thematisiert werden.

Dabei sind es gerade diese Ereignisse, die die ohnedies brüchiger gewordene „Stabilität“ des deutschen Imperialismus früher oder später aufbrechen werden.

Auch wenn sich der deutsche Kapitalismus im Vergleich zu seinen europäischen Konkurrenten weiter stärken konnte, so treiben ihn massive Probleme um.

Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, der gestiegenen Konkurrenz der imperialistischen Akteure ist der deutsche Imperialismus gegenüber den beiden Führungsmächten zurückgefallen, steht diesmal nicht im Zentrum einer neuen Blockbildung. In den bisherigen Krisenperioden war der deutsche Imperialismus stets Führungsmacht einer Achse, welche unter seiner Dominanz Ansprüche darauf geltend machte, zur führenden Weltmacht aufzusteigen. Dazu kann die EU in ihrer aktuellen Labilität nicht dienen, wiewohl dieser Anspruch weiterhin vom deutschen und französischen Imperialismus vertreten wird. Der Hauptkonflikt wird dagegen derzeit zwischen den USA und China ausgetragen.

Durch den EU-Austritt Großbritanniens wurden die „trennenden“ Tendenzen dieser imperialistischen Krise deutlich, dies war auch eine herbe Schwächung dieses imperialistischen Projektes. Die deutsch-französische Vorherrschaft muss sich derzeit darauf konzentrieren, den „Laden“ zusammenzuhalten, wie auch weitere Versuche der Vertiefung, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, zu erwarten sind, dem größten Schwachpunkt der EU in der imperialistischen Konkurrenz.

Transatlantische Verbindungen

Die neue US-Administration stellt die EU und somit den deutschen Imperialismus vor neue Herausforderungen. In Fragen des Protektionismus, des globalen „Freihandels“ wie auch der Steuerpolitik gehen die USA in die Offensive – und zwar nicht nur durch Trump, sondern auch durch den US-Kongress, wie die jüngsten verschärften Sanktionen gegen Russland belegen, die sich auch gegen die EU richten. Diese aggressive Ausrichtung des US-Imperialismus zwingt auch den deutschen Imperialismus zu einer Neuausrichtung. Schon der Ukraine-Konflikt mit aufgerüsteter NATO-Ostgrenze und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland hatte dem deutschen Großkapital die angestrebte strategische Partnerschaft mit dieser Großmacht verbaut bzw. zunächst auf Eis gelegt.

Für das deutsche Exportkapital sind „Freihandel“ und vor allem die Expansion nach Asien zukünftig entscheidend, wenn gemeinsam mit Frankreich weiterhin Weltmachtambitionen gehegt werden sollen.

Kurzfristig können wir von einem „Richtungskampf des Möglichen“ innerhalb der deutschen Bourgeoisie ausgehen. Zum einen sind es transatlantische Verbindungen, welche nicht allein durch die NATO symbolisiert werden, sondern auch auf vielfältigen Kapitalverflechtungen zwischen BRD- und US-Finanzkapital (z. B. Bayer/Monsanto-Fusion) basieren.

Unabhängig von Trump geht es dem US-Imperialismus um Gefolgschaft und Tribut, wie es sich gegenüber der Hauptmacht des „Westens“ gehört. Erst durch mehr Investitionen in den US-Markt durch die deutsche Industrie bleibt der Marktzugang frei. Bis dahin bleibt auch TTIP eingefroren, wie auch durch aggressive Außenpolitik die Gefolgschaft der NATO bzw. der „Koalition der Willigen“ durch die USA erzwungen werden soll.

An der Seite der USA wäre die EU globale „Juniorpartnerin“ in der aktuellen Zuspitzung, allerdings ebenso mit dem Interesse, den pazifischen Markt zu beherrschen bzw. diesen nicht China zu überlassen. Damit wäre der „unabhängige“ Aufstieg des deutschen Imperialismus in Form der EU erst mal außer Kraft gesetzt. In der aktuellen Verfasstheit kann die EU die USA nämlich nicht herausfordern.

Daher stellt sich für die deutsche Bourgeoisie die Notwendigkeit, ihrer Europastrategie zusammen mit dem französischen Imperialismus unter Macron neuen Schwung zu verleihen – was auch eine Veränderung der EU selbst, wohl in Form der Bildung eines „Kerneuropa“, auf die Tagesordnung stellen wird.

Hinzu kommen ökonomische und politische innere Probleme. Von besonderer unmittelbarer Bedeutung sind dabei die krisenhafte Entwicklung in Italien sowie ein möglicher massiver Abwehrkampf der französischen ArbeiterInnenklasse gegen die Angriffe der Macron-Regierung.

Perspektive EU

Für den deutschen Imperialismus ist die Entwicklung Frankreichs wichtig beim europäischen Projekt. Nach Macrons Antrittsbesuch wurden finanzielle Mittel für „reformwillige Regierungen“ in Aussicht gestellt. Dies bedeutet aber auch, dass der französische Imperialismus nun zum Ziel hat, den „Konkurrenzvorsprung“ der deutschen Industrie (Lohnnebenkosten, Löhne, Produktivität) einzuholen.

Gemeinsam soll der deutsch-französische „Block“ die Perspektive der „Vertiefung“ vorantreiben und dies insbesondere auf dem militärischen Sektor. Mehr gemeinsame Truppenverbände, mögliche europäische Marine- und Luftwaffeneinheiten und letztlich auch ein europäisches Atomprogramm sind Ziele der imperialistischen Führungsmächte, vor allem im strategischen Raum „rund ums Mittelmeer“. Mit Großbritannien ist der größte Widersacher für diese Projekte verschwunden, dieser Konflikt wird perspektivisch die NATO belasten.

Passenderweise begann die EVP-Fraktion (Europäische Volkspartei) im Europaparlament die Debatte über die Zukunft der 27 Verteidigungshaushalte (ohne GB). Eigene nationale Haushalte wären jetzt außer Mode – ein gemeinsamer europäischer müsse her. Ebenso stand beim „Brexit“-Nachfolgegipfel in Bratislava die Vertiefung bei der Sicherheitspolitik im Vordergrund. Letztlich liegt hier ein Knackpunkt für die EU und deren geostrategischen Ambitionen. Nur wenn sie beispielsweise im Mittelmeerraum militärisch eingreifen und diesen neu ordnen kann, ist sie unabhängig von den USA handlungsfähig.

Perspektive des deutschen Imperialismus nach G20

Für jede aktuelle Bundesregierung stellen die veränderte Weltlage und die Zukunft der EU eine zentrale Herausforderung dar. Der Zugang zu den Weltmärkten für das deutsche Exportkapital, dieser Stütze des deutschen Imperialismus, muss gesichert bleiben. Für diese Ziele muss die EU perspektivisch und militärisch in der Lage sein, die angrenzenden Weltregionen (vor allem um das Mittelmeer) zu kontrollieren. Wie weit und rasch ein solcher Bruch des deutschen und französischen Imperialismus mit den USA vollzogen werden mag, ist derzeit offen. Zum einen ist dieser für die eigenen Ambitionen entscheidend, zum anderen war aber speziell der westdeutsche Imperialismus stark auf die USA fixiert.

Somit geht der deutsche Imperialismus trotz ökonomischer Stärke einer unsicheren Zukunft entgegen. Die Krise der EU und die zunehmende Konkurrenz zu den USA verweisen auf die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung.

Die Regierung Trump verdeutlicht diese Notwendigkeit – und gibt der deutschen Regierung und den bürgerlichen Parteien zugleich die Möglichkeit, ihre eigenen imperialistischen Ziele als „demokratische“ Maßnahmen zur Sicherung „europäischer Souveränität“ hinzustellen, erlaubt es, die deutschen Machtansprüche als „vernünftige“, „weltoffene“ Alternative zu einer immer aggressiveren USA hinzustellen.

Schon der G20-Gipfel sollte – unabhängig von seinen bescheidenen Resultaten – dazu dienen, die Ambitionen des deutschen Kapitals und seiner Verbündeten als „Rettungsprogramm“ für eine aus den Fugen geratene Welt zu präsentieren. Aufrüstung, Abbau demokratischer Rechte, rassistische „Regulation“ von Flüchtlingsströmen, Freihandel (für das eigene Kapital), „humanitäre“ Interventionen, Privatisierungen und Deregulierung – all das wird als unvermeidlich dargestellt, als notwendig, um vermehrter „Verantwortung für die Welt“ gerecht zu werden. Kann Deutschland gemeinsam mit Frankreich und der EU nicht in diese Rolle schlüpfen, so malen die ImperialistInnen die Schreckgespenster Trump und Putin an die Wand. Genesen könne die Welt wieder nur am deutschen Wesen, das sich diesmal betont demokratisch-imperialistisch gibt.

Wenn die ArbeiterInnenklasse und die Linke den nächsten Angriffen im Inneren wie nach außen wirksam entgegentreten will, so darf sie sich nicht vor den Karren eines Imperialismus spannen lassen, der sich als Sachwalter von „Demokratie“, „Menschenrechten“ und „Vernunft“ präsentiert.




Bilanz der Großen Koalition – Zahlen und Fakten

Tobi Hansen, Neue Internationale 222, September 2017

Die wenigen Reformen der Regierung wie die schrittweise, von vielen Ausnahmen begleitete Einführung des Mindestlohns haben weder die Profite des Kapitals in Deutschland gemindert noch zu einer „Jobkrise“ geführt. Die Gewinne der Großunternehmen sprudeln, genügend billige Arbeit gibt es weiterhin.

Der Arbeitsmarkt

2016 galten in Deutschland 42,5 Mill. Menschen als beschäftigt. Davon wurden 24 Mill. als Vollzeitbeschäftigte geführt, 18,5 Mill. gelten als „atypisch“ Beschäftigte. Unter ihnen ist vor allem der Anteil der Teilzeitbeschäftigten gestiegen, von 4,5 Mill. im Jahr 2000 auf 8,5 Mill 2016. Zu den atypischen Beschäftigen gehören außerdem 5,3 Mill. sog. geringfügig Beschäftigte (z. B. Mini-JobberInnen), eine Mill. LeiharbeiterInnen und 3,7 Mill. befristet Beschäftigte – für diese ist das „Normalarbeitsverhältnis“ passé. Dazu zählen auch die „Solo-Selbstständigen“, welche inzwischen 55 % aller Selbstständigen ausmachen.

Unter den Begriffen Prekarisierung oder „Flexikarität“ wird der deutsche Arbeitsmarkt aufgerollt und umgewandelt. Ausgangspunkt dieser Entwicklung bleibt weiterhin die Agenda 2010 und die Hartz-IV-„Reform“.

Während für die industriellen Stammbelegschaften, welche zu großen Teilen zu den Vollzeitbeschäftigten zählen, Verdichtung und Rationalisierung der Arbeit unter der Überschrift Industrie 4.0 ansteht, können immer größer werdende Teile der Klasse von ihren Jobs nicht überleben, wissen am Anfang des Monats nicht, was sie am Ende haben. Verträge wie „Zero-hour-contracts“, bei denen die Beschäftigten nicht wissen, für wie viele Stunden und Lohn sie monatlich eingesetzt werden, erhöhen den sozialen Druck gerade in den unteren Schichten der Klasse. Mehrfachjobs, flexible Ausbeutung auf Abruf – das ist zusammen mit der Einführung von Zeitarbeit inzwischen für Millionen, vor allem Frauen und Jugendliche, zum „Normalarbeitsverhältnis“ geworden.

Dies veranschaulicht die „Krisenlösung“ des deutschen Imperialismus seit 2007/08. Der zuvor gestartete Sozialangriff Agenda 2010 wurde mit der und durch die Krise weitergeführt. Der Niedriglohnsektor wuchs auf eine zweistellige Millionenzahl; die Armutsquote steigt, während die Arbeitslosigkeit sinkt. Durch eine Umschichtung und Neuordnung des Arbeitsmarktes konnte das deutsche Großkapital seine Profitabilität gegenüber der internationalen Konkurrenz beibehalten und teilweise sogar erhöhen.

Armutsgefährdet gilt jemand in Deutschland, wenn das Einkommen unter 942 Euro netto pro Monat liegt, das sind zur Zeit 15,7 % aller ArbeiterInnen und Angestellten. Aber auch für alle, die noch deutlich unter 2000 Euro netto pro Monat liegen, gilt es in erster Linie, über die Runden zu kommen.

Krisengewinner deutsches Großkapital

Die große Koalition „verwaltet“ die Interessen der wichtigsten Kapitalfraktionen verlässlich und sorgt dafür, dass dies nicht in Frage gestellt wird. Sowohl das Austeritätsprogramm für Europa wie die Sicherung der Kreditlinien der Börsen und Anleihemärkte sorgen weiterhin für einen relativ stabilen deutschen Krisengewinnerimperialismus.

Folgerichtig waren die Jahre der Großen Koalition von einer Hausse an den Börsen, einem deutlichen Kursanstieg begleitet. Allein die Top-30-DAX-Konzerne konnten 2016 einen Gewinn von 74 Mrd. Euro bekanntgeben, eine Steigerung von 49 % im Vergleich zum Vorjahr. Die Gewinne aller Kapitalgesellschaften wuchsen moderater mit 3,8 % auf 553 Mrd. Euro.

So ist auch die Dividendenausschüttung auf ein neues Rekordniveau gestiegen: Im Jahr 2015 belief sich diese bei den DAX-Konzernen auf 31,8 Mrd. Euro, was auch die Fusionswelle unter deutschen Konzernen befeuert. So wurde im Jahr 2016 bei den Fusionen der höchste Wert seit 2001 erreicht. 2104 Übernahmen mit einen Volumen von 225 Mrd. Euro standen zu Buche, davon 53 % (1.122) als grenzüberschreitende mit der Fusion Bayer/Monsanto als Spitzenwert mit ca. 60 Mrd. Euro. International backen die deutschen Großkonzerne damit aber eher kleine Brötchen: 2015 wurden ca. 5 Bill. US-Dollar bei Fusionen umgesetzt, davon 3 Bill. bei inner-US-amerikanischen Fusionen.

Zuletzt bekamen die deutschen Großkonzerne auch die gestiegene Konkurrenz der imperialistischen Blöcke zu spüren. Mit den Diesel-Verfahren gegen VW und jetzt sicher auch gegen die anderen „Kartellkonzerne“, Anzeigen und Bußgelder gegen die angeschlagene Deutsche Bank wurden Flagschiffe des deutschen Imperialismus unter „Beschuss“ genommen, wie auch die Protektionismus-Androhungen der Trump-Administration mindestens eine Herausforderung für das deutsche Exportkapital darstellen.

Die Dieselautokrise

Das „Dieselkartell“ verdeutlicht, was heute Monopolkapital heißt und wie sehr diese Konzerninteressen Wirtschaft und Politik prägen. „Dieselgipfel“, Prämien für Umtausch und Neukauf, die an die Abwrackprämie erinnern, und leere Versprechen der Branche werden von der jeweils amtierenden Bundesregierung politisch legitimiert, medial angepriesen und schließlich noch finanziell unterstützt. Die Gewerkschaften beschweren sich über den „Betrug“ der ManagerInnen, haben selbst keine Vorstellung, wie denn der Personenverkehr der Zukunft aussehen sollte. Angesichts der Dieselkrise und anstehenden Industrie 4.0 richten sie sich schon mal auf Entlassungen, Rationalisierung und Umstrukturierungen ein, die in Form von „Wettbewerbspakten“ für den Standort die Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse allenfalls „sozial abfedern“ sollen.

Die Exportabhängigkeit des deutschen Imperialismus hat sich seit der Krise 2007/08 verstärkt. Eine mögliche nächste Krise, ein Zusammenbruch der Märkte würden das deutsche Großkapital massiv treffen. Via EU versucht es, weiter neue Märkte zu integrieren wie z. B. die Ukraine, Georgien oder auch die Balkanstaaten des ehemaligen Jugoslawien. Auf der anderen Seite müssen die Marktbedingungen im Zuge des Brexit mit Großbritannien neu verhandelt werden, aber auch die Türkei als wichtiger Investitionsstandort ist politisch unsicher geworden. Neben den klassischen ADIs (Auslandsdirektinvestitionen), bei denen das deutsche Kapital mit 80-100 Mrd. Euro pro Jahr eher im Mittelfeld agiert, dient vor allem der Exporthandel als Mittel des deutschen Großkapitals zur Dominanz der beherrschten Märkte. Bei einem Einbruch der globalen Konjunktur ist dies direkt gefährdet.

Nichtsdestotrotz gehört der deutsche Imperialismus ökonomisch weiterhin zu den „Krisengewinnern“. Zur weiteren Ausdehnung als Machtzentrum hängt seine Perspektive jedoch von der kapitalistischen Einigung Europas ab, von der EU, wenn auch in modifizierter Form (z. B. durch Bildung eines „Kerneuropa“), sowie den dazu gehörigen militärischen Komponenten.

Daher sind auch alle bürgerlichen Parteien mit Ausnahme der AfD daran interessiert, die europäische Verteidigung zu vertiefen bzw. aufzubauen. Letztlich besteht das Ziel darin, die ökonomische Vormachtstellung des deutschen Imperialismus auch in der Hegemonie über die militärischen Verbände der EU herzustellen.

Das parlamentarische System und die politische Krise

Die zweite Große Koalition innerhalb von 12 Jahren hat zu Rissen innerhalb des bürgerlichen Lagers geführt. Dabei ist die Etablierung der AfD sicherlich eine Schwächung der CDU/CSU, bekommt sie doch erstmals seit dem zweiten Weltkrieg eine bedeutende parlamentarische Konkurrenz von rechts. Andererseits haben der Aufstieg der AfD wie auch die langsame, aber konstante „Wiederauferstehung“ der FDP auf Länderebene dazu geführt, dass nunmehr wahrscheinlich vier offen bürgerliche Parteien inklusive der Grünen vertreten sein werden – und somit die Koalitionsoptionen für die CDU/CSU gestiegen sind.

Die letzte Legislaturperiode war auch von einem deutlichen Rechtsruck in Deutschland gekennzeichnet. Hatten sich noch 2015 Hunderttausende solidarisch mit den Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Afrika gezeigt und UnterstützerInnenstrukturen gebildet, so „kippte“ diese Stimmung zugunsten der Rechten. Die Große Koalition, die ohnedies nie vorhatte, den Millionen Geflüchteten eine Perspektive zu geben, setzte auf die Abschottung der EU-Außengrenzen durch Abkommen mit dem türkischen und anderen Regimen, mehr und raschere Abschiebungen sowie eine Verschärfung rassistischer Gesetze.

Trotzdem – ja auch deshalb – konnte sich die AfD, selbst Ausdruck dieses Rechtsrucks, bundesweit etablieren. Ebenso nahm die rassistische und nazistische Gewalt und Formierung zu. 2015/16 gab es tausende Anschläge auf Geflüchtete, auf Wohnunterkünfte, auf SupporterInnen und Linke.

Der staatliche Rassismus, das Elend der Geflüchteten in Europa wurde weder von der parlamentarischen noch der außerparlamentarischen Linken durch eine proletarische Klassenpolitik bekämpft, die die Forderung nach offenen Grenzen, gleichen StaatsbürgerInnenrechten für alle, die hier leben, mit sozialen Forderungen nach Bildung, gleichen Löhnen und bezahlbaren Wohnungen für alle verbunden hätte.

Auch hier zeigt sich das zentrale Problem der ArbeiterInnenklasse in Deutschland: Gewerkschaftsführungen, SPD, aber auch große Teile der Linkspartei betrachten Politik vom nationalen Standpunkt aus – nicht von einem internationalistischen. Das bedeutet einerseits Unterordnung unter Standortpolitik, Sozialpartnerschaft und schrittweises Zurückweichen, andererseits Sozialchauvinismus und Abschottung.

Dies sind Knackpunkte der Politik der letzten Periode und für alle zukünftigen Kämpfe. Ohne einen fundamentalen Bruch mit dieser Politik, mit Sozialchauvinismus und Unterordnung unter die Wettbewerbsziele des „eigenen“ Kapitals ist es unmöglich, den Rechten den Nährboden zu entziehen.

 

Zahlen aus der Broschüre „Bilanz der großen Koalition 2013-17“, herausgegeben vom isw, München




Die offen bürgerlichen Parteien – Größeres Angebot

 

Jürgen Roth, Neue Internatinale 222, September 2017

Die Krise der EU hat – trotz relativer Stabilität in Deutschland – in der letzten Legislaturperiode auch zu einem mehr oder minder offen ausgetragenen Richtungsstreit in der herrschenden Klasse geführt. Auch wenn heute Angela Merkel wieder als die einzig mögliche Kanzlerin erscheint, so war sie erstmals seit ihrem Amtsantritt politisch angeschlagen.

Die Konflikte in der Union, der „Wiederaufstieg“ der FDP, die AfD und auch die Grünen spiegeln dabei eben auch unterschiedliche Kapitalfraktionen und Konflikte um die zukünftige Strategie des deutschen Imperialismus wieder, die unvermeidlich auch in der kommenden Periode offen in Erscheinung treten müssen.

Die Union

Nach dem klaren Wahlerfolg 2013 hat die CDU/CSU zunächst Wahlniederlagen eingefahren. Ein Grund für diese wie auch für den Aufstieg der AfD war die kurzfristige, scheinbare Abkehr der CDU von ihrer traditionellen Asylpolitik während des Spätsommers 2015. Als Merkel drei Wochen lang „großzügig“ die Grenzen v. a. für syrische Geflüchtete öffnen ließ, entstanden Risse zwischen den „Schwesterparteien“, aber auch Unmut an der mittleren und unteren CDU-Basis. Während die Geflüchteten kamen, profilierte sich die CSU quasi als Rechtsopposition in der Großen Koalition.

Die CDU sonnte sich in dieser Zeit auf der breiten Unterstützung durch SPD, Grüne und „Zivilgesellschaft“ für ihre Politik der „offenen Grenzen“. Doch im Wahljahr 2017 präsentiert die Union sich wieder geeint. Das reichte, um der SPD zwei Landesregierungen abzunehmen.

Die Gründung der CDU war die Lehre, die das Großbürgertum aus der zersplitterten Parteienlandschaft der Weimarer Republik zog und der sie die Hauptschuld für den Aufstieg der NSDAP zuschob. Diese offen bürgerliche Partei neuen Typs vereinte zunächst das gesamte konservative und nationale Lager mit der christlichen ArbeiterInnenschaft der Zentrumspartei, später stieß der rechte nationalliberale Flügel aus der FDP dazu. Die sich sozialer, aber auch rechter gebärdende CSU konnte der Bayernpartei den Rang ablaufen, damit den eingefleischten regionalen Partikularismus überwinden. Die nachholende Industrialisierung dieses Bundeslands federte sie sozial geschickt ab. Das ist das Geheimnis hinter ihrer unangefochtenen Vorherrschaft seit Ende der 1950er Jahre.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steht die Union als politisches Flaggschiff des Monopolkapitals stabil da. In Frankreich und Italien sind die großen offen bürgerlichen Parteien untergegangen. Doch auch in Deutschland ist es schwierig geworden, eine Regierung aus zwei Parteien sogar mit dieser Union zu bilden. Ende der 1960er Jahre deutete dagegen alles auf ein Zweiparteienparlament hin, heute sind schon 5, demnächst 6 vertreten. Im Gefolge der nächsten Krise, der zunehmenden Konzentrationsprozesse, die den Untergang schwächerer Kapitale nach sich ziehen werden, wird aber auch die Union unter Druck geraten und ihre Existenz auf den Prüfstand gestellt werden. Ihr Zerfall würde eine Krise ersten Ranges für die Monopolbourgeoisie bedeuten.

Auch das erklärt, warum die verschiedenen Flügel der CDU/CSU ihre Konflikte begrenzen. Der deutsche Imperialismus setzt zur Zeit auf eine klar dominierende bürgerliche Partei, um die herum jedoch zunehmen mehr „Optionen“ gruppiert werden können, die sowohl die SPD als bürgerliche ArbeiterInnenpartei wie kleinere offen bürgerliche Parteien einschließen. Kurzfristig jedenfalls ist daher die Aufsplitterung der Parteienlandschaft für die herrschende Klasse kein allzu großes Problem, ja eröffnet auch Optionen. Entscheidend wird dabei freilich, ob und wie sehr die nächste, wahrscheinlich von der CDU-geführte Regierung in der Lage sein wird, die Gesamtinteressen des deutschen Kapitals international substantiell voranzubringen.

Die AfD

2015 rückte die AfD deutlich nach rechts, der islamophobe, rassistische und nationalistische Flügel trat geeint gegen den „nur“ neoliberalen Lucke-Flügel an und übernahm danach die Partei. In der Phase der Krise von CDU/CSU konnte die AfD enorme Wahlerfolge erreichen und sich trotz schwerer innerer Führungskämpfe im Parteienspektrum etablieren. Ähnlich der FPÖ mobilisiert sie die kleinen und mittleren Selbstständigen und FreiberuflerInnen, aber auch diejenigen Teile der ArbeiterInnenklasse, welche sozialen Abstieg erlebt haben oder sich vor diesem fürchten. Das betrifft diejenigen im Hartz-IV- und Niedriglohnbereich, aber auch die gutverdienenden Schichten.

Während Petry und Pretzell eher für gesichtslosen, rassistisch geprägten Rechtspopulismus stehen, wollen Poggenburg und Höcke die AfD als nationalistische Kraft etablieren, völkische Ideologie weiter verbreiten und nach rechts öffnen. Dahinter stehen letztlich unterschiedliche Auffassungen über die Funktion der AfD. Soll sie als zukünftige Koalitionspartnerin der CDU diese auf einen „echten“ konservativen Kurs bringen, muss sie eine gewisse bürgerliche „Respektabilität“ vorweisen. Die andere Option besteht darin, die AfD als rechts-radikale, nationalistische Massenpartei zu etablieren – eine Option, die bei einer Verschärfung sozialer Gegensätze und Klassenkämpfe auch für das Kapital interessant werden könnte.

Im Gegensatz zu ihrer Propaganda, die „den deutschen Arbeiter“ beschwört, ist rassistische und neoliberale Sozialpolitik das Programm, worauf sich die gesamte Partei einigen kann.

Die FDP

Die zeitweilige Schwäche der Union, aber auch der rechtsnationale Trend in der AfD haben der FDP geholfen, sich wieder als „Alternative“ für Kleinbürgertum, Mittelstand und Großkapital anzubieten – sei es durch Zweitstimmen von der Union oder, dass die AfD eben die neoliberalen, kleinbürgerlichen Schichten/Eliten nun weniger vertritt.

Die FDP ist aktuell wieder in 9 Landesparlamenten vertreten. Zunächst hatte sie ihr „linksliberales“ Profil bei Bürgerrechten und Datenschutz schärfen wollen. Damit gebärdet sich die FDP zusätzlich auch offen für Ampelkoalitionen bzw. solche mit der SPD und Schwarz-Grün („Jamaika“variante).

In Zeiten einer schleichenden Weimarisierung der Parteienlandschaft braucht das Großkapital die kleinen Parteien (FDP, Grüne) ohne einen ständisch organisierten Massenanhang wie die Union umso dringender. Sie können z. B. ein flexibles Scharnier zwischen offen bürgerlichem Lager und den reformistischen ArbeiterInnenparteien bilden wie unter den sozialliberalen bzw. rot/grünen Koalitionen, wo sie leichter und schneller Reformen im Bildungssektor und Arbeitsrecht durchsetzen konnten, als es die Unionsparteien vermochten. Die Kanzlerschaft Kohls wurde im Gegenzug durch das rasche Umschwenken der FDP ermöglicht.

Der wahrscheinliche Wiedereinzug der FDP in den Bundestag ist daher keineswegs nur als eine konjunkturelle Entwicklung zu verstehen. Diese Partei muss wenig bis keine Rücksicht auf schlechter verdienende Bevölkerungsgruppen nehmen – sie ist somit „freier“ als jede andere Partei, offen und ungeschminkt Kapitalinteressen und neo-liberale Politik zu vertreten: ein nützliches „Korrektiv“ für die herrschende Klasse gegenüber den „Volksparteien“.

Die Grünen

Nach den gescheiterten Sondierungen 2013 mit der Union haben die Grünen auf Landesebene ihre Verwendbarkeit für Koalitionen mit der Union erneut nachgewiesen, auch mit „rechten“ CDU-Landesverbänden (Baden-Württemberg, Hessen). Sicherlich ist eine von den Grünen geführte Koalition wie in Baden-Württemberg eine Ausnahmeerscheinung, aber auch Beweis ihrer extremen Flexibilität. Kretschmann war im Bundesrat eine verlässliche Stütze der Regierungspolitik Merkels, zeitweise mehr als die CSU. Somit haben sich die Grünen in Stellung für eine unionsgeführte Bundesregierung gebracht.

Nicht viel übrig geblieben ist vom Image der Partei, die die meisten „radikalen“ Linken jahrzehntelang „links“ von der SPD verorteten. An der Bundesregierung (1998-2005) wurden der Jugoslawienkrieg in der Partei durchgesetzt und die Agenda 2010 mitgetragen. Seitdem gehen die Grünen immer klarer in die bürgerliche Mitte, sind in Fragen der Steuer- und Wirtschaftspolitik ein Pendant zur FDP geworden, wenn auch mit Fokus auf andere (klein-)bürgerliche Schichten („alternative Energien“ z. B.). In Fragen der Austeritätspolitik haben die Grünen sich auf die Seite der EU gestellt, Abschiebungen afghanischer Geflüchteter sind zumindest in Baden-Württemberg an der Tagesordnung.

In gewisser Weise konkurrieren die Grünen mit der FDP um die Position als Mehrheitsbeschafferin. Rechtsausleger wie der Tübinger Bürgermeister Palmer vertreten offen AfD-Positionen zur Flüchtlingsfrage. Auch das Zerplatzen der Koalition in Niedersachsen zeigt, wie sehr diese Partei sich dem bürgerlichen konservativen Milieus angenähert hat.

Zu den entscheidenden Themen aktuell wie Rechtsruck, Zukunft der EU, sozialer Frage hat diese Partei keine Alternative zum Programm der CDU/CSU oder SPD anzubieten. Die letzten 35 Jahre zeigten, wie schnell eine „radikale“ Partei der kritischen Intelligenz in den offen bürgerlichen Mainstream integriert werden konnte.




Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen – Fessel Sozialpartnerschaft

Martn Suchanek/Jürgen Roth, Neue Internationale 222, September 2017

Ohne Mobilisierungen wie gegen die G20 könnte man meinen, dass das Niveau der Klassenauseinandersetzungen in Deutschland jährlich sinkt, sowohl in Quantität wie Qualität. Die gewerkschaftlichen Tarifkämpfe finden unter Federführung der großen Industriegewerkschaften wie IG-Metall und IG BCE, aber auch von ver.di in ritualisierter Form statt, zu deren „Erfolg“ sich die Gewerkschaftsführungen regelmäßig selbst gratulieren. Die wenigen härteren, langwierigen Kämpfe blieben wie bei Amazon sektoral und auf rein ökonomische Fragen beschränkt.

Auf politischer Ebene feiern SPD- und DGB-Spitzen das neue Gesetz zur Leiharbeit als Erfolg. Sicherlich ist es ein Schritt vorwärts, wenn betriebliche Vereinbarungen den Status und den Lohn der Beschäftigten erhöhen bzw. diese mit der „Stammbelegschaft“ gleichstellen. Leider trifft dies in den wenigsten Fällen zu. Stattdessen erlaubt das neue Gesetz betriebliche Regelungen, welche die Dauer der Leiharbeit auf bis zu 6 Jahre erhöhen können – mit regelmäßigen „Pausen“ der Arbeitslosigkeit. So verkommt die neue „Reform“ zu einer realen Verschlechterung für immer mehr LeiharbeiterInnen.

Statt diese für das Kapital zu regulieren und auszudehnen, wäre die Abschaffung der Leiharbeit ebenso wie der Kampf gegen die Zeitarbeitsfirmen erforderlich. Davon wollen weder die Führungen der DGB-Gewerkschaften noch die Sozialdemokratie etwas wissen. Und auch die Linkspartei vertritt diese Forderungen nur zaghaft und kaum hörbar.

Ein Ansatz für eine Bewegung hat sich jedoch im Gesundheitssektor entwickelt, wo es nach dem Vorbild der Charité Berlin bundesweite Tarifrunden für mehr Personal geben sollte. Die Situation in der Pflege erfordert mehr Anstrengungen der Gewerkschaft für Neueinstellungen auch bei kommunalen Trägern. Im Zug der Schuldenbremse werden bis 2019/2020 alle Haushalte der Kommunen und Länder auf ein Ende der Neuverschuldung getrimmt. Dies wird einen weiteren massiven Kahlschlag im öffentlichen Bereich zur Folge haben. Im Gesundheitssektor geht es dabei um rund 200 kommunale Krankenhäuser und ebenso viele Pflegeeinrichtungen, die aufgrund von Kürzungen vor der Pleite stehen. Die anstehenden und bereits erfolgten Privatisierungen stellen einen weiteren Schritt neoliberaler Politik dar. Es stehen bereits Firmen sogar zur Privatisierung von Rathäusern in den Startlöchern.

Für die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals können noch viele Bereiche des öffentlichen Lebens und Dienstes privatisiert werden. Hier werden Staat und Kapital alle gesellschaftlichen Sphären genau durchleuchten. Frauen treffen diese Angriffe als Beschäftigte z. B. im Gesundheitssektor und als Lohnabhängige, die unter der Doppellast von Lohnarbeit und Haushalt leiden, besonders schwer.

Rolle der Bürokratie

In den letzten Jahren haben sich die Spaltung und die Ungleichheit innerhalb der ArbeiterInnenklasse infolge der Angriffe der KapitalistInnen, der Ausweitung von Billiglohnsektor und Armut und der „Reformen“ der Regierungen vertieft. Diese zunehmende Spaltung wird seit Jahren von den Führungen der Gewerkschaften, deren Apparat und den Betriebsräten in den Großkonzernen allenfalls „kritisch“ begleitet. Ziel dieser ArbeiterInnenbürokratie, die die Schaltstellen der Gewerkschaften und Betriebsratsstrukturen kontrolliert, ist letztlich nicht die Überwindung dieser Entwicklung, sondern deren „soziale“ Ausgestaltung.

Auch in der letzten Legislaturperiode hätte es genug Möglichkeiten gegeben, Verbesserungen für die Lohnabhängigen zu erkämpfen – sei es für einen Mindestlohn, der die Lebenshaltungskosten wirklich deckt, sei es für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die Gewerkschaftsspitzen sind dabei den KollegInnen nicht nur einmal in den Rücken gefallen. Die Steigerungen der Tariflöhne blieben im Rahmen des von den Arbeit„geberInnen“ Tragbaren.

Die Spitzen haben sich außerdem – gegen Forderungen aus einigen lokalen Gliederungen – geweigert, die Geflüchteten zu organisieren und die Organisation für diese zu öffnen. Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“ drängte auch die Bürokratie auf „regulierte“ Zuwanderung. Im Klartext heißt das: staatliche Selektion, welche Geflüchteten in Deutschland leben und arbeiten dürfen. Es bedeutet, dass die Schließung der Grenze akzeptiert wird. Die Diskriminierung, Entrechtung, Abschiebung und andere Formen des staatlichen Rassismus gegen diese Menschen, von denen viele Teile der ArbeiterInnenklasse sind, werden somit geduldet, wenn nicht gar befürwortet. Der Sozialchauvinismus spaltet nicht nur, er bereitet selbst einen Nährboden für Rassismus und Nationalismus unter deutschen Lohnabhängigen.

Unterordnung

Diese Politik ist jedoch kein Zufall, sondern Bestandteil der Unterordnung der Interessen der Lohnabhängigen unter die Erfordernisse der internationalen Konkurrenz. Die Diesel-Krise zeigt wieder einmal, dass die deutschen Gewerkschaften und Betriebsräte auf der Seite „ihres“ Unternehmens stehen. Die Zuspitzung der inner-imperialistischen Konkurrenz „festigt“ auch die Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele des deutschen Kapitals. Die Europapolitik der Bundesregierung, ihre Handels- und Exportinteressen werden wie auch die globalen Ambitionen Deutschlands gegenüber den USA und anderen KonkurrentInnen mehr oder weniger offen unterstützt – zumal, wenn sie, wie von Merkel beim G20-Gipfel vorgetragen, als „vernünftig“ und „humanitär“ daherkommen.

Diese Politik entspricht dem Interesse der ArbeiterInnenbürokratie. Ihr geht es nicht darum, den Imperialismus in Frage zu stellen, sondern einen für die deutschen ArbeiterInnen „vernünftigen“ sozialpartnerschaftlichen Kompromiss, einen Anteil am Erfolg des deutschen Kapitals auszuhandeln. Im Gegenzug bietet sie betriebliche Ruhe, Partnerschaft, Abwürgen jeder unabhängigen, kämpferischen Regung der Klasse – sei es durch Einbindung und Korrumpierung, sei es durch offene Repression.

Dabei stützen sich Führungen und Apparat der Gewerkschaften und die Konzernbetriebsräte nicht nur auf die bürokratische Kontrolle der Mitglieder. Sie bedienen sich auch der Spaltung der Klasse. Gewerkschafts- oder Betriebsratspolitik wird unter ihrer Ägide vor allem zur Politik für die im Verhältnis zur gesamten ArbeiterInnenklasse schrumpfenden tariflich gesicherten Stammbelegschaften der Großkonzerne und in Teilen des Öffentlichen Dienstes. Dieser relativ privilegierte Teil der Klasse – die ArbeiterInnenaristokratie – ist einerseits ein wichtiger Teil der Klasse der Lohnabhängigen, ja ihr am besten organisierter, andererseits jedoch über die Institution der Sozialpartnerschaft, der Mitbestimmung, der sozialdemokratischen Dominanz und Ideologie an die Gewerkschaftsführungen gebunden.

Die Sozialpartnerschaft prägt dabei alle größeren gewerkschaftlichen und betrieblichen Auseinandersetzungen, stellt ein Korsett dar, das nur schwer über eine systematische Oppositionspolitik und dies auch nur im Rahmen großer Kämpfe abzustreifen sein wird. Darüber hinaus hat sie aber auch enorme politische Auswirkungen. Sie erschwert, ja verhindert die Einbeziehung der Kernschichten der Klasse in politische und gesellschaftliche Mobilisierungen. Außerdem setzt sich die Klassenzusammenarbeit auf der politischen Ebene fort, mit der „Großen Koalition“ als ihrem derzeit „höchsten“ Ausdruck.

Auch unter der nächsten Regierung wird die Sozialpartnerschaft ein Kernbestandteil der deutschen Verhältnisse bleiben. Ohne konsequente Abkehr von dieser Ideologie werden die Verhältnisse hierzulande letztlich nicht aufzubrechen sein.

Die Bürokratie wird dabei die „Partnerschaft“ mit Zähnen und Klauen gegen jede linke Kritik verteidigen, da ihre eigene Vermittlerrolle zwischen Lohnarbeit und Kapital und auch ihre Privilegien an dieser hängen. Umgekehrt werden die nächsten Jahre auch zu Konflikten und Verwerfungen führen, die alle Schichten der ArbeiterInnenklasse in Konflikt mit Kapital und Kabinett und die Bürokratie an die Grenzen ihrer „Vermittlungsfähigkeit“ führen können.

Dazu müssen RevolutionärInnen jedoch nicht nur Chauvinismus und Reformismus kritisieren. Sie müssen zugleich auch in den Betrieben versuchen, der Masse der KollegInnen die Perspektivlosigkeit und Sackgasse zu verdeutlichen, in die sie die Politik der Spitzen führt. Dazu braucht es auch eine Taktik, die Anwendung der Einheitsfrontpolitik. Durch Aufklärung und Kritik allein werden die Massen nicht von ihrer Führung gelöst werden können. Es ist auch notwendig, an diese Forderungen zu stellen, von ihnen die Mobilisierung für die Interessen aller Beschäftigten zu verlangen, um so erstens die möglichst große Einheit im Kampf herzustellen und zugleich den KollegInnen zu verdeutlichen, dass es einer neuen, klassenkämpferischen Führung und einer demokratischen Erneuerung der Gewerkschaften bedarf.

Die SPD

Das Hauptsächliche am Schulz-Effekt war, dass dieser zuvor nicht Teil der Regierung war und gewissermaßen „unabhängig“ von der Großen Koalition als Kanzlerkandidat von der eigenen Mitglieder- und Anhängerschaft ernst genommen wurde. Schulz konnte dieser Basis eine Zeitlang „glaubhaft“ vermitteln, nicht allein deswegen anzutreten, um die nächste Koalition mit der Christenunion zu schmieden, sondern real eine Führungsposition der SPD zu beanspruchen. Sein Slogan „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ ließ vorübergehend die Befürchtung (bei Kapital und Union) aufkommen, hier könnte unbemerkt von der bisherigen SPD-Spitze eine „linkere“ Politik zu erwarten sein. Wahrscheinlich hoffte das auch die Basis, wie die höheren Umfrageergebnisse der ersten Monate seiner Kandidatur nahelegten. Dies wurde von Schulz und den Wahlkämpfen in Schleswig-Holstein und NRW zügig entkräftet. Albig und Kraft haben beide auch einen Schwerpunkt darauf gelegt, die Linkspartei „draußen“ zu halten. Als Schreckgespenst für die SPD-Spitze gilt nämlich weiterhin eine Bundesregierung mit der Linkspartei, wohl wissend, dass die Linkenspitze zwar zahm ist, aber trotzdem eine Generaländerung an bis Rücknahme von Hartz IV durchsetzen muss, um einigermaßen glaubwürdig zu bleiben.

Somit trägt die SPD auch ihren Teil zur „Regeneration“ der FDP bei. Schließlich soll die Ampel nun die Regierungskoalition sein, welche die SPD zur Kanzlerschaft führen soll.

An der letzten Bundesregierung konnte die SPD einen Mindestlohn und eine teilweise Herabsetzung des Renteneintrittsalters erreichen (nach 45 Beitragsjahren). Diese werden als soziale Wohltaten wohl den Wahlkampf bestimmen wie auch das angekündigte verlängerte Arbeitslosengeld Q (Qualifizierung) als Zukunftsversprechen. Wegen der zuletzt wieder einbrechenden Umfragewerte packte Schulz jetzt auch mal den Populismus in der Sommerpause aus. Wenn jetzt kein Druck auf die EU-Staaten gemacht würde, könnten sich die Ereignisse von 2015 wiederholen. Somit betreibt auch Martin Schulz ein schmutziges Spiel mit den Geflüchteten. Sein Spiel mit der Angst vor Überfremdung erhöht eher die Chancen der AfD.

Das Verhältnis zwischen SPD und DGB hat sich wieder stabilisiert. Gerade auch die passive Politik der Linkspartei in den Gewerkschaften trägt dazu bei. Während die Linkspartei auf eine „Linksregierung“ wie auf ein Wunder hofft, setzen Schulz und Co. auf Abgrenzung vom Linksreformismus, um dem Kapital ihre Treue zu beweisen, an der ohnedies niemand zweifelt.

 

Anhang: Bürgerliche ArbeiterInnenpartei

Als bürgerliche ArbeiterInnenparteien bezeichnen wir Formationen, die bürgerliche Politik in die ArbeiterInnenklasse reintragen, aber mit ihr über organische Bindeglieder verbunden sind.

In Deutschland zählen wir Linkspartei und SPD dazu. Die SPD stützt sich heute im Wesentlichen über ihr nahezu politisches Monopol in den Gewerkschaften auf unsere Klasse. Vorfeldorganisationen wie Bildungs-, Sport- und Gesangsvereine spielen eine geringere Rolle als vor dem 2. Weltkrieg oder keine mehr, auch wenn es nach wie vor Jusos, Falken, Arbeitersamariterbund, Arbeiterwohlfahrt und Mieterbund sowie SoVD (früher Reichsbund) gibt. Das sozialdemokratische Genossenschaftswesen in Wohnungsbau, Versicherungen und Bankwesen ist ebenso verschwunden, wie es die Konsumvereine oder die Parteimassenpresse sind. Die Teilnahme von IndustriearbeiterInnen an der Politik der sozialdemokratischen Grundorganisationen (Ortsvereine) ist ebenfalls deutlich rückläufig.

Die Linkspartei stützt sich wie die SPD auf die organisierte ArbeiterInnenbewegung, den politisch bewusstesten Teil der ArbeiterInnenmassen, hier aber mehr auf Organisationen in Wohnviertel und im Vorfeld (Volkssolidarität) sowie besonders seit der Fusion der PDS mit der WASG auf eine Minderheit im DGB-Funktionärskörper. Beide Parteien sind eigenständige Schöpfungen der ArbeiterInnenbewegung, verfolgen indes seit 1914 (SPD) bzw. 1935 (KPD als Vorläuferin der SED/PDS/Linkspartei) eine durch und durch bürgerliche und konterrevolutionäre Politik. Sie stellen folglich das größte Hindernis für den Aufbau einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei innerhalb (!) der ArbeiterInnenbewegung dar.

Im Gegensatz zu den offen bürgerlichen Formationen zieht sich ein Klassenwiderspruch durch die reformistischen ArbeiterInnenparteien. Um den Einfluss der Bürokratie zu brechen und ihre Massenbasis für revolutionäre Politik zu gewinnen, dürfen wir uns nicht mit bloßer Propaganda begnügen, sondern müssen das Arsenal der Einheitsfronttaktiken ausschöpfen.

Keine Kategorien wie „liberale“ Partei für die SPD und auch kein Wahlboykott werden ihre Vorherrschaft über die organisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse brechen.

Wir wissen, dass diese von der konterrevolutionären ArbeiterInnenbürokratie dominierten Parteien und Gewerkschaften Sozialrassismus und -chauvinismus betreiben. Aber dies müssen wir den ihnen nach wie vor folgenden ArbeiterInnenmassen vermitteln – nicht nur in der Propaganda, sondern v. a. im Kampf für gemeinsame Ziele.

Dazu dient z. B. die „kritische Wahlunterstützung“ gegenüber diesen Parteien, wenn die KommunistInnen aus Schwäche nicht selbst kandidieren können außer als Farce wie bei den „Parteien“ DKP, MLPD oder der SGP.

Heute sehen wir in der kritischen Wahlempfehlung für DIE LINKE allerdings sehr viel mehr Möglichkeiten für Diskussion und Debatte als mit der anderen verbliebenen bürgerlichen ArbeiterInnenpartei, der SPD. Diese hat nicht allein historisch ihre Stellung zum deutschen Imperialismus bewiesen, sondern auch durch die Agenda 2010 und Hartz IV ganz konkret, wie ihre Regierungspolitik aussieht, und dabei die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Diese Partei bleibt auf diesem Kurs und hat sich in mehreren Koalitionen mit CDU/CSU derzeit als deren Mehrheitsbeschafferin etabliert. Dort ist derzeit keinerlei Bewegung nach links zu verorten, dort wäre eine Taktik der kritischen Wahlunterstützung derzeit unangebracht. Das kann sich aber auch ändern, wie z. B. die aktuellen Geschehnisse in der britischen Labour Party zeigen. Dort kamen hunderttausende neue Mitglieder in die Partei und schufen den Raum, neu über Wahlmanifest, Regierungsprogramm und Widerstand gegen Kapital und Tories zu diskutieren.

Das heißt auch, dass die Taktik der kritischen Wahlunterstützung stets von den Faktoren des Klassenkampfes, also auch von den Möglichkeiten für KommunistInnen, dort einzugreifen, abhängt.




Aufruf: Wählt Linkspartei, aber organisiert den Kampf!

Tobi Hansen, Neue Internationale 222, September 2017

Die SPD als größere, reformistische Partei steht treu zum deutschen Imperialismus. Sie steht für eine Fortsetzung der Politik der Großen Koalition, wenn auch vorzugsweise in einer Ampel-Koalition aus SPD, Grünen, FDP.

Die Linkspartei ihrerseits hat seit Jahren bewiesen, dass sie eine bürgerliche Partei ist, also auf dem Boden von Parlamentarismus und Privateigentum steht. Den Kapitalismus will sie – abseits eines diffusen Sozialismusverständnisses – nicht abschaffen, sondern reformieren. Im Unterschied zur SPD verspricht sie aber „echten“ Reformismus, einen Bruch mit dem Neo-Liberalismus und schrittweise Verbesserungen, die durch eine „Linksregierung“ umsetzbar wären.

Ziel?!

Offizielles Ziel bleibt daher die Regierungsbeteiligung auf Bundesebene: Egal wie viele Knüppel und Minen die SPD in den Weg legt, die Linksparteispitze bietet sich an. Das tut sie auf verschiedene Weise, sei es offiziös mit Kipping/Riexinger und den gemeinsamen Versammlungen mit SPD-ParlamentarierInnen oder tendenziös mit Wagenknecht, welche zwar nach außen die „härtesten“ Bedingungen stellt (Hartz IV, Kriegseinsätze), aber im „Inneren“ (Abschiebung, Grenzregime) Bereitschaft signalisiert. Sie leistet dies außerdem durch die Landesregierungen in Thüringen, Berlin und Brandenburg

Auch in den Gewerkschaften, wo die Linkspartei durchaus einen gewissen Einfluss hat, lehnt sie es ab, den sozialdemokratisch organisierten Apparat als Opposition herauszufordern und eine organisierte Gegenkraft aufzubauen. Im Gegenteil, sie stützt die Bürokratie und verhält sich in den Gewerkschaften als Junior-Partner der Sozialdemokratie, auch wenn viele Mitglieder und GewerkschafterInnen der Partei eine linkere Linie vertreten oder von ihrer Partei wünschen würden.

Zugleich präsentiert sie sich als „einzige Oppositionskraft“, wohl wissend, dass es 2017 wieder nicht für einen Sitz in der Bundesregierung reichen wird.

Ungewollt erscheint sie in der Öffentlichkeit somit als einzige Partei, die für keine Koalition zur Verfügung stünde. Dieser Schein wird noch dadurch genährt, dass die Linkspartei selbst zum Teil aus einer Abspaltung aus der SPD hervorging (WASG). Sie repräsentiert jene Teile der Klasse, die gegen die Agenda 2010 aufstanden, Auslandsinterventionen der Bundeswehr und Sozialabbau ablehnen, ja bekämpfen wollen. Anders als die SPD sind die Linkspartei und ihr Umfeld ein Teil der außerparlamentarischen Mobilisierungen.

Kräfteverhältnis

In der aktuellen Konstellation repräsentiert eine Stimme für die Linkspartei – trotz ihrer halbherzigen reformistischen Politik – eine Ablehnung der aktuellen Angriffe, der Festung Europa (jedenfalls in ihrer schlimmsten Form) sowie des europäischen Imperialismus.

Darüber hinaus sind die Wahlen zum Bundestag auch ein Gradmesser für das politische Kräfteverhältnis in Deutschland, also auch in der ArbeiterInnenbewegung. Eine Stimme für die Linkspartei ist eine Stimme für die einzig relevante Kraft, die sichtbar und zählbar auch eine Ablehnung der Politik der Großen Koalition wie auch aller bürgerlichen Oppositionsparteien, von AfD, Grünen bis zur FDP, zum Ausdruck bringt.

Daher rufen wir zur Wahl der Linkspartei auf. Für KommunistInnen ist eine solche Empfehlung ebenso wenig Selbstzweck wie Anbiederung an die linkere reformistische Partei.

Die Millionen von WählerInnen der Linkspartei wollen ein anti-neoliberales, teilweise auch ein antikapitalistisches Zeichen setzen, gegen Hartz IV, NATO, Kriegseinsätze, Rassismus und Faschismus.

Mehr noch: Ein Wahlaufruf für die Linkspartei versucht, an diesen Hoffnungen anzuknüpfen, diese aufzugreifen. Wir verbinden diesen aber damit, dass wir von der Linkspartei insgesamt fordern, für ihre Versprechen nicht nur im Wahlkampf zu werben, sondern diesen zur Vorbereitung der Mobilisierung im Kampf gegen die nächste Bundesregierung zu nutzen. So schlagen wir vor, dass die Linkspartei möglichst rasch nach den Wahlen gemeinsam mit anderen Linken, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen eine Aktionskonferenz mitorganisiert, auf der die Politik der nächsten Regierung analysiert und ein Forderungs- und Mobilisierungsplan verabschiedet wird. Dazu sollten vorbereitende Treffen in allen Großstädten, an Schulen, Unis und in den Betrieben und Gewerkschaftsgruppen stattfinden.

Auch für das Selbstvertrauen vieler ArbeiterInnen und AktivistInnen, die wir für eine solche Perspektive gewinnen wollen, macht es einen Unterschied, ob z. B. die Linkspartei stärker als die AfD wird oder ob durch die Stärke der Linkspartei eine schwarz-gelbe Traumregierung des Kapitals verhindert werden kann. Beides ist im Interesse der ArbeiterInnenklasse in Deutschland. Das darf auch der hiesigen „radikalen“ Linken nicht egal sein. Der/die, dem/der es das ist, stärkt dadurch indirekt die offen bürgerlichen Parteien. Das ist vielleicht politisch nicht gewollt, ist aber die wahltechnische und vor allem reale politische Konsequenz.




Perspektive: Für ein Programm des Klassenkampfes!

Tobi Hansen, Neue Internationale 222, September 2017

Die kommende Bundesregierung wird – unabhängig von ihrer Farbkombination – eine bürgerliche Regierung sein, die die imperialistische Formierung der EU vorantreibt, deren Außengrenzen weiter abschottet und „überzählige“ Geflüchtete abschieben will. Sie soll nicht nur im Inneren, sondern vor allem auch nach außen durch Aufrüstung und neo-liberale Freihandelspolitik die politischen und ökonomischen Interessen des Kapitals absichern. Innenpolitisch werden weitere Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse wie Umstrukturierungen, Privatisierungen, aber auch Mieterhöhungen und Tariflöhne anstehen, die kaum den Inflationsverlust wettmachen und für immer weniger Beschäftigte gelten. Vor allem den von Armut und Unsicherheit betroffenen Schichten der Lohnabhängigen – Frauen, Jugendlichen, RentnerInnen, MigrantInnen – droht eine weitere Verschlechterung ihrer Situation.

Der folgende Abschnitt skizziert daher zu Schlüsselfragen der nächsten Jahre zentrale Forderungen, für die die Linkspartei (wie die gesamte ArbeiterInnenbewegung) mobilisieren muss, um sie überhaupt durchsetzen zu können. Von Seiten der Linkspartei würde das einen Bruch mit ihrer auf Parlamentarismus und Koalitionssuche ausgerichteten Politik erfordern. Wir richten sie daher an die Führung, Mitgliedschaft und alle WählerInnen der Partei. Wenn die Partei und selbst ihre Führung eine Politik im Interesse der Lohnabhängigen versprechen, so mögen sie auch Taten folgen lassen. Zugleich sollten die Mitglieder und WählerInnen der Partei für die folgenden Forderungen oder auch nur einzelne Punkte daraus mobilisieren, den Kampf aufnehmen.

Kampf dem Rassismus!

Eine klassenkämpferische Linke muss die Kämpfe von Geflüchteten und MigrantInnen ohne Wenn und Aber unterstützen und direkt mit den Forderungen der gesamten ArbeiterInnenklasse verbinden. Nur so ist es möglich, rassistische Spaltungen zu bekämpfen. Fragen von Löhnen, Wohnungen, medizinischer Betreuung und Zugang zu Qualifizierungsmaßnahmen dürfen nicht abgekoppelt werden von existierenden Bewegungen und Forderungen:

  • Nein zur Festung Europa, offene Grenzen für alle, die hier leben wollen! Nein zu allen Abschiebungen! Volle StaatsbürgerInnenrechte, Recht auf Arbeit und freie Wahl des Wohnorts!
  • Bezahlbarer Wohnraum für alle inklusive der Geflüchteten! Enteignung leerstehenden Wohnraums im Besitz von SpekulantInnen und Superreichen! Für ein öffentliches Wohnungsbauprogramm, finanziert aus der Besteuerung des Kapitals und unter Kontrolle von Gewerkschaften und MieterInnenkomitees!
  • Nein zur Zwangsarbeit und erzwungenen Lohndrückerei durch 80-Cent-Jobs! Mindestlohn und tarifliche Bezahlung für alle!
  • Öffnung der Gewerkschaften für Geflüchtete und deren Aufnahme mit allen Mitgliedsrechten!

Gegen Leiharbeit, Prekarität, Ausgrenzung!

Um aktuellen und zukünftigen Spaltungen entgegenzuwirken, braucht es eine komplette Umkehr der Politik der ArbeiterInnenbewegung und vor allem der Gewerkschaften. Hier sollte die Linke für die Organisierung der Prekären, des Niedriglohnbereichs, der Geflüchteten eintreten. Das kann Spaltungen innerhalb der Klasse verringern und ihr trotz zunehmender sozialer Unterschiede in ihren eigenen Reihen (Lohnspreizung, Prekarität…) die Vorzüge kollektiven Handelns darstellen. Dazu gehört auch der Kampf gegen jegliche tarifliche Anerkennung der Leiharbeit: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist kein Sonntagsmotto, sondern ein historischer Grundsatz der Gewerkschaftsbewegung.

  • Mindestlohn von 12,- Euro netto für alle! Abschaffung der Hartz- und Agenda-Gesetze! Arbeitslosengeld und Rente auf Höhe des Mindestlohns!
  • Offensive Lohn- und Gehaltspolitik der Gewerkschaften, um die Einkommensverluste der letzten Jahre wettzumachen!
  • Abschaffung von Leiharbeit, Verbot von Überstunden! Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich!
  • Vetorecht für Gewerkschaften und Betriebsräte gegen jedes Outsourcing!
  • Entschädigungslose Enteignung aller privatisierten Unternehmen, vor allem der öffentlichen Versorgung (Wasser, Energie, Bildung, Verkehr, Gesundheitswesen, …).
  • Das Recht auf politischen Streik erkämpfen! Abschaffung aller Gesetze, die das Recht auf Streik, gewerkschaftliche und politische Organisierung einschränken, darunter auch die sog. „Tarifeinheit“!
  • Kontrolle der Gewerkschaftsmitglieder über ihre Organisation! Streiks und Besetzungen bei angedrohten Entlassungen und/oder Betriebsschließungen! Wahl von Streikkomitees, die den Beschäftigten gegenüber rechenschaftspflichtig und von diesen abwählbar sind!

Kampf jeder gesellschaftlichen Unterdrückung!

Wie die Lage der MigrantInnen und Geflüchteten hat sich auch die Lage von Frauen, Jugendlichen, sexuell Unterdrückten, Menschen mit Behinderung oder Alten in den letzten Jahren mehr und mehr verschlechtert.

  • Sicherung der materiellen Unabhängigkeit von Jugendlichen und RentnerInnen! Gleiche Rechte (einschließlich des Wahlrechts) für Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit für alle! Nein zu allen Angriffen auf die Rechte von Frauen und sexuell Unterdrückten!
  • Recht aller Unterdrückten auf Selbstorganisation und eigene Treffen in den Gewerkschaften!

Gegen Militarismus und Krieg!

  • Nein zu jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr, sei es unter NATO- oder UNO-Flagge! Sofortiger Abzug aller in Auslandseinsätzen stehenden Truppen! Austritt aus der NATO, nein zu jeder europäischen Armee und Allianz!
  • Nein zu Wirtschafts- und Handelsboykotten (wie z. B. den Sanktionen gegen Russland) – diese dienen letztlich immer nur imperialistischen Interessen! Nein zu Rüstungsexporten an reaktionäre Regime wie Saudi-Arabien und die Türkei!
  • Keine Bundeswehr an Schulen und Unis! Für das Recht auf offene politische Betätigung in der Armee!

Die Reichen müssen zahlen – Enteignung der Großkonzerne und Banken

Jede soziale, fortschrittliche Maßnahme wie beispielsweise der ökologische „Umbau“ der Gesellschaft wie auch Abwehrmaßnahmen gegen drohende Massenentlassungen oder Umstrukturierungen in Großkonzernen oder Zulieferindustrie müssen schöne Worte bleiben, wenn wir nicht an die Profite und das Eigentum der Reichen, an das Großkapital herangehen!

  • Abschaffung der indirekten Massensteuern (Mehrwertsteuer), für die progressive Besteuerung von Vermögen, Besitz und Gewinnen!
  • Entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne, Banken, Finanzinstitute unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Umstrukturierung der Produktion gemäß der Interessen der Lohnabhängigen und ökologischer Nachhaltigkeit!

Gegen europäische Austerität – für ein sozialistisches Europa!

Wir brauchen eine Antwort auf die falsche Alternative zwischen dem Europa des Kapitals und dem „Exit“, dem reaktionären Zerfall der EU mit Rückzug auf Nationalstaaten und Nationalismus.

Wir brauchen grenzübergreifende Initiativen, welche den Klassenkampf auf europäisches Niveau heben und koordinieren. Unsere Alternative zum Europa des Kapitals besteht nicht in einer „sozialen EU“, wo Marktwirtschaft, Militarismus und Rassismus nur sozial(chauvinistisch) ausgestaltet werden.

Gegen das Europa des Kapitals und die EU treten wir für die Einheit im Klassenkampf und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ein!




Taktik und Orientierung: “Radikale Linke” und die Wahlen

Jürgen Roth, Neue Internationale 222, September 2017

Im Grunde zerfallen die Positionen der „radikalen“ Linken zur Bundestagswahl in vier Kategorien. Ein Teil enthält sich jeder eigenen Stellungnahme. „Begründet“ wird diese Haltung damit, dass Wahlen schließlich nicht so wichtig wären, der Kampf auf der Straße oder im Betrieb ausgefochten werden müsse. Politisch ist diese pseudoradikale Antwort eigentlich ein Armutszeugnis, bei dem sich angebliche „RevolutionärInnen“ zur wichtigsten politischen Auseinandersetzung im Herbst 2017 erst gar nicht äußern!

Ein weiterer Teil, besonders das anarchistische und autonome Spektrum, ruft zur Wahlenthaltung oder zum ungültig Wählen auf, wobei letzteres oft auch noch mit einem Boykott verwechselt wird.

Dieser ist aber genau genommen eine aktive Klassenkampfmethode zur Verhinderung einer Wahl, wenn bereits Organe existieren, die über das bürgerliche System hinausweisen (Generalstreikausschüsse, Räte…). Ansonsten bleibt er allenfalls eine leere Geste, wo eine Vielzahl von Motiven für eine Wahlenthaltung, ein Fernbleiben oder eine ungültige Stimme zu einer gemeinsamen politischen Haltung umgedichtet werden.

Ungültig, Boykott, …?

Ein Teil der Gruppierungen, die zur ungültigen Stimmabgabe aufrufen, lehnt die Beteiligung an Wahlen nicht grundsätzlich ab – für sie gibt es nur nichts „Vernünftiges“ im Angebot. Die linken Kleinstparteien würden nichts repräsentieren und hätten außerdem kein revolutionäres Programm. Beide Vorwürfe stimmen.

Die Linkspartei könne auch nicht unterstützt werden, weil sie nur bürgerlich wäre und außerdem nicht kämpfen würde. Würde sie letzteres tun, wäre ein Wahlaufruf unter Umständen gerechtfertigt. Das Problem mit dieser Position ist eigentlich, dass sie den Aufruf für eine reformistische (also bürgerliche) Partei, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützt, von deren Programm und dem Handeln ihrer Führung abhängig macht.

Wir rufen zur Wahl einer solchen Partei jedoch nicht wegen ihres Programms auf. Auch der linke Reformismus ist letztlich eine bürgerliche Ideologie. Aber Parteien wie die Linkspartei sind nicht nur bürgerlich, sie haben auch die Besonderheit, dass sie sich auf die organisierte ArbeiterInnenklasse stützen – also jene Kraft, die wir gewinnen müssen, wenn der Klassenkampf erfolgreich geführt und vor allem der Kapitalismus gestürzt werden soll.

Jene ArbeiterInnen und Jugendliche, die mithilfe der Linkspartei die offen bürgerlichen Parteien schlagen wollen, führen daher – wenn auch auf dem Boden des Parlamentarismus – eine Form der Klassenauseinandersetzung mit den bürgerlichen Kräften. Hier neutral zu bleiben, sich zu enthalten, ist nicht revolutionär, sondern passiv. Anders wäre es, wenn wir selbst stark genug für eine revolutionäre Eigenkandidatur wären.

Eigenkandidaturen

Die vorgeblich trotzkistische „Sozialistische Gleichheitspartei“ SGP tritt mit 2 Landeslisten (Berlin, NRW) sowie mehreren DirektkandidatInnen an. Im Mittelpunkt ihres Wahlkampfs steht die Opposition gegen Krieg und Militarismus sowie das Eintreten für eine revolutionäre, sozialistische Perspektive – so ihre Selbstaussage. Diese hehren Ziele werden jedoch zur Makulatur angesichts der anti-revolutionären Positionen, die diese Pseudo-Partei vertritt. So lehnt sie das nationale Selbstbestimmungsrecht ab, die Gewerkschaften gelten ihr als reaktionär, Bündnisse mit anderen Linken schließt diese Sekte erst gar nicht.

Die MLPD kandidiert als Internationalistische Liste/MLPD zu den Bundestagswahlen. Ihre gemeinsamen Forderungen im Wahlmanifest sind allesamt verwaschen („Der Jugend eine Zukunft!“), wenn auch richtig – mit Ausnahme der Bezeichnung des türkischen Staats als faschistisch und des sofortigen Verbots aller faschistischen Organisationen. Gekrönt wird das Programm mit der schwammigen Losung „Für eine befreite Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung…“. Nur für die Mehrheit der Liste ist das aber nach eigenem Bekunden mit Sozialismus identisch!

Die DKP, wohl eher als beide vorgenannten Organisationen noch als Partei zu bezeichnen, legt ein Sofortprogramm für Frieden, Arbeit, Solidarität, Bildung und bezahlbares Wohnen vor, verzichtet aber auf jeden Bezug zum Maximalziel.

Von der Methode eines revolutionären Übergangsprogramms, das in konkreten Schritten taktisch wie strategisch den Weg von heute bis zur Machtergreifung darlegt, sind alle drei meilenweit entfernt. Revolutionäre KommunistInnen unterstützen solche Kandidaturen nicht. Ihre Programme sind nicht revolutionär, an manchen Punkten nicht einmal linker als jenes der Linkspartei. Allenfalls versprechen sie mehr. Im Gegensatz zu dieser verfügen sie über keine bedeutende Verankerung . Während die Linkspartei über eine wirkliche, wenn auch zumeist eher passive Massenbasis verfügt, die aktiviert und vom Reformismus gebrochen werden kann, gibt es diese bei den Mini-Kandidaturen praktisch nicht – damit entfällt aber eine zentrale Voraussetzung für eine etwaige kritische Unterstützung.

Die „Linken“ in der Linkspartei

Die sich auf den Trotzkismus berufenden Gruppen marx21 und SAV – letztere ist Mitglied in der Antikapitalistischen Linken (AKL) der Linkspartei – krebsen seit über 10 Jahren dort herum. Für Trotzki war ein möglicher Entrismus (Eintritt) in größere zentristische oder reformistische Gebilde nur als kurzfristiges Manöver von wenigen Jahren, eventuell auch nur wenigen Monaten gedacht. Er hatte zur Bedingung eine Linksentwicklung und eine dort sich abspielende Auseinandersetzung mit der Parteiführung.

Die DauerentristInnen kaschieren das Fehlen dieser Bedingungen mit dem Verweis darauf, dass der Aufbau einer unabhängigen Organisation hintangestellt gehört, weil die Entwicklung zum revolutionären Klassenbewusstsein zwangsläufig über den Mitgliederzustrom in solche Parteien erfolge und/oder diese irgendwie einen unbestimmten Klassencharakter trügen, ihre Politik also keine bürgerlich-konterrevolutionäre der ArbeiterInnenbürokratie sei. Ähnlich wie bei der SPD vor 1914 und der KPD vor 1933 halten sie diese Formationen für reformierbar, wozu man nur abwarten müsse, bis besagte ArbeiterInnenmassen einträten.

Das heißt nicht, dass AKL, SAV oder auch marx21 die Politik der Führung der Linkspartei oder wenigstens des rechten Flügels in Berlin, Brandenburg, Thüringen nicht auch kritisieren würden. Aber diese Kritik verbleibt immer zwiespältig – und zwar nicht nur oder in erster Linie wegen opportunistischer Anpassungen, sondern vor allem, weil so getan wird, als wären die Regierungsbeteiligungen nicht logische Konsequenz eines reformistischen Programms, sondern nur ein „Ausrutscher“. Damit wird letztlich unterstellt, dass es eine bürgerliche ArbeiterInnenpolitik, eine Politik, die auf den revolutionären Sturz des Kapitalismus verzichten will, ja diesen bekämpft, geben könne, die ihre Ziele ohne Anstreben von Regierungsverantwortung überhaupt umsetzen könne.

Regierungsfrage

Die AKL als größte linke Kraft in der Linkspartei beantwortet dieses Problem auf ihrer Bundesmitgliederversammlung vom 16. März 2017 in Hannover folgendermaßen: „…eine rot-grüne Minderheitsregierung ins Amt zu bringen und allen möglichen Verbesserungen der sozialen Lage der Beschäftigten und Erwerbslosen, Jugendlichen und Rentner*innen einer Regierung unter Schulz im Einzelfall zuzustimmen und alle Verschlechterungen abzulehnen.“ Gäbe es gegen eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei keine Mehrheit, sollten die sogenannten Roten Haltelinien geschärft werden (z. B. keine Auslandseinsätze statt keine Kampfeinsätze).

Auch wir würden natürlich progressive Maßnahmen von Rot-Grün unterstützen, aber im Gegensatz zur AKL keine Koalition mit offen bürgerlichen Parteien ins Amt wählen – und sei es noch so kritisch. Für den Fall einer Beteiligung der eigenen Partei an einer solchen Regierung zieht sich die AKL dann auf „Rote Haltelinien“ zurück – eine Linie, die auch von marx21 vertreten wird.

Koalitionen mit den Grünen sind grundsätzlich abzulehnen, auch wenn sie sich auf den ersten Blick politisch von SPD und selbst der Linkspartei wenig zu unterscheiden scheinen. Aber die Grünen hatten nie organische Bindeglieder zur ArbeiterInnenklasse. Während Alleinregierungen von bürgerlichen ArbeiterInnenparteien ein Mittel sein können, den Gegensatz zwischen der proletarischen Basis und ihrer Führung zuzuspitzen und somit die Polarisierung in der Partei deutlichere Züge annehmen kann, so entfällt bei den Grünen diese Möglichkeit. Sie würden sich vielmehr als zusätzliches Gewicht der herrschenden Klasse erweisen.

Aber eigentlich möchten AKL und marx21 vorläufig gar keine Regierungsbeteiligung der Linkspartei, weil die „unbefleckte“ Parteiweste damit nur besudelt werden würde. Hinter diesem Radikalismus offenbart sich deren Opportunismus. Im Falle einer Regierungsbeteiligung fürchten sie nämlich, dass sich der bürgerliche Charakter der Linkspartei für die Massen „zu früh“ offenbart und damit die eigene illusorische Hoffung entlarvt, dass die Partei sich unter dem Druck der Ereignisse zu einer „echten“ sozialistischen weiterentwickeln könne.

Die opportunistische und in sich inkonsequente Politik der Linken in der Linkspartei spielt letztlich nicht nur Bartsch, Gysi, Wagenknecht, Riexinger und Kipping in die Hände – sie nährt auch den Pseudoradikalismus jener, die auf jede Haltung zur Wahl verzichten, sich in Enthaltungs- und Boykottaufrufen ergehen oder ihr Heil in zentristischen oder stalinistischen Kleinparteien suchen.




Sexismus – Reaktionäre marschieren “für das Leben”

Christian Gebhardt, Neue Internationale 222, September 2017

Am 16. September wird auch dieses Jahr in Berlin der „Marsch für das Leben“, ein Schweigemarsch in Gedenken an alle abgetriebenen Embryonen und Föten („Kinder“), stattfinden. Er steht dieses Jahr unter dem Motto: „Marsch für das Leben. Die Schwächsten schützen – Selektion und Abtreibung beenden“. Die FundamentalistInnen fordern eine Revision der bestehenden Abtreibungsgesetze. Für sie soll der gesetzliche Schutz des Lebens als alleiniger Richtwert gelten und das beginnt für die „LebensretterInnen“ schon ab der Befruchtung. Laut ihnen gehört „staatliche Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen“ abgeschafft, und die frei werdenden Mittel sollen eher „in die Zukunft der Kinder“ investiert werden. Die Kosten einer Abtreibung sollen alleine auf die Frauen abgewälzt werden und durch finanziellen Druck zum Austragen des „Kindes“ führen.

Wer steht hinter dem Marsch?

Den VeranstalterInnen des Marsches geht es um mehr als Angriffe auf die Selbstbestimmung der Frauen. Kirchen, Freikirchen sowie PolitikerInnen des konservativen und rechten Spektrums halten die Familie als Fundament unserer Gesellschaft hoch. Nichtheterosexuelle Sexualität und Abtreibung haben ihnen zufolge an Schulen und in Köpfen nichts zu suchen. Ihre reaktionäre Haltung zeigt sich also nicht nur darin, Verhütungsmittel, Abtreibungen und sexuelle Aufklärung zu verhindern. Ihr ideologischer Kampf um die bürgerliche Familie ist die treibende Kraft hinter ihren reaktionären Forderungen.

Dass täglich Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen sterben, ist hierbei egal. Die natürliche Aufgabe einer erfüllten Frau sei es nun mal, Kinder zu bekommen und diese großzuziehen. Ob sie dabei noch andere Familienangehörige pflegen oder gar arbeiten muss, kümmert nicht. Die Natur und Gott haben nun mal gesprochen und nicht die Frau, sondern „das Schicksal“ soll über das Leben entscheiden.

Recht auf Abtreibung durchsetzen

Die realen Ursachen, die Frauen zu einer Abtreibung bewegen, interessieren nicht. Vielmehr wird der „Schutz des ungeborenen Lebens“ mythologisiert. Im „Namen des Kindes“ sollen die über Jahrzehnte erkämpften Rechte der Frauen moralisch und politisch diskreditiert werden, um so die reaktionären Interessen der „LebensschützerInnen“ vor allem gegen die lohnabhängigen Frauen durchzusetzen.

Dabei existiert selbst in Deutschland das Recht auf Abtreibung nur eingeschränkt. In rechtlicher Hinsicht stehen ihm Fristenlösungen und Zwangsberatungen im Weg, in materieller Hinsicht wird es dadurch behindert, dass die Abtreibung eben nicht kostenfrei erfolgt oder in konservativen Regionen nicht ausreichend Klinken zur Verfügung stehen.

Die Forderung nach kostenfreier Abtreibung auf Wunsch, ohne Fristen und Einschränkungen bleibt daher ein zentrales Ziel der Linken, der Frauenbewegung, der ArbeiterInnenklasse.

Der Kampf gegen die Ideologie und das reaktionäre Frauenbild der LebenschützerInnen ist eben nicht nur ein ideeller – und darf auch nicht nur auf dieser Ebene geführt werden. Schließlich bildet die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die private Organisierung der Hausarbeit in der Kleinfamilie die Basis für die Entstehung und Reproduktion angeblich natürlicher Geschlechterrollen. Dieser kann letztlich nur der Boden entzogen werden, indem der Kampf für sexuelle Selbstbestimmung mit dem Kampf für die Vergesellschaftung der Hausarbeit, darunter der Kindererziehung wie der Pflege von Angehörigen, verbunden wird.




Welcome united – Wie weiter im Kampf gegen Rassismus?

Christian Gebhardt, Neue Internationale 222, September 2017

Anlässlich des zweiten Jahrestages des „March of Hope“ ruft „Welcome united!“ ab dem 2. September zu dezentralen Aktionen auf. Diese sollen am 16. September in einer bundesweiten Demonstration in Berlin gipfeln.

Das Bündnis spricht sich deutlich gegen das Töten im Mittelmeer aus, fordert die Bereitstellung sicherer Fluchtwege und das Recht aller Menschen, zu wohnen und zu bleiben, wo sie wollen. Mit anderen Worten wird die Forderung nach offenen Grenzen aufgestellt, eine wichtige Forderung, die die antirassistische Bewegung bisher leider viel zu wenig in den Vordergrund gerückt oder gar nicht erst aufgeworfen hatte. In Zeiten zunehmender Grenzkontrollen, staatlicher Abschottung und Repression an den Grenzen ist diese Forderung genauso bedeutend, wenn nicht sogar wichtiger als vor zwei Jahren!

Wo sind die Organisationen der ArbeiterInnenbewegung?

Wir begrüßen die Aktionstage wie auch die bundesweite Mobilisierung. In einer Phase, in der sich der antirassistische Widerstand in Zeiten eines wachsenden Rechtspopulismus und eines Rechtsrucks in der Gesellschaft in der Defensive befindet, ist es wichtig, ein kraftvolles Zeichen in Form einer bundesweiten Mobilisierung zu setzen. Ein solches kann nicht nur der Bewegung selbst Motivation und Dynamik geben, es kann auch eine sichtbare, politische Alternative von links weisen.

Positiv hervorzuheben ist zusätzlich auch, dass sich die Großdemonstration auf die Bundestagswahl bezieht und eine Woche davor stattfindet. Damit wird klargestellt, dass der antirassistische Widerstand nicht nur soziale, sondern auch politische Fragen aufgreifen und beantworten muss. Dies spiegelt sich auch im Forderungskatalog von „Welcome united!“ wider.

Jedoch hat die Bezugnahme auf die Bundestagswahl auch einen negativen Einfluss auf das Bündnis und die Frage, an wen die politischen Forderungen gerichtet werden. Um nicht den Vorwürfen ausgesetzt zu sein, Wahlkampf für eine bestimmte Partei zu betreiben, werden die Forderungen lieber nicht an bestimmte VertreterInnen gestellt oder sollen gar diese Parteien in das Bündnis integriert werden. Aber gehen wir nun auf die Straße, um willkürlich an alle im künftigen Bundestag vertretenen Parteien zu appellieren? Appellieren wir also auch an die Abgeordneten der CDU/CSU, Grünen und womöglich der FDP? Begehen wir somit nicht den gleichen Fehler wie vor zwei Jahren, als die antirassistische Bewegung die „Einheit der DemokratInnen“ suchte, anstatt einen klassenkämpferischen Ansatz zu verfolgen?

Perspektive für den Kampf?

Wir sprechen uns schon seit Jahren für die Schaffung eines bundesweiten, antirassistischen Aktionsbündnisses aus. Dieses soll nicht nur aus Organisationen der Refugees, der radikalen Linken und SupporterInnenstrukturen bestehen, sondern auch die Massenorganisationen der ArbeiterInnenbewegung beinhalten. Wir begrüßen zwar das Zustandekommen von „Welcome united!“ und sehen darin einen Schritt in die richtige Richtung hin zur Wiederbelebung einer notwendigen antirassistischen Widerstandsbewegung. Jedoch muss die Frage gestellt werden, warum nicht einmal Basisstrukturen der Linkspartei mit als UnterzeichnerInnen auftauchen geschweige denn die Linkspartei als Ganze, die Gewerkschaften oder gar die SPD? Ist dies politisch gewollt? Und wenn ja, warum?

Wollen wir die berechtigten Forderungen von „Welcome united!“ nicht nur abstrakt pünktlich zu den Bundestagswahlen an alle und jedeN artikulieren, sondern auch die Durchsetzung dieser erreichen, muss sich die antirassistische Bewegung die Frage stellen, wer der/die strategische PartnerIn ist, mit wem sie diese Ziele erreichen kann. Für uns stellt dies die hiesige europäische und weltweite ArbeiterInnenklasse dar.

Eine Aufforderung an die Mitglieder, aber auch an die Führungen der Linkspartei, der SPD und der Gewerkschaften, mit dem staatlichen Rassismus und Sozialchauvinismus zu brechen und unsere Proteste zu unterstützen, darf aber nicht damit verwechselt werden, diesen politisches Vertrauen oder gar einen Blankoscheck auszustellen. Die Erfahrungen mit rot/roten oder rot/rot/grünen Landesregierungen zeigen uns, dass auf die Führungen dieser Parteien kein Verlass ist. Dennoch muss ein Weg gefunden werden, das Vertrauen der ArbeiterInnenklasse, das sie immer noch in ihre Organisationen setzt, aufzulösen. Wie sonst kann dies bewerkstelligt werden als in der gemeinsamen Aktion und Praxis?

Infos über die Aktionswochen und die bundestweite anti-rassistische Parade in Berlin am 16. September:

www.welcome-united.org




Venezuela am Scheideweg: Eine neue Strategie ist nötig

Martin Suchanek, Infomail 956, 12. August 2017

Die Zusammenkunft der neuen verfassunggebenden Versammlung hat das neuste und wahrscheinlich entscheidende Kapitel in Venezuelas politischer Krise aufgeschlagen. Präsident Nicolás Maduro berief die Versammlung ein, um seinem Regime eine größere demokratische Legitimation zu geben und das Parlament an den Rand zu drängen, das von MUD, einer Allianz rechter Oppositionsparteien, dominiert wird. Dies war eine verzweifelte Maßnahme, um der zunehmenden Instabilität, Inflation und Hungersnot zu begegnen. Sie wird jedoch eher dazu führen, die Grundlage des Rückhalts für die Regierung zu schmälern und sich vermehrt auf die Unterstützung des repressiven Apparats zu verlassen, der selbst unzuverlässig ist. Obwohl sie die verfassunggebende Versammlung nachahmt, die die gegenwärtige Verfassung beschlossen hatte, unterscheidet sich die jetzige Versammlung doch von jener im Juli 1999, die auf dem Höhepunkt der „Bolivarischen Revolution“ gewählt worden war.

Zuspitzung

Eine der ersten Handlungen der neuen Versammlung war die Absetzung Luisa Ortegas von ihrem Posten als Generalstaatsanwältin. Ortega war unter Hugo Chávez ins Amt berufen und noch vor zwei Jahren von Maduro darin bestätigt worden. Sie hatte sich gegen die Einberufung der Versammlung als undemokratisches Manöver gestellt. Ihre Entlassung wird zweifelsfrei von der MUD benutzt, um ihren Anspruch als „Verteidigerin der Demokratie“ zu erhärten.

Die Opposition verurteilte ihrerseits den Aufruf zu einer verfassunggebenden Versammlung, boykottierte die Wahlen und setzte Straßenblockaden und „Streiks“ als Mittel ein. Ungeachtet der Richtigkeit der Stimmenauszählung sichert der Boykott die vollständige Dominanz der Versammlung durch Maduros Anhängerschaft ab und zeigt klar den institutionellen Gegensatz zwischen ihr und dem Parlament. Umgekehrt riefen die „DemokratInnen“ der MUD-Allianz schon vor der Wahl zur Schaffung paralleler staatlicher Institutionen auf, einer Art „runden Tisch“ der „demokratischen Einheit“, was eindeutig auf eine pseudodemokratische Fassade für eine alternative Regierung hinausläuft, die vom pro-imperialistischen rechten Flügel gestellt wird.

Dieser Vorschlag folgt auf eine monatelange Kampagne gegen die Regierung, um Nutzen aus der sich zuspitzenden Wirtschaftslage zu ziehen. Die Wurzeln der Krise des Landes liegen zweifellos in dem Scheitern des Regimes, die Wirtschaft von der völligen Abhängigkeit von Öl zu befreien und neu aufzustellen. Doch die unmittelbaren Auswirkungen wie Hyperinflation, dramatische Nahrungsmittel- und weitere Versorgungsgüterengpässe wurden durch das systematische Horten von Waren und den grassierenden Schwarzmarkt verschärft. Statt die Massen zu mobilisieren und das Recht von Organisationen der Bevölkerung, v. a. von Gewerkschaften und Versammlungen in den Wohlbezirken, anzuerkennen, unmittelbare Schritte zur Lösung der Schwierigkeiten zu unternehmen, nahm die Regierung Zuflucht zu Repression.

Die Opposition in Venezuela ist ihrerseits nicht auf Machtteilung aus, sondern will einen Regimewechsel. Darin wird sie vom US-Imperialismus und anderen Westmächten, allen lateinamerikanischen Regierungen und den Medien in Gefolgschaft des US-Imperialismus bestärkt. In Venezuela repräsentiert die MUD-Allianz die Interessen der alt eingesessenen Oligarchie, die Land und Staat als ihren Privatbesitz behandelt hat. Sie konnte die Mittelschichten, große Teile der Bourgeoisie, der freiberuflichen mittleren Schichten in Stadt und Land, aber auch StudentInnen und selbst desillusionierte ehemalige AnhängerInnen des Regimes um sich scharen.

Bislang war die Opposition allerdings nicht in der Lage, die Armee oder Kerneinheiten davon zu gewinnen. Die Attacke auf Kasernen in Valencia am 6. August durch paramilitärische Verbände, angeführt von früheren Offizieren, zeigt jedoch, dass die Enttäuschung wächst. Außerdem ermutigen die westlichen ImperialistInnen zum Sturz Maduros, auch durch Aufstand und Bürgerkrieg. Washington hat das venezolanische Regime offiziell als „Diktatur“ eingestuft und weitere Sanktionen verhängt. Der wohlbekannte „Demokrat“, der brasilianische Putschist Michel Temer, hat sich in die Kampagne eingeklinkt und gemeinsam mit den übrigen Vollmitgliedern des südamerikanischen Wirtschaftszusammenschlusses Mercosur, Argentinien, Uruguay und Paraguay, Venezuelas Rechte hierin ausgesetzt.

Während die US-Regierung Maduro eindeutig feindlich behandelt, nehmen andere ImperialistInnen eine weniger offen erkennbare Haltung ein. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich als „Vermittler“ angeboten. Doch was könnte eine „Vermittlung“ anderes bedeuten, als der Opposition Zeit und Gelegenheit zu verschaffen, das Regime weiterhin zu untergraben und die Beseitigung oder Kapitulation der bolivarischen Regierung zu erreichen, sei es durch völligen Rücktritt, eine „Übergangsperiode“ oder einen offenen bewaffneten Anschlag?

Politik und Charakter des gegenwärtigen Regimes

In diesem Licht erscheint es als Ironie, dass Maduro selbst schon seit Jahren eine „Vermittlung“ mit der Opposition, oder besser gesagt, mit der venezolanischen Kapitalistenklasse und dem Imperialismus anstrebt. Eine Reihe von unkritischen AnhängerInnen der bolivarischen Regierung wird nicht müde zu erklären, dass sie zu verschiedenen Anlässen Zugeständnisse, Vereinbarungen und die Einbindung von oppositionellen Kräften angestrebt habe. Anscheinend verstehen diese SympathisantInnen nicht, dass die alten Eliten und deren imperialistische UnterstützerInnen kein Interesse daran haben, einen Teil ihres Wohlstands wiederzuerlangen, sondern sie wollen alles wieder haben, und nun sehen sie die Chance dazu.

Die jetzige Wirtschaftskrise begann mit dem Finanzkrach von 2008 und dem Verfall des Ölpreises. Unter Chávez und Maduro beruhte das gesamte bolivarische Projekt, die Umverteilung des Wohlstands im Land, die Sozialprogramme für die Armen sowie gezielte Investitionsanreize für die einheimischen KapitalistInnen allein auf den Einkünften aus Förderung und Vertrieb von Erdöl. Solange der Staat einen Überschuss erwirtschaftete, konnte er wirkliche soziale Errungenschaften für die Armen in Form von Mindesteinkommen und –löhnen aufrechterhalten. Doch die Regierung packte das Problem der Abhängigkeit von Ölexporten nicht an und scheiterte so, die Wirtschaftsstrukturen Venezuelas zu transformieren.

Ein einfacher elementarer Grund ist ausschlaggebend dafür: Weder die Chávez- noch die Maduro-Regierung hat mit ihrer bolivarischen Art des „Sozialismus“ das Privateigentum an Produktionsmitteln angetastet. Statt die imperialistische und einheimische Kapitalistenklasse zu enteignen, trachteten sie danach, die „patriotische“ Bourgeoisie zu ermutigen und eine „Mischwirtschaft“ zu entwickeln, ein geschönter Begriff für die kapitalistische Produktionsform.

Damit konnte weder das ökonomische Erbe der halbkolonialen Strukturen des Landes überwunden noch die traditionell herrschende Klasse beschwichtigt werden. Diese zielte fortgesetzt auf den Sturz des Regimes, obgleich sie nach mehreren gescheiterten Putschversuchen und Wahlniederlagen eine defensivere Strategie fahren und sich „demokratischer“ gebärden musste.

Zugleich nährte die Beibehaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und des Marktes sowie das Stützen auf den bürgerlichen Staatsapparat auch die Formierung des Klassenfeindes innerhalb der bolivarischen Bewegung. Viele BürokratInnen und Offiziere „vermittelten“ nicht nur auf bürokratische Weise zwischen gegensätzlichen Klassen, und dies oft zuungunsten der ArbeiterInnenschaft und der Armen, sondern wurden selber KapitalistInnen, die „Boli-Bourgoisie“. Die Armee lancierte ihrerseits eine Anzahl eigener wirtschaftlicher Unternehmungen.

Seit die Einkünfte aus Ölverkäufen die Sozialprogramme nicht mehr unterfüttern konnten, versuchte das Regime sie durch die Abwertung der Währung und Aufnahme von Auslandskrediten fortzusetzen. Dies führte jedoch zu einem gewaltigen Anstieg der Staatsschulden. Venezuela ist trotz riesiger Ölvorräte eines der höchstverschuldeten Länder der Welt. Doch genau wie die Regierung einen ernsthaften Angriff auf das Privateigentum im Land scheute und nur gelegentliche Verstaatlichungen vornahm, meist unter dem Druck protestierender ArbeiterInnen gegen ihre Bosse, so bedient sie weiter bis heute die Schuldenrückzahlung an ihre imperialistischen GläubigerInnen.

Doch all dies konnte nicht den Zusammenbruch der Ökonomie verhindern, die seit 2013 ständig geschrumpft war. Der IWF schätzte den Rückgang des BIP auf 35 % in den letzten 4 Jahren, ein schärferer Einschnitt als bei der US-Wirtschaft zwischen 1929 und 1933. Die ArbeiterInnenklasse, BäuerInnen und die Armen wurden am stärksten von Hyperinflation und wachsender Armut betroffen. Hungersnot ist zu einer weit verbreiteten Erscheinung geworden, nicht in erster Linie als Folge des Nahrungsmangels, sondern der Spekulation, der Warenhortung und einem ausgedehnten Schwarzmarkt geschuldet. All dies ermutigte korrupte bürgerliche Elemente im Staatsapparat, sich zu bereichern. Zudem sehen die ReaktionärInnen die sich zuspitzende Wirtschaftskrise als glänzende Gelegenheit und verschärfen die Lage durch ökonomische Sabotage und Boykott, um die Massen zu demoralisieren, ihre Verzweiflung zu steigern und so die soziale Basis für die PSUV (Sozialistische Einheitspartei Venezuelas) und die Regierung zu unterhöhlen.

Maduros eigene Politik hat bereits das ihre dazu getan. Zwar entsprechen die Behauptungen, das Regime habe überhaupt keine Basis, eindeutig nicht der Wahrheit, aber klar ist auch, dass sein gesellschaftlicher Rückhalt schrumpft. Die verfassunggebende Versammlung war nicht in der Lage, die Opposition zu besänftigen. Ebenso wenig war sie imstande, die bolivarische Bewegung zu begeistern. Was soll eine neue Verfassung bewirken, wenn die Regierung unfähig ist, die brennenden Alltagsfragen zu lösen: den Lebensmittelmangel, die Wiederbelebung des Wirtschaftslebens? Nicht eine mit regierungstreuen Mitgliedern besetzte „verfassunggebende Versammlung“ war vonnöten, sondern einschneidende Maßnahmen zur Enteignung der Reichen, KapitalistInnen, SpekulantInnen sowohl aus den Reihen der Opposition wie auch aus dem „bolivarischen“ Staatsapparat.

Strategie

Das würde aber einen vollständigen Wandel der politischen Strategie und des Programms erfordern. Die jetzige Krise hat die inneren Widersprüche der ganzen populistischen, angeblich sozialistischen Strategie der chávista-bolivarischen Bewegung enthüllt. Sie ist ein untauglicher utopischer Versuch, die Interessen der ArbeiterInnenklasse und Bevölkerungsmassen mit denen der Kapitalistenklasse zu versöhnen, also den Ausgebeuteten und AusbeuterInnen gleichermaßen zu dienen. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung einer solchen Strategie hat die Maduro-Regierung nur weiter nach rechts geführt. Sie ist dem imperialistischen Kapital entgegengekommen, nicht nur dem US-Kapital, sondern auch dem russischen und chinesischen. Dies lässt sich ferner an der zunehmenden Machtkonzentration im Staatsapparat und somit dem bonapartistischen Charakter des Regimes ablesen. Zwar mag es in der Absicht der Regierung gelegen haben, die Lage der Massen zu erleichtern. Dennoch erwies sich dies als unmöglich, weil sie das Privateigentum oder die soziale Macht der KapitalistInnen und ihrer UnterstützerInnen nicht angetastet hat.

RevolutionärInnen dürfen diese Tatsachen nicht verschleiern oder sich zu VerteidigerInnen der Regierung machen wie etliche stalinistische oder linksnationalistische AnhängerInnen der bolivarischen Revolution. Die Kritik muss offen vorgetragen und die Wurzeln des bolivarischen Projekts bloßgelegt werden, denn die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte können nicht verteidigt oder gar ausgeweitet werden, solange dieses illusorische Vorstellung die Bewegung dominiert. Nur ein Strategiewechsel, die Enteignung der ImperialistInnen, KapitalistInnen und GroßgrundbesitzerInnen und die Ersetzung des bürgerlichen „bolivarischen“ Staates durch einen ArbeiterInnenstaat, der auf Räten und bewaffneten Massenmilizen beruht, wird imstande sein, die bereits in Vorbereitung befindliche Konterrevolution zu besiegen.

Angesichts der Offensive der venezolanischen Reaktion und des US-Imperialismus müssen RevolutionärInnen eine politische Alternative zu Maduro aufbauen, eine Strategie für eine sozialistische Revolution entfalten und eine ArbeiterInnenregierung schaffen, die sich nicht auf den bestehenden bürokratischen Apparat oder eine Armee stützt, die weder sozial noch politisch zuverlässig ist. Zugleich muss sie aber auch der drohenden Gefahr einer konterrevolutionären proimperialistischen Machtübernahme oder gar einer von den USA unterstützten bewaffneten Intervention Rechnung tragen.

Historische Parallelen

Obwohl das Maduro-Regime keineswegs eine ArbeiterInnenregierung verkörpert, wäre seine Beseitigung durch die pro-imperialistische Opposition eine Niederlage für die ArbeiterInnenklasse und die Masse der Bevölkerung. Die Situation ist vergleichbar mit der in Chile vor dem Putsch gegen Allende oder dem Bürgerkrieg und der Volksfront in Spanien. Die Volksfrontregierungen, in denen ArbeiterInnenorganisationen sozialdemokratischer bzw. stalinistischer Art zusammen mit bürgerlichen Parteien saßen, beschränkten den Radikalismus der Massen, um einen Kompromiss mit dem Kapitalismus zu schließen. In Venezuela verkörpert die bolivarische Bewegung eine Volksfront von innen. Die PSUV, eine nach Millionen zählende Massenpartei, ist selbst eine Volksfront, eine gegensätzlich Klassenkräfte unter einem populistischen Programm vereinende Kraft. Wie Trotzki schon bemerkte, hat eine solche Formation die inhärente Tendenz zum Bonapartismus, denn sie braucht eine starke Führungsperson, einen Caudillo, um sich als über den Klassen stehend zu präsentieren. Je nachteiliger die Situation wird, desto weiter gedeiht die bonapartistische Herrschaftsform. Je mehr sie sich auf die Ordnungskräfte Bürokratie und bürgerliche Armee zu stützen versucht, desto schneller bereitet sie ihren eigenen Untergang vor.

Wie in Spanien und kennzeichnet Maduros Regime nicht den Beginn einer stabilen Periode nach der Niederschlagung eines revolutionären Klassenkampfs wie im Fall des klassischen Bonapartismus von Louis Bonaparte in Frankreich, sondern bildet ein Krisenregime inmitten einer Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs, der politischen Instabilität und des hitzigen Klassenkampfs. Es ist daher von vorübergehender Natur und wird entweder von einer Regierung abgelöst, die die Krise durch die Enteignung der Bourgeoisie und die Errichtung eines ArbeiterInnenstaats lösen wird, oder von einer proimperialistischen Konterrevolution gestürzt.

Das letztgenannte Resultat wäre eine eindeutige Niederlage für die ArbeiterInnen, BäuerInnen und Armen nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika. Es würde eine enorme Stärkung des US-Imperialismus bedeuten und reaktionäre Kräfte auf dem ganzen Kontinent stärken, am deutlichsten im benachbarten Brasilien. Rund um den Erdball würde dieses Beispiel als „Beweis“ für das Scheitern des „Sozialismus“ und die linke Spielart des Populismus mit dem Ziel der Demoralisierung der ArbeiterInnenklasse und linken AktivistInnen herhalten.

Trotz dieser Bewegung nach rechts wäre es töricht, ja politisch verbrecherisch, die Maduro-Regierung und die rechte Opposition gleichzusetzen. Die Rechten drücken die Interessen der traditionellen Elite als Vorposten der USA aus und wollen die Staatsmacht um jeden Preis zurückerobern. Die PSUV-Regierung und Maduro sind bürgerlich populistische Kräfte, die trotz ihrer Strategie des Kompromisses mit der nationalen Bourgeoisie und imperialistischen Mächten auch eine Massenbewegung verkörpern, selbst wenn ihre eigene Führung sie ständig unterhöhlt. Deshalb besteht die unmittelbare Aufgabe in der Verhinderung des Sturzes des Maduro-Regimes durch die Rechten, in diesem exakten Sinne also in dessen Verteidigung.

Das heißt aber nicht, die Kritik an Maduro und dem ganzen „bolivarischen“ Projekt einzustellen. Es hat keinesfalls den Weg zum Sozialismus geebnet, sondern das Land in eine Sackgasse in Form einer Krise der venezolanischen Gesellschaft manövriert, aus der es nur ein Entrinnen geben kann, wenn es beseitigt wird. Aber diese Abschaffung darf nur das Werk der revolutionären ArneiterInnenklasse sein, und deshalb fordern wir die Bewaffnung und Mobilisierung der ArbeiterInnenschafts- und Nachbarschaftsorganisationen. Viele davon entstanden durch das bolivarische Regime, aber sie müssen sich wandeln von bloßen Hilfstruppen des Regimes zu eigenständigen Kräften.

Einige „trotzkistische“ Strömungen

Hierin nehmen wir bewusst Bezug auf die Taktiken der Bolschewiki vor 100 Jahren, als sie die Bewaffnung der Sowjets forderten, um die Kerenski-Regierung gegen den drohenden konterrevolutionären Putsch des Generals Kornilow zu verteidigen. Genau zu dieser Zeit schloss sich Trotzki der bolschewistischen Partei an. Diejenigen, die heute vorgeblich den Trotzkismus in Venezuela vertreten, haben diesem Programm jedoch den Rücken gekehrt. In einer in International Viewpoint veröffentlichten Erklärung vom 5. August betrachten die „Anticapitalistas“ die Maduro-Regierung als Teil „eines sozialistischen revolutionären und radikaldemokratischen Projekts“, obwohl sie das Regime nicht „bedingungslos unterstützen“, und führen weiter ihre Idee einer „Revolution in der Revolution“ aus, d. h. „Ausweitung der Freiheiten, Bekämpfung der Bürokratie mittels Demokratie, weitere Umverteilung des Reichtums und Bildung von institutionellen Mechanismen, die die Kontrolle über die Ökonomie und den Staat durch die plebejischen Klassen der Bevölkerung garantieren.“

Kein Wort lassen sie verlauten über die Zerschlagung des bürgerlichen Staates und dessen Ersetzung durch einen ArbeiterInnenstaat, der auf bewaffneten ArbeiterInnenräten beruht und Sofortmaßnahmen ergreift zur Kontrolle über alle Nahrungsmittelvorräte und andere lebensnotwendige Güter und Vorrichtungen und diese dann nach Bedürftigkeit verteilt, das Großkapital enteignet und die Wirtschaft des Landes einer Planung nach dem Bedarf, nicht nach Profit, unterwirft. Zwar sagen diese GenossInnen richtig, es sei „eine Priorität, dem Anschlag des Imperialismus und der herrschenden Klasse Einhalt zu gebieten“, und die RevolutionärInnen sollten mit ihnen zusammen gegen die Rechten stehen, ihre Strategie ist jedoch dieselbe wie die der Menschewiki aus dem Jahr 1917.

Schlimmer noch sind die Positionen der Gruppen aus der morenistischen Tradition in Lateinamerika. Die „Internationale ArbeiterInnenvereinigung“ (UIT), die argentinische Sektion Teil der FIT (Front der Linken und ArbeiterInnen), unterstützt die rechte Opposition und spielt deren Unterstützung seitens des Imperialismus herunter. Andere Gruppen aus derselben Tradition wie die „Internationale ArbeiterInnenliga“ (LIT) und die Fracción Trotskista Cuarta Internacional (FT) gehen nicht ganz so weit, machen jedoch prinzipienlose Zugeständnisse gegenüber den Rechten. Die FT bezeichnet den rechten Flügel und die Chávistas als „gleichermaßen reaktionär“. Das ist nicht „Unabhängigkeit der ArbeiterInnenklasse“, wie sie einfordern, sondern eine sektiererischer Weigerung, die ArbeiterInnenklasse angesichts der Offensive der Rechten zu verteidigen. Solche offene Unterstützung für konterrevolutionäre Kräfte (UIT) oder passiver Abstentionismus (LIT, FT) müssen scharf zurückgewiesen werden.

Ein Sturz des Regimes durch die Rechten wäre nicht nur eine Niederlage für Maduro und seinen Führungskreis, sondern v. a. für die venezolanischen Massen. Deshalb müssen RevolutionärInnen ihre klare Kritik und ihr Programm für die Eroberung der Macht durch die ArbeiterInnenklasse und mit der Bereitschaft zu einem Zusammenschluss mit den Kräften gegen die Konterrevolution verbinden. Sie müssen die Bewaffnung der ArbeiterInnenklasse , der Bauernschaft und der städtischen Armut, die militärische Ausbildung unter Gewerkschaftskontrolle, die Enteignung der Kapitalistenklasse, eine Säuberung der Armee, Polizei und des Staatsapparats von konterrevolutionären Elementen fordern. Dies darf aber nicht durch die Stärkung der Machtbefugnisse des bürgerlichen Apparats, sondern muss durch den Aufbau von ArbeiterInnen- und Bevölkerungsräten geschehen. RevolutionärInnen müssen volle Freiheit für alle Strömungen fordern, die die Errungenschaften der Massen verteidigen wollen. Das Allerwichtigste aber muss der Aufbau einer eigenen politischen Partei sein, die sich auf das Programm der permanenten Revolution gründet.