Tarifrunde Nahverkehr 2024 – steht das Land still?

Valentin Lambert, Neue Internationale 281, April 2024

Über 87.000 Beschäftigte in kommunalen Nahverkehrsbetrieben befinden sich seit dem 05.12.2023 in Tarifverhandlungen. Davon betroffen sind über 130 kommunale Unternehmen in den Städten und Landkreisen. Jeder Tarifbereich hat im „Austausch mit den Beschäftigten“ eigenständige Forderungen entwickelt. Dies ist maßgeblich den Unterschieden der jeweiligen Tarifverträge geschuldet.

TV-N: ein Flickenteppich

Der größte Teil der kommunalen ÖPNV-Unternehmen ist den Tarifverträgen Nahverkehr angeschlossen, die in den Bundesländern (außer Hamburg) durch den jeweiligen kommunalen Arbeitgeberverband (VKA) jeweils auch vor Ort mit ver.di verhandelt werden. Die Tarifverträge regeln Arbeitsbedingungen (Mantel) und Entlohnung. In sieben TV-N ist die Entgeltentwicklung unmittelbar an die im TVöD gekoppelt. In den übrigen Bundesländern gibt es eigenständige TV-N-Entgelttarifverträge mit teilweise verschiedenen Laufzeiten.

In der letzten Tarifverhandlung 2020 stellten die Abschlüsse allesamt eine Niederlage dar. Und dabei wollte ver.di zum ersten Mal eine gemeinsame bundesweite Tarifrunde zur Vereinheitlichung des Flickenteppichs mit 16 Landestarifverträgen in Bezug auf Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen angehen.

Die Herausforderungen für die diesjährige Tarifrunde sind vielfältig: lange Wartezeiten, überfüllte Busse, Fahrtausfälle oder fehlende Busverbindungen auf dem Land. Dem zu Grunde liegen unter anderem massiver Arbeitskräftemangel und fehlende Investitionen. Mit Blick auf die Klimakrise und die dafür unerlässliche Verkehrswende besteht dringender Handlungsbedarf.

Zu den Kernforderungen der Tarifrunde gehören Entlastungselemente wie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit, Erhöhung des Urlaubsanspruchs und zusätzliche Entlastungstage für Schicht- und Nachtarbeit. So fordert die Gewerkschaft in NRW:

Entlastungstage für alle Beschäftigten im ÖPNV

  • Identischer Ort für Arbeitsbeginn und -ende
  • Zulage ab dem ersten Tag bei vorübergehender Übertragung höherwertiger Tätigkeiten
  • Schicht- und Wechselschichtzulage für den Fahrdienst
  • 100 Prozent Jahressonderzahlung
  • Überstunden ab der ersten Minute und in der individuellen Stufe ohne Abzug
  • Zulage für Vorhandwerker, Gruppenführer, Teamleiter nach individueller Stufe

Klimabewegung und Beschäftigte im ÖPNV

Die Gewerkschaft ver.di setzt bei der Erreichung ihrer Ziele neben den Beschäftigten auf die Klimabewegung und ÖPNV-Fahrgäste. Unter dem Motto #wirfahrenzusammen besteht das Bündnis bereits seit 2020. In den Tarifverhandlungen öffentlicher Dienst 2023 trat dieses erstmals medienwirksam für die Interessen der Beschäftigten im ÖPNV in Erscheinung. Das Potenzial ist groß, Unternehmensvertreter:innen wetterten zum Beispiel vom „Verbot politischer Streiks“. Die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung scheint eröffnet.

Bereits vor dem eigentlichen Start der 1. Verhandlungsrunde hatte ver.di mit der Kampagne #wirfahrenzusammen eine Petition an die Arbeit„geber“:innen im Nahverkehr und die politischen Verantwortlichen gestartet. Die Forderungen waren maximal aufgeweicht, von „besseren Arbeitsbedingungen, guter Bezahlung und massiven Investitionen“ ist die Rede. Durch Fahrgastgespräche und Stadtversammlungen konnten 202.000 Unterzeichner:innen mobilisiert werden. Die Petitionsübergabe erfolgte am 05.12.2023. Die Nachricht dabei: Die Fahrgäste stehen hinter den Forderungen der Beschäftigten.

Auch am 01.03.2024 streikten die Beschäftigten und FFF gemeinsam, Busse und Bahnen standen größtenteils still.

FFF kämpft in den letzten Jahren mit einem Schwund an Aktiven. Seine Demonstrationen haben an Mobilisierungspotenzial eingebüßt. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen vom Reformismus in den eigenen Reihen zu falschen Taktiken. Dass FFF seit 2023 in Arbeitskämpfen für echte politische Veränderung mitmischen will, begrüßen wir.

Die Grenzen einer hoffnungsvollen Beziehung

Es ist nämlich ein Fortschritt, sein Gesicht weg von Appellen an Staat, Regierung und „aufgeklärte“ Unternehmer:innen hin zur einzigen Klasse zu wenden, die aufgrund ihrer Stellung in Produktions- und Verwertungsprozess das Kapital nicht nur an seiner empfindlichsten Stelle treffen kann, sondern auch als allein über Wissen und Fähigkeit zur ökologischen Konversion verfügt.

Zu konstatieren gilt allerdings, dass die Bewegung hinter ihren Möglichkeiten zurück- und eine echte politische Perspektive ausbleibt. Die politische Sprengkraft kommt nämlich spätestens in dem Moment abhanden, in dem die Gewerkschaftsbürokratie und einige wenige aus FFF über Aktionsformen, Taktiken und Vorgehensweisen entscheiden: ver.di sagt, Bündnis #wirfahrenzusammen macht (bisher). Eine notwendige Kritik an der Gewerkschaftsführung wird in den einzelnen Ortsgruppen zwar toleriert, aber nicht weiter vorangetrieben. Führende Personen des Bündnisses, die „Organizer:innen“ sind bei Gewerkschaftssubunternehmen angestellt. Die Auseinandersetzung im TV-N zeigt zweierlei: zum einen gibt sich die Gewerkschaftsführung kämpferisch und progressiv – das ergibt sich aus ihrem ureigensten Zweck zur Selbsterhaltung. Zum anderen bleibt sie weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, scheut eine echte Auseinandersetzung mit den Unternehmen und wird letztlich ihrer Vermittlerrolle im Kapitalismus gerecht. Wir wissen allerdings, dass eine nachhaltige Transformation des Verkehrssektors nicht mit dessen Interessen vereinbar ist.

Politisches Potenzial

Neben den TV-N befinden sich derzeit auch Beschäftigte der Flughäfen und der DB AG in Tarifverhandlungen. Die unterschiedlichen Tarifrunden sollten und müssen eine gemeinsame Kampffront bilden, in der zu gemeinsamen Arbeitskampfmaßnahmen und Demonstrationen aufgerufen wird. Das wäre ein wahrhaftiger Stillstand der Bundesrepublik, welcher in Verbindung mit Massendemonstrationen Diskussionen um ein politisches Streikrecht wieder aufflammen lassen könnte. Dies ist umso notwendiger, als bereits jetzt Stimmen laut werden, die die Einschränkung des Streikrechts in relevanten Bereichen (z. B. Bahn) fordern, darunter auch aus der Regierungspartei FDP. Für die Verknüpfung der Tarifrunden braucht es gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees, die auch eine politische Gegenwehr in Gestalt von Massenstreiks bis hin zum Generalstreik vorbereiten helfen können, wenn die Drohungen in die Tat umgesetzt werden. FFF ist darüber hinaus gut beraten, Solidaritätskomitees nicht nur zur Unterstützung der TV-N-Beschäftigten im Arbeitskampf, sondern auch zu den Lokführer:innen und zum Flughafenpersonal im Streik. Schließlich dient das nicht nur deren Erfolg, sondern schafft auch erst die Möglichkeit, ein breiteres Fundament für eine echte Verkehrswende innerhalb der Arbeiter:innenschaft zu legen, also für ein ureigenes Anliegen der Klimaaktivist:innen selbst!

Gemeinsam kämpfen!

Wie aus den vorgenannten Abschnitten hervorgeht, bildet die regionale Zersplitterung des TV-N eine große Schwäche im Kampf für „Klimagerechtigkeit“, welcher nicht vor Bundesländergrenzen haltmachen sollte. So wurde am 01.03.2024 im Rahmen eines Aktionstages zwar größtenteils zusammen gestreikt, für die weiteren Verhandlungsrunden ist dies aber nicht so sicher. Bei der Hamburger Hochbahn, in Brandenburg und im Saarland sind bereits Tarifeinigungen erzielt, während die Tarifkommission in NRW die Einleitung der Urabstimmung beschlossen hat.

Wir fordern:

  • Einen vereinheitlichten TV-N: Solange einzelne Tarifauseinandersetzungen noch laufen, darf kein Abschluss anderswo erfolgen. Vorbereitung der Urabstimmungen für unbefristete Streiks.
  • Klassenkämpferische Gewerkschaftsbasis:  Aufbau von Aktionskommitees aus Beschäftigten, welche Streiks planen, ausdiskutieren und über die nächsten Schritte in der Tarifauseinandersetzung entscheiden. Die Beschlüsse sind für die Tarifkommissionsmitglieder bindend.
  • Transparente Tarifverhandlungen: Rechenschaftspflichtige Mitglieder der Tarifkommission und bindende Beschlüsse bei Entscheidungen.
  • Solidaritätskomitees der Klimabewegung und Fahrgäste zur Streikunterstützung. Gewerkschaftsübergreifende Streikkomitees im ÖPNV, bei der Bundesbahn und an Flughäfen. Für eine einheitliche Logistikgewerkschaft, die alle Beschäftigten im Personen-, Güter- und Datentransport umfasst!
  • Politische Massenstreiks der gesamten Gewerkschaftsbewegung gegen die geplanten Angriffe aufs Streikrecht vorbereiten.
  • Einen kostenlosen ÖPNV für alle, finanziert durch die Gewinne der Konzerne in klimaschädlichen Industrien!



Stoppt die Hetze gegen den Palästina Kongress!

Stefan Katzer, Neue Internationale 281, April 2024

„Albanese [UN-Sonderberichterstatterin für Palästina; Anm. d. Autors] fiel immer wieder mit wüster antisemitischer Hetze auf, erklärte etwa am Frauentag, ihre Gedanken seien bei den Frauen in Gaza.“ (BILD vom 18.03.2024)

Wer nach Wochen und Monaten der medialen Hetze gegen propalästinensische Aktivist:innen geglaubt hat, die bürgerliche Presse hätte ihr Pulver bereits verschossen, muss sich angesichts solcher Aussagen offenbar eines Besseren belehren lassen.

Während politische Aktivist:innen von der bürgerlichen Presse schon seit längerem als Antisemit:innen verunglimpft werden, weil sie die israelische Besatzung und den gegenwärtigen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung kritisieren, ist die „Debatte“ mittlerweile offenbar an einem Punkt angelangt, wo bereits die bloße Erwähnung der Existenz palästinensischer Frauen als „wüste antisemitische Hetze“ gilt.

Mediale Schmutzkampagne

Anlass für diese Zuspitzung der medialen Hetzkampagne ist der für Mitte April in Berlin geplante Palästinakongress. Auf diesem wollen bekannte Redner:innen aus verschiedenen Ländern ihre Sicht auf den Krieg in Gaza darlegen, die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen und über politische Strategien im Kampf gegen Krieg, Unterdrückung und Besatzung diskutieren. Zugleich soll dieser Kongress auch der Vernetzung derjenigen Gruppen dienen, die seit Monaten gegen den Krieg in Gaza protestieren und ihre Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand erklärt haben.

Da die Sichtweise der organisierenden Gruppen sowie der bereits bekanntgegebenen Sprecher:innen auf den Krieg in Gaza derjenigen der herrschenden Klasse in Deutschland diametral entgegengesetzt ist, unternimmt diese nun alles, den geplanten Kongress und die politische Debatte über den Krieg gegen Gaza zu verhindern. Offenbar fürchtet sie die öffentlichkeitswirksame Aufdeckung ihre Komplizenschaft mit der israelischen Regierung, welche seit Monaten verheerende Angriffe auf Zivilist:innen und die Infrastruktur in Gaza durchführt, während sie die Grenzübergänge geschlossen hält und humanitäre Hilfslieferungen weiterhin blockiert. Die Tatsache, dass die deutsche Bundesregierung sich durch Waffenlieferungen an diesen Verbrechen beteiligt und so mitschuldig macht an einem Genozid gegen die palästinensische Bevölkerung, soll offenbar vertuscht werden.

Verbotsdrohungen

Die Sicht der Herrschenden in Deutschland darf deshalb nicht grundsätzlich in Frage gestellt, ihre Lügen und Komplizenschaft in diesem verheerenden Krieg dürfen nicht entlarvt werden. Auch wenn sich die deutsche Bundesregierung und andere Verbündete der israelischen Regierung auf internationaler Bühne bereits als Kriegstreiber:innen enttarnt haben, da sie – trotz jeder Menge Krokodilstränen angesichts der katastrophalen humanitären Lage in Gaza – Israel auch weiterhin Waffen und Munition liefern, sind sie nach wie vor darum bemüht, zumindest an der „Heimatfront“ ihre ideologische Vorherrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen.

Wenn es ihnen dabei trotz ihrer Dominanz in den Medien nicht gelingt, die eigene Sichtweise als die allein zulässige zu verteidigen, sind diese bürgerlichen Kräfte offenbar bereit, mit falschen Anschuldigungen, Hetze und Repression nachzuhelfen, um andere Ansichten zu unterdrücken und politische Gegner:innen mundtot zu machen.

Dadurch sowie durch ein Verbot des Kongresses soll die politische Debatte über effektive Formen des Widerstands gegen Krieg, Unterdrückung und Besatzung verhindert werden. Die Repression richtet sich somit gegen die Unterdrückten und ihre Unterstützer:innen, die mit dem Staat Israel zugleich einen wichtigen Verbündeten des deutschen Imperialismus angreifen. Sie wollen deshalb um jeden Preis verhindern, dass sich die in der Palästinasolidarität aktiven Gruppierungen weiter vernetzen und den Widerstand gegen die israelische Politik koordinieren und vorantreiben. Dabei schrecken die Herrschenden in Deutschland wie in Israel nicht davor zurück, die Erinnerung an den Holocaust und den Kampf gegen Antisemitismus für ihre bornierten Zwecke zu missbrauchen.

So sprach etwa der Berliner Innenstaatssekretär Christian Hochgrebe (SPD) mit Blick auf den bevorstehenden Kongress von „israelfeindlichen und antisemitischen Gruppierungen“, die hinter der Planung steckten. Er befürchte, dass die Veranstaltung der weiteren strategischen Vernetzung israelfeindlicher und antisemitischer Personen und Gruppierungen“ dienen könnte und nicht Bühne für den „kritischen Diskurs über die israelische Politik“ sein werde. Vor diesem Hintergrund werde derzeit ein Verbot der Veranstaltung geprüft.

Bürgerliche Grenzen der Meinungsfreiheit

Das dahinter stehende Verständnis von Meinungsfreiheit reduziert sich letztlich darauf, die anderen nur das sagen zu lassen, was man selber gerne hören möchte. Das beinhaltet durchaus die Möglichkeit, Israel bzw. die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren – aber eben „in Maßen“, d. h. so, dass die zugrundeliegenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht grundsätzlich infrage gestellt werden.

Die Herrschenden behalten sich somit das Recht vor, selbst zu definieren, welche Aussagen als legitime Kritik gelten und ab wann die Linie in Richtung „Dämonisierung“ überschritten und Kritik damit unzulässig wird. Dabei berufen sie sich gerne auf eine Definitionen von Antisemitismus, welche Antizionismus als eine Form desselben mit einschließt. Demzufolge ist jede:r, der/die die Fortexistenz des israelischen Siedlerkolonialismus als Hindernis für ein friedliches Zusammenleben aller in der Region lebenden Menschen betrachtet und ihn durch einen multiethnischen, binationalen, säkularen Staat ersetzen möchte, per definitionem Feind:in aller Jüdinnen und Juden!

Widerstand gegen Krieg, Unterdrückung und Besatzung wird pauschal als reaktionär gebrandmarkt und die bestehenden politischen und programmatischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen des palästinensischen Widerstandes werden bewusst verwischt. Gleichzeitig verhindert ein von bürgerlicher Seite verhängtes Diskussionsverbot, dass die reaktionäre Ideologie und falsche Strategie der Hamas im Kampf gegen den zionistischen Siedlerkolonialismus von fortschrittlichen Kräften des palästinensischen Widerstandes entlarvt und durch ein progressives Programm der Revolution ersetzt werden kann. Damit stärken sie letztlich diejenigen Kräfte, die sie vorgeben, bekämpfen zu wollen.

Wir kennen diese herrschaftskonforme Verdrehung der Tatsachen aus anderen Zusammenhängen. Feminist:innen und Klimaaktivist:innen können davon ein Lied singen. Wer etwa für gleiche Rechte, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper eintritt, muss sich schon mal als „Männerhasser:in“ bezeichnen lassen. Wer sich hingegen für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen engagiert und durch Straßenblockaden gelegentlich den Verkehr behindert, sind in den Augen der Herrschenden eindeutig freiheitshassende Klimaterrorist:innen.

Und wer, wie die Organisator:innen des Palästinakongresses, auf Grundlage zahlreicher, gut belegter Tatsachen die Ansicht vertritt, dass es sich bei dem israelischen Staat und der Politik der israelischen Regierung um eine Form von Siedlerkolonialismus handelt, der auf die Enteignung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung abzielt und damit ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller dort lebenden Menschen verhindert, wird von den Herrschenden regelmäßig als israelhassende/r Antisemit:in verunglimpft.

Der Palästinakongress zwischen dem 12. und 14. April in Berlin hat sich zum Ziel gesetzt, diese Unwahrheiten und Verdrehungen aufzudecken und die wahren Verantwortlichen für Krieg, Leid und Unterdrückung vor einer breiten Öffentlichkeit anzuklagen. Wer die organisierenden Gruppen dabei unterstützen möchte, kann dies durch eine Spende tun: https://palaestinakongress.de/donate.




Anti-AfD-Proteste: Welche Rolle sollten Gewerkschaften spielen?

Christian Gebhardt, Neue Internationale 281, April 2024

Das Jahr 2024 fing ermutigend an: Jede Woche war von größeren Demonstrationen zu lesen. Gar von einer Protestewelle war die Rede, als in ca. 200 deutschen Städten am Wochenende Menschen auf die Straße gingen, um gegen die bekanntgewordenen Remigrationspläne der AfD und ihnen nahestehender rechter Strukturen zu demonstrieren – Pläne, die viele Menschen betreffen würden. So war es nicht verwunderlich, dass sich bis Ende Februar etwa 4 Millionen Menschen beteiligten, nicht nur in Großstädten, sondern auch im ländlichen Raum. Doch nun scheint der Protest abzuebben – und das liegt nicht daran, dass der Rechtsruck aufgehalten wurde. Woran also sonst? Und welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaften?

Kern des Protests

Während die CORRECTIV-Recherchen über das Hinterzimmertreffen der AfD und die „Remigrationspläne“ zwar Auslöser für die Proteste waren, so lag deren Hauptimpuls jedoch nicht in der Besorgnis um den gesellschaftlichen Rechtsruck oder die massenhaften Abschiebungen, sondern die Gefahr, die daraus für den Status quo der herrschenden Ordnung und damit den parlamentarisch-demokratischen Teil des kapitalistischen Überbaus erwächst. Oder kurz: die Angst vor dem drohenden Faschismus, verkörpert durch die AfD, sowie drohende „Weimarer Verhältnisse“. Konkret, dass die AfD für Verfassungsfragen die Größe einer sogenannten Sperrminorität erreichen könnte und somit keine Beschlüsse mehr mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden könnten. Dies ist wichtig zu verstehen, um den Protest entsprechend zu charakterisieren.

Das heißt nicht, dass Antirassismus keine Rolle gespielt hat und nicht für viele ebenfalls ein Beweggrund gewesen ist. Nur spielte dieser nicht die Hauptrolle. Das ist einer der Gründe, warum sich die aktuellen Regierungsparteien so einfach unter den Protest mischen konnten, ohne für ihre aktuelle Abschiebepraxis kritisiert zu werden. Dadurch wurde es FDP, CDU/CSU, Grünen, SPD und der LINKEN ermöglicht, mit dem Finger auf die AfD zu zeigen und für das kommenden Superwahljahr von ihrer menschenverachtenden Asylpolitik in Landes- und Bundesregierungen abzulenken.

Vertreten auf den Protesten waren jedoch nicht nur Regierungsparteien, sondern auch andere unterschiedliche Organisationen der „Zivilgesellschaft“, von NGOs über Kirchen bis hin zu den DGB-Gewerkschaften. Doch nach ein paar Wochen zeigte sich schnell ein bekanntes Mobilisierungsmuster aus den letzten Jahren, wie bei den #unteilbar- Demonstrationen: ein breites, buntes Bündnis soll dafür gewonnen werden, moralisch die Ideologie der extremen Rechten zu verunglimpfen. Doch nach den einzelnen Kundgebungen sowie Demonstrationen passierte nicht mehr viel. Das hilft wenig im Kampf gegen rechts, genauso wenig wie etwaige Verbotsdiskussionen. Damit der Protest nicht verpufft, könnte vieles getan werden. Insbesondere den Gewerkschaften fällt hier eine Schlüsselposition zu.

Eine der zentralen Fragen ist also: Wie kann so ein Protest zu einer Bewegung werden, die nicht nur gegen die AfD moralisiert, sondern dem Rechtsruck insgesamt etwas entgegenstellen kann?

Vom Protest zur Bewegung

Um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu ändern, reicht es nicht aus, dass diejenigen, die eh schon gegen die AfD sind, einfach auf die Straße gehen. Das hat vor 10 Jahren recht wenig gebracht und bringt heute noch weniger. Vielmehr muss der Protest in den Alltag getragen werden, an Schulen, Universitäten – und in die Betriebe. Hier sitzen die Gewerkschaften in einer Schlüsselposition. Theoretisch könnten sie ihre Mitgliedschaft mobilisieren, tausende von Betriebsversammlungen organisieren und damit einer Bewegung massiven Anschub leisten. Auf solchen Versammlungen reicht es jedoch nicht, nur mit moralisierenden Argumenten oder leeren Floskeln wie „Humanität“ und „Toleranz“ zu kommen. Um wirklich etwas zu verändern, müssen konkrete Verbesserungen erkämpft werden. Auch dies wäre durch die Gewerkschaften möglich, schließlich spielen sie eine Schlüsselrolle und können so effektiv auf den Produktionsprozess Druck ausüben.

Warum ist das notwendig?

Die AfD ist nicht über Nacht erfolgreich geworden, sondern existiert seit 10 Jahren. Damit wird sie mittlerweile nicht mehr einfach nur aus Protest gewählt von jenen, die mal eben den etablierten Parteien eins auswischen wollen. Vielmehr ist sie Resultat der

immer offener auftretende Krisen, die Zukunftsängste erzeugen und für die die etablierten Parteien keine adäquaten Lösungsansätze bieten können. Schließlich sind sie doch selbst das Problem oder haben über Jahrzehnte hinweg die Auswirkungen dieser Krise in den Augen vieler verwaltet und mitverantwortet. In diesem Windschatten konnte sich die AfD erst hinter ihrer Anti-EU-, dann Anti-Geflüchteten- und nun ihrer Anti-Ampelpolitik immer weiter aufbauen, an Stimmen gewinnen und auch politische Themen bestimmen und diese nach rechts drängen. Anstatt die Politik der Rechten aktiv zu bekämpfen, konnten die „Verwalter:innen“ des Systems nicht anders, als deren Forderungen und darüber hinaus aufzunehmen und dabei die politische Landschaft insgesamt nach rechts zu verschieben.

Aber nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die Gewerkschaften haben zu dieser Stimmung beigetragen. Durch ihre starke Verbindung mit der SPD und in gewissem Masse mit der LINKEN, bildeten sie stets einen Stabilisierungsaktor für die Regierungspolitik. Durch ihre sozialpartnerschaftliche Strategie sorgten sie nicht nur für das Abwälzen von Krisenlasten auf breite Teile der arbeitenden Gesellschaft (und somit auf ihre eigenen Mitglieder), sondern trugen auch durch ihre Positionen zum Ukrainekrieg und Nahostkonflikt dazu bei, dass sie als Teil des „Problems“ wahrgenommen werden und nicht als eine Organisation, von denen sich Menschen Lösungen für ihre Krisenängste erwarten.

Wer nun erfolgreich gegen rechts kämpfen will, muss mit dieser Politik brechen, konkreter: mit der Sozialpartner:innenschaft.

Fesseln der Sozialpartner:innenschaft

Diese Strategie stellt eine der größten Fesseln dar, die die Gewerkschaften, vermittelt durch ihre Bürokratie und die reformistischen Parteien, an das kapitalistische System bindet und sie dazu verdammt, die Sozial-, Migrations- oder Außenpolitik der Regierung zu verteidigen. Dies bedeutet, dass die Gewerkschaftsbürokratie die herrschende Politik samt ihrer Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsverhältnisse mittels ihrer Klassenversöhnungsstrategie und Führung ihrer Arbeitskämpfe abdeckt und unterstützt. Dies äußert sich derzeit vor allem in den geführten Tarifauseinanedersetzungen, die sich alle unabhängig von der Kampfkraft der Beschäftigten an der „Konzertierten Aktion“ orientieren. Diese wurde zusammen mit dem Kanzler, den Regierungsparteien und den DGB-Gewerkschaftsspitzen abgesprochen und vereinbart, um klare Haltelinien für die Tairfverhandlungen festzulegen. Diese sollen es einerseits der Regierung ermöglichen, ihre Programme zu verwirklichen und gleichzeitig der Gewerkschaftsbürokratie erlauben, ihren Stammbelegschaften Erleichterungen zu versprechen, kämpferische Töne anzuschlagen, ohne aber sie in für die Regierung gefährliche Richtung lenken zu müssen.

Was könnten die Gewerkschaften denn tun?

Mit Hinblick auf die Bewegung gegen rechts geht es vor allem darum, Antworten zu geben, wie an dieser angesetzt werden und ihr eine politische Stoßrichtung gegen die Politik der Regierung und der Abwälzung der unterschiedlichen Krisenlasten auf unsere Schultern gegeben werden kann. Diese Abwälzung muss verhindert werden. Sie verkörpert eine der realsten Zukunftsängste vieler Menschen. Es muss sich aktiv gegen die von der AfD (wie auch anderen konservativen Parteien) betriebene Sündenbockpolitik in Gestalt von „Ausländer:innen“, „Migrant:innen“, „Bürger:innengeldbezieher:innen“ oder „Arbeitslosen“ entgegenstellt werden, anstatt diese Erklärungsmuster wie beim BSW zu verinnerlichen. Die Probleme müssen klar angesprochen und offengelegt werden: Für die zunehmenden Krisen und Zukunftsängste ist das Kapital mit seinen internationalen Konkurrenzkämpfen, die sie auf unseren Rücken austrägt, verantwortlich, also wirklich Sündenbock.

Die Gewerkschaften könnten durch die Organisierung von Geflüchteten, Migrant:innen, Arbeiter:innen, Jugendlichen sowie Arbeitslosen und Rentner:innen Brücken schlagen zwischen diesen Menschen. Durch Massenmobilisierungen können diese zusammengeführt und unterschiedliche politische Themen angesprochen werden. Dadurch lässt sich zum Beispiel der Kampf gegen rechts im Betrieb mit dem gegen Lohnabbau und Sozialkürzungen gut verbinden. Hierbei kann doch aufgezeigt werden, dass nicht die Bezüge für Arbeitslose bzw. Migrant:innen schuld daran sind, dass es zu Reallohnverlusten während der Inflation kommt, sondern es daran liegt, dass das Kapital nicht mehr Geld lockermachen möchte, obwohl für Managerboni wie bei der Bahn die Millionen fließen können. Dies kann praktisch dadurch geschehen, dass wir für Verbesserungen für alle auf die Straße gehen – finanziert durch die Reichen – und dabei nicht zurückschrecken, klare antirassistische Positionen zu beziehen. Zentrale Forderungen für eine Kampagne, die unterschiedliche Proteste zusammenführen kann, könnten u. a. folgende sein:

  • Mehr für uns: Anhebung des Mindestlohns für alle und Mindesteinkommen gekoppelt an die Inflation! Für das Recht auf Arbeit und die gewerkschaftliche Organisierung aller Geflüchteten, keine Kompromisse bei Mindestlohn und Sozialleistungen!

  • Wohnraum muss bezahlbar bleiben: Nein zum menschenunwürdigen Lagersystem! Enteignung leerstehenden Wohnraums und Nutzbarmachung öffentlicher Immobilien zur dezentralen und selbstverwalteten Unterbringung von Geflüchteten und für massiven Ausbau des sozialen Wohnungsbaus statt Privatisierung! Nein zu Leerstand und Spekulation!



Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr: Hochrüstung für deutsche Kapitalinteressen

Helga Müller, Neue Internationale 280, Februar 2024

Die Umorientierung der Bundeswehr von der Landesverteidigung zur Eingreiftruppe ist in vollem Gange. Schließlich gilt es, wirtschaftliche sowie geostrategische Interessen des deutschen Großkapitals im Kampf um die Neuverteilung der Welt zu verteidigen. Spätestens seit der Aussage des SPD-Verteidigungsministers Pistorius, die deutsche Bundeswehr müsse jetzt auch endlich mal kriegstüchtig werden, wird immer deutlicher, was Bundeskanzler Olaf Scholz unter der viel zitierten Zeitenwende versteht: Deutschland muss in der Lage sein, seine Interessen auch militärisch zu verteidigen.

Ganz nebenbei stellen Aufrüstung und Militarisierung auch noch ein willkommenes Konjunkturprogramm für die deutsche Rüstungsindustrie dar. Armin Papperger, Vorstandsvorsitzender der Rheinmetall AG, ist recht zufrieden. „Wir sind auf gutem Kurs, um unsere ehrgeizigen Jahresziele für nachhaltiges profitables Wachstum zu realisieren.“ Auch im dritten Quartal 2023 gingen die Geschäftszahlen des Konzerns insgesamt nach oben. Der Umsatz stieg in den ersten neun Monaten um 13 Prozent auf 4,6 Milliarden Euro.

Nicht an Waffen sparen

Trotz massiven Sparhaushalts, Beibehaltung der Schuldenbremse, wie es FDP-Finanzminister Lindner wünscht, trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und des daraus resultierenden Haushaltslochs, das finanziert werden muss – am Etat der Bundeswehr wird nicht gerüttelt. Das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro – oder auch Sonderschulden, die genauso finanziert werden müssen wie der auf 2 % des BIP erhöhte reguläre Wehretat – bleiben unangetastet. In der Debatte um den Wehretat im Bundestag Anfang September 2023 garantierte Bundeskanzler Scholz, dass die Nato-Quote – also die 2 % vom BIP – „auch in den Jahren 2028, 2029 und in den 2030er Jahren erreicht wird“. Um das zu stemmen, müssten „allerspätestens ab 2028 zusätzliche 25, vielleicht auch fast 30 Milliarden Euro für die Bundeswehr aus dem Bundeshaushalt direkt finanziert werden“ (nd-aktuell.de, 6.9.2023, Bundestag zum Wehretat: Aufrüstung über alles). Insgesamt summieren sich die Militärausgaben mit den für das kommende Jahr eingeplanten Mitteln aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von gut 19 Milliarden und mit den für Rüstung und Truppe vorgesehenen Mitteln aus anderen Ressorts in Höhe von 14 Milliarden Euro auf 85 Milliarden Euro! Eine Summe, die im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge dringend benötigt würde!

Alle(s) für den Krieg?

Um dieses Ziel zu erreichen, schreckte Pistorius auch nicht davor zurück, sich direkt in die Tarifrunde des öffentlichen Dienstes bei Bund und Kommunen einzumischen und die Tarifparteien dazu aufzufordern, die Lohnerhöhung nicht zu hoch zu schrauben, um das Sondervermögen nicht in Frage zu stellen. Wie wir mittlerweile wissen, hat sich ver.di und nicht nur diese an diese Aufforderung gehalten, ganz im Interesse des deutschen Imperialismus, um seine neue Rolle in der Welt auch spielen zu können. Wie eng hier Gewerkschaftsspitzen, Regierung und Arbeit„geber“:innenverbände zusammenarbeiten, hat nicht zuletzt die von Bundeskanzler Olaf Scholz einberufene Konzertierte Aktion gezeigt, bei der sich diese auf das Instrument der steuerfreien Einmalzahlungen bis 3.000 Euro geeinigt haben, um die realen Lohnerhöhungen abzuflachen.

Um was es beim Begriff der Kriegstüchtigkeit geht, hat SPD-Verteidigungsminister Pistorius in seinen auf der im November stattgefundenen Bundeswehr-Tagung – ein jährliches Treffen der Regierung mit dem militärischen und zivilen Spitzenpersonal der Bundeswehr – vorgelegten „Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Zeitenwende“, die die Grundlage für eine „leistungsfähige Bundeswehr der Zukunft“ liefern sollen, dargestellt:

Der Ukrainekrieg dient als Begründung dafür, die Truppe noch schneller aufzurüsten, sie „schlagkräftiger“ zu machen, damit sie für „neue Aufgaben“ bereit ist. Da heißt es: „Die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, in denen Einsätze zum internationalen Konfliktmanagement strukturbestimmend und Landes- und Bündnisverteidigung in den Hintergrund gerückt waren, lassen sich nicht in wenigen Jahren umkehren“ und „der Weg zu einer umfassend einsatzbereiten Bundeswehr, die unsere Bürgerinnen und Bürger ebenso wie unsere Bündnispartner zu Recht erwarten, erfordert einen langfristigen Anpassungsprozess“. Bei den „Reformen“, der Beschaffung von Ausrüstung und Material sowie Bauprojekten soll deshalb Tempo vorgelegt werden: „Unsere Wehrhaftigkeit erfordert eine kriegstüchtige Bundeswehr“. Maßstab hierfür sei „jederzeit die Bereitschaft zum Kampf mit dem Anspruch auf Erfolg im hochintensiven Gefecht“. Die BRD müsse „Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung in Europa sein“ (jw, 11.11.2023, Nur der erste Schritt).

SPD übernimmt Verantwortung …

Deutlicher wurde das Ziel ausgerechnet im außenpolitischen Leitantrag für den Parteitag der SPD in Berlin im Dezember 2023 formuliert. Dieser spricht sich für eine Führungsrolle Deutschlands in der Welt aus. Das Militär wird im Entwurf für den Leitantrag als Mittel der Friedenspolitik bezeichnet.

Schon ein dreiviertel Jahr vorher hatte Pistorius bei der sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz 2023 genauer definiert, was er und die Bundesregierung unter der neuen Verantwortung der Bundeswehr und der deutschen Außenpolitik verstehen: Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Es geht um die Bekämpfung des Islamismus, die Begrenzung der Migration und die Sicherung von Einflusszonen und Rohstoffen. Man kann davon ausgehen, dass die Bundesregierung stattdessen vom „Schutz der Menschenrechte“ oder auch von Notwendigkeiten, die sich aus der „feministischen Außenpolitik“ ergeben werden, sprechen wird, wenn sie sich erneut militärisch in Afrika engagiert, denn „die russischen Ambitionen in Afrika bedeuten nicht, dass sich das Militär der Bundesrepublik komplett aus dem Kontinent zurückziehen wird.“ Doch auch andere Regionen bleiben für Deutschland von Interesse.

So werde der Indopazifik weiterhin eine Rolle spielen, erklärte Pistorius. Es gehöre dazu, mit Partner:innen zu üben und: „Es ist notwendig, dass wir Flagge zeigen. Wir müssen klarmachen, dass uns die Region nicht egal ist.“ Dort wird erwartet, dass sich der Konflikt zwischen den USA und China verschärfen wird.“

Noch offener kann man die neuen Ambitionen des deutschen Imperialismus nicht mehr aussprechen und das aus dem Mund eines Sozialdemokraten, Mitglied einer Partei, die aus der Arbeiter:innenbewegung entstanden ist und sich jetzt offen für die Verteidigung deutscher Kapitalinteressen einsetzt!

… und Gewerkschaften geben sie ab

Der mit nichts zu rechtfertigende Krieg Russlands gegen die Ukraine hat der deutschen Bundesregierung alle Argumente in die Hand gegeben, um die Hochrüstung im Interesse der Verteidigung der Interessen des deutschen Kapitals ohne größeren Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen. Die Gewerkschaftsspitzen haben das Ihre dazu getan, um gewerkschaftspolitischen Widerstand dagegen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Proteste gegen das Sondervermögen der Bundeswehr gab es keine und die Tarifrunden im öffentlichen Dienst wurden befriedet, statt zu versuchen, die Ausgaben für die Ausrüstung zurückzunehmen und für die Lohnabhängigen zu nutzen.

Auch die neu aufgekommene Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Angestoßen wurde diese wiederum vom Verteidigungsminister, der dafür ausgerechnet vom bayerischen Ministerpräsidenten Söder Unterstützung erhält: Auch wenn dieser Vorstoß in der SPD umstritten ist – so ist die SPD-Parteichefin Esken dagegen –, verwies die Wehrbeauftragte des Bundestags Högl von der SPD in ihrem Jahresbericht 2022 darauf, dass sich die Zahl der Bewerber:innen im Jahr 2022 mit einem Minus von elf Prozent erheblich verringert habe. Die Personalstärke betrug demnach 183.051 Soldati:nnen, ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr. „Bis zum Ziel, die Zahl der Soldatinnen und Soldaten auf 203.000 im Jahr 2031 zu erhöhen, ist es noch ein langer Weg“, konstatierte Högl. Neben dem weiter steigenden Altersdurchschnitt macht ihr auch der Anstieg der Abbrecherquote Sorgen.

Der Militarisierung entgegen!

Die militärischen Großmachtambitionen Deutschlands und der EU gehen einher mit massiven Angriffen auf unsere Lebensbedingungen in Form von Sozialraub, Bildungskürzungen und Zerschlagung von Tarifrechten. Und gerade dort, wo es besonders schwierig ist, einen Job, eine Lehrstelle oder einen gebührenfreien Studienplatz zu kriegen, umwirbt das Militär junge Leute mit dem Versprechen auf einen krisensicheren Arbeitsplatz.

Doch der Zusammenhang von neoliberalem Sozialabbau und Militarisierung geht tiefer: Die verstärkte kapitalistische Standortkonkurrenz zwingt zur neoliberalen „Mobilmachung“ der Gesellschaft, die in der militärischen Mobilmachung, im weltweiten Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte nur ihre logische Fortsetzung findet.

Die militärischen Ambitionen des deutschen Imperialismus richten sich gegen alle Lohnabhängigen und Unterdrückten – auch in Deutschland! Dieses Jahr findet die Sicherheitskonferenz vom 16. bis 18. Februar im Bayerischen Hof der bayerischen Landeshauptstadt statt. Die Proteste starten am Samstag, 17.2. um 13 Uhr am Karlsplatz. Wir begrüßen, dass auch der ver.di-Bezirk München zu den Protesten gegen die NATO-Sicherheitskonferenz aufgerufen hat. Auch die anderen Gewerkschaften und der DGB sind aufgefordert, ihre Politik des nationalen Konsenses mit der Regierung aufzugeben und zu den Protesten gegen die Konferenz aufzurufen und dafür in den Betrieben, im Stadtviertel, an Schulen und Universitäten zu mobilisieren! Diese Mobilisierung sollte mit Vollversammlungen in den jeweiligen Institutionen verbunden werden, wo die Auswirkungen der Aufrüstung zusammen mit den Einsparungen diskutiert werden – mit der Perspektive, Aktionskomitees zu bilden, die eine Bewegung gegen Krieg und Militarisierung vor Ort aufbauen.

Wir rufen alle Antikriegsaktivist:innen, linken Gruppen, Mitglieder der Linkspartei, Gewerkschafter:innen dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen und so zu mobilisieren, denn: „Wie schon seit 60 Jahren treffen sich im Februar 2024 Staatsvertreter, Militärs und Rüstungskonzerne zur Münchner ,Sicherheitskonferenz’ (Siko) im Bayerischen Hof. Bei dieser Privatveranstaltung, die u. a. mit Steuergeldern finanziert wird, ging es nie um Sicherheit, sondern immer um die Machtinteressen der NATO und ihrer Mitgliedstaaten – besonders die der deutschen Bundesregierung, die eine militaristische ,Zeitenwende’ losgetreten hat und nun das ganze Land ,kriegstüchtig’ machen will. Heute organisiert die Bundesregierung die größte Aufrüstung seit dem Zweiten Weltkrieg und schickt Waffen in Kriegsgebiete. Das bedeutet: Wettrüsten, Konfrontation, Krieg – bis hin zum Atomkrieg.“ (Aus dem Aufruf des Anti-Siko-Bündnisses)




Palestine will never die: Wie weiter mit der Palästinasolidarität in Deutschland?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 280, Februar 2024

Ob Münster, Hamburg, Leipzig, Dresden, Düsseldorf: Seit Beginn der Bombardierungen Gazas gibt es in Deutschland zahlreiche Proteste. Mancherorts wie in Berlin, Frankfurt am Main oder Hamburg konnten sogar aufgrund des stetigen Drucks Demonstrations- und Versammlungsverbote durchbrochen werden. Seit Monaten organisieren Aktivist:innen Aktionen gegen die Vertreibung und den drohenden Genozid an Gazas Bevölkerung. Kurzum: Es ist das erste Mal seit Jahren, dass es eine massenhafte Palästinasolidarität gibt, die versucht, sich Gehör zu schaffen – angesichts des Kräfteverhältnisses und der politischen Lage in Deutschland ein mehr als schweres Anliegen.

Denn die Bundesregierung hat mehr als klargemacht, dass sie kein Interesse hat, das Morden zu verhindern. Sie ist vielmehr aktive Unterstützerin durch die diversen Waffenlieferungen, die sich seit Oktober 2023 verzehnfacht haben und hat mit ihrer Enthaltung bei UN-Resolutionen sowie der Leugnung des Genozids beim Internationalen Gerichtshof deutlich gemacht, dass sie die Angriffe und Vertreibung der Palästinenser:innen unterstützt. Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson und anders als in Britannien, den Niederlanden oder Belgien sind die Gewerkschaften nicht in die Mobilisierungen eingebunden. Prozionistische Positionen, die letzten Endes die Unterdrückung der Palästinenser:innen legitimieren, sind nicht nur Regierungssache, sondern auch in bedeutenden Teilen der Arbeiter:innenbewegung und Linken verbreitet.

Was ist das Ziel?

Auch deswegen ist es kein Wunder, dass viele Aktivist:innen müde sind, erschöpft, ausgelaugt. Denn trotz aller Anstrengungen und Proteste ist es bisher nicht gelungen, den Krieg zu beenden, die Bombardierungen zu stoppen. Stattdessen werden stetig neue Nachrichten über das Elend und Leiden von Gazas Bevölkerung in die Social Media Feeds gespült.

Doch es gibt etwas Antreibendes: Es ist unsere Aufgabe, nicht nur für die Menschen zu kämpfen, die in diesem Moment sterben, sondern auch für jene, die als Nächste dran sein könnten. Denn es gibt keine Sicherheit für die Bevölkerung in der Westbank. Deswegen müssen wir nicht nur gegen die Bombardierung Gazas kämpfen, sondern für Palästinenser:innen in der Westbank, den Camps, allen von Israel besetzen Gebieten. Für uns geht es also um alle, die jetzt vom israelischen Staat ermordet werden – und alle, die drohen, ermordet und vertrieben zu werden – und für alle, die bereits vertrieben worden sind. Denn sie haben das Recht zurückzukehren. Es geht uns nicht nur um einen Waffenstillstand, sondern darum, die Unterdrückung der Palästinenser:innen zu beenden, und dieser Kampf ist nicht verloren.

In Deutschland ist dieser Weg steinig und schwer. Aber die Anstrengungen der Aktivist:innen in den vergangenen Monaten haben es geschafft, eine Grundlage zu errichten, auf der man einen Teil des Kräfteverhältnisses in Deutschland dauerhaft ändern kann – und propalästinensische, antizionistische Positionen besser in der Linken zu verankern, um so den Kampf weiterzuführen. Doch wie schaffen wir das konkret?

Was also tun?

Einer der essenziellen Schritte ist es, mehr Leute in die Bewegung hereinzuziehen. Aktivist:innen, die innerhalb der Bewegung aktiv sind, wissen, dass das leichter geschrieben ist als getan. Mit einfacher Überzeugungsarbeit ist es nicht möglich, denn eigentlich sprechen die Zahlen der getöteten Palästinenser:innen sowie die Geschichte der Besatzung für sich. Doch selten bringen reine Fakten Menschen zur Einsicht, wie wir am Beispiel des Klimawandels sehr gut wissen. Eines der Kernprobleme liegt darin, dass es in Deutschland nicht nur eine organisierte mediale Kampagne gegen die Palästinasolidaritätsproteste gibt, sondern der ganze Konflikt rund um Besatzung und Krieg aus Perspektive des zionistischen Regimes medial dargestellt wird, kombiniert mit dem Rechtsruck und der Zunahme des antimuslimischen Rassismus vor allem nach dem 7. Oktober. Deswegen müssen wir uns fragen, wie wir dies aufbrechen können.

1. Bundesweite Vernetzung und Koordinierung

Um dem Protest mehr Ausdruck zu verleihen, braucht es eine bundesweite Koordinierung. Gemeinsame Slogans, Forderungen und bundesweite (de)zentrale Aktionstage können zum einen helfen, die Isolierung an manchen Orten zu durchbrechen, und Mobilisierungen erleichtern. Vor allem hilft ein kollektiver Auftritt dabei, mehr Menschen außerhalb der Bewegung anzusprechen. Er verdeutlicht: Wir sind nicht alleine, wir sind Teil einer Bewegung – in Deutschland und international. Um dies zu ermöglichen, bietet sich eine Strategie- und Aktionskonferenz an, an der sich Aktivist:innen und Organisationen aus der Bewegung beteiligen können, bei der ein gemeinsamer Austausch sowie die Planung künftiger, gemeinsamer Aktivitäten stattfindet. Insbesondere das Datum 14. Mai – der Nakba-Tag – bietet sich an, bundesweit einen kollektiven Massenprotest zu organisieren. Dabei ist es besonders relevant, Deutschlands Rolle offen herauszustellen. Nicht nur dass Palästinenser:innen und antizionistische Juden und Jüdinnen mit Repression überzogen werden, auch die Finanzierung des Völkermordes sowie Lieferung von Waffen sollten angesprochen werden. Mögliche Forderungen können beispielsweise sein:

  • Nein zu allen Waffenlieferungen an Israel, Schluss mit allen Rüstungs-, Wirtschafts- und Geheimdienstkooperationen!

  • Nein zu weiteren autoritären Einschränkungen der Meinungsfreiheit, des Versammlungsrechts, des Asyl- und Staatsbürger:innenschaftsrechts! Für die Aufnahme von Vertriebenen aus Gaza und Unterstützung der medizinischen Versorgung!

  • Für ein Ende des Verbots palästinensischer Organisationen und Slogans für Befreiung und Gleichheit.

2. Aufbau von Basisstrukturen an Schulen, Unis und in Betrieben

Ob in München oder Berlin: In manchen Städten haben sich vor allem an Universitäten bereits Solidaritätskomitees gebildet. Den Protest an Orte zu bringen, an denen sich Menschen tagtäglich aufhalten müssen, ist ein zentraler Schritt, wenn man Bewegungen verankern sowie ausweiten will. Denn es geht darum, die Orte an denen wir sein müssen, zu politisieren und jene zu erreichen, die unsicher sind oder schlichtweg keine Ahnung haben (wollen), sie in die Konfrontation zu bringen.

Dabei ist wichtig, allgemeine Forderungen der Bewegungen mit solchen vor Ort zu verbinden um so die Auseinandersetzung greifbarer zu machen für jene, die noch nicht Teil ihrer sind. Konkret kann das beispielsweise heißen, dass Projekte, die den israelischen Staat unterstützen oder in Kooperation mit ihm stattfinden, ausgesetzt oder beendet werden; dass einseitige Solidarisierungsstatements zurückgenommen werden; dass die jeweilige Schule sich dazu entschließt, Verbote wie das der Kufiya nicht umzusetzen. Es kann auch bedeuten, für konkrete Forderungen zu kämpfen wie beispielsweise Solidaritätserklärungen gegen Kündigungen, die Übernahme von Ausstellungen, die gecancelt worden sind, oder die Schaffung neuer Projekte und offener Solidarisierung mit den Palästinenser:innen.

3. Druck ausüben, Opposition organisieren – die Arbeiter:innenklasse gewinnen

Wie andere Länder zeigen, ist es für wirksame Proteste notwendig, die Gewerkschaften auf unsere Seite zu ziehen. Ob Belgien oder Italien: Hier haben Arbeiter:innen Waffensendungen blockiert. Ähnliches wäre beispielsweise möglich, wenn es darum geht, Waffen an Israel zu blockieren und deren Transport zu stoppen. In Deutschland gestaltet sich das Ganze jedoch nicht einfach. Sowohl der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) als auch die DGB-Jugend haben sowohl in der Vergangenheit wie auch jetzt einseitige Stellungnahmen in Solidarität mit dem israelischen Staat – und somit auch der mörderischen Offensive – verfasst.

Überraschend ist das nicht, schließlich tragen sie auch an anderen Stellen die Politik der Regierung mit. Abschreiben dürfen wir diese Massenorganisationen deswegen jedoch nicht. Ein Solidaritätsstreik, organisiert durch diese Verbände, wäre um ein Vielfaches größer und effektiver als alles, was wir aktuell aus den Aktionen selbst heraus organisieren können. Das heißt: Die Gewerkschaften in Bewegung zu bringen, klappt nicht, indem man einfache Appelle verfasst, an ihnen vorbei Proteste organisiert oder die Hoffnung in Bürokrat:innen setzt. Nur im Rahmen einer politischen Bewegung, die a) die deutschen Gewerkschaften klar auffordert, es ihren Geschwisterorganisationen in anderen Ländern gleichzutun, und b) aktiv auf die Gliederungen zugeht und sie versucht, in eine Kampagne mit einzubeziehen, können wir erfolgreich sein. Kleine Lichtblicke sind hier beispielsweise auch der Offene Brief an den DBG-Jugendbundesausschuss, unterzeichnet von mehr als 500 Gewerkschaftsmitgliedern, die sich gegen die einseitige Positionierung stellen. (https://www.change.org/p/offener-brief-den-dgb-bundesjugendausschuss) Dies kann ein erster Ansatz sein, um weitere Aktivität anzustoßen: Seien es Anträge in Gewerkschaftsgliederungen selbst, die eine klare Verurteilung der israelischen Offensive benennen, verbunden mit der Teilnahme an lokalen Protesten. Damit wir die Gewerkschaften und generell die reformistische Arbeiter:innenbewegung von der Unterstützung der Regierung und für Solidarität mit Palästina gewinnen können, brauchen wir eine massenhafte Aufklärungskampagne über den wirklichen Charakter des Krieges gegen die Palästinenser:innen und die imperialistischen Interessen im Nahen Osten. Nur Lohnabhängige, die die Lügen der Herrschenden durchschauen, indem wir sie geduldig überzeugen, können für Solidaritätsaktionen und den Aufbau einer Bewegung gewonnen werden, die in der Arbeiter:innenklasse verankert ist.

Zweifache Aufgabe

Das heißt, für uns als Revolutionär:innen stellen sich zwei Aufgaben. Wenn wir – ähnlich wie in Britannien – Hunderttausende von Menschen auf die Straße bringen wollen, dann müssen wir mehr Kräfte integrieren als jene, die es bereits gibt, und existierende Strukturen bündeln. Und so eine Bewegung ist notwendig, um Repression, Desinformation und der Regierungspolitik etwas entgegenzustellen. Zum einen geht es also um den Aufbau einer breiten, palästinasolidarischen Bewegung, an der sich mehr Kräfte beteiligen – vor allem die Organisationen der Arbeiter:innenklasse.

Zum anderen müssen wir in solch einer Bewegung für ein revolutionäres, internationalistisches Programm eintreten. Dabei machen wir unsere Position nicht zur Vorbedingung für alle, die sich am Aufbau einer Protestbewegung gegen das Morden und die Vertreibung einsetzen wollen, sondern kämpfen in dieser dafür. Denn Bewegung alleine hilft nicht, wenn man nicht an den entscheidenden Punkten mit entsprechenden Mitteln Druck ausübt und ziellos vor sich hin demonstriert oder zwar abstrakt die richtigen Forderungen aufwirft, aber nicht die Massen hinter sich weiß, diese durchzusetzen.

Unserer Meinung nach kann die Befreiung Palästinas nur möglich sein, wenn wir in den imperialistischen Ländern die Komplizenschaft mit der israelischen Regierung beenden. Dazu bräuchte es massenhafte, längere Streikwellen sowie Blockaden gegen die Waffenlieferungen, wie es in Italien oder Belgien bereits passiert ist. Gleichzeitig braucht es in den Ländern des Nahen Ostens eine Massenbewegung wie den Arabischen Frühling. Denn die aktuellen Regime haben mehr als klargemacht, dass ihnen nicht nur der Lebensstandard ihrer eigenen Bevölkerung egal ist, sondern sie maximal bereit sind, die israelische Regierung in Worten zu kritisieren. Taten sind mehr als sparsam wie Erdogans oder Assads Praxis zeigen, die weiter Krieg gegen die Kurd:innen und ihre eigenes Volk führen. Ihnen geht es darum, ihre eigene Stellung zu erhalten. Es bräuchte aber eine Bewegung, die die Despot:innen aus ihren Ämtern fegt und im Interesse der Arbeiter:innenklasse handelt. Lasst uns die Anstrengungen der vergangenen Monate nutzen und den Protest voranbringen! In dem Sinne: Stoppt das Morden, stoppt den Krieg, Intifada bis zum Sieg!




Ukrainekrieg – und kein Ende?

Markus Lehner, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das Sterben geht weiter auf den Schlachtfeldern der Ukraine. In den bisher fast 2 Jahren seit dem russischen Angriff soll etwa ein halbe Million Soldat:innen Opfer dieses Krieges geworden sein, davon etwa 150.000 Tote. Überprüfen lassen sich die Angaben der verschiedenen Seiten und internationaler Geheimdienste zu den militärischen Opfern kaum – doch dies sind die realistischsten Schätzungen aus den unterschiedlichen Quellen. Laut dem zuständigen UN-Kommissariat für zivile Opfer wurden bisher etwas über 10.000 Zivilist:innen Opfer von militärischen Schlägen – bemerkenswerterweise etwa die Hälfte deren, die dieselbe Stelle für 2 Monate Krieg in Gaza angibt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Krieg vor allem auf konventionelle militärische Art, d. h. durch Massakrieren von Soldat:innen vonstattengeht.

Ausgebliebene Wende

Die von vielen im Westen erwartete Wende durch die ukrainische „Sommeroffensive“ trat offenbar nicht ein. Der Krieg entwickelt sich derzeit immer mehr zu einem Stellungskrieg, ähnlich dem Ersten Weltkrieg. In einem bemerkenswerten Interview im „Economist“ (11/4/2023) bemerkte der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj: „Ähnlich wie im Ersten Weltkrieg haben wir eine kriegstechnologische Lage erreicht, die uns zum Stellungskrieg zwingt.“ Gemäß den Lehrbüchern der NATO-Kriegsführung hätten die ukrainischen Offensivkräfte innerhalb von 4 Monaten die Krim erreichen müssen. Tatsächlich, erklärt Saluschnyj im Interview, habe er an allen Fronten schon nach kurzer Zeit ein Steckenbleiben oder nur sehr langsames Vorgehen feststellen müssen, was er zuerst auf schlechte Kommandoführung oder nicht ausreichend ausgebildete Einheiten zurückgeführt habe. Doch als auch Personalrochaden und Truppenumgruppierungen nichts änderten, habe er in alten Handbüchern aus Sowjetzeiten  nachgeschlagen und festgestellt, dass die Beschreibungen des Steckenbleibens der Offensivkräfte im Ersten Weltkrieg genau dem Bild entsprächen, das er von der Front wahrnahm.

Sowohl wenn er Angriffswellen der russischen wie der ukrainischen Seite beobachtete, ergäbe sich immer das Bild, dass die verteidigende Seite einen enormen technologischen Vorteil hat. Beide Seiten würden sofort Massierungen von Panzern oder Truppen mit ihren elektronischen Mitteln bemerken und durch Einsatz von Drohnen oder Artillerie jeglichen Vorstoß zu einem Unterfangen machen, bei dem ein großer Teil von Angreifer:innen und ihrem Material ausgeschaltet wird. Von daher bleibt der Ausbau von Verteidigungsstellungen auf beiden Seiten das bevorzugte Ziel. Auch die ukrainische Führung ist inzwischen von ihrer groß propagierten Offensivstrategie abgerückt und erklärt ihre gegenwärtige generelle Linie als „strategische Verteidigung“. Nur ein besonderer kriegstechnologischer Sprung könne laut Saluschnyj aus diesem Gleichgewicht des Schreckens herausführen. Aber militärhistorische Erfahrungen, wie etwa der Einsatz von Panzern am Ende des ersten Weltkriegs, zeigen, dass solche wirklich qualitativ neuen Technologien länger bis zur erfolgreichen Integration brauchen und zumeist erst im nächsten Krieg entscheidend werden.

Abnutzungskrieg

Da es sich jetzt offenbar um einen Abnutzungskrieg handelt, wird die Frage der Kriegswirtschaft und der quantitativen Versorgung der Truppen mit militärischem Material immer entscheidender. Der Krieg wird also immer mehr durch die Ökonomie entschieden, wie schon im Ersten Weltkrieg. Und hier gewinnt Russland immer mehr an Boden. Wie ein US-Banker kürzlich bemerkte, haben sich Prognosen, dass die russische Ökonomie aufgrund der westlichen Sanktionen und Belastungen durch die Kriegswirtschaft in wenigen Monaten zusammenbrechen würde, als „triumphally wrong“ erwiesen. Anders als auch viele Linke analysiert haben, hat sich die russische Ökonomie eindeutig als die einer imperialistischen Macht erwiesen. Nicht nur, dass die Ausfälle von Kapital- und Warenimporten mit nur leichten Einbrüchen weggesteckt werden konnten, inzwischen hat sich die russische Waffenproduktion um 68 % erhöht und einen Anteil von 6,5 % des BIP erreicht. Nach einer Rezession 2022 ist die russische Ökonomie 2023 um 2,8 % gewachsen. Natürlich haben sowohl steigende Importpreise wie Kriegswirtschaft zu einer wachsenden Inflation um die 7 % geführt. Die Leidtragenden sind wie bei militärischen Opfern vor allem die Arbeiter:innen, die mit immer höheren Lebenshaltungskosten bei eingeschränkterem Angebot zu kämpfen haben. Trotzdem wird für die Präsidentschaftswahlen im März kaum mit einem Machtwechsel gerechnet. Und danach wird wohl der entscheidende Nachschub für die Truppen wieder im größeren Maße fließen: mehr Soldaten durch weitere Mobilisierungen!

Dass die Ukraine größere Probleme mit dem Abnutzungskrieg hat, hat sich in den letzten Monaten immer deutlicher gezeigt: Zu Hochzeiten der Sommeroffensive feuerte die ukrainische Artillerie etwa 7.000 Projektile am Tag ab – wesentlich mehr als die russische. Doch derzeit muss sie sich aufgrund von Knappheit auf 2.000 pro Tag beschränken, während die russische Artillerie 5-mal so viel abfeuert. Ursache dafür sind nicht nur stockende Hilfsgelder aus dem Westen (z. B. die vom US-Kongress zurückgehaltenen Militärhilfen), sondern viel grundlegendere Probleme der westlichen Rüstungsindustrie. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich diese auf hochtechnisierte und spezialisierte Waffen, während es im konventionellen Abnutzungskrieg vor allem auf Masse und traditionelle „Hardware“ ankommt. Nachdem bisher vor allem aus Beständen der westlichen Armeen geliefert wurde, kommt es jetzt immer mehr auf tatsächliche Neuproduktion an. Die Ukraine selbst kann schon aufgrund der kriegsbedingten Infrastrukturprobleme (z. B. Ausfall von mehr als der Hälfte der Stromversorgung) kaum selbst die nötigste Menge produzieren.

Grenzen des westlichen Imperialismus

Doch auch der westliche Imperialismus erweist sich als nicht so übermächtig, wie er von vielen gemalt wird. Munitionsproduktion benötigt Unmengen an Stahl. Sieht man sich die 15 größten Stahlkonzerne der Welt an, so findet sich dort kein einziger US-Konzern mehr, wohl aber rangieren dort 9 chinesische. Die USA sind aus einem der bedeutendsten Stahlproduzenten der Welt heute zu einem der größten Importeure geworden. Sie und Westeuropa müssen unter hohen Kosten für Zulieferungen heute ihre Munitionsproduktion um ein Vielfaches steigern, um mit Russland und China mithalten zu können. Insbesondere bei 155-mm-Geschossen wollen sie bis 2025 ihre Jahresproduktion auf 1,2 Millionen erhöhen, sechsmal so viel wie 2023. Damit wird man vielleicht die russische Produktion einholen, die sich jetzt schon seit Kriegsbeginn verdoppelt hat (nicht gerechnet den massiven zusätzlichen Bezug solcher Munition aus Nordkorea).

Viele solche Versprechen lassen sich jedoch aufgrund von Lieferengpässen und technischer Umstellungsprobleme in der Kürze der Zeit kaum umsetzen. So hatte die EDA (die „Verteidigungsagentur“ der EU) der Ukraine im März 2023 für den Rest des Jahres 1 Million solcher Munition zugesagt, tatsächlich jedoch nur 480.000 beschaffen können. Während die unter Staatskontrolle stehende US-Munitionsproduktion aufgrund politischer Entscheidungen hochgefahren werden kann, sind die europäischen Rüstungskonzerne (vor allem die deutsche Rheinmetall, die britische BAE Systems, die französische Nexter S. A., die norwegisch-finnische Nammo AS) als Privatkonzerne nur durch konkrete finanzielle Zusagen zur Ausdehnung ihrer Produktion bereit. Ihre Auftragsbücher sind jetzt schon dreimal so voll wie vor dem Krieg. Rheinmetall überzieht den Kontinent derzeit mit neuen Produktionsstätten. Trotzdem wird diese Produktion der Quantität nach mindestens bis Anfang 2026 hinter der russischen zurückbleiben.

In einem Abnutzungskrieg, der vor allem durch Verteidigungsstellungen und Artillerie geprägt ist, können solche Faktoren entscheidend sein. Wie der Erste Weltkrieg gezeigt hat, können Munitionsmangel und geballte Artillerieüberlegenheit dann doch immer wieder zu einzelnen Durchbrüchen führen – und letztlich eine Seite zur Aufgabe zwingen. Noch sind die Kriegsparteien aber offensichtlich weit von einem solchen Punkt entfernt. Es werden also nicht nur weitere Milliarden in die Rüstungsindustrien gesteckt, sondern vor allem tausende Soldat:innen in die so entstandene Kriegshölle geschickt werden. In den letzten Monaten gab es insbesondere in der Ukraine wachsende Rekrutierungsprobleme. Auch wenn die Motivation der ukrainischen Verteidiger:innen um ein Vielfaches höher ist, so sind doch viele Soldat:innen nach Monaten des Kampfes und der vielen toten Kamerad:innen einfach ausgebrannt. Ausdruck davon ist die wachsende Bewegung der Angehörigen, die dafür kämpfen, dass ihre Ehemänner oder Söhne endlich abgelöst werden. Doch neue Rekrut:innen werden immer weniger und vor allem weniger militärisch geeignet. Daher werden auch die Rekrutierungsbemühungen des ukrainischen Militärs immer brutaler und weniger „freiwillig“.

Innere Widersprüche

Schließlich werden in der Führung der Ukraine immer deutlichere Widersprüche sichtbar. Das erwähnte Interview von Oberbefehlshaber Saluschnyj führte zu einer wütenden Replik von Präsident Selenskyj, der seine optimistische Darstellung des Kampfverlaufs für die westlichen Geldgeber:innen dadurch in Frage gestellt sah. Andererseits wurde deutlich, dass die politischen Vorgaben lange zu einer verlustreichen Verteidigung Bachmuts wie der schon gescheiterten Offensive führten – und die militärische Führung Selenskyj praktisch die Wende zur Verteidigungsstrategie aufzwingen musste. Saluschnyj hat Ersteren längst in den Popularitätswerten überholt, insbesondere unter den Soldat:innen. Hinter ihn stellt sich auch der Kiewer Bürgermeister Klitschko, so dass hier eine tatsächliche politische Gegenmacht zu entstehen beginnt. Es ist nicht auszuschließen, dass Selenskyj eher als Putin fällt, insbesondere wenn man im Westen eine gesichtswahrende Beendigung der Kampfhandlungen ohne Erreichen der Kriegsziele der Ukraine anstrebt.

In der Linken wird der Ukrainekrieg gerne auf einen Stellvertreterkrieg zwischen den imperialistischen Mächten USA/EU und Russland reduziert. Auch wenn dies ein bestimmendes Moment des gesamten Krieges darstellt, der untertrennbar mit dem neuen Kalten Krieg und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist, so ist er auf Seiten der Ukraine auch ein nationaler Verteidigungskrieg gegen die Jahrhunderte alte Unterdrückung durch das imperiale Russland. Das erklärt jedenfalls die massive Unterstützung auch der ärmeren Bevölkerung in der Ukraine für den Kampf gegen die russischen Invasor:innen.

Zugleich ist die westliche Unterstützung nicht absolut und bedingungslos – trotz aller warmen Worte, dass hier „unsere Freiheit“ verteidigt würde. Einerseits wird das ökonomische Fell der Ukraine schon heftig unter den westlichen Agenturen verteilt (siehe die IWF-Programme für die Ukraine und ihre Auswirkungen auf die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen). Andererseits machten Biden & Co. von Anfang an klar, dass sie nur soviel Militärhilfe leisten würden, wie zur Verteidigung notwendig ist, und nichts liefern wollten, das sie unmittelbar zu Beteiligten in einem Krieg machen – oder sie gar direkt in die militärische Konfrontation mit Russland bringen würde. Dies unterscheidet die Ukraine 2022 auch deutlich von Serbien 1914. Diese Grenzen der Unterstützung für sie durch USA und EU machen auch klar, dass die derzeitigen Engpässe in der militärischen Versorgung möglicherweise den Anfang einer (bewussten oder unbewussten) Ausstiegsstrategie markieren. D. h. in der Hoffnung, dass der Abnutzungskrieg sowohl die Ukraine wie Russland soweit militärisch schwächt, dass beide immer mehr zu einem „Ausgleich“ bereit sind. Ein solches „Minsk 3“ (sicher nicht unter diesem Namen, aber mit ähnlichen Konsequenzen) würde der Ukraine wesentliche Gebiete kosten und Russland im Gegenzug den endgültigen Verlust des größten Teils der Ukraine aus ihrem Einflussgebiet bringen. Mit der gegenwärtigen Führung der Ukraine wird dies kaum zu machen sein – aber dafür stehen ja wohl schon Alternativen bereit.

Millionen ukrainischer Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes und eine demokratische Selbstbestimmung in den Kampf gezogen sind, werden dies als enormen Verrat empfinden. Aber auch ein festgefahrener, länger anhaltender Stellungskrieg wird den Unmut über die Kriegspolitik des kapitalistischen Regimes in Kiew, ja über die Sinnhaftigkeit des Krieges selbst und dessen Führung befördern, zumal dieses während des Kriegs die Ausbeutung der Lohnabhängigen vorantrieb und die gewerkschaftlichen und politischen Rechte der Arbeiter:innenklasse massiv einschränkte. Die inneren Widersprüche in der Ukraine werden noch zusätzlich dadurch befeuert, dass das Regime für ungezügelte Ausbeutungsverhältnisse und Ausverkauf des Agrarreichtums an „westliche Investor:innen“ steht. Wir warnen daher vor jedem Vertrauen in irgendwelche dieser vorgeblichen Führer:innen der nationalen Verteidigung. Es ist vielmehr notwendig, dafür zu kämpfen, dass die Arbeiter:innenklasse den verschiedenen nationalistischen Führungsgruppen jede politische Unterstützung entzieht und sich schon jetzt gegen den Ausverkauf der Ukraine in jeder Hinsicht organisiert, um so den Kampf für eine unabhängige sozialistische Ukraine vorzubereiten und in Angriff zu nehmen.

Perspektiven

Hierzulande müssen wir gegen die Aufrüstung und die Milliarden für die Rüstungskonzerne kämpfen. Unter dem Vorwand der Verteidigung der Ukraine wird Aufrüstung im Interesse eigener aggressiver imperialistischer Ziele betrieben und die Kapazität der Rüstungsindustrie entsprechend ausgebaut. Auch wenn wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Beschaffung der dafür nötigen Mittel anerkennen, so müssen Revolutionär:innen in der Ukraine und im Westen vor den Illusionen warnen, dass die gegenwärtige militärische Unterstützung der NATO-Staaten wirklich der Unabhängigkeit dient. Vielmehr sind diese Lieferungen mit der Bedingung der Sicherung der eigenen Einfluss- und Ausbeutungssphäre verknüpft und letztlich nicht auf wirkliche Selbstbestimmung für die gesamte Ukraine ausgerichtet, sondern sollen dem Westen Beute bringen. Ob diese Rechnung aufgeht oder die ukrainischen Massen diese durchkreuzen, hängt letztlich davon ab, ob es der Arbeiter:innenklasse gelingt, eine eigene revolutionäre Partei aufzubauen, die den Kampf gegen die russische Okkupation mit dem für eine sozialistische Ukraine verknüpft.

In Russland sind die Bedingungen für eine Opposition gegen den Krieg seit dessen Beginn nicht leichter geworden. Der russische Imperialismus konnte sich nach den ersten, sicher so nicht erwarteten, schweren Rückschlägen stabilisieren. Sowohl ökonomisch wie auch politisch hat das Regime die Lage weitgehend im Griff. Die Pseudoopposition der Wagner-Anführer:innen hat ihren Zweck der Kanalisierung von Protest gegen „die da oben“ erfüllt und konnte in Person von Prigoschin zum Absturz gebracht werden. Allerdings werden Preissteigerungen, Knappheit bestimmter Waren und eine massive Auswanderungswelle insbesondere von gut ausgebildeten Menschen langfristig zu neuen Erschütterungen führen. Hunderttausende Tote und Verwundete für kleine Landgewinne in der Ukraine werfen Fragen an die Führung auf. Die jüngsten massiven Proteste in der Teilrepublik Baschkortostan an der Wolga zeigen, dass die Ruhe in dem Riesenreich nur eine scheinbare ist. Das mutige Auftreten des Umweltaktivisten Fayil Alsynov gegen den Ukrainekrieg und die übermäßige staatliche Repression dagegen haben genügt, um eine bisher passive Provinz in Aufruhr zu versetzen. Je länger und blutiger der gegenwärtige Abnutzungskrieg in der Ukraine andauert, um so mehr wird der Ruf nach „Brot und Frieden“ wieder das russische Regime erschüttern. Es kommt für die russischen Sozialist:innen darauf an, diesen Moment für einen neuen russischen Oktober vorzubereiten!

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies muss mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine verknüpft werden, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Signa und das System René Benko

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 280, Februar 2024

Das System Benko und mit ihm die Signa-Gruppe stehen vor dem vorläufigen Aus. Die Signa Holding und viele ihrer rund 200 Tochtergesellschaften haben Insolvenz angemeldet. Aber nicht nur der Konzern, sondern letztendlich die gesamte Immobilienwirtschaft ist durch steigende Zinsen und Baukosten ins Stocken geraten. Zugleich drohen die Absicherungen durch überbewertete Immobilien, infrage gestellt zu werden. Doch die Insolvenz kann weit über die Immobilienwirtschaft und den Handel Auswirkungen haben. Denn sie steht sinnbildlich für eine Spekulationsblase des Kapitals, für kurzfristig höhere Renditeerwartungen. Auch wenn die Pleite von Signa nicht vergleichbar ist mit der von Lehman Brothers 2008, so zeigt sie doch die Krisenhaftigkeit der Weltwirtschaft und deren Einfluss in den DACH-Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.

Eine kleine Geschichte René Benkos

2021 wurde Benko zum drittreichsten Österreicher mit einem geschätzten Kapitalvolumen von 5,6 Milliaren US-Dollar gekürt. Auch wenn heute weite Teile seiner Unternehmen sich in Insolvenz befinden, so ist nicht davon auszugehen, dass er am Hungertuch nagen wird. Er ist Sinnbild der wirtschaftlichen Entwicklung nach der Weltwirtschaftskrise von 2007/08, Ausdruck der Finanzialisierung des Immobiliensektors weit über Signa hinaus. Um die Entwicklung nachzuvollziehen, soll kurz ein Blick auf den beruflichen Werdegang geworfen werden. Die Geschichte zeigt, dass es sich beim Kapital nicht um abstrakte Kategorien, sondern wirkliche Entitäten handelt.

Benko stieg Mitte der 1990er Jahre in die Selbstständigkeit ein. Damals plante er Projekte zum Ausbau von Dachböden in hochpreisigen Penthouses gemeinsam mit dem Bauunternehmer Johann Zittera. 2001 gründete er die Firma Immofina Holding, wofür er eine Anschubfinanzierung von 25 Millionen Euro vom ehemaligen Tankstellenbesitzer Karl Kovarik erhielt und ihn beteiligte. Benko selbst kam aus relativ einfachen Verhältnissen. Die Mutter war Erzieherin, der Vater Beamter der Gemeinde. Er wuchs in einer 60 m² Wohnung in Innsbruck auf. Sein Unternehmenskonzept basiert damals wie heute auf zwei grundlegenden Herangehensweisen. Er zielte auf Immobilien mit „Entwicklungspotential“ ab und versuchte, für diese Projekte Fremdkapital einzuwerben oder in vorherigen entwickelte Sicherheiten einzusetzen, um bessere Kreditbedingungen zu erhalten.

Zwischen 2004 und 2010 hatte er dann sein erstes Großprojekt mit der Neuerrichtung des Kaufhaus Tyrol. Bereits im Zuge dessen wurden in verschiedenen Metropolregionen Österreichs und Deutschlands Immobilien erworben und das Unternehmen in Signa Holding (2006) umbenannt.

Bekannt in Deutschland sind sicherlich sein Erwerb der Karstadt Group 2012 – 2013. Hier versprach Benko die Rettung des seit 2009 insolventen Handelskonzerns. Bereits damals machte er deutlich, dass er auch Galeria Kaufhof kaufen wolle. Mit dem Erwerb Karstadts ergänzte Signa neben den Immobilien seine Handelssparte. Gemeinsam mit der Benny Steinmetz Group kaufte er Teile des Karstadt-Eigentums. Das Verhältnis wurde bald wieder aufgelöst, wobei Steinmetz in der Zeit für seinen Korruptions- und Erpressungsskandal bekannt wurde aufgrund des Erwerbs von Erzschürfrechten im Südosten Guineas. 2014 wurden auch Benko und sein Steuerberater zu 12 Monaten auf Bewährung verurteilt („bedingte Haftstrafe“). Denn Letztere hatte 2009 dem ehemaligen kroatischen Premier Sanader 150.000 Euro angeboten, damit dieser ein Gerichtsverfahren in Italien in Benkos Sinne beeinflusst.

Auch die Schweizer Warenhauskette Globus (2020) und das österreichische Möbelhaus Leiner & kika (heute: kikaLeiner) erwarb Signa. 2018 kaufte die Holding dann die Mehrheitsanteile an Galeria Kaufhof und führte 2019 Galeria Karstadt Kaufhof zum zweitgrößten europäischen Warenhauskonzern zusammen. Benko wurde damit zum größten europäischen Warenhausmogul. Auch im Onlinehandel war er aktiv. Mit der Signa Prime und Development wird der Immobiliensektor abgedeckt und aufgeteilt in teure und zu entwickelnde Immobilien. Die Warenhaussparte mietete zumeist bei anderen Signa-Tochterunternehmen die jeweiligen Immobilien.

2019 stieg die Konzerngruppe auch in die Medienbranche ein, als sie die Anteile der Funke Mediengruppe an den österreichischen Zeitungen Krone und Kurier kaufte. Zu Spitzenzeiten beschäftigte Signa etwa 46.000 Angestellte in Österreich, Italien, der Schweiz und Deutschland.

Doch Benko und seine Signa haben sich hier schlussendlich verspekuliert. Die Handelssparte konnte nicht genug Profit abwerfen, um sich zu halten, während die Inflation die Bauvorhaben ins Stocken brachte. Die massive Überbewertung Signas erforderte eine stetige Ausweitung des Portfolios. In diesem Sinne ist die Signa Holding eine eigene „kleine“ Spekulationsblase für Kapitalist:innen primär in der DACH-Region.

Finanzialisierung des Immobiliensektors

Mit Finanzialisierung wird die Entwicklung seitens des Finanzkapitals zur Fokussierung auf Immobilien als Anlage und Absicherung weiterer Kaufoptionen mittels Bewertung der auf Kredit gekauften Immobilien verstanden. Diese müssen dafür eine gesteigerte Rendite abwerfen.

Gerade angesichts der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken wurden solche Entwicklungen befeuert. Der Prozess war widersprüchlicher Weise auch Konsequenz gesunkener Immobilienpreise nach Platzen der Blase des aufgeblähten US-Immobilienmarktes und ihrer weitreichenden Abwertung zu dieser Zeit. Die zusätzlichen Kapitalströme, die seither in den deutschen Wohnungsmarkt fließen, sind u. a. das Ergebnis mangelnder Renditesteigerungsmöglichkeiten durch Investitionen im produzierenden Sektor infolge der Überakkumulation des Kapitals. Angesichts stagnierender Profitraten in Industrie und Gewerbe wird auf sichere Verzinsung und Rentengewinne gesetzt, auf „Betongold“, also Immobilien als „sichere“ Investitionsmöglichkeit. Während die Big Four (Vonovia SE, Deutsche Wohnen SE, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien SE) jahrelang in Deutschland den Wohnbereich dominierten, war Signa im Schatten deren aktiv und konzentrierte sich auf Gewerbegebäude.

Wer investiert in Signa?

Weiterhin ist unklar, welche Anteile Benko an der Benko Familienstiftung und ihrer Signa Holding hält. In der Reportage „Der wundersame Erfolg des René Benko“ von Inside Austria wird deutlich behauptet, dass außerhalb der Person René Benko vermutlich niemand weiß, wie viele Unternehmen und welche Besitzanteile zur Signa-Gruppe gehören. Signa als Holdinggesellschaft versuchte, nicht nur günstige Kredite für ihre Vorhaben bei Banken zu erhalten, sondern stellte für Teile der Bourgeoisie eine hoffnungsvolle Renditeerwartung dar. Nicht alle Investor:innen sind an die Öffentlichkeit gelangt, einige erst im Zuge der Panama Papers. Denn die Holdinggesellschaft besteht aus knapp 200 Subfirmen, strukturiert nach Treuhänder:innen, Investor:innen, teilweise aber auch nach Immobilien, Wirtschaftssektoren oder Staaten. Zugleich hat die Signa Holding zwar die Börse gekauft (das Unternehmen besitzt die Immobilie), ist jedoch nie eine Aktiengesellschaft geworden. Dementsprechend hat der Konzern wenig Verpflichtung zur Transparenz. Diese Undurchsichtigkeit ermöglicht es sowohl Investor:innen, teilweise weniger erkennbar zu sein, als auch die Überbewertung des Unternehmens.

Trotzdem gibt es einige bekannte Investor:innen wie den STRABAG-Chef Klemens Haselsteiner, die Peugeot-Familienholding, Ernst Tanner von Lindt & Sprüngli, der Fressnapf-Gründer Torsten Toeller oder der Logistikmilliardär Kühne. Ex-Porschevorstandschef Wendelin Wiedeking zog sich beispielsweise aus Signa zurück und sprach sich öffentlich gegen Investitionen aus wegen intransparenter Unternehmensführung. Ähnlich wie im Wohnungssektor hat Signa also als Gewerbeflächeninvestorin bereitgestanden und Anlagegewinne weit über den durchschnittlichen Kapitalrenditen versprochen. Von der Firmenpleite sind also bedeutend mehr betroffen, als wir aktuell wissen.

Das heißt nicht, dass René Benko unbedingt gegenüber seinen Investor:innen als Blender aufgetreten ist. Hier gab es auch verschiedene Buyouts und Verkäufe in den letzten Jahren, wie Wiedeking und in Teilen Tanner. Medienberichten zufolge gibt es aktuell 94 Gläubiger:innen, die der Signa-Gruppe Geld geliehen haben in einem Volumen von 14 Milliarden Euro – darunter 74 Banken, 8 Versicherungsunternehmen und 12 Fondgesellschaften.

In seiner Handelssparte kann man das schon eher annehmen, denn für abertausende Beschäftigte hat die in kürzester Zeit zum größten europäischen Handelskonzern augestiegene Signa drohende Arbeitslosigkeit und Lohnverzicht bedeutet. Die Beschäftigten im Einzelhandel und das Argument der angeblich aussterbenden Innenstädte dienten ihm auch als Türöffner:innen, um Einfluss auf die Lokalpolitik zu nehmen.

Einflussnahme auf die Politik

Der Signa-Aufsichtsratsvorsitzende Benko ist auch für sein umfassendes Netzwerk bekannt. Er tritt als politisch überparteilich auf, pflegt Kontakte zu verschiedensten Parteien, Ministerien und Staatssekretär:innen. 2017, als Sebastian Kurz österreichischer Kanzler wurde, unterstützte er alle drei Parteien, die Kanzlerkandidat:innen stellten, also FPÖ, ÖVP und SPÖ. Kurz und seine Amigos spielten ihm damals beim Kauf von des kikaLeiner-Flagshipstores in der Wiener Mariahilfer Straße in die Hände, scheinbar, weil sie Interesse am Aufbau des österreichischen Kapitalisten hatten. Kurz nahm ihn auch zu verschiedenen Staatsbesuchen mit.

Auch auf kommunaler und städtischer Ebene war Benko immer wieder aktiv. In verschiedenen Verhandlungen soll er für den Erhalt von Kaufhäusern gegen etwaige Bauvorschriften die Rechte zum Umbau oder Abriss erhalten haben, teilweise auch trotz Denkmalschutzes. Das Argument Rettung der Innenstädte und Arbeitsplätze ist hier gerade für kommunale Politik äußerst wirkmächtig und das auch ganz ohne offene Korruption. In Berlin beispielsweise, wo eine Reihe von Galeria-Karstadt-Kaufhof-Filialen existiert, kam es zu regelrechten Kuhhandeln. Sowohl nahm Signa hunderte von Millionen an staatlichen Subventionen an, wie sie im Gegenzug auch den Erhalt eines Teils der Arbeitsplätze für Baugenehmigungen „garantierte“. Zugleich haftet Signa nicht für Teilinsolvenzen, wodurch die meisten Versprechen fromme Hoffnungen blieben.

Enteignet Benko!

René Benko kommt durch sein Unternehmenskonzept weitgehend unbeschadet aus der Pleite heraus, während sein Geschäft auf dem Auspressen von Immobilien, dem Hochtreiben von Immobilienpreisen in europäischen Innenstädten, aber auch Massenentlassungen von Beschäftigten der Handelsunternehmen basierte. Zahlen müssen also hier die einfachen Mieter:innen, kleinen Ladenbesitzer:innen und Arbeiter:innen.

Diese Kosten müssen jedoch vom Kapital getragen werden, weshalb es eine Reihe von Maßnahmen braucht wie die Öffnung der Geschäftsbücher und das Einfrieren der Kapitalanlagen in und um Signa. Die Immobilien müssen verstaatlicht, ihre Verwendung muss durch die Beschäftigten, die Gewerkschaften und die Mieter:innenbewegung kontrolliert und geplant werden. Dabei darf nicht vor dem Privatvermögen Benkos und seiner Nutznießer:innen haltgemacht werden. Zugleich braucht es einen Plan für die Zukunft des in der Krise befindlichen Einzelhandels und eine eventuelle Überführung der Stellen in andere gesellschaftlich notwendige Arbeiten. Denn die Rettung des städtischen Lebens kann nicht die künstliche Aufrechterhaltung der Konsumpaläste bedeuten.




Partei Bündnis Sahra Wagenknecht: Demokratie nur für die anderen

Susanne Kühn, Neue Internationale 280, Februar 2024

Die offizielle Gründung der Wagenknecht-Partei brachte wenig Neues. Floskeln wie eine „verantwortungsvolle Politik, die Wohlstand, sozialen Ausgleich und Frieden fördert“ und, bei Erfolg eine „bessere Regierung“ zu sein, sind schon seit dem 23. Oktober bekannt – der Tag an dem das Programm veröffentlicht wurde.

In unserer Sondernummer zur Krise der Linkspartei haben wir das Programm einer ausführlicheren Kritik unterzogen. Die Mischung aus „vernünftiger Wirtschaftspolitik“, die das Wunder verspricht, Lohnabhängigen wie Unternehmer:innen zu nutzen, soll nicht nur Wohlstand bringen, sondern auch Deutschland vor der angeblich drohenden Deindustrialisierung retten. Ansonsten will man Frieden, mehr Demokratie und Wohlstand – allerdings könne das nicht funktionieren, wenn „zu viele“ in Deutschland leben, also müsse die Migration strikt begrenzt werden.

Links ist an der populistischen Mischung nichts. Und auf der Pressekonferenz zur Parteigründung erklärte Wagenknecht für alle, die es nicht ohnedies schon wussten, dass DIE LINKE eh nur noch für „skurrile Minderheiten“ stünde, so dass der Begriff links für ihre Partei fortan nicht verwendet würde. Man kann nur hoffen, dass sie dieses Versprechen hält.

Team Sahra

Statt also inhaltlich in die Tiefe zu gehen, wurden bei der Gründung Vorstand und Spitzenkandidat:innen zur Europawahl, die von 44 handverlesenen Mitgliedern gewählt wurden, präsentiert. Im sechsköpfigen Vorstand, der am 23. Oktober noch erweitert wurde, befinden sich zum einen vier ehemalige Funktionär:innen der Linkspartei, zum anderen zwei Mitglieder aus dem unternehmerischen Lager (Ralph Suikat, Shervin Haghsheno). Allein das macht schon die Ausrichtung der Partei deutlich: nicht auf die Arbeiter:innenklasse, sondern auf den „innovativen“ unternehmerischen Mittelstand zu setzen, diese Speerspitze des „Volkes“. Und dass, obwohl Wagenknecht während ihrer Linksparteizeit nie müde wurde zu kritisieren, dass man das Interesse „der kleinen Leute“ aus den Augen verloren hätte.

Spitzenkandidaten für die Europawahlen wurden Fabio De Masi, ehemaliger Abgeordneter und langjähriger Wagenknecht-Vertrauter, und Thomas Geisel, ehemaliger SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf und überzeugter Anhänger von Gerhard Schröder und Hartz IV. In seinem Austrittsschreiben aus der SPD fordert er die „Ablösung“ des „individuellen Grundrechts auf Asyl“, weil das einen „Freifahrtschein“ für ungezügelte Migration bedeuten würde. Die SPD und die Ampel-Koalition würden sich dieser angeblichen Realität verweigern, während die BSW Deutschland retten und endlich wieder „Leistungsgerechtigkeit“ herstellen würde, statt Menschen vor allem aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sexueller Orientierung zu fördern! Die Schilderungen – nicht nur des Spitzenkandidaten – erlauben einen Blick in den politischen Abgrund, für den BSW steht.

Festung BSW

Das eigentliche Parteiprogramm soll bis 2025 nachgereicht werden, ausgearbeitet von einer „Expert:innenkommission“. Diese bestimmt der Vorstand, der innere „Kern“ der Bewegung und im Zweifel der Kern des Kerns, Sahra Wagenknecht. Natürlich wollen die Initiator:innen auch eine Partei aufbauen. Damit sich „Wirrköpfe“, „Trittbrettfahrer:innen“ oder Menschen, die noch immer meinen, die Partei Wagenknecht wäre links, fortschrittlich oder gar antikapitalistisch, erst gar nicht in den Laden „verirren“, soll die zukünftige Mitgliedschaft sorgfältig ausgewählt und überprüft werden.

Wer sich gestern noch über die „Verengung des Meinungskorridors“ in der Linkspartei beschwerte, will nun erst gar keinen zulassen. Natürlich nur, um die Vernunft der Partei zu wahren.

„Wir wollen langsam und kontrolliert wachsen, um das Projekt nicht zu gefährden“, heißt es auf der Homepage und auch die veröffentlichen Statuten zeigen: Mehr Demokratie und Meinungsfreiheit mag zwar gefordert werden, für die eigene Struktur gilt das aber nicht unbedingt. Dabei besteht das Problem nicht darin, dass wie in „§ 7 Rechte und Pflichten der Mitglieder“ Mitglieder dazu verpflichtet sind, „sich an der politischen und organisatorischen Arbeit der Partei zu beteiligen“, oder es einen Überprüfungszeitraum von einem Jahr gibt für Leute, die eintreten wollen (§ 4 Aufnahme der Mitglieder). Die Probleme sind vielmehr die mangelnden demokratischen Rechte der handverlesenen Mitglieder, die es ins BSW geschafft haben, den Parteivorstand zu kontrollieren. Dieser muss weder Rechenschaftsberichte vorlegen noch seine Entscheidungen großartig begründen – während die Landes- und Kreisverbände dies gegenüber dem Vorstand tun müssen. Der Parteitag muss alle 2 Jahre zusammenkommen und ist das höchste Gremium (§ 10 Parteitag) – die Möglichkeit, einen Notparteitag einzuberufen, falls man mit der Arbeit des Vorstands nicht zufrieden ist, wird natürlich nicht eingeräumt.

Diese Einbahnstraße der Demokratie wird auch bei der Aufnahme von Mitgliedern ersichtlich. Im Überprüfungszeitraum von einem Jahr, bis man die Vollmitgliedschaft bekommt, kann jedes BSW-Mitglied Einspruch erheben und der Vorstand der Gliederung – oder Parteivorstand höchstpersönlich – überprüft das dann. Da die Ablehnung eines Mitgliedsantrags keiner Begründung bedarf, ist so auf jeden Fall sichergestellt, dass niemand mit „falscher“ Gesinnung eintritt. Statt also ein inhaltliches Programm zur Basis der Entscheidung zu machen, muss man wissen, wie man den Vorständen gefällt. Im Klartext: Die BSW will keine Wiederholung des Aufstehen-Projektes, das lt. Wagenknecht und De Masi an zu viel Offenheit zugrunde gegangen wäre, weil es zu viele „nicht-konstruktive“ Mitglieder gegeben hätte, die dort ihr eigenes Süppchen gekocht hätten. Daher soll es kontrollierte Aufnahmen geben – und die Sicherung der Vorstandsposition ist nun auch gewährleistet.

Und „Was tun“?

Bis zum 27. Januar werden  450 Menschen hinsichtlich ihrer Eignung als Mitglied überprüft. Dabei wird wahrscheinlich auch so manche/r aus der Linkspartei auf der Strecke bleiben, die/der sich eigentlich der neuen Partei anschließen wollte. Dazu gehören die Mitglieder und Anhänger:innen des „Was Tun“-Netzwerkes. Diese linken Mitglieder der Linkspartei erhofften sich letztes Jahr, dass mit der Wagenknecht-Partei eine Formation entstehen würde, in der sie für „eine antimilitaristische, antiimperialistische und an den gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse orientierten Politik“ kämpfen könnten.

Eine Hoffnung, die schnell begraben werden kann. Unter den ersten 450 dürften sich jedenfalls nur wenige aus dem „Was Tun“-Netzwerk befinden. Denn auch wenn das politische Verständnis dieser Strömung stark vom stalinistischen Reformismus geprägt ist, so unterscheidet es sich von Wagenknecht. Auf ihrer letzten bundesweiten Konferenz im Dezember 2023 wurde die BSW zwar einerseits gefeiert, andererseits machte sich auch Skepsis breit. Jede Erwähnung des Wortes Sozialismus fehle und die Position zur Migration hätte einen „falschen Zungenschlag“ (was selbst schon eine extreme Beschönigung der sozialchauvinistischen, ja oft direkt rassistischen Forderungen und Äußerungen der BSW darstellt).

Dass solche Kritiker:innen nicht gerne in der neuen Partei gesehen werden, dämmerte auch einigen Kongressteilnehmer:innen, die sich in ihrer Verzweiflung sogar für einen Verbleib in der LINKEN aussprachen, weil man diese eher „übernehmen“ könne, falls das neue Projekt auch scheitere.

Gescheitert sind schon jetzt alle, immer schon illusorischen Hoffnungen auf eine „linke“ BSW. Dass Wagenknecht und Co. für ihr Projekt keine „Spinner:innen“ mit „unkonstruktiven Beiträgen“ und abschreckenden Forderungen brauchen, dass dort keine Debatten über Programm, Inhalt und Ziel der Partei gewünscht sind, sollte nicht weiter verwundern. Es entspricht einem Projekt, an dessen bürgerlichem, populistischen Charakter Wagenknecht nie einen Zweifel gelassen hatte.




Staatshaushalt: Verschlimmbesserungen

Bruno Tesch, Neue Internationale 280, Februar 2024

Nach der Einigung bis Jahresende 2023 für Budgetkürzungen im kommenden Etatjahr hat das Regierungskabinett aus SPD, Grünen und FDP sich am 8.1.2024 darauf verständigt, diese Einsparvorschläge dem Bundestag zur endgültigen Verabschiedung vorzulegen. Abstriche vom ursprünglichen Entwurf waren notwendig geworden, weil nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes eine Finanzlücke von rund 30 Milliarden Euro im Kernhaushalt, entstanden durch die als Unrecht erkannte Umwidmung aus dem Klima- und Transformationsfonds, aufzufüllen ist.

Zu den gewichtigsten Posten im Sparpaket zählen Schritte zum sektoralen Subventionsabbau, branchenweise steuerliche Aufschläge und Zuschusskürzungen allgemeinerer Art.

Sektorale Einschnitte

Doch gleich die ersten dieser Pflöcke zur Subventionseinschränkung, der Wegfall der Befreiung von der Kfz-Steuer bzw. Stützung von Dieselkraftstoffen im Agrarbereich wurden vom furiosen Proteststurm von Bauern und Bäuerinnen im Verein mit Speditionsunternehmer:innen und anderen Mittelschichten aus der Verankerung gerissen. Sie wurden eilends entweder ganz zurückgenommen oder stufenweise zeitlich gestreckt, wobei auch hier das letzte Wort noch nicht gefallen sein mag.

Weitere Bemühungen zur fiskalischen Defizitdeckung betreffen z. B. die Einführung höherer Ticketsteuern auf Abflüge von deutschen Flughäfen. Je nach Endziel der Reise können sie um ein Fünftel auf 15,53 bis 70,85 Euro pro Passagier:in steigen. Zwar werden direkt damit die Fluggesellschaften belastet, doch die können und werden ihren Kund:innen diese Aufschläge als Fluggepäck aufbürden, damit die Unternehmen nur ein Luftpolster zu tragen haben.

Die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer, die als Erleichterung während der Pandemie in der Gastronomiebranche auf 7 % abgesenkt worden war, wird mit Preiserhöhungen einhergehen, deren Zeche die Restaurationsgäste, aber auch das ohnehin ausgedünnte Personal mit Entlassungen zu begleichen haben werden.

Bürger:innengeld

Von größerer Tragweite, wenn auch weniger in finanzieller Hinsicht, sind die Änderungen, die an die Zahlungen des Bürger:innengeldes geknüpft werden sollen. Es war als Errungenschaft der Ampelkoalition Ende 2022 gesetzlich verankert worden und sah gegenüber der alten Arbeitslosengeld II-Regelung u. a. vor:

  • einen höheren Regelsatz

  • höheres Schonvermögen (bis 40.000 Euro)

  • bei Versäumnissen keine Sanktionen bis hin zur völligen monatsweisen Streichung der Bezüge

  • Wegfall des Vermittlungsvorrangs, d.h. Aus- und Weiterbildung können einer Jobaufnahme vorgezogen werden.

Außerdem wurden im Zusammenhang damit ab Juli 2023 Teilnahmeboni an beruflichen Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen genehmigt. Schüler:innen, Studierende und Auszubildende können bis zur Minijob-Einkunftsgrenze (520 Euro im Monat) anrechnungsfrei hinzuverdienen.

Nun jedoch folgt die Kehrtwende. Jobcenter sollen das Bürger:innengeld für 2 Monate ganz streichen können, obwohl dies 2019 vom Bundesverfassungsgericht untersagt wurde! Nur der Bonus für einen Abschluss soll bestehen bleiben, jener für eine einfache berufliche Weiterbildung, also der Regelfall, entfällt.

Insbesondere die SPD zeigt, was von ihren Versprechungen auf dem Parteitag im Dezember, ihr soziales Profil zu schärfen, wirklich zu halten ist. Die neuen Entwürfe zum Bürger:innengeld kamen aus dem Ressort des Ministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil.

Handelte sich die Regierung mit ihren Vorschlägen zu den Subventionskürzungen noch harsche Kritik der rechten Oppositionsparteien ein, riefen die Verschärfungen bei der Vergabe des Bürger:innengeldes beifälliges Nicken von rechts hervor. Denen gehen die Einschränkungen immer noch nicht weit genug.

Besonders fatal ist auch der Zusammenhang mit dem Vorstoß vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der das Bürger:innengeld für ukrainische Flüchtlinge für einen Fehler hält. Zuvor lieferten jedoch schon Aussagen aus dem Innenministerium um die Sozialdemokratin Nancy Faeser Zündstoff, die die verstärkte und an Vorleistungen geknüpfte Arbeitsaufnahme von Ukrainer:innen anmahnte.

Hier erhält diese Frage zusätzlich eine eindeutig rassistische und antimigrantische Komponente und enthüllt die öffentliche Aufregung um die aufgedeckten Remigrationsplanspiele von AfD und offen rechtsextremen Gruppierungen als absoluten Hohn auf die humanistische Heuchelei der „Parteien der Mitte“. Es fehlt eigentlich nur noch, dass die Idee einer Rückführung der Ukrainer:innen in ihre Heimat als „sicheres Herkunftsland“ laut wird!

  • Sofortige Rücknahme aller Zwangsandrohungen für den Bezug von Bürger:innengeld. Keine Rückkehr zu Hartz IV- Regeln!

  • Voller Zugang zum Bürger:innengeld für alle Migrant:innen!

Rente und Pflege

Ein weiterer Bereich, der von der Einspardebatte betroffen ist, erstreckt sich auf die Altenpflege. Der Eigenanteil an der Heimunterbringung für Pflegebedürftige – er beträgt in Summe derzeit 2.576 Euro monatlich – hat sich per Gesetz gegenüber dem Vorjahr im Schnitt um 238 Euro erhöht und steigt jedes folgende Jahr degressiv an. Zwar schießt der Bund ab 1.1.2024 Geld zu, so stuft sich der Eigenanteil über einen längeren Pflegezeitraum um etwa jeweils 5 Prozentpunkte herab, doch andere Faktoren setzen unter die Gesamtrechnung wiederum ein Minus.

Die Pflegeversicherung trägt nur einen Teil der Kosten. Für Heimbewohner:innen kommen noch Aufwendungen für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen in den Einrichtungen hinzu. Als unausweichliche Folge stellt sich die immer stärkere Verlagerung der Pflege in den häuslichen Bereich durch Angehörige ein. Mit leichter Hand werden hingegen Honorarordnungen für niedergelassene Arztpraxen und Apotheken heraufgesetzt. Solche Reformen reihen sich in eine Gesundheitspolitik ein, die das allgemeinen Wohl längst aus den Augen verloren hat.

Ein besonders perfider, weil schleichender Angriff auf Arbeiter:inneninteressen manifestiert sich in den Plänen zur Steigerung der Rentenbeiträge. Mehr als alle anderen Haushaltsposten ist das staatliche garantierte Rentensystem in Deutschland ein Eckpfeiler in den Etatberechnungen jeder Regierung. Die gesetzliche Altersrente ist als Teil eines Gesamtsozialsystems eng auf die anderen elementaren Sozialversicherungsbereiche der Kranken- und Arbeitslosenversicherung abgestimmt. Die Leistungen in einem Sektor haben Einfluss auf die gesetzlichen Zahlungen in anderen.

Die Renten orientieren sich an den durchschnittlichen Tariflöhnen, deren Höhe allerdings von der Kampfkraft der Arbeiter:innenklasse abhängt und nicht in staatliche Kompetenz fällt. Der bürgerliche Staat kann zwar Mindestlöhne gesetzlich festlegen, doch verfügt er über keine Instrumentarien zur Kontrolle über deren Einhaltung. Durch Ausweitung prekärer Bereiche, Veränderung von Arbeitsbedingungen und Schlupflöcher zur Befreiung von Sozialleistungen usw. genießen die Unternehmen ständig staatlich gedeckte Vorteile in der Ausbeutung von Arbeitskraft, die sich in der reinen Lohnstatistik nicht niederschlagen.

Mit der Wiedervereinigung ergab sich eine zusätzliche Problematik, die Ost- an die Westrenten anzugleichen und innerhalb dessen auch die Schlechterstellung der Renten von Frauen zu berücksichtigen.

So ist eine vergleichende Berechnung von Löhnen und Renten mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Dies umso mehr, da die Löhne mit der 2021 einsetzenden sprunghaften Preisinflation nicht mehr Schritt hielten. Ein eklatanter Reallohnverlust trat zu Tage, dem die Arbeiter:innenbewegung in verschiedenen Tarifrunden erst ab Mitte 2022 hinterherlaufen musste. Da sich die Inflationsrate 2023 wieder abschwächte, kam die „taz“ zu dem irrigen Schluss, die vergleichsweise hohen Abschlüsse in einigen Branchen hätten den Reallohnverlust aktuell wieder ausgeglichen, während die „Wirtschaftswoche“ für das 3. Quartal 2023 etwas realistischer feststellen musste, dass zwar die Spitzengehälter gestiegen seien, in der Fläche aber die allgemeinen Lohnsteigerungen den Reallohnverlust noch nicht wettmachen konnten.

Dies gilt erst recht für die Rentenanpassungen. Sie hinken seit 2021 der Inflation hinterher und da ihre Veränderungen nicht dem Klassenkampfrhythmus unterliegen, d. h. keine raschen Steigerungen zulassen, fielen sie stärker noch als die Löhne hinter den inflationären Preisauftrieb zurück. 2022 stiegen sie im Westen um 5,35 % und im Osten um 6,12 %. Die offizielle Inflationsrate lag im gleichen Zeitraum bei 6,9 %. Im Juli 2023 wurden die Rentenzuwächse auf 4,39 % und die der Ostrente auf 5,86 % abgesenkt.

Zum Ausgleich von Finanzierungsbeteiligungen des Bundes 2020 und 2021 soll die Bundesagentur für Arbeit 2024 und 2025 jeweils 1,5 Milliarden Euro, für die Jahre 2026 und 2027 nochmal 1,1 Milliarden an den Bund zurückzahlen. Der Bund will seinerseits Zuschüsse zur gesetzlichen Rentenversicherung für die Jahre 2024 bis 2027 um jeweils 600 Millionen Euro kürzen. Das hört sich, zumal heutzutage nur noch nach Milliarden gezählt wird, nicht nach viel an, hat aber eine um so stärkere Signalwirkung.

„Der Bund steht nicht zu seinem Finanzierungsanteil und bedient sich stattdessen bei der Rentenversicherung und dadurch wird die Reserve der Rentenkasse aufgebraucht“, monierte die Deutsche Rentenversicherung in einer Stellungnahme. Eine Destabilisierung und Aushebelung der gesetzlichen Altersrentensysteme und eine Abdrängung in private Vorsorgeformen, die von Wirtschaftsliberalen favorisierte Aktienrente, droht.

Der Bundeshaushalt 2024 soll Ende Januar vom Bundestag beschlossen werden. Vorher soll der Haushaltsausschuss Mitte Januar über die Änderungen abstimmen.

Der gesellschaftspolitische Wind pfeift steif von rechts. Die Arbeiter:innenbewegung muss sIch warm anziehen und sich neue gemeinsame Kampfziele gegen die arbeiter:innenfeindlichen Pläne setzen.