Degrowth: Grüne Alternative zum Kapitalismus?

Alex Zora, Infomail 1229, 1. August 2023

Wer sich in den letzten Jahren mit den Themen Klima, Umweltschutz und Nachhaltigkeit auseinandergesetzt hat, wird wahrscheinlich auch irgendwann über das Thema Degrowth (Direktübersetzung: Wachstumsrücknahme bzw. Entwachstum) gestoßen sein. Oft wird auch das Wort Postwachstum für dasselbe Konzept verwendet. Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung üben Kritik am Kapitalismus und seinem Wachstumszwang. Sie treten stattdessen für eine Gesellschaft ein, die sozial und ökologisch sein soll. Hört sich erstmal alles ganz vernünftig an, doch kann Degrowth wirklich eine Strategie zu Überwindung von Umweltzerstörung und Kapitalismus sein?

Eine kurze Geschichte

Die Ursprünge der Degrowth-Bewegung liegen Mitte der 1970er Jahre. 1972 publizierte der „Club of Rome“ (im Wesentlichen ein bürgerlicher Think-Tank aus einer Zeit bevor der Begriff Think-Tank populär wurde) „Die Grenzen des Wachstums“. In dieser Systemanalyse, basierend auf Computersimulationen, wurde festgestellt, dass aufgrund begrenzter Ressourcen kein unbegrenztes Wirtschaftswachstum möglich ist: „Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“

Der Bericht löste zwar große Debatten aus und ist mit 30 Millionen verkauften Exemplaren weltweit das meistverkaufte ökologische Buch, die Degrowth-Bewegung ist aber eigentlich erst ein Produkt des 21. Jahrhunderts. Wichtigen Input dafür lieferte das 2002 in Lyon gegründete „Institut zur Wirtschafts- und Sozialforschung für nachhaltigen Degrowth“[1], später breitete sich die Bewegung – vor allem im akademischen Bereich – weiter aus. Seit 2008 gibt es internationale Degrowth-Konferenzen, die alle 2 Jahre stattfinden. Heute ist Degrowth bzw. Wachstumskritik wichtiger Bestandteil der meisten Organisationen der Klimabewegung.

Was ist Degrowth?

Innerhalb der Degrowth-Bewegung gibt es sowohl radikale wie gemäßigte Teile. Teile der Grünen in Österreich und Deutschland sind Anhänger:innen des Konzepts, ehemalige Umwelt-Aktivist:innen wie Kathrin Henneberger sind als Degrowth-Anhänger:innen mittlerweile sogar im deutschen Bundestag vertreten, die deutsche Parteistiftung der Grünen war auch Unterstützer:in der Degrowth Konferenz 2014 in Leipzig. Aber auch in Österreich ist Degrowth z.B. in der Grünen Parteiakademie ein wichtiges Thema[2].

Gleichzeitig gibt es auch radikalere Teile, insbesondere die, die auch in der realen Klima(-gerechtigkeits-)bewegung aktiv sind. Teile der Degrowth Bewegung beziehen sich sogar positiv auf den Sozialismus (wie zum Beispiel der griechische Ökonom Giorgis Kallis) bzw. Teile des Ökoszialismus beziehen sich positiv auf Degrowth (wie zum Beispiel Michael Löwy). Eine gesonderte Auseinandersetzung mit den linken Auslegern der Postwachstum-Bewegung wäre mit Sicherheit auch fruchtbar, doch wir werden uns an dieser Stelle vor allem mit dem Mainstream der Degrowth-Bewegung auseinandersetzen.

Das Webportal degrowth.info beschreibt Postwachstum folgendermaßen: „Unter Degrowth oder Postwachstum verstehen wir eine Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält. Dafür ist eine grundlegende Veränderung unserer Lebenswelt und ein umfassender kultureller Wandel notwendig. Das aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Leitprinzip lautet „höher, schneller, weiter“ – es bedingt und befördert eine Konkurrenz zwischen allen Menschen. Dies führt zum einen zu Beschleunigung, Überforderung und Ausgrenzung. Zum anderen zerstört die Wirtschaftsweise unsere natürlichen Lebensgrundlagen sowie die Lebensräume von Pflanzen und Tieren. Wir sind der Überzeugung, dass die gemeinsamen Werte einer Postwachstumsgesellschaft Achtsamkeit, Solidarität und Kooperation sein sollten. Die Menschheit muss sich als Teil des planetarischen Ökosystems begreifen. Nur so kann ein selbstbestimmtes Leben in Würde für alle ermöglicht werden. Praktisch gesehen heißt das:

  • Eine Orientierung am guten Leben für alle. […]

  • Eine Verringerung von Produktion und Konsum im globalen Norden, eine Befreiung vom einseitigen westlichen Entwicklungsparadigma und damit die Ermöglichung einer selbstbestimmten Gestaltung von Gesellschaft im globalen Süden.

  • Ein Ausbau demokratischer Entscheidungsformen, um echte politische Teilhabe zu ermöglichen.

  • Soziale Veränderungen und Orientierung an Suffizienz, statt bloßen technologischen Neuerungen und Effizienzsteigerung, um ökologische Probleme zu lösen. Wir betrachten die These von der Möglichkeit der absoluten Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch als historisch widerlegt.

  • Regional verankerte, aber miteinander vernetzte und offene Wirtschaftskreisläufe.  […]“

Ein zentrales Konzept der Degrowth-Bewegung ist die Ablehnung des Bruttoinlandsprodukts (der Summe aller in einem Jahr erzeugten Dienstleistungen und Waren minus aller Vorleistungen) als zentrales Maß gesellschaftlicher Entwicklung. Statt eines fortschreitenden Wirtschaftswachstums soll die Wirtschaft gezielt geschrumpft werden. Ergänzt wird das oft damit, dass insbesondere der Throughput (also die Rate, mit der sich Waren (und Dienstleistungen) durch den Wirtschaftskreislauf bewegen) reduziert werden soll. Damit solle die Kopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Treibhausgasausstoß (und Umweltzerstörung) bekämpft werden. Im Kapitalismus ist dieses gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis in den Daten recht klar ersichtlich. Die einzigen Zeitpunkte seit dem Ende des Nachkriegsbooms, zu denen der Ausstoß von Treibhausgasemissionen gegenüber dem jeweiligen Vorjahr relevant gesunken ist, waren 1974 (1. Ölpreiskrise), Anfang der 1980er Jahre (2. Ölpreiskrise), 1992 (Zusammenbruch der UdSSR), 2009 (globale Finanzkrise) und 2020 (Corona-Krise). Die Verknüpfung von wachsender Wirtschaft und wachsender Belastung für die Umwelt sind deshalb – zumindest im heutigen Wirtschaftssystem – sehr eindeutig.

Es gibt durchaus Beispiele einzelner Länder oder Kontinente (z.B. der EU), die es zwar schaffen Wirtschaftswachstum mit sinkenden Treibhausgasemissionen zu verbinden. Hierbei werden aber Auslagerungseffekte (z.B. wird CO2-intensive Produktion aus Europa nach China oder Indien verlagert, die dort hergestellten Produkte aber weiterhin in Europa konsumiert) berücksichtigt. Der zentrale Punkt ist jedoch, ob die Summe (also Einsparung in Land A + Erhöhung in Land B) der Emissionen steigt oder sinkt, was zumindest auf globaler Ebene außerhalb der oben erwähnten Wirtschaftskrisen bisher nicht passiert ist. Das Argument, im Kapitalismus wäre Wirtschaftswachstum mit sinkenden Emissionen vereinbar, ist deshalb zumindest mehr als fraglich. Abseits davon umfasst ökologische Nachhaltigkeit noch um einiges mehr als das Thema Treibhausgase.

Degrowth als Lösung?

Wir können also einige wesentliche Argumente der Degrowth-Bewegung nachvollziehen. Die Feststellung von Teilen der Bewegung, dass Nachhaltigkeit und Kapitalismus unvereinbar sind, teilen wir – auch wenn die Auffassung über das, was den Kapitalismus genau ausmacht, bei der Degrowth-Bewegung mehr als fraglich ist. Aber auch, wenn es einige Übereinstimmungen gibt, bestehen gleichzeitig wesentliche Unterschiede sowohl in der Analyse wie in den vorgeschlagenen Lösungen.

Analytisch ist das Problem bei den meisten Teilen der Degrowth-Bewegung, dass der Kapitalismus als Produktionsweise nicht verstanden wird. Denn sehr oft wird der Fokus der Kritik am Kapitalismus auf dessen Ideologie bezogen. Wachstumsideologie, Konzern-Gier oder kapitalistische Denkweise werden hier zum zentralen Ziel der Kritik. Kultureller Wandel, gesellschaftliches Umdenken und neue Werte stehen als Lösungen im Zentrum. Insbesondere bei den gemäßigten Teilen der Bewegung geht es deshalb in erster Linie darum, das „Wachstumsparadigma“ des Kapitalismus zu überwinden, nicht notwendigerweise um die Überwindung des Kapitalismus selbst. Die radikaleren Teile der Bewegung hingegen sehen die Lösung der Umweltprobleme und eine weitere Existenz des Kapitalismus als unvereinbar an. Doch wie und durch wen so eine Überwindung geschehen soll oder kann, ist dann auch wieder wenig ausformuliert. Meistens hängt man sich am neuen Modewort des linken Reformismus – Transformation – an. Ob damit auch zentrale Konzepte wie gramscianische Hegemonietheorie oder Poulantzas Staatstheorie [3] übernommen werden, bleibt meistens unklar, die Vermutung liegt aber nahe.

Für uns ist an dieser Stelle zentral festzuhalten, dass es zwar durchaus so etwas wie eine Wachstumsideologie im Kapitalismus gibt, aber dass diese ein Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse und Zwänge des Kapitalismus selbst ist. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft basierend auf Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz auf einem mehr oder weniger freien Markt und der Produktion für eben diesen Markt in Form von Waren. Unternehmenswachstum (was nichts anderes ist als Anhäufung bzw. Akkumulation von Kapital) ist ein essentieller Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie. Wenn ein Unternehmen aufhört zu wachsen und seine Konkurrenz am Markt aber weiterhin gute Wachstumsraten zu verzeichnen hat, dann wird es im Wettbewerb verlieren. Wachstum ist deshalb ein essentieller Bestandteil des Kapitalismus, es erwächst aus dessen ökonomischen Prinzipien und nicht aus irgendwelchen falschen Denkweisen oder Paradigmen.

Postwachstumsgesellschaft

Erklärtes Ziel der Degrowth-Bewegung ist der Aufbau einer Postwachstumsgesellschaft als Alternative zu unserem aktuellen Wirtschaftssystem. Über die Frage, wie weitreichend diese Transformation sein muss – also ob es reicht, lenkend in die Marktwirtschaft einzugreifen und das Denken der Menschen zu ändern, oder ob das ganze kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf dem Misthaufen der Geschichte landen soll – besteht auch in der Degrowth-Bewegung keine Einigkeit.

Auch die zentrale Frage, was die Grundpfeiler einer Postwachstumsgesellschaft sein sollen, bleiben zumeist sehr vage beantwortet. Echte Demokratie, Nachhaltigkeit, gesundes Schrumpfen und viele andere werden als zentrale Werte einer Postwachstumsgesellschaft proklamiert, doch WIE eine Gesellschaft organisiert sein kann, die solche Werte umsetzen kann, wird nicht beantwortet. Solange keine Brücke geschlagen wird zwischen den materiellen Grundlagen sowie der gesellschaftlichen Organisation von Politik und Ökonomie auf der einen Seite und den angestrebten Werten auf der anderen Seite, bleibt Degrowth utopistisches Wunschdenken. Wie bei den utopischen Sozialist:innen des 19. Jahrhunderts fehlt die Verbindung zwischen Ideen für eine neue Gesellschaft, den materiellen Verhältnissen der heutigen Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten dafür, wie eine neue Gesellschaft organisiert sein kann. Die Fragen, wie produziert wird und wer darüber bestimmt, welche Eigentumsverhältnisse und welche Organisation von Produktion und Verteilung es braucht, wird außerhalb eines kleines Teils der Degrowth-Bewegung mit explizit sozialistischem Anspruch nicht beantwortet.

Unserer Ansicht nach liegt der Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus in den widersprüchlichen Interessen der Klassengesellschaft. Um Waren zu produzieren und Gewinne zu realisieren, benötigt der Kapitalismus eine globale Klasse von Arbeiter:innen. Diese Arbeiter:innenklasse (darunter fallen überausgebeutete Näher:innen in Bangladesch genauso wie IT-Programmierer:innen mit Studienabschluss in Japan) hat die ökonomische Macht und das grundsätzliche Interesse, dieses System zu überwinden und die Grundlage für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung (sowohl von Mensch als auch Natur) und Unterdrückung zu legen.

Wachstumskritik und Kapitalismus

Wie weiter oben schon erwähnt, ist unserer Meinung nach ein grüner Kapitalismus nicht möglich. Solange das Motiv der Wirtschaft die Maximierung von Profit ist und die Entscheidungsmacht bei einzelnen Unternehmer:innen, Aufsichtsräten und CEOs liegt, wird der Kapitalismus weiterhin Mensch und Natur ausbeuten. Sie tun das nicht aus Böswilligkeit, Gier oder Unwissenheit, sondern wegen der Gesetze des Marktes, der Konkurrenz und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit zur Profitmaximierung. Doch die Kritik der Degrowth-Bewegung richtet sich ja nicht gegen kapitalistisches Wachstum, sondern gegen jegliches Wirtschaftswachstum an sich.

Grundsätzlich sehen wir auch die Möglichkeit und Notwendigkeit, wesentliche Teile der kapitalistischen Ökonomie zu schrumpfen bzw. gänzlich abzuschaffen. In einer globalen, nachkapitalistischen Gesellschaft gäbe es keine Notwendigkeit mehr für eine Rüstungsindustrie und die Produktion von Luxusgütern; nahezu die gesamte Finanzbranche könnte ersatzlos gestrichen werden; weite Teile der Wirtschaft, die heute auf Werbung und Marketing ausgerichtet sind, würden entfallen; gesellschaftliche Ausgaben für Repression, Justiz und Strafvollzug würden massiv abnehmen; schnell verschleißende Billigproduktion könnte durch qualitativ hochwertige und langlebige Erzeugnisse ersetzt werden. Darüber hinaus gibt es bestimmt noch viele andere Branchen, in denen aktuell unnötig Ressourcen und Güter verschwendet werden.

Gleichzeitig gibt es Branchen, die massiv ausgebaut werden müssten. Große Teile der Welt brauchen einen massiven Ausbau der Infrastruktur; Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme werden massiv ausgeweitet werden müssen. Und viele Probleme, die der Kapitalismus verursacht hat, erfordern auch nach Überwindung des Kapitalismus massive gesellschaftliche Ressourcen (z.B. wird die globale Verschmutzung insbesondere durch Mikroplastik nicht verschwinden, nur weil der Kapitalismus aufhört zu existieren).

Insgesamt ist es deshalb allein aus dieser Perspektive unklar, ob die vielfältigen Probleme des Kapitalismus eine schrumpfende oder eine wachsende Wirtschaft erfordern. Von Degrowth-Seite wird der kapitalistische Zwang zum Wachstum mit dem Zwang zum Schrumpfen beantwortet, der Fokus liegt damit nicht direkt, sondern nur indirekt auf Nachhaltigkeit und Ökologie. Statt sich anzusehen, wie die Wirtschaft demokratisch gestaltet und geplant werden kann, um die sozialen und ökologischen Probleme des Kapitalismus zu lösen, wird ein negatives Vorzeichen vor die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus gesetzt. Nicht gesehen wird, dass mit einer Überwindung des Kapitalismus auch die blinden Kräfte des Marktes überwunden werden können.

Gleichzeitig ist dabei auch eine grundlegende Betrachtung dessen wesentlich, wie menschliche Arbeit und Produktion funktionieren. Alles, was heute an Infrastruktur, Wissen, Produktionsstätten, etc. existiert, ist das angehäufte Produkt von Jahrtausenden menschlicher Arbeit. Weil Menschen nicht ausschließlich alles, was produziert wurde, auch wieder unmittelbar konsumierten, konnte eine Entwicklung in Gang gesetzt werden, die es erlaubte, die Produktivkräfte massiv auszubauen. Es muss nicht mehr wie früher der Großteil der Gesellschaft an der unmittelbaren Produktion von Lebensmitteln beschäftigt sein. Die Gesellschaft, in der wir heute leben, lässt zwar hunderte Millionen Menschen in Armut, Hunger und ohne sauberes Trinkwasser leben, doch die materiellen Möglichkeiten sind geschaffen worden für ein gutes Leben für mittlerweile 8 Milliarden Menschen (wenn es nicht so etwas wie das Privateigentum an Produktionsmitteln gäbe).

Wenn wir deshalb zukünftigen Generationen ein fortschreitendes Maß an individueller und kollektiver Freiheit geben wollen, die Arbeitszeit nicht bei X Stunden pro Tag einfrieren, sondern nach und nach weiter reduzieren möchten und der Menschheit als Ganzes insgesamt mehr kollektive und individuelle Möglichkeiten geben wollen, dann braucht es eine Anhäufung von menschlicher Arbeit. Das ist natürlich nicht beschränkt auf unmittelbar materielle Güter (z.B. automatisierte Produktionsstätten und Supercomputer), sondern hat genauso eine wissenschaftlich-technisch-strategische Komponente. Beispielsweise hat die Frage, wie eine Gesellschaft ihr Gesundheitssystem so aufbauen kann, sodass Vorsorge und Prävention in einem optimalen Verhältnis zu Behandlung und Therapie stehen, einen bedeutenden Einfluss auf die Möglichkeit, die Produktivkräfte massiv zu steigern, ohne gleichzeitig unmittelbar auf abzubauende oder zu verheizende Ressourcen angewiesen zu sein. Eine sozialistische Akkumulation[4] müsste keineswegs nur eine quantitative Anhäufung von immer mehr und mehr materiellen Gütern, Maschinen und Co. bedeuteten, sondern kann auch eine qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte bedeuten (wie zum Beispiel die Ersetzung von Glühbirnen durch LEDs; den massiven Ausbau des globalen Bildungssystems oder die alleine durch Abschaffung von Patenten ausgehenden Möglichkeiten von kollektiver Arbeit).

Unbegrenztes Wachstum und begrenzte Ressourcen?

Von Vertreter:innen der Degrowth-Bewegung wird gerne eines der ursprünglichen Probleme angeführt, das den Club of Rome dazu brachte „Die Grenzen des Wachstums“ herauszugeben. Wie funktioniert exponentielles Wirtschaftswachstum in einer Welt mit begrenzten Ressourcen. Und in der kapitalistischen Produktionsweise ist das eine mehr als berechtigte Frage, sind hier doch die Möglichkeiten rational in die Wirtschaft einzugreifen stark limitiert. Selbst dort, wo eingegriffen wird (z.B. durch eine CO2-Steuer, Subventionen für PV-Anlagen oder Förderungen für den öffentlichen Verkehr), passiert das in den meisten Fällen vermittelt über Marktanreize. Die Entscheidungen, was und wie produziert wird, werden von einer kleinen Klasse an Kapitalist:innen mit Hinblick auf Wettbewerb und Profitlogik getroffen.

Dabei muss eine Steigerung von Effizienz und Produktivität nicht unbedingt aus einem immer größeren Verbrauch von materiellen Ressourcen erwachsen. Zum Beispiel die hat die Einführung von Schrift vor vielen tausend Jahren unmittelbar sehr wenig materielle Ressourcen erfordert (abgesehen von Tontafeln und Papyrusrollen), doch die dadurch ermöglichten Fortschritte in Produktivität und Wissen(saustausch) waren enorm. Gleichzeitig gibt es rein technisch gesehen schon recht viele Möglichkeiten zum Recyceln im großen Stil. Doch solange die Entscheidung, ob die Förderung von Kobalt durch Kinderarbeit im Kongo oder durch das Recyceln von alten Batterien passiert, vom Preis der Produktion abhängt, wird sich an der Ausbeutung von Mensch und Natur wenig ändern. Wenn diese Entscheidung aber demokratisch von der Gesellschaft und nicht von der Klasse der Besitzenden getroffen wird, kann diese sich auch dafür entscheiden nachhaltig zu handeln, auch wenn das unmittelbaren Profitbetrachtungen im Weg stehen würde.

Demokratische Planwirtschaft

Die heutigen massiven Probleme, vor denen die menschliche Zivilisation steht, sind vielfältig. Nicht nur der in den Medien extrem präsente Klimawandel ist ein Problem für unsere Gesellschaft. In den letzten Jahrzehnten ist auch der globale Stoffwechsel massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Stickstoff- und Phosphorkreislauf sind hoch gefährdet, die Übernutzung von Boden und die Vernichtung von Biodiversität erreichen mittlerweile gefährliche Ausmaße. Insgesamt bedroht der Kapitalismus unmittelbar die Zukunft unseres Planeten.

Die Lösung dafür besteht, wie auch schon weiter oben erwähnt, nicht in einer Ökologisierung des Kapitalismus (nach Bild eines Green New Deal), in mehr Marktanreizen für grünere Produktion (etwa CO2-Steuer oder Emissionszertifikatshandel), sondern letztlich müssen wir als Gesellschaft direkt darin eingreifen können, was wie produziert wird. In einem System, in dem diese Entscheidungen privatisiert sind und das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln demokratische Entscheidungen darüber verhindert, gewinnt Profitorientierung immer über Nachhaltigkeit.

Stattdessen braucht es eine Organisation der Wirtschaft, in der demokratisch und rational entschieden werden kann was wie produziert wird – auch wenn das nicht unmittelbare Profite produziert. Es braucht außerdem eine globale Abstimmung und Arbeitsteilung über Produktion und Verteilung. Damit kann auch gewährleistet werden, dass die aufgrund imperialistischer Interessen gezielt unterentwickelt gehaltenen Länder des globalen Südens auf dasselbe Level von Produktivität und kollektiven Wohlstand kommen können. Für all das ist es sekundär, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft. Das zentrale Element ist die schnellstmögliche Reduktion von Treibhausgasemissionen, die Umstellung auf eine nachhaltige Landwirtschaft und so gut wie möglich die Lösung der ökologischen Probleme des Kapitalismus. Entscheidungen können nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen rational von der Mehrheit der Gesellschaft getroffen werden. All das bedeutet nicht, dass das auch automatisch alles von allein passieren wird, aber eine demokratische Planwirtschaft ist die Voraussetzung dafür, dass solche Entscheidungen überhaupt erst getroffen werden können.

Um zu einer demokratischen Planwirtschaft zu gelangen, die sich bewusst und deutlich von den bürokratischen Planwirtschaften des Stalinismus abgrenzen muss, braucht es die Vergesellschaftung von Produktion und Verteilung. Die Arbeiter:innenklasse muss die Macht in den Betrieben übernehmen und sie in gesellschaftliches Eigentum überführen. Auf verallgemeinerter Ebene (und nicht nur in isolierten Hochburgen inmitten des kapitalistischen Marktes) kann das nur durch die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse gelingen. Der bürgerliche Staat kann aber nicht übernommen oder transformiert werden, er muss zerschlagen und durch eigene Organe der proletarischen Gegenmacht (Räte) ersetzt werden. So ein Programm mag sich sehr entfernt anhören, doch eine langsame Transformation des Kapitalismus in einer sozial-ökologischen Wende ist nicht nur noch viel weiter weg, sondern letztlich auch eine gefährliche Illusion.

Endnoten

[1] Institut d’Etudes. Economiques et Sociales pour la Décroissance Soutenable, http://www.decroissance.org/

[2] https://wien.gbw.at/artikelansicht/beitrag/gruenes-wachstum-im-wandel/

[3] Für eine ausführliche Kritik am Konzept der Transformationstheorie siehe „Modell Oktoberrevolution – Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“ in Revolutionärer Marxismus Nr. 49

[4] Sie hierzu auch Die Neue Ökonomik von Jewgeni Preobraschenski




Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Vorwort der Redaktion

Als der hier neu übersetzte Artikel „Gramsci and the revolutionary Tradition“ vor 36 Jahren in der Zeitschrift „Permanent Revolution“ unserer Schwesterorganisation „Workers Power“ aus Anlass des 50. Todestages von Antonio Gramsci erschien, ging gerade eine der vielen „Gramsci-Wellen“ in der internationalen Linken ihrem Ende entgegen. Es sollten noch einige weitere bis zum heutigen Tage folgen. Deshalb lohnt sich die Lektüre dieses historisch sehr genauen Artikels zum tatsächlichen politischen Wirken Gramscis ungemein, um seine politischen Ideen von den imaginären Zusätzen zu trennen, die sich inzwischen in den besagten Rezeptionswellen in Schlagwörtern wie „Hegemonie“, „Politik des Stellungskrieges“, „Zivilgesellschaft“, etc. niedergeschlagen haben.

Gramsci befand sich seit 1926 in faschistischer Haft, in der er – in vorsichtig verklausulierter Sprache – weiterhin politische Schriften verfasste, die „Gefängnishefte“. Die mehrdeutigen Ausdrücke, die er dabei benutzte, um Begriffe wie „Diktatur des Proletariats“ oder „bürgerliche Ideologie“ zu vermeiden, wurden in diesen späteren Rezeptionen geradezu zu einer Neuerfindung des Marxismus hochstilisiert. Mit Begeisterung wurde darin eine „Modernisierung“ gesehen, die die verpönte „Sprache“ des „dogmatischen Traditionsmarxismus“ vermeidet. Wie weit dies von den tatsächlichen Intentionen Gramscis entfernt ist bzw. mit seinen tatsächlichen politischen Schwächen in Verbindung steht, wird in dem folgenden Artikel herausgearbeitet.

In den 1970er Jahren hatte die „Kommunistische Partei Italiens“ (KPI) ihren ehemaligen Vorsitzenden (1924 – 1927) einmal wieder neu „entdeckt“. Im Zuge der Integration der KPI in das politische Krisenregime der 1970er Jahre wurde das Konzept der „Diktatur des Proletariats“ zugunsten der Zielsetzung einer Umgestaltung Italiens unter „Hegemonie“ der KPI aufgegeben. Luciano Gruppis „Gramsci. Philosophie der Praxis und die Hegemonie des Proletariats“ (1972 unter der Ägide des langjährigen Chefideologen Pietro Ingrao herausgegeben; auf Deutsch: 1977, VSA) ist Ausdruck des Versuchs der Parteiführung, ihren „Historischen Kompromiss“ mit der italienischen Bourgeoisie als Weiterentwicklung der bereits von Gramsci verfolgten „Überwindung“ der Fixierung der kommunistischen Parteien auf das Modell der Russischen Revolution darzustellen.

Schon in der Nachkriegszeit hatte die KPI-Führung um Togliatti den zunächst vergessenen Gramsci als Wegbereiter der Volksfrontpolitik „wiederentdeckt“. Wie der folgende Artikel zeigt, waren beide Vereinnahmungen Gramscis nicht berechtigt. Gramscis politische Revision (die er als Parteivorsitzender verfolgte) war tatsächlich die der „strategischen Einheitsfront“ zwischen Kommunist:innen und Reformist:innen mit dem Ziel einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung als erster Etappe der Diktatur des Proletariats. Er hegte im faschistischen Italien keinerlei Illusionen in Bündnisse mit der Bourgeoisie, allerdings ein illusorisches Verständnis der revolutionären Dynamik übergreifender Bündnisse „der Linken“ – und damit tatsächlich der Notwendigkeit, die Einheitsfront als Vehikel des Kampfes zum Bruch auch mit dem Reformismus und Zentrismus zu gestalten.

Einen anderen Interpretationsstrang von Gramsci findet man im „Neomarxismus“ der Nach-68er-Bewegung, z. B. begründet in der „strukturalistischen“ Marxexegese. So führte Luis Althusser (z. B. in „Für Marx“, 1968, Suhrkamp) Gramsci und das Hegemoniekonzept als Beleg dafür an, dass im „westlichen Marxismus“ schon früher die Unterschätzung der „Überbauphänomene“ erkannt wurde. In seinem Bestreben, Marx vom „Hegel’schen Objektivismus“ zu reinigen, ersetzte Althusser die Dialektik von Ökonomie und politisch-ideologischem Überbau durch ein System vielfältiger Widersprüche, in denen den Zusammenstößen im Überbau (den „ideologischen Staatsapparaten“) immer mehr Gewicht zukommt gegenüber den zusehends entpolitisierteren ökonomischen Klassenkämpfen. Von dort gibt es eine gerade Linie zur Transformationspolitik (im Gefolge von Poulantzas), die den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse durch „revolutionäre Realpolitik“ in den „zivilgesellschaftlichen Strukturen“ die Rolle der vorantreibenden Kraft bis hin zum „revolutionären Bruch“ beim Übergang zum Sozialismus zuschreibt (zur näheren Kritik hierzu siehe den Artikel „Modell Oktoberrevolution“ im Revolutionären Marxismus 49).

So wenig man eine solche Bewertung von politischen und kulturellen Mikrokämpfen im „antikapitalistischen Stellungskrieg“ Gramsci direkt zuschreiben kann, so ist in seiner Konzeption der Hegemonie tatsächlich eine methodische Schwäche angelegt. Während bei Marx die Ideologiekritik und die daraus folgende Analyse von Überbauphänomenen materialistisch-dialektisch aus der Kritik der politischen Ökonomie abgeleitet wird, so ist dies bei Gramsci in den „Gefängnisheften“ wenig ausgeführt bzw. kann als „nur letztlich bestimmt“ verstanden werden. Wie im Artikel herausgearbeitet, kann es hier zu einer, von seinem idealistischen philosophischen Lehrmeister Benedetto Croce inspirierten Überbewertung des „subjektiven Faktors“ kommen, dem in den vielfältigen politischen Strukturen von Kultur, Wissenschaft, politischen Institutionen etc. eine weitgehende Selbstständigkeit eingeräumt wird.

Dies wird um so auffälliger, wenn man Gramscis Ideologiekritik mit der seines unmittelbaren Zeitgenossen und Kominterngenossen Georg Lukács vergleicht. Lukács hatte in den frühen 1920er Jahren mit der Theorie der „Verdinglichung“ dargelegt, wie die in der kapitalistischen Ökonomie (insbesondere in der Zirkulationssphäre) angelegten Denkmuster (Fetischformen) Politik und Alltag derartig durchdringen, dass jegliche „Alternativen“ oder „Gegenmachtansätze“ immer wieder in das herrschende bürgerliche System eingegliedert und zu systemstabilisierenden Faktoren umstrukturiert werden (Gramsci hatte im Konzept der „passiven Revolution“ übrigens eine ähnliche Bemerkung gemacht, diese stellt aber letztlich einen Fremdkörper in seiner Hegemoniekonzeption dar). Lukács’ zog die Schlussfolgerung (in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), dass nur vom Standpunkt des revolutionär organisierten Proletariats aus so etwas wie eine unabhängige, über die Kapitalreproduktion hinausgehende Gegenposition möglich ist. Nur ein revolutionäres Proletariat unter der Führung einer kommunistischen Partei kann auch die Antinomien und Rückführungsmechanismen des bürgerlichen Bewusstseins und seiner gewaltbewehrten Organe überwinden und einen wirklichen „revolutionären Bruch“ mit dem Bestehenden ermöglichen.

Auch wenn „Geschichte und Klassenbewusstsein“, wie Lukács selbstkritisch schon 1925/26 in „Chovstismus und Dialektik“ anmerkt, etliche Schwächen enthielt, so stellt es bis heute einen wichtigen Referenzpunkt der Kritik und Abgrenzung von sich auf Gramsci berufenden Gegenmachtkonzepten dar.

Mehr noch als vergangene Gramsci-Wellen ist die gegenwärtige von einer weitgehenden Unkenntnis, um nicht zu sagen Ignoranz, gegenüber Gramscis eigener politischer und theoretischer Entwicklung geprägt. Umso umstandsloser lassen sich auch daher seine Konzepte in aktuelle reformistische Strategien integrieren. Der folgende Artikel umfasst daher sowohl eine historische Einschätzung wie eine marxistische Kritik Gramscis, die sich einerseits gegen seine nicht-revolutionäre Vereinnahmung, andererseits aber auch gegen eine unkritische Übernahme seines Werkes richtet.

Gramsci und die revolutionäre Tradition

Andy Cleminson / Keith Hassell

Es gilt, den italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu würdigen. 1926 wurde er von Mussolinis Faschisten verhaftet und zwei Jahre später nach einem Schauprozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Seine Entlassung aus der Haft 1937 überlebte er, da er im Gefängnis schwer erkrankt war, nur kurz. Er starb im April desselben Jahres.

Das Gedenken an seinen Tod hat einmal wieder ganz verschiedenen Tendenzen auf der Linken die Gelegenheit verschafft, um sein Erbe zu streiten. Marxism Today (MT), die Zeitschrift der eurostalinistischen CPGB, erinnerte ihr Publikum in ihrer Aprilausgabe daran:

„Ohne Zweifel ist Gramsci der wichtigste einzelne theoretische Einfluss auf Marxism Today im Verlauf des letzten Jahrzehntes gewesen.“ (1)

Dieser Einfluss wurde durch die italienische kommunistische Partei gefiltert (KPI). Doch war die KPI nicht immer so bereit gewesen, Gramscis Beitrag zum Marxismus anzuerkennen. Es vergingen zehn Jahre nach Gramscis Tod, bevor die KPI sich entschied, eine Ausgabe von Gramsci Gefängnisnotizbüchern zu veröffentlichen, passend zensiert, um irgendwelche günstigen Verweise auf Trotzki oder Andeutungen von Opposition zu Stalins Politik in den 1930er Jahren zu entfernen.

Aber die Krise des Stalinismus nach 1956 schuf ein ideologisches Vakuum in den Reihen der westlichen stalinistischen Parteien. In Gramsci fand die KPI einen „italienischen Marxismus“, der der Erwartung gerecht werden konnte. Er konnte Kontinuität mit der Gründung der KPI beanspruchen, doch sich von den „Übertreibungen“ des Stalinismus in den 1930er Jahren distanzieren. Er konnte behaupten, in Gramscis Arbeit eine Kritik am „Dirigismus“ zu finden, mit deren Hilfe der monolithische Anspruch des Stalinismus abgelehnt werden konnte, ohne in Sozialdemokratismus zu verfallen oder der revolutionären (d. h. trotzkistischen) Kritik am Stalinismus Zugeständnisse zu gewähren.

Die KPI argumentierte, dass Gramscis Vorstellung von „Hegemonie“ ihre Politik in den 1970er Jahren für parlamentarische Unterstützung der arbeiter:innenfeindlichen Regierung der Christdemokratie (der „historische Kompromiss“) bekräftigte.

In den letzten paar Jahren aber hat die reformistische Laufbahn der KPI diese Partei dazu geführt, einen gewissen Abstand zwischen sich und Gramsci zu setzen. Anfang 1987 behauptete der KPI-Chef Natta, dass Gramsci auch „Fundamentalist“ war. Es ist daher keine Überraschung, dass Antistalinist:innen es zunehmend für normal halten, Gramscis Erbe für sich zu beanspruchen.

Vor fünfzig Jahren sagte der italienische Trotzkist Pietro Tresso in einem Nachruf auf Gramsci, dass es lebenswichtig war, den Stalinist:innen nicht zu erlauben, „Gramscis Persönlichkeit für ihre eigenen Zwecke auszunutzen“ (2). Dies gilt weiterhin. Aber der moderne Zentrismus versucht, weiter zu gehen. Einer der Führer:innen des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Livio Maitan, versucht bspw. mit seiner Würdigung des Lebens des italienischen Revolutionärs im mandelistischen Rückblick zu begründen, dass es einen „vollkommen revolutionären Kern“ in Gramscis Arbeit gibt, und dass „revolutionäre Marxist:innen das Recht und die Pflicht haben, das Erbe Antonio Gramscis zu beanspruchen“. (3)

Zwar zieht die Sozialistische Arbeiter:innenpartei (SWP/GB) den Stalinismus korrekt zur Rechenschaft für den Versuch, Gramsci als Reformisten zu schildern, doch sie ist wie Maitan gänzlich damit gescheitert, aus dem Leben des italienischen Revolutionärs eine kommunistische Bewertung seines Beitrages zum Marxismus zu verallgemeinern. John Molyneux sagt von den Jahren 1922 – 1926:

„Selbst ein ungezwungener flüchtiger Blick auf Gramscis Schriften dieser Periode zeigt, dass er fest auf dem Terrain der Revolution bleibt.“ (4)

Chris Harmans Pamphlet für die SWP – Gramsci gegen den Reformismus – bezieht eine ähnlich einseitige Sicht auf Gramsci. Für Harman reicht es aus, dass Gramsci an Revolution, nicht Reform glaubte, nie die Straße zum Aufstand verließ und beides anerkannte – die Notwendigkeit für eine Partei bolschewistischen Typs wie die Samenkörner für einen  Arbeiter:innenstaat, die innerhalb der Fabrikrätebewegung angelegt waren.

Im Wesen legen Harman, Molyneux und Maitan nur einen umgekehrten Fehler zu den Stalinisten an den Tag. In ihrer Darstellung ist Gramscis Beitrag zur KPI bis zu seiner Verhaftung unproblematisch und zeigt ihn ehrlich auf dem Boden der revolutionären Komintern stehend. Die „Lyon-Thesen“ von 1926 werden als Gipfel seiner politischen Arbeit gewertet. Seine Arbeit nach dieser Zeit, wie in den Gefängnisnotizbüchern vorgefunden, enthält zwar gewisse Irrtümer, stellt ihrer Meinung nach jedoch keinen Bruch mit dem revolutionären Gramsci dar. Für Maitan gibt es „eine unleugbare Kontinuität in Gramscis Denken und Herangehensweise seit seinen Schriften in den Jahren der Russischen Revolution bis zu den Notizen von 1935, als die Notizbücher endeten.“ (5). Gemäß Harmans Sicht haben die Faschisten „ … ihn daran gehindert, das Potenzial seines Marxismus, das er in L’Ordine Nuovo und den ,Lyon-Thesen’ zeigte, voll zu verwirklichen.“ (6)

Praktisch dienen diese Resümees nur dazu, die Wahrheit von Trotzkis Sprichwort zu unterstreichen, dass es für Zentrist:innen sehr schwierig ist, Zentrismus in anderen zu erkennen. Es ist notwendig, die Dinge tiefer zu analysieren. Genau weil die gegenwärtige SWP oder das VS der IV. Internationale Sachverhalte aus einer Reihe revolutionärer Prinzipien heraus beurteilen, statt ihre eigenen (oder andere) Beiträge mit dem Maßstab des Programms zu messen, scheitern sie daran, Gramscis politische Theorie und Praxis vor dem Hintergrund von Führung und Politik der Komintern in der Periode 1919 – 26 zu bewerten.

Aus dieser Perspektive analysiert, ist es möglich zu zeigen, dass Gramsci zwar nie Reformist war, sich seine Politik dennoch in ernsthaftem Maße von Praxis und Theorie Lenins und Trotzkis unterschied, während diese in der Leitung der Komintern waren. Kurz, es kann gesehen werden, dass Gramsci in der Tat eine klassische zentristische Entwicklung durchlief, in seinem Fall vom Ultralinkstum zum Rechtszentrismus.

Gramsci 1915 – 21

In Ales auf der Insel Sardinien geboren, ging Gramsci 1911 nach Turin, um an der Universität zu studieren. Dort sollte er in Kontakt mit der mächtigen Turiner Arbeiter:innenbewegung kommen, deren Schwerkraftzentrum in den FIAT-Autobetrieben und verwandten Industrien zu finden war. 1913 trat er der Sozialistischen Partei (PSI) bei.

Immer mehr in die Arbeit der Partei eingebunden, gab Gramsci im November 1915 sein Studium auf, um sich dem Redaktionsstab der PSI-Zeitung Il Grido del Popolo (Der Schrei des Volkes) anzuschließen. Innerhalb von Monaten schrieb er für die Turiner Ausgabe der offiziellen PSI-Tageszeitung Avanti!. In diesen Jahren als aktiver Kämpfer, aber bevor die Russische Revolution von 1917 die Fundamente der europäischen Sozialdemokratie erschütterte, war Gramscis Politik beträchtlich entfernt von jener Lenins und der Bolschewiki trotz der Tatsache, dass sich für Italien und Russland sehr ähnliche strategische und taktische Aufgaben stellten. Zu der Zeit, als Gramsci ein bewusster Revolutionär wurde, 1915, waren die Bolschewiken durch die Erfahrung von einer Revolution und Gegenrevolution gegangen und  hatten in deren Verlauf ihre Positionen zur revolutionären Partei und der Agrarfrage eindeutig formuliert. Die Bedeutungen dieser Positionen entgingen den Linken in der PSI bis 1921. Um 1915 begriff Lenin die Gründe für den Zusammenbruch der Zweiten Internationale angesichts des imperialistischen Kriegs und die Notwendigkeit eines vollständigen politischen Bruchs. Gramsci und die Linke in der PSI missachteten Lenins Einstellung zu diesen Ereignissen.

Gramscis eigene politische Lehrzeit war merklich anders als Lenins gewesen. Es war nicht die klassisch „orthodoxe“ marxistische Tradition von Kautsky und der deutschen SPD oder Plechanow, die Gramscis Hintergrund bildeten, sondern eher eine besondere, italienisierte Version von Marxismus, der seinen Weg zu Gramsci durch die Arbeiten von Croce, Labriola und Gentile fand. An diese Personen wandte sich Gramsci, um nach einem Heilmittel für die Schwächen zu suchen, die er in Praxis und Theorie der Politik der Rechten in der  Zweiten Internationale und der PSI wahrnahm. Gramsci glaubte, dass die Passivität und der Fatalismus dieser Strömung mit einem ursprünglichen Mangel im historischen Materialismus von Marx und Engels zusammenhingen. Er war der Ansicht, dass Marxens Kritik der politischen Ökonomie, wie im Kapital zu finden, in der Tat mechanischer Materialismus war, der die Rolle und die Macht des subjektiven Faktors (die arbeitende Klasse) ignorierte, sich ihrer eigenen Ausbeutung bewusst zu werden und zum Umsturz eines Systems ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Bedingungen zu erheben. So sah er den Materialismus des Marxismus als ungenügend und eine Rückkehr zu Hegel als notwendig an, die Croce befürwortete, um der Theorie eine Dosis Idealismus zu injizieren und eine adäquate Einschätzung des subjektiven politischen Faktors in revolutionärer Politik zu leisten.

Lenins und Trotzkis Ansätze zu den Problemen der russischen Revolution waren im Vergleich damit sehr verschieden. Bereits 1899 argumentierte Lenin in Polemiken mit den Narodniki (Volkstümlerrichtung) gegen ihre mechanistische Auslegung von Marxens Politökonomie. Sie führte die Narodniki zur Schlussfolgerung, dass die Rückständigkeit von Russlands innerem Markt bedeutete, die Entwicklung des Kapitalismus in Russland könne vermieden werden. Schon 1905 umriss Trotzki in seiner Theorie der „permanenten Revolution“, dass der russische Kapitalismus im Kontext der ungleichen und kombinierten Entwicklung des Kapitalismus im Weltmaßstab verstanden werden musste. Im Bündnis mit dem europäischen, besonders dem französischen, Kapitalismus hatte die zaristische Autokratie die schnelle Ausbreitung des Kapitalismus in Russland beaufsichtigt. Genau deswegen bestritten Lenin wie auch Trotzki die damals vorherrschende Sichtweise des Marxismus, die darauf bestand, dass wegen dieser Entwicklung der russischen Bourgeoisie die Führung der bürgerlichen Revolution gegen den Zaren zufalle.

Sie bewiesen, dass die Schwäche einer einheimischen russischen Bourgeoisie sie dazu bringen würde, einen Block mit der Reaktion gegen die Arbeiter:innenklasse einzugehen, angesichts des gesellschaftlichen Gewichts des Proletariats und eines wirklichen Kampfes um bürgerlich-demokratische Forderungen.

Während für Gramsci die Revolution im rückständigen Italien trotz seiner gesellschaftlichen Verhältnisse durch einen Willensakt durchgeführt werden musste, würde für Lenin und Trotzki die Revolution im rückständigen Russland genau wegen der Widersprüche in der materiellen  Struktur des russischen Kapitalismus geschehen. Die Fehler in Gramscis methodologischem Begriff von Marxismus verrieten eine wirkliche Schwäche in seinem Verständnis vom historischen Materialismus. Für eine Weile wurde in den 1920er Jahren, als Gramsci zu den Positionen der revolutionären Komintern hingetrieben wurde, die Bedeutung dieser Schwächen verdeckt. Deren volle Bedeutung sollte erst vollständig in den Gefängnisnotizbüchern in seiner Diskussion über „Zivilgesellschaft“ und den „Staat“ enthüllt werden.

Gramsci und die Russische Revolution

Mit dieser Methode begrüßte Gramsci die Russische Revolution von 1917. Während er sie willkommen hieß als eine „proletarische Tat …  welche natürlich in einem sozialistischen Regime resultieren muss“ (7), betrachtete er sie als Bestätigung für seine eigene Sichtweise von Marxismus. Er sah sie als eine „Revolution gegen ,Das Kapital’“ und erblickte in der Arbeit der Bolschewiki „die Fortsetzung italienischen und deutschen idealistischen Gedankenguts, welches bei Marx von positivistischen und naturalistischen Verkrustungen verunreinigt wurde.“ (8)

Doch trotz dieses Angriffes auf den „Marxismus“ richtete er sich methodologisch in Wahrheit gegen die menschewistische Strategie, die glaubte, es existiere eine: „ … schicksalhafte Notwendigkeit für die Bildung einer Bourgeoisie in Russland, für den Beginn einer kapitalistische Ära, bevor das Proletariat an das Aufgreifen eigener Klassenforderungen, oder sogar an die Durchführung seiner eigenen Revolution denken könnte.“ (9)

In Lenin sah er die Art von Anführer:in, die das Geschichtstempo durch eine Tat organisierten Willens eher beschleunigen konnte, als jemand, der/die die sozialen Widersprüche in der russischen Gesellschaft bewusst zum Ausdruck bringen konnte.

Als sich die revolutionäre Krise in Italien in den Jahren nach der Russischen Revolution vertiefte, hatte Gramsci Gelegenheit, weiter über die Lektionen nachzudenken, die von Lenin gelernt werden konnten. Im August 1917 führten  Arbeiter:innen in Turin einen Aufstand gegen die örtliche Staatsgewalt, der von einem allgemeinen Streik in der ganzen Region Piemont unterstützt wurde. Obwohl schließlich der Aufstand um den Preis von 500 Toten und weiteren 2.000 Versehrten niedergeschlagen wurde, verweigerten sich die Turiner Arbeiter:innen ihrer Unterwerfung . Die Arbeiter:innenbewegung erhob sich wieder in einer beispiellosen Art während der Jahre 1919 – 1920. In diesen Jahren wuchs die PSI von 81.000 1919 auf 216.000 Mitglieder 1920. Der Gewerkschaftsverband unter der Leitung der PSI – die GCL – wuchs explosionsartig von 320.000 auf 2,3 Millionen zwischen 1914 und 1920.

Im April 1919 gründete Gramsci mit anderen die Zeitung L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung). Sehr schnell steuerte Gramsci sie weg von einer einfachen Kost abstrakten Propagandismus‘ mit einer starken Betonung auf kulturellen Themen zu einer Zeitschrift, die die wachsende Bewegung von Fabrikausschüssen angelehnt an die Sowjets in Russland umzugestalten suchte. Im Juni schrieb er über den Arbeiter:innenstaat:

„Dieser Staat entspringt nicht durch Zauber: die Bolschewiki arbeiteten acht Monate daran, ihre Slogans zu verbreiten und zu verfeinern: alle Macht den Sowjets; die Sowjets waren den russischen Arbeiter:innenn schon 1905 bekannt. Italienische Kommunist:innen müssen die russische Erfahrung schätzen lernen und so Zeit und Mühe sparen.“ (10)

Im Oktober 1919 gliederte die PSI sich der Komintern an und im folgenden Monat bestritt sie eine allgemeine Wahl auf einem Programm, das die Gewaltherrschaft des Proletariates forderte. Sie gewann den größten Block von Sitzen im neuen Parlament – 156 Sitze von 508. Anfang 1920 schickte die PSI sich an, die Kontrolle in über der Hälfte der Stadträte zu gewinnen. Ohne Frage suchten die italienischen Arbeiter:innen den Pfad der Revolution.

Bis zum Frühling 1920 hatte sich der Kampf in den Fabriken zu einem höheren Stadium mit der Bildung der Innenausschüsse aufgeschwungen, die den Arbeiter:innen ermöglichten, ganze Bereiche der Fabrik zu kontrollieren. Den ganzen Sommer 1920 lang waren weit mehr als eine halbe Million Arbeiter:innen in die Ausschüsse und Räte eingebunden. Gramsci begriff das, was auf dem Spiel stand, genau:

„Unter den Kapitalist:innen war die Fabrik ein Miniaturstaat, regiert durch einen despotischen Stab. Heute, nach den Arbeiter:innenbesetzungen, ist diese despotische Macht in den Fabriken zerschlagen worden; das Recht zu wählen ging in die Hände der arbeitenden Klasse über. Jede Fabrik, die über Industrieexekutiven verfügt, ist ein illegaler Staat, eine proletarische Republik, die von Tag zu Tag lebt, in Erwartung des Ausgangs der Ereignisse.“ (11)

Aber dieses war der Kern der Sache: Wie den „Ausgang der Ereignisse“ lenken? Wie Doppelmacht in den Fabriken in eine Kampfansage gegen die nationale Staatsmacht verwandeln? Hier wurden Gramscis Schwächen in der Parteifrage grausam freigelegt.

Bestimmt war die maximalistische Führung um Serrati schuld an der Ablehnung, die Verantwortung für die Organisierung der arbeitenden Klasse durch die Partei auf sich zu nehmen, um sich auf die Eroberung der Staatsmacht vorzubereiten. Aber Gramsci hatte immer versäumt, sich um eine revolutionäre kommunistische Partei zu bemühen. Sogar nach dem Anschluss an die Komintern widerstrebte es Gramsci, den reformistischen Turati-Flügel bis zum Bruchpunkt von Ausschlüssen zu bekämpfen. Er teilte sogar nicht Bordigas Einsicht ins Erfordernis, sich zu organisieren, um für seine fraktionellen Ansichten im nationalen Maßstab innerhalb der PSI zu streiten.

Es ist dann eine bemerkenswerte Tatsache, dass Harman in seinem Pamphlet über die Schwächen Gramscis und der Partei hinweggleitet und in Bezug auf die Rolle marxistischen Eingreifens im Klassenkampf sagt:

„Seine eigene Aktivität 1919 – 20 und 1924 – 26 war ein leuchtendes (obwohl natürlich nicht perfektes) Beispiel für eine solche Intervention.“ (12)

Lenin und Trotzki waren bezüglich des Versagens aller Teile der PSI viel härter. Trotzki sagte über die PSI: „Die Partei betrieb Agitation für die Sowjets, für Hammer und Sichel, für Sowjetrussland usw. Die italienische Arbeiter:innenklasse nahm dies massenhaft ernst und betrat die Straße offenen revolutionären Kampfes. Aber genau im Moment, als die Partei zu allen praktischen und politischen Schlüssen aus ihrer eigenen Agitation gekommen sein sollte, erschrak sie vor ihrer Verantwortung und lief feige weg, ließ dabei die rückwärtigen Reihen des Proletariates ungeschützt.“ (13)

Lenin war ebenso barsch: „Zeigte ein/e einzelne/r Kommunist:in, was in ihm/r steckt, als die Arbeiter:innen die Fabriken in Italien eroberten? Nein. Damals gab es als noch keinen Kommunismus in Italien.“ (14)

In der Tat urteilte Gramsci rückblickend auf sich viel härter, als Harman dies tun will. 1924 schrieb er:

„1919/20 machten wir äußerst schwere Fehler, für die wir schließlich heute zahlen. Aus Angst,  Emporkömmlinge und Karrierist;innen gerufen zu werden, bildeten wir keine Fraktion und organisierten diese überall in Italien nicht. Wir waren nicht bereit, den Turiner Räten ein autonomes Direktivzentrum zu geben, das einen riesigen Einfluss überall im Land ausgeübt haben könnte, aus Angst vor einer Spaltung in den Gewerkschaften und, vorzeitig aus der Sozialistischen Partei ausgestoßen zu werden.“ (15)

Diese  Qualität von Selbstkritik – unbedeutend, wie eng persönlich mit den Ereignissen verbunden und als wie kostspielig sich die Fehler erwiesen –, eine Güte, die allen großen Revolutionär:innen zukommt, befähigte Gramsci, sich zur Komintern zu wenden.

Die Gründung der KPI

Der Misserfolg der PSI in der revolutionären Situation in Italien 1920 zwang wenigstens die Linke in der Partei, schließlich mit der reformistischen Führung zu brechen. Die Kommunistische Partei Italiens (KPI) wurde dann im Januar 1921 in Livorno gebildet. Sie wurde in einer Periode der Ebbe im internationalen Klassenkampf geschaffen, in Italiens Fall einer Periode erstarkender Reaktion und des Wachstums des Faschismus.

Auf ihrer Gründungskonferenz hatte die KPI zwischen 40.000 und 60.000 Mitglieder. Zur Zeit von Mussolinis Marsch auf Rom (ein faschistischer Putsch) im Oktober 1922 war die Partei auf 25.000 geschrumpft. Unter der Auswirkung der ersten Runde von Unterdrückung, die folgte, sank die Mitgliedschaft auf ungefähr 5.000 Anfang 1923.

In diesen schwierigen Jahren befand sich die Führung der KPI in Konflikt mit der der Komintern, als sie versuchte, ihre Perspektiven für die frühen 1920er Jahre zu entwickeln. Zur Zeit der Formation der KPI hatte es schon zwei Kominternkongresse gegeben (1919, 1920). Die Perspektiven und die Taktiken, die auf diesen umrissen wurden, waren entworfen worden, um vollen Vorteil aus der Krise des Bürgertums in Europa und der Schwäche der Sozialdemokratie zu ziehen. Es war eine Zeit entschiedener Brüche mit dem Reformismus und der Entstehung kommunistischer Parteien, die sich auf die Machtergreifung vorbereiteten.

Um die Zeit des Gründungskongresses der KPI und Dritten Kongresses der Komintern im Juni/Juli 1921 veränderte sich die Situation. Gelegenheiten waren versäumt worden, die Bourgeoisie hatte das Schlimmste ertragen und überlebte. Sie gewann Zuversicht und ging zurück in die Offensive. Die Sozialdemokratie war trotz ihrer verräterischen Hilfe für die herrschende Klasse gestärkt worden. Eine Neueinschätzung von Perspektiven und Taktiken war wesentlich.

Diese Neubeurteilung erfolgte am klarsten um die Frage der Einheitsfronttaktik herum. Diese Taktik, von den Bolschewiki in den Jahren angewandt, die bis zur Revolution führten, wurde auf den Dritten und Vierten Kongressen der Komintern 1921 und 1922 in ein System gebracht und verallgemeinert. Eher mit Reformismus als Kommunismus in einflussreicherer Position war es wesentlich, die arbeitende Klasse von reformistischen und zentristischen Organisationen zu brechen.

Die Resolution zur Taktik auf dem Vierten Kongress stellte fest:

„Die systematisch organisierte internationale kapitalistische Offensive gegen alle Gewinne der arbeitenden Klasse ist über die Welt wie ein Wirbelwind gefegt … zwingt die arbeitende Klasse, sich zu verteidigen.

Es gibt infolgedessen ein offensichtliches Bedürfnis für die Einheitsfronttaktik. Die Losung des Dritten Kongresses – heran an die Massen! – ist jetzt relevanter denn je … Die Anwendung der Einheitsfronttaktik bedeutet, dass die kommunistische Vorhut an der vorderen Front des Tageskampfs der breiten Massen für ihre lebenswichtigsten Interessen steht. Um der Sache dieses Kampfes willen sind Kommunist:innen sogar bereit, mit den Streikbrecherfunktionär:innen der Sozialdemokratie zu verhandeln.“ (16)

Natürlich war eine erbarmungslose Kritik an den Mängeln und dem Verrat der Spitzen von reformistischen Parteien und Gewerkschaften zwingend notwendig, wenn diese gemeinsame Handlung zur Verstärkung der kommunistischen Partei führen sollte.

Die PSI lehnte diese Einstellung ab. Überdies gab es 1921 kaum einen wägbaren Unterschied zwischen der politischen Perspektive von Gramsci und der ultralinken Führung, die um Amadeo Bordiga gruppiert war. Beide widersetzten sich Versuchen, die Linie der Dritten und Vierten Kominternkongresse vollständig auszuführen, und wurden stattdessen zu den ultralinken Positionen Bucharins hingezogen, der in Trotzkis Worten:

„ … gegen die Politik der Einheitsfront und der Übergangsforderungen stritt und mit seinem mechanischen Verständnis von der Dauerhaftigkeit des revolutionären Prozesses fortfuhr.“ (17)

Im Dezember 1921 erstellte der Leitende Ausschuss der Kommunistischen Internationale (EKKI) ein Dokument, das seine Einheitsfrontpolitik gegenüber den sozialistischen Parteien und den Gewerkschaften umriss. Im Januar 1922 veröffentlichte die Komintern einen Aufruf an die internationale Arbeiter:innenschaft, der darauf aufbaute. Ein Monat später fand eine Versammlung des erweiterten EKKI mit anwesenden Vertreter:innen der KPI statt, um die Frage der Einheitsfront zu diskutieren, bei der die KPI-Delegierten mit ihrer Meinung in einer Minderheit waren.

Zur gleichen Zeit wie diese Ereignisse entwarfen die KPI-Führer:innen einschließlich Gramsci Thesen für den bevorstehenden Kongress der KPI in Rom. Sie wurden im Januar 1922 veröffentlicht und enthüllten, wie weit sich eigentlich die KPI von der Denkweise der Komintern entfernt befand.

Einerseits akzeptierten die „Thesen von Rom“, es gebe keinen Widerspruch zwischen:

„ … Teilnahme an den Kämpfen für eingeschränkte und begrenzte Ziele und der Vorbereitung des letztendlichen und allgemeinen revolutionären Kampfes.“ (18)

Zu diesem Zweck stimmte die KPI auch zu:

„ … am Organisationsleben in allen Formen von wirtschaftlicher Organisation des Proletariats, die offen für Arbeiter:innen aller politischen Überzeugungsrichtungen sind … (teilzunehmen), … was bedeutet, sich in die intensivsten Kampfhandlungen zu begeben und den Arbeiter:innen zu helfen, die nützlichsten Erfahrungen daraus herzuleiten.“ (19)

Aber die KPI lehnte es ab, Abmachungen für gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen politischen Parteien trotz der Tatsache ins Auge zu fassen, dass die Mehrheit der Arbeiter:innenvorhut in Italien weiterhin der PSI die Treue hielt, wohingegen die KPI eher:

„die Forderungen (unterstützen würde), die von den linken Parteien vorgeschlagen werden … von solcher Art, die geeignet sind, ans Proletariat zu appellieren, direkt zu mobilisieren, sie auszuführen …  die kommunistische Partei wird sie als Ziele für eine Koalition aus Gewerkschaftsorganen vorschlagen und vermeiden, Ausschüsse zu bilden, um den Kampf und die Agitation zu lenken, in denen die kommunistische Partei neben anderen politischen Parteien vertreten und tätig wäre.“ (20)

Sie glaubte, nur so bliebe die KPI: „ … frei  von irgendeinem Anteil an Verantwortung für die Aktivität der Parteien, die mündlich Unterstützung für die Sache des Proletariates durch Opportunismus und mit gegenrevolutionären Absichten ausdrücken.“ (21)

Dieser Unterschied zwischen Gewerkschaft und politischen Blockgebilden war ein künstlicher, geht man von einem korrekten Verständnis der Einheitsfront aus. Ein solcher Ansatz geht davon aus, sich für beschränkte politische oder wirtschaftliche Forderungen abzumühen, wenn es breite Schichten in einem Kampf um diese Forderungen mobilisieren kann und ihre Durchsetzung ein begrenzter Gewinn für die Arbeiter:innenklasse wäre und außerdem ihre politische Unabhängigkeit und Organisation stärken und das Proletariat weiter so auf den Revolutionspfad bringen würde. Die Kommunist:innen übernehmen keine Verantwortung für den Misserfolg der Sozialist:innen weder in der wirtschaftlichen noch der politischen Sphäre.

Die Gefahr des KPI-Ansatzes ist, dass er Opportunismus in Verbindung zur gewerkschaftlichen Einheitsfront in sich birgt, nur um von einem starren Sektierertum auf politischem Gebiet aus Furcht vor den Folgen solchen Opportunismus’ für die kommunistische Partei, also mit einem anderen Fehler begleitet zu werden. Zum Beispiel gaben die römischen Thesen an:

„Kommunist:innen, die an Kämpfen in proletarischen wirtschaftlichen Körperschaften teilnehmen, die von Sozialist:innen, Syndikalist:innen oder Anarchist:innen geführt sind, werden sich nicht weigern, ihren Handlungen zu folgen, außer wenn die Massen als Ganzes in einer spontanen Bewegung dagegen rebellieren sollten.“ (22)

Es ist diese Einstellung zur Spontaneität, eingemauert in den Grundsteinen von Gramscis Politik, die das Ultralinkstum der KPI anstiftete. Jahre später gab Gramsci zu, dass solche Positionen ‚m Grunde durch Croces Philosophie inspiriert‘ wurden (23). Spontane wirtschaftliche oder Gewerkschaftskämpfe sind an und für sich gut und ihnen kann unkritisch gefolgt werden. Politische Kämpfe außer unter der Führung der KPI sind es nicht. Aber „bittere Polemiken“ und Prophezeiungen vom Verrat werden die Massen schließlich dahin führen, mit der PSI zu brechen. Das war die KPI-Methode.

Die doppelten Gefahren von Opportunismus und Sektierertum kommen eindeutig in einer Passage der Thesen durch, die die Methode der Einheitsfront ganz falsch auf die Reihe bringt:

„Sie [die KPI] kann keine Taktik mit einem gelegentlichen und vorübergehenden Kriterium vorschlagen und  damit rechnen, dass sie anschließend dazu in der Lage sein wird, im Moment, wenn so eine Taktik nicht mehr anwendbar ist, eine abrupte Kehrtwende und einen Frontwechsel auszuführen, indem sie ihre Verbündeten von gestern zu Feind:innen stempelt. Wenn man nicht wünscht, seine Verknüpfung mit den Massen und ihre Verstärkung genau in dem Moment zu kompromittieren, wenn es gerade darauf ankommt, dass diese in den Vordergrund treten, wird es notwendig sein, in öffentlichen und offiziellen Erklärungen und Haltungen eine Kontinuität von Methode und Absicht, die mit der ununterbrochenen Propaganda und der Vorbereitung für den letzten Kampf genau übereinstimmt, zu verfolgen.“ (24)

Für Lenin und Trotzki stellt das Abschließen prinzipienfester Übereinkünfte und deren Bruch, wenn die „Verbündeten“ – wegen deren Unentschlossenheit oder Verrats während der Umsetzung dieser Abmachungen – sich in „Feind:innen“ verwandeln, gerade eine „Kontinuität“ in der Methode dar, die den Weg zum „Endkampf“ vorbereitet.

Gramsci stand zu dieser KPI-Position während 1922 und des Vierten Weltkongresses und setzte seinen Block mit den Bordigist:innen auf dem Junitreffen der Erweiterten Exekutive der Komintern-Führung 1923 fort. Diese Versammlung, bei der Trotzki und Sinowjew den Vorsitz einer vereinten Exekutivdelegation führten, sah die KPI-Mehrheit (einschließlich Gramsci) und die Minderheit um Tasca ihre Unterschiede ausdebattieren. Trotzki unterstützte Tascas Minderheitsbericht, der die Bilanz der KP- Führung kritisierte.

Dieser Bericht umriss, wie die KPI den Beschluss des Vierten Kongresses, die Verschmelzung zwischen der KPI und der PSI anzustreben, durch Aufzwingen von Ultimaten blockiert hatte. Während die KPI die Öffentlichkeitsarbeit für den Fusionsaufruf gering hielt, veröffentlichte sie  einen Leitartikel, der die PSI als ,Leiche’ charakterisierte, was natürlich Vereinigungsgegner:innen in der PSI in die Hände spielte. Diese konnten den „Patriotismus“ von Arbeiter:innen ausnutzen, die eine Anhänglichkeit an ihre Partei spüren (25). Die KPI zeigte gerade, wie wenig sie die Einheitsfronttaktik Lenins und Trotzkis angenommen hatte, als sie im Mai 1923  weiter in Il Lavoratore (Der Arbeiter) schrieb:

„Wir betrachten die Taktik der Blöcke und Einheitsfront als ein Mittel, den Kampf gegen jene auf einem neuen Niveau zu verfolgen, die das Proletariat verraten … Darum haben wir sie vorgeschlagen.“ (26)

Wie Tasca und die Kominternführung über Gramsci und die KPI-Mehrheit die Schlüsse zogen:

„Die Vorstellung, die diese Genoss:innen von der Partei und ihren Verbindungen mit den Massen haben, ist vollkommen geeignet, die ,Sekten’mentalität beizubehalten, einen der ernstesten Mängel unserer Organisation.“ (27)

Gramscis Einwände

Über seine falsche Einstellung zur Spontaneität hinaus gab es andere Gründe hinter Gramscis Opposition gegen die Politik der Komintern. Auf konjunkturell-taktischer Ebene widersetzte er sich ihr, weil er fühlte, die rechte Minderheit in der KPI um Tasca, die die Kominternthesen unterstützte, würde gestärkt. Sie stellte für ihn eine liquidatorische Tendenz in der KPI dar, die nicht völlig mit der PSI-Politik gebrochen hatte und sich der notwendigen Neuorientierung auf illegale Arbeit unter den Bedingungen faschistischer Unterdrückung widersetzte. Im Juni 1923 sagte er, dass:

„Die Einstellung der Komintern und die Aktivität ihrer Vertreter:innen bringen Uneinigkeit und Korruption in die kommunistischen Reihen. Wir sind fest entschlossen, gegen die Elemente anzugehen, die unsere Partei liquidieren würden.“ (28)

Gramsci glaubte, Blockbildungen mit den Befürworter:innen der Wahlenthaltung um Bordiga trotz der Unterschiede zu ihnen seien nötig, um den verspäteten Bruch mit Reformismus und Zentrismus in der Periode 1921/22 zu vervollkommnen. Eine gewisse Bestätigung dessen findet sich in einem Brief, den er im Februar 1924 an die KPI-Chef:innen innerhalb Italiens schrieb. Er argumentierte, dass er die „Rom-Thesen“ der KPI über Taktiken guthieß:

„ … nur aus beschränkten Motiven von Parteiorganisation und sprach mich zugunsten einer Einheitsfront geradewegs bis zu ihrer normalen Konsequenz in einer Arbeiter:innenregierung aus.“ (29)

In der Tat existiert keine Aufzeichnung so einer ablehnenden Position zu dieser Zeit. Dieser Brief wurde geschrieben, nachdem Gramsci seine Position zu den Beschlüssen des Vierten Kominternkongresses verändert und sich entschieden hatte, mit Bordiga zu brechen. Wenn wahr, wäre eine prinzipienlose Position bezogen worden und eine, die nur dazu diente, die Kristallisation einer wirklich bolschewistischen KPI weiterhin unglückselig aufzuschieben.

Aber es gibt einen weit tieferen Grund für Gramscis unversöhnliche Einstellung zur Politik von Lenin und Trotzki in diesen Jahren. Sie beruhte auf einer Vorstellung unterschiedlicher Strategien für „Ost“ und „West“ in Europa. Nur wenn wir diese Vorstellung Gramscis verstehen, können wir begreifen, wie und warum er seine Einstellung zu den Beschlüssen des Vierten Kongresses ändern sollte, ohne zur gleichen Zeit seine falsche politische Methodik zu korrigieren.

Die Idee von „Ost“ und „West“ war weniger eine Frage der Geographie und mehr eine Sache politischer Ökonomie. Für Gramsci bestand der „Osten“ aus der „rückständigen“ kapitalistischen Welt, wohingegen der „Westen“ die fortgeschrittene Welt Westeuropas war. Diese Trennungslinie war für Gramscis Opposition zur Komintern wesentlich. Er schrieb:

„In Deutschland stützt sich die Bewegung, die zur Einsetzung einer sozialdemokratischen Regierung tendiert, auf die Massen der Arbeiter:innenklasse; aber die Taktik der Einheitsfront hat keinen Wert außer für Industrieländer, wo die rückständigen Arbeiter:innen hoffen können, eine Verteidigungsanstrengung durch das Erobern einer parlamentarischen Mehrheit fortsetzen zu können. Hier [in Italien] ist die Situation anders … Wenn wir die Parole einer Arbeiter:innenregierung aufstellten und umzusetzen versuchten, würden wir zur sozialistischen Zweideutigkeit zurückkommen, als die Partei zu Inaktivität verdammt wurde, weil sie sich nicht entscheiden konnte, einzig und allein eine Partei von Arbeiter:innen zu sein oder einzig und allein eine Partei von Bauern/Bäuerinnen … Die Gewerkschaftsfront hat dazu im Gegensatz ein Ziel, das von primärer Wichtigkeit für den politischen Kampf in Italien ist …

Wenn man von einer politischen Einheitsfront spricht und daher von einer Arbeiter:innenregierung, muss man darunter eine ,Einheitsfront’ zwischen Parteien verstehen, deren gesellschaftliche Basis nur aus Industrie- und Landarbeiter:innen besteht, und nicht aus Bauern/Bäuerinnen … 

In Italien existieren nicht wie in Deutschland ausschließlich Arbeiter:innenparteien, zwischen denen eine politische Einheitsfront auch denkbar ist. In Italien ist die einzige Partei mit solchem Charakter die kommunistische Partei.“ (30)

Nachdem er mit Bordiga gebrochen hatte, beschrieb Gramsci Bordigas Ablehnung solcher Taktiken und begründete dies so:

„Weil die Arbeiter:innenklasse in der italienischen arbeitenden Bevölkerung in einer Minderheit ist, gibt es eine dauernde Gefahr, dass ihre Partei vom Eindringen anderer Klassen verdorben wird, insbesondere vom Kleinbürgertum.“ (31)

An erster Stelle war diese Sicht gründlich uneins mit dem Konzept eines internationalen Programms, Perspektiven und Taktiken. Die Einheitsfront ist eine Taktik, konzipiert, um die Einheit der arbeitenden Klasse in einem Ringen gegen die Bosse und ihren Staat zu maximieren. Aber die Arbeiter:innenklasse findet sich mit diesen Aufgaben weltweit konfrontiert, wo immer sie existiert. Der internationale Charakter dieser Schlachten bedeutet, dass die Taktik nicht entweder auf „Ost“ oder „West“ begrenzt werden kann.

In der Tat, in jenen Ländern, wo die Bauern-/Bäuerinnenschaft eine große Klasse ist und der Imperialismus die Probleme von Landhunger vervielfacht hat – so wie in Italien –, findet die „politische“ Einheitsfront häufiger Anwendung. Dies ist so, weil sie als kleinbürgerliche Schicht Parteien außerhalb der kommunistischen oder sozialistischen Parteien hervorbringt, mit denen es im Anrennen gegen das vereinigte Lager aus Industriekapital und Großgrundbesitz möglich ist, Blöcke einzugehen. Das war der Fall in Italien.

Eine solche Möglichkeit lag dem Block der Bolschewiki mit den Linken Sozialrevolutionären nach Oktober 1917 zugrunde. Die Tatsache, dass in Italien PSI und KPI weniger gut in der Bauern-/Bäuerinnenschaft Süditaliens verankert waren, als sie hätten sein sollen, hat nur geheißen, dass die Taktik der Einheitsfront mehr und nicht weniger dringlich war.

Eine Positionsänderung?

Im Verlaufe von 1923/24 hatte die Kominternführung einen gewissen Erfolg damit, einen Keil zwischen Gramsci und Bordiga zu treiben. Obwohl sie einen Block innerhalb der KPI bildeten, war deren Politik nie gleich. Die Unterschiede in ihrer Haltung zu den Fabrikräten 1920 waren symptomatisch. Die Politik von Passivität und Enthaltung war Kennzeichen Bordigas. Worin auch immer sein Ultralinkstum bestand, dies war Gramsci total fremd, der die Notwendigkeit sah, über passiven Propagandismus hinauszugehen, der wesentliche Wahrheiten bloß feststellte und auf den für ihn unvermeidlichen Prozess an Enttäuschung unter den Arbeiter:innen zum Nutzen der KPI wartete. Nach dem Vierten Weltkongress 1922 wurde Bordiga immer kompromissloser und nach innen orientiert. Bordigas Fraktion lehnte es ab, in den leitenden Ausschüssen der KPI wegen ihrer Divergenzen mit der Komintern zu arbeiten. Gramsci spürte, dass dies dazu führen musste, die KPI in die Hände der Minderheit um Tasca auszuliefern, der, wie Gramsci merkte, Opportunist gegenüber den Gewerkschaftsbonzen war.

Ereignisse in Italien überzeugten auch Gramsci, dass Passivität die KPI daran hinderte, in der Krise des faschistischen Regimes einzuschreiten. Im Frühling 1923 brachen wichtige Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Volkspartei aus, die bisher Mussolinis Herrschaft fest unterstützt hatte. Bedeutende Unzufriedenheit mit dieser Unterstützung begann sich sowohl in der Volkspartei (welche eine große Bauern./Bäuerinnengefolgschaft aufwies) wie zunehmend innerhalb der städtischen republikanischen Kleinbourgeoisie im Verlaufe von 1923 und 1924 zu regen. Die KPI brauchte Taktiken, zugeschnitten auf diese Unzufriedenheit und so angelegt, dass sie die republikanische Bourgeoisie und Sozialdemokratie daran hindern würden, die Nutznießerinnen der Krise zu sein.

Also kam Gramsci gegen Ende 1923 zur Auffassung, dass es unmöglich sei, irgendwelche Zugeständnisse an Bordiga zu machen. Ein vollständiger Bruch mit ihm und die Schaffung einer neuen Führung des „Zentrums“ war wesentlich, wenn die Partei sich der Massenarbeit widmen und den antifaschistischen Widerstand lenken wollte.

Zusammen genommen trieben diese Überlegungen Gramsci hin zur Komintern. Im September 1923 gab er seinen Widerstand gegen die „politische“ Einheitsfront in Italien auf und drängte die KPI, den Aufruf für eine Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung in Italien anzunehmen. Für all diese Absichten und  Zwecke hatte Gramsci sich mit den Positionen von Lenin und Trotzki versöhnt. Im Januar 1924 schrieb er: „Ich glaube absolut nicht, dass die Taktiken, die vom erweiterten EKKI-Plenum und dem Vierten Kongress entwickelt worden sind, sich irren.“ (32)

Er betonte in diesem Brief an Scoccimarro, eine Auseinandersetzung für die Umorientierung der KPI anfachen zu wollen. Dabei würde er: „ … Doktrin und Taktiken der Komintern als Basis für ein Aktionsprogramm für zukünftige Aktivitäten annehmen.“ (33)

Gramsci artikulierte seinen Positionswechsel in einer Art, die mit den Argumenten Lenins und Trotzkis identisch war. In einem Brief an Togliatti, im Februar 1924 aus Wien geschrieben, äußerte er, dass er Bordiga nicht mehr zur Einheitsfront beipflichten könne:

„Erstens, weil das politische Konzept der russischen Kommunist:innen auf internationalem und nicht einem nationalen Terrain geformt wurde. Zweitens, weil in Mittel- und Westeuropa die Entwicklung des Kapitalismus nicht nur die Bildung breiter proletarischer Schichten geprägt hat, sondern auch – und als eine Konsequenz – die höheren Schichten, die Arbeiter:innenaristokratie, mit ihren Anhängseln in der Gewerkschaftsbürokratie und den sozialdemokratischen Gruppen. Die Entschlossenheit, die in Russland greifbar war und die Massen auf die Straßen zu einem revolutionären Aufstand trieb, wird in Mittel- und Westeuropa von allen diese politischen Überbauten kompliziert, die durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus erzeugt wurden. Dies macht die Handlung der Massen langsamer und umsichtiger und erfordert deshalb von der revolutionären Partei eine Strategie und komplexere und längerfristige Taktiken als diejenigen, die in der Periode zwischen März und November 1917 für die Bolschewisten notwendig waren.“ (34)

Dies war ein echter Schritt vorwärts für Gramsci und ein wichtiger Bruch mit der Methodik und theoretischen Rechtfertigung für seine vorausgegangene Position.

Vorher hatte Gramsci analysiert, dass Italien Teil des „Ostens“ war, in dem die Einheitsfront ungültig sei. Nun jedoch übergibt er Italien nicht einfach nur dem „Westen“, sondern vielmehr und viel wichtiger stellt er fest, dass die Taktik internationale Relevanz hat. Die Möglichkeit, ultralinke Züge im „Osten“ und Opportunismus im „Westen“ zu vermeiden, hat zumindest eine Änderung der Analyse zur Vorbedingung.

Aber die praktischen Folgen dieser Änderung für die KPI 1924 waren weniger klar zu sehen. Im Januar 1924 schlug die KPI den anderen Arbeiter:innenparteien einen Wahlblock für die Wahlen im April 1924 vor. Aber die Bedingungen dieses Paktes wurden so frisiert, um auf Ablehnung zu stoßen. Togliatti – der die Partei in Italien in Gramscis Abwesenheit leitete – schrieb an die Kominternexekutive über den Grundstock für die Propaganda dieses Paktes:

„Der Faschismus hatte eine Periode der permanenten Revolution für das Proletariat eröffnet, und eine proletarische Partei, die diesen Punkt vergisst und hilft, die Illusion unter den Arbeiter:innen zu nähren, es sei möglich, die gegenwärtige Situation zu verändern, während man auf dem Gebiet der liberalen und verfassungsmäßigen Opposition verbleibt, wird in letzter Analyse den Feind:innen der italienischen Arbeiter:innenklasse und der Bauern-/Bäuerinnenschaft Unterstützung geben.“ (35)

Als praktizierende Reformist:innen und Verfassungsanhänger:innen wurden die Mitglieder der PSI aufgefordert, ihre Daseinsberechtigung aufzugeben, um Teil des Blocks zu sein. Das konnte natürlich kaum von ihnen erwartet werden.

Gerade als er mit dem Ultimatismus Bordigas brach, (Ablehnung der Einheitsfront aus Prinzip) traten Ereignisse in der Kominternführung ein, die es verhinderten, dass Gramsci  seinen Weg zu den Positionen von Lenin und Trotzki vollendete. Darin liegt Gramscis Tragik.

Der Aufstieg des Stalinismus

Veränderungen innerhalb der Komintern am Ende von 1923 und ihre Rückwirkungen in der russischen Partei sollten Gramscis positive Entwicklung beschneiden. Es war die Niederlage der deutschen Revolution im Oktober 1923, welche dem Stalinismus Auftrieb verlieh. Trotzki war der Meinung, dass mit dieser Niederlage der Kapitalismus für sich eine Periode verhältnismäßiger wirtschaftlicher und politischer Stabilisierung gesichert hatte. Diese unvorteilhafte Verschiebung im internationalen Gleichgewicht von Klassenkräften forderte von der Komintern und ihren Sektionen die Erkenntnis, dass beträchtliche vorbereitende Arbeit gebraucht wurde, um die Massen wieder zu gewinnen. Er legte deshalb die Betonung fest auf die Einheitsfronttaktik.

Andererseits weigerten sich Sinowjew und Stalin zuzugeben, dass die revolutionäre Bewegung eine schwere Niederlage erlitten hatte. Im Gegenteil bestanden sie darauf, dass die Komintern besonders in Deutschland mit einer nahe bevorstehenden revolutionären Situation konfrontiert war.

Im Juni 1924 verlieh der Fünfte Kominternkongress dieser ultralinken Sicht Rückhalt. Im gleichen Monat nahm Stalin die Feder in die Hand, um Trotzkis Auffassung zu bestreiten, die bürgerliche Stabilisierung zeige sich auch in einer Stärkung der Sozialdemokratie in Europa. Stalin lehnte dieses ab und behauptete, die Sozialdemokratie sei eine Form des Faschismus:

„Es wäre deshalb ein Fehler zu denken, dass ,Pazifismus’ die Auslöschung des Faschismus bedeutet. In der gegenwärtigen Situation ist der ,Pazifismus’ die Kräftigung des Faschismus durch seinen gemäßigten, sozialdemokratischen Flügel, der in den Vordergrund geschoben wird.“ (36)

„Und da Faschismus und Sozialdemokratie einander nicht verneinen, sondern ergänzen, sind sie keine Gegenpole, sie sind Zwillinge“. (37) Eine Einheitsfront mit den Spitzen solcher Parteien kam deshalb nicht in Frage. Sie schlossen die Anwendung der Einheitsfronttaktik außer „von unten“ aus, ohne die Häupter der reformistischen und zentristischen Gewerkschaften und politischen Parteien. Der Fünfte Kongress erklärte:

„Die Taktiken der Einheitsfront von unten sind die wichtigsten, das bedeutet: eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die für Kommunist:innen, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter:innen in Fabrik, Betriebsrat, Gewerkschaft gilt.“ (38)

In Kürze war es wenig mehr als ein an die Arbeiter:innenmitgliedschaft in diesen Organisationen gestelltes Ultimatum, ihre Parteien bedingungslos zu verlassen. Weil diese Arbeiter:innen an ihre Vorstände glaubten, konnte es von ihnen nur als ein Trick betrachtet werden. Dieses Einheitsfrontdiktat konnte in der Tat nur helfen, die Sozialdemokratie zu stärken, statt sie zu schwächen.

Gerade als Gramsci die unbestrittene Führung der KPI erlangt hatte und sich in Richtung der Positionen des Vierten Kominternkongresses bewegte, machte sich die Komintern praktisch auf, Gramscis eigenes Ultralinkstum einzuholen. Während des Herbstes 1924 – Gramsci war zurück in Italien – startete die KPI eine Kampagne für Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenausschüsse und den Bauern-/Bäuerinnenverteidigungsverband, den die KPI organisierte. Er wurde dem sozialistisch gesteuerten Bauern-/Bäuerinnengewerkschaftsverband entgegengesetzt.

Außerdem stellte die KPI während 1924 und 1925 Agitationskomitees Proletarischer Einheit auf, unter ihrer Führung, aber in offenem Konflikt mit den Gewerkschaften des Allgemeinen Arbeiter:innenverbands (CGL). Während Gramsci die Anwendbarkeit der Einheitsfront für Italien befürwortete, wurde sie in der Form des Fünften Kominternkongresses ausgeführt. Zwar bewegte er sich im Prinzip weg von Bordigas Ablehnung der Einheitsfront, steuerte aber zugleich auf einen Standpunkt der Einheitsfront von unten zu.

In der Tat sind die Beschlüsse des Fünften Kongresses zu Taktiken und Perspektiven für ein Verständnis von Gramscis Werdegang von 1924 bis zu den Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern entscheidend. Während Ultralinkstum seit der deutschen Niederlage Einfluss erlangt hatte, wurden die Perspektiven vor dem Kongress abgemildert, nicht zuletzt wenigstens, weil Trotzki gegen sie stritt. In Teil 13 der „Thesen zur Taktik“ mit der Überschrift  „Zwei Perspektiven“ umriss Sinowjew alternative Entwicklungsmöglichkeiten:

„Die Epoche internationaler Revolution hat begonnen. Der Entwicklungsgrad als Ganzes oder teilweise, die Entwicklungsrate revolutionärer Ereignisse auf irgendeinem besonderen Kontinent oder in irgendeinem besonderen Land können nicht mit Genauigkeit vorausgesagt werden. Die ganze Situation ist so, dass zwei Perspektiven offenstehen: (a) eine mögliche langsame und anhaltende Entwicklung der proletarischen Revolution und (b) andererseits, dass der Boden unterm Kapitalismus in so einem Ausmaß vermint ist und sich die Widersprüche im Kapitalismus als ein Ganzes so schnell entwickelt haben, dass die Lösung in einem Land oder einem weiteren vielleicht in nicht so entfernter Zukunft kommt.“ (39)

Dies war eine sehr vage und flexible Perspektive. Auf der einen Seite gab sie dem damals machtvollen Ultralinkstum Raum und doch konnte sie auch dazu herhalten, wenn notwendig, eine rechtsopportunistische Wende zu rechtfertigen. Natürlich kehrte sich Mitte 1925 die Politik um. Auf dem Sechsten Plenum des EKKI Anfang 1926 nutzte Sinowjew den Beschluss des Fünften Kongresses, sie zu verteidigen.

Die rechtszentristische Kehrtwende von 1925 gründete auf einer verspäteten Anerkennung, dass Stabilität in Europa eingetreten war. Angesichts dessen und des stalinistischen Konzepts, der Sozialismus könne in der Sowjetunion aufgebaut werden, falls Eingriffe von außerhalb verhindert werden konnten, fing die Kominternleitung die Suche nach Bündnissen in den europäischen Ländern an, die helfen könnten, solche Übergriffe zu verhindern. In Britannien wurde das Anglo-Russische Komitee 1925 zwischen den russischen und britischen Gewerkschaften mit diesem Hintergedanken etabliert.

Wie wirkte sich dieser Rechtsschwenk auf Gramscis Verständnis der Einheitsfront aus? Auf einer Ebene vermochte Gramsci das Problem von Strategie und Taktiken auf formell korrekte Art zu formulieren. So warf Gramsci das Problem in den „Lyon-Thesen“ für den Dritten KPI-Kongress im Januar 1926 auf folgende Weise auf:

„Die Taktik der Einheitsfront, als politische Aktivität (Manöver) gestaltet, um sogenannte proletarische und revolutionäre Parteien und Gruppen zu demaskieren, die eine Massenbasis haben, hängt eng mit dem Problem zusammen, wie die kommunistische Partei die Massen führen und wie sie eine Mehrheit gewinnen sollte. In der Form, in der sie von den Weltkongressen definiert worden ist, ist sie in allen Fällen anwendbar, in denen wegen der Massenunterstützung für gegnerischen Gruppen eine frontale Auseinandersetzung mit ihnen nicht genügt, uns schnelle und weitreichende Ergebnisse zu liefern … In Italien muss die Einheitsfronttaktik weiterhin von der Partei insoweit gebraucht werden, als sie noch weit weg davon ist, einen entscheidenden Einfluss auf die Mehrheit der Lohnarbeiter:innenschaft und die werktätige Bevölkerung gewonnen zu haben.“ (40)

In einer Beziehung ist diese Stellungnahme korrekt und eine Wiederholung der Erklärung von Anfang 1924. Aber zusammen mit anderen Schriften Gramscis 1926 betrachtet kann man den Einfluss des rechtszentristischen Kurses in der Komintern entdecken, den wir verstärkt in den Gefängnisnotizbüchern vorfinden. In einem Bericht an die Parteiexekutive vom August 1926 zur italienischen Situation zeichnete Gramsci einmal wieder einen Unterschied zwischen „fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern“ (England und Deutschland) und „peripheren Staaten“ wie Italien. In der ersten Gruppe „besitzt die herrschende Klasse politische und organisatorische Reserven“. Das bedeutet, dass ¡sogar die schlimmsten Wirtschaftskrisen keine unmittelbaren Rückwirkungen auf die politische Sphäre haben“, weil der „Staatsapparat weit immuner ist, als oft geglaubt werden kann.“ (41)

In Ländern wie Italien „sind die Staatsmächte weniger tüchtig“. Aber Gramsci sagt nicht weiter, wie in der Auseinandersetzung mit Bordiga in den frühen 1920er Jahren, dass die Einheitsfront nur im ersten Fall anwendbar ist, aber nicht im zweiten. Im Gegenteil behält er bei, dass die Taktik in beiden Fällen einsetzbar ist.

Der Zweck, diese Unterscheidung zu machen, ist ein anderer. In den „peripheren Staaten“ gibt es zwischen Proletariat und Bourgeoisie viele dazwischenliegende Klassen. Diese Klassen im Europa Mitte der 1920er Jahre werden in so einem Ausmaß radikalisiert, dass die verschiedenen Aufgaben von Partei und Klasse jene „zwischen der politischen und technischen Vorbereitung der Revolution sind“. In Italien zu dieser Zeit bedeutete das eine Einheitsfront unter kommunistischer Führung, die auf einer Perspektive vom nahe bevorstehenden Abgang Mussolinis aufgebaut war. In den fortgeschrittenen Ländern aber ‚besteht das Problem noch in „politischer Vorbereitung“.

Die Darlegung dieser Unterscheidung ist keine müßige Sache für Gramsci, denn in jedem Fall will er ein „wesentliches Problem“ anpacken, nämlich:

„ … das Problem vom Übergang von der Einheitsfronttaktik, verstanden in einem allgemeinen Sinn, zu einer bestimmten Taktik, die die konkreten Probleme nationalen Lebens angeht und auf der Basis der Volkskräfte operiert, wie sie geschichtlich geformt sind.“ (42)

Im Fall von England argumentiert Gramsci, die Gewerkschaften seien die konkrete Form, in der die „Volkskräfte“ agierten. An diesem Punkt bemerken wir die rechtszentristische Auslegung, die Gramsci der Einheitsfront verlieh, wo lange politische Vorbereitung notwendig ist. Trotz der Erfahrung mit dem Verrat des Generalstreiks von 1926, einschließlich durch die Linken im TUC, glaubte Gramsci, dass:

„der Anglo-Russische Ausschuss beibehalten werden sollte, weil es das beste Terrain ist, um nicht nur die englische Gewerkschaftswelt zu revolutionieren, sondern auch die Amsterdamer Gewerkschaften. Bei nur einem Ereignis sollte dort ein Bruch zwischen den Kommunist:innen und der englischen Linken stattfinden: wenn England am Vorabend der proletarischen Revolution steht und unsere Partei stark genug isti, den Aufstand allein zu führen.“ (43)

Dies stand in scharfem Kontrast zur revolutionären Einschätzung von der Rolle des Anglo-Russischen Gewerkschaftskomitees, wie von Trotzki nach dem Generalstreik ausgedrückt:

„ … die Politbüromehrheit hat eine grundlegend falsche Politik in der Frage des Anglo-Russischen Ausschusses verfolgt. Der Punkt, an dem die arbeitenden Massen Britanniens die größte gegnerische Macht zum Generalrat (des britischen Gewerkschaftsbundes TUC; Red.) ausübten, war, als der Generalstreik gebrochen wurde. Was notwendig war, war, Schritt mit den aktivsten Kräften des britischen Proletariates zu halten und in diesem Moment mit dem Generalrat als Verräter des Generalstreiks zu brechen … ohne dieses droht der Kampf für die Massen immer, sich in einen opportunistischen Kotau vor der Spontaneität zu verwandeln … Die Linie der Politbüromehrheit in der Frage des Anglo-Russischen Komitees war eindeutig ein Verstoß in Hinsicht auf den revolutionären Gehalt der Einheitsfrontpolitik.“ (44)

Auf Gramscis Seite ist all dies eine Abkehr weg von der internationalen Anwendung der Einheitsfront, für die er zu Beginn 1924 eintrat, und zurück zu einem unterschiedlichen Gebrauch, der schließlich auf der falschen Trennung zwischen „Ost“ und „West“ beruht. So wie er sich mit England auseinandersetzt, fällt er zur gleichen Zeit auf eine rechte, opportunistische Variante dieser Taktik zurück. Gramsci nutzte gewissermaßen die Positionen des Fünften Kongresses für seine eigenen doppelten Perspektiven für „Ost“ und „West“ aus. Seine Haltung zum Anglo-Russischen Ausschuss ist ein konkreter Ausdruck von Sinowjews Perspektive der „langsamen und anhaltenden Entwicklung der proletarischen Revolution“.

Dennoch gab es einen beträchtlichen Abstand zwischen Gramscis strategischen und taktischen Rezepten und denjenigen, die in der Komintern unter Stalin im Einsatz waren. Es war genau 1926, als Stalin darauf bestand, dass in China die kommunistische Partei sich in die Kuomintang auflöst, und unter der Losung der „demokratische(n) Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ die leninistische Position zur anführenden und lenkenden Rolle des Proletariats verließ.

Gramsci erkannte auf dem Lyoner Kongress im Januar 1926, dass:

„das Proletariat sich abmühen muss, die Bauern/Bäuerinnen dem Einfluss der Bourgeoisie zu entreißen und sie unter seine eigene politische Leitung stellen muss.“ (45)

Angesichts dessen, dass sich die schwache italienische Bourgeoisie für ihre Macht auf die Bauern./Bäuerinnenschaft stützte, bestand Gramsci für die KPI darauf, diese Frage sei „der zentrale Punkt der politischen Probleme, die die Partei in unmittelbarer Zukunft lösen muss“. (46)

Er erkannte, dass die Losung der „Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung“ ein Weg sei, um das Bauern-/Bäuerinnentum hinter die Lohnarbeiter:innenschaft zu ziehen, „das Mittel, sie auf den Boden der fortgeschrittenen proletarischen Vorhut zu transportieren (Kampf für die Diktatur des Proletariates).“ (47)

Anders als Stalin fand er nicht, das Regierungsbündnis zwischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen sei eine unterscheidbare Etappe, getrennt zum und vorausgehend dem Kampf für Sozialismus, sondern Gramsci argumentierte:

„ … die Partei kann  sich nicht eine Verwirklichung dieses Schlachtziels außer als Anfang eines direkten revolutionären Kampfes vorstellen: eines Bürgerkriegs, der vom Proletariat im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft mit dem Ziel geführt wird, die Macht zu erheischen. Die Partei könnte in ernste Abweichungen von ihrer Aufgabe als Kopf der Revolution geführt werden, wenn sie die Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung so interpretieren sollte, als entspreche sie einer wirklichen Phase in der Entwicklung des Ringens um die Macht: mit anderen Worten, wenn sie es so einschätzt, dass mit dieser Parole die Möglichkeit gegeben sei, das Problem des Staates im Interesse der Lohnabhängigen auf irgendeine andere Weise zu lösen als durch die Diktatur des Proletariats“. (48)

Gramscis Formulierungen zeigen bis zu seiner Inhaftierung einen Schwenk in Richtung Ultralinkstum.

Gefangene Gedanken

Gramcis Nachdenken über Probleme von Strategie und Taktik in den Gefängnisnotizbüchern setzt seinen Bruch mit ultralinken Einstellungen fort. Aber an seiner Stelle entwickelte er die Vorstellung weiter, die dem rechtszentristischen Kurswechsel von 1925 – 27 ihren Ursprung verdankt. Der letztendliche Triumph des Faschismus 1926 bewog Gramsci, seine Anschauungen über die Stabilität und Stärke von bürgerlichem Regime im Westen einschließlich Italiens neu zu bewerten. In den Gefängnisnotizbüchern stellt er fest:

„Es scheint mir, dass Iljitsch [Lenin] die Notwendigkeit eines Wandels vom Manöverkrieg, der siegreich im Osten 1917 angewandt wurde, zu einem Stellungskrieg verstand, der die einzig mögliche Form im Westen war – wenn, wie Krasnow bemerkt, Armeen endlose Mengen von Nachschub schnell ansammeln und wo die gesellschaftlichen Strukturen noch von sich aus zu schwer bewaffneten Befestigungen werden konnten. Dies scheint mir die Bedeutung der Formel von der ,Einheitsfront’ zu sein, und sie entspricht dem Konzept einer einheitlichen Front für die Entente unter dem alleinigen Befehl von Foch (französischer Oberbefehlshaber).“ (49)

Hier hat Gramsci die Idee der Einheitsfront als Kriegsmanöver von 1928 aufgegeben und verwandelte sie in einen Stellungskrieg im Westen; d. h., er hat die Einheitsfront in eine langfristige Strategie verwandelt, durch welche Partei und Klasse erfolgreich Stützpunkte in der Gesellschaft erobern und dadurch allmählich den Staat umzingeln und belagern können. Dies ist die Antithese zur revolutionären Nutzung der Einheitsfront, wie in der Komintern unter der Führung von Lenin und Trotzki ausgearbeitet und praktiziert.

Zu ein und der gleichen Zeit skizziert Gramsci in den Gefängnisnotizen eine vereinfachte, einseitige Sicht der russischen Revolution mit seinem absurden Hinweis, die Einheitsfront habe im bolschewistischen taktischen Arsenal gefehlt und Lenin hätte einen ununterbrochenen „revolutionären Angriff“ gegen einen unbefestigten zaristischen Staat geführt. Doch andererseits hält er eine zu opportunistische strategische Sichtweise im Westen aufrecht, die eine nahtlose Einheitsfront aus Kommunist:innen und Reformist:innen (und sogar liberalen/bürgerlich-demokratischen Kräften) regelrecht bis zur Machtergreifung in Aktion sieht. Gramsci scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sich Zwecke und Mittel in dieser Betrachtung widersprechen. Die Machteroberung hängt vom zunehmenden Einfluss der kommunistischen Partei ab, und der kann im Gegenzug nur auf Kosten von und im Kampf gegen Reformist:innen und Zentrist:innen erzielt werden. Dies kann nur geschehen, wenn gemeinsame Fronten für bestimmte begrenzte Handlungen mit rücksichtsloser Kritik an den Beschränktheiten der Bündnispartner:innen im Kampf kombiniert werden und deren Halbherzigkeit und Schwankungen zusammen mit den Beschränkungen ihrer eigenen Rezepte enthüllen.

Lief all dies bereits auf Reformismus hinaus, worauf die Eurostalinist:innen beharren? Nicht ein bisschen! Gramsci hat vielleicht eine Taktik in eine Strategie verwandelt, aber dies ist nicht das Gleiche wie das Verdrehen von Revolution in Reform. Zum Teil war Gramscis rechtszentristische Vorstellung in den Gefängnisnotizbüchern eine undialektische Antwort auf die Konfrontationsstellung, die er zur ultralinken Wende Stalins 1928/29 beibehielt, als er anfing, seine Notizbücher zu schreiben. Es ist eher eine bucharinistische rechte Kritik an der Dritten Periode, die wir in Gramscis Notizbüchern finden. Dies betont die Distanz zwischen ihm und Trotzki, aber es dient auch dazu, die Kluft zu verdeutlichen, die Gramsci von Stalin scheidet.

Diese Lücke wird offensichtlicher durch die Berichte von Diskussionen mit einem Mithäftling, Athos Lisa, von 1930. Beauftragt und dann unterschlagen von Togliatti, unterstreichen sie, dass Gramsci sich der Dritten Periode widersetzte, dem Rauswurf von Oppositionellen aus der KPI nicht zustimmen konnte, und dass er seinen Glauben an die Notwendigkeit eines Aufstands behielt:

„Die gewaltsame Machteroberung erfordert die Schaffung einer Organisation militärischen Typus‘ durch die Partei der Arbeiter:innenklasse, die in jeden Zweig der bürgerlichen Staatsmaschinerie durchdringend eingeimpft wird und fähig ist, ihr im entscheidenden Kampfmoment Wunden und ernste Schläge zuzufügen.“ (50)

Gramsci sollte 1935, im Jahr des definitiven Übergangs der stalinistischen Komintern von bürokratischem Zentrismus zu Gegenrevolution und Reformismus, zum Schreiben nicht mehr gesund genug sein. Die Unterschrift unter den Stalin-Laval-Pakt in diesem Jahr gab grünes Licht für die französischen Stalinist:innen, sich dem Patriotismus mit voller Unterstützung des Kreml an den Hals zu werfen. Es gibt nichts in Gramscis Leben oder Arbeit, das heutigen Eurostalinist:innen erlauben würde, Gramsci in den Schutzheiligen der Volksfront zu verwandeln.

Ganz im Gegenteil. In ein paar bemerkenswerten Abschnitten von 1926 polemisiert Gramsci ausdrücklich gegen eine Volksfront, die den Faschismus besiegen soll, auf eine Weise, die die entschuldigenden Argumente Togliattis, die er fast zehn Jahren später für die stalinistische Politik im spanischen Bürgerkrieg gebraucht hat, vorwegnimmt. Er bestreitet die Einlassungen der Bourgeoisie, die: „ … ein Interesse daran hegt, zu behaupten, Faschismus sei ein vordemokratisches Regime: dieser Faschismus wird auf eine beginnende und noch rückständige Phase des Kapitalismus verwiesen.“ (51)

Dies führt zur Ansicht:

„Wenn nicht ein wirklicher bürgerlich-proletarischer Block für die verfassungsmäßige Beseitigung des Faschismus, wäre das beste taktische Ziel wenigstens eine Passivität der revolutionären Vorhut, eine Nichteinmischung der kommunistischen Partei in den unmittelbaren politischen Kampf, was der Bourgeoisie so gestattet, das Proletariat als Wahltruppe gegen den Faschismus zu benutzen.“ (52)

Wohingegen:

„Für uns Kommunist:innen ist das faschistische Regime Ausdruck der entwickeltsten Etappe kapitalistischer Gesellschaft. Es dient genau dazu zu demonstrieren, wie alle Eroberungen und alle Institutionen, die die werktätigen Klassen erfolgreich realisieren … zur Vernichtung verdammt sind, wenn in einem gegebenen Moment die Arbeiter:innenklasse nicht die staatliche Macht mit revolutionären Mitteln an sich reißt.“ (53)

„Permanente Revolution“ oder „Sozialismus in einem Land“?

Es gibt noch einen Weg, Gramscis Werdegang zu beurteilen: Was war seine Einstellung zur theoretischen Untermauerung des Zentrismus in der Komintern – „Sozialismus in einem Land“ – und zu seiner revolutionären Kritik – „permanente Revolution“?

Seine Kapitel in den Gefängnisnotizen zu diesen Fragen geben den Argumenten keine Nahrung, die wie Perry Anderson eine Ähnlichkeit zwischen den Positionen Gramscis und Trotzkis in ihren jeweiligen Kritiken am Ultralinkskurs Stalins nach 1928 sehen.

Die Wahrheit ist, dass Gramsci von Mitte 1924 an ein heftiger Kritiker von Trotzkis Theorie ist. Der letzte wohlwollende Hinweis auf Trotzki kommt bei Gramsci im Februar 1924 vor. Er verfolgt die Angriffe der Opposition auf die Bürokratie in der UdSSR mit Sympathie und sagt weiter:

„Es ist gut bekannt, dass Trotzki schon 1905 dachte, eine sozialistische und Arbeiter:innenrevolution könne in Russland stattfinden, während die Bolschewiki nur anstrebten, eine politische Diktatur des Proletariats im Bündnis mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft zu schaffen, die als ein Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus dienen würde, der nicht in seinen ökonomischen Fundamenten berührt werden würde. Es ist wohlbekannt, dass Lenin im November 1917 … und die Mehrheit der Partei sich Trotzkis Sicht angeschlossen hatten und beabsichtigten, nicht bloß die politische Macht zu übernehmen, sondern auch die wirtschaftliche.“ (54)

Doch innerhalb von sechs Monaten, um die Zeit des Fünften Weltkongresses, hatte Gramsci diesen Standpunkt verlassen und war zur Fraktion der Stalin/Sinowjew/Kamenew-Troika übergelaufen. Der unmittelbare Antrieb dazu ist Gramscis Einstellung zu fraktioneller Aktivität:

„Trotzkis Vorstellungen … stellen eine Gefahr dar, wenn die Einheit der Partei in einem Land fehlt, in dem es nur eine Partei gibt, dies Risse im Staat erzeugt. Dies produziert eine konterrevolutionäre Bewegung; es bedeutet aber nicht, dass Trotzki ein Gegenrevolutionär ist, denn in diesem Fall würden wir für seinen Ausschluss plädieren.

Schließlich sollten aus der Trotzkifrage Lehren für unsere Partei gezogen werden. Vor den letzten disziplinarischen Maßnahmen war Trotzki in der gleichen Position wie Bordiga gegenwärtig in unserer Partei.“ (55)

Dieser tragische Fehler, nämlich eine rechtsopportunistische Gleichsetzung des Marxismus mit Ultralinkstum, wird wiederholt und oft in den Gefängnisnotizbüchern verstärkt. In der Hitze seines eigenen Bruches 1924 mit Bordiga war er nur zu willig, die Mehrheit in der KPdSU in der Bolschewisierungskampagne zu unterstützen, die auf dem Fünften Kongress lanciert wurde. Dies war in der Tat der erste Schritt zur Erdrosselung des innerparteilichen Lebens in den kommunistischen Parteien und führte Gramsci zum Widerstand gegen alle Fraktionstätigkeit.

Während Gramsci bis Oktober 1926 noch bereit war, sich für disziplinarische Nachsicht in Hinsicht auf die Vereinte Opposition einzusetzen, so argumentierte er in den frühen 1930er Jahren wie folgt:

„Die Tendenz, die von Leo Dawidowitsch [Trotzki] vertreten wird, war eng mit dieser Reihe von Problemen verbunden … ein übermäßig resoluter (und deshalb unvernünftiger) Wille, Industrie und industriellen Methoden eine Vormachtstellung im nationalem Leben zu geben, durch Zwang von außerhalb die Steigerung von Produktionsdisziplin und -ordnung zu beschleunigen und Gewohnheiten an die Arbeitserfordernisse anzupassen. Angesichts der allgemeinen Form, in der alle mit dieser Tendenz zusammenhängenden Probleme wahrgenommen wurden, endete das schicksalhaft notwendig in Bonapartismus. Daher rührt die erbarmungslose Notwendigkeit, sie zu zermalmen.“ (56)

Bei dieser Haltung und Einschätzung war es nicht überraschend, dass Gramsci seine Einstellung von 1924 zu Trotzkis Theorie der permanenten Revolution überprüfen würde:

„Bronstein [Trotzki] erinnert in seinen Memoiren daran, und wir bekommen das noch einmal erzählt, dass seine Theorie sich als wahr erwiesen habe … fünfzehn Jahre später … In Wirklichkeit war seine Theorie als solche weder fünfzehn Jahre früher gut noch fünfzehn Jahre später. Wie es bei Sturköpfen vorkommt … riet er mehr oder weniger korrekt. Er hatte in seiner allgemeineren Prophezeiung recht. Es ist, als ob man prophezeien sollte, dass ein kleines vier Jahre altes Mädchen Mutter würde, und als sie um zwanzig es tatsächlich wurde und man dann sagte: ,Ich erriet, dass sie Mutter werden würde’. Dabei übersieht man aber die Tatsache, dass man das Mädchen mit vier Jahren zu vergewaltigen versucht hatte, im Glauben, dass sie sogar damals Mutter würde.“ (57)

Diese Ablehnung dessen, was er als Trotzkis Theorie versteht, steckt im Kern seiner gesamten strategischen und taktischen Vorstellungen in den Gefängnisnotizbüchern wie z. B.:

 „ … das politische Konzept der sogenannten permanente(n) Revolution, welches vor 1848 entstand als wissenschaftlich entwickelter Ausdruck des jakobinischen Experiments von 1789 bis zum Thermidor. Die Formel gehört zu einer historischen Periode, in der die große Masse der politischen Parteien und die großen wirtschaftlichen Gewerkschaften noch nicht existierten und die Gesellschaft unter vielen Gesichtspunkten sich noch sozusagen in einem Flüssigzustand befand: größere Rückständigkeit des Dorfes und fast vollständiges Monopol politischer und staatlicher Macht bei wenigen Städten oder sogar nur einer einzelnen (Paris im Fall von Frankreich); ein relativ rudimentärer staatlicher Apparat und größere Unabhängigkeit ziviler Gesellschaft von staatlicher Aktivität; ein bestimmtes System militärischer Macht und von nationalen bewaffneten Diensten; größere Autonomie der Nationalökonomien von den wirtschaftlichen Verbindungen des Weltmarktes usw. In der Periode nach 1870, mit der kolonialen Ausdehnung Europas, verändern sich alle diese Elemente, die inneren und internationalen organisatorischen Verbindungen des Staates werden komplexer und dichter, und die 1848er Formel von der ,permanenten Revolution’ wird erweitert und in der Politologie in die Formel von ,ziviler Hegemonie’ überführt. Die gleiche Sache passiert in der Politikkunst wie in militärischer Raffinesse: Bewegungskrieg wird zunehmend Stellungskrieg, und es kann gesagt werden, dass ein Staat einen Krieg gewinnen wird, sofern er sich ganz akkurat und technisch darauf in Friedenszeiten vorbereitet.“ (58)

Deshalb wird Trotzki bezichtigt, hinsichtlich der Strategie für den fortschrittlichen Westen hinter der Zeit zurückgeblieben zu sein. Er klagt Trotzki an, „der politische Theoretiker des Frontalangriffes in einer Periode zu sein, wenn er nur zu Niederlagen führt.“ ( 59)

Solch eine Vorstellung bildet die Basis der Kritik am Trotzkismus seitens des Eurostalinismus. Zunächst einmal muss dagegen eingewendet werden, dass Gramscis Darlegung, die die „permanente Revolution“ mit frontalem Angriff oder Bewegungskrieg gleichsetzt, nichts mit Trotzkis Theorie zu schaffen hat. Trotzki nahm zu seinem Ausgangspunkt den kombinierten, ununterbrochenen Charakter von bürgerlichen und proletarischen Revolutionen in bestimmten Situationen. Deshalb konnte Trotzki nicht diesen Aspekt seiner Theorie auf den „Westen“ anwenden, wo die Bürgerrevolution in allen wichtigen Grundfesten vollständig war, und machte es auch nicht.

Wenn auf jemanden zutrifft, was Gramsci Trotzki vorwirft, dann ist es Bucharin auf dem Dritten und Vierten Kongress der Komintern: „der an seinem Standpunkt von der Dauerhaftigkeit sowohl der Wirtschaftskrise als auch der Revolution als Ganzes scholastisch festhielt.“ (60)

Gramsci stimmte Bucharin zu der Zeit zu. Es könnte auch eine Konzeption sein, die  Sinowjew und Stalin auf dem Fünften Kongress zuzuordnen war, von der wieder Gramsci nicht abwich.

Die schmerzhafte Wahrheit ist, dass Gramsci zwischen 1922 und 1924 auf einem Standpunkt beharrte, der sich nicht von dem unterschied, den er hier kritisiert. Er argumentierte, dass der Kollaps des faschistischen Regimes nahe bevorstehe, zugleich aber keinem Übergangsregime bürgerlicher Demokratie Platz machen könne. Im Januar 1924 behauptete er:

„ … in Wirklichkeit hat der Faschismus ein sehr rohes, scharfes Dilemma in Italien erzeugt: das der permanenten Revolution und der Unmöglichkeit, nicht nur die Staatsform, sondern sogar die Regierung anders als durch bewaffnete Gewalt zu verändern.“ (61)

Nachdem seine ultralinken Illusionen durch seinen Bruch mit Bordiga geschwächt waren und mit dem endgültigen Triumph Mussolinis 1926 ein für allemal zerbrachen, änderte Gramsci seinen Strategieentwurf nach rechts; aber während er Trotzkis Theorie angriff, focht er in Wirklichkeit seine eigene ultralinke Vergangenheit an.

Gramscis Identifikation seiner eigenen vorherigen Haltung mit der Trotzkis kann nur mit damit erklärt werden, dass er die stalinistischen Lügen über  den „Trotzkismus“, die nach 1923 in der Komintern Einzug hielten, ganz bejahend aufnahm. Wenn Trotzki tatsächlich, wie die Stalinist:innen behaupteten, befürwortet hätte, das bürgerliche Stadium der Russischen Revolution zu überspringen, wenn Trotzki tatsächlich „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ unterschätzt hätte, worauf seine Gegner:innen immer wieder herumritten, und der russischen Revolution so einen rein „sozialistischen“ (Arbeiter:innen-)Klassencharakter verliehen hätte, dann hätten Gramscis Sticheleien vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt gehabt. Aber diese Unterstellungen waren haltlos. Wenn überhaupt, war es Gramsci, der „die Bauern-/Bäuerinnenschaft“ in seiner ultralinken Periode unterschätzte.

Ein nationaler Weg

Noch blieb Gramsci in der anderen Frage, die zwischen Trotzki und Stalin auf dem Spiel stand, schweigsam während seines Gefängnisaufenthaltes. Er schrieb mehrere Passagen zu den methodologischen anstehenden Fragen im Streit über „Sozialismus in einem Land“, der gründlich mit dem Problem der ununterbrochenen Revolution zusammenhängt. Er überlegte wie folgt:

„Gehen internationale Verbindungen voraus oder folgen sie (logisch) grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen? Es kann keinen Zweifel geben, dass sie folgen. Irgendeine endogene Neuerung in der Gesellschaftsstruktur modifiziert organisch absolute und relative Verhältnisse auch auf internationaler Ebene durch ihre technisch-militärische Auswirkung. Sogar die geographische Position eines Nationalstaates geht nicht voraus, sondern folgt (logisch) strukturellen Änderungen, obwohl sie auch in gewissem Maße auf die Verhältnisse zurückwirkt (in genau dem Maß, zu dem Überbauten auf die Struktur reagieren, Politik auf Wirtschaft usw.).“ (62)

Gramsci stellt alles auf den Kopf. Mit „wesentlichen Gesellschaftsverhältnissen’“meint er kapitalistische Produktionsverhältnisse. Er stellt diese „internationalen Verhältnissen“ gegenüber und tritt somit stillschweigend dafür ein, dass Kapitalismus national definiert ist. Nach dieser Definition ist es dann möglich, argumentiert Gramsci, die Verhältnisse zwischen den nationalen und den internationalen Belangen zu untersuchen. Mittels Analogie sind die internationalen Verhältnisse die „Überbauten“ und ist das Nationale der „Unterbau“. Dies ist der Ausgangspunkt für Stalins „Sozialismus in einem Land“.

Der Marxismus denkt in entgegengesetzter Weise. Er geht von der Tatsache aus, dass Kapitalismus ein Weltganzes ist und seine Verhältnisse den Globus umspannen. Nationalökononomien können in diesem Licht untersucht und bestimmt werden.

Für Gramsci spielte der Beginn mit der „nationalen“ Ebene die gleiche Rolle wie der Ausgangspunkt vom „ungleichen“ Charakter der Weltwirtschaft statt des „ungleichen und kombinierten“ wie Trotzki. Gramsci glaubte wie Stalin, dies sei der einzige Weg einzuschätzen, was „einmalig“ und „besonders“ in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit war:

„In Wirklichkeit sind die inneren Verhältnisse irgendeiner Nation das Ergebnis einer Kombination, die ,ursprünglich’ und (in einem bestimmten Sinn) einmalig sind: diese Verhältnisse müssen in ihrer Originalität und Einmaligkeit verstanden und gedacht werden, wenn man wünscht, sie zu dominieren und lenken. Sicher, die Entwicklungslinie richtet sich zum Internationalismus hin, aber der Ausgangspunkt ist ,national’ – und von diesem Startpunkt muss man anfangen. Doch ist die Perspektive international und kann nicht anders sein. …  Die führende Klasse ist in der Tat nur eine solche, wenn sie diese Kombination – von der sie selbst ein Bestandteil ist – minutiös interpretiert und genau als solche fähig ist, dem Moment eine bestimmte Richtung innerhalb bestimmter Perspektiven zu verleihen. Es ist meiner Meinung nach dieser Punkt,  um den die wesentliche Uneinigkeit zwischen Leo Dawidowitsch [Trotzki] und Wissarionowitsch [Stalin] als Interpreten der Mehrheitsbewegung [Bolschewismus] sich wirklich dreht. Die Vorwürfe von Nationalismus sind unangebracht, wenn sie sich auf den Kern der Frage beziehen. Wenn man den Kampf der Mehrheitler:innen von 1902 bis 1917 studiert, kann man sehen, dass seine Originalität in der Säuberung des Internationalismus von jedem vagen und rein ideologischen (im herabsetzenden Sinn) Element bestand, um ihm einen realistischen politischen Inhalt zu geben. In diesem Hegemoniekonzept sind jene dringlichen Erfordernisse, die von nationalem Charakter sind, zusammen verknotet.“ (63)

So war für Gramsci Lenins „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauern-/Bäuerinnenschaft“ herrschaftsfähig und national, während die Theorie der „permanenten Revolution“ unfähig war, die konkrete Wirklichkeit der russischen Gesellschaft zu begreifen bzw. damit umzugehen.

Natürlich hat Trotzki genau das getan, was Gramsci ihm als nicht erfüllt vorhält. Trotzkis Analyse Russlands war auf einer ausführlichen Untersuchung seiner Geschichte und besonderen Gesellschaftsverhältnisse gegründet. In seiner Arbeit „Ergebnisse und Perspektiven“ von 1906 vergleicht Trotzki und stellt einander gegenüber das Russland von 1905 mit Frankreich von 1870 und Deutschland von 1848 auf der Basis der Nachzeichnung der Entwicklung internationaler Ereignisse. Damit war er fähig, in einer bemerkenswerten Art die bestimmten Merkmale zu umreißen, die im zaristischem Russland gegenwärtig waren und es dazu bestimmten, eine sozialistische Revolution vor den „fortgeschrittenen“ und „reifen“ Ländern zu erleben und doch nicht in der Lage zu sein, sie ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten.

Weil die nationale Eigenheit  eine bestimmte Kombination der internationalen Trends ist, ist es genau unmöglich, die nationalen Besonderheiten wirklich zu begreifen, ohne zuerst die internationalen Zusammenhänge zu verstehen.

Die Verbindung zwischen Gramscis Sicht der Beziehung zwischen nationalen und internationalen Verhältnissen und den strategischen und taktischen Aufgaben der arbeitenden Klasse wird vollständig enthüllt. Nur das Nationale ist bestimmt und hegemoniefähig; was Länder trennt, ist wichtiger als das, was sie verbindet. Obwohl Italien und England in einer Periode sehr verschiedene Arten von Nation und dann später im gleichen Lager sein können, ist es daher Tatsache, dass verschiedene Einheitsfronttypen anwendbar sind, je nach dem, mit welchem Typ Land wir es zu tun haben; Einheitsfront von unten und Kriegszüge in „rück- oder randständigen“ Staaten, eine strategische Einheitsfront und ein Stellungskrieg in den vorangeschrittenen kapitalistischen Ländern. Kurz nur, Anfang 1924, nachdem er sich entschieden hatte, politisch mit Bordiga zu brechen, warf Gramsci das Problem korrekt auf. Aber diese Einsichten wurden nicht durchgehalten, und Gramsci ergab sich einer Rechtsentwicklung.

Schlussfolgerungen

Der Staatsanwalt bei Gramscis Gerichtsverfahren forderte, dass jedes Urteil „dieses Gehirn für zwanzig Jahre zu arbeiten abhält“. Sie scheiterten. Aber es hat jetzt fünfzig Jahre lang aufgehört zu arbeiten. Viele sind begierig, ihn als ihr Eigentum zu beanspruchen. Diese legendenbildnerische Einstellung zum größten italienischer Revolutionär hätte Gramsci entsetzt. Wir gehen an Gramscis politisches Leben kritisch heran. Beim Bruch mit  Bordigas Ultralinkstum 1923 – 24 setzte Gramsci sich das bewusste Projekt, die junge und unterdrückte KPI zwischen dem ultralinken Kurs Bordigas und dem Opportunismus Tascas hindurchzusteuern. Dabei war sein Ziel, zu den Positionen der revolutionären Komintern Lenins zurückzukehren.

Beim Versuch, dieses Ziel zu erreichen, war Gramsci für einen beträchtlichen Beitrag an scharfsichtiger Arbeit über die Fehler des Bordigismus, über Geschichte, Klassenstruktur und strategische Probleme der italienischen Gesellschaft verantwortlich. Jede/r revolutionäre Kämpfer:in heute wird viel in seiner Arbeit finden, was wertvoll und inspirierend ist.

Aber Gramsci versagte dabei, den Bolschewismus in Italien aufzubauen, genau deshalb, weil die bürokratisch-zentristische „Bolschewisierung“ Stalins und Sinowjews seinen Werdegang durchschnitt. In der Periode bis zu seiner Verhaftung bedeutete dies, dass die KPI unter Gramscis Leitung eine mildere Form von ultralinker Politik in Italien und eine Neigung zum zunehmenden Rechtsopportunismus im „Westen“ nicht ausmerzen konnte. Im Gefängnis führten seine weiteren,  auf einer einseitigen Ablehnung seines eigenen Ultralinkstums basierenden und vom Mythos der Stalinist:innen über Trotzki genährten Reflexionen Gramsci weiter ins Camp des rechten Zentrismus‘. Gramsci dehnte nicht so sehr die Grenzen des Marxismus aus, sondern engte eher dessen Horizont ein. Seine Einblicke waren oft nicht eigenständig, sobald sie die Grenzen von italienischer Geschichte und Gesellschaft überschritten und oft übermäßig abstrakt und sogar zweideutig. In der historischen Periode, die mit der Degeneration der UdSSR beginnt, ist es der Trotzkismus, nicht der Gramscianismus, der auf den Schultern des Leninismus steht und den Marxismus um einen Kopf größer macht.

Trotzdem können wir während dieses fünfzigsten Jahres seit Gramscis grausamem und schmerzhaftem Tod Anregungen in seinem Leben und Kampf finden. Wir können nur hoffen, ihn vor dem Zugriff seiner „Freund:innen“ zu bewahren.

Endnoten

1 Marxism Today, April 1987

2 O. Blasco [Tresso], „Ein großartiger Kämpfer ist gestorben … Gramsci, La Lutte Ouvrière Nr. 44, 14. Mai 1937

3 L. Maitan, „The Legacy of Antonio Gramsci“ [Das Vermächtnis Antonio Gramscis], in: International Marxist Review, Sommer 1987

 4 Socialist Worker Review, April 1987

 5 Maitan, a. a. O., S. 35

 6 C. Harman, Gramsci versus Reformism, S. 28

 7 Zitiert in: A. Davidson, „Gramsci and Lenin, 1919-22“, Socialist Register 1974, S. 131

 8 A. Gramsci, Selections from the Political Writings [Ausgewählte politische Schriften], Vol. 1 (SPW1), S. 34 (London 1977)

 9 Ebda.

 10 a. a. O., S. 68

 11 Ebda.

 12 Harman, a. a. O., S. 16

 13 L. D. Trotzki, Speech to the General Party Membership in Moscow [Rede an die allgemeine Parteimitgliederversammlung in Moskau]

 14 Lenin, Collected Works, Vol. 32, S. 465 (Moscow) [Gesammelte Werke (Moskau)]

 15 A. Gramsci, Selections from the Political Writings, Vol. 2 (SPW2) S. 189 (London 1978)

 16 Theses, Resolutions and Manifestoes of the First Four Congresses of The Communist International, S. 391 – 396 (London 1980) [Thesen, Resolutionen und Manifeste der ersten 4 Kongresse der Kommunistischen Internationale]

 17 L. D. Trotzki,The Third International After Lenin, S. 90 (New York 1970) [Die 3. Internationale nach Lenin]

 18 SPW2, S. 96

 19 a. a. O., S. 97

 20 a. a. O., S. 107 – 108

 21 a. a. O., S. 108

 22 a. a. O., S. 99

 23 a. a. O., S. 392

 24 a. a. O., S. 105

 25 a. a. O., S. 148

 26 a. a. O., S. 146

 27 a. a. O., S. 153

 28 a. a. O., S. 155

 29 a. a. O., S. 196

 30 a. a. O., S. 121 – 124

 31 a. a. O., S. 359

 32 a. a. O., S. 174 –175

 33 Ebda.

 34 a. a. O., S. 199 – 200

 35 a. a. O., S. 489

 36 J. W. Stalin, Concerning the International Situation, Collected Works, Vol. 6, S. 295 [Über die internationale Lage, Gesammelte Werke]

 37 Ebda.

 38 „Theses on tactics“, in: Resolutions and Theses of the Fifth Congress, (London 1924) [„Thesen zur Taktik“, in: Resolutionen und Thesen des 5. Kongresses]

 39 Ebda.

 40 SPW2, S. 373

 41 a. a. O., S. 410

 42 Ebda.

 43 a. a. O., S. 411

 44 L. D. Trotzki, On Britain, S. 253 – 255 (New York 1972) [Über Britannien]

 45 SPW2, S. 331

 46 Ebda.

 47 Ebda.

 48 a. a. O., S. 75

 49 A. Gramsci, Selection from the Prison Notebooks (SPN), S. 237 – 278 (London 1971) [Auswahl aus den Gefängnisbüchern]

 50 Zitiert in Perry Anderson, The Antinomies of Antonio Gramsci, New Left Review No100, S. 72 [Die Widersprüche Antonio Gramscis]

 51 SPW2, S. 414

 52 a. a. O., S. 359

 53 a. a. O., S. 414

 54 a. a. O., S. 192

 55 a. a. O., S, 284

 56 SPN, S. 301

 57 Ebda., S. 237

 58 a. a. O., S. 242 – 243

 59 a. a. O., S. 238

 60 Trotsky, The Third International After Lenin, a. a. O., S. 90

 61 SPW2, S. 176

 62 SPN, S. 176

 63 a. a. O., S. 240 – 241




Marx21, DIE LINKE und der Cliffismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 274, Juni 2023

Die Krise und drohende Spaltung der Linkspartei ist auch eine Krise der strategischen Ausrichtung von marx21. Wie keine andere sozialistische oder marxistische Strömung, die in der Partei DIE LINKE agiert, ging sie in der Tagesarbeit des Aufbaus einer reformistischen Partei auf.

2007 gehörte marx21 zu den enthusiastischen Befürworter:innen der Gründung der Partei DIE LINKE. Die Bildung einer linksreformistischen Kraft betrachtete das Netzwerk als einen geradezu historischen Fortschritt für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland.

Den Aufbau einer offen antikapitalistischen Strömung lehnte marx21 von Beginn ab, ja bekämpfte alle Ansätze dazu.

Methode von marx21

Eine solche Politik verfolgte schon die Vorläuferorganisation Linksruck bei Gründung der WASG und in ihr bei der Fusion mit der PDS zur Partei DIE LINKE. In den „7 Thesen zur Diskussion um eine neue Linkspartei“ aus dem Jahre 2004 trat Linksruck für ein „konsensfähiges Reformprogramm“ als programmatische Basis einer neuen Arbeiter:innenpartei links von der SPD ein. Revolutionär:innen sollten sich darauf beschränken, „innerhalb einer solchen Linkspartei um die Erkenntnis der Unreformierbarkeit des Kapitalismus zu streiten“ und „mittel- und langfristig“ dafür einzutreten, dass „der Kampf für Reformen ein Kampf um die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sein wird.“

Das Eintreten für ein revolutionäres Aktionsprogramm wurde als Sektier:innentum angegriffen. Wider besseres Wissen sollten Revolutionär:innen darauf verzichten, den Reformismus grundlegend zu kritisieren. Diese Politik wurde jahrelang von marx21 verteidigt, sämtliche Kritiker:innen daran wurden als mehr oder minder unverbesserliche Sekten abgestempelt.

Über Jahre schien zumindest vordergründig der Erfolg marx21 recht zu geben. Man betrieb schließlich Massenarbeit, das Netzwerk wuchs rasch an und konnte mehr Mitglieder auf sich vereinen. Die Kader von marx21 stiegen in der Hierarchie der Linkspartei auf: Christine Buchholz und andere errangen Bundestagsmandate, Janine Wissler schaffte es zur Fraktionsvorsitzenden im Hessischen Landtag und handelte noch als marx21-Mitglied fast eine rot-grün-rote Landesregierung aus.

Schon damals unterschieden sich die Abgeordneten und die Führungsmitglieder von marx21 in der öffentlichen Wahrnehmung kaum von „normalen“ reformistischen. Die Interviews und Stellungnahmen der heutigen Vorsitzenden der Linkspartei, Janine Wissler, unterschieden und unterscheiden sich bis heute oft kaum von den Erklärungen, die sie noch während ihrer Zeit bei marx21 abgab. Das störte aber im  Netzwerk kaum jemanden. Man bog sich vielmehr diese reformistischer Realpolitik als den Preis, den man für wachsenden Einfluss eben zahlen müsse, zurecht.

Doch je mehr die Linkspartei selbst aufhörte zu wachsen, je mehr sie arbeiter:innenfeindliche und rassistische Maßnahmen in Landesregierungen durchzog, je mehr sie stagnierte oder gar schrumpfte, desto zweifelhafter wurde auch das Narrativ vom eigenen Erfolg.

Reformismusverständnis

Nichtsdestotrotz hielt das Netzwerk auch angesichts des katastrophalen Ausgangs der Bundestagswahl an der eigenen Methode fest. Im Sommer 2022 veröffentlichte der KoKreis von marx21 unter dem Titel „Die Linke in der Krise: Scheideweg“ seine Einschätzung der Lage. Darin wird der Linkspartei ein „insgesamt gutes Wahlprogramm“ attestiert, das jedoch durch ständige Anbiederungen an die SPD als Regierungspartnerin konterkariert worden wäre. Vor allem aber legt marx21 das eigene Verständnis des Reformismus der Linkspartei nieder:

„DIE LINKE trägt als reformistische Partei Widersprüche in sich. Der linke Reformismus unterscheidet sich vom rechten erst einmal dadurch, dass er proletarische Klasseninteressen aufnimmt und bis zu einem gewissen Grad Ausdruck verleiht und für sie mobilisiert. Aber der linke Reformismus trägt latent zwei Potenzen in sich: Entweder er verrät das Aktionsprogramm, für das er antrat, und fällt zurück ins Lager der sozialdemokratischen Kapitulation. Oder er radikalisiert sich und bewegt sich nach links zu einem Programm und einer Praxis des sozialistischen Klassenkampfs. In der LINKEN erleben wir zur Zeit beides, …“

Diese Passage legt die Vorstellungen, aber auch methodischen Fehler offen, die der Politik von marx21 zugrunde liegen. Der „rechte Reformismus“ wird als bürgerliche Politik abgelehnt und in der Linkspartei mit den Regierungsozialist:innen identifiziert. Dem linken Reformismus hingegen wird eine Art Doppelcharakter unterstellt: Er hätte zwei Potenzen – entweder verrät er und wird erst dadurch wieder zu bürgerlicher Politik. Oder er radikalisiert sich hin zum Sozialismus, indem er konsequent für grundlegende Verbesserungen eintritt. Der Kampf für radikale Reformen erscheint damit schon als, wenn auch unbewusster Weg zum Sozialismus.

Anders als in früheren Texten wird allerdings die Bedeutung einer revolutionären Strömung als Korrektiv, gewissermaßen revolutionäres Salz in der reformistischen Suppe, betont: „Es braucht eine LINKE als sozialistische Massenpartei, und es braucht darin eine organisierte revolutionäre Strömung, die die kapitalistischen Zwänge durchbricht und dem Sog der Anpassung standhält. Wir wollen dafür kämpfen, dass eine solche LINKE weiterhin besteht und gleichzeitig neu entsteht.“

Diese Passagen werfen unwillkürlich die Frage auf: Ist DIE LINKE nun eine „sozialistische Massenpartei“ oder muss sie es erst werden?

Da für marx21 jedoch der Linksreformismus schon durch Radikalisierung zum Programm und zur Praxis des Klassenkampfes kommen kann, finden sich lt. marx21 zumindest Teile in der Linkspartei, die schon auf dem Weg dahin sind oder diesen beschreiten könnten (Im Juni 22 wird hier insbesondere die Bewegungslinke angeführt).

Eine grundlegende inhaltliche Scheidung zwischen revolutionärer und reformistischer Politik kennt marx21 in diesen Texten letztlich nicht. Dazu müssten nämlich die Politik und der Klassencharakter einer Partei diskutiert und bestimmt werden. Darin würde sich zeigen, dass auch der Linksreformismus eine Form bürgerlicher Politik darstellt, weil er letztlich auf dem Boden der bestehenden bürgerlichen Verhältnisse stehen bleibt. Das zeigt sich insbesondere bei der Frage des Kampfes um die Macht. Revolutionäre, kommunistische Politik unterscheidet sich von reformistischer nämlich nicht dadurch, dass sie die grundlegende Bedeutung des Klassenkampfes anerkennt, sondern durch die Betonung der Notwendigkeit der revolutionären Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiter:innenklasse und der Errichtung ihrer Klassenherrschaft, der Diktatur des Proletariats.

Daher müsste für Marxist:innen eigentlich klar sein, dass es auf Dauer keine gemeinsame Partei von Revolutionär:innen und Reformist:innen geben kann, dass die Arbeit in einer reformistischen Partei allenfalls ein vorübergehendes taktisches Manöver sein kann, um nach links gehende Reformist:innen für ein revolutionäres Programm zu gewinnen.  Das setzt aber voraus, dass man von Beginn an offen für ein solches eintritt.

Ansonsten nährt man unwillkürlich die Illusion, dass die Entwicklung vom kämpferischen Reformismus zum revolutionären Kommunismus eine bloß graduelle darstelle. In Wirklichkeit handelt es sich hier jedoch um einen qualitativen Bruch, einen, der nur bewusst erfolgen kann.

Appell an Einheit

Es ist aber kein Zufall, dass marx21 die drohende Spaltung der Linkspartei und deren Schwächung fürchtet wie kaum eine andere Kraft. Während alle Flügel der Partei an der Spaltung arbeiten, appelliert marx21, genauer dessen Redaktion, an die Einheit:

„Konsequente Opposition statt Spaltung“ fordert Christine Buchholz. Die Linkspartei müsse sich „neu erfinden“ mit „einem klaren Profil gegen Krieg und Establishment“.

Der Untergang der Linkspartei wäre eine Katastrophe für Buchholz: „Doch eine Spaltung der LINKEN zum jetzigen Zeitpunkt würde weder die Krise der Partei beenden noch eine vielversprechende neue Formation entstehen lassen. Im Gegenteil: Es wäre eine Schwächung der gesamtgesellschaftlichen Linken in Deutschland und womöglich der Anfang vom Ende der ersten relevanten politischen Kraft links von der Sozialdemokratie in der Geschichte der Bundesrepublik.“

Wir wollen keineswegs bestreiten, dass der ersatzlose Zusammenbruch der Linkspartei eine Schwächung wäre. Die Frage, die es aber zu stellen gilt, lautet: Ist die Partei dennoch zu retten und mit welcher Politik? Buchholz und marx21 geben hier eine falsche, letztlich perspektivlose Antwort:

„Das bedeutet innerparteilich, die Auseinandersetzung nicht zu scheuen – weder mit Wagenknecht noch mit Lederer, Vogt, Oldenburg und Ramelow. Und nach außen bedeutet das, den Kampf gegen diejenigen aufzunehmen, die die sozialen Interessen der Mehrheit mit Füßen treten; diejenigen, die statt mit dem russischen Diktator mit saudischen Diktatoren Energie- und Waffen-Deals machen; diejenigen, die Deutschland auf die Kriege der Zukunft vorbereiten und für riesige Profite der Rüstungskonzerne sorgen; und gegen diejenigen, die Hass säen und berechtigten Unmut nach rechts lenken wollen.“

Diese Ausrichtung auf eine „Bewegungspartei“ fordert marx21 seit Jahren. Noch nach dem Wahldebakel bei der letzten Bundestagswahl 2021 konnten wir lesen: „DIE LINKE ist in diesen Auseinandersetzungen (gegen Inflation, Krise, Krieg, Umweltzerstörung; Anm. d. Red.) als Sprachrohr, Ort des Austausches und Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht gefragt. DIE LINKE hat vor Ort einen breiten Fundus von Erfahrung, wie sich die Partei als Bewegungspartei aufbauen kann. Die guten Erfahrungen in vielen Kreisverbänden in den letzten Jahren sollten die Grundlage für eine ‚Neuausrichtung’ der Partei sein.“ (https://www.marx21.de/page/2/?s=DIE+LINKE)

DIE LINKE mag ja „gefragt“ sein, „Motor für Organisierung von Widerstand und Gegenmacht“ ist sie nicht. Das weiß auch marx21. Aber die Ursachenanalyse für die Krise der Linkspartei greift zu kurz. Für das Netzwerk erscheinen der Populismus von Wagenknecht und deren Opportunismus gegenüber rechts sowie die Fixierung auf Parlamentarismus und opportunistische Politik der Regierungssozialist:innen jedoch nicht als Ausdruck des bürgerlichen Charakters der Partei selbst.

Daher unterstellt die Perspektive für die Linkspartei nicht nur, dass eine Einheit der drei Flügel der Partei möglich wäre, sondern dass sie auch zu einer wirklichen „Bewegungspartei“ werden könnte.

Dies hängt damit zusammen, dass die Wurzeln bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik selbst unzureichend analysiert und benannt werden. Bürgerliches Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse erwächst nämlich, wie im Marx im „Kapital“ zeigt, aus der Lohnform selbst und der gesamte Lohnkampf, also der ökonomische Klassenkampf, bewegt sich noch im Rahmen diese Form. Die reformistische Partei stellt letztlich eine Verlängerung dieser Elementarform des Klassenkampfes auf der Ebene parlamentarischer Reformpolitik dar.

Zweitens findet diese Politik vor allem in den imperialistischen Ländern in den privilegierteren Schichten der Lohnabhängigen, in der Arbeiter:innenaristokratie eine soziale Stütze. Diese stellt die eigentliche Basis der Arbeiter:innenbürokratie sowohl in der Linkspartei wie auch in den Gewerkschaften und der SPD dar. Daher auch die Nähe zur Gewerkschaftsbürokratie, deren Politik letztlich von allen Flügeln der Linkspartei verteidigt wird, aber auch zum Sozialchauvinismus, und die Ausrichtung auf Regierungsbeteiligungen erfolgt letztlich als notwendige Konsequenz aus dieser reformistischen Strategie und ist keine Abweichung.

Marx21 hingegen unterstellt, dass auf den bestehenden politischen Grundlagen der Linkspartei eine Gesundung, eine Abkehr von der Ausrichtung auf Parlamentarismus und Regierungsbeteiligungen möglich wäre, eine bürgerliche Reformpartei wirklich dauerhaft zu einer „Bewegungspartei“ werden könne.

In Wirklichkeit muss jedoch eine Partei nach Regierungsverantwortung streben, die den revolutionären Sturz des Kapitalismus kategorisch ausschließt. Jede Kritik am Reformismus, die nur die Folgen dieser Beschränkung auf den Kampf innerhalb der bürgerlichen Institutionen angreift, nicht aber die Strategie selbst, muss daher zu kurz greifen, ja verbleibt letztlich auf einer rein moralischen Ebene.

Dasselbe trifft logischerweise auf alle anderen Ebenen zu. Jede reformistische Partei muss letztliche eine Realpolitik betreiben, die im Rahmen dessen bleibt, was im bürgerlichen System als „vernünftig“ und „normal“ erscheint. Was das genau sein soll, darüber scheiden sich die Geister.

Die Krise von marx21

Doch das Gespenst der Spaltung treibt nicht nur die Linkspartei um. Es sucht auch marx21 heim. In den letzten Jahren haben sich in Zusammenhang mit der Arbeit in der Linkspartei auch im Netzwerk verschiedene Lager herausgebildet.

Lange setzte marx21 seinen Schwerpunkt auf die „Sozialistische Linke“ (SL) und den Aufbau des SDS. Die Arbeit in der SL brach aber mit deren Hinwendung zum Wagenknecht-Lager ein. Parallel entwickelten SDS-Kader aus marx21 über die Luxemburg-Stiftung und Organizingkampagnen enge Verbindungen zu einem Flügel der Gewerkschaftsbürokratie. Hinzu kommt, dass die Arbeit an der Universität auch mit einer Anpassung an antimarxistische, kleinbürgerliche Ideologien einherging.

In der innerparteilichen Auseinandersetzung der Linkspartei findet sich dieser Flügel besonders in der Bewegungslinken wieder. Eine gewisse Ironie besteht sicher darin, dass auch diese ihre Politik mit ähnlichen Formeln begründet wie marx21 selbst – so wie umgekehrt noch 2022 die Bewegungslinke vom marx21-KoKreis als zentrales Mittel zur klassenkämpferischen Erneuerung der Linkspartei charakterisiert wurde.

So will die Bewegungslinke eine „klassenorientierte“ Politik, in der Identitäts- und Klassenpolitik jedoch keinen Gegensatz bilden sollen. Auch die Bewegungslinke will, dass DIE LINKE eine „Friedenspartei“ bleibt und Nein sagt zu NATO und Auslandseinsätzen, sie für Antirassismus, offene Grenzen und Antifaschismus einsteht, vor allem auf Bewegung und nicht auf Parlamentarismus setzt.

Auch wenn sie eine „kritische“ Bilanz der bisherigen Regierungspraxis zieht, so hindert sie das nicht daran, vom „rebellischen Regieren“ zu phantasieren:

„Der Staat sichert die Eigentumsverhältnisse durch Gewalt und Konsens. Gleichzeitig beinhaltet er historische Errungenschaften. Er ist Kräfteverhältnis und Kampffeld zugleich. Die Aussicht auf linkes Regieren kann für uns nur als rebellisches Aufbegehren gegenüber dem Kapital, dem bürgerlichen Staatspersonal und den Medien gedacht werden.“ (https://bewegungslinke.org/5-2/selbstverstaendnis/)

Auch wenn sich die Ausführungen kritisch gegenüber der bestehenden Politik der Linkspartei geben, so versuchen sie – ganz im Einklang mit den neoreformistischen Transformationsstrategien –, letztlich Beteiligungen an bürgerlichen Regierungen neu zu „begründen“.

Nicht nur auf dieser Ebene stellt dieser Flügel von marx21 damit auch theoretisch und programmatisch die marxistischen Grundpositionen der Strömung in Frage.

Offenkundig ist das der Redaktion von marx21 durchaus bewusst. Zwei Artikel zur Kritik an Nicos Poulantzas (https://www.marx21.de/poulantzas-und-die-frage-der-macht/; https://www.marx21.de/04-05-10-der-staat-und-die-linke/) und dessen Revision der marxistischen Staatstheorie können indirekt als Polemik gegen das „rebellische Regieren“ verstanden werden.

Doch die in vielen Punkten lesenswerte Kritik beinhaltet auch eine wichtige Schwäche. Sie umschifft die Frage, welchen Klassenstandpunkt die Theorie von Poulantzas zum Ausdruck bringt. So zieht Yaak Pabst in „Poulantzas und die Frage der Macht“ eine Bilanz des Scheiterns des Eurokommunismus an der Regierung und folgert:

„Letztlich mussten sich all diese Projekte dem kapitalistischen Sachzwang beugen. Nicos Poulantzas sah diese Gefahr. Allerdings scheute er sich davor, jene Schlussfolgerung zu ziehen, für die so viele revolutionäre Marxistinnen und Marxisten vor ihm eingetreten waren: den revolutionären Bruch mit dem bürgerlichen Staat.“

Dass Poulantzas genau diese Folgerungen nicht ziehen wollte, wirft die Frage nach dem Charakter seiner Staatstheorie auf. Letztlich ist diese nur eine geschmeidigere Begründung für bürgerliche Reformpolitik. Er begründet eine bürgerliche, keine proletarische Klassenpolitik. Eine solche Charakterisierung würde nicht nur die Differenzen zum rechten Flügel von marx21 deutlicher machen, sie würde auch den Klassencharakter der Linkspartei, die ihr Regierungshandeln viel pragmatischer rechtfertigt, und damit den illusorischen Charakter einer dauerhaften Koexistenz von Revolutionär:innen und Reformist:innen in einer Partei hervorheben. Der Verzicht darauf, den gegensätzlichen Klassenstandpunkt auf praktischer wie theoretischer Ebene zu nennen, bedeutet aber nicht nur einen Verzicht auf den theoretischen Klassenkampf, sondern auch auf den Kampf gegen die Grundlagen bürgerlicher Politik in der Linkspartei.

Die Entstehung des rechten Flügels in marx21 hat zwar Genoss:innen wie Yaak Pabst und Christine Buchholz auch zu indirekten Polemiken gegen die Bewegungslinke bewegt, aber so wie sie in der Linkspartei die Einheit unbedingt aufrechterhalten wollen, so wollen sie auch eine Zuspitzung des politischen Kampfes in marx21 vermeiden. Auch dort stellen sie wie bei der Linkspartei die „Einheit“ über alles – eine Einheit um den Preis, dass immer mehr praktische und theoretische Zugeständnisse an reformistische oder kleinbürgerliche Ideologie und Theorie eingegangen werden müssen.

Sie verkennen dabei aber insbesondere, dass gerade das, was am Beginn scheinbar den Erfolg von marx21 begründete, nämlich der Verzicht auf ein eigenes, bestimmtes revolutionäres Programm und auf ein gemeinsames darauf basierendes Handeln, die eigentliche Ursache ihrer Anpassung an nicht-revolutionäre Ideen und der Herausbildung einer eigenen rechten Strömung darstellt.

Bis zu einem gewissen Grad radikalisiert der rechte Flügel von marx21 nur, was das Netzwerk immer schon propagiert hat, nämlich den Verzicht auf einen offenen Kampf um ein revolutionäres Programm, das sich von jeder Spielart des Reformismus abhebt.

Das Zentrum von marx21 betrachtet das „nur“ als eine besonders kluge Taktik, um den Marxismus prozesshaft durch die Verbindung von Kämpfen für Reformen und allgemeine sozialistische Propaganda zu verbreitern, also um Reformist:innen zu Revolutionär:innen zu machen, ohne dass diese bewusst mit ihren bürgerlichen Vorstellungen brechen müssen. Das Problem an der Methode besteht allerdings darin, dass das Programm verwässert wird, dass sich die Revolutionär:innen dem Reformismus anpassen – und nicht umgekehrt.

Der rechte Flügel von marx21 geht jedoch insofern einen Schritt weiter, als er eine politische Konfrontation mit der Bürokratie sowohl in den Gewerkschaften als auch in der Linkspartei ablehnt. Dabei wird der Kampf um eine antibürokratische Basisbewegung in den Gewerkschaften und für eine kommunistische Organisation durch die Fetischisierung von Organizingmethoden ersetzt. Für diesen Flügel von marx21 wird der Bezug auf die Ursprünge der eigenen marxistischen Strömung zunehmend zu einem Hindernis, das eigentlich entsorgt werden muss.

Mit Cliffismus zurück zur revolutionären Politik?

Ein sich formierender linker Flügel des Netzwerks geht hingegen davon aus, dass sich marx21 auf seine theoretischen Ursprünge bei den „International Socialists“ besinnen müsse, um die eigene Organisation wieder revolutionär auszurichten.

Diese Vorstellung mag zwar naheliegen, wir halten sie jedoch für eine Illusion, wie wir im abschließenden Teil des Artikels darlegen wollen. Marx21 entstand aus einer bestimmten Strömung des Nachkriegstrotzkismus, dem Cliffismus, benannt nach dem langjährigen Anführer und theoretischen Gründungskopf. Seit den 1970er Jahren existiert sie auch als internationale Strömung, als International Socialist Tendency (IST).

Wir haben in der Broschüre „The politics of the SWP – a Trotskyist critique“ die Grundlagen dieser Strömung ausführlicher kritisiert. An dieser Stelle wollen wir uns auf ihre theoretische Konzeption zu Klassenbewusstsein und damit zusammenhängend Partei und Programm beschränken, die unserer Meinung nach in der aktuellen Krise von marx21 selbst zum Vorschein tritt.

Den Kern des Problems betrifft die Frage nach Entstehung revolutionären Klassenbewusstseins selbst. Tony Cliff und seine Strömung grenzten sich bei der Herausbildung ihrer eigenen Ideologie grundsätzlich vom Lenin’schen Verständnis ab. In „Was tun?“ zeigt Lenin, dass die revolutionäre Theorie des Marxismus nicht direkt aus dem ökonomischen und politischen Klassenkampf entstand – und auch nicht daraus entstehen konnte.

Das spontane Bewusstsein der Arbeiter:innenklasse kann vielmehr nur ein bürgerliches sein. Er knüpft damit an Marx und seine Analyse der Lohnform an. „Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt, beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie.“ (Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, Seite 562)

Die Lohnform verschleiert nicht nur das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis, sondern bildet auch den Rahmen, in dem sich nicht nur der ökonomische Kampf, sondern in abgeleiteter Form auch Kämpfe um Demokratie und Gleichberechtigung bewegen.

Dieses grundlegend entfremdete und verdinglichte Bewusstsein ist natürlich wie die gesellschaftliche Basis, auf der es fußt, in sich widersprüchlich – und in den Klassenkämpfen rücken diese Widersprüche auch ins Alltagsbewusstsein. In diesem Sinn treibt er auch zur Infragestellung bestehenden Bewusstseins und zur Entwicklung von Klassenbewusstsein.

Aber wirklich revolutionäres, proletarisches Klassenbewusstsein bedarf zugleich auch einer Kritik, die diese Oberflächenformen durchdringt und so die Möglichkeiten schafft, dass der Klassenkampf bewusst über deren Grenzen hinaustritt und mit einem Programm zur sozialistischen Umwälzung verbunden wird. Daher ist die Verknüpfung mit revolutionärer Theorie unerlässlich. In diesem Sinne muss revolutionäres Bewusstsein von außen in die Klasse getragen werden; ob nun von bürgerlichen Intellektuellen oder zunehmend von Lohnabhängigen, die sich als Theoretiker:innen, Strateg:innen des Kommunismus betätigen, ist an dieser Stelle zweitrangig.

Die revolutionären Partei bildet das Verbindungsglied, die Vermittlung zwischen den spontan kämpferischen und bis zu einem gewissen Grad auch sozialistischen Tendenzen der Arbeiter:innenklasse einerseits und der wissenschaftlichen Theorie andererseits. Das revolutionäre Programm stellt dabei einen Kernbestandteil dieser Vermittlung dar, weil darin wissenschaftliche Analyse der objektiven Lage, die aktuellen und historischen Erfahrungen mit den Aufgaben und Zielen, mit Strategie und Taktiken zu einem in sich schlüssigen Ganzen, zu einem System verbunden werden. Nur so kann es als Anleitung zum revolutionären Handeln überhaupt fungieren.

Die Qualität eines Programms zeigt sich darin, ob es diese Aufgabe erfüllen kann. Für reformistische und kleinbürgerliche Programme stellt sich Frage im Grunde nicht, weil sie weder Anspruch auf eine wissenschaftliche Fundierung erheben noch als verbindliche Richtschnur zur Praxis dienen sollen. Dass z. B. die Linkspartei zentrale Forderungen bei Koalitionsverhandlungen über Bord wirft, wundert niemanden wirklich, auch die Mehrheit ihrer Mitglieder nicht.

Für eine revolutionäre Organisation hingegen stellt das Programm ein unverzichtbares Kernelement ihrer Politik dar, auch wenn das strategische Ziel, die sozialistische Revolution, die Eroberung der Macht der Arbeiter:innenklasse, die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft weit entfernt scheinen mögen. Selbst zeitweiliger Verzicht auf ein solches Programm bedeutet unwillkürlich, das Feld der Bestimmung „linker“ Politik anderen, bürgerlichen Programmen zu überlassen.

Diese essentiellen Bestimmungen zum Verhältnis von Klassenbewusstsein, Partei und Programm stellt Cliff in Frage. Für ihn besteht zwar auch die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation. Doch diese erwächst ihm zufolge aus der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung des spontanen Bewusstseins, also aus der Tatsache, dass das Bewusstsein der Klasse nie einheitlich sein kann, dass in allen Kämpfen bewusstere und rückständigere Teile hervortreten. Die Aufgabe der Partei besteht daher vor allem in der organisatorischen Zusammenfassung der sich im Kampf herausbildenden Avantgardeschichten.

Jede revolutionäre Partei oder jeder Parteibildungsprozess inkludiert zwar auch diese Aspekte. Das beantwortet aber nicht die Frage nach dem Programm, dessen objektiver inhaltlicher Fundierung und innerem Zusammenhang.

Mit den Erfolgen von marx21 wurde jedoch die Vorstellung genährt, dass ein Programm, eine gemeinsame theoretische Grundlage und eine verbindliche, demokratisch bestimmte gemeinsame Praxis ein Hindernis für den raschen und erfolgreichen Aufbau darstellen würden. Dafür sind sicher nicht bloß Cliff oder die IST verantwortlich. Aber ihre falsche Kritik des Leninismus, ihr falsches Verständnis des Klassenbewusstseins und ihre Unterschätzung der Bedeutung des Programms haben diese Entwicklung massiv begünstigt.

Jetzt, wo ein Teil von marx21 dabei ist, auch mit dem Cliffismus und dessen revolutionären Elementen zu brechen, muss sich die Organisation und vor allem ihr linker Flügel die Frage stellen, ob das etwas mit den eigenen vermeintlich korrekten Grundlagen zu tun hat.

Das Problem von marx21 war und ist dabei nicht, dass die Organisation in größeren Bewegungen und Strömungen – in diesem Fall der Linkspartei – gearbeitet hat oder arbeiten wollte. In allen Bewegungen, sozialen Milieus, seien es Schüler:innen, Studierende, bestimmte Schichten der Arbeiter:innenklasse oder reformistische Parteien herrschen bestimmte Formen bürgerlicher Ideologie vor. Die revolutionäre Intervention muss dabei immer darauf zielen, das bestehende Bewusstsein zu verändern, die Aktivist:innen und vor allem deren politisch fortgeschrittenste von der bürgerlichen Ideologie zu brechen und für den Kommunismus zu gewinnen. Dies kann und wird natürlich nicht nur durch Kritik vonstattengehen, aber diese stellte ein unerlässliches Element in dieser Auseinandersetzung, genauer des theoretischen und ideologischen Klassenkampfes dar.

Damit eine revolutionäre Organisation und deren Mitglieder das z. B. in Gewerkschaften, unter der Jugend, in sozialen Bewegungen leisten können, braucht es eben ein gemeinsames Verständnis, eine systematische Diskussion und Bestimmung dieser Politik. Nur so können opportunistische Anpassung wie auch Sektierertum verhindert werden.

Der Verzicht auf eine solche inhaltliche Bestimmung revolutionärer Politik mag zwar sektenhaftem Verhalten vorbeugen. Ganz sicher öffnet man damit aber dem Opportunismus Tür und Tor, wie die Entwicklung von marx21 und besonders des rechten Flügels zeigt.

Hinzu kommt, dass die Vorstellung, revolutionäres Bewusstsein könne direkt aus dem Klassenkampf entstehen, dazu führt, „kämpferisches“ reformistisches Bewusstsein schon als eine Vorstufe zum revolutionären zu begreifen. Die linksreformistische Partei stellt dann keine bürgerliche Kraft, sondern einen möglichen Schritt zur revolutionären Formation dar, die nur weiter nach links getrieben und zur „Bewegungspartei“ vorangebracht werden müsse.

Organisationen wie marx21, aber auch viele andere Linke begreifen das Verhältnis von revolutionärer Klarheit und Intervention nicht als einander bedingendes, wenn auch schwieriges Wechselverhältnis, sondern als einander ausschließenden Gegensatz. Dieser fundamentale Fehler ist im Cliffismus selbst schon angelegt. Die Krise von marx21 erfordert daher nicht nur eine Kritik ihres rechten Flügels, sondern auch eine selbstkritische und offene Diskussion und Überwindung des eigenen theoretischen Erbes.




Revolutionärer Marxismus 55: Eine Welt in der Krise

Redaktion, Neue Internationale 274, Juni 2023

Im Juni 2023 erscheint Nummer 55 unseres theoretischen Journals „Revolutionärer Marxismus“. Sie widmet sich schwerpunktmäßig der internationalen Lage, ihrem Verhältnis zur imperialistischen Konkurrenz, Veränderungen der Kapitalbewegung, Klassenzusammensetzung und Krieg. Mit und seit der reaktionären Invasion Russlands in der Ukraine beginnt auch eine neue Etappe des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, der Konfrontation zwischen den alten, westlichen Großmächten unter Führung der USA einer- und China und Russland andererseits.

Die aktuelle Ausgabe des revolutionären Marxismus beleuchtet Kernaspekte der veränderten Weltlage, grundlegende krisenhafte Phänomene des globalen Kapitalismus und ihre Entwicklungsdynamik. Viele Artikel entstanden ursprünglich aus der Arbeit an Hintergrundpapieren und Dokumenten für den Internationalen Kongress der Liga für die Fünfte Internationale im November 2022. Für diese Ausgabe wurden sie noch einmal umgearbeitet und aktualisiert. Entscheidend ist jedoch, dass wir in den Texten nicht nur ein Abbild der aktuellen Entwicklung liefern, sondern auch Tendenzen herausarbeiten wollen, die noch über Jahre prägend sein werden.

Am Beginn dieser Ausgabe des Revolutionären Marxismus steht eine Analyse der Weltwirtschaft. Im Artikel „Eine Welt in der Krise“ verweist Markus Lehner ausführlich auf die innere Dynamik der Kapitalakkumulation seit 2008, die selbst zu einer Krise der kapitalistischen Globalisierung geführt hat. Er beschäftigt sich mit der Entwicklung in allen Kernsektoren der globalen Ökonomie, darunter auch in China. Alle sind von fallenden oder stagnierenden Profitraten geprägt. Eine Basis für ein neues, expansives Akkumulationsregime ist aus der inneren ökonomischen Entwicklung nicht abzusehen. Dieses würde eine Vernichtung überschüssigen akkumulierten Kapitals im historischen Ausmaß voraussetzen, sowohl im Finanzsektor wie auch und vor allem des industriellen Kapitalstocks. Und genau hier zeigt sich die enge Verbindung dieser Krise mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt, da alle großen Mächte ihr Kapital auf Kosten der Konkurrenz retten wollen.

Die Pandemie und der Ukrainekrieg wirken als Katalysatoren dieser Entwicklung. Inflation bis hin zur Hyperinflation in den Halbkolonien haben die Welt fest im Griff. Zugleich erleben wir eine weitere Fragmentierung des Weltmarktes, Schritte zur „Deglobalisierung“ und zur partiellen, im Fall Russlands der praktisch vollständigen Umstellung auf Kriegswirtschaft. In den nächsten Jahren werden wir mit einer Welt von Krieg und Krisen konfrontiert sein, die auch eine grundlegende Neuausrichtung der Linken und der Arbeiter:innenklasse erfordern.

Der darauffolgende Artikel beschäftigt sich mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht. Dass die fetten Jahre der wirtschaftlichen Expansion vorbei zu sein scheinen, hängt vor allem mit zwei Faktoren zusammen. Einerseits machen sich auch in China die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation, ihre krisenhafte Logik und der Fall der Profitraten geltend. Zweitens bedeutet die Konkurrenz zu den USA und den anderen „traditionellen“ imperialistischen Mächten, dass die Zeiten wechselseitiger ökonomischen Vorteile längst vorbei sein. Vielmehr geht es zunehmend darum, welche Großmacht, welche Mächtegruppe, die Welt in ihrem Interesse neu organisiert. Damit einher gehen nicht nur ein immer heftigerer Kampf um Märkte und Einflussgebiete, sondern auch Formen eines regelrechten Wirtschaftskrieges, wechselseitige Drohungen, Tendenzen zur Abschottung des jeweils eigenen „Einflussgebietes“ vor der Konkurrenz sowie Militarisierung, Aufrüstung und wachsende Kriegsgefahr.

Der Artikel beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der enorm gewachsenen Rolle des chinesischen Imperialismus, sondern auch mit den historischen Wurzeln des bonapartischen Regimes und den inneren Widersprüchen dieser Großmacht.

Die Texte zur Weltlage werden durch zwei weitere Beiträge ergänzt. Im Beitrag „Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs“ wird untersucht, wie dessen verschiedene Dimensionen – nationaler Verteidigungskrieg gegen die russische imperialistische Invasion einer-, innerimperialistischer Konflikt zwischen Russland und den NATO-Staaten andererseits – miteinander verwoben sind und welche Schlussfolgerungen Revolutionär:innen daraus ziehen.

Ein weiterer Artikel geht auf das Wachstum der extremen Rechten, sei es rechtspopulistischer oder gar faschistischer Kräfte, ein. Dabei wird nicht nur deren gesellschaftliche Basis in der gegenwärtigen Periode untersucht, sondern auch auf die Frage, wie ihr Aufstieg erfolgreich bekämpft werden kann, eingegangen.

Die Reihe der aus der Kongressdiskussion unserer Strömung erwachsenen Beiträge schließt der Artikel „Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse“ ab. Schon im „Kapital“ zeigt Marx, dass sein Wandel, Wachstum wie Stagnation, die Zusammensetzung und Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

Die ersten Abschnitte des Artikels skizzieren dabei die wichtigsten Veränderungen der Klasse der Lohnabhängigen während der Globalisierungsperiode, die Auswirkungen der Pandemie und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt seit Beginn des Ukrainekrieges. Die beiden folgenden Teile sind der Lage der Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien und ihrer politischen Entwicklung gewidmet. Die Politik des nationalen Schulterschlusses und der systematischen Klassenkollaboration, wie sie seit Jahren von den reformistischen Parteien und den Gewerkschaftsführungen betrieben wird, bildet selbst einen entscheidenden Faktor dafür, dass die herrschenden Klassen die Kosten von Krieg, Umweltzerstörung, Gesundheitskrise und Inflation den Lohnabhängigen aufbürden können.

Die Führungskrise des Proletariats nimmt weitere, dramatische Dimensionen an – und nicht nur, wenn wir die „traditionellen“ sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien betrachten. Auch der linke Reformismus und scheinbar radikale kleinbürgerliche Kräfte bilden letztlich einen Teil des Problems der Führungskrise und nicht ihrer Lösung. Doch auch die subjektiv revolutionären, zentristischen Kräfte vermögen keine programmatische Antwort auf die Krise zu geben. Der Artikel skizziert daher nicht nur ein Bild deren aktuellen Zustands, sondern auch historische Lehren des Kampfes für revolutionäre Parteien und eine revolutionäre Internationale, die es gilt, für die heutige Lage fruchtbar zu machen, wenn erfolgreich neue revolutionäre Organisationen aufgebaut werden sollen.

Zwei Texte, die sich Fragen von Programm und Strategie widmen, schließen diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Der Beitrag „Wohin treibt die DSA?“ von Andy Young wurde ursprünglich in unserem internationalen Magazin „Fifth International“ veröffentlicht und unterzieht die Politik der Democratic Socialists of America und vor allem ihren zweiten Kongress einer marxistischen Kritik.

Den letzten Beitrag bildet die Übersetzung des Artikels „Gramsci und die revolutionäre Tradition“. Auch wenn dieser 1987 verfasst wurde, so enthält er eine umfassende Darstellung des politischen Werdegangs von Gramsci und insbesondere auch eine Kritik seiner politischen Strategie, wie sie in den sog. Gefängnisheften entwickelt wird.

Damit schließt diese Ausgabe des Revolutionären Marxismus ab. Zweifellos kann sie nur Aspekte der gegenwärtigen Krise in der nötigen Tiefe und Komplexität darstellen – aber eine Schwerpunktsetzung ist leider unvermeidlich. Wir wollen aber vor allem die theoretisch interessierten Leser:innen auf die beiden vorhergehenden Ausgaben des Revolutionären Marxismus – „Umweltkrise. Eine Krise des Kapitalismus“ (RM 54) und „Imperialismus. Theorie, Kontroversen und Kritik“ (RM 53) – verweisen, die wichtige Grundlagenarbeit enthalten, die in dieser Ausgabe wieder aufgegriffen wird. Eine solche bildet einen unerlässlichen Bestandteil jeder marxistischen Organisation, denn ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.




Wunderwaffe Organizing?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 273, Mai 2023

Es geht ein Gespenst um in den Gewerkschaftshäusern – das Gespenst des Organizings. Doch es ist hohe Zeit, die Anschauungsweise, dessen Zwecke, Stärken und Schwächen darzulegen.

Einleitung

Den Gewerkschaften in Deutschland geht es im langfristigen Trend schlecht. Während 1994 9.768.378 Kolleg:innen Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft waren, sind es 2022 nur noch 5.643.762. Dieser Trend ist nicht einzigartig, sondern reiht sich ein in die Entwicklung in den westlichen imperialistischen Staaten. Inmitten dieser ist ein Schlagwort präsenter geworden: gewerkschaftliche Erneuerung. Ein zentrales Standbein dessen ist das Organizing.

In diesem Beitrag wollen wir Organizing als Methode, aber auch als Programm beleuchten und einer solidarischen Kritik unterziehen. Denn es schafft es, beispielsweise mit der Krankenhausbewegung inmitten der sozialpartnerschaftlichen Tristesse Leuchttürme des Arbeitskampfes zu errichten, neue Generationen von Arbeiter:innen für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu begeistern, den Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken, und vieles mehr. Zugleich verkörpert es ein Programm des (zumeist linken Teils des) Gewerkschaftsapparats, das seiner Stellung nicht gefährlich wird. Dabei ist es diese, die erst kürzlich trotz gigantischen Zuspruchs für den Vollstreik bei der Post den Ausverkauf des Arbeitskampfes eingeleitet hat. Und das ist nur ein Verrat unter vielen auf dem Kerbholz der Arbeiter:innenbürokratie.

In diesem Text werden wir uns in den Konkretisierungen im Wesentlichen auf Jane McAlevey beziehen, die in linken gewerkschaftlichen Kreisen und an den Schnittstellen zu sozialen Bewegungen aktuell die wirkmächtigsten Ansätze präsentiert. McAlevey ist die Strategin des US-amerikanischen Organizings und führender Kopf des internationalen Netzwerks „Organizing for Power“ (O4P) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Das Netzwerk ist nach eigenen Angaben der RLS eine „der erfolgreichsten Online-Veranstaltungsreihen der weltweiten Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung [ … ; mit] fast 27.000 Menschen aus 130 Ländern“[i], die daran teilnahmen.

Das Schwerste zuerst: ein Definitionsversuch

An dieser Stelle sollen zwei Definitionen aus den Debatten rund ums Organizing herangezogen werden. Britta Rehder, Professorin für Politikwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum, bezeichnet Organizing als strategischen Instrumentenkasten, der darauf abzielt, neue Ansätze für gewerkschaftliche Revitalisierungsversuche zu erarbeiten (vgl. Rehder 2014)[ii]. Dabei handelt es sich um ein Programm strategischer Planung durch die führenden Abteilungen der Gewerkschaften, das zumeist darauf ausgelegt ist, (traditionell) schwer organisierbare Berufsgruppen über offensive Mitgliedergewinnung zu erreichen.

Dieser Teil des Programms wird teilweise Strategic Unionising genannt. Es findet auf drei Ebenen statt: (1) die extensive Mobilisierung zur Rekrutierung neuer Mitglieder, (2) die intensive Mobilisierung zur Einbeziehung der eigenen Basis und (3) die Koalitionsbildung mit anderen politischen Akteur:innen.

Florian Wilde, wissenschaftlicher Referent für Gewerkschaftspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schreibt im Vorwort der deutschen Ausgabe des neuesten Buchs von Jane McAlevey „Macht. Gemeinsame Sache.“, dass das „Organizing [ … ] Herangehensweisen und Werkzeuge [vereint], um Menschen zusammenzubringen und zu befähigen, mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten.“ (McAlevey 2021, S. 11). Ziel ist es dabei, die Gewerkschaften als Institutionen zu stärken, um für eine gerechte (sic!) Verteilung von Reichtum und Macht zu sorgen. „Denn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen.“ (ebd., S. 18).

Organizing ist also ein Konzept geschwächter (gewerkschaftlicher) Strukturen zum Organisationsaufbau, um (wieder) verhandlungsfähig zu werden. Darin steckt bereits ein Doppelspiel aus Strategie und Taktik. Taktiken sind in dem sogenannten Instrumenten- oder auch Werkzeugkasten zu suchen, seien es Eins-zu-eins-Gespräche, Abteilungsgänge, Stärketests, Telefonflashs, Petitionen, Flashmobs, Mehrheitsstreiks und vieles Weiteres als (un-)mittelbare Schritte, um die eigene Ausgangslage zu verbessern. Und zugleich die Zweckmäßigkeit, für die diese Mittel eingesetzt werden (Strategie), die in der (Wieder-)Erlangung von Verhandlungsmacht liegen. Organizing beruht auf der Annahme, dass sich Menschen organisieren, wenn sie die Möglichkeit sehen, dass Probleme, die ihre sind, durch kollektive Organisierung gelöst werden können.

Organizing als … Methodenwerkzeugkoffer

Im breitesten Sinne, also wenn Organizing bloß auf die verwendeten Formen begrenzt wird, handelt es sich um kein genuin progressives Konzept. Beispielsweise kann auch die Tea-Party-Bewegung als eine Organizinkampagne begriffen werden. Im breitesten Sinne ließen sich Organizing und Beteiligung fast synonym verwenden. Mit dieser Erkenntnis kann man aber genauso viel wie wenig anfangen. Ziel dieses Textes ist aber keine breite Auseinandersetzung mit allem, was unter der Klammer des Organizings auftreten könnte. Es geht hier um Aspekte des sogenannten transformativen Organizings, speziell in Bezug auf gewerkschaftliche Debatten.

Eric Mann hat den Begriff zu fassen versucht, wenn er schreibt: „Durch transformatives Organizing werden Massen von Menschen rekrutiert, um radikal für konkrete notwendige Forderungen zu kämpfen – um segregierte Einrichtungen allen zugänglich zu machen, Arbeitsplätze für Schwarze, das Ende der Militärrekrutierung auf dem Campus –, aber immer als Teil einer größeren Strategie, um die strukturellen Bedingungen in der Welt zu verändern: für ein Ende der Apartheid nach der Abschaffung der Sklaverei. Um einen Krieg zu beenden. Für den Aufbau einer wirkmächtigen, langlebigen Bewegung. Transformatives Organizing richtet sich auf eine Transformation des gesellschaftlichen Systems, des Bewusstseins der Menschen, die organisiert werden –, und im Verlauf auch des Bewusstseins der Organizer.“ (Mann 2011, S. 1f).[iii] Eine generelle Kritik der Transformationstheorien haben wir an anderer Stelle unternommen.[iv]

Durch die Fokussierung auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit, beeinflusst durch das Community Organizing, stellt das gewerkschaftliche als Werkzeugkasten eine Art Anreicherung betrieblicher Kampfformen mit Einbindung der sozialen Netzwerke der Arbeiter:innen als bürgerliche Individuen dar. Wie Marx in der Deutschen Ideologie gezeigt hat, tritt im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Individuum doppelt in Erscheinung, als Klassenindividuum und als zufälliges oder persönliches (frei von allen ständischen und feudalen Bindungen).

Daher erscheinen sie auch in ihrem eigene Bewusstsein als freier als die Mitglieder früher Gesellschaftsformationen, obwohl sie realiter stärker unter die materiellen Verhältnisse (und damit auch unter ihre Klassenposition) subsumiert sind. Das Community Organizing spricht die Menschen – auch die Lohnabhängigen – letztlich als zufällige Subjekte an, also als Nachbar:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen oder Bekannte. Sie sind in Vereinen aktiv, in sozialen Medien präsent, kennen lokale Politiker:innen, sind möglicherweise gläubig usw. Im Übrigen trifft genau das auch auf deren Umfeld zu.

Um dem Theorieteil etwas vorzugreifen, lässt sich sagen: Ihre Stellung ist nicht primär die sich dialektisch bedingender sozialer Klassen, sondern eine positiv bestimmbare Kategorie des Habens. Die Methoden des Organizings bewegen sich tendenziell mehr auf dieser Ebene, die der der Verteilung (Zirkulation) entspricht. Das Organizing im Gefolge von McAlevey nimmt nicht in Anspruch, erstmalig die einzelnen Konzepte (Werkzeuge) entdeckt, sondern sie zu einem System zusammengeführt zu haben.

Zentrale Methoden: der Strukturtest und die organischen Führungspersönlichkeiten

Organizing ist oftmals ein lange andauernder Prozess mit verschiedenen Phasen. In allen werden gewisse Ziele gesetzt (X Mitglieder bis dahin, Y Teilnehmer:innen auf einer Betriebsversammlung, Z Follower:innen auf der Instagramseite). Diese Ziele werden als Strukturtests bezeichnet und bestimmen den Kampagnenfahrplan, der zumeist als eine Art Mapping bei einem Workshop erstellt wurde und nach einem Strukturtest aktualisiert werden muss. Strukturtest bedeutet nicht prinzipiell der Aufbau betrieblicher Kampfstrukturen. Es stellt sich immer die Frage der Zweckmäßigkeit. Eine Urabstimmung über die Durchführung eines Arbeitskampfes oder über dessen Fortsetzung ist immer eine Frage der Kampfperspektive, mit der diese eingebracht wird. Auch die regelmäßigen „Strukturtests“ die beispielsweise die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im TV-G (Tarifvertrag-Gesundheitsschutz) bisher absolvierte, mit monatlichen Streiktagen ohne Verhandlungsfortschritt oder Veränderung der Streiktaktik können zur Schwächung statt zum Strukturaufbau führen.

Organische (An-)Führer:innen sind Kolleg:innen oder Teile einer Community, die eine zentrale Rolle in den jeweiligen Netzwerken spielen. Auch dies Konzept ist an und für sich nützlich. So schlägt McAlevey vor, sich nicht ausschließlich auf die etablierten Kontakte zu stützen, sondern auf sogenannte organische Führer:innen. Verkürzt gesagt, soll auf jene Kolleg:innen der Fokus gelegt werden, die Gehör unter den anderen finden, Vertrauen genießen, gewissermaßen beliebt sind anstatt der reinen Gewerkschaftsmitgliedschaft oder etwaiger Stellungen (bspw. Betriebsrat, Vertrauenskörpermitglied). In gewissem Sinne handelt es sich um die Suche nach charismatischen Führer:innen.

Der Begriff der charismatischen Führung ist jenem der charismatischen Herrschaft entlehnt. Er findet sich u. a. theoretisiert bei Max Weber. Bei ihm lautet es: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 2005, S. 38)[v]. Weber benennt darüber hinaus drei Formen der Herrschaft, die traditionale, die legale und die charismatische. Letztere ist eine Qualität der Persönlichkeit, steht und fällt aber auch mit ebenjener. Charismatische Führer:innen zu gewinnen, wird dabei in den ersten Phasen des Organizings als weitaus zentraler als der Aufbau von Strukturen oder die Gewinnung deutlich mehr neuer Gewerkschaftsmitgliedern betrachtet. Die lebendigen Beschreibungen, die McAlevey beispielsweise in ihrem Buch „Macht. Gemeinsame Sache. – Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie (sic!)“ liefert, zeigen, dass teilweise Versuche, gewerkschaftsfeindliche Kolleg:innen zu gewinnen, gelangen. Umgekehrt schafften es aber auch die professionellen Union-Busting-Unternehmen teilweise, gewerkschaftsnahe Kolleg:innen auf ihre Seite zu ziehen. In den USA treten Organizing- und Union-Busting-Firmen gewissermaßen als Zwillingsgesichter zweier gegensätzlicher Interessen auf, eine im Sinne der Gewerkschafts-, die andere im Sinne der Unternehmensführung.

All diese Beschreibungen sind hoch interessant, geben praktische Tipps für Organizer:innen, doch eine wichtige Frage werfen sie nicht auf. Organische Führer:innen zu sein, sagt noch wenig über den Inhalt der Führung aus. Die Auswahl der Führung durch vom Gewerkschaftsapparat angeheuerte Organizer:innen sagt aber zugleich etwas über deren tendenzielle Perspektive aus. Organische Führer:innen, die sich aus ihrer Opposition auf Betriebsversammlungen heraus bekanntmachen, die über Wochen, Monate und Jahre für die Durchsetzung von Streikzielen ringen, sind etwas anderes als charismatische Individuen, die von Gewerkschaftsbürokrat:innen beauftragt werden, Führer:innen zu sein.

Jedoch steht sich dies nicht prinzipiell entgegen. Was zusätzlich Einfluss nimmt, ist die Frage: Wem gegenüber besteht hier Rechenschaft oder auch wer ist Ross und wer Reiter:in? Durch Organizer:innen bestimmt zu werden, etwas aufzubauen, hat eine andere Wirkung, wenn eine Kolleg:in ausgewählt wird, weil sie eine bestimmte Kampfperspektive vertritt oder sich in einem Kampf gegen die Bosse bewährt hat. Beim aktuellen Organizing nimmt die Gefahr zu, dass die handverlesene organische Führer:in im Zweifel eher mit den Gewerkschaftsbürokrat:innen als gegen sie stimmt. An und für sich ist auch eine charismatische Führung nicht demokratisch legitimiert, wobei – und das wiederholen wir – sich Charisma und Legitimität nicht prinzipiell entgegenstehen müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Konzept der organischen Führung jenes der demokratischen Kontrolle tendenziell vermeidet.

Grenzen der Demokratie und politischen Ziele

Die Frage der Demokratie tritt jedoch nicht gänzlich in den Hintergrund. Die Kolleg:innen sollen die verschiedensten Phasen der sichtbaren Kampagne durch ihre Beteiligung und demokratische Mitbestimmung durchaus prägen. Dieses Vertrauensverhältnis, das das Organizingkonzept aufzubauen versucht, ist bis zu einem gewissen Grad ein Fortschritt, denn es bezieht kämpfende Arbeiter:innen in die Entscheidungen besser ein. Die Krankenhausbewegung an den Unikliniken in NRW war hier ein gutes Beispiel. Der „Rat der 200“ war eine Art der demokratischen Entscheidungsstruktur des Arbeitskampfs durch die Belegschaft und ein Vorteil gegenüber jeder von oben eingesetzten Tarifkommission.[vi]

Aber die Demokratie hat ihre Grenzen im Konzept. Kritisch wird’s, wenn es um die Frage der Demokratisierung der Gewerkschaften auch über den Arbeitskampf hinaus geht oder wenn eine andere Richtung als jene des Apparates eingeschlagen werden soll. Denn schlussendlich handelt es sich nicht um gewerkschaftliche Basiseinheiten, die aufgebaut werden, die demokratische Kontrolle übernehmen könnten und sollten, sondern um eine Art befristeten, vom Apparat finanzierten und kontrollierten Projektes. Als zugespitzte Form dessen finden in den USA teilweise Pitchformate statt, bei denen Organizer:innen vor Gewerkschaftsbürokrat:innen in kurzer Zeit Potenziale dieser und jener Projektförderung darstellen, die nach Kosten und Möglichkeiten kalkuliert und dann aus der Gewerkschaft outgesourct abgehandelt werden – eine Form des New Public Managements in den Gewerkschaften.

McAlevey, aber auch andere Vertreter:innen dieser Neuausrichtung argumentieren nicht dafür, dass die organischen Führer:innen auch in den Gewerkschaften Fuß fassen sollen oder dass hier die strategische Erneuerung stattfinden solle. Denn das sei Aufgabe des Strategic Unionising, wofür hochprofessionelle (zumeist) Hauptamtliche nötig seien. Die Grenze zwischen Organizing und Strategic Unionising bildet gewissermaßen das Werkstor. Dafür soll eine Definition des Organizing von der ver.di-Sekretärin Agnes Schreieder exemplarisch dienen. Sie schrieb 2005 „Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb“[vii]. Das Zitat spielt a das Betriebsverfassungsgesetz an (BetrVG). In diesem wird das sogenannte Zwei-Säulen-Modell von betrieblicher und tariflicher Autonomie der Mitbestimmung fixiert. Ersteres ist Aufgabe von Betriebsräten,Zweiteres von Gewerkschaften – eine Einmischung findet formal (!) nicht statt. Netter kann also nicht gesagt werden, dass jedwede Demokratie nicht prinzipiell auf die Gewerkschaft zurückwirkt. Die Debatte der gewerkschaftlichen Erneuerung muss aber über Programm, Rolle und Funktion der Gewerkschaftsbürokratie stattfinden.

Als Letztes wollen wir kurz den Mehrheitsstreik anschneiden. Demnach soll es erst in die Arbeitsniederlegung gehen, wenn eine Mehrheit der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. Schauen wir uns Deutschland an, so sind 2019 knapp 45,3 Millionen Menschen lohnabhängig gewesen. Mit dieser Zahl lässt sich zwar nicht hinreichend die Größe der Arbeiter:innenklasse verstehen, aber sie ist ein erster Indikator. Wir müssen uns ehrlich eingestehen, dass selbst in Deutschland, einem Land mit relativ großen Gewerkschaften, diese nie die Mehrheit der Klasse organisierten. Auch zeigt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst, dass sie (hier ver.di) in der Aktion einen Großteil ihrer Mitglieder gewinnen. Die Orientierung auf Mehrheitsstreiks mag in den USA eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der schlechteren Arbeitsrechte sein, jedoch spielt auch die Frage der Bündnisfähigkeit hier mit hinein, wofür die mächtigste Waffe, der Schock in der Wertschöpfung, zu einer Maxime wird.

Besonders problematisch wird der Maßstab des Mehrheitsstreiks jedoch, wenn wir über den Rahmen des gewerkschaftlichen Kampfes hinausgehen. Ein Organisationsgrad von 50 % der Klasse ist im Kapitalismus immer die Ausnahmeerscheinung. Demzufolge können politische Massen- oder Generalstreiks fast nie stattfinden – oder hätten faktisch unterlassen werden müssen. In Wirklichkeit zeigen sich hier besonders deutlich die politischen Grenzen des Organizingkonzepts, das nicht auf eine politische Konfrontation mit der herrschenden Klasse und deren Sturz, sondern auf bessere Bedingungen des ökonomischen Kampfes zielt. Das System der Lohnarbeit selbst wird nicht in Frage gestellt.

Wer ist eigentlich Organizer:in?

Wie wird man es und wichtiger, wie bleibt man es? „Wer erzieht die Erzieher:innen?“ Organizing übt eine gewisse natürliche Attraktivität aus. Es stellt zumeist für studierte Aktivist:innen, die bisher in betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen wenig systematisch Fuß gefasst haben, eine Möglichkeit dar, gegenüber beispielsweise der Arbeiter:innenklasse und der strukturellen Krise ihrer größten Organisationen, der Gewerkschaften, aktiv zu werden. Dieses Verhältnis wird durch den Gewerkschaftsapparat eingeleitet und entspringt selten einer zuvor bestehenden Verknüpfung zu betrieblichen Aktiven. In seiner zugespitzten Form sind die Organizer:innen Vermittler:innen zwischen Gewerkschaft und ihrer (potenziellen) Mitgliedschaft im Interesse und materiell abhängig von Ersterer. Eine Untersuchung der Arbeit von Organizer:innen wäre eine eigene Aufgabe. Wir haben in der Vergangenheit schon Berichte gehört von überarbeiteten Organizer:innen, die faktisch als Leiharbeiter:innen durch Subunternehmen bei der Gewerkschaft beschäftigt und dort verheizt werden. Allein aus dieser Konstellation heraus ist es wenig verwunderlich, dass die dauerhafte lebendige Beziehung zwischen organischen Führer:innen und Gewerkschaften vielleicht noch aufrechterhalten bleibt, ob dies für die organizten demokratischen Entscheidungsstrukturen gilt, ist wohl ein seltener Glückswurf.

Organizing versus Mobilizing versus Advocacy

McAlevey skizziert drei verschiedene Ansätze im Kampf gegen ein soziales Problem bei ungleichen Machtverhältnissen: Advocacy, Mobilizing, Organizing. „Advocacy bezieht letztlich gar keine normalen Leute ein; stattdessen werden AnwältInnen, MeinungsforscherInnen, WissenschaftlerInnen und PR-Agenturen damit beauftragt, den Kampf zu führen.“ (McAlevey 2019, S. 34)[viii]. Ein Ansatz, der in dieser Debatte keine große Unterstützung findet, da er auf die Einbeziehung einer breiten Masse verzichtet. Es lässt sich auch klassisch als Stellvertreter:innenpolitik bezeichnen.

Der Mobilizingansatz bezieht hingegen große Menschenmassen in seine Aktionen mit ein, jedoch oftmals dieselben engagierten Aktivist:innen, die ohne großen Rückhalt in ihrem tagtäglichen Umfeld agieren und wie per Knopfdruck von Hauptamtlichen für einen kurzen Zeitpunkt abberufen werden (mobilisiert). Ein praktisches Beispiel wäre eine Antifaaktion in einer Gegend, in der keine Verankerung besteht. Dorthin wird mobilisiert, dann findet eine Aktion statt (bspw. Blockade eines Naziaufmarschs) und danach sind alle wieder weg. Zu guter Letzt das Organizing. McAlevey malt dieses natürlich in den hellsten Farben. Im Zentrum steht die Einbeziehung von Personen, die zuvor kaum oder überhaupt nicht aktiv waren. „Im Organizing-Ansatz bilden spezifische Ungerechtigkeiten und die Empörung darüber die unmittelbare Motivation zur Aktivierung, allerdings ist das letztendliche Ziel die Übertragung der Macht der Eliten auf die Mehrheit, von dem einen auf die 99 %.“ (ebd., S. 35).

Exkurs: Die populare Klasse

Mit 99 % stellt sich schnell die Frage des Subjekts. Schlussendlich ist das Organizing kein rein gewerkschaftliches Programm zum Organisationsaufbau, sondern entspringt dem US-amerikanischen Community-Organizing-Ansatz. In den verschiedensten Texten stolpert man dabei über den Begriff der popularen Klasse. Beispielsweise bei Thomas Goes, der für einen Machtblock von unten wirbt und zusammen mit Violetta Bock im Umfeld der Bewegungslinken oder der Kampagne Organisieren, Kämpfen, Gewinnen (OKG) Einfluss nimmt. Oder Jana Seppelt und Kalle Kunkel, beide (ehemalige) ver.di-Gewerkschaftssekretär:innen und an der Schnittstelle zu sozialen Bewegungen – Seppelt ist zusätzlich stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN. Die beiden schreiben in ihrem Aufsatz „Was Organizing (nicht) ist“ von massenhaften und kollektiven Aktionen als einer zentralen Machtressource der popularen Klassen (Vgl. Kunkel/Seppelt 2022)[ix]. Diese Öffnung des Klassenbegriffs von einem im Wesen des Kapitalismus verankerten Ausbeutungsverhältnis weg und hin zu einem in seiner Erscheinung auftretenden Unterdrückungsverhältnis als Begriff der Empörten eines Volkes ist dem Ansatz bereits eingeschrieben.

In den Debatten werden Organizing und das sogenannte Mobilizing oftmals entgegengestellt. Das entspringt einer Kritik an Saul Alinsky, einem Wegbereiter des Community Organizings. Alinsky, vor allem in Chicago tätig, war von zwei wesentlichen Einflüssen geprägt: der Chicagoer Schule (der Soziologie) speziell von Ernest Burgess und dessen Aufsatz „Can Neighboorhood Work Have a Scientific Basis?“ – eine Debatte, inwiefern der Communitybegriff als Ersatz für den der Klasse verwendet wird, wird hier ausgespart – und den Thesen des Gründers des Gewerkschaftsbundes CIO (Congress of Industrial Organizations) John L. Lewis. Die frühe CIO arbeite bereits mit Konzepten wie dem Mehrheitsstreik, organischen Führer:innen und Strukturtests. Jane McAlevey widmet der CIO, Lewis und Alinsky ein ganzes Kapitel in ihrem zweiten Buch „Keine halben Sachen“ (2019). Während sie Lewis die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Organizingmodells attestiert, der angesichts des sich etablierenden Fordismus auf die Gewinnung un- und angelernter Arbeiter:innen setzte, wirft sie Alinsky dessen Entstellung vor. Dessen Organizing sei vor allem Mobilizing gewesen und in der Mehrheit der US-amerikanischen Gewerkschaften seien bis heute die Advocacy- und Mobilizing-Ansätze dominant. Alinsky entstelle das Organzingmodell der CIO an drei Punkten:

Erstens löse er die Organizingmethoden von den Motivationen der Organizer:innen ab und öffne sein Modell für „eine Eliten-zentrierte Machttheorie“ (McAlevey 2019, S. 67). Zweitens beschreibt sie ihn als Feind strategischer Bündnispolitik, da er sich alleinig auf die „Community“ der unqualifizierten Arbeiter:innen bezog und somit nicht auf die Betriebe, um dort den Schulterschluss mit angelernten und höherqualifizierten Arbeiter:innen zu suchen. Drittens ging das Konzept davon aus, dass die hauptamtlichen Organizer:innen prinzipiell ihren Basismitgliedern unterstellt seien und deswegen keine Rechenschaft über ihre Entscheidungen ablegen müssten, da sie sowieso dem Willen ihrer „Leaders“ (der Basis) folgten. In der Realität sah dies umgekehrt aus.

Warum der Exkurs? McAlevey unterstellt zwei Kräften eine Revitalisierung des Lewis-Alinsky’schen Ansatzes seit Mitte der 1990er Jahre, den Kräften rund um New Labour und den Demokrat:innen unter Obama und Hillary Clinton. Gegen diese beiden Richtungen versucht sie dementsprechend, in den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei zu agieren. In Letzterer ist McAlevey im Übrigen Mitglied. Die in linken Kreisen bekannteste Organizingkampagne, die ihren Zielen eher entspricht, unter den Demokrat:innen ist die von Alexandria Ocasio-Cortez (AOC).

Organizing als … politisches Programm

Wichtig bleibt zu verstehen, dass das Organizing keine Perspektive für eine antibürokratische klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition aus sich heraus darstellt. Pointiert formuliert ist Organizing ein Werkzeugkasten, mit dem sich linke Bürokrat:innen, die zumeist weitläufige Erfahrungen in sozialen Bewegungen statt betrieblichen Kämpfen aufwiesen, unter Beweis stellen können (Strukturtest), dass ihre Konzepte neue Mitglieder in die Gewerkschaften bringen können, ohne eine grundlegende Opposition gegenüber der Struktur der Gewerkschaften darzustellen. Revolutionäre Antibürokrat:innen dürfen daher nicht beim Organizing stehenbleiben. Sie müssen sich der hilfreichen Elemente bedienen und zugleich den Kampf um Demokratisierung weg von der Illusion einer demokratischen Mitbestimmung inmitten der Klassengesellschaft in einen der Demokratisierung der Kampforgane der Klasse umwandeln. In diesem Sinne können wir vom Organizing Kampfmethoden, angereichert durch technische Kniffe und die sogenannten Social Skills, erlernen. Doch Organizing als reine Form zu verstehen und dessen programmatischen Kern zu ignorieren, bedeutet immer auch eine Kapitulation vor der bestehenden Führung der Klasse und eine Blindheit vor den Sackgassen, in die sie uns führen.

Doch ist es die Gewerkschaftsbürokratie als Teil der Arbeiter:innenbürokratie, die ihr Ziel nicht in der Überwindung der Klassengesellschaft sieht, sondern in der Vermittlung gegensätzlicher Interessen, im „gerechten“ Ausgleich zwischen den Klassen. Daher ist sie materiell an den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat gebunden. Dies ist ein den objektiven, historischen Interessen der Arbeiter:innen fremdes und gilt, bekämpft zu werden. Das Organizing versucht zwar, unsere Klasse in Bewegung zu bringen. So weit, so gut! Doch zugleich bleibt diese Bewegung im Rahmen des Kapitalismus.

Dass McAlevey diese Frage nicht stellt, kann ihr nur bedingt vorgeworfen werden. Schlussendlich ist sie Teil der und Ideologin der Bürokratie. Das wird deutlich, wenn wir ihre Zieldefinition des Organizings lesen. So schreibt sie: „Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen – oder aber uns von der Demokratie verabschieden.“ (McAlevey 2021, S. 8)[x].

Schlussendlich geht es dem Organizing nicht um den Untergang der herrschenden Ordnung, sondern um deren Verbesserung. Das Konzept läuft auf die Überzeugung oder bestenfalls Isolation des/r politischen Feind:in hinaus, jedoch nicht auf die Vernichtung seiner/ihrer gesellschaftlichen Grundlage (Schlagwort: Eigentum und Verfügung). Statt materielle Gewalt auszuüben mit dem Ziel des Erzwingens, ist hier die oberste Maxime der Appell als moralische Kategorie des gesunden Menschenverstandes.

Der Machtressourcenansatz: die Theorie hinter dem Organizing?

In den Ursprüngen des Organizing wurde ein doppelter Einfluss beschrieben, der einerseits den gewerkschaftlichen Debatten entsprang, die nach Konzepten für neue Herausforderungen suchten (damals: Fordismus, heute: gewerkschaftlicher Mitgliederverlust) und andererseits seine Bestätigung in den Konzepten sozialwissenschaftlicher Debatten suchte. Damals war dies die Chicagoer Schule, heute tritt zumindest in Deutschland der sog. Machtressourcenansatz an diese Stelle. Im Folgenden soll daher der Ansatz von Dr. Stefan Schmalz (Uni Erfurt) und Prof. Dr. Klaus Dörre (Uni Jena) beschrieben werden.[xi]

Vergleichbar mit der Chicagoer Schule pflegen auch diese Wissenschaftler:innen ein offenes, beratendes Verhältnis zu den praktischen Organizer:innen, wie die Machtressourcenkonferenz vom April 2022 zeigt. Diese wurde vom Bereich Arbeitssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.[xii] Unter dem Einfluss dieser Konferenzen und ihrer Akteur:innen stehen die bisherig aufgezählten deutschsprachigen Autor:innen. Thomas Goes ist beispielsweise im Forschungsverbund von Dörre, Jana Seppelt war Sprecher:in auf der Konferenz.

Bevor der Ansatz vorgestellt wird, soll schemenhaft der Kapitalbegriff Pierre Bourdieus erwähnt werden. Der französische Soziologe gilt als poststrukturalistischer Neomarxist. Sein Kapitalbegriff ist jedoch grundsätzlich verschieden vom marxistischen. Bourdieu unterscheidet vier verschiedene Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles, symbolisches und soziales Kapital. Sie sind ineinander transformierbar, wobei das ökonomische Kapital primär ist (vgl. Bourdieu 2016, S. 11)[xiii]. Er befasst sich jedoch weniger mit der Genese als mit der ungleichen Verteilung besagten Kapitals. Kapital wird bei Bourdieu zwar als akkumulierte Arbeit (ähnlich der geronnenen Arbeit bei Marx) bezeichnet, jedoch nicht prinzipiell aus einem Ausbeutungsverhältnis hergeleitet. Ähnlich wie bei anderen postmodernen Denker:innen seiner Zeit symbolisiert für ihn Kapital kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern eine Kategorie von Macht. Um beispielsweise soziales Kapital zu reproduzieren, bedarf es der stetigen Pflege sozialer Beziehungen. Während der Marx’sche Kapitalbegriff auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft fußt, ist das Bourdieu’sche Kapital durch persönlichen Einsatz reproduzierbar. Kapital bei Marx ist also ein Ausbeutungsverhältnis, bei Bourdieu eine Ressource unter vielen. Bourdieus Kapitalbegriff ist faktisch primär in der Zirkulationssphäre und der Öffentlichkeit angesiedelt.

Mit diesem gewappnet gehen die Autor:innen vor, wenn sie dem Machtressourcenansatz anhängen. Sie entwickeln vier verschiedenen Formen: strukturelle, Organisationsmacht, institutionelle und, etwas quer dazu, gesellschaftliche Macht. Ausgangsthese ist, dass Lohnabhängige in Aushandlungen „durch kollektive Mobilisierungen von Machtressourcen ihre Interessen erfolgreich vertreten können“ (Schmalz/Dörre 2014, S. 211). In einer gewissermaßen linearen Reihenfolge stehen dabei die ersten drei Machtressourcen. Die strukturelle Macht entspringt der Stellung von Arbeiter:innen in der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, die Organisationsmacht ist Ausdruck des kollektiven Zusammenschlusses in ihren Organisationen. Bis hierin erinnert das Konzept noch an Marx. Der grundlegende Unterschied wird jedoch deutlich, wenn es nun zur Frage der Zwecksetzung kommt.

An dieser Stelle kommt die institutionelle Macht ins Spiel. Diese zielt auf die Möglichkeit des zeitlichen Fortbestehens sozialer Kompromisse. In diesem Sinne muss Organizing als Aufbau von Organisationsmacht (Gewerkschaften), die aus der strukturellen Macht der Klasse folgt (Stellung im Wertschöpfungsprozess und der ständigen Herausforderung durch ihre sozialen Errungenschaften) mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der institutionellen Macht (beispielsweise der Sozialpartner:innenschaft) verstanden werden.

Dieses Programm wird durch überhöhte Argumente für ein damit zusammenhängendes Gemeinwohl anstelle der Unvereinbarkeit widersprüchlicher Interessen begründet, also mit der Kategorie gesellschaftlicher Macht in ihren Unterformen der Kooperations- und Diskursmacht. Schauen wir uns, um plakativ zu sein, einmal die Slogans von Organizingkampagnen an: Krankenhausbewegung – Mehr von uns ist besser für alle; TV-Stud – Ohne uns läuft hier nix, gebt uns unsre Kohle fix; Service Employees International Union – Justice for Janitors.

Es geht darum, das eigene Interesse als ebenfalls legitim zu markieren und dafür breite (also klassenübergreifende) Bündnisse zu schmieden. Zumeist werden dafür die weiterreichenden Ziele aufgegeben (es muss realistisch sein). Unter der Überschrift eines gerechten Ausgleichs lassen sich verschiedene bürgerliche Ideologien zusammenfassen, sowohl solche, die in der Arbeiter:innenbewegung verankert sind (Reformismus) als auch bürgerlich liberale Konzeptionen (bspw. John Stuart Mills Lohnfonds). Und damit ist auch das Problem skizziert. (Transformative) Organizingansätze zielen auf die Erreichung eines Bewusstseins für einen gesellschaftlichen Kompromiss ab, dieser ist immer einer zwischen antagonistischen Klassen. Das Programm des Organizing stellt sich also nicht die Frage, inwiefern der ursprüngliche Kompromiss (die Sozialpartner:innenschaft in Deutschland) notwendig selbst zum Niedergang der eigenen Basis führen musste und auch bei den besten Organizingkampagnen wieder führen wird. In diesem Sinne ist Organizing ein gefährliches Amalgam aus bürgerlichen Ideologien.

Doch warum jetzt? Oder: Wann, wenn nicht wir?

Mit einer These hat der Text angefangen, konkret mit dem Schrumpfen der Organisationsmacht der Gewerkschaften in Deutschland (Mitgliederzahlen). Andererseits beobachten wir als Folge der Agenda 2010, aber auch beispielsweise der Digitalisierung der Arbeitswelt (Plattformökonomie usw.) eine Zunahme nicht gewerkschaftlich erschlossener Bereiche, während zugleich der Caresektor massiv und nicht erst seit der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen hat. Über Organizingkampagnen, aber auch außerhalb dieser konnten wir neue kampffähige Sektoren der Arbeiter:innenbewegung sehen, die nicht so einfach ins Ausland verlagert werden können. Zur selben Zeit erleben wir eine Tendenz der Deglobalisierung und des Umbaus ganzer Wertschöpfungsketten, teilweise zurück in die imperialistischen Zentren selbst. Die neuen Sektoren zu erschließen und für ein Programm des Klassenkampfes zu gewinnen, ist also das Gebot der Stunde.

Aber das Organizing gerade in seiner linken Form verbleibt dabei im Rahmen eines bürgerlich-reformistischen Verständnisses von Klassenbeziehungen und des -kampf. Es erkennt wie andere reformistische Kräfte den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital durchaus an. Aber es will nichts wissen von seiner revolutionären Aufhebung.

So sinnvoll daher auch einzelnen Organizingtechniken sind – so grundlegend müssen Revolutionär:innen dieses strategische Konzept und das damit verbundene gewerkschaftliche und reformistische Programm ablehnen. Es entspricht der Stellung und den Zielen der (linken) Bürokratie, linker reformerischer und populistischer Kräfte und findet daher auch seine Grenzen, wenn der politische Horizont bürgerlicher Reformpolitik überschritten werden soll.

Dann wendet sich die ganze Organizingprogrammatik letztlich gegen eine klassenkämpferische, demokratische und antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter:innenorganisationen. Der Aufbau eine klassenkämpferischen Basisbewegung und erst recht kommunistischer Fraktionen in den Gewerkschaften steht dem Gesamtkonzept diametral entgegen. Das wirkliche Gespenst, das nicht nur durch die Gewerkschaftshäuser geistert – bleibt das des Kommunismus.


Endnoten

[i] https://www.rosalux.de/o4p (abgerufen am 18.04.23)

[ii] Rehder, Britta (2014): Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. S. 241-264.

[iii] Mann, Eric (2011): Transformatives Organizing. Praxistheorie und theoriegeleitete Praxis. https://www.rosalux.de/publikation/id/5259/transformatives-organizing (abgerufen am 18.04.23)

[iv] Suchanek, Martin (2016): Zur „Revolutionären Realpolitik“ der Linkspartei. Revolution oder Transformation. In: Neue Internationale 215. https://www.arbeitermacht.de/ni/ni215/luxemburg.htm (abgerufen am 18.04.23)

[v] Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Berlin: Zweitausendeins.

[vi] Hier ein Bilanzartikel von uns: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/

[vii] Schreieder, Agnes (2005): Organizing. Gewerkschaft als soziale Bewegung. Berlin: ver.di Eigenverlag.

[viii] McAlevey, Jane (2019): Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA Verlag.

[ix] Kunkel, Kalle und Seppelt, Jana (2022): Was Organizing (nicht) ist. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/was-organizing-nicht-ist/ (abgerufen am 18.04.23)

[x] McAlevey, Jane (2021): Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie. Hamburg: VSA Verlag.

[xi] Schmalz, Stefan und Dörre, Klaus (2014): Der Machtressourcenansatz: Ein Instrument zur Analyse

gewerkschaftlichen Handlungsvermögens. In: Industrielle Beziehungen, 21(3). S. 217-237.

[xii] https://www.machtressourcen-konferenz.de/ (abgerufen am 18.04.23)

[xiii] Bourdieu, Pierre (2016): Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.




Droht eine neue Bankenkrise?

Markus Lehner, Neue Internationale 272, April 2023

Am 8. März verkündete die Silicon Valley Bank (SVB), dass sie 2 Milliarden US-Dollar über eine Kapitalerhöhung einholen wolle, um Verluste in ihren Vermögenswerten auszugleichen. Nachdem dadurch bekannt wurde, dass die Bank mehr als die Hälfte ihres Vermögens in langfristige Staatsanleihen angelegt hatte, die massiv an Wert verloren haben, brach unter den Kontoinhaber:innen Panik aus. Die 16.-größte US-Bank, die vor allem für viele Kund:innen aus dem Technologiebereich eine wichtige Dienstleisterin war, verzeichnete massiv Einlagen oberhalb der staatlichen Garantie von 250.000 US-Dollar. Jede/r davon wollte so schnell wie möglich ihre/seine Werte sichern. Innerhalb von nur 40 Stunden verschwanden so 42 Milliarden US-Dollar aus den Büchern der Bank – eine Hightechvariante des „Bankenruns“ über Twitter und Onlinetransfers, der innerhalb von wenigen Stunden ein Viertel der Bilanzsumme der Bank in Luft auflöste. Schon am 10. März erklärte die US-Finanzaufsicht die Bank für zahlungsunfähig.

Ausbreitung der Bankenkrise

Anfänglich wirkte dies wie ein lokales Ereignis, das sich auf Managementfehler einer einzelnen Bank zurückführen ließe. Doch schnell wurde klar, dass auch andere Banken in den USA zu schwanken begannen. Insbesondere solche mit Transfergeschäften in Kryptowährungen gerieten ebenso in Schieflage wie einige mittelgroße, die ähnliche Probleme mit ihren Vermögenswerten hatten wie die SVB, z. B. die First Republic. Dies schlug sich schnell in weiterem Kapitalabfluss und sinkenden Börsenkursen für Bankaktien nieder. Innerhalb nur einer Woche nach der SVB-Pleite verloren die US-Banken 229 Milliarden US-Dollar an Marktwert (– 17 %). Immer noch verkündeten die politischen Führungen in den USA und der EU, dass es sich um nichts mit 2008 Vergleichbares handle, dass die Regularien, die nach 2008 eingeführt wurden, wirken würden und sich alles schnell wieder entspannen werde.

Dann kamen schlechte Nachrichten aus dem Paradeplatz in Zürich, dem Sitz einer der beiden Großbanken der Schweiz, der Credit Suisse (CS). Angesichts ihrer nicht gerade rosigen Ertragslage (4 Verlustquartale in Folge) suchte auch sie angesichts der Erschütterungen des Bankensektors, sich durch eine Kapitalerhöhung abzusichern. Am 15. März wurde jedoch bekannt, dass einer der Hauptinvestoren in die Bank aus Saudi-Arabien nicht bereit war, ihr beizustehen. Prompt wurde Kapital in großen Mengen von der Bank abgezogen. Auch die Aussagen der Regulator:innen, der Bank beizustehen, bzw. die Bereitstellung eines 54 Milliarden US-Dollar-Kredits durch die Zentralbank führten nicht zu einer Beruhigung der Lage. Eine drohende Pleite der CS hätte nicht mehr wie bei der SVB durch die Finanzbehörden eingedämmt werden können.

Die CS gehört zu den 30 globalen Großbanken, die als „too big to fail“ eingestuft werden – die also mit so vielen Firmen und anderen Großbanken durch wechselseitige Verbindlichkeiten verbunden ist, dass es zu einem Systemcrash wie 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers gekommen wäre. Innerhalb von nur 4 Tagen wurde daher durch Bundesregierung und Schweizerische Nationalbank eine Notübernahme durch die andere Schweizer Großbank, die UBS, vermittelt. Eine Fusion, die sonst Jahre an Vorbereitung erfordert, wurde in wenigen Tagen so durchgeführt, dass für einen Zusammenbruch der CS keine Zeit mehr da war und die Anleger:innen erstmal beruhigt werden konnten. Die Verschiebung des Problems auf die UBS, die jetzt wider Willen mit den gigantischen Risiken der CS zurechtkommen muss, zeigt, welche Nervosität an den Schaltzentralen des großen Kapitals vor einer erneuten Erschütterung der Weltwirtschaft wie 2008 herrschte – und das angesichts der schon sowieso angespannten Weltlage nach der Pandemiekrise, dem Ukrainekrieg, den wachsenden Spannungen mit China, der fortdauernden Inflation und den Folgen der Klimakrise bzw. der damit verbundenen Energiekrise.

Von den Regierungen und Zentralbanken wird immer wieder betont, wie anders die Situation sei als 2008. Damals war die Krise durch den Totalverlust von in Wertpapiere verbrieften privaten Schulden und die mangelnde Eigenkapitalabsicherung insbesondere bei Investmentbanken zustande gekommen. Seitdem habe man Regulierungen eingeführt (Basel III), die solche Produkte und solch riskantes Kapital/Risiko-Verhältnis im Bankengeschäft unterbinden würden. Die jetzige Krise sei durch einzelne Verfehlungen, Rückschritte bei den Regulierungen etwa unter Trump bzw. durch ein zu spätes Reagieren auf die Zinswende der Zentralbanken zustande gekommen. Alles Faktoren, die durch entsprechende Maßnahmen der Finanzbehörden und der Zentralbanken rasch in den Griff zu bekommen seien.

Gründe für die gegenwärtige Krise

Bekanntlich hatte Marx in seiner Analyse der Finanzkrisen 1847 und 1857 festgestellt, dass jede solcher Krisen immer ihre ganz eigene Geschichte und Erscheinungsform hat, die immer ganz anders auszufallen scheint – um letztlich doch auf dieselben Probleme in der realen Akkumulation des Kapitals zurückzuführen zu sein. Gehen wir also zunächst auf die Gründe für die gegenwärtige Krise in ihrer unmittelbaren Form ein, um dann auf die Zusammenhänge mit der allgemeinen Krisentendenz zu kommen.

Nach der Finanzkrise 2008 betrieben die Zentralbanken eine Politik des „billigen Geldes“ (QE, Quantitative Easing) – sowohl durch niedrige Zinsen, Aufkäufe von Anleihen und anderen Wertpapieren als auch durch Expansion von niedrig verzinsten Staatsanleihen. Banken konnten dadurch ihr stockendes Kreditgeschäft weder in Gang bringen und somit das Wachstum der westlichen Wirtschaften, wenn auch auf historisch sehr niedrigem Niveau, über das 2010er Jahrzehnt aufrechterhalten. Im Allgemeinen stand damit den Einlagen und dem Kapital einer Bank gegenüber ein Mix aus „superstabilen“ Staatsanleihen, Immobilienkrediten (abgesichert durch wieder steigende Immobilienpreise) und den Krediten in anderen Bereichen. Die zum Teil riskanten Kredite (z. B. in die „Zombiefirmen“) schienen mehr als abgesichert durch den höheren Anteil an „sicheren Vermögenswerten“.

Mit der Coronakrise, der Lieferketten- und Kapazitätsausfälle, der nochmals gestiegenen Schuldenprobleme und der  wieder enorm zunehmenden Inflation kam es seit 2022 zur Abkehr von QE und einer Politik des „Quantitative Tightening“ (QT). Die Anleihekäufe wurden gestoppt, die Zinsen für Zentralbankkredite schrittweise erhöht und die Ausgabe von Staatsanleihen wieder mit Zinserträgen verbunden. In der Folge steigen Kreditkosten wieder, Immobilienpreise beginnen zu sinken und Anleihekurse, insbesondere für langfristige Staatsanleihen fallen (der „Wert“ eines Anleihepapiers berechnet sich aus der Abzinsung des Rückzahlungsbetrags zum jeweils gegenwärtigen Zinssatz). Alle diese Faktoren bedeuten, dass Vermögenswerte der Banken eigentlich neu berechnet werden müssten – bei den Anleihewerten ganz offensichtlich (teilweise auf 20 % gefallen), ebenso aufgrund der höheren Ausfallwahrscheinlichkeit von Firmenkrediten angesichts erhöhter Insolvenzgefahren und von Immobilienkrediten aufgrund der sinkenden Erträge aus dem Immobiliengeschäft.

Tatsächlich verhielt sich die Mehrheit der Banken aber so, als ob sie weiterhin in einem Umfeld wachsender Liquidität arbeiten würden und setzten ihre Anlagepolitik fast unverändert fort – mit ein Grund, warum die Wende zu QT wenig Wirkung auf das Inflationsgeschehen hatte. Um die Dimension des Problems aufzuzeigen, hier die konkreten Zahlen zur Bilanz des US-Bankensektors:

Den Einlagen der US-Bankkund:innen von 19 Billionen US-Dollar und dem Eigenkapital von 2 Billionen stehen als Vermögenswerte (nach nomineller Berechnung) 3,4 Billionen in Cash, 6 Billionen in Staatsanleihen und Immobilienkrediten sowie 11 Billionen in anderen Krediten gegenüber (noch ergänzt um etwa 3 Billionen in anderen Vermögenswerten bzw. Verbindlichkeiten auf beiden Seiten). Allein der Wertverlust der Anleihepapiere bedeutet, dass der Wert derselben bei Verkauf um 620 Milliarden niedriger ist als ihr nomineller – was bei einem Bankenrun, der die Cashreserven übersteigt, durch Notverkäufe von Anleihepapieren sofort wirksam wird. Eine Studie von Finanzwissenschaftler:innen der University of Southern California (die The Economist vom 18.3. zitiert) kommt zu dem Schluss, dass die Bewertung der Vermögenswerte der US-Banken tatsächlich um 2 Billionen nach unten berichtigt werden muss. D. h., im Fall eines Bankenruns würde die Eigenkapitaldecke der US-Banken nach Auflösung der Vermögenswerte praktisch ausgelöscht werden. Im Unterschied zum Tenor der allgemeinen Beruhigung stellt The Economist daher zu Recht fest: „time to fix the system – again“. Der SVB-Crash hat daher offensichtlich gemacht, dass das Geschäftsmodell der Banken aus der QE-Zeit heute zu einer Berichtigung ihrer Vermögenswerte führen muss, die unmittelbar eine Überprüfung der bestehenden Schulden wie auch der Risiken zukünftiger Kreditvergaben verlangt. Mit Verspätung setzt also auch bei den Banken die „Verknappung des Geldes“ ein. Tatsächlich erinnert die Krise 2023 daher eher an diejenige, die in der ersten Hälfte der 1980er Jahre nach der radikalen Zinswende der Reaganregierung („Volckerschock“) stattfand.

Falsche Fixierung und ihre Ursachen

Es wäre auch eine falsche Fixierung, die Schwere der Krise an den Ereignissen von 2008 festzumachen. Die Grundlage der wiederholten Bankenkrisen im Kapitalismus findet sich in der von Marx analysierten Verdoppelung der Ware in Ware und Geld und damit der Notwendigkeit, dass sich ihre Einheit immer wieder in der Metamorphose des Geld-Ware-Kreislaufes herstellen muss. Damit einher geht die Loslösung des realen Werts, der in tatsächlichen Arbeitsprozessen begründet ist, von der Wertform, den verschiedenen Preisausdrücken von allem Möglichen, das die Form einer Ware annehmen kann.

Die Verselbstständigung der Wertform, die im zinstragenden Kapital, im „Kapital als Kapital“ seinen Höhepunkt erreicht, ist jedoch immer rückgekoppelt an die Realisierung des realen Werts im Ware-Geldkreislauf. Während sich die Tendenz zur Ausgleichung der Profitrate nur als langfristiger Durchschnitt, aber kaum je aktuell konkret realisiert, erscheinen Zinsen, Kurse, Preise auf Terminbörsen, etc. als täglich/stündlich sich darstellende „konkrete“ Werte, um die sich das Wirtschaftsgeschehen zu drehen scheint – in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse!

Nachdem sich die Übereinstimmung von Wert und Wertform nur zufällig, im Durchschnitt und über mehr oder weniger lange Zeiträume ergibt, wird das Gleichgewicht der (Kapital-)Märkte immer wieder in unvorhersehbarer (zufälliger, katastrophischer) Weise durchbrochen, um eine Berichtigung der Wert/Wertform-Widersprüche auszulösen. Diese abstrakte Tendenz zur Finanzmarktkrise bekommt ihre allgemeine Form durch folgenden Zusammenhang: Grundlegend wird die Dynamik der Kapitalakkumulation durch den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate und den damit verbundenen Zwang zur ständigen Ausdehnung der Kapitalverwertung bestimmt – eine Bewegung die langfristig zu Überakkumulation (Überkapazitäten, einbrechender Nachfrage, Investitionsrückgang … führt. Dieser Tendenz wiederum wirkt das scheinbar davon unabhängige beständige Wachstum aller möglichen Formen des zinstragenden Kapitals entgegen, die weiterhin Verwertung des Kapitals zu ermöglichen scheinen, wenn die realen Profite dies auch gar nicht mehr tragen können. Wertform und Wert spiegeln vor, sich vollständig zu entkoppeln, und die Akkumulation kann fortgesetzt werden, solange sich noch „Kreditgeber:innen“ finden.

Sobald aber an wichtigen Stellen ein:e Akteur:in den „Kredit“ verspielt und sich dies dominoartig auf andere Bereiche ausdehnt, beginnt das Kartenhaus einzustürzen. Während es 2008 das Sinken von Immobilienpreisen und damit einhergehend der Zusammenbruch der Subprimewertpapiere war, so ist es paradoxer Weise 2023 der Wertverlust der scheinbar so sicheren Staatsanleihepapiere, der zu einer Wertberichtigung der Bankvermögen führte. Was auch immer der Anlass einer Finanzkrise ist – es geht immer darum, dass das Hinauszögern einer in der Realwirtschaft begründeten Krise durch die Finanzmärkte letztlich zu einer Berichtigung führen muss, um dann umgekehrt zum Verstärker der realwirtschaftlichen Krise zu werden.

Welche Auswirkungen wird die Bankenkrise zeitigen?

Zunächst einmal müssen hierzu die unmittelbaren Maßnahmen betrachtet werden, mit denen Regierungen und Zentralbanken die Bankenkrise eingedämmt haben. Im Fall der SVB und vergleichbarer Banken hat die US-Zentralbank zunächst die Einlagensicherung über die üblichen 250.000 US-Dollar erhöht – die von der SVB verspekulierten Gelder wurden also über Steuerzahlungen den Einlegern:innen erstattet. Darüber hinaus hat die US-Zentralbank für die betroffenen Banken ein Programm eingerichtet (Bank Term Funding Program), über das sie den Wertverlust der Staatsanleihen bis zum Nominalwert durch einen Kredit ersetzen können. Letzteres ist auf 1 Jahr begrenzt und soll somit den US-Banken die Möglichkeit geben, sich in einer Übergangsfrist an die Hochzinsumgebung anzupassen. Trotzdem bedeutet dies, dass diese Banken zwar ihr Vermögen berichtigen können, aber zusätzliche Zinslasten bekommen, die insgesamt auf ihre Fähigkeit zu Kreditvergaben wirken werden. Diese Maßnahme wird zwar zur Rettung vieler Banken führen – aber zur Verstärkung der Probleme der sowieso schon schwierigen Finanzierung von Neuinvestitionen beitragen (höhere Kreditzinsen, restriktivere Kreditbedingungen). Dies wird zum schon in den letzten Quartalen feststellbaren deutlichen Rückgang in der Investitionstätigkeit in der US-Privatwirtschaft nochmals hinzukommen. In der EU und in UK sind ähnliche Programme zu erwarten und werden daher auch dort die Stagnationstendenz verschärfen.

Die Maßnahmen in Verbindung mit der CS-Krise waren teilweise noch radikaler. Bei der Übernahme durch die UBS wurde nicht nur die CS weit unter Marktwert verscherbelt (um 3,2 Milliarden US-Dollar Kaufpreis für eine Bank, die noch zur letzten Finanzkrise über 100 Milliarden Marktwert auswies), es wurden auch hohe Staatsgarantien zur Risikoabsicherung bereitgestellt. Für die unmittelbar zu befürchtenden Ausfälle wurden fast 10 Milliarden von der Schweizer Regierung versprochen und für längerfristige Risiken weitere 100 Milliarden. Während hier also die Schweizer Steuerzahler:innen zur Kasse gebeten werden, wurde immerhin auch den Investor:innen in die CS etwas abverlangt: die Tier-1-Bonds (spezielle Form der Wandelanleihen) der CS wurden nicht mit dem Eigenkapital in die UBS überführt, so dass hier einige Premiuminvestor:innen (z. B. aus Saudi-Arabien) zusammen ungefähr 17 Milliarden verloren haben. Insgesamt ist mit der UBS+ aber eine Monsterbank entstanden, deren Bilanzsumme etwa doppelt so groß ist wie das Bruttonationalprodukt der Schweiz. Sollte also die UBS scheitern (wie schon mal 2008), könnte die „Rettung der globalen Märkte“ wohl nicht mehr von der Schweiz allein gestemmt werden. Auch wenn der Zusammenbruch einer Großbank damit erst mal verhindert wurde, wird die UBS schwer an der Abarbeitung der Probleme zu leiden haben und mit den Herkulesaufgaben einer solchen Großfusion (z. B. in der ganzen IT-Infrastruktur) noch lange beschäftigt sein. Jedenfalls ist mit der CS eine der wichtigen Investitionsbanken für Restrukturierungs- und Großinvestitionsvorhaben in Europa und den USA weggefallen bzw. nur teilweise durch die UBS+ ersetzt worden. Die CS-Krisenbewältigung verschärft damit nicht nur die Verschuldungsprobleme, sondern wird ebenfalls negative Folgen auf die Finanzierung von Investitionen haben.

Wie auch immer es mit der Bankenkrise weitergeht (nicht abschätzbar sind noch die Risiken im sogenannten Schattenbankensektor), jedenfalls wird die Krisenbewältigung die sowieso schon bestehenden Tendenzen zur Stagnation verstärken. Auch wenn eine synchronisierte Rezession in der EU und den USA dieses Jahr ausbleiben mag, so sind Wachstumsraten unter ein Prozent für die Kapitalverwertung katastrophal. Mit der Bankenkrise wird zur schwachen Investitionsnachfrage jetzt auch eine Welle von Insolvenzen folgen, die aus „Risikoberichtigungen“ und „Abschreibungen“ im Rahmen der Bankenstabilisierung resultieren. Mit der hartnäckigen Inflation um 5 – 10 % kombiniert sich diese Entwicklung zu einer chronischen Stagflation. Sinkende Reallohneinkommen, Austeritätsprogramme, drohender Arbeitsplatzverlust bei Pleiteunternehmen usw. werden auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Masse der Lohnabhängigen immer schlimmer einwirken – und zu einer Verstärkung der Abwehrkämpfe führen müssen!

Was tun gegen die Bankenkrise?

Neoliberale Kampfblätter wie The Economist oder die Financial Times streiten durchaus über den richtigen Umgang mit der erneuten Bankenkrise. Letztere befürchtet durch die neuerlichen Rettungsmaßnahmen einen „moral hazard“ (moralisches Risiko), eine Bestärkung von Fehlverhalten auf den Finanzmärkten und tendiert dazu, dass man der Krise endlich freien Lauf lassen müsse, um die „schlechten“ Finanzakteur:innen aus dem Markt zu drängen. The Economist neigt eher zum Vertrauen in die „Regulierer:innen“ und meint, dass man Extreme wie die SVB oder CS zwar tatsächlich „bestrafen“ muss, aber die Auswirkungen dann durch das Wirken der Regulierer:innen eingedämmt werden müssen. Dabei wird behauptet, dass dies von Krise zu Krise immer besser gelernt wird und das System so auch diesmal wieder gestärkt aus den Turbulenzen herauskommen würde. Liberale Ökonom:innen wie z. B. Joseph E. Stiglitz sehen dagegen das Problem, dass bestimmte Finanzmarktakteur:innen jede Regulierung umgehen würden und immer wieder das Gleichgewicht des Gesamtsystems ins Wanken bringen. Er fordert daher weitergehende „wissenschaftliche“ Kontrolle über Bankengeschäft und ihr Risikomanagement, wobei z. B. die Fehler bei der Bewertung der gegenwärtigen Bankvermögen in den USA vermieden werden hätten können.

Offensichtlich gehen alle diese Ansätze insofern in die Irre, als sie das Problem an der „Irrationalität“ einzelner Finanzakteur:innen und dem Mehr oder Weniger der Regulierung von Finanzmärkten festmachen. Tatsächlich liegt der Ursprung der Krise aber gar nicht in den Finanzmärkten. Diese sind nur ein Element und Symptom der Gesamtkrise der Kapitalverwertung und können auch nur dort in den Griff bekommen werden. Eine linke Antwort darauf gibt z. B. Michael Roberts in seinem Blogbeitrag „Bank Busts and Regulation“ (21.3.), wo  er die Frage der Verstaatlichung des Bankensektors konkret aufwirft. Er entwickelt dabei ein Modell der „demokratischen Kontrolle“ der Banken und ihrer Finanzierungsgeschäfte sowie ihrer Einbettung in einen nationalen ökonomischen Entwicklungsplan.

So sehr die Bankenverstaatlichung natürlich im Zentrum eines Aktionsprogramms im Rahmen der kapitalistischen Gesamtkrise steht, so sehr kann diese Forderung nicht isoliert von der Frage des Gesamtkampfes gegen die Krise aufgestellt werden. Ein staatliches Bankensystem im Rahmen einer „Selbstverwaltung“ führte z. B. im früheren Jugoslawien zu einer de facto wirtschaftlichen Diktatur der Republiksbanken, die über ihre Kreditvergabe letztlich alle Ebenen der betrieblichen Selbstverwaltung und „Demokratie“ aushebeln konnten – und erst recht zu einer Finanzkrise führten.

Die Arbeiter:innenkontrolle über einen staatlicher Bankensektor kann letztlich keinen Dauerzustand bilden, sondern nur einen Hebel auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus selbst liefern. Dieser Kampf muss daher mit dem um Vergesellschaftung aller zentralen Produktionssektoren und für einen demokratisch bestimmten Plan entwickelt werden, in dessen Rahmen dann Banken reine Vermittlungsorgane für die gesellschaftliche Gesamtrechnung sind. Erst dann ist gewährleistet, dass die Verselbständigung der Wertform gegenüber den eigentlichen Gebrauchswert produzierenden Bereichen nicht wieder zu deren Diktatur über den Menschen wird und sich die Vermittlung von gesellschaftlichem Bedarf und produktiven Kapazitäten aus bewusster menschlicher Kooperation und Kommunikation herstellt. Eine solche, qualitativ andere Form der Vergesellschaftung erfordert eine Zerschlagung der alten Staatsmacht und die Errichtung einer rätedemokratischen neuen – kurz, eine proletarische Revolution.




Alles Querfront?

Martin Suchanek, Neue Internationale 272, April 2023

Der Querfrontvorwurf erlebt Konjunktur in der Linken. Einmal erhoben, bedarf er keiner weiteren Begründung. Jede Diskussion erledigt sich damit von selbst. Schließlich will ja auch niemand in Verdacht geraten, Querfrontler:innen zu verteidigen, mit ihnen zusammenzuarbeiten oder auch nur zu reden.

Längst ist das Wort zum Kampfbegriff geworden. Worum es sich bei den einzelnen wirklichen oder vermeintlichen Querfronten handelt, bedarf oft kaum einer weiteren Betrachtung. Kein Wunder also, dass unterschiedliche politische Phänomene darunter verstanden und einsortiert werden.

So gelten als Querfronten nicht nur Bündnisse und Bewegungen zwischen Linken und Rechten bis hin zu protofaschistischen Gruppierungen, die zu Recht politisch geächtet werden. Auch der Vorwurf ähnlicher Ziele (z. B. in der Kriegsfrage) reicht, um aus dieser Gemeinsamkeit eine Querfront zu konstruieren. Dieser trifft nicht nur den „Aufstand für den Frieden“ vom 25. Februar, zu dem Wagenknecht und Schwarzer aufriefen. Auch gegenüber der Demonstration der Linkspartei gegen die Krisenpolitik der Bundesregierung am 4. September 2022 wurde der Querfrontvorwurf laut, weil die Linken mit 4.000 Menschen durch die Stadt zogen, statt sich auf die Blockade einer deutlich kleineren rechten Kundgebung zu konzentrieren.

Schließlich gilt mitunter schon als Querfront eine Zusammenarbeit mit Gruppen, die unter Querfrontverdacht stehen. Die Problematik einer solchen Herangehensweise zeigt sich nicht nur bei großen Friedensdemonstrationen wie am 25. Februar, sondern auch im Umgang mit Coronaskeptiker:innen und Impfgegner:innen. Zweifellos stellten z. B. die Querdenkerdemos eine reaktionäre Massenbewegung dar – sowohl wegen des Einflusses Rechter wie auch wegen ihres eigentlichen Zieles, das sich gegen einen Gesundheitsschutz für die Bevölkerung richtete.

Aber das erklärt natürlich nicht, warum diese Demonstrationen auch reale und berechtigte Ängste vor den Auswirkungen der Coronakrise und nachvollziehbare Vorbehalte gegen staatliche Maßnahmen mit einem reaktionären Ziel verbinden konnten – und wie dem hätte entgegengewirkt werden können. Indem die Teilnehmer:innen dieser Demos allesamt für immer als „Querfrontler:innen“ gebrandmarkt werden, haben wir politisch noch nichts gewonnen. Es braucht auch eine Politik, wie alle jene, die keine Nazis oder unverbesserliche Irrationalist:innen sind, von den Rechten weggebrochen werden können. Bevor wir uns aber diesen Fragen widmen, müssen wir uns mit dem Begriff, dem Wesen und verschiedenen Formen von „Querfront“ beschäftigen. Das erscheint leider unumgänglich, weil die Häufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der dieser Vorwurf erhoben wird, in einem krassen Missverhältnis zur Unklarheit und Erklärungsbedürftigkeit des Begriffs steht.

Querfront als Bündnis

Der Terminus „Querfront“ tauchte erstmals am Beginn der 1930er Jahre in der Weimarer Republik auf. Die ökonomische Krise, die damit verbundene Polarisierung und politische Unmöglichkeit, eine stabile parlamentarische Mehrheit zu bilden, führte zur Einsetzung (halb)bonapartistischer Regierungen unter Brüning, Papen und von Schleicher, die ihrerseits nach einer gesellschaftlichen Stütze suchten.

Der Reichswehrgeneral von Schleicher entwickelte dabei die Vorstellung, seine Herrschaft auf ein Bündnis von Reichswehr, „linker“ NSDAP (dem Strasser-Flügel) und dem Gewerkschaftsbund ADGB zu gründen. Da die anvisierte Allianz „quer“ zur traditionellen Rechts-links-Polarisierung lag, wurde das Vorhaben als „Querfront“ bezeichnet.

Als Grundlage eines Bündnisses, das ihn an die Spitze einer „Regierung alle Volkskreise“ und einer Präsidialdiktatur bringen sollte, schlug von Schleicher eine etatistische Wirtschaftspolitik, staatliche Regulierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie Besteuerung von Reichen vor, womit er an Forderungen der Gewerkschaften, aber auch am kleinbürgerlich-reaktionären „Antikapitalismus“ der Strassers anknüpfte. So weit zum Ursprung des Begriffs. Bekanntlich wurde von Schleichers Vorhaben nie realisiert und sein eigenes Regime erwies sich letztlich als Übergang zur faschistischen Diktatur.

Klassenpolitischer Kern

Ihrem Wesen nach ist die Querfront jedenfalls ein Bündnis zwischen verschiedenen Klassenkräften, das sowohl Teile der bürgerlich-reformistischen Arbeiter:innenbewegung wie auch der extremen (faschistischen oder halbfaschistischen) Rechten einschließt. Solche Konstellationen entstehen fast immer in Krisenperioden des Kapitalismus, wenn die „normale“ bürgerlich-parlamentarische Herrschaftsform, die in relativ stabilen Phasen das eigentliche Betätigungsfeld des Reformismus, linkspopulistischer und linker kleinbürgerliche Kräfte darstellt, selbst nicht mehr die Ordnung sichern kann.

Von Seiten der „linken“ Kräfte geht es bei der Querfront um eine ähnliche Zielsetzung wie bei der Volksfront, also um ein Bündnis mit offen bürgerlichen Kräften, um den Kapitalismus in der Krise zu stabilisieren. Ideologisch rückt jeder Anklang an Klassenpolitik in den Hintergrund oder wird entsorgt zugunsten der vermeintlich gemeinsamen Interessen „des Volkes“ auf Basis eines (zeitweilig) regulierten Kapitalismus.

Dies wird grundsätzlich dadurch möglich, dass Reformismus, Populismus und andere Spielarten kleinbürgerlicher Politik letztlich immer auf dem Boden bürgerlicher Verhältnisse stehen. Es ist daher nur naheliegend, dass sie diese, wenn auch mit eigenen Brosamen für die Massen retten wollen. Da Querfront wie Volksfront auf einem Bündnis antagonistischer Klassenkräfte beruhen, brauchen sie aber auch eine/n „oberste/n Vermittler:in“, die/der scheinbar über den antagonistischen Kräften steht und das „Volksganze“ verkörpert. Daher die innere Tendenz zum Bonapartismus.

Auch wenn das Vorhaben von Schleichers nicht umgesetzt wurde, so fanden dennoch einigermaßen ernste, teilweise geheime Unterredungen im Jahr 1932 statt, bis NSDAP- und  SPD-Führung dem Vorhaben einen Riegel vorschoben. Eine Reihe anderer Abkommen und Regierungsbündnisse offenbart freilich die Nähe von Volks- und Querfront, so der Eintritt der KPI in die „antifaschistische“ italienische Regierung unter Badoglio (einem ehemaligen General Mussolinis, der mit ihm gebrochen hatte, als sich die Niederlage Italiens abzeichnete) im März 1944, so die Volksfront Allendes unter Einschluss von Pinochet, so die Syriza-Anel-Regierung in Griechenland.

Das deklarierte Ziel dieser Regierungen bestand auf Seiten der Reformist:innen darin, „Schlimmeres“ zu verhindern wie eine Machtübernahme der Rechten in Chile, die offen faschistische Diktatur in Deutschland. In Wirklichkeit bestand und besteht die Funktion dieser Bündnisse darin, eine konterrevolutionäre Stabilisierung des Kapitalismus gegen den möglichen Ansturm der Arbeiter:innenklasse herbeizuführen. Gelingt dies, so kann diese wie in Griechenland oder Italien eine „demokratische“ Form annehmen. Gelingt es nicht wie in Chile, so wird „Schlimmeres“ (Militärputsch in Chile, Faschismus in Deutschland) nicht verhindert, sondern diesem der Boden bereitet.

Der konterrevolutionären Wesenskern der Quer- wie Volksfront und deren gemeinsame Funktion spielen in der aktuellen Debatte jedoch so gut wie keine Rolle. Und das aus gutem Grund. Schließlich haben die meisten Kräfte, die unter Querfrontverdacht stehen, wie auch deren Kritiker:innen gegen die Volksfront nichts einzuwenden – und sind damit ihrerseits daran interessiert, die Ähnlichkeiten der beiden nicht weiter zu beleuchten.

Querfront und rechte Ideologie

Der Begriff Querfront umfasst allerdings auch einen anderen Aspekt, den wir schon im und nach dem Ersten Weltkrieg als politisches Phänomen beobachten können. Die Niederlage im Krieg, die ökonomische Zerrüttung und die politische Krise führten auf der Rechten zur Entstehung pseudoradikaler Strömungen in der Intelligenz (und davon beeinflusst auch von völkischen, rechtsextremen bis hin zu faschistischen Kräften).

Autoren wie Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck oder Carl Schmitt stehen beispielhaft für diese präfaschistischen Ideologien, die bis heute gern von Rechten als angeblich vom Faschismus getrennter „radikaler“ Konservativismus und Nationalismus zurechtgebogen werden. Paradigmatisch dafür steht die sog. „konservative Revolution“.

Anders als der traditionelle bürgerliche Konservatismus griffen diese Intellektuellen die Krisenmomente der imperialistischen Ordnung so auf, dass sie ihre reaktionäre, autoritäre und diktatorische Antwort mit einem pseudoradikalen kleinbürgerlichen Antikapitalismus,  Kritik an der bürgerlichen Demokratie und Dekadenz verbanden. Sie erschienen daher als „revolutionär“, inszenierten sich als Vertreter:innen des „Volkes“, der Nation, der „Rasse“, deren echte Gemeinschaft keine Klasse mehr kennt. Ihr „Sozialismus“ nahm zwar auch Anleihen bei der revolutionären Linken, einzelnen Begriffen, Konzepten oder Aktionsformen, war aber zugleich von Beginn an strikt gegen den Marxismus gerichtet, um der „Volksgemeinschaft“ den Weg zu bereiten, und eng verbunden mit Antisemitismus und -liberalismus.

Die Krise des Kapitalismus und der Kampf um die Vorherrschaft im Rahmen der Weltordnung bildeten den Hintergrund und den Nährboden dafür, dass diese Ideologien einen Resonanzboden beim vom Untergang bedrohten Kleinbürgertum und unter der Intelligenz finden konnten. Anstelle des „verrotteten“ Parlamentarismus und Liberalismus sollte eine „echte“ Volksordnung ohne Parteien treten. So sollte den inneren Kämpfen der Nation – und das heißt vor allem dem Klassenkampf – ein Ende bereitet werden, samt aller inneren und äußeren Feind:innen. So sollte die Nation wieder fit gemacht werden für den „natürlichen“ Kampf zwischen den Völkern und „Rassen“. Auch wenn nicht alle diese Autor:innen in der Weimarer Republik (oder der heutigen „neuen Rechten“) dem Faschismus direkt zuzurechnen sind, so gehen sie in eine ähnliche, aggressive imperialistische Richtung. Mit dem Faschismus teilen sie außerdem, dass sie der äußersten Reaktion einen aktivistischen, pseudorevolutionären, antibürgerlichen Anstrich geben.

Als Bewegung fand dieser demagogische „Antikapitalismus“ seinen extremsten Ausdruck im Faschismus. Dieser stellt dabei nicht einfach eine besonders reaktionäre Partei oder Ideologie dar, sondern sein Wesen besteht gerade darin, das „wild gewordene Kleinbürgertum“ als Rammbock zur Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung zusammenzufassen. Einmal an der Macht, verliert der Faschismus seinen Bewegungscharakter, entledigt sich seines „linken“ Randes wie z. B. beim sog. Röhmputsch und gerät zu einer extremen Form der kapitalistischen, imperialistischen Diktatur.

Um ihre Rolle als demagogische, scheinbar antibürgerliche oder gar „sozialrevolutionäre“ Kraft spielen zu können, müssen die rechten Intellektuellen wie auch bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräfte demagogische Anleihen bei der wirklichen, gegen das Kapital gerichteten Arbeiter:innenbewegung aufnehmen. Daher stellt das demagogische, entstellende Ausschlachten von Symbolen, Versatzstücken, Begriffen und Aktionsformen fortschrittlicher Bewegung oder auch des Marxismus einen Zug aller diese alt- wie neurechten Gruppierungen und Ideolog:innen dar.

Natürlich sind solche „Übernahmen“ von Begriffen, Symbolen, Dresscodes unangenehm und irritierend. Daher ist es wichtig zu verstehen, warum dies stattfindet – und man muss sich auch ihre Grenzen vor Augen halten. In jedem Fall stellen diese Phänomene keine „Querfront“ zwischen Linken und Rechten dar, sondern eher das Gegenteil. Wenn man den Begriff dafür verwenden will, so besteht die „Querfront“ in der Übernahme von Symbolen oder bestimmter Termini, deren Sinn zudem oft entstellt wird und die immer in einen politischen und ideellen Gesamtkontext so eingefügt werden, dass sie eine gänzlich andere Bedeutung als in einem klassenpolitischen oder gar marxistischen Kontext annehmen. Der Rekurs auf Begriffe, Konzepte, Themen der Arbeiter:innenbewegung oder Linken ist kein Zufall und auch kein originelles „neues“ Konzept rechter Ideolog:innen, sondern ergibt sich vielmehr aus ihrem Ziel, auch die „unteren“ Klassen, also rückständige Schichten des Proletariats und Teile des Kleinbürger:innentums zu einer rechten, reaktionären Bewegung zu formieren, die in Scheinopposition zum Kapital steht, letztlich aber nur für eine andere Ausrichtung der Nation in der Konkurrenz zu anderen eintritt. Der Populismus, der positive Bezug zum von den Klassen gereinigten „Volk“ stellt daher eine Grundideologie aller rechten „Querfrontler:innen“ dar.

Die Linke und rechter Pseudoradikalismus

Die Entstehung von rechten, populistischen, völkischen bis hin zu faschistischen Bewegungen samt ihrer pseudoradikalen, „antielitären“ Ideologie stellt an sich eine Gefahr für die Arbeiter:innenklasse und die Linke dar. Das trifft insbesondere zu, sobald sich aufgrund von krisenhaften Verwerfungen populistische, pseudoradikale Bewegungen mit Massencharakter bilden, die auch Teile des Kleinbürger:innentums und der Arbeiter:innenschaft zu mobilisieren vermögen.

Natürlich muss eine revolutionäre Linke dabei nach Wegen suchen, wie rückständige Schichten der Arbeiter:innen, die von solchen Bewegungen angezogen werden oder sich diesen gar anschließen, für die Klasse (zurück)gewonnen werden können. Die Geschichte der Weimarer Republik liefert dabei etliche Beispiele, wie es sicher nicht geht – nämlich durch ideologische Anpassung.

Der Nationalbolschewismus, die Schlageterrede Radeks, Ruth Fischers Zugeständnisse an den Antisemitismus, das KPD-Programm der „nationalen und sozialen Befreiung“, aber auch die Sozialfaschismustheorie gehören zu diesen schweren politischen Fehlern.

Hinter all dem steckt eine Verkennung und Unterschätzung des aggressiv-reaktionären Charakters populistischer, nationalistischer, völkischer oder gar faschistischer „Bewegungen“. Dies rührt daher, dass sich die „oppositionelle“ Rechte scheinbar gegen die bürgerliche Klasse, gegen den Liberalismus oder sogar gegen den Imperialismus – natürlich nur den der anderen Mächte – richtet.

Die Anhänger:innen dieser Bewegungen erscheinen daher als irregeleitete, von den Verhältnissen bedrückte Menschen, die sich eigentlich gegen den/die vermeintlich gemeinsame/n Gegner:in – die dekadente, bürgerliche „Mitte“, Liberalismus, Zentrum, Reformismus und Gewerkschaftsbürokratie – zu richten scheinen. Diese Sicht gewinnt an Plausibilität dadurch, dass diese tatsächlich die bestehenden Verhältnisse in der Krise verteidigen, verwalten oder im Fall der Sozialdemokratie als „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus“ fungieren.

Wird der wahre, reaktionäre Kern des demagogischen rechten Pseudoradikalismus nicht richtig begriffen, so droht eine Politik der Anpassung an einen kämpferischen, mit der herrschenden Ordnung scheinbar in Konflikt geratenen Rechtspopulismus.

So biedert sich Radek in der Schlageterrede, die allerdings von Lenin scharf kritisiert wurde, dem Nationalsozialisten Schlageter als „Märtyrer des deutschen Nationalismus“ an. Im Nationalbolschewismus wird der Nationalismus des geschlagenen deutschen Reiches zu einem „Befreiungsnationalismus“ mythologisiert. Im Programm der „nationalen und sozialen Befreiung“ versucht die stalinisierte KPD, der NSDAP den Nationalismus streitig zu machen, und die Sozialfaschismustheorie ging oft auch noch damit einher, dass die Kommunist:innen ihr „Hauptfeuer“ gegen die Sozialdemokratie richten sollten, statt eine Einheitsfront mit ihr gegen die Nazis zu bilden.

Auch wenn diese politischen Positionen zu wenig realen gemeinsamen Fronten oder wenigstens Absprachen von KPD und Rechten oder Nazis führten, so beinhalteten sie eine fatale politische Konsequenz. Sie verschleierten den eigentlichen Klassencharakter der pseudoradikalen, reaktionären Intelligenz und reaktionärer kleinbürgerlicher Bewegungen (inklusive der realen Gefahr, die der Faschismus darstellte).

Dies umfasste sowohl fatale taktische Fehler (insbesondere Sektierertum gegenüber sozialdemokratischen Arbeiter:innen und den Gewerkschaften), aber auch eine Anpassung an die reaktionäre rechte Ideologie – z. B. an den Nationalismus oder auch Verharmlosungen des Antisemitismus. Dies spielte, wie Trotzki zu Recht am KPD-Programm der „nationalen und sozialen Befreiung“ kritisierte, den Rechten in die Hände. Die Anpassung an den deutschen Nationalismus, das Kokettieren mit der Idee, dass Deutschland aufgrund der Versailler Verträge zu einer unterdrückten Nation geworden wäre, trug natürlich nicht dazu bei, dass sich nationalistisch geprägte Kleinbürger:innen oder rückständige Arbeiter:innen der KPD zuwandten. Im Gegenteil, die Nazis und andere Rechte griffen diese Anpassung auf, indem sie darauf verwiesen, dass die KPD nur selbst die zentrale Bedeutung der Nation, das Primat des Volkes vor der Klasse anerkennen müsse.

Die allgemeine, grundlegende Schlussfolgerung aus diesen geschichtlichen Fehlern lautet: Gegenüber dem Kleinbürger:innentum (wie generell gegenüber allen nicht ausbeutenden Klassen und Schichten) müssen Kommunist:innen Forderungen und ein Programm zur Lösung ihrer realen existenziellen Probleme (z. B. Verschuldung, Not) entwickeln. Sie dürfen jedoch keinerlei Zugeständnisse an reaktionären Ideologien und rückständiges Bewusstsein machen, schon gar nicht, wenn dies in Bewegungsform auftritt.

Linkspopulismus heute

Genau hier, in der Anpassung an rückständiges Bewusstsein liegt in der aktuellen Lage das eigentliche politische Problem. Natürlich gibt es auch reales Mitschwimmen von Menschen oder Gruppierungen, die der politischen Linken zuzurechnen sind, bei aktuellen rechtspopulistischen oder rechten Mobilisierungen. So beteiligten sich die sog. Freie Linke oder der sog. Demokratische Widerstand an der reaktionären Querdenker:innenbewegung und demonstrierten dabei auch gemeinsam mit Nazis oder rechtsradikalen Gruppen.

Aber diese Gruppierungen stellen politisch eine Randerscheinung dar. Der größte Teil der Linken lehnte eine Beteiligung an den Querdenker:innendemos und jedes Bündnis mit diesen ab, selbst wenn sie nur eine verharmlosende Position zur Pandemie und ihren Gefahren vertraten.

Auch wenn Sahra Wagenknecht von rechten Magazinen wie Compact oder von der AfD gelegentlich gelobt wird, so besteht keine organisierte Zusammenarbeit. Man mag ihr, dem ihr nahestehenden Flügel der Linkspartei, Aufstehen oder auch Teilen der Friedensbewegung vorwerfen, dass sie sich nicht ausreichend von rechten Mitläufer:innen auf ihren Aktionen abgrenzen. Aber selbst wo das zutreffen mag, ist das etwas anderes als eine Zusammenarbeit.

Das politische Problem liegt in Wirklichkeit woanders. Sahra Wagenknecht, Gruppierungen wie Aufstehen und eine ganze Reihe andere Linker haben in den letzten Jahren einen politischen Schwenk zum Linkspopulismus vollzogen. Anstelle eines, wenn auch bloß reformistischen Bezugs zur Klasse als zentralem Referenzpunkt der eigenen Politik trat das „Volk“. Die Lohnabhängigen operieren dabei nicht mehr als besondere Klasse, sondern nur als Teil einer Mehrheitsbevölkerung, die verschiedene Klassen umfasst, Arbeiter:innen, Kleinbürger:innen und auch „hart arbeitende“ Unternehmer:innen. In ihren Büchern hat die einstige Stalinistin längst der Marx’schen Kapitalismuskritik entsagt.

Ihr Ziel ist nicht die Umwälzung der Verhältnisse, sondern eine regulierte, soziale Marktwirtschaft – daher auch ihr positiver Bezug auf die Sozialdemokratie der Nachkriegszeit und selbst auf Ludwig Erhard.

Ihre „linke“ Politik läuft letztlich darauf hinaus, die Menschen für ein nationales, sozialstaatliches Programm zu gewinnen, das seinerseits eine bessere Stellung für alle Deutschen bringen soll. So wie Wagenknecht den Kapitalismus als gegeben betrachtet, so nimmt sie auch konservative, nationalistische, rückständige Bewusstseinsformen als gegeben. Dass Menschen an reaktionären Geschlechterstereotypen hängen, heimatverbunden und auf „ihre“ Nation stolz sind, erscheint ihr einfach als „natürlich“.

Daher richtet sich Wagenknecht – dem rechten Diskurs in der Tat nicht ganz unähnlich – gegen „Kosmopolitismus“, „offene Grenzen“, „Genderwahn“. Sie verknüpft ein sozialstaatliches Versorgungsversprechen mit einer reaktionären Kritik am bürgerlichen Liberalismus und „Kosmopolitismus“.

Am Liberalismus kritisieren Marxist:innen seinen bürgerlichen Charakter. Sie kritisieren, dass seine Freiheitsversprechen letztlich immer auf halbem Wege steckenbleiben müssen, weil die formale, rechtliche Gleichheit immer Makulatur bleiben muss, wenn die kapitalistischen Verhältnisse selbst nicht in Frage gestellt, ja verteidigt werden. Das Problem des „Kosmopolitismus“ besteht nicht in seinem universalen, den Nationalstaat transzendierenden Versprechen, sondern darin, dass es auf dem Boden einer imperialistischen, auf kapitalistischer Ausbeutung basierenden Weltordnung für die Masse immer unerfüllbar bleiben muss. Wirkliche Freiheit und Gleichheit kann es allenfalls als formale geben – und selbst dies ist, wie wir bei der Entrechtung von Migrant:innen und Geflüchteten wie überhaupt der Bevölkerung der meisten vom Imperialismus beherrschten Länder sehen können, für Milliarden Menschen nicht der Fall. Daher treten wir für einen proletarischen Internationalismus ein, für eine Politik des revolutionären Klassenkampfes, die dem historisch überholten Nationalstaat und der imperialistischen Ordnung wirklich die Totenglocken läuten kann.

Dass Wagenknecht und generell der Linkspopulismus „anschlussfähig“ an die Rechte sind, ist also nicht Folge einer bündnispolitischen Ausrichtung. Es ist vielmehr Resultat einer Ideologie, die selbst einen klassenübergreifenden Charakter trägt, die daher notwendigerweise den Klassenkampf hintanstellen muss und vorhandene, rückständige Bewusstseinsformen als „Band“ zwischen verschiedenen Klassen verwendet. Es ist dabei kein Zufall, dass dazu eifrig vor allem auf Bejahung der Nation oder „fortschrittlichen“ Patriotismus gemacht werden muss, weil der Nationalismus selbst eine quasi natürliche Kernideologie im imperialistischen Staat darstellt.

Eine gewisse Ironie besteht natürlich darin, dass auch das „Establishment“, die politische Kaste, die Elite, also das politische Personal des deutschen Imperialismus und die herrschende Klasse auch auf Nationalismus und Patriotismus setzen – sich also ihrerseits die „nationale Einheit“ auf die Fahnen geschrieben haben. Wenn also von Seiten der Regierung, der SPD, der Grünen, des SPIEGEL, der taz oder anderer linksbürgerlicher Medien an Wagenknecht der Vorwurf kommt, sie spiele zu viel mit nationalen, rückwärtsgewandten Ressentiments, so entbehrt dies nicht einer gewissen Komik angesichts des nationalen, liberaldemokratischen Schulterschlusses zur Aufrüstung für „unsere“ NATO. Die Querfrontvorwürfe gegen Wagenknecht und Schwarzer, die von dieser Seite kommen, sind im Grunde nichts als politische Nebelkerzen, um die eigene imperialistische Politik zu rechtfertigen.

Das ändert natürlich nichts daran, dass linkspopulistische Theorie und Politik von Marxist:innen einer scharfen Kritik unterzogen werden müssen, weil sie, setzen sie sich durch, zu einer Stärkung bürgerlicher Ideologie und weiteren Zersetzung des Klassenbewusstseins führen müssen.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Revolutionär:innen im Kampf gegen soziale Angriffe oder Kriegstreiberei mit solchen Kräften nicht zusammenarbeiten dürfen. Im Gegenteil. Wo sie fortschrittliche und reale Sorgen und Nöte der Massen aufgreifen, müssen Linke in die Mobilisierungen intervenieren, freilich ohne ihre Kritik am Populismus zurückzustellen, sondern um für eine revolutionäre Klassenpolitik einzutreten.




Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Der Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus

Markus Lehner, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Die Polarisierung zwischen einem „autoritären“, konservativen und einem „demokratischen“ bürgerlichen Lager kennzeichnet die Situation in vielen imperialistischen wie auch halbkolonialen Ländern. Die aktuelle kapitalistische Krise selbst befördert diese Polarisierung und die Tendenz zum Populismus, zur Radikalisierung im bürgerlichen Lager, dem ein vorgeblich demokratisches gegenübersteht.

Letzteres versucht, sich als „fortschrittliche Alternative“ zu präsentieren, und reicht von der liberalen Bourgeoisie (einschließlich Teilen der Konservativen) über die Grünen bis hin zur Sozialdemokratie und Teilen der Linksparteien und des Linkspopulismus.

Scheinalternative

Politisch steht es für Elemente der staatlichen Intervention, des Korporatismus, der Einbeziehung von Unternehmer:innen und Gewerkschaften oder anderen Vertretungsorganen der Lohnarbeit in die Sozialpartner:innenschaft.

Ökologische und ökonomische Versprechen wie der Green (New) Deal, begrenzte Sozialreformen, formale demokratische Verbesserungen für Frauen oder rassisch Unterdrückte sollen die Masse der Lohnabhängigen und Unterdrückten bei der Stange halten, ohne jedoch die Akzeptanz des Finanzkapitals und eine Erneuerung des Kapitalstocks in den jeweiligen Ländern in Frage zu stellen. All dies wird mit einer demokratisch verbrämten imperialistischen Außenpolitik kombiniert.

Es ist kein Zufall, dass eine solche Politik vor allem in den reicheren imperialistischen Ländern mit einer relativ großen Arbeiter:innenaristokratie und umfangreichen lohnabhängigen Mittelschichten eine gewisse Grundlage finden kann. In den Halbkolonien, aber auch in den bonapartistischen imperialistischen Regimen, muss die „Demokratie“ durch nationalistische und chauvinistische Ideologie ersetzt werden. Die populistisch organisierte Massenunterstützung muss dort auf solche Ideologien zurückgreifen, wie z. B. den zunehmenden völkisch konnotierten Nationalismus in Russland oder den Hinduchauvinismus in Indien.

Die Polarisierung im bürgerlichen Lager ist jedoch auch das Ergebnis der inneren Krise der Bourgeoisie und der veränderten Lage der Mittelschichten und des Kleinbürgertums. Die Krise untergräbt nämlich ihre Stellung in der Gesellschaft und drückt ihre wirtschaftlich aktiven Teile an die Wand. Die Kombination aus internen Konflikten in der Bourgeoisie und der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse führt dazu, dass die Mittelschichten und das Kleinbürgertum, enttäuscht von den Hauptklassen der Gesellschaft, eine scheinbar unabhängige Kraft hervorbringen – sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, zusammen mit einer Reihe von Schwankungen zwischen den Polen.

Vor diesem Hintergrund präsentieren sich rechtspopulistische, scheinbar gegen das Establishment gerichtete Parteien und Organisationen als Scheinalternative des „kleinen Mannes“, der „normalen“ Menschen.

Faschismus

Neben dem bedrohlichen Anstieg rechtspopulistischer, rassistischer und rechtsextremer Organisierung darf die faschistische Gefahr in ihren verschiedenen Gestalten nicht vergessen werden. Nachdem die Linke lange Zeit in allen möglichen politischen Tendenzen und Verschärfungen staatlicher Repression bereits den „Faschismus“ ante portas (vor den Toren zur Machtergreifung) sah, stand sie lange Zeit fassungslos dem wachsenden populären Massenanhang für Antimigrationsmobilisierungen, Protesten gegen liberale Gesetzgebungen in Gender- oder Antidiskriminierungsfragen, Klimaschutzregeln, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gegenüber. Die Konfrontation mit diesen rechten Massenphänomenen war für die sogenannte „antifaschistische“ Linke viel schwieriger als das Stoppen kleiner Neonaziaufmärsche oder -aktionen der Vergangenheit. Dabei können sich gerade Faschist:innen im Windschatten dieser Bewegungen in viel wirksamerer Weise aufbauen als früher.

Der Faschismus ist nicht bloß eine bestimmte, besonders reaktionäre ideologische Strömung innerhalb bürgerlicher Politik. Er stellt vielmehr die äußerste Form des konterrevolutionären Bürgerkriegs gegen die Gefahr der sozialen Revolution in Zeiten zugespitzter sozialer Krisen dar. In den 1920er/-30er Jahren war er das letzte Mittel der Bourgeoisie, um durch Massenmobilisierung die revolutionäre Arbeiter:innenbewegung zu zerschlagen. Normalerweise vertraut bürgerliche Politik auf die Integration der Massen durch politisch-demokratische Institutionen, die bürgerliche Öffentlichkeit („Zivilgesellschaft“) und repressive Mittel des Staatsapparates. Darüber hinaus sollen radikalere Klassenkämpfe und damit verbundene reformistische und gewerkschaftliche Organisationen auch durch Mittel des Bonapartismus im Zaum gehalten werden – und sei es, um „Schlimmeres zu verhindern“.

Doch ab einem gewissen Punkt der Zuspitzung des Klassenkampfs bedarf die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung radikalerer Mittel, die auf die Zerschlagung nicht nur der sich selbst organisierenden und revolutionären Bewegungen der Klasse und Unterdrückten, sondern der gesamten organisierten Arbeiter:innenbewegung zielen. Der Zweck der organisierten und militanten Massenbewegung des Faschismus besteht dabei darin, über die staatliche Repression hinaus eine politische Atomisierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten herbeizuführen. Für die faschistische Herrschaft ist nicht einfach die Übernahme der Machtpositionen im bestehenden Staat entscheidend, sondern auch die Bewegung hin zur Machtübernahme, die die Unterklassen durchdringt und jeglichen Widerstand im Keim erstickt. Es ist daher für den Faschismus charakteristisch, dass er als Bewegung des rabiaten Kleinbürger:innentums samt demoralisiertem Anhang in anderen Klassen beginnt und diese gesellschaftliche Kraft zu einer Bewegung, einem Rammbock gegen die Arbeiter:innenbewegung – und oft zuerst gegen deren unterdrückteste Teile – zusammenschweißt.

Eine solche totalitäre Form des Kampfes um die Macht erfordert eine organisierte Massenbewegung, die sich auf verzweifelte, von Aggression und Irrationalismus getriebene Teile von Unterklassen stützt, die in der sozialen und ökonomischen Krise aus ihrer bisherigen „bürgerlichen“ Scheinwelt entwurzelt wurden. Traditionell waren dies Teile des Kleinbürger:Innentums und des Lumpenproletariats. Mit der sich seit einigen Jahrzehnten entwickelnden Krise der Arbeiter:innenklasse selbst, ihrer größer werdenden Differenzierung und Spaltung sind es auch vermehrt Schichten der von der Krise betroffenen Lohnabhängigen, die, vom Reformismus enttäuscht, sich den rechten Rattenfänger:innen anschließen. So z. B. die Teile der Arbeiter:innenaristokratie, die vom Abstieg durch Veränderungen des Produktionsprozesses ins Abseits geschoben wurden. Umgekehrt können der Faschismus – und als Vorstufe der Rechtspopulismus – eine Anziehungskraft für deklassierte, marginalisierte Teile der Lohnabhängigen, die aus tariflich gebundenen Arbeitsverhältnissen ausgeschlossen sind und von den Gewerkschaften nicht organisiert werden, verkörpern. Für diese Schichten erscheinen reformistische Teile der Arbeiter:innenbewegung als die „Krisengewinner:innen“ in der Klasse, die sich mit den Mittelschichtsgrünen arrangieren, als besondere Verräter:innen ihrer Interessen und damit neben den Migrant:innen als primäre Ziele ihres gesellschaftlichen Hasses.

Diese Formen der Entwurzelung, des Aufbaus von Ersatzhassobjekten, des Weltbildes von Verschwörungen eines „volksfremden“ Establishments gegen die eigentlich gute „bürgerliche“ Gesellschaft führen zu extrem aggressiven Formen von Massenmobilisierungen, die sich letztlich auch in bewaffneten Organen, von „Bürgerwehren“ bis hin zu Milizen, bündeln lassen. Zumeist besteht auch eine Nähe zum Personal der bewaffneten Kräfte des „normalen“ bürgerlichen Staatsapparates, wo es einen überdurchschnittlichen Anteil an Sympathien für rechte politische Strömungen gibt. So baut sich mit der Zeit ein Netzwerk von Waffenarsenalen, rechtem Terror und schließlich bewaffneten Organisationen auf, das zum Kampf um die Macht bereit ist.

Diese Form kam vielen Linken gerade in den westlichen Demokratien lange als Relikt der Vergangenheit vor und über Jahrzehnte hinweg bestand in vielen Ländern auch nicht die gesellschaftliche Basis für eine faschistische Massenbewegung (auch wenn es durchaus bedeutsame Ausnahmen gibt).

Faschistische Frontorganisationen

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren faschistische Parteien in Europa und Nordamerika nach den Erfahrungen des Nazi- und italienischen Faschismus außerdem weitgehend diskreditiert. Die überlebenden faschistischen Kräfte hatten daher drei Optionen: erstens das Überleben als mehr oder weniger unauffälliges Netzwerk in bürgerlich-parlamentarischen Parteien; zweitens als kleine, sektenartige Randgruppen; drittens aber auch durch den Aufbau von faschistischen Frontorganisationen. Insbesondere in Italien wurde mit der MSI (Movimento Sociale Italiano) eine Organisation gebildet, die weiterhin einen faschistischen Kern und entsprechende Ideologien enthielt, aber darüber hinaus als „normale“ Partei im parlamentarischen Rahmen agierte. MSI und später in Frankreich der FN (Front National) des Jean-Marie Le Pens konnten beschränkte Massenwirksamkeit erreichen, ohne die eigentlichen faschistischen Formen des Kampfes einzusetzen. Ihre respektable bürgerliche Fassade, ihr gewöhnlicher Rechtspopulismus konnten trotzdem faschistische Kerne an sich binden, die diese Form der Frontorganisation als Mittel ihres langfristigen Aufbaus für den eigentlichen militanten Kampf sahen.

Faschistische Frontorganisationen tragen somit wesentlich widersprüchliche Tendenzen in sich. Zwischen reinem Verbreiten „faschistischer Ideologie“ (die letztlich immer einen Mischmasch verschiedener, schon vorgefundener extrem reaktionärer Ideen darstellt) und dem tatsächlichem Kampf des Faschismus um die Macht besteht ein weites Feld. Sofern solche Fronten dann tatsächlich Funktionen im bürgerlichen Staat übernehmen ohne die entsprechenden Formen der faschistischen Machtergreifung, transformieren sich Teile ihrer Führung schnell zu gewöhnlichen rechtspopulistischen oder rechtskonservativen Politiker:innen und die faschistischen Kräfte spalten sich ab. So geschehen in den 1990er Jahren in der ersten Regierung Berlusconi in Italien, als seine Partei zusammen mit der Lega Nord und der zur Alleanza Nazionale (AN) gewandelten MSI eine Koalition einging. Dies war natürlich keine „faschistische Machtübernahme“. Die Regierungsbeteiligung führte vielmehr zur „Verbürgerlichung“ eines Teils der MSI und der Abspaltung der „traditionellen Faschist:innen“, aus denen später die Fratelli d’Italia (FdI) entstand. Offenbar wiederholt sich gegenwärtig derselbe Prozess mit letzterer – auch wenn die faschistische Front diesmal sogar die stärkste Kraft in der Koalition ist. Der FN in Frankreich machte schon vor der möglichen Regierungsbeteiligung einen solchen Wandlungsprozess durch, in dem er sich in das Rassemblement National (RN) umbaute.

Während der Globalisierungsperiode entwickelte sich ein breites Spektrum von rechtspopulistischen, rechtsextremen bis hin zu faschistischen Organisationen, die an diese Vorgeschichte anknüpften. War nationale Abschottung zwar angesichts der faktischen Gewalt der kapitalistischen Globalisierung kein realistisches Politikprojekt, so wurden nationalistische Scheinantworten auf die sozialen Folgen der Globalisierung immer verbreiteter. Dies betraf nicht nur Phänomene wie verstärkte Standortverlagerungen oder Arbeitsmigration, sondern auch wachsenden Verlust nationaler Gesetzgebungskompetenz angesichts der übermächtigen Kapitalströme. Mit dem Aufkommen verstärkter Krisentendenzen am Ende der Globalisierungsperiode haben irrationale nationalistische Alternativen zur Globalisierung immer mehr an politischem Gewicht gewonnen. Dies ist nicht nur in der völligen Überhöhung von Fragen der Migration oder von „Genderwahn“ & Co. zu sehen, sondern in Europa insbesondere an Fragen der EU-Integration. Letzteres führt im EU-Raum zu verschiedenen Formen von Austrittsbewegungen, zu Bewegungen oder Kampagnen gegen bestimmte EU-Vorgaben, an denen sich rechte und faschistische Kräfte aufrichten können. Die Rechte benutzt teilweise berechtigte EU-Kritik zur Selbstinszenierung als Antiestablishmentkämpferin gegen „Globalismus“, „EU-Establishment“, den „woken Totalitarismus“ etc.

Die AfD

Der Aufstieg der AfD muss im Rahmen dieser allgemeinen Tendenz betrachtet werden, auch wenn sich ihre Entstehung und Entwicklung deutlich von jener faschistischer Frontparteien unterscheidet. Gegründet wurde sie weitgehend von EU-kritischen rechten U-Booten in den etablierten konservativen Parteien (CDU, CSU, FDP), insbesondere aus der Ablehnung des Euro heraus. Massenwirksam wurde die AfD jedoch vor allem durch extrem rassistische Mobilisierung rund um Migrationsfragen. Dadurch konnten sich auch rechtsextreme Kreise in der Führung der AfD immer mehr durchsetzen. Einer Wählerschaft von 10 – 20 % in Deutschland sind angesichts der Wirkung von kritischer Demagogie bezüglich EU- und Migrationspolitik die offensichtlich rechtsextremen Figuren in verschiedenen Führungspositionen der Partei immer unwichtiger. Inzwischen wird die Partei durch den rechtsextremen „Flügel“ unter dem neuen „Führer“ Bernd Höcke dominiert. Er weist tatsächlich viele Merkmale einer faschistischen Frontorganisation auf, auch wenn sein Verhältnis zu offenen Naziorganisationen wie den „Freien Sachsen“ durchaus auch konfliktbehaftet ist. Gerade wo sich der AfD und auch den vom „Flügel“ geführten Organisationen parlamentarische Möglichkeiten eröffnen (z. B. bei parlamentarischen Manövern mit CDU und FDP in Thüringen), ist auch letzterer dem Spannungsverhältnis von bürgerlichem Politikbetrieb und offenem Faschismus ausgesetzt. Das Konstrukt der AfD erlaubt den faschistischen Kernen jedoch, sich genügend fern von der Diskreditierung durch etablierte bürgerliche Politik zu halten, aber gleichzeitig genügend nahe am bestehenden Politikbetrieb zu bleiben, um neue Anhängerschaft und Geldmittel zu rekrutieren. So bauen sie sich auf, als reale politische Kraft, die im Fall der Fälle für den Kampf um die politische Macht im faschistischen Sinn bereit steht. Auch wenn die AfD insgesamt als rechtspopulistische Partei charakterisiert werden muss, die ihre Klientel vor allem als Wähler:innen organisiert und weiter auf eine Koalition mit Konservativen und anderen Rechten abzielt, so enthält sie auch einen stärker werdenden inneren Teil, der eine faschistische Frontorganisation darstellt.

Anderswo in Europa gibt es verschiedene Formen ähnlicher „Konstrukte“, in denen sich Faschist:innen auf ihre zukünftige Rolle vorbereiten. Die „Schwedendemokraten“ entstanden direkt aus einer offen faschistischen Organisation, die sich ähnlich MSI/AN/FdI im letzten Jahrzehnt in eine rechtspopulistische Partei mit extrem rassistischen Positionen umwandelte. Erhalten blieben jedoch jeweils faschistische Kerne, die entsprechende Frontorganisationen innerhalb der „gemäßigten“ etablierten Partei bilden und sich oft auch auf eine breitere Unterstützung innerhalb der Mitgliedschaft dieser Organisationen stützen können. Bei Diskreditierung durch Teilnahme an Koalitionsregierungen oder deren Duldung besitzen die faschistischen Kerne genügend Spielraum, um weiterhin als „Opposition“ zu agieren oder eventuell auch Neugründungen anzustoßen. Auch hier wird mit diesen Konstrukten eine reale faschistische Machtalternative zumindest vorbereitet.

Halbkolonien

In Halbkolonien ist der Aufbau faschistischer Organisationen als Kampfmittel zur entsprechenden Machteroberung weiterhin schwieriger, da die entsprechenden vom Abstieg betroffenen Mittelschichten, die von reformistischen Organisationen enttäuscht sich nach alter nationaler Größe zurücksehnen, nicht so ausgeprägt sind wie in den imperialistischen Zentren. Solche faschistischen Kräfte treten daher eher in ökonomisch entwickelteren Halbkolonien wie Brasilien auf. In der islamischen Welt erfüllen extrem islamistische Kräfte oft die Rolle der Atomisierung und Zerschlagung von progressiver Organisierung der Arbeiter:innen und Unterklassen. Dabei rekrutierte z. B. der Islamische Staat (Daesch) seine Militanten tatsächlich sehr stark unter deklassierten Jugendlichen aus imperialistischen Ländern. Der Aufstieg Bolsonaros in Brasilien ist verbunden mit der Bildung verschiedener reaktionärer Organisationen z. B. rund um evangelikale Kirchen, bewaffnete Milizen von Agrarunternehmer:innen, Teile von Vereinigungen Angehöriger von Polizei und Armee, reaktionäre Transportunternehmer:innen und ihre Beschäftigten, offen rechtsextreme Organisationen (z. B. Movimento Direita in Minas Gerais) etc. Diesem Amalgam von bewaffneten Gruppierungen fehlte jedoch bisher die vereinigende politische Organisierung. Die reaktionäre Clownerie des Bolsonaro genügte zwar, um Wahlkämpfe zu führen und eine Welle von rechtem Terror auszulösen, aber nicht für eine faschistische Form der Machtübernahme – daher als (vorläufig) ultimative Losung der Aufruf zum Militärputsch. Ob die neuen Parteien des Bolsonarismus, die PL und die Republikaner:innen, faschistische Frontorganisation werden, hängt davon ab, ob sich jenseits der politischen Figuren im üblichen Politikbetrieb von Kongress, Einzelstaaten und Lokalverwaltungen tatsächliche faschistische Kader mit stabilen Organisationsstrukturen herausbilden, die in diesen Parteien eine wesentliche Rolle spielen können. Gerade bei Ex-Militärs und im Umfeld der Agrarbosse haben sich in den Mobilisierungen nach der Niederlage Bolsonaros bereits entsprechende Personen profiliert.

Auch wenn sich faschistische Kräfte heute vor allem im Windschatten reaktionärer rechter Parteien aufbauen, werden die Opfer der extremen Rechten immer zahlreicher. Zunächst bedeutet die allgemeine Rechtsverschiebung eine repressivere Politik gegenüber Migrant:innen und Minderheiten aller Art ebenso wie ein brutaleres Vorgehen rechtslastiger „Sicherheitskräfte“. Durch die Unterstützung von rechten Medienkonzernen oder die Kampagnen in den „sozialen Medien“ wird ein Klima der Angst und Hetze gegen Linke, unliebsame Journalist:innen und Lokalpolitiker:innen, Wissenschaftler:innen, Migrant:innen, Minderheiten etc. erzeugt, das sich auch über Drohungen hinaus bewegt. Verstärkt tritt rechter Terror nicht nur in Einzeltaten, sondern auch in geplanten Aktionen zutage. Es verwundert nicht, dass in diesen Gewaltakten auch der Antisemitismus wieder eine Rolle spielt. Rechte Parteien und ihre Sympatisant:innen im Polizeiapparat verharmlosen diesen Gewaltanstieg bzw. kriminalisieren den Widerstand dagegen.

Reformistische Irrwege

Die Reaktion der reformistischen Organisationen bzw. von progressiven Mittelschichtparteien wie den Grünen besteht zumeist in der Forderung nach Schulterschluss der „Demokratie“ zur Verhinderung der Machtbeteiligung der Rechtsextremen. Im Windschatten vertreten auch Teile der extremen Linken neue Varianten der Volksfrontpolitik in Form von „demokratischen Allianzen“ (wie jüngst bei der Wahl in Brasilien). Das Problem des Verbündens mit offen bürgerlichen Parteien, die noch nicht zur Zusammenarbeit mit der extremen Rechten bereit sind, liegt darin, dass sie die reformistischen Organisationen und die Linke zu noch mehr Zugeständnissen an die bürgerliche Krisenpolitik zwingen und sowieso viele Forderungen der extremen Rechten z. B. in der Migrationspolitik mit aufgegriffen werden. Die extreme Rechte kann so die Enttäuschung über den Reformismus noch weiter vorantreiben und sich als die „wahre Opposition“ des „kleinen Mannes“ gegenüber dem vereinigten Establishment der „Volksfeind:innen“ präsentieren. Wie schon in den 1930er Jahren geschehen, gerät die Volksfront so zur Wegbereiterin des Aufstiegs des Faschismus.

Gewisse Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit und auch der Linken vertreten die Ansicht, dass sich die extremen Rechten am besten durch tatsächliche Regierungsbeteiligung entlarven ließen, in der sie demonstrieren müssten, dass sie für den Großteil ihrer ärmeren Wähler:innen nicht nur nichts bewirken würden, sondern sogar weitere Verschlechterungen betreiben. Dies verkennt den irrationalen Kern der Basis der extremen Rechten, die durch solche Tatsachen nur davon überzeugt werden, dass der „tiefe Staat“ und die Machthaber:innen „hinter den Kulissen“ die eigenen Führer:innen an der Durchsetzung ihrer Politik hindern würden. Auch dies führt letztlich nur zur weiteren Radikalisierung und Bildung neuer, noch rechterer Organisationen. So wurde die österreichische FPÖ bei ihren Regierungsbeteiligungen jedes Mal in fürchterlicher Weise entlarvt – um dann kurze Zeit später in neuem, weiter rechts stehendem Gewand in alter Stärke wiederaufzuerstehen. Auch das Debakel der „Dänischen Volkspartei“, die während ihrer Regierungstolerierung von 20 % auf heute unter 3 % abstürzte, brachte nur die noch rechtere Partei der „Dänendemokraten“ hervor, die von ihr die Führungsrolle übernahm.

Das dänische Beispiel zeigt auch ein weiteres ungeeignetes Modell: Hier übernahm die größte reformistische Partei, die Sozialdemokratie, wesentliche Teile des rassistischen Migrationsprogramms der Rechten, um es mit klassischer Sozialpolitik für die „eigenen“ Unterschichten zu verbinden. Dieses Modell einer rechtsnationalen Sozialdemokratie wurde tatsächlich für einige sozialdemokratische Parteien nicht nur in Skandinavien zu ihrem modernen Weg ernannt. Auch wenn es teilweise in Wahlen erfolgreich war, verhindert es nicht, dass sich dadurch der rechte Irrationalismus weiter bestärkt fühlt und letztlich doch wieder das „Original“ gewählt wird – insbesondere wenn die so nach rechts gewendete Sozialdemokratie dann doch wieder klassische bürgerliche Krisenpolitik betreibt. Ähnlich verfehlt ist die Strategie, links von der Sozialdemokratie linkspopulistische Organisationen aufzubauen, die ebenso eine offene Flanke gegenüber Rassismus und sozialchauvinistischer Migrationspolitik aufweisen. Auch wenn Mélenchon in Frankreich oder Wagenknecht in Deutschland zeitweise in der Lage sind, Wähler:innen von den Rechten in ihre Richtung zu lenken, so bestärken sie ihrerseits die gesellschaftlichen Spaltungen in den Unterschichten, die gerade zum Aufstieg der Rechten führen.

Kampf

Mit dem Faschismus gibt es letztlich keine „diskursive“ politische Auseinandersetzung. Faschistische Kader müssen je nach Kräfteverhältnis in direkter Aktion an ihrer politischen Aktivität gehindert werden. Ihnen darf keine öffentliche Plattform gestattet werden. Dies betrifft auch Faschist:innen am Arbeitsplatz oder in Gewerkschaften, wo wir für ihren Ausschluss eintreten. Auch ihr Antritt bei Wahlen muss mit gebotenen Mitteln ver- oder behindert werden. Dabei vertrauen wir nicht auf den bürgerlichen Staat oder seine Organe (da etwaige Verbote sowieso vor allem gegen Linke eingesetzt werden), sondern auf die Einheitsfront von Arbeiter:Innenorganisationen und Vereinigungen anderer gesellschaftlich Unterdrückter.

Bei den rechtspopulistischen Organisationen wie der AfD oder auch der breiteren Wähler:innenschaft von Frontorganisationen ist ein differenzierteres Vorgehen notwendig, da ihre Anhängerschaft nur zu einem gewissen Teil aus Faschist:innen besteht. Entscheidend ist aber auch hier die Einheitsfront, insbesondere die Forderung an die führenden reformistischen Organisationen,  mit der bürgerlichen Krisenpolitik (die mit den „demokratischen Allianzen“ noch verstärkt wird) zu brechen und sich in einen gemeinsamen Kampf gegen kapitalistische Angriffe und rechte Hetze einzureihen. Den Rechten darf der Krisenprotest nicht überlassen werden aus lauter Angst vor „Querfronten“. Dabei muss in solchen Einheitsfrontaktionen auf den Ausschluss rechter Kräfte und die Verteidigung der Aktionen gegen Unterwanderung durch Rechte gedrängt werden. Aktionen der rechten Frontorganisationen, in denen faschistische Kader eine wichtige Rolle spielen, z. B. Mobilisierungen gegen Geflüchtete müssen ähnlich wie direkt faschistische Aktionen konfrontiert werden. Politische Veranstaltungen der klassischen Art wie z. B. Wahlkundgebungen oder Diskussionsveranstaltungen können je nach Kräfteverhältnis rein propagandistisch angegriffen oder gestört werden. Dabei steht das Aufzeigen der politischen Alternative und die Schwäche der Rechten bei den entscheidenden Fragen gerade gegenüber unentschlossenen, verunsicherten Personen aus den sozial bedrängten Unterschichten im Vordergrund.

Die wichtigste Waffe gegen den Aufstieg der extremen Rechten und des Faschismus ist jedenfalls das konsequente Vorantreiben einer internationalistischen antikapitalistischen Alternative und das Aufzeigen des revolutionären Weges dahin. Nur dies kann die Scheinalternativen der nationalen Abschottung, des Vorantreibens gesellschaftlicher Spaltungen und des Aufbaus von Ersatzfeind:innen für den/die eigentliche/n Klassenfeind:in als Irrwege entlarven. Die Einheitsfront bildet ein zentrales Instrument zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltungen, wie sie von den Rechten benutzt werden. In der Einheitsfront erleben die Arbeiter:innen und Unterdrückten die Solidarität über Grenzen der nationalen Herkunft, Geschlechteridentitäten, Verdienst- und Bildungsunterschiede, kulturellen und schichtspezifischen Verschiedenheiten hinaus.

Sie ist aber vor allem auch ein wichtiges Instrument, um die weiterhin bestehende Mobilisierungsfähigkeit reformistischer Organisationen und der Gewerkschaften zu nutzen und ihre Führung vor den Massen dem Test der Praxis zu unterziehen. Trotzki wies 1932 in „Was nun?“ darauf hin, dass die Lage der Arbeiter:innenbewegung angesichts von Niederlagen, Krise und Aufstieg der Nazis aussichtslos zu sein schien, dass aber gerade die aus der Situation der Defensive entstehenden Kämpfe eine Perspektive der Offensive eröffnen würden: „Man darf nicht vergessen, dass die Einheitsfrontpolitik im Allgemeinen in der Defensive viel wirksamer als in der Offensive ist. Konservativere oder zurückgebliebenere Schichten des Proletariats lassen sich leichter in den Kampf ziehen, um das zu verteidigen, was sie bereits besitzen, als um Neues zu erobern.“

Bei einem klaren strategischen Plan der revolutionären Partei für den erfolgreichen Aufbau der Einheitsfront besteht die weitergehende Perspektive: „Der Widerstand der Arbeiter gegen die Offensive von Kapital und Staat wird unvermeidlich eine verstärkte Offensive des Faschismus hervorrufen. Wie bescheiden die ersten Verteidigungsschritte auch sein mögen, die Reaktion des Gegners wird unverzüglich die Reihen der Einheitsfront zusammenschließen, die Aufgaben erweitern, die Anwendung entschiedenerer Maßnahmen erforderlich machen, die reaktionären Schichten der Bürokratie von der Einheitsfront abschütteln, den Einfluss des Kommunismus steigern, die Barrieren innerhalb der Arbeiterschaft schwächen und damit den Übergang von der Defensive zur Offensive vorbereiten.“




Teuerungskrise 2022

Mo Sedlak, ursprünglich veröffentlicht auf http://arbeiterinnenstandpunkt.net/, Teil 2, Infomail 1204, 15. November 2022

Der erste Teil des Artikels beschäftigte sich vor allem mit den Ursachen der Inflation, im zweiten Teil geht er auf die Antworten der verschiedenen Klassen und ein Programm im Interesse der Arbeiter:innenklasse ein.

Globalisierung und Outsourcing der Inflation

Politiker:innen, Wirtschaftsforscher:innen und Kapitalist:innen reagieren auf die scheinbar unaufhaltsam steigenden Preise wie die aufgeschreckten Hühner. Wir, die Betroffenen und die Linke, eh auch. Und zwar zu Recht: Die Preisexplosion droht, zu einer sozialen Krise, zu einer nachhaltigen Schlechterstellung der Arbeiter:innenklasse zu führen (wenn wir uns nicht wehren). Aber: Außerhalb der imperialistischen Zentren schreckt diese Einsicht wenige. Denn in vielen neokolonialen Ländern wurden in den letzten Jahren ausführliche Erfahrungen mit hoher Inflation und deren sozialen Folgen gemacht.

Das liegt vor allem an zwei Umständen: den Kosten der Geldmengenkontrolle und der Auslagerung von Inflation aus den imperialistischen in die neokolonialen Länder.

Erstens ist die Regulierung der Geldwarenproduktion teuer und umso teurer, wenn dabei die Währungen anderer Länder kontrolliert werden sollen. In vielen unterentwickelten Ländern sind Dollar und Euro anerkannte Parallelwährungen, über deren Produktion und Einfuhr die Regierungen kaum Kontrolle haben. Wir verwenden hier die Formulierung des antikolonialen Marxisten Walter Rodney, der mit dem Begriff Unterentwicklung zeigen will, dass dieser Folge einer bewussten, imperialistischen Politik ist.

Zweitens können Firmen aus imperialistischen Ländern auf den Kapitalexport zurückgreifen, wenn Investitionen im „eigenen Land“ nicht profitabel erscheinen. Tausende „Freihandelsabkommen“ und ökonomische Abhängigkeiten stellen sicher, dass Nestlé, OMV und Wienerberger überall investieren können, wo sie wollen und die Profitraten noch höher sind. Zum Beispiel wegen niedrigerer Löhne oder technisch weniger entwickelter Konkurrenz. Das nimmt den Inflationsdruck aus den imperialistischen Zentren heraus. Die Kapitalist:innen in den Neokolonien und Schwellenländern verfügen über diese Möglichkeit so nicht.

Natürlich spielen Krieg und Pandemie eine zentrale Rolle

Das macht die Inflation bei gleichzeitigem Krieg in der Ukraine auch bedenklich. Durch die neue Blockbildung kommt es zu einer De-Globalisierung. Ein Geflecht aus Sanktionen, Sanktionsumgehungen, Wirtschaftskrieg und unterbrochenen Lieferketten erschwert den Kapitalexport und Produktionsketten. Dieses Gegenmittel gibt es also nicht und die Auslagerung der Profitproduktion nach China ist auch schwerer möglich. Und auch die Klimakrise hat ihren Anteil: Zum Beispiel haben durch Dürre ausgelöste Unfälle in der Halbleiterproduktion Taiwans und Texas‘ 2020 die Lieferketten so beeinträchtigt, dass es bei Auto- und Elektronikpreisen noch heute spürbar ist.

Der Teufel steckt auch hier in vielen Details. Wenn ein Hafen in China eine Woche zusperrt, heißt das, dass Vorprodukte nicht bei Fabriken ankommen. Aber es heißt auch, dass in der nächsten Woche leere Container nicht da sind, weil sie noch voll auf hoher See herumschippern. Was wiederum bedeutet, dass Bananen verfaulen und irgendwelche Müsliriegel nie produziert werden. Was jetzt blöd ist für den/die Zerealienlieferant:in, der /die seine/ihre pünktlich gelieferten Getreidekörner nicht bezahlt bekommt und den anderen Kund:innen deshalb die Preise raufsetztum überhaupt liquide zu bleiben.

Die Inflation sitzt im Kapitalismus wie das Picknbleiben im Beislabend. Aber jetzt werden erprobte Gegenmittel (die auch nicht für alle Länder funktioniert haben) durch den Krieg, die Pandemie und Extremwetter in der Folge des Klimawandels wirkungslos. Das heißt wirklich nicht, dass der Kapitalismus ohne diese Extremerscheinungen nicht inflationär wäre. Aber es kann sein, dass dieses Zusammenspiel zu einer Trendwende führt, von der Niedriginflation auf Kosten der Arbeiter:innenklasse hin zur Hochinflation, die uns auch umgehängt werden soll.

Wir müssen uns auf eine Wirtschaftskrise vorbereiten

Zentralbanken, Wirtschaftsforscher:innen und Unternehmensverbände sagen deutlich, dass eine Stagflationsphase kommt. Das bedeutet, hohe Inflation mischt sich mit einer Stagnation, also niedrigem Wirtschaftswachstum, Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit. So eine Phase gab es bereits nach den Ölpreisschocks in den 1970er Jahren und die Lösung der Herrschenden sollte uns zu denken geben. Es folgte nämlich die neoliberale Wende: Privatisierungen, Zerstörung von vielen sozialstaatlichen Errungenschaften, aber auch Angriffe aufs Arbeitsrecht und brutale Repression gegen die Gewerkschaften.

Auch nach der 2008er Krise war das die Lösung der EU. Griechenland wurde brutal ausgehungert. Das Lohnniveau hat sich bis heute nicht erholt ebenso wenig wie Gesundheitssystem oder Sozialleistungen. Italien, Spanien und Portugal erlebten Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 50 %, eine Generation an Niedrigstlohnarbeitenden wird diesen Rückstand in ihrem Leben nicht mehr aufholen. Der einzige Grund, warum das deutsche Diktat nicht für sich selbst gegolten hat, war, dass die Hartz-Reformen so einen Niedriglohnsektor schon in den Jahren zuvor geschaffen hatten.

In anderen Worten: Die Herrschenden spielen jetzt noch ein paar Monate mit Einmalzahlungen und Subventionen. Aber wenn klar wird, dass eine Rezession droht, werden sie probieren, die Kosten auf uns abzuwälzen und zumindest die Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit und Preisexplosion nicht mehr abfedern. Es kann der Arbeiter:innenbewegung gelingen, das durch harten Widerstand abzuwehren, die Herrschenden in dieser Situation der Instabilität zurückzudrängen. Das wäre auch gut, weil die Alternative nicht gut für uns ausschaut.

Dass eine neue imperialistische Zuspitzung droht, ist angesichts der Ukrainekriegs sonnenklar. Auch die Konfrontationen in den zehn Jahren davor, Ukraine, Syrien und Taiwan, haben gezeigt, dass sich EU, USA, China und Russland in eine neue Blockbildung und auch eine neue Eskalation begeben. Der imperialistische Krieg ist schon jetzt eine Bedrohung in den Gebieten, wo er geführt wird. Seine Ausweitung bedroht die Mehrheit der Weltbevölkerung.

Seit 2008 waren es auch keine rosigen Jahre für die ärmeren Teile der Arbeiter:innenklasse, Niedrigverdiener:innen, prekär Beschäftigte, Erwerbslose und Alleinerziehende. Die kommende Krise droht aber, breite Teile der Bevölkerung, auch die lohnabhängigen Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum, vor echte Existenzangst zu stellen. Das Kleinbürger:innentum im 21. Jahrhundert meint Akademiker:innen und kleine Manager:innen, aber auch Selbstständige und Besitzer:innen kleinerer Firmen.

Das vom Abstieg bedrohte Kleinbürger:innentum stellte seit eh und je die soziale Basis des Faschismus und Rechtspopulismus. Wenn es den Herrschenden und den Hetzer:innen gelingt, die Wirtschaftskrise auf gierige Gewerkschaften oder Minderheiten zu schieben, lässt es sich ganz gut mobilisieren. Das hat sich leider auch bei den verschwörungstheoretischen Coronademonstrationen gezeigt, die einen Grundstock für eine rechte Bewegung in der Wirtschaftskrise darstellen können. Die Geschichte von FPÖ und Identitären über elitäre Verschwörungen und Interessengemeinschaften von weiß-österreichischen Kapitalist:innen mit den Arbeiter:innen sind leider tief verankert in diesen Kreisen. Aber nur eine linke Bewegung, die um Solidarität und radikale Umverteilung kämpft, kann verhindern, dass solche Bewegungen einen Massenanhang bekommen.

Preise steigen nicht, wenn wir es verhindern können

Das Problem der Kapitalist:innen beseht darin, dass sie bei steigenden Kosten und unsicherer Profiterwartung nicht wissen, ob sie ihre Warenmenge verkaufen können. Das Problem der Arbeiter:innen ist, dass die Preise so hoch sind. Hohe Preise können aber verhindert werden: kurzfristig durch Preisdeckel, mittelfristig durch die demokratische Kontrolle über Produktion und Preisfestsetzung.

Mal wieder zeigt die kapitalistische Krise, dass der Markt eben nicht „regelt“, sondern der Markt- und Wettbewerbswirtschaft Tendenzen zur Krise innewohnen. Alleine, dass weiterhin günstig produzierter Wasserkraftstrom wegen steigender Gaspreise ebenfalls durch die Decke geht, macht das ein für alle Mal klar.

Aber Preise können auch einfach beschränkt werden. Besonders gerne machen das kapitalistische Regierungen im Krieg, wo die staatliche Nachfrage (nach Waffen und Kriegsproduktion) so in die Höhe geht, dass Mitschneiderei den Kapitalist:innen das Logischste wäre. Aber auch in der Nachkriegszeit, und in Österreich für bestimmte Produkte bis in die 1970er Jahre, wurden Preise immer wieder gedeckelt. Bis heute gibt es Preiskommissionen für Medikamente, einen Richtwertmietzins für Altbauwohnungen. Für Energie, Grundnahrungsmittel und Wohnungen, egal ob alt oder neu, sind solche Preisdeckel jetzt dringend notwendig.

Die Preiskommissionen aus Gewerkschaft und Wirtschaftskammer haben allerdings nicht vor allem die Lage der Arbeiter:innen im Blick gehabt, sondern maximal die schlimmste Verelendung eindämmen wollen. Diesen bürokratischen, sozialpartner:innenschaftlichen Preiskontrollen von oben haftet immer etwas Konservatives, Zurückhaltendes und in der Krise Unzureichendes an. Marxist:innen sind deshalb für tatsächlich demokratische Entscheidungen der Arbeitenden und der Konsument:innen über Preise, Diskussionen und darüber, was wir brauchen und wie teuer es sein darf. Gerade jetzt wird offensichtlich, dass demokratische Kontrolle über die Produktion eine deutlich bessere Alternative ist, als „der Markt regelt“.

Inflation bedeutet aber immer auch eine Kürzung der Reallöhne und realen Sozialleistungen. Also dessen, was Arbeiter:innen und Erwerbslose ausgeben können. Wenn die Preise schneller steigen als die Löhne, ist das eine Umverteilung von unten nach oben. Deshalb fordert der radikale Teil der Arbeiter:innenbewegung schon lange die automatische Inflationsanpassung von Löhnen, Arbeitslosengeld und Sozialleistungen. Dazu würde dann über Lohnerhöhungen verhandelt und gestreikt werden – die Grundanpassung wäre schon vorweggenommen.

Es ist bemerkenswert, dass die türkis-grüne Regierung sich bei einigen Sozialleistungen schon auf diese Maßnahme eingelassen hat, die sonst selbst linke Teile der SPÖ nur zurückhaltend fordern. Es ist auch ein Anzeiger dafür, wie bedrohlich die kommende soziale Krise wahrgenommen wird. Denn generell gilt: bürgerliche Regierungsmaßnahmen mal Zehn ergibt, was notwendig wäre, damit die Lage für uns nicht schlimmer wird.

Leitzinserhöhung heißt noch mehr Lebenskostenkrise

Stattdessen setzen die Bürgerlichen, also Finanzminister:innen und Zentralbanken darauf, die Geldmenge zu beschränken. Statt auf die konkreten Preisentscheidungen wollen sie auf das Makrosystem einwirken. Durch Zinserhöhungen sollen Banken bewogen werden, selber weniger zu borgen, daher weniger Kredite vergeben zu dürfen (Geld zu produzieren, wie wir oben erklärt haben). Die Nachfrage nach Investitionsgütern und kreditfinanziertem Konsum wird so eingedämmt, die Preise sollten fallen.

Aber: Das hat massive Auswirkungen: Gebeutelte Unternehmen können Zahlungsunfähigkeit nicht durch Kredite überbrücken, gehen insolvent und Arbeiter:innen landen auf der Straße. Verschuldete Arbeiter:innen mit „variablen“ Hypothekenzinssätzen können ihr Haus oder Auto nicht mehr abbezahlen, und generell geht die Konsumnachfrage zurück.

Gleichzeitig ist nicht gesagt, dass das überhaupt wirkt. Die gegenwärtige Inflationsperiode geht nicht auf eine „heißgelaufene“ Wirtschaft, schnell wachsende Löhne und massive Investitionen zurück, sondern auf fallende Profitraten und stockende Lieferketten. Daran ändert der erhöhte Leitzins gar nichts, er droht aber den Rezessionsanteil an einer Stagflation noch zu verschlimmern.

Auch einzelne Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter:innen würden sich zu Zinserhöhungen überreden lassen, wenn sie von einer „nachfrageseitigen“ (also von Investitionen und Lohnerhöhungen) getriebenen Inflation ausgehen. Das verstehen sie teilweise unter verantwortungsvoller, keynesianischer Wirtschaftspolitik. Gleichzeitig fordern sie den Beschäftigungserhalt durch staatliche Subventionen und Absicherung der sozial am schlimmsten Betroffenen. Das bedeutet aber nur, dass die Kapitalakkumulation stockt, Firmen nicht mehr produzieren, während die Auswirkungen aus Steuern beglichen werden. Und die zahlen zu 80 % Arbeiter:innen aus Einkommens- und Konsumsteuern.

WIFO-Preisdeckel: Umverteilung von unten nach oben

Ein anderer bürgerlicher Ansatz wird im Moment mit der lieben Bezeichnung Felbermayr-Deckel diskutiert (der Autor dieser Zeilen muss dabei eher an die Kaffeehausschulden des WIFO-Chefs denken). Der neue Kopf an der Spitze des wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstituts empfiehlt, die Energiekosten abzufedern, indem der Staat einen Höchstpreis festsetzt (klingt schon mal gut) und den Unternehmen die Differenz zum Marktpreis bezahlt (klingt schon mal teuer). Das wäre aber nur ein riesiges Geschenk an die Übergewinne (auch zu diesem Begriff schrieben wir einen eigenen Artikel in dieser Ausgabe der flammenden) der Energiekonzerne. Ein Teil würde aus unseren Steuern kommen, ein anderer Teil durch spätere soziale Kürzungen nachfinanziert werden. Der Vorschlag ist also eher nicht so lieb und auch nicht nur teuer, sondern zu Ende gedacht wirklich reaktionär.

Grundbedürfnisse sichern durch Vergesellschaftung

Aber die garantierte Deckung der Grundbedürfnisse ist das Problem, das sich jetzt allen stellt. Für eine Lösung dessen müssen Linke jetzt den Protest sammeln, Kämpfe gewinnen können. Und gerade jetzt ist offensichtlich, dass die kapitalistische Produktionsweise diese Grundbedürfnisse nicht decken kann.

Wir fordern deshalb die Vergesellschaftung von Heizung, Wohnen und Grundnahrungsmitteln. Wir sprechen den Energie-, Immobilien- und Lebensmittelriesen das Recht ab, mit unserer Lebensgrundlage zu spielen. Wir wollen die entschädigungslose Verstaatlichung von OMV, Verbund, BUWOG, Agrana und den weniger bekannten Namen.

Aber das sind teilweise schon verstaatlichte und teilstaatliche Unternehmen, die aber als Aktiengesellschaften nach Marktlogik funktionieren. Das zeigt leider, dass eine Verstaatlichung unter bürgerlichen Regierungen nur die halbe Miete ist. Vergesellschaftung heißt mehr als das, bedeutet auf der einen Seite eben keine Aktienunternehmer:innen unter ÖBAG-Verwaltung, sondern demokratische Entscheidungen durch Kommissionen der Beschäftigten und Konsument:innen – wie ein Wiener Linienfahrgastbeirat, aber ernsthaft, gewählt und mit einer tatsächlichen Entscheidungsmacht.

Zusammen kämpfen, den Scherbenhaufen den Herrschenden überlassen!

Wir müssen um diese Forderungen kämpfen. Nicht nur, um der kommenden rechten Mobilisierung den Massenanhang zu verunmöglichen, sondern auch, weil es in den nächsten Monaten um unsere Lebensgrundlagen geht. Aber dazu kommt: Die Krise untergräbt jede Legitimation der bürgerlichen Regierungen, egal ob türkis-grün im Bund, rot-pink in Wien oder die Ampel in Deutschland.

Wir Marxist:innen sind in einer Position der Schwäche. Aber wir sind auch in einer klaren, unmissverständlichen Oppositionsrolle. Akademische, bürgerliche und reformistische Teile der Linken tendieren dazu, den Kapitalismus zu verteidigen. Vor allem wenn die rechten Argumente gegen die Regierung zu sehr an den Haaren herbeigezogen sind, wollen sie beweisen, dass es so arg nun auch nicht ist. Sie begeben sich in die Position der Herrschenden, ohne an der Macht zu sein. Sie machen sich selber zur Zielscheibe des berechtigten Protests, ohne jede Not.

Die Opposition ist die Rolle, in der sich Marxist:innen im Kapitalismus immer befinden. Aber sie ist eine besonders dankbare, wenn die Regierung ihre Legitimation mit jedem Tag mehr verliert. Die Herrschenden sind jetzt schwach und instabil. Sie werden darauf mit Zugeständnissen, aber auch Repression reagieren. Aber sie befinden sich in einer Position, wo sie Kämpfe verlieren werden. Und das kann die Opposition nachhaltig stärken, die Schwäche und den gesellschaftlichen Vertrauensverlust wettmachen, wenn wir im gemeinsamen Kampf siegreich sind.

Das bedeutet die Einheitsfront, das prinzipienfeste Bündnis mit allen Linken und Teilen der Arbeiter:innenbewegung, die jetzt um die richtigen Forderungen kämpfen wollen. Es heißt auch, die „Volksfront“, also das Bündnis mit den Bürgerlichen gegen besonders reaktionäre oder besonders blöde Teile der Rechten zu meiden wie der Teufel das Weihwasser.

International: Sturz der Regierung oder Zahlungsstreik – oder beides?

Es ist in dem Artikel schon ein- oder zweimal angeklungen: Die Teuerungswelle ist ein internationales Phänomen. Das bedeutet, auch der Widerstand muss international (und international solidarisch) sein. Aktivist:innen außerhalb von Österreich haben sich schon gute Ideen einfallen lassen.

In Sri Lanka ist als Reaktion auf die galoppierende Inflation die Regierung gestürzt worden. Nach einer Besetzung des Präsidentenpalasts traten die Minister:innen zurück. Als die Protestierenden trotzdem dort blieben (und Streiks im ganzen Land vorbereiteten), verschwand auch der rechte Präsident. Die Bewegung hat jetzt große Aufgaben vor sich. Zwischen chinesischem und US-amerikanischem Imperialismus ist wenig Spielraum, die soziale Krise in Sri Lanka sitzt tief und auch die rassistische Unterdrückung der Tamil:innen bietet Potential für reaktionäre Gegenmobilisierungen. Aber der Sturz einer Regierung durch Massenproteste ist mal ein Ansatz der zumindest nicht zu zaghaft ist.

Auch aus Britannien erreichen aufmerksame Social-Media-Nutzer:innen schöne Bilder. Eine Million Flugblätter hat die Initiative „Don’t Pay UK“ gedruckt, und 31.000 Unterstützer:innen und 4.000 Aktivist:innen in Gruppen organisiert. Sie fordern die Kürzung der Energiepreise und wollen ab 1. Oktober ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, wenn sich 1 Million dahinter stellen – Mitte August waren es mehr als Hunderttausend.

Und auch in Deutschland orientieren sich Teile der radikalen Klimabewegung auf die Vergesellschaftung der fossilen Energieunternehmen um. „RWE und Co enteignen“ orientiert sich am an der Stimmenzahl gemessen erfolgreichen Kampf gegen privatisierte Immobilien in Berlin und verbindet die Kritik an Öl und Gas mit einer Forderung nach Energieproduktion im Interesse der Bevölkerung.

Löhne rauf, Preise runter!

Und auch in Österreich nehmen Linke und Gewerkschaften die Teuerung sehr ernst. Der ÖGB hat zu einer Betriebsrätekonferenz mobilisiert und organisiert Teuerungskundgebungen in allen Bundesländern Mitte September. Zwischen radikaler Linker und Zivilgesellschaft formieren sich Bündnisse.

Gleichzeitig stehen im Herbst Lohnverhandlungen an, die mit riesigen Reallohnverlusten umgehen müssen. Die Verhandler:innen stehen unter großem Druck der Belegschaften. Und das ist gut so. Der Kampf um höhere Löhne und niedrigere Preise geht Hand in Hand. Eine starke Bewegung um beide Forderungen verhindert auch ein Einknicken, das beim ÖGB öfter vorkommt. Dazu muss sich eine Teuerungsbewegung aber das Vertrauen der Belegschaften erarbeiten, durch Solidaritätsaktionen in den Verhandlungen, gemeinsame Diskussionen und Aktionskonferenzen und echte tatkräftige Unterstützung ihrer Forderungen.

Dem ÖGB ist immer zuzutrauen, eine große Dampfablass-Aktion zu organisieren, den gesellschaftlichen Druck aber klein zu halten. Die Riesendemo gegen 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche, auf die genau gar nichts gefolgt ist, bleibt uns in bitterer Erinnerung. Aber das muss man der Gewerkschaftsspitze nicht erlauben. Solche breiten Mobilisierungen liefern eine Chance für Aktivist:innen, alle möglicherweise Interessierten zu erreichen und den Druck für konsequente Kämpfe aufzubauen. Eigene, tragfähige Aktionen der Linken erhöhen die Aufmerksamkeit der Gewerkschaftsführung und der Sozialdemokrat*innen und erschweren diesen den Ausschluss der kampfbereitesten Elemente.

Und jetzt: Bilden wir uns, organisieren wir uns, bewegen wir uns!

Der Herbst 2022 ist ein Krisenherbst. Er muss auch ein Kampfherbst werden. Die Inflation stellt die Arbeiter:innenklasse vor eine reale Existenzbedrohung und die herrschende Klasse vor eine ernsthafte Legitimitätskrise. Die kommende Rezession wird durch massive Angriffe auf uns und weitgehende Planlosigkeit der Regierung geprägt sein.

Denn Preiserhöhungen sind eine Entscheidung der einzelnen Kapitalist:innen, wo die Gegenentscheidung den Einzelnen auch nichts bringt. Weder durch gute Worte noch durch Pressekonferenzen kann der „ideelle Gesamtkapitalist“ türkis-grün daran etwas ändern, bevor es zu spät ist. Und andere Lösungen, die er hätte, gehen nur auf unsere Kosten.

Es ist jetzt an uns Revolutionär:innen und Marxist:innen, das Bündnis mit allen kampfbereiten Teilen der Arbeiter:innenklasse zu suchen. Das notwendige Problembewusstsein über die Teuerung ist da, die Zeit für eine gemeinsame Analyse der tatsächlichen kapitalistischen Ursachen bleibt auch. Durch Massenmobilisierungen, greifbare aber radikale Forderungen und nicht zuletzt die für alle offensichtliche Schwäche bürgerlicher Antworten, kann die Teuerung zurückgeschlagen werden.