Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Linksradikale Bündnispolitik zwischen Sektierertum und Pragmatismus

Martin Suchanek, Neue Internationale 281, April 2024

Auf den ersten Blick scheint Bündnispolitik eine einfache Sache zu sein. Zwei oder mehr Gruppierungen, Parteien, Organisationen schließlich sich für einen bestimmen gemeinsamen Zweck zusammen. Doch welchen Zweck verfolgen diese Bündnisse eigentlich? Geht es darum, ein bestimmtes gemeinsames Ziel durchzusetzen? Oder darum, eine längerfristige Einheit von „Revolutionär:innen“ in Form eines „revolutionären Bündnisses“ zu schaffen? Mit wem können diese eingegangen werden? Nur mit „Linken“? Mit welchen Klassenkräften? Nur mit der Basis oder auch mit der Führung reformistischer (bürgerlicher) Arbeiter:innenorganisationen? Oder sind für bestimmte Aktivitäten – z. B. im Kampf gegen den Faschismus – für uns sogar alle „Demokrat:innen“ Bündnispartner:innen? Wie weit kann sich ein solches Bündnis erstrecken? Nur für bestimmte Aktionen oder auch den Eintritt in eine Regierung?

Auf diese Fragen geben die verschiedenen Organisationen der deutschen Linken fast ebenso viele Antworten. Auf sich alleine gestellt kann keine linke Kraft etwas durchsetzen. Diese Binsenweisheit betrifft nicht nur die radikale Linke, sondern auch die reformistischen Organisationen (z. B. die Linkspartei), populistische Kräfte wie BSW, linke Sozialdemokrat:innen. Kein Wunder also, dass die Frage nach gesellschaftlicher Wirkmächtigkeit in der „radikalen“ Linken, die selbst politisch, programmatisch und hinsichtlich ihres Klassenstandpunktes überaus heterogen ist, eng an „Bündnispolitik“ gekoppelt ist.

Und das durchaus mit Recht. Schließlich erfordern die Abwehr grundlegender politischer und wirtschaftlicher Angriffe wie auch die Erringung von Verbesserungen (Reformen) Massenkräfte, über die die radikale Linke schlichtweg nicht verfügt. Ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit stellt im Grunde kein Rätsel dar – und die Lösung desselben besteht nicht darin, dass die „radikale“ Linke für sich stark genug wird, etwas „alleine“ durchzusetzen.

Keine Bündnispolitik ist auch keine Lösung

Der Charme dieser Vorstellung, sofern man davon überhaupt sprechen kann, besteht wohl darin, dass man sich damit sämtliche Fragen von Bündnispolitik mit „nicht-revolutionären“, nicht „antikapitalistischen“ Kräften spart, diese allenfalls auf episodische Aktionen beschränkt und ansonsten hofft, irgendwann einmal so stark zu sein, wenn schon nicht die Welt selbst aus den Angeln heben, so doch seinen eigenen „Freiraum“ oder „Space“ verteidigen zu können.

Ironischerweise ähnelt diese linksradikale Vorstellung dem sozialdemokratischen Gradualismus mehr, als ihr lieb sein kann. So gingen die Parteien der Zweiten Internationale vor dem Ersten Weltkrieg davon aus, dass der Aufbau der eigenen, einheitlichen Arbeiter:innenbewegung schrittweise, aber faktisch unaufhaltsam so vorangehen würde, bis eine expandierende Gewerkschaftsbewegung, eine parlamentarisch und organisatorisch immer stärkere Partei sowie zahlreiche Vorfeldorganisationen dereinst so stark würden, dass  ihnen bei einer tiefen Krise der Gesellschaft die Macht als Mehrheit der Gesellschaft zufiele.

Die Vorstellung, sich selbst durch den Aufbau eigener „Gegenstrukturen“, durch eine „autonome“ Gegenwelt, Kiezarbeit oder den Aufbau „eigener“ Gewerkschaften, unabhängig von existierenden, wenn auch verbürokratisierten und sozialdemokratisch geprägten, aufzubauen und schließlich mehr und mehr „Gebiete“ für sich zu erringen, weiter zu expandieren, reproduziert im Grunde den sozialdemokratischen Gradualismus, wenn auch mit viel verbalradikalem Glitzern.

In beiden Fällen erscheint die Frage der Bündnispolitik und damit des Verhältnisses zu anderen Kräften der Arbeiter:innenbewegung, der gesellschaftlich Unterdrückten wie auch gegenüber klassenübergreifenden Bewegungen, die oft von kleinbürgerlichen oder gar bürgerlichen Kräften dominiert sind, allenfalls als Nebenfrage. „Revolutionäre“ oder „linksradikale“ Politik ist in diesem Kontext letztlich wesentlich selbstreferentiell, fokussiert sich im Grunde auf die Ausdehnung des eigenen Milieus, der eigenen Kiezstrukturen oder, im Falle des Anarchosyndikalismus, der eigenen Gewerkschaft.

Veränderte Lage und Fehler

Doch die Erfahrung zeigt, dass die Angriffe der herrschenden Klasse und der Rechtsruck diese „eigenen“ Strukturen mehr und mehr zurückdrängen. Dies führte dazu, dass viele linksradikale Gruppierungen einen Kurs auf eine „flexiblere“ Bündnispolitik eingeschlagen haben, wobei dann oft genug das selbstreferentielle Sektierertum in sein Gegenteil, nämlich Pragmatismus und Opportunismus, umschlägt. Häufig erleben wir zudem eine Mischung aus beiden Phänomenen.

So stellen sich gerade deutsche Linke, die Bündnisse schmieden wollen, oft nicht so sehr die Frage, welche Kräfte für eine bestimmte gemeinsame Aktion, eine Demonstration gewonnen werden können, sondern wer als möglicher Partner erst gar nicht infrage kommt. Andere wiederum gehen davon aus, dass Bündnisse beinhalten, dass die teilnehmenden Organisationen ihre Differenzen zumindest für dessen Dauer hintanstellen, ihre Partner:innen nicht öffentlich kritisieren.

Zumeist treten diese beiden Fehler kombiniert auf – und zwar nicht nur bei gesellschaftlich wenig relevanten Kleinstaktionen, sondern auch in den wenigen Fällen, wo die radikale Linke wirklich relevante Kampagnen auf die Beine stellt. So z. B. in Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Einerseits verteidigte die politisch maßgebliche Interventionistische Linke dort jahrelang eine Politik, die die Linkspartei nicht nur richtigerweise als Verbündete ins Boot holte, sondern zugleich auch vor jeder Kritik abschirmte. Sie verhielt sich opportunistisch gegenüber dem Reformismus. Gegenüber revolutionären Organisationen wie der Gruppe Arbeiter:innenmacht verhielt sie sich hingegen sektiererisch und führte einen regelrechten Kleinkrieg, um Diskussionen und demokratische Debatten über die Strategie von DWe abzuwürgen. Diese Politik war letztlich mitverantwortlich dafür, dass DWe trotz eines riesigen Abstimmungserfolges und einer breiten Aktivist:innenbasis keine Antwort auf die Taktik des rot-rot-grünen Senats (einschließlich der Linkspartei) hatte, die den Volksentscheid in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgte.

Bedeutung

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Frage einer korrekten Bündnispolitik keineswegs nur eine von theoretischen Diskussionen ist, sondern trotz der Marginalisierung und geringen Größe der „radikalen Linken“ eine aktuelle darstellt. Daraus folgt die Notwendigkeit, diesen Themenkomplex systematischer zu diskutieren und fassen.

Es zeigt sich dabei, dass der Begriff „Bündnispolitik“ selbst ein oberflächlicher ist. Die Frage nach einer revolutionären Politik gegenüber anderen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung kann letztlich nur beantwortet werden, wenn wir sie im Rahmen des Klassenkampfes, des Kampfes um die sozialistische Revolution und Transformation der Gesellschaft begreifen.

Für Revolutionär:innen folgen die Prinzipien einer korrekten Bündnispolitik aus dem Verständnis des Klassenkampfes sowie des Verhältnisses zu anderen Organisationen der Bewegung der Lohnabhängigen, zu Parteien und Gewerkschaften.

Klasse und revolutionäre Organisation

Die Arbeiter:innenklasse tritt in den Klassenkampf immer schon als historisch geformte. Sie ist nie einheitlich, sondern schon aufgrund der Kapitalbewegung, die ihrer eigenen Formierung den Stempel aufdrückt, in sich differenziert. Hinzu kommt, dass das gesellschaftlich grundlegende Klassenverhältnis immer mit anderen Unterdrückungsverhältnissen verwoben ist und mit diesen reproduziert wird.

Schließlich ist jede Klasse auch ideologisch, politisch und gewerkschaftlich sowie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Klassen geformt. In Deutschland z. B. prägten (und prägen bis heute) der Reformismus der Sozialdemokratie, den die Linkspartei letztlich nur „links“ kopiert, sowie die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter:innenklasse. Dies beinhaltet auch eine spezifische Form der Trennung zwischen ökonomischen und politischem Kampf. Die radikale Linke war gegenüber diesen Kräften über Jahrzehnte weitestgehend marginalisiert, was auch die relative Stärke kleinbürgerlicher Ideologien in ihren Organisationen erklärt.

Uns geht es an dieser Stelle jedoch nicht um eine detaillierte Analyse der deutschen Arbeiter:innenklasse, sondern vor allem um ein alle kapitalistischen Gesellschaften charakterisierendes Phänomen. Die Lohnabhängigen selbst sind politisch-ideologisch gespalten. Der Kampf gegen das Kapital und für politische Reformen (ganz zu schweigen von der Revolution) erfordert aber in allen seinen Formen eine größtmögliche Einheit. Das wird in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen unmittelbar nachvollziehbar. Kein Streik ist lange durchhaltbar, wenn ihm eine Mehrheit der Arbeiter:innen feindlich gegenübersteht.

Doch wie entsteht diese Einheit? Wären alle oder jedenfalls die überwiegende Mehrheit der Arbeiter:innen in einer revolutionären Partei vereinigt, so würde sich die Frage nach dem Verhältnis zu anderen Organisationen nicht stellen. Aber diese Phase der alle Lohnabhängigen umfassenden Arbeiter:innenbewegung gab es allenfalls in Ansätzen in der vorimperialistischen Epoche. Mit der grundlegenden und historisch unwiderruflichen Trennung von revolutionär-kommunistischer Arbeiter:innenbewegung und Reformismus als bürgerlicher Kraft in der Arbeiter:innenbewegung, dessen Wurzeln selbst in der imperialistischen Ordnung liegen, ist diese Phase unwiederbringlich vorbei. Die langfristige, strategische Einheit von Revolutionär:innen und Reformist:innen ist in der imperialistischen Epoche utopisch und reaktionär, weil beide letztlich gegensätzliche Klassenstandpunkte vertreten – den Sturz des Kapitalismus oder dessen Verwaltung. Der Reformismus ist nicht einfach ein langsamerer Weg zum sozialistischen Ziel, sondern verteidigt vielmehr in allen entscheidenden großen Klassenkämpfen die bestehende Ordnung.

Doch revolutionäre Politik, also die kommunistischer Parteien (oder von Organisationen, die eine solche aufbauen wollen), kann ihr strategisches Ziel – die sozialistische Revolution und die Errichtung der Diktatur des Proletariats – letztlich nur erreichen, wenn sie die nicht-kommunistischen Arbeiter:innen für den gemeinsamen Kampf gegen das Kapital gewinnt, ihnen praktisch den bürgerlichen Charakter der Politik ihrer reformistischen Führungen vor Augen führt und so deren verräterische Praxis entlarvt.

Strategie und Taktik

Die Kommunistische Internationale hat diese Fragen der „Bündnispolitik“ unter Führung Lenins und Trotzkis beim Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale unter dem Begriff Arbeiter:inneneinheitsfront systematisiert. Dabei überwand sie zahlreiche linksradikale Fehler und Irrtümer, die sich jedoch mit der Degeneration der KI unter Sinowjew sowie unter Stalin wiederholten (z. B. in der sog. Dritten Periode), um schließlich durch die opportunistische Politik der Volksfront ersetzt zu werden.

Für das Verständnis der Einheitsfrontpolitik stellen die Debatten und Beschlüsse der ersten vier Kongresse der KI, Lenins Polemiken gegen den „Linksradikalismus“ sowie Trotzkis Arbeiten zur Einheitsfront (z. B. in den „Schriften über Deutschland“) einen unschätzbaren Fundus dar.

Dabei sind mehrere Punkte von entscheidender Bedeutung. In der KI wurden – anders als in der Zweiten Internationale – Fragen der Taktik im Rahmen der kommunistischen Strategie der Machteroberung des Proletariats systematisch behandelt. Dabei bleibt natürlich die Taktik immer der Strategie untergeordnet, was aber keineswegs bedeutet, dass taktische Fragen einen nebensächlichen Charakter trügen. Vielmehr bleibt das strategische Ziel unerreichbar, wenn der Weg dahin nicht durch eine korrekte Durchführung kommunistischer Taktiken beschritten wird. Ohne diese Konkretisierung und Vermittlung hängt die strategische Zielsetzung im luftleeren Raum, verkommt zu einem bloßen Bekenntnis.

Ziele der Einheitsfront

Für die KI verfolgt die Einheitsfronttaktik zwei Ziele. Einerseits die Herstellung der größtmöglichen Kampfeinheit aller Arbeiter:innenorganisationen. Andererseits die Entlarvung der reformistischen, kleinbürgerlichen, bürokratischen Führungen dieser Organisationen als Agent:innen der Bourgeoisie, die unfähig sind, das Proletariat zum Sieg zu führen.

Eine korrekte Anwendung der Einheitsfronttaktik darf dabei keines der beiden Ziele zum „eigentlichen“ oder gar alleinigen verklären. Eine Einheitsfronttaktik, die nur auf die Denunziation des Reformismus zielt, beispielsweise indem Forderungen zur Vorbedingung für den gemeinsamen Kampf gemacht werden, die reformistische Arbeiter:innen und Führer:innen ablehnen, weil sie Reformist:innen sind, ist nutzlos und schadet mehr, als sie nützt. So macht es keinen Sinn, die reformistischen Führungen dadurch vorzuführen zu wollen, dass man den Kampf für die Diktatur des Proletariats oder sozialistische Revolution zum „Programm der Einheitsfront“ machen will. Dies wird vielmehr von Führung wie Basis des Reformismus als Ultimatum begriffen werden. Es macht das Ziel der Einheitsfronttaktik – nämlich die reformistischen Arbeiter:innen durch die gemeinsame Aktion oder das Angebot dafür von der Untauglichkeit des Reformismus zu überzeugen – letztlich zur Vorbedingung für die Einheitsfront.

Ein umgekehrter Fehler bestände jedoch darin, einen Einheitsfrontvorschlag immer nur darauf zu begrenzen, was für die reformistischen Führungen annehmbar ist. So wäre es z. B. ein schwerer Fehler gewesen, im Kampf gegen die Rentenreform Macrons, einen Generalangriff auf die gesamte Arbeiter:innenklasse, dessen Abwehr einen Generalstreik erfordert hätte, auf die Generalstreiklosung zu verzichten oder diese nicht an die Führungen der Gewerkschaften zu richten, weil diese ja ohnehin dagegen wären. Kommunist:innen müssen vielmehr einen Einheitsfrontvorschlag für ein bestimmtes Ziel – in diesem Fall die Abwehr der Rentenkürzungen – damit verbinden, Kampfmethoden vorzuschlagen, die für sein Erreichen notwendig sind.

Es geht also nicht darum, immer die radikalste Aktionsform vorzuschlagen, sondern eine, die einem bestimmten Ziel angemessen ist. So wäre es z. B. albern, in jedem Tarifkampf auch gleich den Generalstreik zu fordern. Damit würden nicht die Bürokrat:innen entlarvt. Vielmehr erschienen die Revolutionär:innen in den Augen der Arbeiter:innen nur als Maulheld:innen und unverantwortliche Abenteuer:innen.

Führung und Basis

In jedem Fall ist es aber von grundlegender Bedeutung, Einheitsfrontangebote und Forderungen nicht nur an die Führungen der reformistischen Arbeiter:innenorganisationen, sondern auch an deren Basis zu richten. Umgekehrt stellt ein Vorschlag, der sich nur an die Basis richtet, die sog. „Einheitsfront von unten“, selbst einen ultimatistischen Bruch mit der gesamten Taktik dar. Ähnlich wie rein denunziatorische „Angebote“ setzt die Forderung an die Mitglieder der Linkspartei oder der SPD oder jeder anderen bürgerlichen Arbeiter:innenorganisation, ohne ihre Führung, ohne ihre Partei in ein Bündnis einzutreten, im Grunde den Bruch mit ihrer Organisation voraus.

Schließlich geht es auch darum, der jeweiligen Einheitsfront angemessene Formen zur Organisierung des Kampfes vorzuschlagen. So wäre es z. B. bei Streikkämpfen immer notwendig, die Frage von Belegschafts- und Abteilungsversammlungen sowie der Wahl und Abwählbarkeit von Streikkomitees aufzuwerfen, gewissermaßen der Basisstrukturen der Einheitsfront.

Unterschiedliche Formen

Da die Arbeiter:inneneinheitsfront sehr viele Formen annehmen kann, von einmaligen Aktionen (z. B. eine Solidaritätsdemonstration) bis hin zu längerfristig angelegten Formen (z. B. die Arbeiter:inneneinheitsfront gegen Faschismus, Aufbau von Selbstverteidigungsorganen) und sie zudem in sehr verschiedenen Klassenkampfsituationen angewandt wird, gibt es kein festgelegtes Programm dafür. Um welche Forderungen eine solche gebildet werden soll und was dabei im Vordergrund steht, hängt vielmehr von der Klassenkampfsituation ab. In jedem Fall sollten Revolutionär:innen die Einheitsfront auf den Kampf um klar umrissene, konkrete Ziele und Forderungen konzentrieren, ja beschränken.

Das Ziel der Einheitsfront bzw. der Anwendung der Einheitsfronttaktik besteht nicht darin, einen möglichst langen Katalog gemeinsamer Ziele zu formulieren, sondern darin, eine verbindliche und überprüfbare Aktion durchzuführen. Weniger ist hier in der Regel besser. Lange Forderungskataloge, die neben den eigentlichen Aktionszielen zahlreiche andere an sich wünschenswerte, gar radikale, antikapitalistische Formulierungen enthalten, bringen die Aktion nicht weiter. Entweder liefern sie den Reformist:innen einen Vorwand, sich nicht zu beteiligen. Oder sie erlauben ihnen, sich durch verbale Bekenntnisse als linker hinzustellen, als sie sind. Hier schlägt die Absicht, einen radikalen Aufruf zu verbreiten, ungewollt in eine politische Hilfeleistung für den Reformismus um.

Massenorganisationen

Entscheidend bei der Einheitsfronttaktik ist schließlich auch, dass sie sich an Massenorganisationen richtet. Für die KI bezog sie sich vor allem auf die reformistischen, sozialchauvinistischen Parteien und die von ihnen geführten Gewerkschaften. Die Einheitsfront ist ausdrücklich kein Personenbündnis oder eine Sammlung möglichst vieler Individuen. Die Tatsache, dass die Einheitsfront auch erklärten Feind:innen der Revolution vorgeschlagen wird und mit ihnen eingegangen werden kann und soll, führte und führt immer wieder zu Vorbehalten gegenüber dieser Taktik. Schließlich hatte die deutsche Sozialdemokratie nicht nur den imperialistischen Krieg unterstützt, sondern maßgeblich zur Niederschlagung der Revolution samt der Ermordung von Luxemburg, Liebknecht und Tausender revolutionärer Arbeiter:innen beigetragen. Diese Kritik, so die KI, dürfen Revolutionär:innen natürlich nie verschweigen. Aber die Frage der Einheitsfront, die, so Lenin, auch mit des Teufels Großmutter möglich wäre, wenn sie eine verbürgerlichte, proimperialistische Arbeiter:innenpartei führen würde, bezieht sich letztlich darauf, wie Kommunist:innen die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse und vor allem ihren reformistischen Teil für ihre Programmatik gewinnen können. Wie lange die Taktik notwendig bleibt, hängt nicht davon ab, wie viele Verbrechen die reformistischen Führungen schon begangen haben, sondern davon, wie lange sie sich einen Einfluss über einen bedeutenden Teil der Arbeiter:innenklasse bewahren können.

Wenn wir diese historischen Lehren heute anwenden wollen, so müssen wir auch verstehen, dass die Grundprinzipien der Einheitsfrontmethode für kommunistische Parteien, nicht für Propagandagruppen entwickelt wurden. Eine Arbeiter:inneneinheitsfront im eigentlichen Sinn ist ein Abkommen zwischen revolutionären und reformistischen Massenorganisationen, nicht zwischen kleinen Gruppen. Denn nur Erstere sind in der Lage, auch wirklich die gemeinsamen Ziele gegenüber dem Klassenfeind durchzusetzen, weil sie – im Gegensatz zu kleinen Gruppen – über die dazu nötigen Machtmittel verfügen.

Der KI war darüber hinaus bewusst, dass die Reformist:innen in der großen Mehrzahl der Fälle eine Einheitsfront erst gar nicht eingehen würden, dass ihre Führungen es vorziehen, den Kampf zu hintertreiben oder mit offen bürgerlichen Kräften zu paktieren, statt mit den Kommunist:innen gemeinsame Sache zu machen. Darin drückt sich die vom reformistischen Standpunkt aus durchaus nachvollziehbare, antirevolutionäre Position aus, dass der gemeinsame Kampf mit Kommunist:innen die reformistischen Arbeiter:innen deren Argumenten stärker aussetzt, die Kommunist:innen den Unmut der reformistischen Arbeiter:innen aufgreifen. Daher antworteten sozialdemokratische Parteien und Gewerkschaftsführungen in der Geschichte oft ablehnend auf kommunistische Einheitsfrontangebote. Doch dieses Nichtzustandekommen macht die Taktik keineswegs nutzlos, vielmehr erstreckt sie sich auch auf diesen vorbereitenden Weg. Lehnen nämlich die reformistischen Führer:innen einen in den Augen der reformistischen Arbeiter:innen vernünftigen und ernsthaften Vorschlag ab (oder gehen sie gar repressiv gegen Mitglieder vor, die für die Einheitsfront eintreten), so nützt auch das den Kommunist:innen.

Umgekehrt kann eine Einheitsfront von Kommunist:innen auf keinen Fall zurückgewiesen werden, weil die Reformist:innen bei einem erfolgreichen Kampf auch an Einfluss gewinnen könnten. In manchen Fällen mag das durchaus der Fall sein. Doch kommt dies einem klassenpolitischen Tunnelblick gleich, zumal in Krisenperioden. Nehmen wir einmal an, die Gewerkschaftsbürokratie würde unter dem Druck von unten und einer sich formierenden klassenkämpferischen Opposition einen erfolgreichen Streik führen müssen und echte Lohnzuwächse oder eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich erzielen. Das Prestige dieser Führung würde steigen, eventuell auch die Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems, weil man ja eine erfolgreiche Reform durchgesetzt hat.

Aber es würde auch das Selbstvertrauen und -bewusstsein der Arbeiter:innen in diesem Wirtschaftszweig sowie der gesamten Klasse heben. Gleichzeitig würde sich die herrschende Klasse, die ohnedies unter verschärfter globaler Konkurrenz steht, mit einem solchen Abkommen nicht abfinden wollen, sondern möglichst rasch versuchen, den Erfolg rückgängig zu machen und den Arbeiter:innen eine Niederlage beizufügen. Die reformistischen Führer:innen würden so von allen Seiten unter Druck geraten und die Aufgabe der Revolutionär:innen bestünde darin, diesen durch eine systematische Einheitsfrontpolitik zu verstärken und die Arbeiter:innen auf die nächste Runde des Kampfes vorzubereiten. Denn auch wenn reformistische und bürokratische Führungen durchaus an der Spitze erfolgreicher Teilkämpfe stehen können, so lässt die aktuelle Lage nicht zu, dass sich ein längerfristiges System des sozialpartnerschaftlichen „Klassenausgleichs“ wieder stabilisiert.

Und genau darin – diese Teilkämpfe als Teil eines längerfristigen Ringens um den Sozialismus zu begreifen und führen – unterscheidet sich die revolutionäre von der reformistischen Strategie. In diesem Kontext bildet die Einheitsfronttaktik historisch wie aktuell ein unerlässliches Mittel des Kampfes für die Revolution.

Zu Recht wurde die Einheitsfrontmethode oft mit der militärischen Metapher „Getrennt marschieren – vereint schlagen!“ zusammengefasst. Sie stellt eine flexible, sehr variantenreiche Taktik der gemeinsamen, einheitlichen Aktion gegen den Klassenfeind dar. Zugleich erfordert sie jedoch unbedingt, dass Revolutionär:innen in keiner Phase – auch nicht in der gemeinsamen Aktion – ihre eigentlichen Ziele vor den Massen verbergen und auf die notwendige und berechtigte Kritik an nicht-revolutionären Verbündeten verzichten. Einheitsfront und Propagandafreiheit müssen vielmehr Hand in Hand gehen. Nur so können die beiden Ziele dieser Taktik – größtmögliche Einheit gegen das Kapital und Entlarvung der reformistischen Führungen – erreicht werden. Nur so kann die Taktik als unerlässliches Werkzeug zum Aufbau einer revolutionären Partei fungieren.

Anhang: Einheitsfront und Propagandagruppen

Die Einheitsfronttaktik im eigentlichen Sinn ist die einer kommunistischen Partei gegenüber Massenorganisationen. In Deutschland befindet sich die radikale Linke seit Jahren in einem Zustand der Marginalisierung, der es ihr in der Regel verunmöglicht, Massenorganisationen unter Druck zu setzen oder gar zur Aktion zu zwingen. Dies ist allenfalls möglich, wenn es größere gesellschaftliche Bewegungen gibt und kleinere Gruppen ihre Kräfte bündeln, um Druck auf Massenorganisationen für bestimmte, spezifische Forderungen auszuüben.

Unabhängig davon besteht für Vorformen revolutionärer Organisationen auch immer die Pflicht zu skizzieren, welche Taktiken, welche Bündnisse, welche Forderungen und Aktionsformen notwendig wären, um zentrale gesellschaftliche Kämpfe zum Erfolg zu führen. Das schließt notwendigerweise die Propagierung der Einheitsfronttaktik ein, d. h. eine Skizze, welche Massenkräfte in Bewegung gesetzt, welche Forderungen gegenüber bestehenden Massenorganisationen erhoben werden müssen, um diese in Bewegung zu bringen. Ansonsten bleibt die Propaganda letztlich abstrakt. Die Erarbeitung und Herleitung eines richtigen Verständnisses der Einheitsfrontpolitik ist selbst ein unerlässlicher Bestandteil dieser Arbeit.

Die deutsche radikale Linke will davon in der Regel jedoch nichts wissen. Das spiegelt selbst die Isolierung von der Arbeiter:innenklasse wider, die sich nicht nur auf politischer, sondern auch auf gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene offenbart. Hinzu kommt, dass ein Teil der Linken dieses Problem durch Anpassung an die Apparate (Entrismus in DIE LINKE, Posten in den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie, Versorgungsposten in der akademischen Welt) löst. Dies gilt anderen Teilen der Linken durchaus nachvollziehbar als abschreckendes Beispiel.

Daher verfällt ein anderer, scheinbar radikalerer Teil der deutschen Linken auf den ultralinken Fehler, am liebsten Bündnisse mit sich selbst zu machen, bis hin zu sog. „revolutionären Bündnissen“. Für die Tradition der KI stellen diese eigentlich ein Unding dar, bezieht sich doch das eigentliche Problem der gesamten Einheitsfrontpolitik auf das Verhältnis von revolutionären zu nicht-revolutionären, bürgerlichen, letztlich oft konterrevolutionären Arbeiter:innenorganisationen.

Nehmen wir das „revolutionäre“, „linksradikale“ Bündnis beim Wort, so handelt es sich um keine Einheitsfront. Sollte sich ein solches Bündnis als revolutionär bezeichnen, so wirft das unmittelbar die Frage auf, was eigentlich „revolutionär“ bedeutet. Sollte es wirklich so viele Gemeinsamkeiten geben, dass Übereinstimmung nicht nur bezüglich des allgemeinen Zieles, sondern auch zu vielen grundlegenden theoretischen Fragen, zur Einschätzung der Weltlage, zu programmatischen und taktischen Schlüsselfragen (Krieg, Krise, Taktik gegenüber Gewerkschaften und anderen Arbeiter:innenorganisationen, sozialer Unterdrückung, Übergangsmethode usw.) besteht, so müssten sich die in einem solchen Bündnis versammelten Gruppen nicht die Frage nach einem Bündnis, sondern nach einer programmatischen Diskussion mit den Ziel der revolutionären Vereinigung stellen.

Ein Blick auf die meisten „radikalen“ oder „antikapitalistischen“ Bündnisse zeigt aber, dass die Gruppen darin im Grund nur ein Bekenntnis zur „Revolution“ oder einer „anderen Gesellschaft“ eint, ansonsten aber grundlegende Differenzen vorherrschen. Es handelt sich um eine Pseudoeinheit, die weder für den konkreten Kampf hilfreich ist noch zur politischen Klärung beiträgt. Im schlimmsten Fall ist es ein politisches Stillhalteabkommen, bei dem falsche Programmatik und Politik der „Bündnispartner:innen“ nicht weiter kritisiert werden.

Im Grunde legen alle solche Bündnisse immer eine Tendenz zu einem Propagandablock und politischen Stillhalteabkommen politisch-ideologisch weit entfernter oder gar gegensätzlicher Gruppen an den Tag. Sie werden direkt kontraproduktiv für den Klassenkampf und daher für Kommunist:innen unzulässig, wenn sie sich als Alternative zur Gewinnung von Massenorganisationen für den Kampf betrachten.

Bündnisse und Initiativen auch kleiner linker Gruppen können jedoch eine fortschrittliche Rolle spielen, wenn sie nicht einfach das bleiben wollen, was sie sind. So waren verschiedene kleinere linke Gruppen und die Gewerkschaftslinke Anfang des Jahrhunderts im Anschluss an die Bewegung gegen Hartz IV in Aktionskonferenzen in der Lage, große Proteste gegen die Angriffe der Regierung Schröder/Fischer zu organisieren. Diese mündeten in einer bundesweiten Demo gegen Sozialabbau mit 100.000 Teilnehmer:innen, die ihrerseits den DGB zu regionalen Demonstrationen mit weit über eine halben Million Gewerkschafter:innen zwang, wenn auch nur einmalig. Auch die Bildungsstreikbewegung ging ursprünglich von kleineren Gruppen und Bündnissen aus, zwang aber Student:innenvertretungen und größere Organisationen zu Mobilisierungen, an denen sich bundesweit weit mehr als 100.000 Jugendliche beteiligten.

Ein weiteres, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel dafür sind klassenkämpferische Blöcke am Ersten Mai. Sie stellen Mittel dar, um einen gewissen Einfluss auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen zu nehmen und diese mit einer weitergehenden Perspektive zu konfrontieren. Daher arbeiten wir auch in der VKG, die selbst sowohl Züge eines linken Bündnisses trägt, zugleich aber den Keim einer klassenkämpferischen Basisbewegung, einer Art Einheitsfront gegen die Bürokratie in den Betrieben und Gewerkschaften darstellt. In dem Maße, in dem sie die Gewinnung der Massenorganisationen der Arbeiter:innen für die jeweiligen Ziele des Kampfes in den Vordergrund rücken und, wie im Falle der VKG, die klassenkämpferische, antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften, können auch Bündnisse von Propagandagruppen als Formen der Einheitsfront verstanden werden. Es muss aber immer bewusst sein, dass diese Miniaturfronten nur einen schwachen Keim dafür pflanzen können. Unter dieser Voraussetzung aber können sie zum wirklichen Mittel geraten, damit auch kleine Gruppierungen in der Lage sind, Massenkräfte in die Aktion zu zwingen, sodass die Keimform zum Mittel wird, wirkliche Einheitsfronten der Arbeiter:innen und Unterdrückten herzustellen. Dadurch können auch kämpfende Propagandagruppen einen Faktor bei größeren Mobilisierungen darstellen und eine aktive Rolle darin spielen.




Kritik des transnationalen Feminismus

Leonie Schmidt, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Transnationaler Feminismus? Viele, insbesondere im deutschsprachigen Raum, haben diesen Begriff wahrscheinlich noch nicht gehört. Doch Autorinnen wie Arruza, Bhattacharya und Fraser, die „Feminismus für die 99%“ verfasst haben oder Verónica Gago, die in„How to change everything“ einen Vorschlag für eine feministische Internationale skizziert – sie alle sind  von theoretischen Konzeptionen des transnationalen Feminismus geprägt. Daher durchziehen diese Ideen auch die Frauen-/Fem*Streikbewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern am 8. März viele Personen auf die Straße bringen konnten.

Feministische Streikwelle

Die Streiks haben ihren Ursprung 2016 in Lateinamerika im Rahmen der ursprünglich argentinischen Bewegung #Ni Una Menos (Nicht eine mehr), welche sich vor allem auf die vielzähligen Femizide bezog, und breiteten sich bis 2019 weltweit aus. So gingen am 8. März 2018 in über 177 Ländern Menschen für die Rechte der Frauen auf die Straße. Allein in Spanien streikten 2018 und 2019 6 Millionen Frauen gegen sexuelle Gewalt, für gleiche Löhne und das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In der Türkei demonstrierten mehrere Tausende trotz starker Repression seitens des Erdogan-Regimes. In Pakistan beteiligten sich am Aurat-Marsch in den größeren Städten wie Lahore, Karatschi, Hyderabad und Islamabad ebenfalls Tausende an den Aufmärschen. Doch Pandemie und daraus resultierende Einschränkungen von Protestmöglichkeiten haben scheinbar zu einem Abflachen der Bewegung geführt. Es folgten Solidarisierungen mit dem Protest iranischer Frauen sowie lokale Streiks, welche über das Jahr verteilt stattfanden, wie in der Schweiz, Baskenland oder in Island (siehe Artikel dazu in dieser Ausgabe).

Doch die immense Kraft des internationaler Frauen-/ Fem*Streiks konnte auf lokaler Ebene nicht derartig reproduziert werden. Denn wenngleich sich die Organisator:innen immer wieder auch auf Frauen in anderen Ländern und deren Kämpfe bezogen, das Ausbleiben von internationaler Absprache und Koordinierung, die diese Streikbewegung auf ein höheres Level heben könnten, blieb aus.

Die Potenziale und die ursprüngliche Anziehungskraft, die die Frauen-/Fem*Streikbewegung ausübte, wurden also nicht genutzt. Im Folgenden wollen wir uns deswegen anschauen, welche Rolle der transnationale Feminismus dabei spielt. Dafür wollen wir zuerst betrachten, was diesen überhaupt ausmacht, wie er entstehen und sich etablieren konnte, und gehen dann über in eine Kritik der theoretischen Ansätze. Im letzten Teil wollen wir dann aufzeigen, was unserer Meinung nach stattdessen notwendig ist, um den Imperialismus und seine patriarchalen Strukturen weltweit zu schlagen.

Was ist überhaupt transnationaler Feminismus?

Wie bei den meisten politischen Strömungen, gibt es auch im transnationalen Feminismus unterschiedliche Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen. Den gemeinsamen Kern bildet jedoch die Ablehnung einer globalen, international zusammenhängenden und koordinierten feministischen Bewegung. Dies entspringt aus der Annahme, dass nicht alle Frauen auf die gleiche Weise und aus gleichen Gründen unterdrückt werden. Somit haben und können sie auch  keine gleichen Interessen vertreten. Die Ausmaße dieser Ablehnung sind von Theoretiker:in zu Theoretiker:in unterschiedlich stark ausgeprägt. So fordern fordern manche durchaus eine lose Zusammenarbeit, eine gegenseitige Bezugnahme und einen Erfahrungsaustausch, wie sie auch in der Frauen-/Fem*Streikbewegung stellenweise umgesetzt wurden.

Dem zugrundeliegende Idee ist die Ablehnung der „globalen Schwesternschaft“, die vom westlichen Feminismus propagiert wird. Das schließt auch ein, dass feministische Ideale oder Werte, wie sie von westlichen Feminist:innen auf Frauen aus Halbkolonien projiziert werden, als eurozentrisch, unangebracht sowie paternalistisch verstanden werden. Das Leben in der westlichen Welt solle als Ideal übergestülpt werden – obwohl es komischerweise auch dort noch Frauenunterdrückung gibt. Ein nachvollziehbares Beispiel sind Vertreter:innen wie Alice Schwarzer, die der Meinung sind, Frauen aus Halbkolonien müssten in erster Linie gegen religiöse Unterdrückung kämpfen und wären frei, sobald sie beispielsweise das Kopftuch ablegen „dürften“ – ganz egal ob diese vielleicht ganz andere Probleme für ihre Unterdrückung als Frau identifizieren (zum Beispiel imperialistische Ausbeutung und Abhängigkeiten). Oftmals geht dies damit einher, Frauen aus Halbkolinien in eine Opferrolle zu drängen. Schließlich müssen die „erstmal über ihre Rechte aufgeklärt werden“. Gleichzeitig gehen Teile des transnationalen Feminismus (z. B. Spivak, Mitbegründerin der postkolonialen Theorie) sogar von einer Kompliz:innenschaft westlicher Frauen mit dem westlichen Imperialismus aus, weswegen das Ziel von Spivak nicht darin besteht, Gemeinsamkeiten in ihrer Lage als unterdrückte Frauen zu erkennen, sondern die Verbindung („linkage“) zu begreifen. Daraus resultiert auch eine Ablehnung von  generalisierenden Theorien wie etwa der marxistischen über Imperialismus oder eines Klassenbegriffs, da diese den Blick von den spezifischen lokalen Zusammenhängen ablenken würden.

Zuerst das Positive: Eine Kritik am Begriff der „globalen Schwesternschaft“ ist mehr als notwendig und berechtigt. Es gibt zwar Probleme, die alle Frauen treffen, aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise – sei es beim Kampf gegen Gewalt an Frauen, Selbstbestimmung über den eigenen Körper oder der Ungleichverteilung der Hausarbeit. Das erzeugt letzten Endes trotzdem die Illusion von Frauen als Gesamtheit. Nachvollziehbar ist das am besten am Beispiel der „Girlboss“-Mentalität. Während auf der ganzen Welt Frauen in schlechten, zumeist informellen Arbeitsbedingungen angestellt sind sowie der Gender Pay Gap ein reales Problem ist, wird oftmals der Fokus auf Forderungen wie „Frauenquote in Führungsetagen“ gelegt oder die Förderung von Frauen als Unternehmerinnen, ganz nach dem Motto „Representation matters“. Sind diese jedoch in der Führungsriege angekommen, liegt es – Überraschung! – nicht in ihrem Interesse, dass  Löhne steigen, denn das könnte den Profiten schaden. Sie werden nicht zugunsten der „globalen Schwesternschaft“ anfangen, höhere Löhne zu zahlen oder  unbefristete Verträge auszustellen. Das würde ihre eigene Position innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz gefährden. (Und wenn sie es tun, würden sie aufgrund dieser untergehen.) Somit hilft die Girlboss-Mentalität der Mehrheit der Frauen der Arbeiter:innenklasse sowohl in imperialistischen Staaten als auch in Halbkolonien kein Stück. Für sie ist es letzten Endes egal, wer in der Führungsetage sitzt, wenn es darum geht, ob man vom Lohn das Leben bestreiten kann. Dabei muss angemerkt werden, dass die Lage der Arbeiterinnen nicht komplett gleich ist. In den imperialistischen Staaten ist die Arbeiter:innenklasse natürlich privilegierter als die in Halbkolonien. Doch auf diese Frage wollen wir später noch einmal zurückkommen.

Herauszustellen ist, dass auch wir die Idee des bürgerlichen Feminismus ablehnen, es würde eine globale klassenübergreifende Schwesternschaft geben. Ein damit einhergehendes Problem ist nämlich auch, dass die bürgerlichen Feminismen keine Antwort darauf haben, wie Frauenunterdrückung eigentlich überwunden werden kann. Sie setzen sich nur für Reformen und somit für die Festigung ihrer eigenen Stellung ein und da sie daher den Imperialismus nicht angreifen (wollen), müssen sie sich auch umso mehr aufklärerisch und eurozentristisch gegenüber Frauen in Halbkolonien verhalten. Somit basiert der weiße bürgerliche Feminismus auch auf der Überausbeutung der Frauen in Halbkolonien. Dies entspringt jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, einer  „besonderen Psychologie“ der Frauen in den Halbkolonien oder einer grundsätzlichen, klassenunabhängigen Kompliz:innenschaft westlicher Frauen. Das Problem liegt woanders und zwar in der Klassengesellschaft und im Imperialismus selbst. Diese benötigen die doppelte Ausbeutung der Arbeiterin, da diese einerseits Mehrwert in der Produktion erwirtschaftet und andererseits die unentlohnte Reproduktion der Ware Arbeitskraft in der Arbeiter:innenfamilie verrichtet. Hier sehen wir also den Grund, warum es keine globale Schwesternschaft gibt: Die Interessen der Frauen verschiedener Klassen unterscheiden sich genauso wie die konkrete Lage der Frauen in imperialistischen Staaten und in Halbkolonien. Doch gleichzeitig hegen Frauen der Arbeiter:innenklasse international nicht nur ein gemeinsames objektives Interesse, die materielle Grundlage der Frauenunterdrückung, den Kapitalismus, zu überwinden; sondern auch die Fähigkeit dazu aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess.

Wie ist der transnationale Feminismus entstanden und wie hat er sich entwickelt?

Verfasst wurden die Grundlagen des transnationalen Feminismus bereits in den 1970er, 1980er Jahren und stellen eine Reaktion auf das Fehlen eines internationationalistischen Programms dar, das weder bürgerliche Feminist:innen aufgrund ihres Fehlschlusses der globalen Schwesternschaft geben konnten noch die damalige Arbeiter:innenbwegung, in der Reformismus sowie Stalinismus die führenden Kräfte darstellten. So gewann diese Strömung mit dem Zusammenbruch des Stalinismus sowie  der Veränderung der Weltlage – dem Beginn der Globalisierung – schließlich mehr Relevanz in den 1990er Jahren. Diesen Prozess wollen wir im Folgenden skizzieren, um für die kommende Auseinandersetzung mit den Theoretiker:innen eine Grundlage zu schaffen.

a) Verrat und Zerfall des Stalinismus

So wie der transnationale Feminismus eine Strömung innerhalb des feministischen Spektrums ist, so der Stalinismus eine der Arbeiter:innenbewegung, die noch dazu als Marxismus auftritt. Einen vollen Abriss der Entwicklung können wir an dieser Stelle nicht geben, jedoch halten wir es für notwendig, auf eine Punkte einzugehen, um aufzuzeigen, warum einige Kritikpunkte seitens der transnationalen Feminist:innen berechtigt sind – aber letzten Endes nicht den Marxismus, wohl aber seine stalinistischen und reformistischen, verfälschenden Lesarten treffen. Dabei können wir an dieser Stelle nicht auf alle Kritikpunkte eingehen. Für den Gegenstand relevant sind jedoch vor allem zwei Punkte: Die dem Stalinismus zugrundeliegende Etappentheorie sorgte für fehlerhafte politische Außenpolitik, da sie zur illusionären Strategie der globalen „friedlichen Koexistenz“ mit dem Imperialismus führt. So wurden Initiativen der Arbeiter:innenklasse wie in Griechenland oder Polen und Revolution wie in Spanien und anderen Ländern verraten, da Unterstützung nur in in Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele der stalinistischen Bürokratien bei ihren eigenen Manövern mit dem Imperialismus stattfand. Zudem spielte in den 1980er Jahren die UdSSR beispielsweise in Afghanistan eine konterrevolutionäre Rolle sowohl in der Art, wie sie die fortschrittlichen Kräfte unterstützte, wie auch in ihrem beschämenden Abrücken von jenem Lager im Zuge seiner Kapitulation vor dem Imperialismus. Auch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans“ war zum Beispiel bereit, die Kampagne gegen Analphabetismus unter Frauen zu stoppen, um mit den islamischen Stammesfürsten zu einem Kompromiss zu kommen. Doch der Stalinismus verriet die Interessen der proletarischen Frauen auch auf anderer Ebene: Während es nach der Oktoberrevolution 1917 diverse Anstrengungen gab, die Hausarbeit zu vergesellschaften und Rechte auf körperliche Selbstbestimmung umzusetzen, drängte der Stalinismus darauf, die sogenannte „neue Familie“ umzusetzen, letztendlich auch nichts anderes als das Ideal der bürgerlichen Familie mit sowjetischem Anstrich, bei dem die Mutterrolle auf eine reaktionäre Art und Weise stark unterstrichen und die Frau somit wieder in die häusliche private Reproduktionsarbeit gedrängt wurde. Auch die Mangelwirtschaft der UdSSR fiel insbesondere den Frauen zur Last, da sie nicht die Möglichkeit hatten, Küchengeräte zu nutzen, die in imperialistischen Ländern längst Einzug gehalten hatten und dort die Intensität der Hausarbeit massiv verkürzten. Auch die Nahrungsmittelknappheit fiel vor allem Frauen zur Last. Die staatlichen und gesellschaftlichen Führungspositionen in Partei, Gewerkschaft usw. blieben außerdem auch eine Domäne der Männer. Es gab zwar auch diverse Errungenschaften, aber nicht im Ansatz genügend, was notwendig gewesen wäre, um die Frauenbefreiung wirklich voranzutreiben. Im Angesicht dieser Politik ist es nicht verwunderlich, dass diese, unter dem Label des Marxismus betrieben, kein Mittel zur Befreiung sein kann – ob nun für Frauen insgesamt oder in der halbkolonialen Welt.

Die Restauration des Kapitalismus in Russland, China und Osteuropa stellt zwar auch eine Niederlage der Arbeiter:innenbewegung dar und wurde von vielen als Beweis betrachtet, dass sich gezeigt habe, dass der Marxismus nicht siegen könne und gescheitert wäre. Somit kehrten viele ihm den Rücken zu und suchten nach anderen Ideen und Theorien, die „moderner“ erscheinen sowie die Fehler des angeblichen Marxismus nicht wiederholen sollten – z. B. Theorien des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus. Auch der Queerfeminismus von Butler entspringt dieser Zeit.

b) Aufkommen der Globalisierung

Gleichzeitig kam es unter anderem aufgrund dessen, dass kein Systemantagonismus mehr bestand, zu einer Periode der Globalisierung. Die USA mussten sich als Hegemon beweisen, um der ganzen Welt eine einheitliche ökonomische Politik aufzuzwingen. Gleichzeitig mussten sie die Überakkumulation mitsamt den immer weiter fallenden Profitraten in der heimischen Wirtschaft vorerst versuchen zu kompensieren. Dafür stülpten sie ihr Wirtschaftssystem immer größeren Teilen der Welt über und dehnten ihre Konzerne ebenso in diese Regionen aus. Die Unternehmen hatten zwar bereits früher zweitrangige Niederlassungen in Halbkolonien, doch sie wurden nun wirklich multinational. Ein bedeutender Teil der Warenproduktion selbst wurde weg aus den imperialistischen Staaten in die Halbkolonien ausgelagert, da billigere Arbeitskraft und generell die geringeren Produktionskosten dort höhere Profite versprachen. Das ging auch mit dem Anspruch auf Steuererleichterungen und diverse Sonderrechte gegenüber den Regierungen der Halbkolonien einher. Die Folge davon sind „Löhne“ am absoluten Existenzminimum, hochgefährliche Arbeitsplätze (z. B. hinsichtlich des Feuer- oder Gesundheitsschutzes), Sklaverei und Kinderarbeit. Ebenso wurden Freihandelszonen errichtet. Zusätzlich wurden staatliche Vermögen von diesen Unternehmen aufgekauft und wurde Geld von ausländischen Regierungen geliehen. Somit spitzte sich auch der Imperialismus immer weiter zu, da die Arbeiter:innen der halbkolonialen Staaten nun in Teilen direkt von der westlichen Bourgeoisie ausgebeutet und auch die Regierungen und die regionale Bourgeoisie immer abhängiger vom USA-Finanzkapital wurden. Durch die sich verschärfende Situation in den Halbkolonien gewann die Idee des transnationalen Feminismus an Bedeutung und die Kämpfe bezogen sich nun explizit auf die Ausbeutung von Frauen in dortigen multinationalen Unternehmen, antikoloniale sowie Kämpfe indigener Bevölkerungen gegen Vertreibung und Zerstörung bzw. Landgrabbing ihrer Landflächen durch imperialistische Konzerne.

Zu einem besonderen Höhepunkt kam es während der Invasion der USA in Afghanistan: Durch die Instrumentalisierung von Frauenrechten im Kampf gegen die Taliban versuchten die USA, ihre geopolitischen Interessen in diesem Krieg zu verstecken. Westliche Feminist:innen beteiligten sich an dieser Stimmungsmache, wo die andere Kultur allgemein rassistisch verunglimpft wurde und sie als barbarisch im Gegensatz zur eigenen, zivilisierten dargestellt werden sollte. Ähnliches passierte beim Irakkrieg: Die Rechte der Irakerinnen wurden auf einmal zu einem wichtigen Ansatzpunkt der USA während der Invasion, während man sich davor jedoch gar nicht um sie scherte. Insbesondere diese Ereignisse verliehen der Theorie des transnationalen Feminismus mehr Bedeutung innerhalb der feministischen Debatten.

Dekonstruktivistische Elemente und Ablehnung von Generalisierungen

Im Gegensatz zur marxistischen Zielsetzung der Überwindung der materiellen Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung liegt das Ziel transnationaler Feminist:innen darin, den westlichen Feminismus auf einer postkolonialen, antiimperialistischen und intersektionalen Ebene zu kritisieren und daraus Schlüsse für das lokale Vorgehen in feministischen Kämpfen zu ziehen. Dafür bedienen sie sich in gewissem Maß des Dekonstruktivismus, wie bereits im „transnational“ zu erkennen ist: Die Vorsilbe „trans“ soll hier darauf hinweisen, dass nicht nur  nationalstaatliche Grenzen überwunden werden sollen und der Kampf auch in „Sphären“ außerhalb staatlicher Strukturen geführt werden (zum Beispiel in der Nachbarschaft, der Familie, der Freund:innengruppe), sondern auch, dass die Nation an sich als Kategorie in Frage gestellt werden soll. Somit werden Nationalstaaten nicht als „real existierende Gebilde“ angesehen, welche eine wichtige Funktion für Kapitalismus und Imperialismus erfüllen und die es natürlich durchaus zu kritisieren und zu überwinden gilt, sondern eher als Narrative, die subjektive Meinungen widerspiegeln würden und mit anderen Ideen anstatt mit tatsächlich radikalem Handeln bekämpft werden müssten.

Ein weiteres Element des Dekonstruktivismus im transnationalen Feminismus ist die bereits erwähnte Annahme, dass es keine generalisierenden Theorien geben könne. Damit einher geht die Idee, es würde keine außerhalb des Diskurses existierende, objektive Wahrheit geben. Jede Erfahrung von Unterdrückung ist somit grundsätzlich anders und die Verbindungen müssen alle berücksichtigt werden, um sie nachvollziehen zu können. In diesem Fall soll allerdings der subjektive Idealismus dieser Annahme dadurch verschleiert werden, dass es sich bei den Betroffenen nicht um Einzelpersonen handelt und sie in einem regionalen Kollektiv zusammengeschlossen werden können. Trotzdem sei diese regionale Erfahrung völlig anders als jede andere und könne nicht kategorisiert werden. Solch eine Auffassung nimmt offensichtlich den Nährboden für jegliche objektive Analyse weg und vor allem für eine gemeinsame Praxis der Unterdrückten für gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Sie ist einerseits idealistisch und andererseits rückschrittlich, da sie verhindert aufzuzeigen, woher gemeinsame, aber auch unterschiedliche  Unterdrückungserscheinungen kommen. Im Gegensatz dazu gibt es im Marxismus durchaus die Möglichkeit einer Überwindung von reiner Subjektivität: das revolutionäre Bewusstsein, welches von den geschichts- und erkenntnisstiftenden Elementen in der gesellschaftlichen Arbeit und ihren Wandlungen im historischen Materialismus getragen wird und der Anerkennung dessen, dass es durchaus eine objektive, materialistische Realität gibt, die dafür sichtbar gemacht werden muss. Warum dies notwendig ist, um kollektive Befreiung zu erreichen, wollen wir um Folgenden argumentieren, indem wir uns mit verschiedenen Theoretiker:innen näher auseinandersetzen.

Khaders Kritik am westlichen Feminismus

Die transnational-feministische Theoretikerin Serene Khader bezeichnet den westlichen Feminismus auch als missionarisch, da die westlichen Feminist:innen von ihrer ideologischen Vormacht überzeugt seien. Sie bezieht sich hierbei auf ihre folgenden Werte:

1. die westliche Überlegenheit, legitimiert durch das quasi theologische Paradigma der Aufklärung, und damit einhergehend:

2. der Unabhängigkeitsindividualismus, was bedeutet, dass es als Ideal gilt, wenn Frauen in keinerlei Abhängigkeit zur Familie und Beziehungspersonen stehen,

3. Aufklärungsfreiheit, was das Infragestellen von Traditionen und religiösen Überzeugungen zu einem Ideal macht, und

4. der Ansatz, dass Genderrollen Geschlechtergerechtigkeit verhindern und für die Befreiung von sexistischer und sexueller Unterdrückung aufgehoben werden müssen.

Diese Werte und daraus hervorgehenden Lebensarten würden imperialistische Strukturen festigen, da sie zur Idealisierung westlicher Werte und Verschleierung des Einflusses der imperialistischen Ausbeutung auf die Halbkolonien beitragen würden. Um diese Probleme zu überwinden, seien Ansätze notwendig, die Wertschätzung der Beziehungsabhängigkeiten, Tradition, Religion und Geschlechterrollen ermöglichen sollen. Deswegen sei es nötig, die spezifischen Kontexte in Betracht zu ziehen und eine konkrete Praxis anstelle idealistischer, abstrakter Moralvorstellungen zu etablieren. Denn bei einer Generalisierung könne es sonst dazu kommen, dass die Unterdrückung in den lokalen Unterschieden und nicht im imperialistischen System verortet wird. Des Weiteren solle der Widerstand gegen antifeministische Praktiken nur von den Betroffenen selber kommen und keine Intervention von außen erfolgen, um sie nicht zu entmündigen. Erstmal ist es natürlich völlig richtig, den westlichen bürgerlichen Feminismus und seinen Überlegenheitsanspruch in Frage zu stellen. Jedoch sollte hier differenziert werden, denn manche seiner Ideen und Forderungen stellen zumindest keinen falschen Ausgangspunkt dar.

a) Fortschritt und Entwicklung im historischen Materialismus

Die Grundsätze der Aufklärung wie Kritik der Kirche als Institution, Fokus auf Vernunft und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sowie Bürger:innenrechte stellen – auch wenn sie bürgerliche Errungenschaften sind –  innerhalb der historischen Entwicklung einen Fortschritt dar. Zwar dienten sie zur Legitimation der bürgerlichen Herrschaft gegenüber dem Feudalsystem, also letztendlich des Kapitalismus, verkörperten aber gleichzeitig eine Verbesserung gegenüber dem religiös geprägten Austausch. Zudem ist die Behauptung, die Aufklärung sei eine rein westliche Erfindung bereits eine Rückkehr zum Orientalismus, den die postkolonialen Theorien, auf die sich der transnationale Feminismus bezieht, eigentlich kritisiert hatten. So gab es auch beispielsweise im Osmanischen Reich vergleichbare Ansätze und der Bezug auf Rationalität und Naturwissenschaftlichkeit ist kein rein „europäisches Phänomen“.

Wichtig ist, dass der Fortschritt einer einzelnen Gesellschaftsformation nicht als „ewig“, starr und unantastbar gelten darf, sondern im Verhältnis zu seinen eigenen Potentialen und auch Entwicklungshemmnissen beurteilt werden muss. Denn jede dieser von Widersprüchen geprägten Gesellschaftsform verliert irgendwann ihren fortschrittlichen Charakter und muss sich ihrer Fesseln entledigen (oder fällt zurück). Das heißt, dass es nur Brüche und Umwälzungen der Produktionsformen sind, die einen wirklichen Fortschritt bringen können, nicht die unaufhörliche Weiterentwicklung der jeweiligen Gesellschaftsform. Sichtbar kann das zum Beispiel werden, wenn wir die rückschrittlichen Tendenzen des Kapitalismus in seinem aktuellen Stadium betrachten: Er ist zu einer Fessel des Fortschritts und der Befreiung der Menschheit geraten.

Demnach ist es jedoch völlig richtig, im Rahmen der Imperialismustheorie die halbkolonialen Staaten als unterentwickelt zu betrachten. Das soll keine Herabwürdigung darstellen, sondern beschreibt ihr materialistisches, dialektisches Verhältnis zu den imperialistischen Staaten. Halbkolonien sind gar nicht in der Lage, sich gleichsam wie diese zu entwickeln, da sie aufgrund ihrer Abhängigkeit die Entwicklung nicht aufholen können. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der imperialistischen Staaten, sie unterentwickelt zu halten, auch wenn mit „Entwicklungshilfe“ etwas anderes suggeriert werden soll. Das darf jedoch nicht in eine ideologische Vormachtstellung insofern umschlagen, als dass man die Unterdrückten selbst auch als „unterentwickelt“ einschätzt und sie somit rassistisch abwertet, ihnen die eigene Perspektive aufzwingt oder dies zur Legitimierung des bestehenden Systems nutzt.

Gleichsam darf man nicht zur Schlussfolgerung kommen, wie sie auch Stalinist:innen entwickelten, es sei erst eine bürgerliche Revolution in den Halbkolonien notwendig, um dann diese noch einmal erneut überwinden zu müssen. Sehr wohl müssen aber die bürgerlich-demokratischen Aufgaben vollendet werden, was einen wichtigen Ansatzpunkt für revolutionäre Kräfte darstellt. Dazu aber  später mehr. Erstmal stellt sich hier natürlich die Frage nach der Notwendigkeit des Bruches mit der vorkapitalistischen Ausbeuter:innenordnung: Dieser ist nicht notwendig, da die Halbkolonien bereits in das imperialistische Weltsystem und dessen grenzenlosen Drang nach Wertschöpfung integriert sind. So haben bereits gemäß Trotzkis Gesetz der kombinierten und ungleichzeitigen Entwicklung die fortschrittlichen Technologien in den Halbkolonien Einzug erhalten, denn die Produktivkräfte kennen den nationalen Rahmen nicht und müssen nicht in jeder Region neu erfunden werden. Das äußert sich auch darin, dass die Entwicklung in den Branchen, welche für die Kapitalbewegung interessant sind, vorangetrieben wird. Daher breitet sich zum Beispiel die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien immer weiter aus, während gleichzeitig die rückschrittlichen Produktionsformen und -techniken trotzdem weiterhin gefestigt werden, zum Beispiel in der Landwirtschaft, um die Reproduktionskosten und damit das Lohnniveau weiterhin so günstig wie möglich zu halten. Was könnte eine bürgerliche Revolution nun ändern? Vermutlich wenig. Denn die lokale Bourgeoisie kann sich aufgrund ihrer geringen Größe und ihres unbedeutenden Einflusses nicht von den internationalen Investor:innen lossagen und fürchtet die Rebellion der eigenen Bevölkerung viel mehr. Vor allem aber stellen diese rückständigeren Formen im modernen Kapitalismus im Wesentlichen keinen „störenden Überrest“ einer vorhergehenden Produktionsweise dar, sondern wurden in das kapitalistische Gesamtsystem integriert.

Auch in den Halbkolonien müssen Traditionen, kulturelle Praktiken und Religionen Kritiken unterzogen werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt gewährleisten zu können, da sie oftmals reaktionäre Elemente enthalten, die sich schon über Jahrhunderte entwickelten. So übte beispielsweise auch Marx Religionskritik aus, da er davon ausging, dass diese in jeder Klassengesellschaftsformation zur Verschleierung der materiellen Lage und Ausbeutung dient. Eine Kritik der Religion ist demnach notwendig, um die wahren Ursachen – die Klassengegensätze – zu Tage zu bringen. Das heißt, dass Religion nicht die Basis der Unterdrückung liefert, sondern ihren Überbau, der benötigt wird, um sie aufrechtzuerhalten und zu legitimieren. Herleitend ist es also sogar im Sinne der Bourgeoisie, diese beizubehalten, da so die imperialistischen und neokolonialen Unterdrückungsmechanismen mystifiziert werden können. Letztendlich stellt sich die Behauptung Khaders, man müsse Konzepte entwickeln, die Religion und Co wertschätzen, genau in diesen Dienst der Imperialist:innen. Da Marxist:innen erkennen, dass die Religion eine materielle Basis in den bestehenden Verhältnissen hat, jedoch auch, dass diese wie jede andere bürgerliche oder kleinbürgerliche Ideologie nicht „abgeschafft“ werden kann, solange die Verhältnisse weiter bestehen, die sie hervorbringen.

Daher ist es falsch, von Frauen in Halbkolonien grundsätzliche Ablehnung ihrer Religion zu fordern, um ihre antisexistische Emanzipation voranzutreiben oder es gar zu einer Bedingung für den gemeinsamen Kampf zu machen. Jedoch ist der gegen theokratischen Regime fortschrittlich, denn diese errichten i. d. R. Diktaturen zum Leidwesen von Frauen, LGBTIA*-Personen, nationalen Minderheiten sowie der gesamten Arbeiter:innenklasse. Demnach können die Forderungen im Sinne der permanenten Revolution Trotzkis nach bürgerlichen Rechten wie Demokratie, gleichen Persönlichkeitsrechten für alle, Befreiung von feudalistischen und anderen vorkapitalistischen Rückständen, Frieden und Wohlstand jedoch als revolutionäres Vehikel funktionieren. Denn es ist klar, dass sie sich eben unterm Kapitalismus für Halbkolonien nicht erfüllen lassen, sondern die Strukturen der Klassengesellschaft überwunden werden müssen, um gleiche Rechte für alle und wirkliche Demokratie gewährleisten zu können. Ebenso dürfen diese Kämpfe nicht im nationalen Rahmen stehenbleiben, sondern müssen so viele Gebiete wie möglich umfassen und zu einer Weltrevolution werden.

b) Unabhängigkeitsindividualismus und Geschlechterrollen

Auch dieser Punkt an Khaders Kritik bedarf einer näheren Betrachtung. Für sie stellt der westliche Feminismus die unabhängige Karrierefrau in den Mittelpunkt, die keine Zeit für Familie, Kinder und Haushalt hat. Daraus resultiert, dass sie die Reproduktionsarbeit, die ihr durch die Geschlechterrollen als Frau aufgehalst werden würde, anders lösen muss: nämlich, indem sie andere Frauen dafür einstellt. Somit kann man sagen, dass die Reproduktionsarbeit auch im Kapitalismus schon in einer gewissen Hinsicht vergesellschaftet ist, allerdings unter dem Vorzeichen der herrschenden Klasse. Wer sich die Auslagerung von Reproduktionsarbeit leisten kann, hat Glück. Hierbei wird vor allem deutlich: Es handelt sich nicht um „den westlichen“ Feminismus per se, sondern um bürgerlichen Feminismus. Denn auch in halbkolonialen Ländern ist diese Form der Auslagerung für Frauen aus der herrschenden Klasse und Teile der Mittelschicht möglich.

Das Bedürfnis nach Unabhängigkeit kann also im Kapitalismus nicht wirklich für alle Beteiligten zufriedenstellend aufgelöst werden. Es ist zwar richtig, dass durch den Kapitalismus eine Entfremdung von der Gemeinschaft, die vorher in einer gewissen Hinsicht z. B. im Feudalismus existierte, ausgelöst wurde, das kann jedoch in den jetzigen Strukturen nicht überwunden werden, da sie auf der aktuellen Produktionsweise beruht. Angebliche Konzepte vorkapitalistischer Gemeinschaft und der Abhängigkeit fördern nicht die Frauenbefreiung. Ökonomische Abhängigkeiten sorgen oftmals dafür, dass Frauen eben nicht ihrem gewalttätigen Mann entfliehen können, da sie in ihrem Job aufgrund ihrer Verpflichtungen zur Reproduktionsarbeit, die ihnen mithilfe der Geschlechterrollen auferlegt wurden, zu wenig verdienen, um wirklich unabhängig zu leben. Das trifft natürlich auch Frauen, die gar nicht berufstätig sein dürfen (sei es aufgrund des Verbots durch Mann oder Staat). Es ist aber auch so, dass zum Beispiel alleinerziehende Mütter, die keine gesellschaftliche Unterstützung erfahren, auch nicht unbedingt bessere Lebensbedingungen haben. Um ihre Kinder großziehen zu können, sind sie oftmals auf flexible Arbeitsstellen mit Schichtarbeit angewiesen, damit sie alles unter einen Hut bekommen können. Flexible Jobs sind meistens auch im Niedriglohnsektor angesiedelt. Jedoch ist ihre Lage genauso darin zu verorten, dass die Reproduktionsarbeit ins Private verschoben wurde, anstatt eine gemeinschaftliche Pflege und Erziehung von Kindern bzw. Alten zu gewährleisten. Auch die Abhängigkeit von der eigenen Verwandtschaft geht sehr wohl mit patriarchaler Unterdrückung einher, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Familienehre oder Zwangsheirat geht.

Natürlich sollte das Ziel nicht darin liegen, ein einsames zurückgezogenes Leben zu führen, um jeglicher Abhängigkeit zu entfliehen und alleine erfolgreich zu sein oder sich zumindest gerade so über Wasser halten zu können.

Der zentrale Punkt ist jedoch, dass für die Aufhebung der Strukturen, die Frauen in die Abhängigkeit drängen, wie das Ideal der bürgerlichen Familie, die der damit einhergehenden Geschlechterrollen und der ins Private gedrängten Reproduktionsarbeit den Schlüssel darstellen und nicht eine Illusion von spirituellen Gemeinschaften und traditionsreichen Abhängigkeiten. Denn diese stellen nur den ideologischen Ausdruck (den Überbau) der Frauenunterdrückung dar. Auch eine bloße Kritik der Geschlechterrollen kann keine Befreiung herbeiführen. Erst die Überwindung des Kapitalismus und die Kollektivierung von Produktion und Reproduktion können die aktuelle Entfremdung überwinden und zu einer neuen Gemeinschaft führen, die geprägt von vielerlei zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Die Annahme, Geschlechterverhältnisse seien in Halbkolonien grundsätzlich anders und hätten auch einen anderen Ursprung als in imperialistischen Staaten, entbehrt jeder Logik. Der ideologische Überbau und der Grad der sozialen Unterdrückung können sich zwar unterscheiden, aber zum Beispiel fortschrittlichere Gesetzgebungen können in imperialistischen Staaten auch wieder zurückgenommen werden, wie man an Abtreibungsrechten in den USA oder der Aberkennung von Rechten queerer Eltern in Italien in den letzten Jahren sieht. Gleichstellung auf dem Papier heißt nicht, dass diese wirklich konsequent umgesetzt und verfolgt wird, wie man  an der Anzahl der Femizide und sexualisierter Gewalt auch in imperialistischen Staaten feststellen kann.

Es mag in Halbkolonien vielleicht Strukturen geben, wo Gemeinschaft und Hausarbeit anders gelebt und geleistet werden, als das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie suggerieren soll. Das überschreitet aber trotzdem meistens nicht den Rahmen einer Familie und beschreibt dann eher die Zusammenarbeit von Frauen aus verschiedenen Generationen innerhalb ihrer, wie es auch in feudalen und anderen vorkapitalistischen Verhältnissen üblich war. Diese Umstände werden auch in manchen Fällen von den Imperialist:innen bewusst gefördert oder zumindest unangerührt gelassen. Es mag auch indigene Völker geben, deren Gesellschaftsstruktur mehr noch der des „Urkommunismus“ ähnelt, trotzdem stellen sie eine Seltenheit dar. Somit bleibt die Hausarbeit in den Halbkolonien also trotzdem im Privaten. Des Weiteren ist die Klasse der Lohnarbeiter:innen auch mittlerweile so ausgedehnt, dass die Notwendigkeit der Reproduktion im privaten Bereich dort ebenso besteht und ausgeführt wird. Die Grundlage der Unterdrückung der Frau bleibt also dieselbe: die Klassengesellschaft.

c) Entstehung des Bewusstseins

Die Annahme, es dürfe im Kampf gegen Antisexismus keine Interventionen von „außen“ geben, geht ebenso auf die bereits erwähnte Idee zurück, dass es keine objektive, vom Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit geben könne und lediglich die subjektiven Wahrnehmungen der Betroffenen ihnen Erkenntnisse über ihre individuelle Situation bringen könnten. Das heißt also, ausschließlich die Frauen in der jeweiligen Halbkolonie haben die Möglichkeit zu erkennen, warum sie unterdrückt werden, da sie die Betroffenen sind.

Erst einmal kommt niemand zum Bewusstsein, nur weil die Person unterdrückt wird. Sonst würde es bereits jetzt keinen Kapitalismus mehr geben. Natürlich kann die eigene Betroffenheit eine Anregung sein, um sich tiefergehender mit Hintergründen zu beschäftigen und Ideen dagegen zu entwickeln. Aber man kann genauso auch komplett falsch in seiner Analyse liegen. Denn das Bewusstsein ist eine kollektive Frage, welche ihre Grundlage und ihren Gradmesser von Wahrheit zwar in den ökonomischen Strukturen und im gemeinsamen Kampf gegen diese hat, jedoch auch mit theoretischen Erkenntnissen verknüpft werden muss, welche von außen in die Klasse getragen werden müssen. Das gilt auch für eine proletarische Frauenbewegung. Das soll natürlich nicht heißen, dass westliche Feminist:innen alles bestimmen, jedoch, dass es neben gemeinsamen Kämpfen auch eine gemeinsame internationalde Analyse der Welt braucht, wobei Internationalismus das Fundament bilden muss, um zu gewährleisten, dass die objektive Lage auch erfasst wird und nicht von nationalistischen Ideen bzw. imperialistischem Chauvinismus geprägt ist. Darauf aufbauend kann es dann Diskussionen über die gemeinsame Ausrichtung geben. Außerdem ist es auch notwendig, dass aus Erfolgen und Misserfolgen von Arbeiter:innen- und Frauenbewegungen der Vergangenheit Lehren gezogen werden. Denn wenn jede:r Unterdrückte erst einmal unbehelligt wieder denselben Fehler machen soll, nur um nicht bevormundet zu werden, sieht es für unsere klassenlose und befreite Zukunft wahrscheinlich eher düster aus. Aber das darf natürlich keineswegs eine Einbahnstraße sein. Genauso muss der westliche Feminismus mitsamt seinen neoliberalen und individualisierenden Tendenzen scharf kritisiert werden, damit eine sinnvolle klassenkämpferische Einheit gegen Frauenunterdrückung gebildet werden kann, die sich auch wirklich Antiimperialismus und Antikapitalismus auf die Fahne schreiben kann und erfolgversprechend ist.

Kritik des Marxismus von Kaplan, Grewal und Spivak

Ein Blick auf die transnationalen Feministinnen Kaplan und Grewal zeigt jedoch, dass solch ein Ansatz nicht im Sinne des transnationalen Feminismus ist. Sie stellen in ihrem Text „Transnational Feminist Cultural Studies: Beyond the Marxism/Poststructuralism/Feminism Divides (1994)“ hauptsächlich infrage, dass es ein homogenes Weltproletariat gibt, und wollen damit beweisen, dass die marxistische Theorie veraltet sei. So würde es bei Anwendung eines Klassenbegriffes zu einer Gemeinmachung von Mann und Frau kommen, sowie würden soziale Unterdrückung und imperialistische Ausbeutung nicht beachtet werden. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass das Kapital heutzutage keine Konformität mehr produziert, also kein generalisiertes revolutionäres Subjekt, sondern, es die Personen in ihrem zugrundeliegenden kulturellen Kontext anspricht. Communities anstatt Klassen produzieren Bewusstsein, insbesondere durch den Versuch, mit Diversität die Ausbeutung zu verschleiern. Mit Bezugnahme auf Spivak argumentieren sie, es würde durch die imperialistische Wertschöpfungskette nicht nur der Wohlstand für die imperialistischen Staaten, sondern auch gleich die Möglichkeit zur kulturellen Selbstrepräsentation von den Halbkolonien produziert werden. Spivak geht davon aus, dass die Marx’sche Wertschöpfungstheorie nicht genügend erklären kann, wie soziale Unterdrückung entsteht. Sie schlussfolgert, dass kulturelle Dominanz und Ausbeutung Hand in Hand gehen und sich gegenseitig formen. Daraus herleitend lehnen Kaplan und Grewal jegliche generalisierenden Theorien und Kategorien ab, da diese nicht in der Lage seien, die Komplexität zu erfassen. Sie schlagen Solidarität und Koalitionen vor, aber keinen konkreten gemeinsamen Kampf oder gar gemeinsame Organisierung.

a) Zur Frage des Weltproletariats

Zuerst einmal ist es keine falsche Annahme, dass es kein homogenes Weltproletariat gibt. Der marxistische Klassenbegriff ist keine starre Kategorie, die die Arbeiter:innenklasse an ihrem monatlichen Einkommen misst, sondern argumentiert, dass die Arbeiter:innenklasse im Verhältnis zur Kapitalist:innenklasse und zu den Produktionsmitteln existiert. Der Weltmarkt schuf internationale Wertschöpfungsketten. Im Zuge der Globalisierung wurden vor allem in Asien, aber auch in weiteren Teilen der Welt Millionen in diesen integriert – als Arbeiter:innen, Landlose oder Arbeitslose ohne Zugang zu Produktionsmitteln. Die Kapitalbewegung bestimmt hier die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse und die konkrete Form der Ausbeutung, welche in Zeiten des Aufschwungs durchaus etwas liberaler oder bequemer ausgestaltet sein kann. In Zeiten von Krisen hingegen nehmen die Unterschiede zwischen der Lage der Klasse in imperialistischen Staaten und in den Halbkolonien immer weiter massiv zu. Die Arbeiter:innen der imperialistischen Staaten sind zweifelsohne privilegiert gegenüber denen in den halbkolonialen Staaten, aber sie bleiben dennoch die Ausgebeuteten, sie werden nicht selbst zur herrschenden Klasse. Abgeleitet aus diesen Punkten muss man schon die Existenz einer internationalen Arbeiter:innenklasse an sich gegen diese Annahme sprechen. Diese ist jedoch – wie bereits geschrieben – nicht homogen und es gibt Hindernisse, die dazu führen dass sie nicht als Klasse für sich auf internationaler Ebene agiert.

Hervorzuheben ist in diesem Kontext die Schicht der Arbeiter:innenklasse, die wir als Arbeiter:innenaristokratie bezeichnen. Sie stellt in den imperialistischen Kernzentren einen privilegierten Teil dar – finanziert aus den Extraprofiten, d. h. der Überausbeutung der Arbeiter:innen der halbkolonialen Welt, und ist teilweise durch Kampfkraft entstanden, teilweise weil sie an einer derartig relevanten Stelle im Wertschöpfungsprozess angesiedelt ist, dass diese Schichten aus Mitteln der imperialistischen Überausbeutung heraus sozial befriedet wurden. Bedeutend ist diese Schicht, weil sie die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft bildet, die die Politik der Sozialpartnerschaft stützt. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist historisch zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt – als politische Polizei, verlängerter Arm des Staatsapparats. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Das ist der Kern der Sozialpartnerschaft. Die Arbeiter:innenbürokratie bindet die Klasse somit an die Lohnform, selbst verschleierter Ausdruck des Klassengegensatzes. Sie ist in diesem Sinne ein strategisches Hindernis für Revolutionär:innen, die sich der Aufgabe stellen, den alltäglichen Widerstand (von Teilen) der Arbeiter:innenklasse in unerbitterlichen Widerspruch gegen die Klassengesellschaft zu bringen. Nicht nur, weil das Programm der Sozialpartnerschaft verhindert, dass Kämpfe in imperialistischen Zentren erfolgreich geführt werden, sondern weil die Idee der „Standortlogik“ sowie „Wettbewerbsfähigkeit“ eine reale Hürde für die Herausbildung eines internationalistischen Standpunkts ausmachen und die Klasse spalten. Deswegen ist es auch zentral, diesem ein politisches Programm entgegenzustellen, anstatt die Unterschiede zwischen Arbeiter:innen in imperialistischen Ländern und Halbkolonien als gegeben hinzunehmen. Dies naturalisiert letzten Endes die vorhandene Spaltung.

Denn gleichzeitig sind die Privilegien der Arbeiter:innenaristrokatie nicht automatisch dauerhaft. Während diese Schicht selbst immer kleiner wird, wie man an Ländern wie Deutschland sehen kann, findet paralell eine fortschreitende Fragmentierung der Klasse in ihrer Gesamtheit statt. Das heißt: Durch den Ausbau des Niedriglohnsektors nehmen Prekarisierung sowie Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zu und der Unterschied zwischen der Arbeiter:innnenaristokratie und den Arbeiter:innen der Niedriglohnsektoren in den imperialistischen Kernzentren wird größer. Auch die doppelte Ausbeutung in Produktion und Reproduktion der Arbeiterin werden in einer marxistischen Analyse nicht unter den Teppich gekehrt.

Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass die Arbeiter:innenklasse von der Überausbeutung ihrer Kolleg:innen in den Halbkolonien profitiert, so liegt es letzten Endes nicht in ihrem objektiven Interesse, wenn es darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Dies kann letztlich nur auf einer internationalen Ebene erfolgreich sein oder ist zum Scheitern verurteilt. Um das zu gewährleisten, müssen Forderungen aufgestellt werden, die sich gegen die Auswirkungen des Imperialismus stellen – sei es beispielsweise im Falle von imperialistischen Interventionen, Sanktionen, der Auslagerung umweltschädlicher Produktion oder Ausbeutung. Dies ist möglich, da die entscheidende Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft besteht. Demnach vereint diese auch das objektive Interesse, diese Ausbeutung zu überwinden und ermöglicht, es gemeinsame Kämpfe zu führen. Doch die postkoloniale Tradition des transnationalen Feminismus stellt hier die Differenz zwischen Ländern anstatt zwischen Klassen in den Vordergrund.

b) Kulturelle Vorherrschaft und Mehrwertschöpfung

Auch kann nicht behauptet werden, dass die kulturelle Vorherrschaft durch die Wertschöpfungsketten gleich mitproduziert wird, so wie von Spivak behauptet. Es handelt sich hierbei um ein völlig falsches Verständnis von Mehrwertschöpfung und Kapital. Die kulturelle Vorherrschaft dient dem Imperialismus als Begründung und Verschleierung der Ausbeutung, sie bildet einen Teil des gesellschaftlichen Überbaus. Hiermit wird die Spaltung der Klasse vertieft, werden Lohndumping und Differenzen begründet und die Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Ländern im Geiste „kultureller“ oder „rassischer“ Überlegenheit erzogen.

Im Endeffekt ist es zwar überhaupt nicht im objektiven Interesse des westlichen Proletariats, aber diese reaktionäre Ideologie stellt eine extrem wichtige Waffe in den Händen der herrschenden Klasse zur Sicherung ihrer globalen Herrschaft dar. Diese wird durch die Privilegien verstärkt, die die Lohnabhängigen – hier vor allem die Arbeiter:innenaristokratie – der imperialistischen Nationen im Verhältnis zu jenen der Halbkolonien genießen. Aber längerfristig und vom historischen Interesse der Lohnabhängigen aus betrachtet, bieten diese nicht nur keine Perspektive zur Überwindung der Ausbeutung, sondern stellten vielmehr eine Fessel für die Arbeiter:innenklasse auch in den imperialistischen Ländern dar, die sie an ihre Ausbeuter:innen bindet.

Diese Annahmen der kulturellen Vorherrschaft kritisieren zwar Spivak, Kaplan und Grewal zu Recht und der Kampf gegen diesen Chauvinismus, Nationalismus und Rassismus muss in der Arbeiter:innnenklasse und ihren Organisationen entschlossen geführt werden – und zwar sowohl im Hier und Jetzt wie sicher auch nach erfolgreicher Revolution, denn selbst dann werden rückständige, über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte fest verankerte Ideen und Verhaltensweisen nicht ohne bewussten Kampf dagegen verschwinden. Die Theorie kritisiert zwar reaktionäres Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse der imperialistischen Länder – sie kapituliert aber letztlich davor, dieses zu bekämpfen. Direkt reaktionär ist ihre Ideologisierung rückständiger Bewusstseinsformen, z. B. religiöser Ideen in der Arbeiter:innenklasse der halbkolonialen Länder. Diese sind letztlich nichts anders als Mittel, mit denen die herrschende Klasse der Halbkolonien „ihre“ Arbeiter:innen (und armen Bauern/Bäuerinnen) politisch-ideologisch an eine kapitalistische Ordnung bindet. Hier zeigt sich der Klassencharakter dieser Theorien (wie postkolonialer Theorie). Scheinbar springen sie den „rückständigen“ Massen der Halbkolonien gegen „eurozentristische“ oder „universalistische“ Kritik bei. In Wirklichkeit zementriert ihr bürgerlicher Paternalismus ideologisch die Unterordnung und Ausbeutung der Lohnabhängigen in der halbkolonialen Welt.

Gagos Vorschlag einer feministischen Internationale: nichts Halbes, nichts Ganzes

Zum Schluss wollen wir uns noch Verónica Gago als zeitgenössische Vertreterin des transnationalen Feminismus kurz näher anschauen. Sie kann als Theoretikerin der mehr oder weniger aktuellen Frauen-/Fem*streikbewegung verstanden werden. Dabei ist herauszustellen, dass die Vernetzung und eine Gleichzeitigkeit der Aktionen am 8. März einen Fortschritt darstellen. Das beweist auch der anfängliche Erfolg der Bewegung, der in der Einleitung beschrieben wurde. Allerdings sind es die theoretischen sowie strategischen Mängel, die dafür sorgten, dass es nicht so bahnbrechend weitergehen konnte, wie die Bewegung begann. In der Tradition des transnationalen Feminismus lehnt Gago natürlich jegliche Homogenisierung der Bewegung durch ein gemeinsames Programm ab. Es ist zwar richtig, dass ein solches auf die unterschiedliche Lage von imperialistischen Staaten und Halbkolonien eingehen muss, jedoch kann es dennoch zwangsläufig einen gemeinsamen Kampf und ein gemeinsames Ziel geben. Schließlich sind die Gegenspieler, die imperialistischen Kapitale, auch dieselben Feinde, die nur in der Masse geschlagen werden können. Stattdessen kann die feministische Internationale Gagos überall praktiziert werden, sei es im Bett, auf derArbeit oder Straße.

Die Annahme, dass ein Streik außerhalb der Lohnarbeit genauso effektiv sein kann, und sei er noch so klein, wie zum Beispiel auf ein Lächeln zu verzichten, geht auch aus dem neuen Klassenbegriff von Gago hervor, welcher Arbeiter:innen, das Bäuerinnen-/Bauerntum und das niedere Kleinbürger:innentum zusammenschließen will, als ob diese in irgendeiner Form wirklich ein gemeinsames objektives Klasseninteresse hätten. Natürlich sollten Marxist:innen versuchen, auch diese Klassen und Schichten auf die Seite der Arbeiter:innenklasse zu ziehen, aber dennoch formen diese oft selbstständige Zwischenklassen, da sie durchaus Produktionsmittel besitzen, sich aber selber ausbeuten müssen und Gefahr laufen, zwischen dem Hauptklassenantagonismus zerrieben zu werden. Trotzdem ist die grundsätzliche Generalisierung nicht unproblematisch und verhindert in gewisser Hinsicht auch, ein konkretes Programm aufzustellen. Denn das revolutionäre Subjekt ist weiterhin die Arbeiter:innenklasse, da nur sie das objektive Klasseninteresse hat, den Kapitalismus zu stürzen, um sich von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien, und insbesondere da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozess auch die Möglichkeit hat, diese gesellschaftliche Macht als Kollektiv zu entfalten.

Die Ablehnung von Strategie, Taktik und Programm und das Setzen auf spontane Erhebungen, wie Gago es beschreibt, bezieht sich auf die Annahme, das Bewusstsein der feministischen Bewegung würde spontan entstehen können. Es stellt in gewisser Weise eine Übertragung des Ökonomismus auf Frauen- und LGBTIA* -Kämpfe dar. Aber die Geschichte hat schon oft genug bewiesen, wie zum Beispiel beim Arabischen Frühling, dass spontanes Bewusstsein eben nicht einfach so entsteht und auch kein Programm ersetzen kann, wenn der Aufstand oder die Bewegung erfolgreich sein will. Ein loser Zusammenhang ohne Diskussionen und Debatten über konkrete Forderungen, Taktiken und Strategien führt nicht zur anhaltenden Wirkung der Bewegung.

Was wir stattdessen brauchen

Es braucht eine länderübergreifende Organisierung, die als Grundprinzip das internationale, gemeinsame und koordinierte Handeln verfolgt. Hierbei können nicht die Unterschiede zwischen der gemeinsamen Lage im Vordergrund stehen, wie es zum Beispiel Spivak forderte. Diese müssen anerkannt werden und Raum finden, doch angesichts der globalen Krisen und des Rollbacks gegenüber Frauen (sowie LGBTIA*-Personen) und des Rechtsrucks bleibt unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbezug in den Produktionsprozess!

Auch wenn es als positiv dargestellt worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zum Mann.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine wesentliche Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Diese kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Vom Frauen-/Fem*streik zur proletarischen Frauenbewegung

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da die patriarchalen Strukturen und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße cis Frau“ geht, wie es zurecht vom transnationalen Feminismus kritisiert wurde. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrücken in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden bspw. mit der Organisierung und den Streiks in der Pflege, der Umweltbewegung oder der gegen Rassismus. Beispielsweise könnte gerade der gemeinsame Kampf mit Pflegekräften und betroffenen Frauen im Rahmen der Abtreibungsproteste relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung  ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen zu führen. Jedoch darf es nicht nur bei diesen alltäglichen Forderungen bleiben, sie müssen in ein umfangreiches Aktions- und letztendlich in ein revolutionäres Übergangsprogramm eingeschlossen werden, um den Weg zu einer befreiten Gesellschaft aufweisen zu können. Für dieses müssen revolutionäre Frauen kämpfen, ebenso wie sie auch für Solidaritätsstreiks der gesamten Arbeiter:innnenklasse agitieren müssen.

Entscheidend ist demnach, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und kommunistische Führung kämpfen.

Eng damit verbunden ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Das hängt eng zusammen mit der notwendigen Zerschlagung des imperialistischen Weltsystems. Denn wer keinen Plan dafür hat und davon ausgeht, dass das sowieso dann alles spontan funktioniert, nimmt in Kauf, dass Leute sich nach dem Misserfolg der Bewegung demoralisiert abwenden, was keine Seltenheit ist. Die stalinistische Idee des „Sozialismus in einem Land“ ist im 21. Jahrhundert noch deutlich illusorischer, als sie es im 20. Jahrhundert war, und bereits hier hat der Stalinismus durch Umsetzung dieser Idee schon Millionen von Arbeiter:innen verraten und dafür gesorgt, dass der Marxismus als gescheitert angesehen wird. Gleichzeitig sind aber durch die internationalisierten Produktionsketten und aufgrund der enormen Fortschritte in der Geschwindigkeit des Austausches und der Kommunikation die Bedingungen für internationale Solidarität um einiges einfacher geworden. Antworten auf diese Fragen und, wie die Kämpfe zu gewinnen sind, können wir nur ausreichend beantworten (und vor allem umsetzen), wenn wir an allen Orten der Welt die fortschrittlichsten Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen organisieren und für die Perspektive des antikapitalistischen Kampfes gewinnen. Außerdem braucht eine Bewegung nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen-/Fem*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in den Frauen-/Fem*streiks und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen. Auch jene Kräfte, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, müssen wir zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen adressieren, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen. So kann nicht nur die aktuelle Schwäche der Frauen-/Fem*streikbewegung überwunden werden.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Zur “Revolutionären Realpolitik” der Linkspartei: Revolution oder Transformation?

Martin Suchanek, Neue Internationale 279, Dezember 2023 / Januar 2024 ursprünglich veröffentlich im Dezember 2016

Die Berliner LINKE koaliert mit dem Segen der Parteispitze, Bodo Ramelow führt eine Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen an.

In der Luxemburgstiftung, dem hauseigenen Think Tank, wollen sich deren Vordenker:innen mit der platten Rechtfertigung dieser Politik oder gar den unvermeidlichen Verrätereien durch Teilnahme an den Regierungen allein nicht zufriedengeben. An etlichen Stellen kritisieren sie sogar die allzu euphorischen Anhänger:innen rot-roter oder rot-rot-grüner Koalitionen offen, zu viele Zugeständnisse an die „Partner:innen“ zu machen.

Das ist nicht nur selbstgefälliger, entschuldigender Gestus linker Theoretiker:innen angesichts der unvermeidlichen Niederungen reformistischer Regierungspolitik. Es geht ihnen auch darum, der Partei eine höhere strategische Ausrichtung zu verleihen. Dazu prägen sie seit Jahren Begriffe wie „Transformationsstrategie“, „revolutionäre“ oder „radikale Realpolitik“, um die Programmatik der Linkspartei als eine moderne Version einer „sozialistischen Partei“ zu präsentieren.

Es ist immerhin ein Verdienst dieser politisch-ideologischen Richtung, dass sie in den Veröffentlichungen der Stiftung ihre Anschauungen darlegt; so z. B. in der Broschüre „Klasse verbinden“, herausgegeben im April 2016 vom US-amerikanischen Magazin Jacobin und der Luxemburg-Stiftung, oder im Aufsatz „Rückkehr der Hoffnung. Für eine offensive Betrachtungsweise“ von Michael Brie und Mario Candeias.

Revolutionäre „Realpolitik“

Seit Jahren wird neben Antonio Gramsci ausgerechnet Rosa Luxemburg als Patin für die „Transformationsstrategie“ der Linkspartei ins Feld geführt.

Sie selbst verwendet den Begriff „revolutionäre Realpolitik“ unter anderem in der Schrift „Karl Marx“, die anlässlich seines 20. Todestags verfasst wurde:

„Es gab vor Marx eine von Arbeitern geführte bürgerliche Politik, und es gab revolutionären Sozialismus. Es gibt erst mit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Worte revolutionäre Realpolitik ist.

Wenn wir nämlich als Realpolitik eine Politik erkennen, die sich nur erreichbare Ziele steckt und sie mit wirksamsten Mitteln auf dem kürzesten Wege zu verfolgen weiß, so unterscheidet sich die proletarische Klassenpolitik im Marxschen Geiste darin von der bürgerlichen Politik, dass bürgerliche Politik vom Standpunkt der materiellen Tageserfolge real ist, während die sozialistische Politik es vom Standpunkt der geschichtlichen Entwicklungstendenz ist.“ (Luxemburg, Werke, Band 1/2, S. 375)

Und weiter: „Die proletarische Realpolitik ist aber auch revolutionär, indem sie durch alle ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung, in der sie arbeitet, hinausgeht, indem sie sich bewusst nur als das Vorstadium des Aktes betrachtet, der sie zur Politik des herrschenden und umwälzenden Proletariats machen wird.“ (Ebenda, S. 376)

Luxemburg betont zwar, dass Reform und Revolution nicht als ausschließende Momente einander entgegengestellt werden dürfen, hält aber zugleich fest, dass die Revolution das entscheidende Moment dieses Verhältnisses darstellt. Nur in Bezug auf diesen Zweck kann eine revolutionäre (Real-)Politik bestimmt werden.

Sie grenzt sich daher gegen zwei politische Fehler innerhalb der Arbeiter:innenbewegung ab: einerseits den utopischen Sozialismus, andererseits die bürgerliche Realpolitik. Der Revisionismus oder Reformismus des 20. und 21. Jahrhunderts stellen letztlich Spielarten dieser bürgerlichen Realpolitik dar.

Das Revolutionäre an Luxemburgs „Realpolitik“ besteht genau darin, dass sie den Kampf für Reformen als Moment des Kampfes um die revolutionäre Machtergreifung des Proletariats bestimmt.

„Real“politik ist revolutionäre Politik in dem Sinne und Maß, wie eine Partei ihre Taktik auf einem wissenschaftlichen Verständnis der inneren Widersprüche des Kapitalismus und deren Entwicklungslogik aufbaut. Daraus ergibt sich, dass die Revolution nicht „jederzeit“ als reiner Willensakt „gemacht“ werden kann, sondern eine tiefe Krise des Gesamtsystems voraussetzt, eine Zuspitzung der inneren Widersprüche, die zu ihrer Auflösung drängen.

Innere Widersprüche

Für Luxemburg (und generell für den Marxismus) zeigt die Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus zweitens, dass die Arbeiter:innenklasse in der bürgerlichen Gesellschaft noch keine neue, eigene Produktionsweise vorfindet, die sie mehr und mehr ausbauen könnte, sondern dass vielmehr die gegenteilige Entwicklung prägend ist. Der innere Widerspruch zwischen zunehmend gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung spitzt sich zu in der Konzentration des Reichtums in den Händen einer immer kleineren Schicht von Kapitalbesitzer:innen.

Genau deshalb greift Luxemburg auch Bernsteins Idee an, dass Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und der zunehmende Kampf der Gewerkschaften für soziale Verbesserungen Schritt für Schritt zum Sozialismus führen könnten. Allenfalls stellen sie begrenzte Hilfsmittel zur Verbesserung der Lage der Klasse dar und können, im Fall der Gewerkschaften, Mittel zur Selbstorganisation und für die Entstehung von Klassenbewusstsein werden. Für sich genommen sprengt der gewerkschaftliche Kampf jedoch nicht den Rahmen des bestehenden Systems der Lohnarbeit (und erst recht nicht tun dies selbstverwaltete Betriebe).

Schließlich greift sie die darauf aufbauende, korrespondierende Vorstellung des Revisionismus an, dass der Parlamentarismus, die Sammlung einer numerischen Mehrheit bei Wahlen, Mittel zur erfolgreichen „Transformation“ der Gesellschaft sein könnten. Im Gegenteil: Luxemburg erblickt in der Integrationskraft des bürgerlichen Parlamentarismus auch eine Basis für das Vordringen der bürgerlichen „Realpolitik“ in der Arbeiter:innenbewegung, über „sozialistische“ Regierungen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr den „Sozialismus“ einführen zu können.

Für sie hingegen zielt „revolutionäre Realpolitik“ wesentlich auf den Übergang der politischen Macht von einer Klasse auf die andere, durch das Zerbrechen der bürgerlichen Staatsmaschinerie, den Übergang der Macht an die Arbeiter:innenräte, auf die Diktatur des Proletariats.

Was die Luxemburg-Stiftung aus Luxemburg macht

Die Theoretiker:innen der Linkspartei rekurrieren zwar gern auf Luxemburgs Begrifflichkeit und präsentieren ihre Strategie so, als würde sie ihr Verständnis von Reform und Revolution aufgreifen.

Dieser Schein wird nicht nur durch Entstellungen ermöglicht, sondern auch durch einen anderen Ausgangspunkt der Theorie Bernsteins und der aktuellen Theoretiker:innen der Luxemburg-Stiftung untermauert. Bernstein behauptete, dass sich Marx und Engels in ihrer Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus geirrt hätten, dass diese nicht nur ihr Tempo überschätzt, sondern auch ihre grundlegende Entwicklungsrichtung verkannt hätten. Demgegenüber hält Luxemburg mit Marx und Engels an der grundlegenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und der ihm innewohnenden Tendenz zum Zusammenbruch fest.

Zu Recht weist sie darauf hin, dass die Leugnung dieser Schlussfolgerungen aus der Marxschen Analyse des Kapitals einer Preisgabe des wissenschaftlichen Sozialismus gleichkommt. Die Überwindung des Kapitalismus stellt dann keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr dar, sondern kann nur moralisch begründet werden.

Anders als Bernstein geht die Luxemburg-Stiftung von einer Systemkrise des Kapitalismus aus.

„Die strukturelle Krise ist nicht gelöst und sie lässt sich im alten Rahmen auch nicht lösen. Die Versuche, den Finanzmarkt-Kapitalismus zu stabilisieren, verlängern nur die Agonie und zerreißen die Europäische Union und unsere Gesellschaften. Die Situation ist jedoch nicht durch Aufbruch gekennzeichnet, vielmehr gilt ein altes Zitat von Gramsci: ‚Das Alte stirbt, das neue kann nicht zur Welt kommen. Es ist die Zeit der Monster.’“ (Brie/Candeias)

Das obige Zitat zeigt aber auch eine Differenz zur marxistischen Analyse. Aus den Fugen geraten ist nicht der Kapitalismus als System, sondern nur der „Finanzmarktkapitalismus“. Bei aller verbalen Radikalität wird so ein theoretisches „Hintertürchen“ für eine reformistisch gewendete „revolutionäre Realpolitik“ geöffnet.

Hinzu kommt, dass der Kapitalismus zwar in einer historischen Krise stecken mag, eine sozialistische Revolution jedoch der Partei auch ausgeschlossen erscheint. Was bleibt also? Eine „Transformationsstrategie“. Was steckt aber hinter diesem unschuldigen Wort? Sind  nicht auch revolutionäre Marxist:innen dafür, erkennen sie nicht auch an, dass der revolutionäre Bruch mit dem Kapitalismus eine ganze Periode des Übergangs einschließt, dass nicht alle überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem nicht die tradierte grundlegende Arbeitsteilung der alten Gesellschaft mit einem Schlag „abgeschafft“ werden können? Standen nicht die frühe Kommunistische Internationale und der Trotzkismus auf dem Boden eines Programms von Übergangsforderungen, das den Kampf für Reformen in eine Strategie zur Machtergreifung einbettet?

Genau diese Ausrichtung ist bei der Luxemburg-Stiftung nicht gemeint.

Da die sozialistische Revolution, die revolutionäre Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse als unmöglich, fragwürdig erscheint, bezieht sich das Ziel der Transformation nicht auf das der „revolutionären Realpolitik“ einer Rosa-Luxemburg,  sondern darauf, dass die „Linke“ sich auf einen „Macht“wechsel auf dem Boden des Parlamentarismus vorbereiten müsse.

In einer offenen Krisensituation entsteht eine radikal neue Situation, in der sich die Eliten spalten, ein Richtungswechsel möglich wird – hin zu einem autoritären Festungskapitalismus wie aber auch hin zu einer solidarischen Umgestaltung. Die Linke muss sich jetzt vorbereiten, daran arbeiten, dass sie fähig wird, in eine solche Situation überzeugend einzugreifen. Darauf ist sie nicht eingestellt.“ (Brie/Candeias)

Wir möchten nicht widersprechen, dass die Linke auf diese Situation nicht vorbereitet ist. Entscheidend ist jedoch, dass die TheoretikerInnen der Linkspartei die eigentliche Alternative, die in einer solchen Phase aufgeworfen wird, verkennen – es geht um Revolution oder Konterrevolution, um Sozialismus oder Barbarei.

Für die Ideolog:nnen der Linkspartei stellt sie sich jedoch anders dar – „autoritärer Festungskapitalismus“ (womit Regierungen wie jene von Trump gemeint sind) oder „solidarische Umgestaltung“.

Hier wird die sozialistische Revolution aus der „revolutionären Realpolitik“ verabschiedet.

Regierung als Ziel

Daher ist es kein Wunder, dass die Strategie in eine Regierungsbeteiligung münden muss. Natürlich ist auch das Zeil einer jeden kommunistischen Strategie, eine revolutionäre Arbeiter:innenregierung zu schaffen. Diese ist aber letztlich nur als Mittel zum Übergang zur Herrschaft der Arbeiter:innenklasse oder, in ihrer eigentlichen Form, als „Diktatur des Proletariats“, möglich. Die „Realpolitik“ der Arbeiter:innenklasse kann nämlich nur vom Standpunkt ihrer zukünftigen Herrschaft und deren Vorbereitung richtig verstanden werden.

Diese grundlegende Schlussfolgerung Rosa Luxemburgs verschwindet bei der Luxemburg-Stiftung gänzlich, wird sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Zur strategischen Zielsetzung wird die „realistische“, „grundlegende“ Reform, die „solidarische Umgestaltung“.

Den Vordenker:innen der Linkspartei ist jedoch klar, dass eine solche „Umgestaltung“ keine Chance hat, wenn sie sich nur auf parlamentarische Mehrheiten stützt. Daher beurteilen sie das Regierungshandeln in Thüringen durchaus skeptisch, weil dieses keinem nennenswerten Druck von außen oder aus der Partei ausgesetzt ist. Sie halten eine Regierung auf Bundesebene erst recht für „verfrüht“ und erkennen, dass eine „Reformregierung“, die den Kurs der Großen Koalition fortsetzt, letztlich einer weiteren Stärkung der Rechten, v. a. der AfD, den Weg bereitet. Wie soll dieses Problem gelöst werden?

„Und schließlich muss die Linke an einer politischen Machtperspektive arbeiten. Dies darf nicht auf Wahlen verengt werden… Die punktuelle, aber konzentrierte Mobilisierung kann durchaus Erfolge zeitigen, sie ist aber immer prekär, wenn die Mobilisierung nicht mit einer nachhaltigen Verankerung und Organisierung verbunden wird. Eine politische Linke in den Vertretungsorganen ohne eine starke, eigenständige, kritische gesellschaftliche Linke, die in den Nachbarschaften, in Betrieben, in Initiativen und Bewegungen verankert ist, muss scheitern.“ (Brie/Candeias)

Die Linkspartei müsse einen „Spagat“ vollziehen zwischen „Bewegungspartei“ („Netzwerkpartei“) und „strategischer Partei“, die die verschiedenen Bewegungen, zusammenführt, Klassenfragen und Fragen der sozialen Unterdrückung vereint und ihnen eine Ausrichtung gibt.

Solcherart könne eine Umgestaltung vollzogen werden, die parlamentarische und institutionelle Mittel des Staates nutzt, den Kampf gewissermaßen „um den Staat und im Staat“ führt und gleichzeitig auch Gesamtstratege der heterogenen Widerstandsmilieus wäre.

Im Gegensatz zu naiven Bewegungslinken sehen sie ein, dass sich aus der Addition der spontanen Initiativen „von unten“, von Bewegungen, sozialen Kämpfen, Platzbesetzungen, Streiks, Betriebsbesetzungen, Selbstverwaltung oder „Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle“, wie manche Projekte übertrieben genannt werden, keine gemeinsame Strategie ergibt. Eine „verbindende“ Partei reicht dazu nicht aus, es braucht eine strategische.

Es erhebt sich aber die Frage, warum Parteien wie Syriza diesen Spagat nicht durchzuhalten vermochten. In der Broschüre „Klasse verbinden“ wird lediglich festgehalten, dass sie die „Bewegungswurzeln“ nicht beibehalten konnte, dass eine  solche Entwicklung auch dem Linksblock in Portugal drohe oder auch die Bilanz der „linken“ Stadtverwaltung in Barcelona diskussionswürdig sei.

Strategische Partei und Staat

Die Lösung liege in einer „strategischen Partei“, die Elemente der „verbindenden Partei“ (Partei der Bewegungen) aufnimmt. Das sei notwendig, damit sie im Zuge der gesellschaftlichen Transformation eine doppelte Aufgabe erfüllen könne. Als Partei müsse sie den Staatsapparat transformieren, in dessen Institutionen eindringen. Dies könne aber nur gelingen, wenn sich ihr Handeln nicht auf den Staatsapparat, Parlament und Regierung konzentriert, wenn sie sich zugleich auf Massenbewegungen außerhalb stützt bzw. von diesen unter Druck gesetzt werden kann.

„Als Linke in die Institutionen zu gehen, ob in Athen, Barcelona oder Madrid, führt in einen politischen Limbo, sofern es nicht gelingt, diese Institutionen zu öffnen für die Initiative der Bewegungen, Nachbarschaftsgruppen und Solidaritätsstrukturen aus der Zivilgesellschaft und damit eine weiterreichende Partizipation aller populären Klassen zu verankern.“ (Candeias, Gedanken zu Porcaros „strategischer Partei“, in: Klasse verbinden, S. 20)

Dazu bedürfe es „eigener ‚stabiler Institutionen‘ jenseits des Staates, die heute zur strategischen Partei und morgen zum sozialistischen Staat einen dialektischen Gegenpol bilden können.“ (Ebenda, S. 20)

Reformismus reloaded

Diese „Institutionen“ sind einerseits politische und gesellschaftliche Bewegungen, andererseits wären es aber auch „Institutionen“, die „schon heute eine ‚materielle Macht‘ ausbilden, die eine Art unabhängige soziale Infrastruktur und produktive Ressourcen einer solidarischen Ökonomie entwickelt, um den Attacken des transnationalen Machtblocks standzuhalten – der oft zitierte Plan C.“ (Ebenda, S. 20). Dieser Plan ist nur eine Reformulierung des alten Revisionismus und der Sozialstaatspläne der Nachkriegssozialdemokratie auf niedrigem Niveau.

Die aktuelle Periode engt den „Spielraum“ für solche Pläne ein, verurteilt sie rasch dazu, zum reinen Reparaturbetrieb zu werden. Daran ändert auch die Verklärung von  selbstverwalteten Betrieben, besetzten Häusern, Nachbarschaftshilfe oder Beteiligungshaushalten zu Institutionen gesellschaftlicher „Gegenmacht“ nichts.

Die Strateg:innen der Linkspartei kommen hier bei Bernstein an – allerdings in einer widersprüchlicheren Form. Der „alte“ Revisionismus oder auch die Politik der Sozialdemokratie der 60er und frühen 70er Jahre versuchten ihre Politik durch angebliche Wandlungen des Kapitalismus zu begründen, die den Boden für eine schrittweise Verbesserung der Lage der Arbeiter:innenklasse und eine immer größere Demokratisierung des Systems abgeben würden.

Die mit Entstellungen der Arbeiten von Luxemburg oder Gramsci getränkte strategische Ausrichtung der Luxemburg-Stiftung akzeptiert hingegen, dass wir in einer Krisenperiode leben. Sie will aber nichts davon wissen, dass diese eine Strategie der revolutionären Machtergreifung der Arbeiter:innenklasse erfordert.

Syriza ist in Griechenland nicht daran gescheitert, dass der Spagat zwischen „Regierung“ und „Bewegung“ nicht funktionierte. Sie ist vielmehr an den inneren Widersprüchen einer reformistischen Realpolitik gescheitert – einerseits die Lage der Massen verbessern zu wollen und andererseits die gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Verelendung, also den Kapitalismus selbst, nicht anzugreifen, sondern „mitzuverwalten“.

Klassencharakter des Staates

Die „Transformation“ des griechischen Staates ist nicht an einzelnen Fehlern von Syriza-Politiker:innen und am mangelnden Druck der Bewegung gescheitert. Sie wurde vielmehr unvermeidliches Opfer dieser Institutionen, weil der bürgerliche Staat selbst nicht zu einem Mittel der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft „transformiert“ werden kann. Genau das vertreten aber der „alte“ wie moderne Revisionismus, indem sie den Klassencharakter des bürgerlichen Staates negieren. Mit Luxemburg werden so auch gleich Marx‘ Lehren aus der Pariser Commune oder Lenins „Staat und Revolution“ entsorgt.

Die „revolutionäre Realpolitik“ entpuppt sich letztlich als bürgerliche, die bei allem Beschwören von „Bewegungen“ und „Gegenmacht“ letztlich auf einen friedlichen, graduellen, parlamentarischen Übergang zum Sozialismus, also auf den Sankt-Nimmerleinstag orientiert.

Für die Strateg:innen der Linkspartei ist der bestehende, wenn auch zu transformierende Staat, das entscheidende politische Instrument. Abgestützt werden müsse dieses durch Eroberung ideologischer Positionen und Vorherrschaft („Hegemonie“) in der Zivilgesellschaft und den Aufbau von „Gegenmacht“. Solcherart wäre eine schrittweise Transformation möglich. Dabei wird die Revolution zu einer Reihe von Reformen. Auch hier befindet sich die Linkspartei in Gesellschaft von Bernstein, nicht von Luxemburg:

„Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlagen der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen: in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, Werke, Band 1, S. 428)




Antisemitismus und Antizionismus

Teil 3 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 6, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Wie zeigt sich Antisemitismus heute und wie können wir ihn erfolgreich bekämpfen?

Die Zuspitzung der Kämpfe in Palästina seit der Aufnahme unserer letzten Folge zeigen, wie brandaktuell diese Fragen sind. Im Zuge der Bombenangriffe und der drohenden Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza nach den Angriffen der Hamas am 07. Oktober wird der vorgebliche Kampf gegen Antisemitismus immer wieder als Rechtfertigung für das Vorgehen gegen den palästinensischen Widerstand genutzt und dient als Legitimierung der Unterdrückung und Ermordung von Palästinenser:innen. Eine genauere Einschätzung der aktuellen Lage wollen wir in unserer kommenden Folge vornehmen, in der es um ein Aktionsprogramm zu Palästina gehen soll. Heute wollen wir zeigen, welche Gefahr eine solche Verwischung des Antisemitismusbegriffs darstellt, nicht nur für den berechtigten Befreiungskampf der Palästinenser:innen, sondern vor allem auch für den Kampf gegen Antisemitismus. Denn wie wollen wir gegen Antisemitismus vorgehen, wenn wir kein präzises Verständnis davon haben?

Antisemitismus heute

Wir sprechen heute darüber, in welchen Formen Hass gegenüber Juden/Jüdinnen derzeit in verschiedenen Teilen der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, und wollen beleuchten, welche Ansätze gegen Antisemitismus historisch bereits vertreten worden sind, um euch anschließend unsere eigene Position – also die Forderungen der Gruppe Arbeiter:innenmacht – näherzubringen.

Viele Rechtspopulist:innen aus AfD und ähnlichen Kreisen behaupten, dass Antisemitismus aktuell in Deutschland kaum noch eine Rolle spielt. Das einzige Problem seien die vielen Geflüchteten, die einen neuen Antisemitismus mit ins Land brächten. Es wird hier vom Antisemitismus als importiertes Problem unzivilisierter Völker schwadroniert. Tatsächlich zeigen Studien, dass es in den vergangenen Jahren einen Anstieg antisemitischer Straftaten gab, die aber vorwiegend von deutschen Rechten und eben nicht von Migrant:innen verübt wurden. Andererseits ist das eine gefährliche Gleichsetzung von Widerstand gegen nationale Unterdrückung, wesentliche Quelle der Ablehnung Israels im Nahen Osten, mit dem eliminatorischen Antisemitismus. Der schreckliche Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 und die Angriffe auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz 2018 zeugen davon. Für die AfD und dessen Gründungsmitglied Alexander Gauland sind Hitler und die Nazis ein „Vogelschiss“ in der sonst so „erfolgreichen deutschen tausendjährigen Geschichte“, wie er diese verharmloste. Hier ist der angebliche Kampf gegen Antisemitismus ein willkommenes Mittel, ihren antimuslimischen Rassismus salonfähig zu machen und Repressionen und Abschiebungen von Geflüchteten zu legitimieren.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der nicht nur explizit rechte Kräfte gegen Migrant:innen wettern, sondern auch alle anderen bürgerlichen einen zunehmenden Abschreckungs- und Abschottungskurs gegenüber Geflüchteten fahren. Die Kündigung von Landesaufnahmeprogrammen von Geflüchteten, die Ausweitung der sogenannten „sicheren Herkunftsländer und -regionen“, schnellere Abschiebungen, verstärkter Grenzschutz und Migrationsabkommen – unter anderem mit Tunesien –, welche Flüchtende schon vor der europäischen Grenze stoppen sollen, sorgen medial kaum für Aufschrei und werden von allen bürgerlichen Parteien mitgetragen. Aktuell zeigt die EU Asylrechtsreform, welche die Abschaffung des geltenden Asylrechts und die Nutzung von Asylzentren bzw. eher Gefängnissen an den EU Außengrenzen vorsieht, dass es eine breite Unterstützung dieser rassistischen Abschottung gibt. Im Bundestag lehnte nur die Linkspartei die Reform ab, während SPD, FDP und Grüne diese mittrugen und CDU/CSU sogar noch weitere Schritte forderten. Der Wall um die Festung Europa soll ausgebaut werden – darin sind sich die meisten einig. Olaf Scholz erklärte gegenüber dem Spiegel: „Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.“ Der Rassismus gegenüber Migrant:innen dient dazu, unsere Klasse zu spalten und die Auswirkungen der kapitalistischen Krisen – wie finanzielle Not, Unsicherheit und Abstiegsangst – den Migrant:innen in die Schuhe zu schieben. Das zeigt sich, wenn Geflüchteten unterstellt wird, dass sie angeblich nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland kämen und damit den Deutschen alles wegnähmen. Auf die Spitze getrieben hat dies CDU-Chef Friedrich Merz, der die absurde Unterstellung äußerte, dass Migrant:innen beim Arzt säßen, um sich die Zähne neu machen zu lassen, während die deutschen Bürger:innen nebenan keine Termine bekämen.

Das Bild der „bösen Migrant:innen“ wird aktuell auch im Zuge der Solidaritätsproteste mit Palästina verbreitet. Es wird dabei das Bild der in Anführungszeichen „terroristischen Migrant:innen“ gezeichnet und eine angebliche Bedrohung durch die Solidaritätsbekundungen mit den Palästinenser:innen konstruiert, die gerne auch mal auf alle Migrant:innen ausgeweitet wird. Demonstrationen werden verboten und massive Repressionen ausgeübt. Es wurde sogar über die Abschiebung von sogenannten „Straftäter:innen“ gesprochen, was von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser befürwortet wurde. Dies alles findet unter dem Deckmantel des angeblichen Kampfes gegen Antisemitismus statt.

Hierbei ist zu sagen, dass es sich nicht wirklich um einen Kampf gegen Antisemitismus handelt, sondern vielmehr die imperialistischen Interessen im Nahen Osten und die damit einhergehende Unterstützung von Israel ideologisch gerechtfertigt werden sollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kampf gegen Antisemitismus dafür instrumentalisiert wird, eine zunehmend rassistische Front gegenüber Migrant:innen zu verfestigen. Wir müssen hier klar sagen, dass dieser Scheinkampf einem wirklichen Kampf gegen Antisemitismus niemals gerecht wird – und, so behaupten wir, dem auch nicht gerecht werden kann.

In den vergangenen Folgen haben wir unser Verständnis von Antisemitismus dargelegt und verschiedene Formen des Hasses gegenüber Juden und Jüdinnen genauer beleuchtet. Im Kampf gegen Antisemitismus ist es zwingend notwendig, ein präzises Verständnis seiner Entstehung zu entwickeln, um Fehleinschätzungen zu vermeiden. Denn nur so kann verhindert werden, dass die AfD als „Volkspartei des gesunden Menschenverstandes“ erscheint – wie es die antideutsche Zeitschrift Bahamas schreibt – und die Proteste der antirassistischen Linken gegen sie als Verharmlosung des Holocausts dargestellt werden.

Definitionen und Kritik

In der öffentlichen Debatte ist aktuell eine Vielzahl diverser Definitionen von Antisemitismus im Umlauf. Auch gibt es zahlreiche Studien zu diesem Thema, die auf unterschiedlichen Verständnissen von Antisemitismus aufbauen und damit nur schwer vergleichbare Ergebnisse hervorbringen. David Ranan, der am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin arbeitet, hat diese Problematik genauer beleuchtet und einige übliche Antisemitismusdefinitionen und Untersuchungsmethoden vorgestellt. Er problematisiert, dass er häufig mit Israelkritik gleichgesetzt wird, statt seine verschiedenen Formen differenziert zu erfassen. Eben jene Gleichsetzung verurteilt auch Moshe Zuckermann, ein israelisch-deutscher Soziologe und Professor an der Universität Tel Aviv. Er kritisiert, dass es in Deutschland inzwischen die Norm sei, „Israel“ und „Zionismus“ mit „den Juden/Jüdinnen“ gleichzusetzen. Er verweist darauf, dass der Staat Israel und seine Verteidiger:innen auf diese Gleichsetzung angewiesen sind. Er setzt sich für eine klare Trennung der Phänomene ein, ebenso wie für die Trennung von „Israelkritik“, „Antizionismus“ und „Antisemitismus“.

Ranan zeigt in seinen Publikationen auf, dass in der Antisemitismusforschung in Deutschland eine solche Trennung nicht stattfindet und undifferenzierte Erhebungsinstrumente zur Erfassung von Antisemitismus verwendet werden. Beispielsweise verwende die Antidiffamierungsliga seit 1913 zur Erfassung von Antisemitismus ein Instrument, das durch 11 Stichpunkte typische antijüdische Stereotype erfragt. Ein beispielhafter ist: „Juden haben zu viel Kontrolle über die US-Regierung“. Wer mehr als 6 von diesen Fragen gemäß Stereotyp beantwortet, gilt als antisemitisch. Sicherlich ist der Fragebogen hilfreich, um Vorurteile und Verschwörungstheorien zu erfassen, allerdings wird nicht notwendigerweise festgestellt, ob dahinter auch mit Aggression aufgeladener Hass gegenüber Juden und Jüdinnen lauert, welcher nochmal eine andere Qualität hat und die potenziell viel größere Gefahr darstellt.

Als weiteres Beispiel führt Ranan die „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit der Universität Bielefeld von 2016 an. Diese unterscheidet zwischen „klassischem“, „sekundärem“ und „israelbezogenem“ Antisemitismus. Hier wird also zwischen dem offenen Hass gegenüber Juden und Jüdinnen, einem unterschwelligen und verkleideten Antisemitismus, der sich beispielsweise in der Verharmlosung der Schoa äußert, und einem mit der Kritik an Israel verknüpftemn Antisemitismus unterschieden. Ranan kritisiert, dass die Studie den Eindruck erweckt, dass der israelbezogene im Vergleich zum sekundären Antisemitismus das größere Problem darstellt. Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass zwar prinzipiell eine „neutrale Kritik“ an Israel möglich ist, diese aber äußerst selten vorkomme und in der Regel antisemitisch unterfüttert sei. Eine solche Verwischung der Unterschiede zwischen Israelkritik und latentem Antisemitismus ist vehement abzulehnen, denn sie verkennt, dass Letzterer mit aggressivem Verdrängungspotenzial belastet ist und langfristig die weitaus größere Gefahr darstellt.

Beide Beispiele zeigen, dass eine undifferenzierte Analyse und besonders die Gleichsetzung von Israelkritik mit Antisemitismus mögliche reaktionäre Einstellungen hinter den Stereotypen  über Juden und Jüdinnen aus dem Fokus lässt und zu einem verzerrten Bild der Verteilung von Antisemitismus in unserer Gesellschaft führt. Es kann schnell der Fehlschluss gezogen werden, dass Antisemitismus unter Menschen mit arabischem Migrationshintergrund sehr viel stärker verbreitet ist, da diese durch persönliche oder familiäre Erfahrungen natürlich tendenziell häufiger die Politik des Staates Israel kritisieren. Zugleich wird unter Deutschen die klassische Sündenbockaggression gegenüber Juden/Jüdinnen unterschätzt, denn viele Deutsche haben in ihrer Schulzeit gelernt, ihren antijüdischen Hass zu verschleiern und vermeintlich „korrekt“ auf Fragen, wie sie zu statistischen Zwecken gestellt werden, zu antworten. Es wird also suggeriert, dass Muslim:innen die größere Gefahr darstellen, während die Gefahr deutscher Rechter unterschätzt wird. Hierin ist ein gefährlicher Trugschluss begründet.

Die zentrale These Ranans lautet, dass es in Deutschland unter Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund eine verstärkte Bereitschaft gibt, aberwitzige Stereotype über Juden und Jüdinnen zu teilen. Diese resultiere aus der Empörung über die Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen und dem Kurzschluss, diese auf Juden und Jüdinnen im Allgemeinen zu beziehen. Das Primäre sei also die Kritik an Israel, hinter der sich in den meisten Fällen keine antijüdische Haltung verberge. Im Vergleich dazu seien bei einigen Deutschen die antisemitischen Einstellungen das Primäre, die hinter einer Kritik am Staat Israel verborgen werden. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem eliminatorischen Antisemitismus, den wir schon in unseren letzten Folgen genauer beleuchtet haben und einer antijüdischen Haltung der Unterdrückten, die sie von ihren Unterdrücker:innen auf alle Juden/Jüdinnen verallgemeinern.

Wir wollen in keiner Weise antijüdische Stereotype verharmlosen. Als Revolutionär:innen müssen wir uns aktiv gegen diese stellen und ankämpfen. Antisemitismus und antislawischer sind in Deutschland die beiden zentralen geschichtlichen Erscheinungsformen von Rassismus, so muss der Kampf dagegen sich auch fokussieren. In den letzten Jahren hat der antimuslimische Rassismus in Deutschland eine immer größere Bedeutung eingenommen. Gleichzeitig dürfen wir nicht leugnen, dass die größte Gefahr für Juden und Jüdinnen in Deutschland noch immer von Rechten ausgeht, deren Antisemitismus nach wie vor tief sitzt und im Kern einen vernichtenden Charakter aufweist. Diese Art des Antisemitismus steht in Tradition der deutschen Faschist:innen, für deren Ideologie er von Beginn an ein Wesensmerkmal darstellte. Wie wir in den vergangenen Folgen schon gehört haben, fungierten Juden und Jüdinnen dabei als Sündenböcke für die hässlichsten Auswirkungen des Kapitalismus, was zu einem schrecklichen historisch singulären Vernichtungsprozess führte. Nazis präsentierten sich als Verteidiger:innen der angeblich „überlegenen europäischen Zivilisation“ und konstruierten in Jüdinnen und Juden eine Bedrohung für die vermeintlich „überlegene deutsch-arische Rasse“. Dies diente unter anderem zur Legitimation der Expansionspläne in Osteuropa. Opfer der Schoa wurden zum großen Teil verarmte Juden/Jüdinnen aus Osteuropa, die der Erweiterung des sogenannten „Lebensraumes im Osten“ im Wege standen. Heute kann sich diese aggressive Form des Antisemitismus nicht mehr in einer solchen Offenheit zeigen und tritt eher latent auf. Dennoch keimt sie in der Mitte der Gesellschaft und kann potenziell wieder in vernichtender Weise eskalieren. Der zunehmende Rechtsdrall, der einerseits den rassistischen Kurs gegenüber Migrant:innen ebnet, kann ebenso den Boden für die weitere Ausbreitung eines gefährlichen Antisemitismus bereiten. Man muss sich nur den Fall Hubert Aiwanger anschauen, dessen faschistisches Flugblatt als „Jugendsünde“ abgetan und dessen Antisemitismus damit normalisiert wird. Trotz dieser antisemitischen Entgleisungen – oder gerade deshalb – konnte die Freien Wähler bei den diesjährigen Landtagswahlen sogar an Stimmen gewinnen.

So wie sich Rassismus gegenüber Migrant:innen gerade flächendeckend ausbreitet, ist dies ebenso mit Antisemitismus möglich. Wir müssen Antisemitismus also dort – in der Mitte unserer Gesellschaft – an der Wurzel packen und bekämpfen und ihn als Wucherung unserer kapitalistischen Gesellschaft begreifen.

Blick in die Geschichte

Um den Kampf gegen Antisemitismus nachzuvollziehen, machen wir aus dem Jetzt einen Sprung in die Vergangenheit: Historisch war es vor allem die Arbeiter:innenbewegung, die ihn aktiv geführt hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat diese als anwachsend organisierte Kraft auf, wobei sich jüdische und nicht-jüdische Arbeiter:innen gemeinsam in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien organisierten und gegen ihre Ausbeutungsbedingungen kämpften. Als der Marxismus zunehmend an Einfluss gewann, verbreitete sich ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Antisemitismus. Es wurden die Klasseninteressen des Proletariats herausgearbeitet und aufgezeigt, dass diese im klaren Gegensatz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus stehen. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1893 betonte deren Mitbegründer August Bebel den reaktionären Charakter von Antisemitismus und machte deutlich, dass er nur im Kampf für Sozialismus endgültig besiegt werden kann. Er vertrat die Ansicht, dass Antisemitismus den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung auf einen kleinen Teil des Kapitals – das jüdische – ablenke und somit nicht im Interesse der Arbeiter:innenklasse stehen könne. Doch auch damals zeigte die Antisemitismusanalyse der Sozialdemokratie deutliche Mängel. Dem Antisemitismus wurde eine „revolutionäre“ Seite angedichtet. Die Ansicht war verbreitet, dass v. a. das Kleinbürger:innentum, das von der Krise gebeutelt war und sich von antisemitischer Propaganda verführen ließ, früher oder später schon merken würde, dass sie die Ursachen der Krise nur unzureichend erklären kann. Mit voranschreitender Zeit würde es im Kapitalismus die wahren Gründe seiner Verelendung automatisch erkennen und zum Kampf gegen ihn antreten. Dieser Irrglaube, dass die fehlgeleiteten Massen auf lange Sicht schon die Täuschung der antisemitischen Politik durchschauen werden, führte zur verhängnisvollen Unterschätzung ihrer Gefährlichkeit.

Diese Fehleinschätzung lehnten die Bolschewiki vehement ab. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie, die sich aus Angst, Wähler:innenstimmen zu verlieren, teils sehr zögerlich zeigte, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen, blieben die Bolschewiki sehr klar und prinzipienfest. Sie können historisch zu den entschiedensten Kämpfer:innen gegen Antisemitismus gezählt werden. Trotzki erkannte sehr früh die Gefahr, die von den Nazis – speziell für Juden und Jüdinnen – ausging und analysierte den Charakter des Faschismus als bisher am meisten zugespitzte Form des eliminatorischen Antisemitismus und die zentrale Rolle des Kleinbürger:innentums in der faschistischen Bewegung. Auch in ihrer praktischen Arbeit kämpften die Bolschewiki entschieden gegen die Unterdrückung von Juden/Jüdinnen. Sie traten für die Anerkennung von Minderheitenrechten ein – wie beispielsweise der Etablierung von Schulunterricht auf Jiddisch – und kämpften gegen die Abschaffung diskriminierender Gesetze. Lenin arbeitete beispielsweise 100 Gesetzesstellen heraus, die geändert werden mussten, schrieb Artikel zum Thema und forderte die Parteiorganisationen zum Sammeln von Unterstützungserklärungen auf. Wichtig anzumerken ist, dass vor allem in der jungen Sowjetunion ein aktiver Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde. Als sich zunehmend der Stalinismus mit seiner Theorie des Sozialismus in einem Land durchsetzte und damit einhergehend Patriotismus und völkischer Populismus propagiert wurden, schwand auch das Interesse am Kampf gegen Antisemitismus. Viele der Errungenschaften wurden zurückgenommen. Er fand wieder zunehmend Verbreitung und wurde teils bewusst als Ventil für den Unmut gegenüber der Bürokratie und zum Vorgehen gegen Linksoppositionelle eingesetzt.

Historisch waren es sicherlich vor allem aber Juden und Jüdinnen selbst, die einen Ausweg aus dem Hass, der ihnen entgegenschlug, suchten. Sie kämpften in Gewerkschaften, sozialistischen oder kommunistischen Parteien, gründeten Selbstverteidigungsgruppen und wurden zu eigenständigen, selbstorganisierten Subjekten ihrer Geschichte. Ende des 18. Jahrhunderts entstand der „Allgemeine jüdische Arbeiter:innenbund“, kurz „Bund“ genannt – eine jüdische Arbeiter:innenpartei, die kurz nach ihrer Gründung mehrere zehntausende Mitglieder gewann und in verschiedenen osteuropäischen Staaten wirkte. Für die Mitglieder des „Bundes“ war die Befreiung vom Antisemitismus unmittelbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung verknüpft. Er richtete sich also gleichzeitig gegen Antisemitismus und das Kapital. Ziel war es, die Welt als Ganzes zu verändern und die Klassengesellschaft überall aus den Angeln zu heben. Der Kampf dafür sollte im eigenen Land beginnen. Die Ansichten des „Bundes“ standen somit im Widerspruch zur zionistischen Idee, die als Antwort auf Antisemitismus die Auswanderung nach Palästina und Schaffung eines jüdischen Staates propagierte und eine jüdische Nation konstruierte. Der „Bund“ lehnte dies strikt ab und bewertete die Auswanderung nach Palästina als Realitätsflucht in eine Scheinwirklichkeit. Heute wird der Zionismus häufig als alternativlos im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. Der Kampf jüdischer Arbeiter:innen aber zeigt, dass der Zionismus historisch nicht der einzige Weg war und eine sozialistische Organisierung der Massen als Alternative möglich gewesen wäre. Der Vollständigkeit halber erwähnen wir noch die einflussreiche Strömung des liberalen Juden-/Jüdinnentums, die sich für eine Assimilierungsbewegung in den jeweiligen Nationalstaaten einsetzte. Moses Mendelssohn ist ihr wohl bekanntester Vertreter.

Allerdings verschoben sich die Machtverhältnisse in Richtung zionistischer Ideen. Innerhalb der sozialistischen Bewegung entbrannten heftige Diskussionen über die Frage der „jüdischen Nation“. Zwar lehnte es ein Großteil ab, in den Juden und Jüdinnen eine eigene Nation zu sehen und befürwortete ihre möglichst schnelle Integration dort, wo sie lebten. Rosa Luxemburg war beispielsweise eine der stärksten Verfechterinnen dieser Forderung. Dabei ist zu sagen, dass unter Integration nicht die Assimilierung im Sinne einer Unterordnung unter die bestehende nationale Leitkultur gemeint ist, sondern eine gleichberechtigte Entwicklung einer gemeinsamen, internationalen Kultur, bei der die progressiven Elemente der einzelnen Kulturen verschmelzen. Doch war die nationale Frage äußerst umstritten. Der „Bund“ verfolgte das Ziel, alle jüdischen Arbeiter:innen des zaristischen Russlands in einer sozialistischen Partei zu vereinen und die gesetzliche Anerkennung der Juden/Jüdinnen in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus zu erreichen. Er vertrat also die Ansicht, dass Juden und Jüdinnen eine eigene Nation darstellten und sahen daher auch die Notwendigkeit, dass sie sich in einer eigenständigen Organisation zusammenschlossen. Die Bolschewiki lehnten die Vorstellung des Bundes von getrennten Parteien, die dann in einer sozialistischen Föderation zusammenarbeiten würden, ab. Sie vertraten die Position einer einheitlichen Partei, in der es autonome Sektionen für jüdische Arbeiter:innen geben müsse, denn sie verstanden, dass nur die gemeinsame Erfahrung im Klassenkampf die Mauern sozialer Unterdrückung sprengen kann.

Schließlich kam es zur Spaltung, aus der „Bund” und „kommunistischr Bund“ hervorgingen. Auch spalteten sich einige tausend Arbeiter:innen ab, die sich der Idee des Zionismus zuwandten. Es entstand die „Jüdische Sozialdemokratische Partei – Poale Zion“ – was auf Deutsch „Arbeiter:innen Zions“ bedeutet. Damit hatte der Zionismus, der bis dahin nur in kleinbürgerlichen Zirkeln bestand, zum ersten Mal eine größere Arbeiter:innenpartei hinter sich.

Sowohl die Gründung des „Bundes“ als auch die Entstehung der zionistischen Bewegung muss als Reaktion der jüdischen Bevölkerung auf den zunehmenden Antisemitismus im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts verstanden werden. Beide sahen in der Selbstorganisation der Juden und Jüdinnen die einzige Möglichkeit, gegen selbsterfahrene Diskriminierung und Gewalt zu kämpfen. Doch je nach Klassenzugehörigkeit unterschieden sich die Antworten auf die antisemitische Bedrohungslage. So war es insbesondere das Großbürger:innentum, welches die Auswanderung armer osteuropäischer Juden und Jüdinnen nach Palästina förderte, um diese mit wenig finanziellem Aufwand loszuwerden. Die jüdische Arbeiter:innenbewegung, insbesondere in Osteuropa, hingegen, setze sich für die Befreiung von Unterdrückung und Antisemitismus durch das Erkämpfen des Sozialismus ein und positionierte sich somit entschieden emanzipatorisch und eben nicht zionistisch. Anfangs war die zionistische Idee eine kleinbürgerlich-nationalistische. So hieß es auf dem ersten Zionistischen Weltkongress 1897: „Der Zionismus erstrebt die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich nicht anderswo assimilieren können oder wollen.“ Der geschaffene Staat Israel sollte also als Schutzraum für alle Menschen jüdischen Glaubens fungieren. Der ideologische und organisatorische Kopf der zionistischen Bewegung war Theodor Herzl, der das bekannte Werk „Der Judenstaat“ verfasst hat. Wesentliche Triebfedern der zionistischen Idee waren die Angst vor der Auflösung jüdischer Identität in der Diaspora, aber auch die Sorge, dass der Antisemitismus weiter zunehmen würde, je mehr jüdische Geflüchtete aus Osteuropa zuwanderten. Als Lösung strebte der Zionismus also einen „eigenen“ Nationalstaat an, für den jedoch die grundlegenden Voraussetzungen fehlten: Abgesehen davon, dass mit Beginn der imperialistischen Epoche der Nationalstaat nichts Fortschrittliches mehr an sich hatte, fehlte es der jüdischen Gemeinschaft an einem gemeinsamen Territorium sowie einer gemeinsamen Hochsprache. So musste die zionistische Idee automatisch von tiefen Widersprüchen durchzogen sein, von denen wir hier einige benennen möchten:

Schon der altösterreichische Sozialhistoriker und marxistische Ökonom Roman Rosdolsky weist richtigerweise darauf hin, dass der Zionismus eine Art umgekehrter Antisemitismus ist, der nicht die jüdische Solidarität, sondern das Nationalstaatsprojekt in den Vordergrund stellt und paradoxerweise den Antisemitismus unbedingt als seine Legitimation benötigt. Nur durch massiven weltweiten Antisemitismus kann der Zionismus sein Ziel erreichen, was darin besteht, dass die jüdische Diaspora beendet wird, indem die Juden/Jüdinnen dieser Welt nach Israel gehen. Läge kein Antisemitismus vor und wären Menschen jüdischen Glaubens dort, wo sie leben, vollständig assimiliert und zufrieden, gäbe es kaum Anlass für sie, nach Israel auszuwandern.

Kommen wir zum zweiten Widerspruch: Zwar beteuert der Zionismus, säkular zu sein, doch die nationalstaatliche Aufladung der Stadt Jerusalem, auf welche man sich zuvor Jahrhunderte lang rein religiös-spirituell bezogen hatte, sowie der Umstand, dass aufgrund ihrer Heterogenität den israelischen Einwanderer:innen nur die Religion als einzige Gemeinsamkeit blieb, zeigten, dass hier Nationalismus und Religion untrennbar miteinander verflochten sind.

Ein weiterer gravierender ideologischer Widerspruch des Zionismus besteht darin, dass, zumindest unter kapitalistischen Bedingungen, die angebliche Befreiung der einen, also der Juden und Jüdinnen, zugleich die Unterdrückung der anderen, also der bereits seit Jahrtausenden dort lebenden Palästinenser:innen, bedeuten muss. Hier wird also deutlich, dass Israel von Beginn an ein kolonialistisches Projekt gewesen ist und die Zionist:innen schon immer auf die Unterstützung einer oder mehrerer imperialistischer Mächte angewiesen waren, die ihnen dabei halfen und heute noch helfen, sich gegen diejenigen, die zu Recht gegen ihre Vertreibung aufbegehren, sowie gegen die umliegenden arabischen Länder militärisch und ökonomisch zur Wehr zu setzen. So waren es nach 1918 der britische und nach 1956 bis heute der US-amerikanische Imperialismus, dem sich die Zionist:innen und der Staat Israel anbiedern mussten und die als Schutzmacht Israels dienten. Diese Großmächte unterstützten die Idee jüdischer Selbstbestimmung selbstverständlich nicht aus Nächstenliebe, schließlich gewährten sie die von den Nazis verfolgten Juden und Jüdinnen in ihren eigenen Ländern keine Zuflucht. Vielmehr war ihr Handeln geleitet durch ein geostrategisches Interesse, was ihnen eine Vormachtstellung im Nahen Osten und Zugriff auf große Erdölvorkommen bot. Neben diesem Kalkül hat jedoch der vermeintliche Kampf gegen Antisemitismus auch eine ideologisch tragende Rolle eingenommen: Die Unterstützung Israels seitens der imperialistischen Mächte, hier vor allem Deutschlands, soll als Kampf gegen Antisemitismus schlechthin dienen. Dies wird auch deutlich, wenn wir uns die Aussagen führender Politiker:innen seit dem 7. Oktober 2023 anhören, die von der Sicherheit Israels „als deutsche Staatsräson“ sprechen, während antisemitische Flugblätter aus der Vergangenheit billigend in Kauf genommen werden. In den vergangenen Jahrzehnten gelang es weiten Teilen der bürgerlichen Politik, die Überzeugung, die bloße Unterstützung Israels als den einzigen Kampf gegen Antisemitismus zu rühmen und die Ablehnung seiner Politik als bloßen Antisemitismus zu verurteilen, populär werden zu lassen. Auch, wenn sich uns hier Tag um Tag ihre Heuchelei zeigt, so sind diese Überzeugungen keineswegs bewusst gestreute, sondern vielmehr Folge geostrategischer Zwänge und einer zionistischen Idee, die in der Debatte um Antisemitismus eine tragende Rolle eingenommen hat.

Abgesehen von dem eben benannten Widerspruch ist zudem offensichtlich, dass es für die jüdische Arbeiter:innenklasse in einem kapitalistischen Staat, wie Israel einer ist, keine wirkliche Befreiung geben kann. Auch hier wird das jüdische Proletariat von der herrschenden Klasse ausgebeutet und immer wieder durch ihren großen gewerkschaftlichen Dachverband, der Histadrut, verraten. An diesem Umstand konnten auch die Labourzionist:innen mit ihren Ideen der Kibbuzim und Moschawim nichts Grundlegendes ändern (Kibbuz; wörtlich: Versammlung; Moschaw; wörtlich: Sitz, Siedlung. Beides bezeichnet genossenschaftlich-kollektive Landbebauungsformen). Diese ohnehin wenig fortschrittlichen Projekte sind mittlerweile durch andere Wirtschaftszweige verdrängt oder gänzlich privatisiert worden. Zugleich wird die jüdische Arbeiter:innenklasse in Israel ebenfalls durch die regelmäßigen Großspenden unterstützt, was die ideologische Abhängigkeit vom Zionismus als Projekt festigt.

Häufig wird von Zionist:innen behauptet, Juden und Jüdinnen hätten schon immer in ihre ursprüngliche und damit ihnen zustehende Heimat zurückgewollt. Dieses Argument ist historisch einerseits nicht haltbar – wie wir in Folge 1 unserer Podcastreihe aufgezeigt haben – und andererseits durch seine religiöse Begründung anachronistisch. Zudem vermittelt es, Araber:innen hätten seit ganzen 2.000 (!) Jahren zu Unrecht in Palästina gelebt. Würden alle Völker Ansprüche auf territoriale Realitäten von vor 2.000 Jahren erheben, so versänke die Welt in einem einzigen Blutbad. Paradoxerweise sind es gerade die USA, die das Argument des historisch begründeten territorialen Anspruchs in ihrem eigenen Land nicht für legitim halten.

Ein Widerspruch, auf den besonders wichtig hinzuweisen scheint, betrifft die Haltung des Zionismus gegenüber der arabischen Bevölkerung, welche stets zwischen Ignoranz und Rassismus schwankt. Im bereits erwähnten Buch „Der Judenstaat“ erwähnt Theodor Herzl die Araber:innen mit keinem Wort. Einer der frühesten Wahlsprüche der Zionist:innen lautete „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land!“ Hier wird die Existenz der arabischen Bevölkerung gänzlich geleugnet oder aber ihr wird offen rassistisch begegnet, indem unterstellt wird, sie sei unfähig, das Land ordentlich zu bestellen – wie es der erste Premierminister Israels, Ben-Gurion, formulierte. Hieraus lässt sich also angesichts der theoretischen und praktischen Ausrichtung des Zionismus schlussfolgern, dass Antizionist:in zu sein, bedeutet, das politische Programm der zionistischen Organisationen abzulehnen. Antijüdisch zu sein, bedeutet hingegen, rassistisch zu sein. Es gilt, Antizionismus und Antisemitismus strikt voneinander zu trennen. Auch jüdische linke Organisationen und Intellektuelle fordern diese Unterscheidung. Hier ist beispielsweise auf die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden im Nahen Osten“ oder auf den israelischen Antisemitismusforscher Moshe Zuckermann hinzuweisen. Es zeigt sich, dass nicht alle Juden/Jüdinnen hinter der Politik Israels stehen. Ihre Gleichsetzung mit der zionistischen Ideologie oder einem zionistischen Staat ist generalisierend und damit antisemitisch,

Mit der Klarheit, mit der Antisemitismus und Antizionismus voneinander zu trennen sind, treten bürgerliche Institutionen wie deutsche Parteien, die UNO oder die EU leider nicht bei ihrer Suche nach treffenden Antisemitismusdefinitionen auf. Hier sind israelische Gremien stets bemüht, zu intervenieren und die Frage eines israelbezogenen Antisemitismus in die Debatte einfließen zu lassen oder direkt Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. So entschied sich die deutsche Bundesregierung als Mitglied der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken, deren Antisemitismusdefinition politisch zu implementieren. Hier heißt es unter anderem: „[…] Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher [also antisemitischer] Angriffe sein.“ Zusätzlich entwarf der damalige israelische Innenminister Scharanski den sogenannten „3-D-Test für Antisemitismus“. Dieser gibt vor, unterscheiden zu können, wann Kritiken am Staat Israel antisemitisch seien und wann nicht. Dabei setzt er faktisch Antizionismus mit Antisemitismus gleich und trägt so dazu bei, die Gräueltaten Israels zu legitimieren, während das Aufbegehren dagegen weiter unterdrückt wird. Die Kriterien des Tests, also „Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung“, haben diverse Arbeitsdefinitionen in der europäischen und deutschen Politik maßgeblich beeinflusst.

Fortschrittlicher Antizionismus

Was in Gänze konsequenter und fortschrittlicher Antizionismus für uns bedeutet, darauf wollen wir gleich ausführlich eingehen. Die Entstehungsgeschichte des israelischen Staates thematisieren wir in unserer kommenden Spezialfolge, in der es um ein Aktionsprogramm für Palästina gehen soll. Darin wollen wir auch thematisieren, inwiefern auch ein falscher Antizionismus als Deckmantel für ein rassistisches und antisemitisches Programm genutzt werden kann, von dem wir uns in jedem Falle klar abgrenzen und es zutiefst verurteilen. Angesichts der anstehenden Bodenoffensive als Antwort auf den Angriff aus Gaza auf Israel am 7. Oktober 2023 hat die Frage nach einem progressiven Antizionismus erneut an Aktualität gewonnen. Auf die derzeitige Lage im Nahen Osten werden wir ebenfalls in unserer kommenden Folge vertieft eingehen. Vorerst möchten wir hier aber darstellen, aus welchen Überlegungen heraus Antizionismus für uns, also die Gruppe Arbeiter:innenmacht, legitim und notwendig ist und wofür wir stattdessen eintreten. Um unsere Position nachvollziehen zu können, ist es unvermeidbar, sich den Charakter und die Entstehungsgeschichte Israels vor Augen zu führen: Für die Schoa trugen die Araber:innen und Palästinenser:innen keine Verantwortung. Die darauffolgende große Einwanderungswelle nach Palästina hätte zu diesem Zeitpunkt nicht zwangsläufig zu der seit Jahrzehnten anhaltenden Entrechtung, Vertreibung, Einkesselung und dem dagegen laufenden Widerstand führen müssen. Der Charakter des israelischen Staates und dessen Stellung im imperialistischen Weltsystems führte erst zu den dramatischen Auseinandersetzungen, wie sie seit Jahrzehnten zwischen Israel und Palästina zu beobachten sind. Aber worin genau besteht dieser? Zum einen entschied man sich mit der Staatsgründung für eine kapitalistische Wirtschaftsorganisation, in der es ein Recht auf Privateigentum gibt, sowie für die Inanspruchnahme der Unterstützung durch imperialistische Großmächte. Dies führt neben der arabischen Segregation auch innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft zur Verschärfung der sozialen Spaltung. Für die dort Herrschenden fungiert der zunehmende Nationalismus als Bändigung gegen steigende Unzufriedenheit innerhalb der Arbeiter:innenklasse. Ein weiteres Charakteristikum ist, dass es aus zionistischer Sicht der Unterdrückung und Vertreibung der Araber:innen aus dem israelischen Herrschaftsgebiet bedurfte, um den jüdischen Charakter Israels zu garantieren. Dies macht es immer mehr zu einem Apartheidstaat, wie ihn auch Amnesty International bezeichnet. Die Apartheidsdefinition der UN umfasst unter anderem das Verweigern des „Recht[s] auf Verlassen des Landes und auf Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der Bewegung und des Aufenthalts“. Zudem wird auch „die Enteignung von Grundbesitz einer ethnischen Minderheit“ als Teil der Definition benannt. In Israel sind demnach mittlerweile grundlegende Züge von Apartheid zu erkennen. So existieren beispielsweise mehr als 50 Gesetze, die palästinensisch-israelische Bürger:innen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen diskriminieren, und Wohngebiete werden rassistisch getrennt.

Zu guter Letzt sei als Merkmal zu nennen, dass in Palästina faktisch eine reaktionäre „Einstaatenlösung“ unter Aufrechterhaltung der Fiktion einer „Zweistaatenlösung“ praktiziert wird.
Wir sprechen uns gegen ein Israel in dieser Verfassung als sich entwickelnder Apartheidstaat und imperialistischen Brückenkopf aus. Jedoch dürfen wir als konsequente Antizionist:innen nicht dabei stehen bleiben, sondern müssen eine fortschrittliche Lösung zur Überwindung des aktuellen israelischen Staates aufzeigen, von der sowohl Palästinenser:innen als auch Juden und Jüdinnen profitieren. Selbstverständlich kann es sich hierbei nicht darum handeln, den „jüdischen Staat“ durch einen „palästinensischen“ zu ersetzen. Stattdessen treten wir für einen binationalen Staat ein, in dem Juden/Jüdinnen und Palästinenser:innen gleichberechtigt leben dürfen. Jeder „Antizionismus“, der die Berechtigung von Ersteren, in Israel zu leben, leugnet, ist reaktionär und tatsächlich antisemitisch.

Es sollte bis hierher klar geworden sein, dass die zionistische Idee den Antisemitismus in der Welt weder aufheben noch den Juden und Jüdinnen einen wirklichen Schutzraum bieten kann. Im Gegenteil, sie akzeptiert durch ihre Schlussfolgerungen eine antisemitische Welt als unveränderlich gegeben. Zudem lenkt die altbekannte Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus, welche ohnehin politisch falsch ist, vom erstarkenden, wirklichen Antisemitismus der Rechten ab. Einer Rechten, die sich letztlich in die Geschichte der Schoa einreiht und den eliminatorischen Antisemitismus stets als Keim in sich trägt. Darüber hinaus fungiert der Vorwurf des Antisemitismus als einschüchterndes und mundtot machendes Werkzeug gegen all jene, welche sich solidarisch mit antiimperialistischen Befreiungskämpfen zeigen, aber auch ganz allgemein gegen internationalistische Linke, Gewerkschafter:innen und sogar linke Reformist:innen wie beispielsweise Corbyn – ganz unabhängig von der jeweils aktuellen Thematik. Diese Gleichsetzung ist ein Instrument von antideutschen Pseudolinken bis hin zur AfD.

Gegen Antisemitismus zu kämpfen, heißt für uns, nicht nur aufzuzeigen, weshalb die zionistische Idee keine Heil bringende ist. Gerade jetzt, in einer Zeit, in der antisemitische Gewalttaten und diverse Verschwörungstheorien in Reaktion auf die vielfältigen Krisen unserer Zeit wieder zunehmen, müssen wir den Kampf gegen ihn noch stärker zuspitzen. Krisen wie die Wirtschaftskrise 2007/08, die Niederlagen in verschiedenen Klassenkampfsituationen wie dem Arabischen Frühling oder dem Widerstand gegen das europäische Spardiktat sowie die Coronapandemie führten zu einem verstärkten Rechtsruck in vielen Ländern der Welt. Das bedeutet, dass der Kampf gegen Antisemitismus für uns vor allem auch einer gegen eben diesen Rechtsruck und das kapitalistische System sein muss, welches durch seine Produktionsweise und die damit verbundenen wiederkehrenden Krisen die Grundlage für antisemitische Ideologien abgibt. Für dieses Vorhaben braucht es ein antikapitalistisches Programm, welches der Arbeiter:innenklasse einen Weg aufzeigt, wie der Kampf gegen Rassismus, Rechtsruck und Nationalismus zu einem für eine befreite Gesellschaft ausgeweitet werden kann. Es ist notwendig, dass große Teile der Arbeiter:innenklasse für ein solches Programm gewonnen werden, denn nur sie sind es, die die Macht besitzen, dem kapitalistischen System seine Grundlage zu entziehen.

Wo immer sie uns begegnen, müssen wir antisemitischen Vorurteilen und Anfeindungen entschieden entgegentreten. Im Hier und Jetzt müssen wir daher Forderungen aufstellen, die dem Antisemitismus entgegenwirken und die Widersprüche des Kapitalismus zuspitzen. Dazu gehört unter anderem die Verteidigung des Rechts auf freie Ausübung der Religion und Kultur. Ebenso müssen wir das Recht auf Schutz gegenüber Angriffen auf jüdische Einrichtungen und Privatpersonen einfordern und antirassistische Selbstverteidigungsstrukturen organisieren. Zugleich müssen wir uns dafür einsetzen, dass Fluchtwege stets offenbleiben, damit Menschen, die flüchten müssen, in einem anderen Land Schutz finden können. Die Forderung nach offenen Grenzen und vollen Staatsbürger:innenrechten für alle ist daher eine zentrale im Kampf gegen Antisemitismus und eine wichtige Antwort auf die Fragen, die globale Migrationsbewegungen heute aufwerfen. Wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ist es unmöglich, dass ein kapitalistischer Nationalstaat vollständigen Schutz gegenüber Antisemitismus gewähren kann. Daher muss der Kampf für den Sozialismus mit der Forderung nach einem binationalen, säkularen Staat unbedingt verbunden werden.

Lasst uns den rechten Pseudokämpfen gegen Antisemitismus eine revolutionäre antikapitalistische Perspektive auf der Grundlage einer marxistischen Analyse entgegensetzen, damit sich die Schoa niemals wiederholt!

Wir hoffen, euch die soziale und politische Dimension des modernen Antisemitismus, des Zionismus sowie unsere Haltung dazu ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. Wie bereits angekündigt, werden wir in den kommenden Wochen eine Spezialfolge zu den aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten und der Frage, wie wir uns als Revolutionär:innen zum palästinensischen Befreiungskampf positionieren sollten, herausbringen.

Aber das in einer anderen Folge von „Lage der Klasse.“




Deutscher Oktober 1923 – Parteidebatte um die Niederlage

Bruno Tesch, Neue Internationale 278, November 2023

Die KPD offenbarte nach dem Oktober 1923 bei der Ursachenbetrachtung der Niederlage tiefe Unterschiede in der Gewichtung und vor allem auch im Verständnis der Einheitsfronttaktik und setzte damit ihre nach wie vor bestehenden ungeklärten Differenzen fort.

Selbst bei der scheinbaren Einigkeit über die Einschätzung der deutschen Situation „als objektiv revolutionär“ sind Zweifel angebracht. Festgemacht wurde dies in erster Linie am Grad der Zerrüttung der bürgerlichen Demokratie und der Polarisierung in ein klar reaktionäres, gestützt auf kleinbürgerliche Bewegungen und Militär, und ein revolutionäres Lager. Dessen Zusammensetzung und das Kräfteverhältnis zum feindlichen Pol wurden jedoch unterschiedlich interpretiert.

In der Debatte zeichneten sich drei Flügel ab: Linke, Mitte und Rechte. Wir untersuchen und bewerten im Folgenden ebenso deren Antworten wie jene aus dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI). Dabei beschränken wir uns aus Platzgründen auf Sinowjews Buch und die im Ergänzungsheft 1 der „Internationale“ (Januar 1924) geführte Debatte und liefern diese sowie weitere Quellen am Schluss.

Unterschiedliche Lehren: in Parteiführung … 

In ihren „Thesen zur Oktoberniederlage und zur gegenwärtigen Lage“ hielten Thalheimer und Brandler fest:

„1. Der Oktoberrückzug war unvermeidlich und richtig.

2. Die grundlegenden Ursachen der Oktoberniederlage sind objektiver Art und nicht wesentlichen taktischen Fehlern der KPD geschuldet. Die entscheidende Ursache ist der noch zu starke hemmende Einfluss der Sozialdemokratie. Die Mehrheit der Arbeiterklasse war nicht mehr bereit, für die Novemberdemokratie zu kämpfen, die ihnen bereits materiell nichts mehr gab, und noch nicht bereit, für die Rätediktatur und den Sozialismus zu kämpfen. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit der Arbeiterklasse war noch nicht für den Kommunismus gewonnen.

3. Der gemeinsame Fehler der Exekutive (der Komintern) wie der Zentrale der KPD war die falsche Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen SPD und KPD. Die KPD, hat in dieser Beziehung sich kritisch gegenüber der Exekutive verhalten, aber nicht genügend energisch. Die Exekutive hat dieser Kritik nicht das genügende Gewicht beigelegt.

4. Die Folgen dieser falschen Beurteilung des Kräfteverhältnisses waren:

a) ein zu früher Termin des Endkampfes

b) die Vernachlässigung der Teilkämpfe und der politischen Vorbereitung

c) infolge der mangelnden Verbindung zwischen politischer und technischer Vorbereitung litt auch die militärisch-technische Vorbereitung

5. Mängel zweiter und dritter Ordnung waren:

a) in Sachsen und Thüringen nicht genügende Ausnützung der gegebenen Positionen sowohl in Bezug auf Zersetzung der SPD und Heranziehung der SPD-Arbeiter an die KPD, wie auch in Bezug auf die Organisation der militärischen Abwehr.

b) Schwerfälligkeit der organisatorischen Umstellung der Partei für den Bürgerkrieg.

6. All diese Fehler und Mängel ändern nichts Wesentliches an dem grundlegenden Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.“

In „Zur gegenwärtigen Lage“ stellten sie aber eine Militärdiktatur fest, mithin ein scharfes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Der Einfluss der Oktoberniederlage auf Stimmung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und Zustimmung zur KPD fand keinen Niederschlag, auch nicht in den nachfolgenden erläuternden Gedankengängen von Thalheimer zu den Thesen.

Brandler sprach in seinem Beitrag jedoch davon, dass der kampflose Sieg der Reichsexekutive, der Truppen des Generalleutnants Müller, der in Sachsen Befehlsgewalt hatte, demoralisierend auf die Arbeiter:innenklasse und Teile der Partei gewirkt habe – ein Schwächezustand, der durch die Umstellung auf die Illegalität in Verbindung mit dem Oktoberrückzug die Aktivität lähmte.

Zur Frage, warum die linkssozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter:innen doch der passiven Regierungsführung in Sachsen/Thüringen gefolgt sind, führte Thalheimer aus:

„Wir haben nicht geglaubt, dass die linken SPD-Führer kämpfen wollten, aber dass die linken SPD-Arbeiter zum Kampf bereit waren. Es hat sich gezeigt, dass die Wirkung des organisatorischen Bandes viel stärker ist, als wir annahmen.“ Zur Festigung der Position in Sachsen und Thüringen bemerkte Thalheimer:

„Der bürgerliche Staatsapparat war unseren Genossen in Sachsen und Thüringen sehr wenig vertraut. [ … ] Es zeigte sich in der Praxis die Notwendigkeit der sofortigen Zerschlagung und völligen Neubaus dieses Apparates.“

Brandler wies eine Schuld durch taktische Fehler der Partei zurück und lastete sie dem Verrat der SPD an. Der Fehler bestände nur in der Unterschätzung der Zähigkeit der konterrevolutionären Fraktion der SPD und in der Überschätzung der eigenen Kräfte.

Er sah in „Lehren der Oktoberniederniederlage“ drei Fehlerquellen bei der falschen Beurteilung der Kräfteverhältnisse: zum einem habe die Außerachtlassung der gesamten internationalen Situation, das Verbot der proletarischen Hundertschaften und Kontrollausschüsse in Preußen sowie in Rheinland-Westfalen durch die Okkupationsarmee den Ausbau der proletarischen Klassenorgane gehemmt.

… und Parteigliederungen: Abrücken von der Mehrheitslinie

Andere Stimmen aus den Reihen der Parteimehrheit konstatierten eine Krise der Partei und verwiesen darauf, dass bereits bei den Kämpfen in den Bergbauregionen im Frühjahr Vorbereitungsarbeit auf entscheidende Kämpfe hätte geleistet werden sollen, und hielten eine Weiterführung von Teilkämpfen zur Deckung des Rückzugs der Partei für erforderlich.

Einen kritischen Schritt weiter gingen Genoss:innen, die von der Parteiführung (in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“) abrückten und der Partei vorhielten, dass sie In den Länderregierungen die Kampfpositionen nicht genügend ausgenutzt hätte, um die Mobilisierung der Massen zum organisierten Widerstand durchzuführen.

„Der Kardinalfehler der strategischen Einstellung war, dass die Partei sich auf einen ,Endkampf’ zur Eroberung der politischen Macht vorbereitete und die Einleitung von Teilkämpfen, Kämpfen mit Teilforderungen und weniger aggressiven Mitteln und Kampfmethoden ablehnte und verhinderte.

Nur aus der Verteidigung der mitteldeutschen Position zum entscheidenden Kampf überzugehen, war falsch. Nach Einzug der Weißen in Mitteldeutschland trat deshalb überall eine starke Desorientierung ein.

Der kampflose Rückzug war falsch, dem aktiven Teil des Proletariats unverständlich, Vertrauen auch der sympathisierenden Sektoren in die Partei geschwächt.“

Weitere Argumente (H. Lemann: „Um den proletarischen Machtkampf) wurden mit dem Hinweis vorgebracht:

„Statt über den Weg der Konzentration auf die regionalen Regierungen als Machtbasis für den sogenannten Endkampf hätte die Kampfaufnahme bedeutet: Generalstreik über das Reichsgebiet mit dem politischen Ziel, zunächst die Regierung und die Staatsgewalt unter Druck zu setzen und die Truppentransporte nach Sachsen zu verhindern. Zugleich mit dem Generalstreik konnte man auf bewaffnete Erhebungen unter Förderung und Führung der revolutionären Vorhut rechnen. Erst aus diesen Kämpfen mit Minimalzielen hätte man prüfen müssen, ob weitere Ziele erreichbar sind.“

Schlussfolgerungen der Parteiopposition

Noch grundlegendere Vorwürfe erhob A. Kleine in seinem Aufsatz „ Die Oktoberniederlage des Proletariats und die Aufgaben der KPD“, v. a. im Abschnitt „Die Fehler der Partei“.

Er bestritt die Aussage: „Es hat sich herausgestellt, dass der europäische Menschewismus viel tiefere Wurzeln in der Arbeitermasse hat, als wir es annehmen konnten.“ Kleine verwies in dem Zusammenhang auf Trotzkis „Anti-Kautsky“ („Terrorismus und Kommunismus“) und folgerte: „Die Partei konnte nicht das wahre Kräfteverhältnis erkennen, weil sie jeden anwachsenden Kampf der Massen abzubremsen versuchte, um ihn in den Rahmen des von der Partei vorbereiteten Widerstand einzugliedern.“

Kein Organ der Partei, keine Hundertschaft, kein Kontrollausschuss, kein Minister hätten trotz der gespannten Lage die Vereinbarungen mit der SPD durchbrochen, obwohl die reformistischen Führer:innen den gemeinsamen Kampf gegen die drohende „weiße“ Gefahr hintertrieben. In Berlin waren breitere Teile des Proletariats als in dem Anti-Cuno-Streik zum Kampfe bereit. „Was hat die Partei diesen Massen gesagt? Wir werden nicht siegen! Der Feind ist stärker, die Zeit arbeitet für uns; lasst ihn die Macht übernehmen. In dieser Situation war der Oktoberrückzug falsch.“ Die Mehrheit der Klasse war nur gewinnbar, wenn die Partei ihre Kampfbereitschaft auch beweisen konnte, wie das Hamburger Beispiel es vorgeführt hätte. Der Nichteinbezug der Massen in die Kampfvorbereitung zeigte, dass die Partei, v. a. die Leitung, ein unzulängliches Verständnis für die Verhältnisse zwischen ihr und den Massen und die Rolle der Partei im Kampfe um die Einheitsfront bewiesen hat.

Fehler waren schon vor dem Streik gegen die Regierung absehbar. Betriebsrätebewegung und militärische Vorbereitung hätten gestärkt werden müssen. Dass dies unterblieb, war als Ausdruck der Unterschätzung der Rolle der KPD in einer Epoche des Kampfes um die Einheitsfront des Proletariats zu werten. Die Partei hat im Großen und Ganzen das Vertrauen in die linken Führer:innen der SPD gestärkt. Die Hoffnung auf die Chemnitzer Konferenz, um diese Führung in den Kampf hineinzuziehen, trog. Das Stillhalten der KPD in der Regierung rächte sich. Kleine räumte allerdings ein, dass sich große Teile noch keine Kampferfahrung erworben hatten. Auch die Betriebsräte in Berlin hatten zum Oktober Teile ihres Einflusses eingebüßt.

Noch schärfer ging Max Albert in dem Artikel „Alles oder nichts“ mit der Parteiführung ins Gericht. Er stellte die Situation als ununterbrochenen Aufstieg und gewaltige Stärkung der revolutionären Bewegung des Proletariats dar und verwies auf Zersetzungserscheinungen im Lager der Arbeiter:innenfeinde – Schwarze Reichswehr, monarchistische (Kronprinz-)Truppe, Deutschnationale, katholische Gruppen –, die hätten genutzt werden sollen, um selbst nach dem Einmarsch in Sachsen aktive Gegenwehr zu leisten.

Die Unterschätzung der eigenen Kräfte – in Hamburg wurden die linken sozialdemokratischen Arbeiter:innen nicht eingeweiht und führten keinen synchronisierten Aufstand durch – und Überschätzung der gegnerischen wären der schwerste Fehler in der Oktoberniederlage gewesen. Albert beschuldigte aber beide Flügel, Parteiführung und „linke“ Opposition, eine falsche Vorstellung von Bürgerkrieg gehabt zu haben. Dieser könne nicht mit „Entscheidungskämpfen“ beginnen, was sich auf die falsche Alternative Sieg oder Niederlage zuspitzen würde. Die Vertagung des Kampfes führte zu einer schweren Niederlage nicht nur der KPD, die zu einer des deutschen, ja internationalen Proletariats geriet. Ebenso im Debakel endete die Einschätzung, den Kampf leicht gewinnen zu können.

Die Ankündigung wirtschaftlicher Maßnahmen wie Lebensmittelverteilung wären kein Mittel zur Mobilisierung des sächsischen Proletariats angesichts des drohenden Reichswehreinmarschs gewesen. So wurde im Gegenteil das Gefühl geweckt, als sei eine Besserung ihrer Lebenslage auch ohne Kampf möglich, als könnten ein paar sächsische Minister für sie die Revolution machen. Wenn am Ende der Chemnitzer Konferenz plötzlich die Parole: Generalstreik, die gleichzeitig bewaffneter Endkampf heißen sollte, „wie ein Dachziegel in die Versammlung flog, soll man sich doch nicht darüber wundern, wenn diese Parole nicht sofort mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.“

Albert erblickte auch Fehler darin, dass in der Periode der Kampfvorbereitung die politische Arbeit durch die militärischen Vorkehrungen sehr stark verdrängt wurde. Bewaffnung von Kadern reichte nicht, sie musste vielmehr aus der Massenbewegung heraus entwickelt werden.

Strategiekritik des linken Flügels

Der Flügel, der sich v. a. um Parteikräfte in Berlin und Brandenburg gruppiert hatte, stand von Beginn an in Fragen von Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung in Opposition zur Parteimehrheit. Die einzige scheinbare Gemeinsamkeit eines situativen Fixpunktes bestand in der Ausrichtung auf den „Endkampf“, der auch von den Oppositionellen als richtig erachtet wurde, wie in der „Skizze zu den Thesen über die politische Situation und über die Lage der Partei“ durch die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg festgehalten wurde. Die Wegbeschreibung und Einschätzungen über die notwendige Politik unterschieden sich jedoch diametral. In diesem Papier hieß es, die Situation sei objektiv reif für die Machteroberung des Proletariats, die Siegesaussichten der KPD im Oktober seien groß gewesen. Den Kampf hätte die Partei wagen müssen. Die Parteileitung hätte jedoch im August eine Perspektive linkssozialdemokratischer, rein gewerkschaftlicher Regierung verbreitet und durch eine Popularisierung der linken SPD durch Einheitsfront und Bündnis, deutlich geworden in den Regierungen Sachsen und Thüringen, ein falsches Bild von Arbeiter:innenregierung erzeugt. Die KPD-Führung habe die Schwächung der Position des Proletariats und der Partei zu verantworten.

Ruth Fischer, die führende Feder des Flügels, schrieb dazu ausführlicher in: „Zur Lage in Deutschland und zur Taktik der Partei“ über die Taktik der KPD in Sachsen. Sie kreidete der Parteiführung eine

„- falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse

– falsche Anwendung der Einheitsfronttaktik, u. a. in Regierungsbeteiligung Sachsen und Thüringen

– reformistische Betrachtung der Regierungsbeteiligung, des Staates, der Staatsmacht und der ,Ausnützung des Staatsapparates’“ an.

In Sachsen sei die KPD nicht so stark wie behauptet, sondern politisch unselbstständig, schwankend gewesen. Dies zeigte sich bei Wahlen zum Metallarbeiter:innenverband, beim Antifaschistischen Tag, Auguststreik und während der Regierungsbeteiligung besonders zum Ende. Die Stärke der sächsischen Hundertschaften wurde übertrieben.

In der Einheitsfrontpolitik sei der „ehrliche[r] Wille, zusammen mit der linken SPD, Arbeiterpolitik im Rahmen der Demokratie zu betreiben“, betont worden. Jedes Wort dieses Leitsatzes unserer sächsischen Politik war ein prinzipieller wie taktischer Fehler, Betonung auf der Unfähigkeit der SPD, Arbeiter:innenpolitik (d. h. revolutionäre Politik) zu treiben, notwendig. Ziel musste sein, die Einheitsfront mit ihnen zu vernichten. Jede Zusammenarbeit mit diesen Führer:innen habe ihnen Kredit verschafft, gefolgert aus der These des Leipziger Parteitags, „dass auch die Sozialdemokratie revolutionäre Kämpfe führen“ könne.

Fischer kritisierte ferner: „Unsere Einheitsfronttaktik bestand in einigen Spitzenverhandlungen und parlamentarischen Kombinationen unter bewusstem Verzicht auf Betriebsrätekongresse. Selbst nach Ermordungen von Arbeitern im Frühjahr und Generalstreiksabotage während Regierungsbeteiligung ist die Front nicht gesprengt worden. Stattdessen hätten klare Signale durch mobilisierende Aktivität zu einem echten Fundament für eine Einheitsfront mit den Massen gelegt werden können, um sie von unseren revolutionären Kampfeswillen und Zielen zu überzeugen. Durch unsere Taktik in Sachsen haben wir die Entwicklung der KPD aufgehalten, die Zersetzung der SPD gehemmt, ihren ‚linken Flügel‘, die gefährlichste Barriere für die Revolution, konsolidiert und die besten revolutionären Elemente der eigenen Partei wie des Proletariats der KPD gegenüber misstrauisch gemacht. Jede bürgerliche Regierung mit einem intakten Staatsapparat und einer Spitze, die aus Personen mit sozialdemokratischem (oder auch kommunistischem) Mitgliedsbuch in der Tasche besteht, ist eine bürgerliche Regierung und handelt als und ist eine solche. Eintritt in diese Regierung konnte nur den Sinn haben, den Apparat zu sprengen, einen proletarischen an seine Stelle zu setzen und den Angriff gegen die Bourgeoisie zu beginnen. Voraussetzung hierzu war: Massenmobilisierung, Rätekongress, Beginn der Bewaffnung. Eine Änderung des Staatstyps in einen proletarischen, ohne den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, ist praktischer Revisionismus der Staatstheorie.“

Auch in der Praxis der Regierungsbeteiligung hätten sich viele skandalöse Fehler ereignet, z. B. die Mitverantwortung für ein Regierungsprojekt, das in Zeiten höchster Hungerkrise dem ehemaligen Königshaus ungeheure Wertobjekte schenkt, Verzicht auf selbstständige Aktionen zur Verteidigung der Regierung. Hamburg, so meinte Fischer, hätte trotz Niederlage und personeller Verluste mehr genützt als geschadet, den Kommunist:innen eher einen Prestigegewinn verschafft.

Diese Zusammenschau der Sichtweisen auf das Revolutionsjahr 1923 und die Rolle der KPD darin drückt gravierend große Gräben innerhalb der Partei aus, wobei die Brandler/Thalheimer-Führung deutlich angeschlagen aus der Niederlage der Revolution hervorging.

Sinowjews Haltung

Rückenwind erhielt der linke KPD-Flügel durch Sinowjew, der als Vorsitzender des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (EKKI) an exponierter Stelle stand, zumal er die treibende Kraft bei der Festlegung eines bewaffneten Aufstands im Herbst 1923 war. Seiner Beurteilung, die er in „Probleme der deutschen Revolution“ niederlegte, kam besonderes Gewicht zu. Rückblickend hielt er die Taktik der KPD in Sachsen für richtig, sie konnte und durfte eine Teilnahme an einer Koalition mit der SPD nicht ablehnen. Es gab keinen Grund zur Reue über das sächsische Experiment, weil dort ein Bankrott der linken Sozialdemokratie offenbart worden wäre. Im Nachwort revidierte er jedoch diese pauschale Absegnung:

„Der Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung war gedacht als militärisch-politische Episode, mit dem Zwecke, für die kämpfende Avantgarde einen Stützpunkt zu schaffen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Die ganze Episode begann, einer banalen parlamentarischen Zusammenarbeit der Kommunisten mit den sogenannten ‚linken‘ Sozialdemokraten zu ähneln. Um diesen Versuch erfolgreich zu gestalten, hätte man sofort einige Zehntausend Arbeiter bewaffnen müssen. Man hätte die Frage der Nationalisierung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzen müssen. Man hätte die Fabrikanten verhaften müssen, die die Arbeiter aussperren. Man hätte sofort die Schaffung von Arbeiterräten in Angriff nehmen müssen.“ Die sich dem widersetzende Sozialdemokratie hätte von Anfang an dafür an den Pranger gestellt werden müssen. „Das alles geschah nicht. Und darin besteht der größte Fehler der Partei.“ 

In der Frage der Einheitsfront vollzog Sinowjew eine Kehrtwendung, weg von den Kominternbeschlüssen auf dem 4. Weltkongress, die eine Einheitsfront von Kommunist:innen mit reformistischen Organisationen auf allen Ebenen befürwortete. Er sagte nun:

„Die Taktik der Einheitsfront ist in eine neue Phase eingetreten. Als Lehre muss nun gelten: ,Wir verzichten auf jegliche Verhandlungen mit dem Zentralkomitee der Sozialdemokratie und mit der Zentralleitung der deutschen Gewerkschaften. Einheit von unten heraus – das ist unsere Losung.’“ Lokale Verhandlungen mit linken Sozialdemokrat:innen seien allerdings möglich und notwendig.

Aus der Erfahrung mit dem Hamburger Aufstand folgerte er: „Ihre Schattenseite besteht darin, dass sie die organisatorischen Mängel unserer Partei erbarmungslos aufdeckte und deutlich hervorhob, dass vorläufig noch eine elementare technische Ausbildung nicht vorhanden ist.“ Es habe sich aber auch gezeigt, „dass die Sympathie bedeutender Schichten der Kleinbourgeoisie für das revolutionäre Proletariat gesichert ist.“

Sinowjew kritisierte die KPD an dem Punkt, „dass in den Tagen des Bestehens der Arbeiterregierung in Sachsen niemand von den Kommunisten an die Schaffung von Räten gedacht hat“, auch in Hamburg vor der Aktion nicht. Er propagierte auch die Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die er für „unveränderlich“ und „ewig“ erklärte und die „in der allgemeinen Form auch für das heutige Deutschland“ tauge. Er bediente sich dabei einer fragwürdigen Übertragung der Verhältnisse in der SU (Klassenbündnis, -zusammenschluss Smytschka), auf Deutschland und überging die Unterschiede der bäuerlichen ökonomischen Schichtung und politischen Tradition in beiden Ländern. Sinowjew beschwor die Einheit der Partei, zu der jedoch weder sein noch das eher Laisser-faire- und dann überstürzte Verhalten der gesamten KI zur Lage in Deutschland 1923 beigetragen hatte. Sinowjews Resümee nach dem Oktober brachte den Klärungsprozess der KPD nicht wirklich weiter.

Die Lage nach der Niederlage

Auch mit seiner Prognose zur Weiterentwicklung der Lage saß er einer Fehleinschätzung auf.

Sinowjew glaubte nach den Vorkommnissen noch an einen Aufschwung der revolutionären Bewegung. „Das dringende Bedürfnis der Arbeiter, sich zu bewaffnen, erhält erst jetzt Massencharakter. Die Entscheidungskämpfe werden für einige Zeit verschoben.“ Er war der Meinung, dass die Arbeiter:innen nun zu der Einsicht gelangen werden, die linken Führer:innen der SPD seien nur ein Anhängsel der konterrevolutionären rechten Mehrheit. 

Sinowjew ging auch davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands noch weiter verschlechtern würde.

Dem war jedoch nicht so. Die im November 1923 erfolgte einschneidende Währungsreform und der im April 1924 vorgelegte Dawes-Finanzierungsplan, der im August 1924 im Reichstag angenommen wurde, bewirkten eine Revision der Reparationsleistungen des deutschen Reichs gegenüber den alliierten Kriegssiegermächten und bereiteten den Weg für eine Stabilisierung der v. a. durch Inflation und ungeregelte Reparationsforderungen aus dem Lot geratenen kapitalistischen Wirtschaft und stützten auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Dies verfehlte auch nicht seine Auswirkungen auf die Arbeiter:innenschaft, deren Kampfmüdigkeit sich nach dem Oktober 1923 nicht mehr erholte. Die Anzahl der Streiks ging im Laufe des Folgejahres deutlich zurück, und sie blieben auch räumlich begrenzt, so z. B. bei den Remscheider Metallbetrieben um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar 1924. Der seit 1919 geltende Achtstundentag war von der Unternehmer:innenschaft während der Inflationsperiode durchlöchert worden. Hier hätte die KPD bspw. wieder einen Anknüpfungspunkt gehabt, um die Streikbewegung zu verbreitern und zu politisieren, aber ihr waren die Hände gebunden, denn:

Der Preis, den die KPD zahlen musste, bestand im Parteiverbot von November 1923 – März 1924. Die proletarischen Hundertschaften wurden aufgelöst. Der noch anfängliche Wahlerfolg im Mai 1924 (12,9 % Stimmanteil mit 62 Reichstagsmandaten) verflog im Dezember 1924 jedoch auf nur noch 9 %.

Politische Folgen

Stalin konnte sich scheinbar damit rühmen, frühzeitig die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Aufstands vorausgesehen zu haben. Sein erst später veröffentlichter Warnbrief als einzige bekanntgewordene Stellungnahme und seine ansonsten indifferente Haltung während der gesamten Phase der deutschen Entwicklung 1923 wiesen in Wirklichkeit jedoch bereits darauf hin, dass es ihm weniger darum zu tun war, die Weltrevolution zu fördern, als Machtpositionen im eigenen Land zu stärken.

Statt einer ernsthaften Aufarbeitung der Lehren des Oktobers 1923 gerade in der Frage von Einheitsfrontpolitik und Anwendung der Arbeiter:innenregierungstaktik wurde innerhalb der Komintern in erster Linie Kritik an der KPD-Führung geübt. Der linke Flügel ging zunächst personell gestärkt hervor. Im April 1924 wurde eine neue Parteiführung aus seinen Reihen gebildet. Trotzki nahm nach dem Oktober 1923 die alte KPD-Leitung insofern in Schutz, als er Sinowjews und Stalins alleinige Schuldzuweisung an Brandler für die Niederlage der deutschen Revolution als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern erachtete, denn der KI-Führung kam ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung für dieses weltpolitisch markante Fiasko zu.

Weder das EKKI noch die KPD hatten die Einheitsfrontpolitik, insbesondere in der Frage der Arbeiter:innenregierung, im Geiste der entsprechenden Thesen und Resolutionen des III. und IV. Weltkongresses im entscheidenden Moment beherzigt, sondern schwankten zwischen rechtszentristischer, opportunistischer und linkszentristischer Auslegung (Einheitsfront nur von unten). Beide Linien traten schon zuvor auf: die ultralinke in der Märzaktion 1921 und die opportunistische in der Rathenaukampagne 1922, die sich auf den Aufruf zur Republikanisierung der Reichswehr durch Hinauswurf der monarchistischen Elemente beschränkte, aber von Arbeiter:innenbewaffnung und -regierung schwieg. Unsere Synopse legt nahe, dass sich Elemente richtiger Kritik und Perspektiven v. a. bei Anhänger:innen einer mittleren Opposition finden („Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“, Lemann). Splitter richtiger Einsichten finden sich auch bei Kleine und dem linken Flügel der Parteimehrheit, der die Untätigkeit der Leitung während und nach der Ruhrbesatzung betonte.

Die politischen Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Das Scheitern der Revolution 1923 erleichterte zumindest Stalins Bestrebungen, den Sowjetstaat zu bürokratisieren. Die schwankende Linie in der Arbeiter:inneneinheitsfrontpolitik mit deren übelstem Auswuchs, der Sozialfaschismusdoktrin gegenüber der Sozialdemokratie, mündete dann 10 Jahre später in ein noch maßloseres Verhängnis für das Proletariat, die Niederlage gegenüber dem Faschismus.

Namen und Pseudonyme

Max Albert (Pseudonym für Hugo Eberlein)

August Kleine (Pseudonym: Samuel Guralski)

H. Lemann (Pseudonym: wahrscheinlich Ernst Meyer)

Quellen

Sinowjew: Probleme der deutschen Revolution, Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1923

Ergänzungsheft Nr. 1, Jahrgang 6, Januar 1924; in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Band 4, Reprint: Verlag Neue Kritik KG, Frankfurt/M. 1971 (darin u. a. Aufsätze von H. Brandler, A. Thalheimer, Karl Berger, H. Lemann, A. Kleine, Max Albert, Ruth Fischer)

Jahrgang 7, 28. März 1924; in: Die Internationale, a. a. O., Band 5, S. 33 – 152 (darin u. a. Aufsätze von Sinowjew, Edwin Hörnle, Wilhelm Koenen, St. Stefan, A. Maslow, Ruth Fischer, Sommer, Heinrich Brandler, August Thalheimer

Die Kommunistische Internationale Nr. 31 – 32, 5. Jahrgang, Band 7, Reprint: POLITLADEN ERLANGEN, Gaiganz 1974, S. 143 – 232 (darin u. a. Aufsätze von H. Remmele, A. Maslow, G. Sinowjew)




Antisemitismus und Psychoanalyse – eine marxistische Kritik

Teil 2 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 5, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis, heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Welche psychische Funktion nehmen antisemitische Überzeugungen für Menschen in Klassengesellschaften ein?
In der vorherigen Podcastfolge zur historischen Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus haben wir gehört, dass sich Gesellschaftsstrukturen zwar ändern, der Antisemitismus jedoch, wenn auch in veränderter Form, bestehen bleibt. Es stellt sich also die Frage, ob der Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist und welche Elemente der Zivilisation Individuen und Gemeinschaften dazu bringen, antisemitische und damit irrationale Überzeugungen für sich anzunehmen?

Im Folgenden wollen wir uns das Phänomen des Antisemitismus, welcher der Archetyp aller Verschwörungstheorien ist, einmal aus einer eher psychoanalytischen Sicht ansehen. Die Psychoanalyse ist ein durchaus wichtiges Instrument, um vor allem die unbewussten und vorbewussten Vorgänge im Menschen zu verstehen und damit auch sein Handeln besser nachvollziehen zu können. Uns muss aber auch klar sein, dass die Psychoanalyse im Großen und Ganzen das gesamthaft Irrationale am Kapitalismus verkennt, durch Pathologisierungen ihr Hauptaugenmerk hauptsächlich auf das Individuum und nicht auf die Gesellschaft richtet und daher keinen tragfähigen Ausweg aus eben diesem System aufzuweisen hat.

Im Verlauf der Episode soll deutlich werden, wie sehr Psyche und Gesellschaft, und damit auch ihre ökonomischen und politischen Bedingungen, miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die ökonomischen, materiellen Verhältnisse das Primat in diesem Zusammenspiel einnehmen. Das Denken und Handeln, also auch das Psychische, ist sozusagen die Übersetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welches wiederum seine eigene Dynamik entfaltet und auf die Gesellschaft zurückwirken kann.

Verschwörungstheorien sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen sowie Krisen nicht abstrakt gedacht werden können, sondern personalisiert werden. Die Grundlage bietet dabei häufig die Unfähigkeit, Widersprüche und Ungewissheiten auszuhalten, von denen es in unserer heutigen Welt mehr denn je gibt. Alles Beobachtbare wird dabei auf dieselbe Ursache zurückgeführt, nämlich auf das personifizierte Böse, was sich vom Guten klar unterscheiden lässt und ohne welches die Welt ein nahezu paradiesischer Ort sein könnte. In Verschwörungstheorien werden alternative, in sich schlüssige Realitäten erschaffen, die dem individuellen Wahn sehr ähnlich sind, jedoch sozial geteilt werden. Wir dürfen allerdings nicht dem Trugschluss aufsitzen, dass Verschwörungstheorien Ausdruck mangelnder Intelligenz seien, vielmehr sind sie, wie der Psychoanalytiker Ernst Simmel schreibt, Ausdruck eines gestörten Gleichgewichts des kollektiven Charakters der Gemeinschaft, wie wir später noch sehen werden.

Verschwörungstheorien und damit auch der Antisemitismus dienen immer der Stärkung eines Ichs, welches entweder durch individuell-biografische oder aber durch gesellschaftliche Krisen geschwächt worden ist. Im Wesentlichen sind es folgende psychische Funktionen, die von Verschwörungstheorien erfüllt werden, um das schwache Ich zu stärken:

Es werden Komplexität und Ungewissheit reduziert, indem beispielsweise vielschichtige wirtschaftliche Entwicklungen einzelnen Personen wie den Rockefellers und Rothschilds zugeschrieben werden, welche durch Habgier geleitet das Weltgeschehen lenken.
Angst, Neid und Aggression, die durchaus auf reale Ohnmachtserfahrungen zurückgehen, werden gebunden und durch Verschwörungstheorien verstärkt. Zudem erfährt das Individuum Entlastung durch das Projizieren: Das, was das Individuum an sich selbst ablehnt, wird in andere projiziert und an ihnen erkannt statt im Individuum selbst. Eigene unangenehme Gefühle werden ausgelagert und auf äußere Sündenböcke, wie das Jüd:innentum, sogenannte Klimadiktator:innen wie Habeck und Baerbock, Bill Gates oder die Globalist:innen übertragen. Hinzu kommt, dass das Selbst narzisstisch aufgewertet wird, indem die eigene Person zu den Eingeweihten gehört und die anderen Unwissenden, die den großen Plan der Verschwörer:innen einfach nicht begreifen, abwertet. Letztlich stiften Verschwörungstheorien auch Identität, da sie durch die Konstruktion von Gut und Böse, von Innen und Außen ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl herstellen, welches auf Hass und Ablehnung basiert. Als Beispiel ist hier die Konstruktion des/r in Anführungszeichen „guten Deutschen“, welche/r stark, loyal und heimattreu ist und zu dem/r man selbst gehört, gegen das in Anführungszeichen „böse, gierige Jüd:innentum“ – zu dem die anderen gehören, zu nennen.

Begriffe der Psychoanalyse

Da wir im Folgenden einige Termini aus der Lehre der Psychoanalyse verwenden werden, wollen wir zum besseren Verständnis das Instanzenmodell des Psychoanalytikers Sigmund Freud kurz skizzieren: Drei Instanzen bilden demnach die menschliche Persönlichkeit und wirken aufeinander ein: Es sind das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es ist die älteste und ursprünglich unbewusste Instanz der Psyche. Sie wird beherrscht von grundlegenden Bedürfnissen wie Schlaf und Hunger und dergleichen. Das Es drängt auf direkte Triebbefriedigung und duldet keinen Aufschub. Hingegen vertritt das Über-Ich das Gewissen eines Menschen, welches sich erst entwickeln muss. So ist das Über-Ich auch Ausdruck der gesellschaftlichen Normen und Werte und ist zuständig für Gebote und Verbote. Werden diese verletzt, kommt es zu Schuldempfindungen. Das Über-Ich steht häufig mit der Instanz des Es im Konflikt. Die Aufgabe der dritten Instanz, nämlich des Ich, ist es, zwischen den ersten beiden Instanzen, also den Triebansprüchen und den verinnerlichten Ge- und Verboten zu vermitteln. Das Ich entwickelt sich erst im Laufe der Kindheit und Jugend ist unter anderem für die Realitätsprüfung zuständig.

„Wo Es war, soll Ich werden“, so Freud im Jahre 1933. Es sei das Ziel der Psychoanalyse, das Ich zu stärken und es vom Über-Ich unabhängiger zu machen. Auch solle der Mensch sich seiner Energien aus dem Es bewusster werden. Dies sind hehre Ziele. Wir müssen jedoch anerkennen, dass die Entwicklung des Ich im Kapitalismus stets strukturell blockiert ist. Wenn eine Ich-Bildung im Kapitalismus relativ erfolgreich gelingt, so ist diese entweder an Privilegien gebunden oder an die Entstehung einer fortschrittlichen Gegenbewegung zu den herrschenden Verhältnissen. In letzter Instanz also an eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung. Dieser Zusammenhang verweist bereits auf die Notwendigkeit der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse, um gesellschaftliche und bis zu einem gewissen Grad auch individuelle Pathologien zu verhindern. Schließlich kann es kein nicht-entfremdetes Individuum, also ein gänzlich bewusstes und gesundes starkes Ich, in einer Gesellschaft geben, in der Entfremdung eines ihrer Wesensmerkmale darstellt.

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück, inwiefern der Antisemitismus ein Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist.

Um uns der Beantwortung dieser Frage zu nähern und ein tieferes Verständnis für innerpsychische Vorgänge im Komplex antisemitischen Denkens zu entwickeln, greifen wir im Folgenden auf das Modell der Massenpsychose zurück. Dieses entwickelte der Psychoanalytiker Ernst Simmel, der, wie Theodor Adorno, einige wichtige massenpsychologische Erkenntnisse zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen hat. Allerdings muss schon vorab kritisch darauf hingewiesen werden, dass der Auffassung der sogenannten Kritischen Theorie der Klassenbezug gänzlich fehlt, was wiederum zu einem kulturpessimistischen Defätismus führt. Daher ergänzen wir im Folgenden die Ausführungen Simmels durch notwendige revolutionär-marxistische Perspektiven und werfen im späteren Verlauf nochmals einen kritischen Blick auf die Antisemitismustheorie der Frankfurter Schule.

Nach psychoanalytischer Auffassung der Charakterbildung stellt ein Individuum, was unter einem krankhaft gestörten inneren Gleichgewicht leidet, dieses wieder her, indem es irrationale Ideen mit irrationalen Handlungsimpulsen verbindet.

Diese Theorie überträgt Simmel vom Individuum auf die Gesellschaft, da hier ähnliche Phänomene zu beobachten sind: den irrationalen Ideen in einem Kollektiv (also antisemitische Überzeugungen) folgen irrationale Handlungen (also Angriffe auf das Jüd:innentum). Wir können uns also fragen, ob der kollektive Charakter der Gemeinschaft ebenfalls unter einem pathologisch gestörten Gleichgewicht leidet, weil er die Irrationalität des Antisemitismus hervorbringt – und weiter noch: Was hat diese Störung des Gleichgewichts hervorgerufen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns ansehen, was die Beziehung zwischen Antisemitismus und Zivilisation als kollektivem Charakter ausmacht.

Sowohl die Entwicklung des Einzelnen als auch die der Menschheit als Ganzer ist nach Auffassung einiger Psychoanalytiker:innen begleitet von zwei Haupttrieben: dem destruktiven Verschlingungstrieb des Hasses zur Selbsterhaltung und dem erotischen Liebestrieb zur Arterhaltung.

Im Antisemitismus fällt das Individuum in der Gemeinschaft zurück auf ein früheres primär-narzisstisches Entwicklungsstadium, nämlich das des pathologischen Hasses. Der Hass ist im entwicklungspsychologischen Sinn der Vorläufer der Liebesfähigkeit, denn das Individuum muss erst sein eigenes Überleben sichern, damit es später seine Art erhalten kann.
Dieses Zurückfallen auf vorherige Entwicklungsstadien nennt man in der Psychoanalyse Regression. Regression ist ein Abwehrmechanismus, der eintritt, wenn Betroffene großen Ängsten ausgeliefert sind. Sie kann dabei helfen kritische Lebensereignisse zu meistern, aber ein dauerhaftes Regredieren ist krankhaft.

Wie zeigt sich uns dieser regredierte Hass, der sich sowohl als Folge des mittelalterlich-religiösen Antijudaismus entlädt und viel aggressiver noch im Zuge antisemitischer Anschuldigungen in der Moderne zutage tritt? Er ist vor allem gekennzeichnet durch irrationale Anschuldigungen gegen das Jüd:innentum. Sollen Juden/Jüdinnen früher Christusmörder:innen und Hostienschänder:innen gewesen sein, so sind sie seit Ende des 19. Jahrhunderts einerseits die kommunistischen, andererseits die kapitalistischen Strippenzieher:innen im Hinterzimmer – zwei sich völlig widersprechende Anschuldigungen. Unter anderem an dieser irrationalen Anschuldigung wird übrigens deutlich, weshalb es insbesondere das Kleinbürger:innentum ist, welches damals wie heute besonders empfänglich ist für antisemitisches Gedankengut. Diese Empfänglichkeit ist unter anderem in ihrer Rolle im Produktionsprozess begründet – das Kleinbürger:innentum steht zwischen den beiden Hauptklassen, dem Kapital und der Arbeiter:innenklasse. So ist es stets bemüht, in die herrschende Klasse aufzusteigen, und zugleich der Sorge ausgeliefert, in die Arbeiter:innenklasse abzurutschen, wenn es durch große Kapitalist:innen verdrängt würde. Das Kapital ist also eine reale Bedrohung für das Kleinbürger:innentum. Der Kommunismus würde ihm jedoch ebenso die gesellschaftlich-ökonomische Grundlage entziehen.

Das Ausmaß der Gewalt, die sich gegen Juden und Jüdinnen über die Jahrhunderte immer wieder in Folge dieser Anschuldigungen entlädt, ist stets abhängig von dem Maße, in dem die antisemitischen Vorstellungen ihren Realitätsbezug gänzlich verlieren und von einer bloßen Illusion zu einem Wahn werden. Antisemitische Vorstellungen verlieren in dem Maße ihren Realitätsbezug, in dem sich gesellschaftliche Krisen zuspitzen und sie somit für das innerpsychische Gleichgewicht des Kollektivs und zur Machtsicherung der Herrschenden notwendiger werden. Die folgenreichste Eskalation des antisemitischen Wahns zeigte sich in der Shoa im nationalsozialistischen Deutschland, dem ebenfalls eine tiefe Krise vorangegangen ist. Man denke nur an die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg mitsamt ihren Folgen wie dem Versailler Vertrag.
Dieses klinische Syndrom uneingeschränkter, aggressiver Destruktivität im Wahn bei vollständiger Verleugnung der Realität kennen wir aus der Psychopathologie als Psychose, genauer als paranoide Schizophrenie.

Der Psychoanalytiker Ernst Simmel begreift demnach den Antisemitismus als eine Art der Massenpsychose. Um diese These besser nachvollziehen zu können, sehen wir uns nun einmal an, welche psychodynamischen Vorgänge im psychotischen Individuum vor sich gehen und was passiert, damit auch eine Gruppe dem pathologischen Wahn verfallen kann, während der Einzelne in der Gruppe keinen pathologisch irrationalen Symptomen unterliegt. Er wird erst krank, wahnhaft und aggressiv im Kontext der Masse. Das zeigt auch, dass die Masse weitaus mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Sie entwickelt ihre eigenen Dynamiken und erhebt sich über die/den Einzelne/n.

Wir können uns mangels Zeit an dieser Stelle nicht auf die Schizophrenie als Ganze beziehen, wohl aber auf die Aspekte, die individuelle und kollektive Psychose miteinander gemein haben. Hierbei soll es nur um das System des Wahns und der ungezügelten Entladung zerstörerischer Aggression, als Teile einer Psychose, gehen.

Wie wir bereits zu Beginn erwähnt haben, ist das Individuum wie auch die Gesellschaft als Ganze sowohl vom erotischen Liebestrieb als auch vom destruktiven Verschlingungstrieb bewegt. Unsere Urahn:innen waren Kannibal:innen und auch wir wollen zu Beginn unseres Lebens als Babys nicht nur Nahrung, sondern auch alles andere verschlingen, was uns unsere Bedürfnisse verweigert. Es ist also ein Vorgang, der sowohl der körperlichen als auch der psychischen Selbsterhaltung dient. Der psychischen Selbsterhaltung dient er insofern, als dass das Verschlingen ein primitiver Vorläufer der Verdrängung ist. Das hört sich erst mal seltsam an, gemeint ist damit aber, dass durch das Verschlingen das Objekt in sich aufgenommen und damit der bewussten Wahrnehmung entzogen wird, also verdrängt werden kann.

Der/Die Psychotiker:in befindet sich im Kampf mit der Realität. Beispielsweise widerfährt ihm/r ein belastendes Lebensereignis wie der Tod einer nahestehenden Person, den er/sie nicht wahrhaben will. Der/Die Psychotiker:in erleidet in diesem Kampf mit der Realität immer eine Niederlage, da man gegen das, was ist, nicht gewinnen kann. Um diese Niederlage zu bewältigen, flüchtet er/sie sich unter anderem in narzisstische Selbstliebe. Die erworbene Fähigkeit des Verdrängens regrediert zurück auf den puren destruktiven Selbsterhaltungstrieb. Wer nicht verdrängen kann, wird seinen Ängsten gänzlich ausgeliefert. Daher muss zur Zerstörung gegriffen werden. Dass das psychotische Individuum nicht mehr in der Lage ist zu verdrängen, ist Ausdruck eines unreifen Ichs. Ein Ich ist nur dann reif, wenn es ihm gelungen ist, im Laufe seiner kindlichen Entwicklung die äußere elterliche Macht als ein effektives Über-Ich zu integrieren. Das Über-Ich hat, wie bereits erwähnt, mehrere Funktionen: Es hilft zum Beispiel bei der Realitätsprüfung, es hilft auch, Handlungsimpulse zu kontrollieren und zwischen äußeren Ansprüchen und inneren Triebkräften zu vermitteln. All das geht sowohl dem/r individuellen Psychotiker:in als auch der Gruppe der Antisemit:innen abhanden. Es findet keine Realitätsprüfung mehr statt, irrationale Anschuldigungen werden übernommen, Handlungsimpulsen, wie dem, Juden/Jüdinnen zu diffamieren, wird ohne Zögern nachgegangen.

Verschlimmert sich die Erkrankung, unterliegt das Über- Ich mehr und mehr dem Es, was wiederum erklärt, warum eine Realitätsprüfung überhaupt nicht mehr stattfinden kann und eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen objektiver Realität und psychischer Wirklichkeit unmöglich wird. Simmel geht davon aus, dass der/die Psychotiker:in in ein Stadium regrediert, in dem es noch kein Über-Ich gab, sondern dieses noch durch die realen Eltern vertreten wurde . Er/sie lagert im Zuge der Regression also sein/ihr Über-Ich wieder aus, und statt sich mit diesem zu identifizieren, wie es der gesunde Lauf der Dinge wäre, greift er/sie zu einer Vorform des Identifizierens und Integrierens, nämlich dem Einverleiben durch aggressives Verschlingen. In der kindlichen Entwicklung sah das so aus, dass man Dinge tatsächlich oral verschlungen hat. Der/Die Erwachsene zerstört, in dem er/sie Waffen und dergleichen nutzt.

Individuum und Krise

Ob ein Individuum psychisch erkrankt, ist von einem komplizierten Wechselspiel bio-/psychosozialer Risiko- und Schutzfaktoren abhängig. Der Antisemitismus als Massenpsychose wird maßgeblich durch rasante negative Veränderungen in der Umwelt ausgelöst. Er trat historisch immer dann auf, wenn die Sicherheit des Individuums und der Gesellschaft durch katastrophale Ereignisse erschüttert wurde. Jüngst konnten wir das während der Coronapandemie beobachten, in der die Gesundheit, der eigene Beruf und familiäre Bindungen plötzlich nicht mehr sicher waren. In Folge dieser Verunsicherung nahm antisemitisches Gedankengut innerhalb der Gesellschaft, auch statistisch gesehen, enorm zu.

Es ist zudem kein Zufall, dass sich die schlimmsten Auswüchse des Antisemitismus zu einer Zeit manifestiert haben, in der sich Deutschland wie das gesamte kapitalistische Weltsystem – in einer imperialistischen Krise sondergleichen befanden.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft zwingt insbesondere Lohnabhängige und Unterdrückte, pseudoangepasst über ihre psychischen Verhältnisse zu leben, sprich eine Vielzahl an Entbehrungen hinzunehmen: das Verlangen nach Liebe, Sicherheit, körperlicher Unversehrtheit, Zuwendung und gesehen Werden wird heutzutage nur noch unzureichend befriedigt in Zeiten, in denen sich das Leben immer mehr in die digitale Welt verlagert, Arbeitstage wieder länger und Arbeitsplätze immer unsicherer werden und wir zunehmend vom Wertgesetz dazu gezwungen werden, unsere Ellenbogen auszufahren und unser Einzelkämpfer:innentum zu leben. Schon Marx spricht vom Phänomen der Entfremdung. Hierbei geht es sowohl um die Entfremdung des Menschen zu sich selbst, zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen und um die Entfremdung des Menschen zu seiner Arbeit, die ihren Zweck, den Kontakt des Menschen zur Realität zu vermitteln und sich selbst zu erhalten, verloren hat. Diese Realitätsvermittlung durch den Prozess der Arbeit schwindet insbesondere im Kapitalismus dadurch, dass das Arbeitsprodukt nicht mehr der arbeitenden Person gehört. Auch die Arbeitstätigkeit gehört ihr nicht mehr selbst, sondern einem/r anderen – dem/r Kapitalist:in. Es wird also nicht mehr für eigene, sondern für äußere fremde Bedürfnisse gearbeitet.

Die fehlende Erfüllung unserer Bedürfnisse ruft in uns destruktive Strebungen hervor. Im Feudalismus war es die Religion, in deren Bereich sich das aufgestaute Aggressionspotential, was eigentlich den Herrschenden galt, verschoben hat. Hier kam es während seines Niedergang zum erneuten Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus. Aber auch die Religion verliert an Bedeutung und es fehlt zunehmend an Möglichkeiten zur Entladung dieser destruktiven Energien, so Simmel. Auf diesen latenten Zustand andauernder psychischer Entbehrung treffen im Kapitalismus wiederkehrende und tendenziell immer katastrophalere Krisen wie Klima-, Gesundheits-, Finanzkrisen, Kriege und vieles mehr. Die Gesellschaft, ohnehin schon geschwächt, verfällt in Panik, da sie die krisenhafte Realität nicht mehr meistern kann. Das wiederum ist Auslöser für die Zuflucht in eine Gruppe mit antisemitischem Gedankengut, die Orgien von Hass und Zerstörung nach sich zieht. Das Aufgehen des Ichs in einer Masse ist immer der einfachste Fluchtweg vor dem Druck der unerträglichen und unbegreiflichen Realität, so Simmel.

Das Problem ist nicht die Aggression an sich – die in Folge der Entbehrungen und im Rahmen der Selbsterhaltung auftritt, denn diese kann ja in eine positive Richtung gelenkt werden, wenn letztlich das rationale Ich die Kontrolle behält. Problematisch seien, wie der Psychoanalytiker Mario Erdheim richtig anmerkt, die unbewussten Quellen der Aggression, die jede Kontrolle durchbrechen, vom Narzissmus geleitet sind und eine Realitätsprüfung nicht mehr zulassen. Hier zeigt sich deutlich die historische Krise der Führung der Arbeiter:innenbewegung sowie die Verbürgerlichung derselben. Gegenbewegungen wie beispielsweise Gewerkschaften, reformistische Arbeiter:innen-, soziale Bewegungen wie die Frauen- oder Umweltbewegung bilden dennoch einen Gegenpol zu den kapitalistischen Zwängen. Dieser ist jedoch sichtlich unzulänglich. All den angesprochenen Bewegungen, sowie der Führung der Arbeiter:innenklasse, gelingt es nicht, den zunehmenden Unmut der Menschen, die eigentlich danach streben, gegen die Herrschenden, die Verursacher:innen ihrer Entbehrungen vorzugehen und den Kapitalismus zu zerschlagen, in rationale und theoriegeleitete Bahnen zu lenken. Stattdessen sucht sich das kollektive Ich ein Ersatzobjekt, was es bestrafen kann. Selbst die Schuldgefühle für diesen Bestrafungswunsch werden dann durch gesteigerte Aggression gegen das Ersatzobjekt gewendet.

Ebenso wie die individuelle Psychose wird also auch der Antisemitismus durch einen Bruch mit der Realität ausgelöst. Das Besondere am Antisemitismus als Massenpsychose ist es, dass der/die einzelne Antisemit:in kein/e Psychotiker:in ist! Seine/ihre Person scheint weiterhin „normal“. Erst dadurch, dass er/sie sich an eine Gruppe Gleichgesinnter anschließt, verliert er/sie gewisse Eigenschaften, die einen gesunden Menschen ausmachen, und trägt so dazu bei, den Massenwahn zu erzeugen. In dem der/die Einzelne Teil der Masse wird, schwindet seine/ihre Verantwortlichkeit, er/sie hört auf, sich seinem/ihren individuellen Über-Ich zu unterwerfen. Er/Sie wird wieder zu einem Kind, was nur vor den eigenen Eltern Angst haben muss. Da der Massenmensch sich aber im Gruppenverband ebenso mächtig fühlt wie die imaginären ausgelagerten Eltern, fürchtet er keine Strafe mehr und kann, anders als der/die einzelne Psychotiker:in, zur Realität zurückkehren. Nun lässt er/sie seinen/ihren Zerstörungstrieben freien Lauf.

Der antisemitische Massenmensch löst seinen Ambivalenzkonflikt (also zwischen Liebe und Hass) gegenüber seinen Eltern auf, welcher darin besteht, dass er einerseits seine Eltern liebt, sie ebenso aber auch hasst, da sie ihm seine Bedürfnisbefriedigung nicht uneingeschränkt gewähren. Die Auflösung dieses Widerspruchs geschieht, indem er die veräußerlichte Elterngewalt, also das ausgelagerte Über-Ich, spaltet in die Führerperson, die er liebt und die jüdische Person, die er hasst. In der Funktion des Über-Ichs kann die Führerperson darüber bestimmen, wann die Gruppe emotionale Triebentladungen entfesselt oder bremst. Diese, historisch beispielsweise Hitler, bindet die Gruppenmitglieder an sich, indem er ihnen ein äußeres Ziel für ihre aufgestauten Aggressionen bietet, nämlich das Jüd:innentum. Den/Die Juden/Jüdin als ausgelagerten Teil des Über-Ichs kann der/die Antisemit:in bestrafen, ohne zugleich Schuld für seine/ihre Hassgefühle in sich aufnehmen zu müssen, denn der geliebte Teil des Über-Ichs, also die Führerperson, wurde ja nicht angegriffen. Hierzu passend ein Zitat von Simmel: „Jedem Massaker an Juden ging eine Hetzkampagne voraus, in der die Juden eben jener Verbrechen bezichtigt wurden, die der Antisemit im Begriff war, zu begehen.“

Für politische Führerpersonen dient der Antisemitismus unter anderem dazu, die Geführten über den eigentlichen Ursprung ihrer Entbehrungen hinwegzutäuschen. Denn der tatsächliche Ursprung des Elends in der Welt und der wiederkehrenden Krisen liegt selbstverständlich nicht im Judentum, sondern ist in den herrschenden Besitz- und Produktionsverhältnissen zu suchen.

Wir haben nun gehört, welche Dynamiken der individuellen sowie der kollektiven Psychose zugrunde liegen. Nun möchten wir auf das Verhältnis dieser beiden Phänomene zueinander näher eingehen. Der individuelle und der kollektive Wahn teilen gewisse Gemeinsamkeiten, es lassen sich aber auch bedeutende Unterschiede hervorheben:

Wie bereits erwähnt, entsteht die individuelle Psychose aus einem komplexen Wechselspiel individueller Sozialisation, welche bestimmte, für alle Gesellschaften mehr oder weniger gültige, Momente inkludiert. So sind beispielsweise in jeder Gesellschaftsform Menschen zuerst Kleinkinder und befinden sich in einem Verhältnis zu den Eltern oder primären Bezugspersonen. Diese vermitteln dem Kind die jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werte einer bestimmten Epoche, die das Individuum als Über-Ich integriert. Je nach Gesellschaftsform verändern sich auch die dem Individuum zugrundeliegenden Bedingungen und somit auch das Über-Ich, das zwar durch die Eltern personifiziert wird, aber notwendigerweise auch immer die normativen Vorstellungen der Gesellschaft verkörpert. Die Gestalt, die das Über-Ich eines Individuums also annimmt, ist eine klassenspezifische Gestalt. Sie kann geschlechtsspezifisch, mehr oder minder rassistisch in Erscheinung treten. Auch die Art und Weise, wie sich die triebhaften Es-Anteile im Menschen darstellen, sind von der jeweiligen Gesellschaft, in der sich das Individuum bewegt, geprägt.

Strukturen der Gesellschaft und Irrationalismus

Die kollektiven Pathologien hingegen entstehen aus den Strukturen der Gesellschaft selbst. Wie treten aber diese Strukturen zutage? Die Menschen sind zwar Schöpfer:innen ihrer Geschichte, aber dies sind sie nicht aus freien Stücken heraus, sondern stets unter vorgefundenen und ihnen nicht bewussten Bedingungen. Die Dynamik und Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung erscheinen den Menschen als Zwangsgesetze der Konkurrenz, als natürlich und unveränderbar. Sie werden in ihrem Wesen nicht erkannt, sondern in verkehrter und ideologischer Form verstanden, wie schon Marx im ersten Band des „Kapitals“ schreibt. Zu diesem verkehrten und ideologisch aufgeladenen Verständnis gehören unter anderem der Warenfetisch und die Lohnform, in welchen die eigentliche Grundstruktur der kapitalistischen Ausbeutung verschwindet. Die tatsächliche Ausbeutung besteht nämlich in unserem gegenwärtigen System darin, dass sich das Kapital durch Lohnarbeit den geschaffenen Mehrwert fremder Arbeit aneignet. Im Kapitalismus wird jedoch die eigentliche Quelle des Mehrwerts und des Profits notwendig verschleiert. Stattdessen scheint die Quelle des Profits in der Zirkulation des Geldes und im Zins zu liegen, in dem Verkauf der Waren über ihrem Wert, in Preistreiberei und Wucher. Dieser Schein wird zudem dadurch genährt, dass Preistreiberei, Spekulation und dergleichen ja tatsächlich existieren und diese durchgängig mehr Opfer als Gewinner:innen kennen. Aber die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums sowie die eigentliche Ursache von Krisen erscheinen nicht an der Oberfläche, dringen nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein.

Es ist aber genau diese oberflächliche Erscheinung, auf die sich gesellschaftlicher Irrationalismus und Verschwörungstheorien stützen. So werden das „jüdische“ Finanzkapital und das „raffende“ Handelskapital vom industriellen, „schaffenden“ Kapital getrennt. Das industrielle Kapital scheint wie das ehrlich verdiente, da mit ihm die Tätigkeit der Produktion assoziiert wird. In Wirklichkeit bilden letztlich industrielles, Handels- und zinstragendes Kapital nur drei Momente des Kapitalkreislaufes, selbst wenn sich diese gegeneinander bis zu einem gewissen Grad verselbstständigen können. In allen Stadien dieses Kreislaufes wird Mehrwert durch die Aneignung fremder Arbeitskraft durch den/die Kapitalist:in abgeschöpft bzw. umverteilt.

An diese Erscheinungsformen, die die bürgerliche Gesellschaft selbst hervorbringt, knüpft der Antisemitismus an. Handels- und zinstragendes Kapital werden zur Quelle von Profit, Ausbeutung und Diebstahl, also illegitimer Aneignung von Reichtum erklärt und seien hiermit der Ursprung aller Krisen. Darüber hinaus werden Handels- und zinstragendes Kapital personifiziert und mit den Juden und Jüd:innen identifiziert. In unserer vorherigen Folge haben wir historisch materialistisch hergeleitet, warum es zwar häufig Juden und Jüd:innen gewesen sind, die während des Hochmittelalters im Bereich des Handels und des Geldverleihs tätig waren. Hieraus wurde jedoch damals schon ein Feindbild konstruiert, welches eine materielle Grundlage hatte, aber auch schon zu diesem Zeitpunkt inhaltlich falsch gewesen ist. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus hat dieses Feindbild seine reale Grundlage gänzlich verloren und ist im modernen Antisemitismus vollständig zur Projektion geworden.

Antisemitismus assoziiert nicht nur fälschlicherweise das Jüd:innentum mit dem „bösen raffenden Kapital“, er tabuisiert zugleich auch die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums. Es wird der/die industrielle, zumal deutsche Kapitalist:in zu einem besonders produktiven „arbeitenden Menschen“ verklärt, obwohl dessen/deren Reichtum ausschließlich aus der Aneignung fremder Arbeit entspringt.

Insbesondere in Krisenzeiten, wie bereits erklärt, entsteht für Kleinbürger:innen, die Mittelschicht, sowie Teile der „Eliten“ ein Bedürfnis nach Pseudoerklärungen für das erfahrene Unglück, welches auch Teile der Arbeiterinnenklasse ergreifen kann. Der Antisemitismus bildet so eine reaktionäre, irrationale und persönliche Einstellung, die zudem Ideologie einer ganzen Bewegung wird, welche bis in Pogrom und Faschismus münden kann.

Wie bekämpfen?

Wir sehen also: individuelles und kollektives psychisches Geschehen sind nicht identisch, verbinden sich aber, wie eben beschrieben, und tun dies auch klassenspezifisch.

Da der gesellschaftliche Irrationalismus auf den Grundstrukturen der Gesellschaft basiert und deren notwendige Erscheinungsform darstellt, erweist sich die bürgerlich-aufklärerische Kritik am Antisemitismus als unzulänglich und wirkungslos. Im Zuge der bürgerlichen und rein moralischen Kritik an Populismus, Antielitismus und Pseudoantikapitalismus des Antisemitismus werden die bürgerlichen Verhältnisse selbst verklärt. Es wird verkannt, dass gerade sie es sind, die die Grundlage dafür bilden, dass Antisemitismus zwangsläufig immer wieder aufflammen muss. So wie dem/r Antisemit:in zum Beispiel der deutsche als der eigentliche Mensch erscheint, so erscheint der bürgerlichen Ideologie das bürgerliche Individuum als das eigentliche. Während die Antisemit:innen das Ende der Entfremdung in der Volksgemeinschaft imaginieren, erklärt die bürgerliche Kritik letztlich die Existenz der Entfremdung für unwahr.

Für den Marxismus hingegen geht es darum, die reale Grundlage für antisemitische Ideologie aufzuheben und das heißt, die Bedingungen zu schaffen, wo der Mensch kein „erniedrigtes, […] geknechtetes, […] verlassenes […] Wesen […]“ mehr sein muss, um es mit den Worten von Marx zu sagen. Das heißt aber notwendig auch die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung, die diese Verhältnisse auch revolutionär überwinden kann. Das Verständnis und die Kritik sowohl reaktionärer wie pseudoradikaler „Lösungen“ bildet einen notwendigen Beitrag zur Herausbildung eine solchen Bewegung.

Auch Leo Trotzki sprach sich für eine psychoanalytische Auseinandersetzung mit den soeben erläuterten Mechanismen aus. Er beschäftigte sich tiefgreifend mit der Massenpsychologie des Faschismus und erkannte, dass es gerade diesem gelinge, dem Wunsch nach Aufstandsbewegungen nachzukommen, die destruktiven Energien aber auf Ersatzobjekte umzulenken. Gleichzeitig gelingt es dem Faschismus sogar, eben diese aggressiven Bestrebungen zur Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu nutzen, was zu den zentralen Zielen des Kapitals gehört. So schreibt Trotzki, dass der italienische Faschismus direkt aus dem von den Reformist:innen verratenen proletarischen Aufstand erwuchs, also die aufständischen Potentiale „erfolgreich umgelenkt“ wurden. Es sind die Erfahrungen von Niederlagen, Drangsal und Demoralisierung, die viele Arbeiter:innen in Folge der Schwäche ihrer Führung besonders empfänglich machen für nationale und antisemitische Optionen im Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen. Eben dieser Klassenkampfbezug fehlt sowohl bei Simmel wie auch bei Adorno. Letzterer geht davon aus, dass die sogenannte Massenkultur, die Vereinzelung und Entfremdung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der warenproduzierenden Gesellschaft ausschließlich die Ursache für narzisstische Regression sind, welche den antisemitischen Komplex nach sich ziehe. Er geht sogar noch weiter und stellt die Überlegung an, dass letztlich alle sozialen Bewegungen im Spätkapitalismus zum Faschismus tendieren, da die Verdinglichung so allumfassend und unüberwindbar sei. Doch wohin führt uns diese Behauptung? Das müsste ja bedeuten, dass jeglicher zivilisatorische Fortschritt zwangsläufig ein Zerstörungsprozess ist und es keine Aussicht auf ein Leben in einer besseren, einer befreiten Gesellschaft geben kann. Aus dieser Perspektive heraus kann eigentlich nur noch vor dieser Aufgabe kapituliert werden. Es ist sehr wohl richtig, dass Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt bisheriger menschlicher Zivilisationen im engeren Sinne (also mit Beginn der geschriebenen Geschichte) ist, da diese stets in Klassengesellschaften lebten. Es ist nicht die menschliche Gesellschaft als solche, die den Antisemitismus hervorbringt. Es sind die Klassenwidersprüche, die die Grundlage für juden-/jüdinnenfeindliche Überzeugungen bilden. Adorno und Simmel blenden jedoch die historische Aufgabe der Arbeiter:innenklasse in ihren Theorien aus. Die These vom Totalitarismus der Verdinglichung nach Adorno zieht in der Praxis verheerende Folgen für viele Linke nach sich, welche die faschistische Gefahr dauerhaft und überall vermuten und somit einen tatsächlichen Rechtsruck, wie er sich seit der Krise 2008/09 vollzieht, verkennen.

Gewiss macht die zunehmende Verdinglichung im Kapitalismus einzelne Individuen besonders empfänglich für rassistischen, nationalistischen oder antisemitischen Hass. Der Auffassung Adornos ist aber unbedingt entgegenzusetzen, dass es das Proletariat selbst ist, welches durch seine Rolle im Produktionsprozess die Möglichkeit besitzt, durch solidarische Selbstorganisation und Herausbildung der Kontrolle über seine Arbeitsprozesse eben gerade diese Verdinglichung zu durchschauen und progressive Alternativen sozialen Zusammenlebens und -arbeitens emotional erfahrbar zu machen. Es sind demnach sehr wohl Massenbewegungen möglich, welche selbstbewusste und kritische Subjekte in einem demokratischen Prozess vereinen. Und nur so kann auch die Arbeiter:innenklasse als Ganze ihre historische Rolle spielen, indem sie das Ausbeutungsverhältnis, aus dem eben die oben genannte Verdinglichung entsteht, überwindet.

Wir hoffen, Euch die psychologische Dimension des Antisemitismus ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn Ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. In unserer kommenden Folge soll es darum gehen, welches Vorgehen gegen das Phänomen des Antisemitismus von einem Standpunkt der Arbeiter:innenklasse ein wirklich wirksames ist und welche Schlussfolgerungen die Unterdrückung eher noch manifestieren.




Wurzeln des Antisemitismus

Teil 1 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 4, Podcasts der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Katjuscha und Lina und der Frage: Wie vollzog sich die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus (aus einer historisch materialistischen Perspektive)?

In der heutigen Folge gehen wir den historischen Wurzeln des Antisemitismus auf die Spur und beschreiben die Veränderung vom mittelalterlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus anhand gesellschaftlicher sowie ökonomischer Entwicklungen. In einer weiteren Folge versuchen wir, uns der Massenpsychologie des Antisemitismus zu nähern und gehen auf Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft ein. Wie sich der Antisemitismus heute zeigt und welche Ansätze zum Kampf gegen ihn derzeit existieren und für welche Positionen wir als Gruppe Arbeiter:innenmacht eintreten, wird Gegenstand der letzten Folge unserer Reihe zu Antisemitismus werden.

Unsere Auseinandersetzung mit dem Thema ist sicherlich nicht erschöpfend, aber bietet Ansatzpunkte, um Antisemitismus im Kern verstehen und Ansätze zum Kampf gegen ihn entwickeln zu können.

Aber beginnen wir zunächst mit dem Anfang. Die jüdische Geschichte, deren Ursprung zu großen Teilen hinter Mythen verborgen liegt, ist schon seit vielen Jahrhunderten eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Umsiedlung. In der Antike werden Juden/Jüdinnen durch die römische Eroberung aus Judäa vertrieben. Im europäischen Mittelalter hetzen Kleriker gegen Juden/Jüdinnen und wütende Mobs verfolgen diese. Mit Beginn des Kapitalismus bahnt sich eine vernichtende Form der Verfolgung an, die in die bisher historisch singuläre Katastrophe mündet: dem millionenfachen industriellen Massenmord an Juden/Jüdinnen durch Nazideutschland.

Es ist eine Geschichte von Leid, Schrecken und Grausamkeiten. Dennoch wandeln sich die Formen der Verfolgung, stets eingebettet in die jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte. Um die Entwicklung von Antisemitismus verstehen zu können, ist es relevant, die Entwicklung der menschlichen Zivilisation von damals bis heute als eine von Klassenkämpfen zu begreifen und die ökonomische Funktion von Juden und Jüdinnen in den verschiedenen Formen der Klassengesellschaft zu analysieren. Wir wollen also eine historisch-materialistische Analyse der jüdischen Geschichte vornehmen.

Viele Ansätze tun dies nicht. Sie beschreiben jüdische Geschichte aus einer idealistischen Betrachtungsweise heraus. Idealismus begreift die Idee als Ursprung für die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Materialismus, der den Ursprung der Wirklichkeit in der Materie sieht. Also in dem, was den Menschen umgibt und dadurch dessen Bewusstsein formt. Damit sind die gesellschaftlichen Gegebenheiten und Produktionsverhältnisse gemeint, die das vorherrschende Bewusstsein prägen.

Natürlich gibt es eine beidseitige Wechselwirkung zwischen Ideologie und Materie. Der dialektische Materialismus begreift aber letztere als das Grundlegende.

Das ist jetzt etwas abstrakt, wird aber anschaulich bei der Untersuchung der Frage, wie das Judentum trotz der vielen Widerstände, Vertreibungen und Zerstreuung über so viele Jahrhunderte erhalten bleiben konnte.

Eine gängige Antwort auf diese Frage liefern Erzählungen über die Diaspora. Diese besagen, dass der Ursprung allen Unheils, das über das Juden und Jüdinnentum gekommen ist, in der Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Judäa durch die Römer:innen ab dem 1. Jh. unserer Zeitrechnung, läge.

Tatsächlich konnte sich Judäa, eine Region auf dem Gebiet des heutigen Israels und Palästinas, damals als eigenes Königreich behaupten und existierte über fast einhundert Jahre als jüdisches Reich mit gewisser Unabhängigkeit. Dieses fand ein jähes Ende durch die Annexion als römische Provinz. Es kam zum sogenannten jüdischen Krieg, in dessen Zuge Jerusalem erobert und der Tempel zerstört wurde. Die Unterwerfung unter das römische Reich und die Verwaltung durch einen Statthalter führte zu religiöser Unterdrückung, Aufständen und verstärkter Auswanderung.

Der Mythos der Diaspora lautet: Judäa unterschied sich vor der Zerstörung Jerusalems durch das römische Reich nicht von anderen „Nationen“ (z. B. der römischen oder griechischen). Durch die Kriege zwischen Römer:innen und Juden/Jüdinnen wurden die Juden/Jüdinnen aus ihrer ursprünglichen Heimat (Israel/Palästina) vertrieben und in alle Himmelsrichtungen zersprengt. Juden/Jüdinnen mussten fortan in der Diaspora von Ort zu Ort wandern – zusammengehalten durch das starke Band ihrer religiösen Gemeinschaft und mit der ewigen Hoffnung, in die ursprüngliche Heimat zurückzukehren.

In dieser Beschreibung wird also die „nationale Idee“ und die „Kraft des eigenen Willens“ als Erklärung für den Erhalt des Judentums herangezogen.

Im Gegensatz zu dieser idealistischen Erklärung würden wir die Wirkrichtung in umgekehrter Richtung analysieren und sagen, dass das starke religiöse Band und die kulturelle Verbundenheit der zerstreuten Juden/Jüdinnen aus einer materiellen Notwendigkeit heraus entstand. Also deren Folge ist und nicht deren Ursprung. Aber dazu später mehr.

Hier ist noch anzumerken, dass wir, wenn wir von Nation sprechen, nicht die Nation im heutigen Sinne meinen. Weder Römer:innen, Griech:innen noch Juden/Jüdinnen waren in der Antike eine Nation im modernen Sinne. Diese entstand erst später im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.

Zunächst mal zur Frage, warum es überhaupt zur Diaspora kommt, was übersetzt nicht nur Vertreibung, sondern auch Zerstreuung bedeutet. Die Übersetzung aus dem Griechischen zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht nur um eine erzwungene Vertreibung, sondern auch um eine Auswanderung aus anderen Gründen handeln kann.

Dazu wollen wir uns vorerst genauer die jüdische Geschichte in der Antike ansehen. Es ist sicherlich richtig, dass die Zerstörung des jüdischen Zentrums durch das römische Reich zur verstärkten Auswanderung führte, wobei die Vertreibung vor allem die herrschenden Klassen betraf. Jüdische Bauern/Bäuerinnen wurden demgegenüber unter römischer Herrschaft oftmals zur Assimilierung gezwungen.

Historische Quellen belegen aber vor allem, dass auch schon vor der Niederlage in den jüdischen Kriegen ein Großteil der Juden und Jüdinnen in der Diaspora, verteilt um das Mittelmeer, lebte. Warum? Das historische Judäa liegt in der Region um Jerusalem, besteht hauptsächlich aus Wüste, die sich zwischen Jerusalem und dem Toten Meer erstreckt, und dem Jerusalem umgebenden Bergland. Da das Bergland, was den Juden und Jüdinnen zur Verfügung stand, nicht besonders fruchtbar war, reichte es schlicht nicht aus, um dem Volk die Lebensgrundlage zu sichern. Es ist also anzunehmen, dass Juden/Jüdinnen schon weit vorher darauf angewiesen waren, ihre Existenz anderweitig zu bestreiten.

Ebenso liegt das damalige Judäa im Einflussgebiet zweier zentraler Fernhandelsrouten, die ihren Ursprung lange vor unserer Zeitrechnung haben. Der via maris, welcher vom Nildelta über die israelische Küstenebene nach Damaskus führt, und der Weihrauch- und Königsstraße, welche südlich der Arabischen Halbinsel beginnt und sich durch Jordanien nach Damaskus zieht. Es ist also naheliegend, dass Juden/Jüdinnen seit jeher im Handel tätig waren, um ihre Existenz zu sichern. Sie lebten vom Fernhandel, wo hauptsächlich Luxusgüter wie Metall, Glas, Olivenholz und Edelsteine gehandelt wurden, und vom Regionalhandel, wo es vor allem um Waren des alltäglichen Gebrauchs wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Gewürze, Kleidung ging.

Eine gewisse Zerstreuung der Juden und Jüdinnen ging automatisch mit ihrer Tätigkeit im Fernhandel einher, da Güter, die an einem Ort gekauft wurden, an einen anderen Ort transportiert werden mussten, um sie dort weiter zu verkaufen. Juden/Jüdinnen breiteten sich entlang der Handelswege aus und ließen sich in zahllosen Städten in Europa und Asien nieder. Die Handelsrouten und die Einbindung von Juden/Jüdinnen in den Handel bestanden schon mehr als tausend Jahre vor der römischen Annexion. Der ursprüngliche Grund für die Auswanderung der Juden und Jüdinnen muss zunächst also in den geographischen Gegebenheiten Palästinas gesucht werden.

Die Frage, wie das Juden und Jüdinnentum trotz der großen räumlichen Verteilung über so lange Zeit erhalten bleiben konnte, wurde damit aber noch nicht beantwortet. Dafür muss man genauer untersuchen, wie Fernhandel in der vorkapitalistischen Gesellschaft funktionierte. Im Gegensatz zur heutigen vernetzten und globalisierten Welt war es damals äußerst schwierig, Handel über so weite Distanzen zu organisieren.

Es benötigte spezialisierte Schichten der Bevölkerung, die über Sprachkenntnisse und Wissen über Handelswege verfügten und Beziehungen in andere Städte hatten. Diese Funktion nahmen unter anderem Juden/Jüdinnen ein. Für das Aufblühen der Handelstätigkeit war es förderlich, dass Juden/Jüdinnen über dieselbe Sprache und eine einheitliche Schrift verfügten, um Wissen und Erfahrungen weitergeben zu können. Es ergab also Sinn, dass die ökonomische Funktion des Handels durch eine Bevölkerungsgruppe aus einem Kulturkreis ausgefüllt wurde. Abraham Léon, ein jüdischer Trotzkist, der in Auschwitz ermordet wurde, beschreibt in seinem Buch „Die jüdische Frage“ von 1942, dass hier eine Gesellschaftsschicht von einer Bevölkerungsgruppe gebildet wurde – was nichts Ungewöhnliches für vorkapitalistische Gesellschaften ist.

Léon stellt dar, dass sich in der Diaspora große Teile der jüdischen Bevölkerung aber auch völlig in die vorgefundene Kultur integriert haben. In Nordafrika beispielsweise seien viele Juden und Jüdinnen in der Landwirtschaft tätig gewesen, was zur vollständigen Eingliederung in die dort bestehende Gesellschaft geführt habe. Trotz der zunächst vorhandenen religiösen Unterschiede sei es unter anderem durch Heirat über mehrere Generationen hinweg zu einer kulturellen Anpassung gekommen. Juden und Jüdinnen haben hier aufgehört, eine eigenständige Schicht zu bilden und sind – wie auch die übrige Bevölkerung dort – Bäuer:innen geworden. Ein isoliertes gesellschaftliches Leben sei hauptsächlich in den Städten, in welchen Juden und Jüdinnen mit Handel beschäftigt waren, bestehen geblieben.

Das Weitertragen der jüdischen Kultur und Religion hat also eine bestimmte ökonomische Funktion.

Generell kann man sagen, dass die Handelstätigkeiten in der Antike bis hin ins Mittelalter für viele Juden/Jüdinnen relativen Reichtum brachten.

Trotz Vertreibungen gab es relativ stabile Lebensbedingungen, sodass die jüdische Kultur aufblühen konnte. In unterschiedlichsten Räumen der Welt entwickelten sich verschiedene Ausprägungen jüdischer Religion und Identität. In Europa lebten die Aschkenasim, auf der Iberischen Halbinsel die Sephardim, im arabischen Raum die Mizrachim. Nur eine Minderheit lebte in Palästina und niemand hat im Traum daran gedacht, dorthin zurückzukehren.

Es war aber auch nicht alles rosarot. Die Wurzeln von Judenhass reichen bis in die Antike zurück. Hier keimte Hass auf, der sich später mit Durchsetzung des Christentums zum mittelalterlichen Antijuadismus entwickelte.

Um diese Entwicklung nachzuvollziehen, wollen wir uns die vorherrschenden gesellschaftlichen Gegebenheiten im Feudalismus des mittelalterlichen Europas genauer anschauen. Ein Großteil der damaligen Bevölkerung lebte von den Erzeugnissen der Landwirtschaft. Die Bauern/Bäuerinnen produzierten alles, was zum Leben nötig war, selbst. Sie verbrauchten den Großteil ihrer Erzeugung, der Rest wurde getauscht. Getreide wird gegen Leinen getauscht, Hosen gegen Stühle und Schuhe gegen Messer. Es gab natürlich schon Geld in Form von Münzen, das zur Erleichterung des Tausches eingesetzt wurde. Es war jedoch wesentlich auf seine Funktion als Tauschmittel reduziert. Abgaben, die die Bauern/Bäuerinnen an die Grundherren abtreten mussten – das so genannte Lehen – wurden zunächst in Natural-, später in Geldform getätigt. Geld spielte aber noch eine untergeordnete Rolle. Generell war es ein mehr oder weniger abgeschlossener Wirtschaftskreislauf, der wenig Fragen aufwarf. Man kennt den Schuster von nebenan und weiß, wo das Getreide gemahlen wird.

Der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ist zunächst auf ihre verbreitete Funktion als Händler:innen zurückzuführen. Die ersten Kaufleute, die unbekannte Waren aus fernen Regionen brachten, wurden immer als Fremde wahrgenommen. Generell stieß jegliche wirtschaftliche Aktivität, die nicht direkt mit Landwirtschaft und der Verarbeitung ihrer Erzeugnisse zu tun hatte, auf Ablehnung. Es war schwierig, diese zu begreifen. Wie können Kaufleute, ohne eigene Produkte herzustellen, ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wie ist es möglich, dass sie ohne schwere körperliche Arbeit gewissen Reichtum erwirtschaften können? Woher kommt das Geld? Und warum verarmen Menschen, die in Kontakt mit Geldwirtschaft kommen?

Durch ihre Tätigkeit als Händler:innen wird auf Juden und Jüdinnen schon damals eine Verkörperung des fremden und unheimlichen Geldes projiziert.

Im Verlauf des europäischen Mittelalters veränderte sich die ökonomisch vorteilhafte Situation für Juden und Jüdinnen und mit ihr nimmt die Gewalt gegen sie zu.

Es kommt, vor allem in Westeuropa, zu einer Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Wir sind gerade im 11. Jh. unserer Zeitrechnung und die Landwirtschaft ist nach wie vor der dominanter Wirtschaftszweig. Es kommt zu Innovationen (wie z. B. der Ausbreitung der Dreifelderwirtschaft), die den Ertrag erheblich steigern konnten. Auch in anderen Wirtschaftsbereichen kam es zu Produktivitätssteigerungen wie zum Beispiel im Textilhandwerk durch Verbreitung des Trittwebstuhls. Die günstigen Bedingungen führten zu einem breiten Bevölkerungswachstum. Bauernsiedlungen werden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, die Städte zu Handelszentren, in denen die Produkte getauscht werden.

Für Juden und Jüdinnen, die bis dahin ihre Existenz zu großem Teil durch Handelstätigkeit bestritten, bedeutete diese Entwicklung nichts Gutes. Bis dahin hatten sie eine gewisse Sonderrolle mit großer Bedeutung inne. Teilweise waren sie die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien. Das Entstehen einer städtischen Industrie und das Aufkommen einer einheimischen Handelsklasse führten zu einer verstärkten Konkurrenzsituation. Juden und Jüdinnen wurden aus dem Handel gedrängt und entwickelten sich zunehmend zu einer Randschicht.

Mit dem expandierenden Binnenhandel nahm auch die Bedeutung der Geldwirtschaft stetig zu. Es wurde vermehrt Geld eingesetzt, um den Handel zu organisieren. Zunehmend nicht mehr nur im Fern-, sondern auch im Regionalhandel. Da es Juden und Jüdinnen häufig nicht mehr möglich war, durch Handelstätigkeiten ihre Existenz zu sichern, blieb ihnen die Nische des Geldverleihs. Dieser wurde statt spezialisiertem Handwerk und Handel zur Haupteinnahmequelle.

Dass Geldverleiher:innen, die notgedrungen auch Schuldeneintreiber:innen sind, nicht die beliebtesten Teile der Bevölkerung darstellen, ist naheliegend. Mit dem Verbot seitens der Kirche, das Christ:innen den Geldverleih untersagte – das sogenannte Zinsverbot v. a. aus dem Alten Testament – besaßen Juden und Jüdinnen das Monopol für Kreditgeschäfte und wurden zu gesuchten und gehassten Geldverleiher:innen.

Im Unterschied zum Kapitalismus, wo Kredite bestimmend als Investition in gewinnbringende Produktion gesteckt werden, wurden sie im Feudalismus hauptsächlich zwecks Konsums vergeben. Sie wurden also nicht benutzt, um aus Geld noch mehr Geld zu machen, sondern ausgegeben für Kriegstätigkeiten, Prestigebauten und anderweitigen Konsum der Herrschenden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kredite nicht zurückbezahlt werden konnten, war dabei relativ hoch. Um sich abzusichern, mussten hohe Zinsen verlangt werden, was von den Schuldner:innen als „Wucherzinsen“ wahrgenommen wurde.

In dieser Zeit entstanden Stereotype von „gierigen Juden/Jüdinnen“. Es entwickelte sich das Zunftwesen, das Nicht-Christ:innen von handwerklichen Berufen ausschloss. Für Juden/Jüdinnen blieben nur noch sehr spezifische Handwerkstätigkeiten und der Geldverleih als Einnahmequelle. Ihnen wurde verboten, Waffen zu tragen und bestimmte Ämter auszuführen. Jüdisches Kapital geriet vermehrt in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft. Es folgte eine Periode grausamster Verfolgungen und blutiger Aufstände.

Die Hetze gegen Juden/Jüdinnen wurde häufig von den Feudalherr:innen selbst initiiert, da diese die Hauptabnehmer:innen der Kredite waren. Adelige und Kleriker waren von Schulden geplagt und teilweise nicht mehr zahlungsfähig. Daher kam ihnen die Vertreibung teilweise sogar gelegen. Von der Kirche wurde die Hetze gegenüber Juden/Jüdinnen legitimiert. Sie wurden als „Mörder:innen Christi“ bezeichnet und als Verräter:innen und Verdammte verleumdet. Mit Beginn der Kreuzzüge kam es in Mitteleuropa auch zu den ersten großen Pogromen, die sich dann in schlimmer Regelmäßigkeit wiederholten. Beim Kreuzzugwahn wurden auch Juden/Jüdinnen zum Teil der Feindeswelt. Mythen über Brunnenvergiftungen, „teuflische“ Rituale und Kinderopfer wurden ausgeschmückt und verbreitet.

Gleichzeitig bestand eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Herrschenden und Juden/Jüdinnen. Die Zentralgewalten benötigten die Kredite zur Finanzierung ihrer Herrschaft. Daher wurden Erklärungen erlassen, die Juden und Jüdinnen unter besonderen Schutz stellten. Solche Schutzprivilegien wurden beispielsweise von den Königen Englands, Frankreichs und vom deutschen Kaiser erlassen. Sie drohten hohe Strafen für Gewalt gegen Juden und Jüdinnen an. Auf der anderen Seite durften sich Juden/Jüdinnen nicht selbst verteidigen und mussten für den Schutz hohe Steuern zahlen.

Die Hetze gegenüber Juden und Jüdinnen wird teilweise von den Herrschenden entfacht und Pogrome werden entfesselt. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkeit bieten diese zeitweise aber auch Schutz. Der mittelalterliche Antijudaismus geht also nicht bis hin zur Forderung der Vernichtung von Juden/Jüdinnen und ist geprägt von religiösen Argumentationen.

Mit dem Aufstreben des Kapitalismus ändert sich die gesamte gesellschaftliche Situation und damit die gesellschaftliche Stellung von Juden und Jüdinnen. Der Hass gegen sie entwickelt eine neue Qualität – den modernen Antisemitismus.

Der bisher vorherrschende christliche Antijudaismus, der auf kulturell-religiöser Tradition aufbaut, ist nicht gleichzusetzen mit dieser neuen Form, die sich mit dem Kapitalismus entwickelt. Das verbindende Element der beiden Formen des Antijudaismus bzw. Antisemitismus besteht darin, dass beide als Ersatzaufstände gegen die jeweils bestehende Herrschaftsform begriffen werden können. Der Wunsch der Unterdrückten, gegen die Unterdrückung aufzubegehren, wird nicht gegen die Herrschenden gerichtet, sondern auf Juden und Jüdinnen projiziert. Das trennende Moment liegt in der Art der Projektion. Im christlichen Antijudaismus wird auf Juden/Jüdinnen die Verkörperung des Teufels projiziert. Sie werden als etwas Teuflisches, in diesem Sinne Antichristliches, dargestellt. Im modernen Antisemitismus werden die schädlichen Seiten des Kapitalismus auf Juden und Jüdinnen projiziert. Sie werden mit dem „raffenden Kapital“ assoziiert. Aber dazu später mehr.

Über die Ersatzaufstände werden wir in Bezug auf Mario Erdheim und die sogenannten Freudomarxist:innen auch im zweiten Teil unserer Podcastreihe noch genauer eingehen.

Zurück zu den gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn des Kapitalismus. Mit der Industrialisierung in Europa beginnt auch ein grundlegender Wandel der bestehenden Klassengesellschaft. Feudale Strukturen sterben ab und neue Klassen entwickeln sich: die Kapitalist:innenklasse und das Proletariat.

Kleine Handwerker:innen werden durch die industrielle Produktion verdrängt. Sie können mit der Konkurrenz durch die Massenfertigung nicht mithalten. Bauern und Bäuerinnen werden von ihrem Land vertrieben und ihres Eigentums beraubt, das zunehmend zentralisiert wird. Diese Entwicklung wird als Bestandteil der ursprünglichen Akkumulation bezeichnet.

Die Bevölkerung wird ihrer Mittel zum Lebensunterhalt beraubt. Menschen verlieren ihre Produktionsmittel. Sie werden von ihrer Subsistenzwirtschaft losgerissen und müssen als freie Proletarier:innen ihre Arbeitskraft in den Fabriken verkaufen, um ihr Überleben zu sichern. Es kommt zu einer Migrationsbewegung vom Land in die Städte, aber auch zur Auswanderung. Die allgemeine Auswanderungsbewegung verbindet sich mit der jüdischen. Denn auch für Juden/Jüdinnen hat die Auflösung feudaler Strukturen weitreichende Folgen. Diese waren – wie wir vorher gehört haben – bisher hauptsächlich im Handel, Kreditwesen oder im spezialisierten Handwerk tätig.

Die zunehmende Bedeutung von Fernhandel und die Entwicklung der europäischen Hafenstädte zu zentralen Umschlagplätzen führt zur Entstehung einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Auch erfordert die neue kapitalistische Produktionsweise andere Formen der Finanzierung. In Italien entsteht im 13. Jahrhundert das Bankenwesen, das sich nach ganz Europa ausweitet. Auch im deutschsprachigen Raum tritt mit den Fuggern eine mächtige Bankiersfamilie auf.

Diese Entwicklung stellt eine Bedrohung der Lebensgrundlage und eine zunehmende Konkurrenz für jüdische Kaufleute und Geldverleiher:innen dar. Ihre besondere Rolle in der Gesellschaft beginnt sich zunehmend aufzulösen. Sie integrieren sich in die sich entwickelnden Klassen. Einige Juden und Jüdinnen, die es geschafft haben, eigenen Reichtum anzuhäufen, schaffen es – durch den Erwerb von Produktionsmitteln –, in der Kapitalist:innenklasse aufzugehen. Sie bleiben Kaufleute oder werden zu Industriellen in den großen Industrie- und Handelszentren. Juden und Jüdinnen, die in Folge dieser Entwicklung ihre Lebensgrundlage verlieren oder auch schon vorher verarmt waren, sind gezwungen, gegen Lohn in den Fabriken zu arbeiten. Sie werden Teil der Arbeiter:innenklasse und schuften vor allem in der Konsumgüterindustrie.

Diese Entwicklung läuft keineswegs einheitlich in Europa ab. Während in Westeuropa die Industrialisierung schnell voranschreitet und sich Juden und Jüdinnen in die neue Klassenstruktur einfügen, läuft in Osteuropa die Entwicklung des Kapitalismus stockend. Juden und Jüdinnen finden keinen neuen Platz und verarmen. Gab es zunächst noch eine Migrationsbewegung Richtung Osten, da hier noch länger feudale Strukturen herrschten, führt der wachsende Antisemitismus zu einer Vertreibung der Juden/Jüdinnen aus Osteuropa. Viele wandern nach Westeuropa oder in die noch junge USA aus.

Der aus dem Mittelalter kommende Antijudaismus verbindet sich mit der Krise des Feudalsystems. Der Übergang zum Kapitalismus bringt Hunger, Verarmung und Elend mit sich. Juden/Jüdinnen werden verstärkt zu Sündenböcken für die Krisen der Zeit. Es werden Ursachen für das allgemeine Elend gesucht und in stereotypen Zuschreibungen zu Juden und Jüdinnen gefunden. Diese seien „gierig“ und „beuten das Volk aus“. Es kommt zu schlimmen Pogromen und Verfolgungen. Juden und Jüdinnen werden gezwungen, in Ghettos zu leben und charakteristische Kleidung zu tragen.

Doch woher kommt der neue Antisemitismus? Und worin besteht die neue Qualität des Hasses gegen Juden und Jüdinnen?

Im Vergleich zum Feudalismus ist das Ausbeutungsverhältnis im Kapitalismus sehr viel schwieriger zu verstehen. Die mittelalterliche Gesellschaft beruht hauptsächlich auf der Ausbeutung der Bäuer:innen sowie der Abgaben an den Feudalherren. Bäuer:innen bewirtschaften das Land. Das daraus hervorgebrachte Produkt dient zum einen Teil der eigenen Reproduktion. Es wird hauptsächlich selbst konsumiert und ein kleiner Teil gegen andere Dinge (wie Kleidung etc.) getauscht. Ein anderer Teil muss als Grundrente – zunächst als Teil des hergestellten Produkts, später in Form von Geld – an den/die Grundherr:in abgegeben werden.

Dieses Verhältnis wird religiös verschleiert und somit politisch legitimiert. Die feudale Ordnung erscheint als natürlich und göttlich. Der Mensch ist von Natur aus ungleich. Ungleichheit erscheint daher auch als natürlich und gerecht. Trotz dieser religiösen Legitimierung ist das feudale Ausbeutungsverhältnis leichter zu begreifen als das kapitalistische. Einer besitzt Land, der andere muss Abgaben leisten, um dieses bewirtschaften zu dürfen und den Schutz des Lehnsherren zu genießen.

Im Kapitalismus ist alles etwas komplizierter, denn hier ist die Verschleierung des Ausbeutungsverhältnisses eine spezielle. Menschen verschiedener Klassen erscheinen zunächst frei und gleichberechtigt. Arbeiter:innen verkaufen scheinbar freiwillig ihre Arbeitskraft gegen einen scheinbar „gerechten Lohn“. Es besteht aber dennoch ein Ausbeutungsverhältnis. Arbeiter:innen werden nicht durch Androhung körperlicher Gewalt zur Arbeit gezwungen wie beispielsweise bei Sklav:innen. Doch sehr wohl aus ihrer ökonomischen Not heraus. Um zu überleben, müssen sie für Kapitalist:innen schuften, die sich dann einen Teil des erschaffenen Wertes aneignen. Die Arbeiter:innen selbst bekommen nur das, was sie zur Reproduktion Ihrer Arbeitskraft brauchen.

Diese gesellschaftlich-ökonomischen Prozesse werden in der Breite nicht analysiert und das gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis nicht erkannt. Es wird systematisch verschleiert und erscheint daher auch nicht als Ausbeutung. Das erfahrene Leid wird nicht ursächlich begriffen, bleibt aber bestehen und sucht sich Ventile.

Alle Übel der Welt werden am Geld festgemacht, also rein auf der Zirkulationssphäre begriffen und auf die Zuschreibung von Schuld heruntergebrochen. Antisemitische Propaganda kann leicht an den Alltagserfahrungen der Menschen ansetzen und findet in der Assoziation von Juden/Jüdinnen und Geldwirtschaft eine willkommene Verknüpfung.

Die Unterteilung in Gut und Böse ist ein Instrument, um komplexe und schwer begreifliche Gegebenheiten zu vereinfachen und herunterzubrechen. Dieses Mechanismus’ bedient sich auch der moderne Antisemitismus. Er gibt eine Orientierung in unveränderlich gut („das gute deutsche schaffende Kapital“) und in unveränderlich schlecht („das böse jüdische raffende Kapital“) vor. Der Kapitalismus wird also nicht als Krisen produzierendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Klassen verstanden, sondern als grundsätzlich funktionierendes System. Wären da nicht die „gierigen jüdischen Bänker:innen“. Juden und Jüdinnen werden als gierig, hinterlistig und feige dargestellt. Im Vergleich zu den „guten Deutschen“, die loyal, stark und heimattreu seien.

Statt sich gegen das System, also gegen die Kapitalist:innenklasse, zu richten, wendet der moderne Antisemitismus die Wut und Verzweiflung über das erfahrene Leid gegen Juden und Jüdinnen. In ihnen findet das Böse die Personifizierung. Juden und Jüdinnen werden mit dem Teufel assoziiert, dessen Maske man jetzt zu kennen scheint. Ängste und der Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung werden durch antisemitische Stereotype auf Juden und Jüdinnen projiziert, statt sich gegen das System zu richten. Was die Möglichkeit, tatsächlich Veränderung zu erreichen, vereitelt.

Besonders anfällig für solche Erklärungsansätze sind Teile der Gesellschaft, die vom Kapitalismus profitieren, aber von Krisen und großen Monopolkonzernen bedroht werden. Also vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Handwerker:innen. Sie haben Ängste, abzusteigen und ihre ökonomischen Grundlagen zu verlieren.

Doch auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse kann Antisemitismus Fuß fassen, wenn die Wut gegen die Unterdrückung sich nicht mehr gegen die herrschende Klasse richten kann. Besonders die regelmäßig wiederkehrenden Krisenzeiten des Kapitalismus und die Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, bieten daher einen besonderen Nährboden für Antisemitismus.

Zugleich kann der moderne Antisemitismus nicht ohne die Entstehung von Nationen und Nationalstaaten verstanden werden, als Ausdruck kapitalistischer Herrschaft. Dafür ein kurzer Definitionsversuch. Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Dieser Begriff der Nation ist nicht deckungsgleich mit jenem der Auslegung der Tora. Hier resultierten das gemeinsame Selbstbewusstsein und die nationale Idee aus dem Glauben. Deutlich wird diese Auffassung durch die Bezeichnung der Juden und Jüdinnen als das Volk Gottes.

Die jüdische nationale Auffassung stand mit der Herausbildung von Nationalstaaten im Widerspruch.

Begriffe wie die des doppelten Nationalismus, wie sie im liberalen Judentum des 18. und 19. Jahrhunderts prägend waren, beispielsweise bei Moses Mendelssohn, waren nicht vereinbar mit dem bürgerlichen Nationalbegriff. Juden und Jüdinnen – mit der Idee der jüdischen Nation – stellten also die Herausbildung der Nationalstaaten in Frage. Nationalismus als dominante Ideologie bürgerlicher Herrschaft hat einen vereinnahmenden Anspruch und duldet kein Nebeneinander. Eine Gleichzeitigkeit von jüdischer Nationalidee und Zugehörigkeit zur bürgerlichen Nation war also nicht möglich.

Hieraus resultierten die Projektionen von Juden und Jüdinnen als „Fremdkörper“ in der Nation. Juden und Jüdinnen wurden als „parasitäres“ Volk im sonst gesunden deutschen Volkskörper verleumdet. Die Verschwörungstheorie der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, die die angeblichen Pläne der jüdischen Weltverschwörung formulierten, sind Ausdruck einer solchen Stellung von Juden und Jüdinnen. Einerseits im Territorium ansässig, andererseits Fremde. Antisemitismus wird hier von bürgerlichen Kräften bewusst für die eigenen Ziele eingesetzt.

Wir werden an dieser Stelle noch nicht tiefer darauf eingehen, aber bereits in der frühen sozialistischen Bewegung gab es hier einen Richtungsstreit, wie der moderne Antisemitismus zu bekämpfen sei. Eine Perspektive formulierte der jüdische Frühsozialist Moses Hess, der die Notwendigkeit der politischen Emanzipation benannte, also die Gründung eines jüdischen Staates. Die andere stammte von Karl Marx, der die Bedingungen des Endes des Antisemitismus in der sozialen Emanzipation erkannte, also in der Beseitigung des Nationalstaats mitsamt der Klassengesellschaft. Und somit auch der Basis für die falschen Projektionen. Genauer werden wir darauf in der 3. Folge dieser Podcast-Reihe eingehen.

Zu einem schrecklichen Höhepunkt des modernen Antisemitismus kam es in Europa in den 1930er Jahren, als eine massive Krise des Kapitalismus wütete und Arbeitslosigkeit und Inflation den Menschen Hunger und Armut brachten. Die Arbeiter:innenbewegung konnte die Revolution aber nicht bis zum Sturz des Kapitalismus weitertragen, den Nationalstaat samt Klassenstruktur nicht beseitigen. Mit ihrem Niedergang war auch die Möglichkeit, sich zielführend gegen die Bedrohung des Kapitalismus zu wehren, verloren.

Die reaktionäre faschistische Bewegung konnte an den real werdenden Abstiegsängsten ansetzen und baute auf der sich von der Arbeiter:innenklasse abwendenden Klasse des Kleinbürger:innentums auf, um ihre Macht auszubauen. Antisemitismus wird hier bewusst eingesetzt und hat die Funktion, verschiedene Klassen ideologisch in einer Rasse aufgehen zu lassen und die „deutsche Volksgemeinschaft“ zu konstruieren, die sich gegen „innere und äußere Feinde“ verteidigen müsse. Hier sind wir also schon bei der Verschwörungstheorie par excellence angekommen: der Erzählung über die vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung.

Die Konsequenz dieser Ideologie sind Pogrome, Vernichtungsphantasien und Massenmord. Der Hass gegen Juden und Jüdinnen verbindet sich mit vermeintlich wissenschaftlich und biologisch argumentierten Rassentheorien und führt zu einer vernichtenden Form des Antisemitismus. Hier zeigen sich Verbindungslinien zum Rassismus auf, auch wenn beides sicherlich nicht das Gleiche ist. Die moderne Form des Rassismus entwickelte sich im Zuge der Kolonialisierung, um die schrecklichen Gräueltaten der europäischen Kolonialmächte zu legitimieren. Es entstand die Vorstellung eines „biologisch überlegenen Herrenvolkes“, das das „natürliche Recht“ habe, andere Völker zu versklaven. Eine willkommene Legitimierung, die es den Expansionsbestrebungen des europäischen Kapitalismus erlaubte, Menschen in den Kolonien zu unterdrücken und auszubeuten.

Der moderne Antisemitismus dient zwar nicht zur Beherrschung eines Gebietes, fußt aber auf derselben Konstruktion des „weißen Herrenvolkes“.

Auch reicht die „Theorie des reinen Blutes“, welche Faschist:innen benutzen, um ihre Schreckenswerke ideologisch zu legitimieren, bis in die frühe Kolonialzeit zurück. Ferdinand und Isabella, die beiden sogenannten „katholischen König:innen“, die 1492 die gesamte Iberische Halbinsel einnahmen und damit das Ende des muslimischen al-Andalus einleiteten, zwangen alle dort lebenden Juden und Jüdinnen, zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Viele jüdische Gemeinden lebten über mehrere Jahrhunderte weiter im Verborgenen. Diese wurden Ziel grausamer Verfolgungen durch die Inquisition. Es entstanden Erzählungen über die Unterwanderung der Gesellschaft durch Juden und Jüdinnen. Es wurden Abstammungslinien untersucht, um Juden und Jüdinnen zu entlarven. Es entstand die Theorie, dass Menschen „unreinen Blutes“ niemals „echten Glauben“ erlangen können. Die Inquisition fügte dem Antijudaismus also die Verschwörungstheorie der geheimen jüdischen Bünde hinzu und ist die erste europäische Institution, die rassistisch begründete Verfolgung betrieb.

Die beiden waren übrigens später die Geldgeber:innen für Kolumbus. Sie legten also den Grundstein für die spätere spanische Weltmacht und leiteten die Zeit der Kolonialisierung ein.

Aber darauf wollen wir jetzt nicht genauer eingehen und hier erstmal zum Ende kommen.

Wenn ihr Aspekte nochmal genauer nachlesen wollt, empfehlen wir euch unser Theoriejournal „Revolutionärer Marxismus“. Die 51. Ausgabe mit dem Titel „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ war die Grundlage für unsere Folge, ebenso wie der Text „Die jüdische Frage“ von Abraham Léon.

Ansonsten freuen wir uns, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid. In dieser wollen wir uns die psychische Welt des Antisemitismus genauer anschauen und versuchen, diese mit einer materialistischen Anschauung zu verweben, um zu verstehen, wie sich der Hass gegenüber Juden und Jüdinnen zur vernichtenden Form des Antisemitismus entwickeln konnte.




Eine Welt in der Krise

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Der ökonomische Zusammenbruch Sri Lankas im Jahr 2022 und die ähnlichen Zuspitzungen, die sich etwa in Pakistan im Jahr 2023 angedeutet haben, sind symptomatisch für die aktuelle Weltlage. Sie bringen die tiefe Krise vieler Länder des „globalen Südens“ an die Oberfläche, die seit einem Jahrzehnt die Realität außerhalb der imperialistischen Zentren der Welt prägt. Während „Globalisierung“ einst mit dem Narrativ verbunden war, dass das Ende des Kalten Krieges und die weltweite Ausbreitung von Kapital und Demokratie nun auch den ärmeren Ländern eine nachholende Entwicklung ermöglichen würde, wenden sich heute selbst hoffnungsvolle Schwellenländer wieder in großer Zahlan den IWF, um den Kollaps abzuwenden. Immer mehr stehen vor der Wahl, ihre Ökonomien dem Diktat der westlichen Finanzmärkte oder Chinas zu unterwerfen.

Die Globalisierung, die als Explosion des Welthandels, der internationalen Finanzströme, des weltweiten Informations- und Meinungsaustauschs über offene Netze, der Ausdehnung eng miteinander verflochtener internationaler Produktionsketten, der Beschleunigung globaler Verkehrssysteme usw. verstanden wurde, scheint derzeit ins Stocken geraten zu sein. Was manchmal als vorübergehendes Stottern des Globalisierungsmotors verkauft wurde (Unterbrechung von Lieferketten, Transportprobleme, Kapitalabfluss aus bestimmten Ländern, Zahlungsprobleme …), trägt heute in vielerlei Hinsicht einen systematischeren Charakter: Liefer- und Produktionsketten werden neu ausgerichtet, Investitionen aus bestimmten Ländern politisch angegriffen, Zollschranken und Investitionsbeschränkungen in großem Stil wiederbelebt, Finanzinstitute als politische Waffe eingesetzt usw.

Die Welt erscheint wieder klar geteilt in imperialistische Mächte und ihre Halbkolonien (die Rede von „Schwellenländern“ kann man getrost vergessen), während die Großmächte dabei sind, die „Globalisierung“ in ihre Einflusssphären und Machtblöcke aufzuteilen. Nur haben sich in der Zeit der Globalisierung China und Russland als neue Konkurrenten gegen den „westlichen Block“ etabliert und sind damit als Herausforderer des schwächelnden Welthegemons USA auf den Plan getreten. In vielen Regionen des krisengeschüttelten globalen Südens konkurrieren diese Mächte nun um ihre Position, sei es als Handelspartnerinnen, Kreditgeberinnen, Rüstungslieferantinnen oder Bündnis„partnerinnen“. Mehr und mehr wird diese Konkurrenz auch zur offenen Konfrontation. Der Ukrainekrieg ist nur der schärfste Ausdruck dieser wachsenden Konfrontation bei der Neuaufteilung der Welt 3.0.

Doch diese Krise der Globalisierung und die damit verbundene neue politisch-ökonomische Weltunordnung sind nur ein Ausdruck tiefer liegender Krisenprozesse. Der Kapitalismus ist ein Wirtschaftssystem, das zum Wachstum, zur Akkumulation von Kapital verurteilt ist, scheinbar ohne Grenzen. Jede Stagnation der Akkumulation, sei es als Rezession, anhaltende Produktionsausfälle, Absatzprobleme oder Kurseinbrüche bei den Finanzwerten, führt zu Zahlungsausfällen, ausbleibenden Kapitalzuflüssen, Betriebsschließungen und Firmenzusammenbrüchen, kurz zur Unterbrechung der Geld-Waren-Metamorphose und damit letztlich der Verwandlung von Mehrarbeit in Profit, der Grundlage der kapitalistischen Klassengesellschaft. Aber diese erzwungene Grenzenlosigkeit der Kapitalakkumulation führt direkt zu ihrem Gegenteil: zur Schaffung oder Verschärfung von Schranken für die erweiterte Reproduktion.  Der Zwang zur Steigerung der intensivsten Ausbeutung von Mensch und Natur, wie er der kapitalistischen Rationalisierung inhärent ist, führt zu solchen Erscheinungen, wie sie Marx im Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate zusammengefasst hat. Während der aus dem einzelnen Produktionsakt erwachsende Mehrwert also abnimmt, kann die Profitmasse durch die Steigerung der Gesamtproduktion ausgeweitet werden. Dies führt zu einem Punkt, an dem die gestiegenen Kapitalkosten, sei es für Energie, Maschinen, Rohstoffe, Produktionssteuerung und -planung usw. selbst die absolute Profitmasse aufzehren. Die Kapitalakkumulation gerät zur Überakkumulation, das Kapital in Form des investierten Bestands und seines Bedarfs an Material, Energie, Arbeit und neuem Kapital wird zu einem Hindernis für neues Wachstum.

Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Wachstums- ist die soziale und ökologische Krise. Bereits durch die kapitalistische Rationalisierung bedroht, werden die arbeitenden Klassen durch die Mechanismen der kapitalistischen Krisenbewältigung, der Kapitalentwertung und -vernichtung, der Kapitalkonzentration, der Standortverlagerung usw. sowohl in der direkten Produktion als auch in abgeleiteten Bereichen (öffentliche Versorgung, staatliche Dienstleistungen, Kleinbürgertum usw.) existenziell bedroht. Andererseits stößt der Hunger der Kapitalakkumulation nach Energie und Rohstoffen zunehmend an die Grenzen der natürlichen Reproduktionssysteme.  Der Rockströmbericht nennt neun planetarische Grenzen, die bei Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftsweise in absehbarer Zeit überschritten werden und damit die Existenz des menschlichen Lebens in Frage stellen.

Die 1,5-Grad- und 2-Grad-Szenarien und die daraus resultierenden Ziele für die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase zumindest innerhalb der nächsten 2 Jahrzehnte bilden nicht einmal die größten Herausforderungen. Die zunehmende Verknappung von Süßwasser, die Versauerung der Meere, die Überlastung der Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Böden und Gewässern, das Artensterben etc. erfordern dringend globales Handeln. Viele der „Umwelterfolge“ im globalen Norden wurden einfach durch die Verlagerung in schlechterer Form in den globalen Süden erkauft. Global führt der Zwang zur Kapitalakkumulation zu einem ökologischen Bruch – der Entwicklung eines tiefen Widerspruchs zwischen expandierter wirtschaftlicher Reproduktion und der Anpassungsfähigkeit zentraler natürlicher Reproduktionssysteme. Es besteht kein Zweifel, dass sich dieser ökologische Bruch in der Zeit der Globalisierung zu einer Menschheitskrise verschärft hat. Die sich bereits abzeichnenden Umweltkatastrophen oder die verzweifelten Versuche der Gegensteuerung im Rahmen des Systems („Transformation“) wirken zwangsläufig auf das Wirtschaftswachstum zurück.

Das Kapital reagiert auf die oben beschriebenen immanenten Grenzen der Kapitalakkumulation mit dem, was Marx als „gegenläufige Tendenzen“ zum Fall der Profitrate bezeichnete. Dabei ist zu beachten, dass das Problem vor allem eins des Falles der „Durchschnittsprofitrate“ ist. Die Kapitalakkumulation findet in einem Raum statt, der zum einen in Sektoren mit unterschiedlicher Produktivität oder Kapitalintensität und zum anderen in Länder und Regionen mit sehr unterschiedlichem „Entwicklungsstand“ (in Bezug auf die Kapitalakkumulation) segmentiert ist. Ein grober und dynamischer Ausgleich der durchschnittlichen Profitraten findet nur zyklisch durch Kapital- und Arbeitsströme zwischen den Segmenten statt. Dieser kann vorübergehend gestoppt oder modifiziert werden, z. B. durch Monopolbildung, so dass z. B. Großkonzerne ihre Ausbeutungsprobleme für einen längeren Zeitraum auf andere Wirtschaftszweige abwälzen können (Monopolrentabilität). Andererseits ermöglichen es die unterschiedlich ausgeprägten Kapital- und Arbeitsströme auf dem Weltmarkt gegenüber nationalen/regionalen Märkten, dass Kapitalexporte und Welthandel genutzt werden, um höhere Ausbeutungsraten in weniger entwickelten Ländern („Entwicklung“ hier im Sinne der Akkumulationsbewegung) als Quelle für Extraprofite zu nutzen. Im Zeitalter des Finanz- und Monopolkapitals, d. h. des Imperialismus, können diese Momente ausgedehnt werden, so dass in den imperialistischen Zentren längere Perioden scheinbar stabiler Akkumulation und die Vermeidung ausgeprägter Krisenmomente erreicht werden. Die Krise der Überakkumulation bricht also zunehmend in der inneren und äußeren Peripherie aus, um über kurz oder lang auch die Monopolprofitrate in den Zentren selbst zu treffen.

Mit der Globalisierung seit Anfang der 1990er Jahre hat sich die Verteilung der direkten Industrieproduktion freilich noch stärker zu Ungunsten der klassischen imperialistischen Länder (wie sie in der G7 vertreten sind) verschoben: Noch im Nachkriegsaufschwung konzentrierten sich 80 % auf die „entwickelten“ OECD-Staaten mit nur 20 % der Weltbevölkerung, während für den Rest der kapitalistischen Welt die Rolle als Rohstofflieferant:in und die Herstellung weniger kapitalintensiver Produkte (z. B. Textilien) blieb. Dies hat sich heute radikal geändert: USA/CND/EU/J mit inzwischen nur noch 15 % der Weltbevölkerung produzieren nur noch 42 % des Welt-BIP (etwa so viel wie in Asien ohne Japan). Ein entscheidender Faktor hat sich jedoch kaum verändert: die Verteilung des Kapitals. 70 % des Vermögens- und Investitionskapitals sind nach wie vor in der genannten Ländergruppe konzentriert. Zählt man China und Russland zur imperialistischen Welt hinzu, bleiben für den Rest, d. h. für den „globalen Süden“, nur noch 10 % des investierbaren Kapitals übrig (wovon der größte Teil davon dann auch noch auf Rentierkapital entfällt, z. B. Fonds von Ölkartellstaaten).

Die Globalisierung hat zwar die industrielle Produktion weltweit stärker verteilt, nicht aber die Anfangs- und Endpunkte der Kapitalakkumulation, das Kapital, das nach profitablen Investitionsfeldern sucht. Bei krisenhaften Entwicklungen in den Zielländern der Kapitalströme kommt es sehr schnell zur Rückkehr in die „sicheren Häfen“ des globalen Nordens. Dies haben verschiedene als „Schwellenländer“ angepriesene Kandidat:innen wie die Türkei, Brasilien oder Pakistan im letzten Jahrzehnt schmerzlich erfahren. Letztlich waren nur China und Russland in der Lage, sich als neue imperialistische Mächte in der Globalisierungsperiode zu etablieren, während Indien als einziges der ehemaligen Schwellenländer dem Absturz bis jetzt noch widerstand.

Auf der Grundlage dieser Weltmarktbewegung des Kapitals können keine „vereinigten Staaten der Welt“, kann nicht einmal ein „Hyperimperialismus“, entstehen. Aufgeteilt in Zentrum und Peripherie bleiben auch die Finanzkapitale und Monopole im Wettbewerb und der letztendlichen Wirkung der Ausgleichsmechanismen unterworfen. Auf Perioden der relativen Stabilität folgen Krisen, Zusammenbrüche und Umverteilungsprozesse. Die Perioden der Stabilität werden auch immer von der Vorherrschaft eines Systems von Großmächten begleitet, welches die Weltordnung garantiert und so etwas wie eine globale politische Agenda bestimmt – allerdings letztlich immer im Rahmen der Vertretung der Weltmarktinteressen des „eigenen“ Kapitals, aber verkleidet als „Kampf um Fortschritt, Menschenrechte und Demokratie“. Das nationalstaatliche System, in dem der Kapitalismus ursprünglich entstanden ist, ist längst zu einem unpassenden Korsett für die imperialistische Entwicklungsstufe des Kapitalismus geworden – aber es gibt keine globale politische Struktur, die der Kapitalismus als Ersatz für das nationalstaatliche Konzept hervorbringen kann. Daher erweist er sich als unzureichend, um lebenswichtige globale Probleme wie Klimakatastrophe, Pandemien, Welternährung usw. durch eine global geplante Politik zu lösen. Auch „Demokratie“ und „nationale Selbstbestimmung“ erweisen sich im gegenwärtigen Zustand der globalen Kapitalentwicklung zunehmend als illusorische bürgerliche Ideen. In den stabileren Perioden der monopolistischen Zyklen kann das globale Kapital durch die hegemoniale Rolle einer der Großmächte eine gewisse politische Stabilität erreichen. Sie verfügt dann sowohl über die wirtschaftlichen und monetären Hebel als auch über die militärische Interventionsfähigkeit und die politischen und ideologischen Mittel, um politische und wirtschaftliche Krisen im Rahmen aller imperialistischen Mächte, aber vor allem im eigenen Weltmarktinteresse, mit seiner Bündnis- und Militärpolitik zu lösen.

War dies lange Zeit der britische Imperialismus, so ist er seit dem Zweiten Weltkrieg durch den US-Imperialismus abgelöst worden. Zu Beginn der Globalisierung wirtschaftlich angeschlagen, konnte er in dieser Periode vor allem aufgrund seines nach wie vor überlegenen Finanz- und Technologiekapitals wieder eine dominierende Rolle spielen – allerdings auf Kosten des Aufstiegs Chinas zu einem zentralen Akteur in der Welt des globalen Industriekapitals.

Der Rückgang der Produktivität und Rentabilität wichtiger Industriesektoren in den USA wurde durch immer größere Blasen in der Finanzwelt und durch fiktive Kapitalakkumulation kompensiert. Mit der Großen Rezession von 2008/2009 wurde der wirklich stagnierende Charakter der US-Wirtschaft immer deutlicher. Wir gehen daher davon aus, dass wir in eine Phase eintreten, in der mit der allgemeinen kapitalistischen Krise die Frage nach der Führungsrolle der USA zunehmend umstritten sein wird.

Die Periode der Globalisierung – Aufstieg und Weg in die Krise

Grafik 1 fasst den Zeitraum von 1990 bis 2019 anhand der Entwicklung der Profitraten einiger ausgewählter Länder zusammen. Die zugrundeliegende Berechnung der Profitraten ist den Extended Penn World Tables (Release 7.0) entnommen. Hier wird die Profitrate anhand der Kapitalquote (Anteil der Gewinne am Volkseinkommen), der Kapitalproduktivität und der Abschreibungsrate berechnet.

Grafik 1: Profitratenentwicklung ausgewählter Länder

Das Schaubild zeigt die Erholung der Profitrate der USA zu Beginn der 1990er Jahre als Impuls und Ausdruck einer veränderten Wirtschaftsdynamik sowie den großen Unterschied zur chinesischen Profitrate. Entgegen der oben genannten Tendenz zeigt die chinesische Profitrate, die den gesamten Zeitraum bestimmte, dass das Bewegungszentrum des Zeitraums die enorme Kapitalakkumulation in China bildete, die an seinem Ende in eine Phase der Überakkumulation des chinesischen Kapitals überging. Erst mit der Abschwächung der US-Profitrate und dem Aufblühen des China-Booms erholten sich die Profitraten in Deutschland und Japan und in ihrem Gefolge auch die Russlands, um dann mit der Großen Rezession in eine stagnierende bis fallende Richtung zu gehen. Nimmt man eine typische Halbkolonie wie Brasilien hinzu, so ist die Profitrate dort in der Regel viel höher (wie gesagt, das ist genau der Ausdruck einer abhängigen Entwicklung, die sich in geringerer Kapitalintensität und höherer Ausbeutungsrate manifestiert), aber mit viel stärkeren Ausschlägen nach oben und unten (in Brasilien zwischen 14 und 10 Prozent) – als Ausdruck der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen und den Verwertungsbedingungen auf dem Weltmarkt.

Anmerkung: Die Berechnung der Profitrate in China ist umstritten. Die statistischen Daten, insbesondere zu Beginn des Zeitraums, sind fragwürdig und können im Hinblick auf die Gewinn- und Abschreibungswerte ungenau sein. Daher gibt es mehrere Schätzungen der Rate. Im Allgemeinen sind die in den obigen Statistiken aufgezeigten Tendenzen jedoch ähnlich.

Was waren die Startbedingungen, die vor allem das US-Kapital bot? Die Überwindung der vorangegangenen Krisenperiode (gekennzeichnet durch zwei Jahrzehnte sinkender Profitraten, Überakkumulation, Verschuldung, Zunahme der Klassenkämpfe und eine Eskalation der Blockkonfrontation) wurde durch einige entscheidende Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung, der Kämpfe in den Halbkolonien und den Zusammenbruch der degenerierten Arbeiter:innenstaaten ermöglicht. Die Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zugunsten des Kapitals führte zu dem, was damals „Neoliberalismus“ genannt wurde: der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungskraft, Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, einer neuen Qualität der Privatisierung und des Abbaus sozialer und öffentlicher Dienstleistungen, dem Abbau von Handels- und vor allem von Investitions-„Schranken“, der Verringerung staatlicher Interventionsmöglichkeiten in der Wirtschaft und zu all dem der Deregulierung der globalen Finanzmärkte mit unbegrenzten Möglichkeiten für den Kapitalfluss zu den günstigsten Produktions- und Investitionsmöglichkeiten auf der ganzen Welt. Dadurch wurden nicht nur die bereits erwähnte globale Differenz der Profitraten optimal genutzt (Ausgleich des eigenen Profitratenverfalls), sondern auch die absolute und relative Mehrwertrate als weitere Stabilisierungsmaßnahme erhöht. Hinzu kommen technische Innovationen im Transportwesen (z. B. das globale System der Containerlogistik), in der Steuerungs- und Regelungstechnik (Elektronik und IT) usw., die zur Bildung sehr großer Produktions- und Versorgungsnetze auf Weltebene geführt haben. Diese Produktionsketten werden häufig als „Wertschöpfungsketten“ bezeichnet, weil die Produktion und die Aneignung von Werten entlang der Kette von der Investitionsentscheidung, der Planung, der Konstruktion, der Einbindung von Zulieferer:innen, der Teile- und Systemproduktion, dem Vertrieb und dem Marketing bis hin zur Verteilung der Erträge und der Kontrolle ihrer Verwendung sehr ungleich verteilt sind. Während sich die arbeitsintensiven Produktionsprozesse in Ländern mit hoher Ausbeutungsrate konzentrieren, werden die qualifizierteren Spezialaufgaben, die technische und finanzielle Gesamtplanung und letztlich die Gesamtkontrolle weiterhin in den „Zentren“ wahrgenommen. Diese Form der Wertschöpfungskette ist also eine neue Form des Werttransfers aus den Halbkolonien in die imperialistischen Zentren, die direkter mit dem Produktionsprozess verbunden ist als die klassischen Direktinvestitionen. Für die Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren resultierte das in vielen Abwehrkämpfen um die Verlagerung von Produktionsstätten oder auch nur von Arbeitsbereichen in „Billiglohnländer“.

Mit der Verfestigung dieser Formen der internationalen Arbeitsteilung wurde auch die Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stabilisiert, so dass die oben als Imperative des Kapitals beschriebenen Elemente des Neoliberalismus zu „Sachzwängen“ wurden. Der „Neoliberalismus“ war nicht nur eine schlechte Ideologie, die plötzlich von Manager:innen und Politiker:innen in den Zentren und in der Peripherie übernommen wurde und der, wie viele Linke meinten, mit „Argumenten“ begegnet werden müsste. Vielmehr gibt es zu ihm keine Alternative, solange es der Arbeiter:innenklasse nicht gelingt, ein Netzwerk des Widerstands gegen die Kapitalströme und die damit verbundene Bildung von Produktionsketten auf ebenso globaler Ebene zu schaffen.

Insgesamt hat die neue Qualität der Globalisierung des Kapitals den Spielraum für soziale Reformen und damit auch für Demokratie und nationale Selbstbestimmung im Rahmen der bürgerlichen Politik weltweit weiter eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den Halbkolonien und in den imperialistischen Zentren. Die Gewöhnung an die Grenzen demokratischer oder sozialer Forderungen ist so groß geworden, dass solche, die den neoliberalen Rahmenbedingungen widersprechen, leicht als „Populismus“ diffamiert werden können. Am erfolgversprechendsten waren Klassenkampfzyklen, die supranationale Bedeutung erlangten (z. B. ausgehend von Frankreich oder Griechenland sich ausbreitend auf den Rest der EU), die Sozialforumsbewegung (die regionale und internationale Proteste lose zusammenführte), die „Pink Tide“ (die mehrere lateinamerikanische Linksregierungen hervorbrachte), die internationalen Protestbewegungen nach der Großen Rezession (Arabischer Frühling, die „Aufstände“ in Südeuropa, vor allem Griechenland, Occupy). Aber es gelang nicht, diese in eine international koordinierte Kraft des antikapitalistischen Widerstands zu verwandeln (fälschlicherweise als „Antiglobalisierungsbewegung“ bezeichnet). Nach der daher unvermeidlichen Niederlage dieser Bewegungen zogen sich ihre Anhänger:innen auf den nationalen linken Reformismus oder stark lokal konzentrierte „Arbeit vor Ort“ zurück. Einem Kapital, das noch immer seinen globalen Hebel ansetzen kann, steht also kein international koordinierter Widerstand gegenüber, schon gar nicht in Krisenzeiten der Globalisierungsperiode.

Dennoch waren diese Klassenkämpfe, Bewegungen und politischen Widerstände wichtig, um die anfänglichen Steigerungsraten des absoluten Mehrwerts abzuschwächen. Wie in jeder Aufschwungsperiode folgte auf die Phase, in der die verstärkte unmittelbare Ausbeutung und Intensivierung der Arbeit im Vordergrund stand, die, in welcher die Rationalisierung und Modernisierung des Kapitaleinsatzes dominierte. Vor allem aber ging es um die Ausweitung internationaler Produktionsketten – zunächst mit der verstärkten Tendenz, China in ihren Mittelpunkt zu stellen. Grafik 1 zeigt die Abschwächung der Profitrate in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Wie wir an anderer Stelle ausführlich dargelegt haben, beruht diese auf einem viel ausgeprägteren Abwärtstrend der industriellen Gewinnraten (aufgrund der sinkenden Kapitalproduktivität). Dies wurde in den frühen 2000er Jahren durch das stark kreditfinanzierte Chinageschäft kompensiert (Fortsetzung der Kapitalakkumulation auf der Grundlage der fiktiven Wertsteigerung von unproduktivem Kapital, z. B. Immobilien, als finanzielle Grundlage für einen sehr starken Anstieg der Importe aus China). Daher die Eile, mit der China 2001 in die WTO aufgenommen wurde (Beseitigung wichtiger Handelshemmnisse), auch ohne dass die üblichen Öffnungen des Finanzmarktes oder Übernahmemöglichkeiten für chinesische Unternehmen durchgesetzt wurden. Auf der anderen Seite nutzten imperialistische Volkswirtschaften wie Deutschland und Japan diese Zeit, um ihre Produktionsketten in Richtung China auszudehnen und so ihre Exportindustrien nach Nordamerika und in die übrige EU wesentlich wettbewerbsfähiger zu machen. Die fiktive Erholung der Profitrate in den USA in den Jahren 2000 – 2005 ist somit eng mit dem großen Sprung der chinesischen Profitrate und der deutlichen Erholung der Profitraten in Deutschland und Japan bis zur Großen Rezession verbunden.

Abbildung 2: Globale Wertschöpfungsketten

Abbildung 2 zeigt einen Überblick über die Entwicklung der globalen Wertschöpfungsketten in einem gewichteten Diagramm, je nach Ausmaß der Aufteilung der Teilprozesse der Produktion zwischen einigen Zentren und ihrer „Peripherie“ (aus dem Global-Value-Chain-Bericht der WTO 2017). Es ist zu erkennen, dass zu Beginn der 2000er Jahre China noch als untergeordneter Zuliefererstandort für den NAFTA-Sektor auftrat (mit den USA als Zentrum und Mexiko als Hauptlieferanten), während sich das europäische Produktionskettennetz mit Deutschland im Zentrum noch relativ separat entwickelte. Im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre, dem Höhepunkt der Globalisierung, entwickelte sich China zu einem eigenen Zentrum der Wertschöpfungsketten in Asien, in engem Zusammenhang mit dem Ausbau solcher Industriemodelle in Japan und Südkorea. Bis 2011 scheinen diese drei Zentren auch zunehmend miteinander verbunden zu sein, wobei Deutschland sowie die anderen großen EU-Volkswirtschaften (Frankreich, Benelux, Vereinigtes Königreich, Italien, Spanien) ihre Produktionsprozesse zunehmend internationalisierten. Erwähnenswert sind auch Länder wie Brasilien, die bis in die 1990er Jahre überwiegend Nordamerika belieferten, dann mehr in den europäischen Block exportierten und heute in den chinesischen Wertschöpfungsketten auftauchen. Mitte des letzten Jahrzehnts, im Zuge der Großen Rezession und ihrer Auswirkungen, ist ein leichter Bedeutungsverlust der globalen Wertschöpfungsketten und ein erneutes Auseinanderdriften der Hauptblöcke zu beobachten. Es muss betont werden, dass es hier um Produktionsketten geht – bei den klassischen Direktinvestitionen, Handelsströmen und vor allem Finanzmarktbewegungen gibt es ganz andere Zentren und Netzwerke (z. B. in letzteren New York, London, Singapur, Hongkong), die für die Dynamik der Globalisierung mindestens genauso wichtig sind.

Die große globale Rezession von 2008/2009 wurde durch die anhaltende Finanzmarktkrise nach dem Platzen der US-Immobilienblase ausgelöst. Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, offenbarte die Schwächung der Möglichkeiten, überakkumuliertes Kapital in fiktive Anlagen zu investieren, das Problem der Masse des anlagesuchenden Kapitals, das nur noch Anlagemöglichkeiten mit deutlich geringerer Rendite fand oder in solchen mit geringerer Rendite gebunden war. Der Einbruch bei der Finanzierung bestehender Unternehmen, die Refinanzierung von Schulden und das Ausbleiben großer Investitionen führten 2009 zu einem Wachstumseinbruch von rund 5 % synchron in den USA, den wichtigsten EU-Ländern, Japan und in der Folge zu einer Verlangsamung der Wirtschaft im Rest der Welt, auch in China. Der normale Verlauf der kapitalistischen Krise hätte darin bestanden, die unrentablen Kapitalien einfach zu vernichten (Konkurs von Schuldner:innen, Realisierung von Verlusten in der Gläubigerkette, Firmenzusammenbrüche, massenhafte Privatkonkurse, Massenarbeitslosigkeit, -entlassungen). Tatsächlich ist dies nicht im erwartbaren Umfang geschehen (bzw. hat vor allem auf die unteren Einkommensschichten Auswirkungen gehabt), aber das Szenario von 1929 wurde von den zentralen imperialistischen Finanzinstitutionen auf der Grundlage des Prinzips „too big to fail“ abgewendet: Der größte Teil des „überschüssigen“ Kapitals wurde durch die Politik des „quantitative easing“ (QE) vorm Untergang bewahrt. Einerseits retteten die Zentralbanken das gefährdete Kapital durch den Ankauf von Vermögenswerten in Billionenhöhe, andererseits sorgte die Nullzinspolitik der großen Zentralbanken (FED, EZB, BoJ) dafür, dass Refinanzierung und Neuinvestitionen nicht durch Zinsen belastet wurden. Hinzu kamen staatliche Beihilfen und Investitionsprogramme in Milliardenhöhe.

All dies hat jedoch nicht zu einem neuen Aufschwung geführt. Die 2010er Jahre waren in den alten imperialistischen Ländern durch noch niedrigere Wachstumsraten als in den Jahrzehnten zuvor, wiederkehrende Verschuldungsprobleme, niedrige Investitionsquoten, sinkende Arbeitsproduktivitätszuwächse und stagnierende Profitraten auf niedrigem Niveau gekennzeichnet. Die Halbkolonien (insbesondere die „Schwellenländer“) waren von massiven Kapitalabflüssen, einer Verdünnung der Lieferketten, einem Rückgang der Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren und damit der Rückkehr der Schreckgespenster Rezession, Verschuldung, Währungskrisen und Inflation betroffen. Insbesondere war das Jahrzenht aber auch durch eine deutliche Veränderung der Rolle Chinas in der Weltwirtschaft gekennzeichnet.

Die geringe krisenbedingte Kapitalvernichtung, d. h. die Aufrechterhaltung eines großen Teils des überakkumulierten Kapitals, führte zu einem stetigen Anstieg der Zahl der Unternehmen oder Investitionen, die eigentlich nur durch ständiges Subventionskapital (sei es durch Anleihekäufe oder direkte Unterstützung) am Leben erhalten werden können.

Abbildung 3: Anteil der Zombie-Unternehmen

Abbildung 3 zeigt den Anteil der „Zombie“-Unternehmen, d. h. der Firmen, die ihre Schulden langfristig nicht aus ihren Gewinnen finanzieren können. Nicht nur, dass der Anteil nach der Großen Rezession weiter auf rund 16 % gestiegen ist, auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Unternehmen aus diesem Status nicht mehr herauskommen, hat sich erhöht. Allein diese hohe Ziffer macht deutlich, dass ein erheblicher Teil des Kapitals in unrentablen Investitionen gebunden ist und nicht für neue Investitionen genutzt werden kann.

Darüber hinaus führte die Gefahr von Verlusten in den Jahren 2008/2009 dazu, dass die Anleger:inen eher Risiken vermieden und sich auf Anlagen konzentrierten, die weniger Rendite versprachen, aber sicher erschienen. Insbesondere die Erklärung der großen Zentralbanken, dass sie die Investitionen in ihrem Bereich schützen würden, „koste es, was es wolle“ (EZB-Chef Mario Draghi), führte dazu, dass die internationalen Investor:innen (deren Kapital sich ohnehin größtenteils aus den klassischen imperialistischen Ländern und den Ölrentiers speist) ihre Gewinne so schnell wie möglich repatriierten oder wieder auf sichere Anlagen wie Staatsanleiehn, Immobilien- und Energierenten setzten.

Grafik 4, die die Entwicklung der Auslandsinvestitionen aus den klassischen imperialistischen Ländern in die „unterentwickelten“ Halbkolonien nach Kategorien darstellt, zeigt, dass es nach 2013 zu einer Rückflut von Kapital in historischem Ausmaß kam (um kurze Zeit später unter „günstigeren Bedingungen“ wieder zurückzukehren). Insbesondere die Kategorie „Portfolioinvestitionen“, also kurz- und mittelfristiges, schnell abbaubares Investitionskapital, wurde rapide reduziert; aber auch das Volumen der Direktinvestitionen ging zurück.  In allen imperialistischen Ländern ist aus der Leistungsbilanz im Kapitel „Einkommen aus Auslandsvermögen“ ersichtlich, dass diese Erträge in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts jährlich etwa 2 – 4 % zum BIP beitrugen. Dies sind die Profiteinkommen, die aus Anlagen im Ausland ins Heimatland zurückfließen. Da es sich um reine Profiteinkommen aus Auslandsinvestitionen handelt, müssten sie eigentlich mit den Profiteinkommen im Inland und nicht mit dem gesamten Inlandsprodukt ins Verhältnis gesetzt werden: D. h., tatsächlich steigerten die Zuflüsse aus dem Ausland die Gewinne um bis zu 10 %.  Auch dies ist ein Indikator für die verstärkte Überschussextraktion aus den Halbkolonien durch Kapitalzu- und -abflüsse. Diesen positiven Bilanzen in den imperialistischen Ländern stehen in den Halbkolonien je nach Region negative Vermögenvon 2 % – 5 % im entsprechenden Kapitel gegenüber, die als US-Dollarverpflichtungen (d. h. reale Werttransfers aus dem dort erbrachten Mehrwert) mit großem Aufwand erfüllt werden müssen. Zusammen mit dem Abbau von Lieferketten führte dies zu massiven wirtschaftlichen Schocks in vielen Halbkolonien (in Lateinamerika, Nordafrika, Südafrika, der Türkei, Pakistan und einigen anderen asiatischen Ländern), die für ihre Kapitalakkumulation ohnehin stark von Kapitalzuflüssen abhängig waren.  Die daraus resultierenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Instabilitäten, Kriege und Bürgerkriege führten wiederum zu weiteren Investitionsverlusten oder zum Wiedererstarken der Rolle von IWF und Weltbank bzw. zu direkten militärischen Interventionen.

Mit der Großen Rezession änderte sich Chinas Rolle in der Weltwirtschaft. Statt als Quelle für billig produzierte Waren für die USA zu fungieren, konzentrierte es sich auf eine selbsttragende Kapitalakkumulation und stieg in der Wertschöpfungskette (auch bei den Arbeitskosten) auf. Angestachelt durch ein Billionen-US-Dollar-Konjunkturprogramm begann China, seinen eigenen Markt zu entwickeln und selbst in die höheren technologischen Sphären der Wertschöpfungsketten zu klettern. Nichts macht die Entwicklung der 2010er Jahre so deutlich wie die Entwicklung der Profitraten Chinas und der USA in Grafik 1: Entgegen dem, was viele über die Entwicklung der Profitraten missverstehen, ist paradoxerweise eine sinkende Profitrate (wenn sie mit hohen Wachstumsraten verbunden ist) ein Indikator für eine besonders dynamische, von kapitalintensiven Investitionen getriebene Wirtschaftsentwicklung, während eine „gleichbleibende“ Profitrate bei schwachem Wachstum genau das Gegenteil, eine stagnierende Entwicklung mit wenig Verbesserung der Kapitalproduktivität und schwacher Modernisierung des Anlagekapitals (Neuinvestitionen), offenbart. Vor allem Anfang der 2010er Jahre war China in allen wichtigen Bereichen des Produktivkapitals zu einem ernsthaften globalen Konkurrenten für das US-Kapital mutiert.

Dass dieses Wachstum Mitte der 2010er Jahre ins Stocken geriet, lag nicht nur an Fehlern bei der Planung der Konjunkturprogramme (z. B. Bau ganzer Städte, die nie gebraucht wurden) oder an den immer offensichtlicher werdenden Schwächen des Finanzsektors (Rolle der Schattenbanken, Immobiliengesellschaften etc.). All das war vielmehr nur Ausdruck der Tatsache, dass mit der rasanten Kapitalakkumulation und Investitionstätigkeit immer mehr Kapital in Anlagen investiert wurde, seien es hochproduktive oder unsinnige, und damit ab einem bestimmten Punkt, als die Profitrate sank, das Kapital für neue Investitionen einfach knapp wurde. Deshalb kamen Schattenbanken und durch Bodenspekulation getriebene Immobilienblasen zum Tragen, da solche Kapitalien verstärkt zur Finanzierung eingesetzt werden mussten. Darüber hinaus war China auch vom Rückzug von Direkt- und Portfolioinvestitionen betroffen (sei es direkt oder über zwischengeschaltetes Kapital in Hongkong, Singapur oder Taiwan), und das Geschäft zwischen den USA und China ging sowohl in Bezug auf den Handel als auch auf die Lieferketten zurück.

Andererseits expandierte China, um seine Profitratenentwicklung durch den Aufbau von Produktionsketten (siehe oben, z. B. Indien, Indonesien, Malaysia, Vietnam, Thailand, Brasilien), durch verstärkte Direktinvestitionen (z. B. „Neue Seidenstraße“, als Kreditgeber in Afrika und Lateinamerika) und durch die Einrichtung internationaler Zahlungssysteme als Alternative zu den von den USA dominierten US-Dollar-Systemen zu kompensieren. Auch in China sind in den letzten Jahren die Einnahmen aus Auslandsvermögen (wenn auch oft über Hongkong vermittelt) gestiegen. Dies ist ein klarer Hinweis auf den imperialistischen Charakter der chinesischen Wirtschaft und die wirtschaftlichen Vorteile des Imperialismus in Zeiten der Überakkumulation (und Pech für diejenigen, die sich bei China Geld geliehen haben, z. B. in Afrika und Lateinamerika).

Die beschriebene Dynamik der verschiedenen regionalen Volkswirtschaften spiegelt sich letztlich in der Entwicklung der Akkumulation über den gesamten Zeitraum wider, wie sie in Abbildung 5 im Verhältnis von Kapitalstock zu Investitionen, d. h. dem Gewicht des aus Gewinnen neu investierten Kapitals im Vergleich zu dem in bestehenden Investitionen gebundenen Kapital, dargestellt ist.

Grafik 5: Akkumulationsraten im Vergleich

Das Beispiel USA zeigt, dass es in den 1990er Jahren einen leichten Anstieg der Akkumulationsrate gab, die dann mit der Großen Rezession in eine Abwärtsbewegung überging und dann auf niedrigem Niveau stagnierte (man muss bedenken, dass eine Abschreibungsrate von 4 % in den 2010er Jahren bedeutet, dass die tatsächlichen Neuinvestitionen marginal waren). Die gleiche Abwärtsbewegung ist auch in der deutschen Wirtschaft zu beobachten, allerdings von einem noch niedrigeren Niveau aus (wenn auch mit einer Abschreibungsrate von nur 3 %). Auf der anderen Seite ist in China in der Zeit nach dem WTO-Beitritt ein starker Kapitalaufbau durch Investitionen zu beobachten, der sich aber nach dem oben beschriebenen Übergang zum unabhängigen Akkumulationsmodell nach 2010 deutlich abschwächt – ein deutliches Zeichen für die Überakkumulation von investiertem Kapital, was auch gut zu der sinkenden Gewinnrate in diesem Zeitraum passt. In der ausgewählten Halbkolonie Brasilien hingegen ist deutlich zu erkennen, wie der seit Anfang der 2000er Jahre steigende Akkumulationszyklus (fast parallel zu dem Chinas) 2014 abrupt abbricht (Doppeleffekt aus Kapitalabzug und Nachfragerückgang auf dem Weltmarkt). In den Folgejahren entspricht dies einer leichten wirtschaftlichen Erholung in den USA/EU/J im Vergleich zur Rezession in vielen Halbkolonien (wie Brasilien) und der Abschwächung der Wachstumsraten in China.

Insgesamt ist zu erkennen, dass sich die imperialistischen Länder (einschließlich Chinas) nach großen Unterschieden in der Profitrate, der Kapitalzusammensetzung und den Akkumulationsraten gegen Ende des Zeitraums stärker angenähert haben – und das bei geringer Profitabilität und Investitionstätigkeit. Offensichtlich hat die „entgegenwirkende Ursache“ der Globalisierung viel von ihrer Kraft verloren, so dass nach 2019 ein klarer Trend zur globalen Rezession erkennbar war. Dass diese im Jahr 2020 eintrat, hatte aber natürlich einen ganz anderen Grund, auf den wir später noch eingehen werden.

Entwicklung des Weltmarkts, des Weltwährungssystems und der globalen Schuldenproblematik

Ein zentrales Moment der Globalisierungsperiode war nicht nur die neue Qualität der Internationalisierung der Produktion und der globalen Finanzströme, sondern auch die enorme Expansion des Welthandels. Während der Anteil des Welthandels am Welt-BIP nach dem Nachkriegsboom auf 40 % anstieg, erhöhte er sich in der Globalisierungsperiode nochmals auf über 60 %. Das bedeutet, dass heute weit mehr als die Hälfte der für Investitionen oder Konsum erworbenen Güter über den Weltmarkt beschafft und nicht im Inland produziert werden. Dies ist in den imperialistischen Ländern natürlich noch stärker ausgeprägt als in den Halbkolonien. In letzteren ist der Anteil des im Inland produzierten BIPs größer, insbesondere was die Güter des Massenkonsums oder den Umfang des informellen Sektors und der Subsistenzwirtschaft betrifft.

Dies bedeutet, dass die Kosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft viel niedriger sind, was sich in den „Kaufkraftparitäten“ widerspiegelt (d. h., mit einem viel niedrigeren Lohn kann immer noch der „Standardwarenkorb“ gekauft werden). Zusammen mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität bedeutet dies, dass der inländische Sektor einer anderen Wertbildung unterliegt als der, der für den Weltmarkt produziert – wo in US-Dollar und nicht in Kaufkraftparitäten bezahlt wird. Aus der Sicht der Halbkolonie muss also weit mehr Wert als Äquivalent für importierte Güter aus Ländern mit höherer Kapitalzusammensetzung produziert werden, als zurückgewonnen wird. Während aus Sicht des Weltmarktes ein gleichwertiger Austausch stattfindet, erscheint dies aus der Sicht der Halbkolonie als „ungleicher“ und Werttransfer in die imperialistischen Volkswirtschaften. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Wert der Außenhandelsgüter in Kaufkraftparitäten und in US-Dollar vergleicht. Hier wird in fast allen Halbkolonien der Wert der Weltmarktgüter in Kaufkraftparitäten etwa doppelt so hoch bewertet wie zumWeltmarktpreis, während in den imperialistischen Ländern der Wert in Kaufkraftparitäten meist unter dem Weltmarktpreis liegt.

Dies drückt eben aus, dass die Halbkolonien einen viel größeren Teil ihrer Arbeitskraft und Produktionsmittel für den Erwerb von Weltmarktprodukten aufbringen müssen als die imperialistischen Länder. Das Problem ist nun, dass viele Studien (z. B. Ocampo/Parra) gezeigt haben, dass sich diese „Terms of Trade“ zwischen dem globalen Norden und Süden in der Globalisierungsperiode weiter zu Ungunsten des letzteren verschlechtert haben. In den imperialistischen Ländern führt dies z. B. zu einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch billigere Importe von Konsumgütern. Wenn diese vom imperialistischen Kapital angeeignet werden, resultiert dies in einer Steigerung der Profitrate.

Ein wichtiger Faktor dabei ist der Wandel im weltweiten Agrar- und Rohstoffhandel in diesem Zeitraum. Beide Sektoren waren durch bisher nicht gekannte Monopolisierungstendenzen großer, internationaler Privatkonzerne gekennzeichnet. Angetrieben von Fortschritten in der Saatgut-, Düngemittel- und Mechanisierungstechnologie haben die Agrarkonzerne vor allem in den Halbkolonien riesige Flächen übernommen und bewirtschaften sie in großem Stil, um direkt für den Weltmarkt zu produzieren. Nach Angaben der FAO kontrollieren nur 2 % aller landwirtschaftlichen Betriebe mehr als zwei Drittel der weltweiten Agrarnutzfläche, in den Halbkolonien sogar mit Großbetrieben von rund 10.000 Hektar.

Die 2,6 Milliarden Kleinbauern/-bäuerinnen auf der Welt bewirtschaften jeweils weniger als 2 Hektar. Bis vor wenigen Jahren zeichneten diese Kleinstbetriebe für 80 % der Nahrungsmittelversorgung im globalen Süden verantwortlich. Die Expansion des Agrobusiness im Zuge der Globalisierung hat nicht nur immer mehr Kleinbauern/bäuerinnen von ihren Feldern vertrieben, sondern durch billige Industriegüter auch immer mehr solcher Selbstversorgungsnetze zerstört. Die Auseinandersetzungen um die Folgen dieses Verdrängungswettbewerbs haben in den letzten Jahren zu großen Agrarprotesten, z. B. in Indien, geführt. Zudem tendiert die Abhängigkeit der Grundversorgung solcher Länder vom Weltmarkt dazu, dass dessen Preisschwankungen, z. B. durch Währungsabwertungen oder Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, sich unmittelbar in den betroffenen Ländern manifestieren – wo sie z. B. zum Arabischen Frühling führten.

Auch im Bergbau wurden fast alle ehemaligen Staatsbetriebe privatisiert und von einigen wenigen großen internationalen Konzernen übernommen. Auch diese sind nahtlos in die globalen Lieferketten integriert worden. Durch die Kontrolle seitens der multinationalen Agrar- und Rohstoffkonzerne verlieren die Volkswirtschaften des globalen Südens weitere Punkte bei den „Terms of Trade“, indem ihre internen Märkte weiter geschwächt werden und der Werttransfer in die imperialistischen Zentren ausgeweitet wird.

Diese Bedeutung des Weltmarktes für die globale Umverteilung sowie für Direktinvestitionen und Finanzmarkttransaktionen unterstreicht die Notwendigkeit für den Imperialismus, ein „Weltgeld“, heute den US-Dollar, durchzusetzen. Es gibt einen Angleichungsprozess zwischen den imperialistischen Ländern und eine starke gegenseitige Abhängigkeit durch gegenseitige Direktinvestitionen, die auch zu geringen Schwankungen zwischen ihren Währungen in der Zeit der Globalisierung geführt haben. Andererseits müssen die Länder mit abhängiger Entwicklung große Anstrengungen unternehmen, damit ihre Währungen gegenüber dem US-Dollar nicht abwerten – sonst werden die Kosten für die benötigten Weltmarktprodukte noch höher und es droht eine Inflation.

Daher müssen sie eine möglichst ausgeglichene Leistungsbilanz und die Bildung großer US-Dollarreserven anstreben. Beides erzwingt zwangsläufig eine so genannte neoliberale Politik, d. h. Öffnung für ausländische Investor:innen – vor allem als Profiteur:innen von Privatisierungen, Haushaltskürzungen –, niedrige Sozialbudgets, minimaler Spielraum für eigene wirtschaftliche Interventionen usw. Und wenn, wie geschehen, dennoch in größerem Umfang Kapital abgezogen wird, müssen die Devisenreserven vergeudet werden, um die eigene Währung zu stabilisieren. In den letzten Jahren haben wir dieses Drama in Ländern wie Brasilien, der Türkei und vor allem Argentinien erlebt.

Nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods (Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars) ist er selbst zu einem Objekt der Finanzspekulation geraten. Heute wird er vor allem durch Kreditvergabe und Anleihekäufe der US-Notenbank geschaffen, was bedeutet, dass seine Deckung von regelmäßigen, weltweiten Zinserträgen und der Entwicklung der Wertpapiermärkte abhängt. Das geht so lange gut, wie die großen Kapitalvermögen letztlich die Finanzinstitute im US/Euro-Raum/J als sichere Häfen für Investitionen bevorzugen.

Die Finanzmarktkrise 2007/2008 hat diese kurzzeitig erschüttert, aber letztlich nur zu deren Stärkung angesichts fehlender Alternativen (durch Rückkehr zu den klassischen Anlagemärkten) geführt. Die Kehrseite dieser weiteren Rettung der US-Dollarwirtschaft war die mit QE verbundene Ausweitung von Schulden und Geldmenge. Angesichts der stagnierenden Akkumulation und der niedrigen Profitraten ist jedoch weder ein rascher Abbau von Schuldverpflichtungen noch eine Ausweitung des Warenangebots im Vergleich zur Geldmenge zu erwarten. Die inflationäre Tendenz war also bereits in der Endphase der Globalisierung angelegt. Andererseits würde eine rasche Abschreibung von Billionen wertloser Geldeinlagen und Zombie-Unternehmen, z. B. nach einem erneuten Platzen der Immobilienblasen, sowie eine damit verbundene Abwertung von US-Dollar/Euro/Yen das derzeitige Finanzsystem wohl erneut in Frage stellen – und die Frage nach konkurrierenden Währungen aufwerfen.

Durch die Russlandsanktionen im Zuge des Ukrainekrieges dürfte diese Frage für viele Länder immer dringlicher werden: Die Beschlagnahme seiner US-Dollar-/Euro-/Yen-Devisenreserven und der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zur Abwicklung des internationalen Zahlungsverkehrs in US-Dollar haben hier die imperialistische Macht des US-Dollar-Systems überdeutlich gemacht. Daher führten die von China entwickelten Alternativen wie CIPS (internationale Zahlungsabwicklung für Banken, angesiedelt bei der Bank of China), China Union Pay (für globale Kreditkartensysteme), Universal Digital Payments Networks (basierend auf Blockchain) zu einer größeren Rolle Chinas bei globalen Finanzoperationen.

Zusammen mit seiner zunehmenden Bedeutung als Direktinvestor und internationaler Kreditgeber könnte dies den RMB zu einem Konkurrenten des bisher vom US-Dollar geprägten Systems machen. Gegenwärtig hat der US-Dollar seinen Anteil an den weltweiten Devisenreserven zwischen 2000 und heute von 70 % auf 59 % verringert, was jedoch durch einen Anstieg der Anteile von Euro, Pfund und Yen auf zusammen etwa 30 % kompensiert wurde. Der RMB gehört nur zu den 10 % „Nicht-Standard“-Währungen in den Devisendepots. Sein Anteil nimmt jedoch seit einigen Jahren stark zu. Bei einer erneuten Finanzkrise, einer Stabilisierung des chinesischen Finanzsektors und einer weiteren Expansion Chinas auf dem Weltmarkt könnten wir daher in eine Phase einer multilateralen Währungswelt ähnlich der 1970er Jahre (damals mit US-Dollar, Pfund, Yen und D-Mark) abgleiten, in der auch Euro und Yen wieder eine eigenständigere Rolle spielen könnten. Dies würde die globale Steuerungsfähigkeit der Krisenprozesse nicht gerade stärken und ähnlich wie in den 1970er und frühen 1980er Jahren zu einer Phase von Währungsturbulenzen, Inflations- und Rezessionsrisiken führen.

Die EU und Russland als die schwächsten Glieder des Imperialismus

Rein quantitativ gesehen ist die EU mit einem Anteil von 17,2 % am Welt-BIP der größte Wirtschaftsraum der Welt. China und die USA liegen nur etwa 1 % dahinter (die EU ist auch die mit Abstand größte Exporteurin weltweit). Sie ist jedoch durch innere Widersprüche gekennzeichnet. Im Zentrum der EU steht ein industriell starkes Deutschland, das die EU-Peripherie von Ost- bis Südeuropa als Zuliefererin für seine Produktionsketten nutzt. Gleichzeitig verfügt es weder über global bedeutendes Finanzkapital noch über politisch-militärisches Gewicht in der Sicherheits- und Außenpolitik. Im Vergleich zu Großbritannien (solange es noch Teil der EU war) und Frankreich ist dies umgekehrt. Ergänzt wird dieser Kern durch Italien und Spanien, die zu einer Zwischenkategorie gehören. Diese 4 – 5 führenden Nationen werden durch kleinere imperialistische Mächte ergänzt, von denen die meisten mit Deutschland einen Schwerpunkt in der Exportindustrie haben, sowie durch die Benelux-, die skandinavischen EU-Länder und Österreich. Gleichzeitig ist die EU ein Wirtschaftsblock, der eine Reihe von sehr unterschiedlichen Halbkolonien integriert: südeuropäische Länder wie Portugal, Griechenland, Zypern und Malta, Balkanländer, die sehr unterschiedlichen osteuropäischen Länder (mit Polen als einem der größten EU-Länder) und die baltischen Staaten.

Die Länder des Baltikums, Osteuropas und des Balkans, die aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten hervorgegangen sind, wurden während der Globalisierung stark in die Produktionsketten des deutschen, niederländischen und skandinavischen Imperialismus integriert. Dies führte zu einer Stabilisierung der Industriesektoren nach ihrem Zusammenbruch während der Restaurationsphase. Dies zeitigte jedoch auch große Einkommensunterschiede bei den Beschäftigten in den Exportindustrien und Dienstleistungsunternehmen, in den ruinierten öffentlichen Sektoren, in den von EU-Agrarsubventionen profitierenden landwirtschaftlichen Betrieben und in verlassenen, prekären Gebieten. Nachdem ein großer Teil der ehemaligen Bürokratie ins Lager der Bourgeoisie und des Managements gewechselt ist, gibt es seit den 2000er Jahren kaum noch nennenswerte linke Kräfte mit Massenunterstützung auf der politischen Bühne dieser Staaten. Die Gewerkschaften vertreten vor allem sektorale Schichten (z. B. recht erfolgreich in der Automobilindustrie mit hohen Lohnerhöhungen; dagegen eher verzweifelte Abwehrkämpfe im Gesundheitssektor).

Infolgedessen konnten in fast allen diesen Staaten politische Kräfte die Führung übernehmen, die populistisch vorgeben, die Interessen der Zurückgebliebenen zu vertreten, während sie gleichzeitig die Opposition mit einer stark nationalistischen und autoritären Politik klein halten. Während sie sich scheinbar im „Widerstand“ gegen die imperialistischen Herr:innen in Berlin, Brüssel und Co. befinden, sind sie, wenn es um „konservative Werte“ geht, die der Nation angeblich wichtig sind, umso radikaler in der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Besonders deutlich wurde dies während der Eurokrise, als die baltischen und osteuropäischen Regierungen die radikalsten Kritikerinnen „linker“ Projekte waren, die im Gegensatz zum Brüsseler Spardiktat standen.

Die Eurokrise brachte den Widerspruch deutlich zum Ausdruck, dass zwar eine gemeinsame Währung mit bestimmten Haushaltsregeln geschaffen wurde, die Akkumulationsmodelle dieser Länder aber keineswegs angeglichen waren. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands, der Niederlande und der skandinavischen Länder standen in der Krise in starkem Kontrast zum Gegenteil in Südeuropa. Dies führte zwangsläufig zu niedrigen Zinssätzen für die einen und enorm steigenden für die anderen. Die Weigerung des Europäischen Rates und der EZB, auf den Kapitalmärkten gegenzusteuern, führte unweigerlich zu einem Problem bei der Refinanzierung des enormen Schuldenanstiegs in der Zeit der Überakkumulation und im Gefolge der Großen Rezession. Um den Zusammenbruch Griechenlands oder den Austritt aus dem Euro zu vermeiden, wurden schließlich umfangreiche EU-Programme aufgelegt, um die Zahlungsfähigkeit gegenüber den privaten (meist europäischen) Gläubiger:innen zu sichern, was letztlich zu einer Verstaatlichung dieser Schuldenrisiken führte und den Südeuropäer:innen enorme Opfer für die jahrelange Bearbeitung dieser Schulden auferlegte. Der Bankrott des linken Widerstands dagegen, z. B. der Syriza-Regierung in Griechenland, führte daher zur Zementierung von Varianten neoliberaler Politik auch in Südeuropa – mit der nahezu zwangsläufigenFolge des Aufstiegs des Rechtspopulismus (z. B. in Italien und Spanien).

Der Aufstieg der europäischen Exportindustrien und ihrer internationalen Produktionsketten ist eng mit der zunehmenden Zusammenarbeit mit einem wieder erstarkenden russischen Imperialismus verbunden. Bereits in der Lissabon-Agenda wurde das Ziel eines mit dem US-Imperialismus konkurrenzfähigen EU-Blocks mit der Idee neuer Partnerschaften verknüpft. Im Hinblick auf China soll dies insbesondere für die deutsche Industrie durch eine engere Einbindung in die Produktions- und Handelsbeziehungen erreicht werden, die mittlerweile die mit den USA bei den Importen übertreffen. Der VW-Konzern generiert inzwischen 40 % seines Umsatzes in China.

Die Stabilisierung des russischen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch Ende der 1990er Jahre (der „Russlandkrise“) führte dazu, dass mit dem Putin-Regime nach der „wilden“ Privatisierungsphase eine Wiederherstellung der Staatsmacht gelang. Insbesondere die großen Energiekonzerne und die Banken wurden einer strengen staatlichen Kontrolle unterworfen, die auch ein starkes direktes Eingreifen beinhaltete (eine besondere Rolle spielte dabei die Kontrolle über die Justiz). Mit den Gewinnen der Energiekonzerne konnte auch das Leid der vielen Verlierer:innen der Restauration etwas gemildert werden (z. B. Rentner:innen). Putins Populismus gewann gerade durch die Unterstützung der ärmeren und ländlichen Bevölkerung an Stabilität und konnte so die Unzufriedenheit der verschwindend kleinen „Mittelschichten“ in Russland verkraften. Die Stabilisierung des russischen Imperialismus ist auch in Grafik 1 zu sehen, wo die Perioden starker Erholung (oder sogar Wiederherstellung) der Profitrate offensichtlich mit der gestiegenen Nachfrage nach Energie und Rohstoffen in den aufstrebenden Industriezyklen der EU und Chinas zu tun haben.

Insbesondere die starke Ausrichtung des deutschen Kapitals auf Russland („Energiepartnerschaft“, die Nord-Stream-Projekte usw.) sorgte in der EU, vor allem in den baltischen Staaten und in Osteuropa, lange Zeit für Kritik und Polemik. Dies deckte sich mit den Interessen der USA, die sich durch die EU in ihren Russland-China-Partnerschaften herausgefordert sahen. Länder wie Polen und die baltischen Staaten witterten die Chance, unabhängig von Berlin/Brüssel zu agieren und sich der Unterstützung des US-Imperialismus sicher zu sein, der auf dem europäischen Kontinent ohnehin durch die NATO engagiert ist, die in der Sicherheitspolitik eine weitaus größere Rolle spielt als die EU. Die USA wiederum nutzten vor allem ihre baltischen und osteuropäischen Verbündeten, um die Osterweiterung der NATO voranzutreiben und deren Aufrüstung zu fördern. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Konfrontation mit Putin-Russland musste auch die „Partnerschaft“ des EU-Projekts mit ihm als Konkurrenz zur US-Hegemonie erschüttern. In den bekannten „Pufferstaaten“ Ukraine, Belarus (Weißrussland), Georgien, wo es sowohl westliche als auch russische Machteinflüsse gab, musste diese Konfrontation schließlich in heiße Konflikte umschlagen.

Die genaueren Hintergründe und Verläufe dieser Konflikte werden an anderer Stelle behandelt. Wichtig ist hier, dass mit dem Ukrainekrieg das Projekt des EU-Blocks gegenüber Russland völlig gescheitert ist. Selbst die engen Beziehungen zu China geraten angesichts der engeren Beziehungen zwischen diesem und Russland ins Wanken. Das ist eine Katastrophe vor allem für den deutsch-französischen Kern der EU. Einerseits ist die Exportwirtschaft Deutschlands (aber auch der Niederlande und Österreichs) durch den Wegfall der russischen Energieimporte enorm betroffen. Der Anstieg der Energiepreise trifft Industrien, die bereits stark unter Versorgungsproblemen und Preisschocks leiden. Kurzfristig wird dies sicherlich zu Rezessionstendenzen führen. Insgesamt aber muss sich ein geschwächtes europäisches Kapital wiederum dem US-Kapital unterwerfen und sein Geschäftsmodell radikal auf eine atlantische Anbindung umstellen. Dies wird in der EU auch von den Regierungen in Polen und den baltischen Staaten vorangetrieben, die sich nun auf der Siegerstraße mit den USA sehen. Nach dem Brexit kann der britische Imperialismus auch eine neue Rolle als Vermittler in der Unterordnung unter die USA spielen und mit der Nordirlandfrage weiter an der Integrität der EU rütteln. Ein wirtschaftlich und politisch stark geschwächtes Kerneuropa um Deutschland, Frankreich und Italien ohne hegemoniales Projekt wird die Tendenzen, die EU zu einer immer loseren Interessengruppe zu transformieren, kaum aufhalten können – während die Integrationstendenzen immer schwächer werden.

Russland wird, wie immer der Krieg ausgeht, wirtschaftlich und politisch enorm geschwächt sein. Es hat seine wichtigsten Handelsbeziehungen verloren ebenso wie die Aussicht, über die EU und insbesondere Deutschland eine Alternative zum Bündnis mit China aufzubauen. Dies wird es dazu zwingen, seine zentralen Verbündeten, wahrscheinlich aus einer schwachen Position heraus, in China und Indien zu suchen. Dieses Bündnis trüge sicherlich das wirtschaftliche Potenzial, dem von den USA geführten Block zu widerstehen. Es ist jedoch noch nicht klar, ob China weiterhin versuchen könnte, in diesem Block zu operieren und seine wirtschaftlichen Beziehungen (die weitaus stärker sind als die zu Russland) auszubauen. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika und vielen Regionen Asiens kann China den US-Imperialismus bereits herausfordern. Ob Russland für China als Lieferant von Öl, Waffen und Söldner:innen wichtig ist, bleibt abzuwarten. Andererseits gibt es in einigen zentralasiatischen (sehr rohstoffreichen) Ländern und an den Tausenden von Kilometern gemeinsamer Grenze genügend Konfliktpunkte zwischen China und Russland.

Energie, Wachstum und ökologische Krise

Wie in vielen Studien bestätigt, ist eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und entsprechendem Anstieg des Energieverbrauchs aus globaler Sicht bis heute nicht gelungen. Das bedeutet, dass die „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“ entgegen den Ankündigungen unter dem Schlagwort „Green Economy“ auf der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 nicht gelungen ist. Die versprochenen „neuen Technologien“ und „effizienteren Wirtschaftsweisen“ ändern nichts an der Tatsache, dass der Zwang zu ständig steigender Kapitalakkumulation mit einem ebenso zunehmenden Energie- und Rohstoffhunger verbunden ist.

Grafik 6: Verhältnis BIP-Wachstum und Energieverbrauch

Abbildung 6 zeigt die enge Korrelation zwischen dem Wachstum des BIP (nach Angaben der Weltbank) und dem des Energieverbrauchs (gemessen in Litern Öläquivalenten, nach EPWT). Die Schwankungen des Energieverbrauchs sind stärker, da sie enger mit den physischen Zyklen in der Industrie verbunden sind (dennoch beträgt die Korrelation 0,75). Auch wenn der Anstieg des Energieverbrauchs in den USA im letzten Jahrzehnt geringer war (da auch die Wachstumsraten zurückgingen), wird dies weltweit durch seinen enormen Anstieg in China kompensiert (Wachstumsraten von bis zu 14 % im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre; danach immer noch Raten von bis zu 10 %) und, nachdem sich der Anstieg in China Mitte der 2010er Jahre verlangsamt hat, durch einen Anstieg des Energieverbrauchs insbesondere in den asiatischen Lieferländern für China wie Indonesien um 5 % von einem viel niedrigeren Niveau aus.

Während der weltweite Energieverbrauch im Globalisierungszeitraum (1990 – 2019) um rund 60 % gestiegen ist, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien nur von 22 % auf 29 % erhöht. Weltweit, insbesondere in den Halbkolonien, stand und steht die Wasserkraft im Vordergrund (16 %). Allerdings besitzen die großen Staudammprojekte auch enorme ökologische Nachteile (siehe die Auseinandersetzungen um den Grand Ethiopian Renaissance Dam oder den Staudamm am Rio San Francisco in Brasilien). Auch Photovoltaik und Windkraft erzeugen bei der Rohstoffgewinnung, der Produktion, dem Flächenverbrauch, der Lieferung und dem Betrieb Treibhausgase, sind also nicht 100 %ig „CO2-frei“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass im Zuge der Globalisierung die Treibhausgasemissionen insgesamt gestiegen sind, ebenso wie der Ressourcen- und Flächenverbrauch für die Energieerzeugung. Jede neue Wachstumswelle wäre daher im Kapitalismus mit neuen ökologischen Katastrophen verbunden. Entweder beschleunigt sich die Klimakatastrophe durch die Beibehaltung fossiler Energieträger oder der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien verbraucht massiv Land, Rohstoffe, Ökosysteme (z. B. Wasserkraft) oder Nahrungsmittel (z. B. für Biokraftstoffe). In jedem Fall wird die Frage nach einer nachhaltigen Wirtschaft, die die massenhafte Energieverschwendung durch eine effiziente Planung im globalen Maßstab ersetzt, zunehmend zu einer des Überlebens für die Menschheit. Die in der ökologischen Bewegung verbreitete Illusion einer „Gesellschaft ohne Wachstum“ („Degrowth“) oder der „Entkopplung von Wachstum und Energieverbrauch“ („Green Economy“) wird sich im Kapitalismus nicht realisieren lassen. Die unmittelbare Folge der Grenzen des bestehenden Energiesystems und der Umstellung auf erneuerbare Energien wird ein langfristiger Anstieg der Energiepreise sein. Die „billige Energie“, auf der die Zeit der Globalisierung basierte (z. B. durch die Autarkie der USA durch steigenden Verbrauch fossiler Ressourcen, billiges russisches Öl und Gas), wird kaum wiederkommen.

Corona und Ukrainekrieg als Krisenauslöser

Bereits 2019 deuteten viele Indikatoren auf ein erneutes Abgleiten der Weltwirtschaft in eine globale Rezession und eine tiefere Krise zu Beginn der 2020er Jahre hin. Auch wir haben diese Erwartung in unsere Perspektiven aufgenommen. Im Jahr 2018 schrieben wir: „Die Überwindung des stagnierenden Aufschwungs 2010 – 2016 und die gravierenden Widersprüche des aktuellen Aufschwungs bedeuten, dass wir auf eine nächste Rezession vorbereitet sein müssen, die um das Jahr 2020 eintreten könnte. Die Probleme der Schwellenländer und die Handelskonflikte machen es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Rezession handeln wird, die nicht auf einige Länder oder Regionen beschränkt sein wird. Wie tief die Krise sein wird, hängt von der Verlangsamung in China, den Turbulenzen in den Schwellenländern, der EU-Krise und sicherlich von den Schockwellen der Schulden- und Finanzkrise ab.“ Wir hatten die kurze Erholungsphase nach 2016 bereits als Ergebnis der Rückkehr des Kapitals gesehen, die nicht auf einer nachhaltigen Verbesserung der Rentabilität und Modernisierungsinvestitionen beruhte, sondern durch Probleme wie Schwellenländerkrisen, verstärkte Deglobalisierungstendenzen, das Abwürgen des chinesischen Aufschwungs und die anhaltende EU-Krise ins Gegenteil verkehrt werden würde. Die Prognose war insgesamt nicht falsch – nur der Auslöser der Krise im Jahr 2020 war ein ganz anderer, der von kaum jemandem vorhergesehen werden konnte.

Wie so oft in der Geschichte des Kapitalismus war es ein äußerer Schock, der die Krise auslöste, aber letztlich nur zum Beschleuniger der tieferen Krisenmomente wurde: das plötzliche Auftreten einer sich schnell ausbreitenden Pandemie Anfang 2020, die durch das hochansteckende Coronavirus (Sars-CoV-2) verursacht wurde und zu einer lebensbedrohlichen Krankheit, Covid-19, führte. Das Auftreten von Pandemien ist für die kapitalistische Epoche nichts Neues (Spanische Grippe), wurde aber durch die Fortschritte in der Medizin und insbesondere Mikrobiologie als reale Gefahr stark aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Die industriellen Formen der Massentierhaltung und der weltweite Handel mit exotischen Tieren sind ideale Brutstätten für Erreger, die vom Tier auf den Menschen überspringen (Zoonose). Die genauen Ursprünge des Erregers Sars-CoV-2, der erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan registriert wurde, werden noch erforscht. Klar ist jedoch, dass die starke zwischenmenschliche Interaktion auf internationaler Ebene aufgrund der Globalisierung dazu geführt hat, dass dieses Virus, das sich durch die Luft verbreitet, überall auf dem Globus auftaucht.

Tatsächlich erwiesen sich die üblichen epidemiologischen Schutzmaßnahmen im internationalen Reiseverkehr als völlig unzureichend. In nur einem Monat war im Frühjahr 2020 praktisch jedes Land der Welt mit einem Ausbruch konfrontiert. Es wurde auch schnell klar, dass ein ausreichend großer sofort zu einem exponentiellen Wachstum der Viruserkrankungen führen würde, was in kurzer Zeit die Kapazitäten der intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten fast aller bestehenden Gesundheitssysteme übersteigen würde. Die drei bekannten Reaktionsmodelle bestanden in (1) der Entwicklung einer Herdenimmunität, indem die Infektion durch die Bevölkerung weitergegeben wird; (2) strengen Quarantänemaßnahmen zur Isolierung der Ausbrüche und damit zum Austrocknen der Infektion (Null-Covid); (3) der Begrenzung des Anstiegs der Infektion auf ein Niveau, das die Gesundheitssysteme kontrollieren können, in der Hoffnung auf frühzeitige Einführung eines wirksamen Impfstoffs.

Alle diese Strategien trugen auf ihre Weise ernste wirtschaftliche Folgen: Der Ansatz der Herdenimmunität führt zu vielen Krankheiten und Todesfällen und natürlich zu Produktionsausfällen. Die Null-Covid-Strategie in China schien zunächst äußerst erfolgreich zu sein, da sie die Sperrungen auf einige wenige, „kleinere“ Zentren beschränkte, während der Großteil der chinesischen Wirtschaft weiterlaufen konnte. Doch schließlich waren im Jahr 2022 auch sehr große Wirtschaftszentren betroffen, in denen die strengen Isolierungsmaßnahmen selbst mit den autoritären Methoden des chinesischen Seuchenschutzes nur schwer durchsetzbar waren, was zu einer Kettenreaktion von Einbrüchen der Wirtschaftstätigkeit in ganz China führte.

In den westlichen imperialistischen Ländern wurde zumeist die „Eindämmungs“strategie verfolgt, eine Mischung aus Kontakt- und Reisebeschränkungen und kleineren Abriegelungen, die nur eine sehr kurzfristige Unterbrechung der Produktion zum Ziel hatten. Die geringeren Restriktionen führten zwar zu weniger direkten wirtschaftlichen Folgen, machten das Virus aber auch langfristig „heimischer“ und förderten zusammen mit der Strategie der Herdenimmunität weltweit eine rasche Abfolge neuerer Mutationen des Virus, die mit Kontaktbeschränkungsmaßnahmen immer schwerer zu bekämpfen sind. Eine Entspannung ergab sich erst durch die überraschend schnelle Entwicklung wirksamer Impfstoffe, die bereits Ende 2020 klinisch erfolgreich getestet wurden. Hier wiederum begann die irrationale, global ungeplante Herangehensweise des Kapitalismus an ein weltweites Problem zu wirken: Anstatt Impfstoffe systematisch und je nach Ansteckungsdichte weltweit zu verteilen, wurde ein Großteil von den westlichen imperialistischen Zentren aufgekauft.

In diesen Ländern konnte zwar eine gewisse Beruhigung der Coronapandemie erreicht werden, aber vor allem im globalen Süden (der mit Testkits bereits schlecht versorgt war) war die Versorgung, vor allem für die ärmeren Bevölkerungsschichten, zu gering, um einen angemessenen Schutz zu bieten. Infolgedessen kam es 2021 zu weiteren Todesfällen und die Möglichkeit neuer Mutationen und Infektionswellen auf der ganzen Welt wurde ebenfalls vorbereitet. Während viele imperialistische Länder Mitte 2021 bereits das Ende der Pandemie feierten, wurde die Welt in der zweiten Hälfte des Jahres erneut von einer heftigen Infektionswelle getroffen. Mit den Omikronvarianten und den erreichten Impfquoten hat sich die Lage seit dem Frühjahr 2022 zwar beruhigt, von einer Entwarnung kann aber keine Rede sein. Nach Ansicht der meisten Expert:innen ist das Virus nicht endemisch geworden (d. h. auf das Niveau einer normalen Grippewelle gesunken). Es kann immer noch eine gefährlichere, ansteckende Variante von Sars-CoV-2 auftreten, die eine weitere Welle auslösen könnte, die die Intensivstationen wieder füllt. Es kann also nur eine vorläufige wirtschaftliche Bilanz gezogen werden.

Abbildung 7: Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden nach 2019

Im Gegensatz zur Großen Rezession von 2008/2009 wurde die Krise von 2020/2021 nicht direkt durch die inneren Widersprüche der Kapitalakkumulation ausgelöst. Aber die Unfähigkeit des Kapitalismus, diese Krise tatsächlich auf globaler Ebene zu bekämpfen, bedeutete, dass der externe Schock der Pandemie zum Verstärker der bereits bestehenden Krisentendenz geriet. Die unmittelbare Auswirkung der Pandemie im Frühjahr 2020 bestand darin, dass innerhalb von ein bis zwei Monaten die Produktions- und Handelsströme fast überall auf der Welt zum Erliegen kamen (aufgrund von verschiedenen Schließungen, Einschränkungen am Arbeitsplatz, Grenzschließungen usw.). Auch wenn in der Folgezeit mit Ausnahme Chinas keine drastischen Maßnahmen ergriffen wurden, so wurden doch einige Wirtschaftszweige langfristig eingeschränkt. Vor allem kam es zu einem starken Einbruch der geleisteten Arbeitsstunden aufgrund von Krankheiten, der viele Monate anhielt. Abbildung 7 zeigt den von der ILO gemessenen Einbruch der globalen Arbeitsstunden nach Ende 2019. Er geriet im zweiten Quartal 2020 zum stärksten, der jemals gemessen wurde, sogar schlimmer als in den Jahren 2008/2009: Während die durchschnittliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2020 um 2,6 Stunden sank, waren es in der „Großen Rezession“ nur 0,6 Stunden (ILO Monitor Covid-19, 2021). Der Einbruch war regional deutlich gestaffelt: Lateinamerika, Südostasien, Nordafrika und Südeuropa waren die Länder mit den größten Arbeitszeitverlusten.

Vor allem in Anbetracht des letztgenannten Punktes ist es nicht verwunderlich, dass es zu enormen Einbrüchen in den globalen Lieferketten und im Welthandel kam. Der Welthandel mit Gütern ging bis 2020 um 8,2 % zurück, der mit Dienstleistungen sogar um 16,7 %. Die Störungen der „globalen Wertschöpfungsketten“ (GVC) sind schwieriger zu quantifizieren. Studien der WTO zeigen jedoch, dass die GVC in Korrelation mit dem Welthandel Versorgungsprobleme aufwiesen, die Störung aber viel langfristiger anhielt (asynchrone Wellen in den verschiedenen Regionen, häufige Unterbrechungen der Transportketten, Dominoeffekte bei Versorgungskettenproblemen, Nachfrageschwankungen usw.). Darüber hinaus rückte ein weiteres wichtiges Moment in den Vordergrund: Bereits in der kurzfristigen Erholungsphase der Industrien des klassischen Imperialismus nach 2016 begann das Phänomen des „Reshoring“ (im Gegensatz zum „Offshoring“ Anfang der 2000er Jahre): Durch verstärkte Automatisierung und KI können westliche Industrien im Rahmen der „Industrie 4.0“ angesichts gestiegener Transportkosten billigere Arbeitskräfte in Halbkolonien einsetzen. Im Zuge der Versorgungsrisiken in der Coronakrise hat sich diese Tendenz zum Reshoring nun offensichtlich verstärkt – um mit dem Ukraine-Krieg nochmals beschleunigt zu werden.

Ursprünglich verkündeten die meisten Wirtschaftsforscher:innen zu Beginn der Coronakrise, dass nach einem kurzen Produktionsstillstand, der durch staatliche Hilfen abgefedert werden konnte, das Wachstum der Vorkrisenzeit nach einer ebenso schnellen Erholungsphase nach dem scharfen Abschwung nahtlos in einer Art V-Form fortgesetzt werden könne. Zu Beginn des Jahres 2021 schien sich diese optimistische Prognose zusammen mit dem Beginn der Impfkampagnen zumindest in den imperialistischen Ländern zu erfüllen. Doch in der zweiten Hälfte des Jahres schlug nicht nur eine neue Coronawelle zu, sondern auch die langfristigen Probleme im Welthandel und in den globalen Wertschöpfungsketten machten sich bemerkbar. So klagten drei Viertel der deutschen Industriebetriebe über wesentliche Lieferprobleme (VW musste wegen fehlender Teile auf Kurzarbeit zurückgreifen), weltweite Produktionsausfälle, gestiegene Rohstoff- und Energiepreise usw. Der versprochene Aufschwung brach also sofort zusammen. Dies hatte aber noch eine weitere unangenehme Folge: Die zu Beginn der Coronakrise ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft bewahrten viele Unternehmen vor dem Zusammenbruch und hielten die Nachfrage nach Konsumgütern auf hohem Niveau – allerdings in der Annahme, dass Produktion und Welthandel bald wieder in Gang kommen und diese Nachfrage dann befriedigen könnten. Das fehlende Wachstum des Angebots führte im Jahr 2021 zu einem Nachfrageüberhang, der zu einem Preisanstieg führen musste.

Es sind also nicht die „lockere Geldpolitik“, die „mangelnde Haushaltsdisziplin“ oder gar „zu hohe Löhne“, die die Inflation auf den Stand der 1970er Jahre zurückbrachten, sondern ist eindeutig das Problem der Stagnation des globalen Produktionsprozesses, das zu einem Angebotsschock führte.  In diesem Punkt können wir Michael Roberts zustimmen: „Die kapitalistische Produktion und die Investitionen verlangsamten sich, weil die Rentabilität des Kapitals in den großen Volkswirtschaften vor der Pandemie nahezu historische Tiefstände erreicht hatte. Die Erholung der Investitionen und der Produktion nach COVID war nur ein ,Zuckerrausch’, als sich die Volkswirtschaften wieder öffneten und aufgestaute Ausgaben freigesetzt wurden. Jetzt wird deutlich, dass das Produktions- und Investitionswachstum in den großen Volkswirtschaften einfach zu schwach ist, um auf die wiederbelebte Nachfrage zu reagieren.  Daher ist die Inflation in die Höhe geschossen“ (M. Roberts,  https://thenextrecession.wordpress.com/2022/06/18/a-tightening-world/).

Grafik 8: Verschuldung der Industrieländer, in Prozent des BIP (1970 – 1918)

Darüber hinaus gibt es einen weiteren wichtigen Aspekt der Krisenverschärfung: die Rolle der Schulden. Die Krisenpolitik nach der Großen Rezession hat die globale Schuldenlast enorm erhöht. Zu Beginn der Coronakrise betrug das globale private und öffentliche Schuldenvolumen das 2,6-fache des Welt-BIP (siehe Grafik 8: Verhältnis zwischen Schulden und BIP, nach „Die Volkswirtschaft“, einer Publikation des Schweizer Wirtschaftsministeriums). Mit den Rettungspaketen, Anleihekäufen, Wirtschaftshilfen usw. der Coronawirtschaftspolitik beträgt die Schuldenlast heute mehr als das Dreifache des Welt-BIP. Für imperialistische Länder, deren privates Kapitalvermögen das 4- bis 6-Fache des jeweiligen nationalen BIP ausmacht, mag das noch finanzierbar sein – in Halbkolonien muss es jedoch zu den bekannten Mustern von Schuldenkrisen führen. Auch in den imperialistischen Ländern zieht dies einen wachsenden Anteil an Kapital nach sich, das in Anlagen mit geringer Rendite gebunden ist. Laut Bloomberg stieg der Index der in Grafik 3 erwähnten Zombie-Unternehmen im Jahr 2022 auf über 20 % (31/05/22 „Zombie Firms Face Slow Death in US as Era of Easy Credit Ends“). Das bedeutet, dass das Kapital, das jetzt für Reshoring, „Industrie 4.0“ oder die Energiewende benötigt würde, fehlt. Zudem treibt die schuldenfinanzierte Nachfrage die Inflation weiter auf hohem Niveau an. Eine weitere Ausweitung des Schuldenregimes stößt daher derzeit auf den erbitterten Widerstand mächtiger Kapitalfraktionen, insbesondere der nach profitablen Investitionen suchenden Finanz- sowie der profitablen Industriekapitale. Diese drängten die Zentralbanken zu einem Ende des „Quantitative Easing“.

Die Einstellung der Anleihekäufe für angeschlagene Unternehmen und die Anhebung der Zinssätze, auf die sich die großen Zentralbanken nun konzentrieren (QT; Quantitative Tightening), wird unweigerlich zu einem mehr oder weniger schnellen Ausfall der Zombie-Unternehmen führen. Da es sich dabei um große Unternehmen, z. B. in der Luftfahrt- oder Energiebranche, handelt, werden sich sicherlich wieder einige die Frage stellen, ob der Zusammenbruch eines Unternehmens eine Kettenreaktion wie beim Zusammenbruch von Lehman im Jahr 2008 auslösen könnte. Die Zentralbanken und Regierungen werden die nächsten 2 – 3 Jahre damit verbringen, die verschuldeten Unternehmen abzuwickeln, ohne dass es zu einer Pleitewelle oder dem Platzen von Finanzblasen kommt. Die Bankenkrise vom März 2023 markierte bereits ein deutliches Anzeichen der Anpassungsprobleme der Geschäftsbanken an die restriktivere Geldpolitik der Zentralbanken (Zusammenbruch der zweitgrößten Schweizer Bank). Andererseits könnte ein zu langsames Tempo den Trend zur Stagflation weiter verstärken. Denn eine steigende Inflation könnte zusammen mit den bereits bestehenden Wachstumshemmnissen schnell zu einer Abwärtsspirale aus ungünstigen Inputkosten und mangelnden Investitionen führen, die auch durch steigende Kreditzinsen behindert werden. Die Zusammenbruchsszenarien hingegen können zu rasch steigender Arbeitslosigkeit, Ausfall von Produktions- und Lieferketten und schließlich zusätzlich über eine Angebots- zu einer Nachfragekrise führen – also zu Deflation und Stagnation, d. h. zu einer Depression. In jedem Fall kommt das Kapital unter diesen Bedingungen nicht mehr umhin, seine Überakkumulationskrise durch Kapitalvernichtung zu lösen. Ob dies nun durch Stagflation, Depression oder ein gefährliches Manöver dazwischen geschieht und wie die Ausmaße regional unterschiedlich ausfallen werden, sicher ist, dass jede dieser Lösungen mit massiven Verschlechterungen für die Arbeiter:innenklasse und heftigen Angriffen auf ihre Errungenschaften verbunden sein wird.

Wie auch immer sich die Inflation entwickelt, die Höhe der Löhne und Sozialleistungen bildet sicher nicht ihre Ursache. Die Arbeit„nehmer“:innen haben im letzten Jahr damit begonnen, ihre in einigen Bereichen durch Reshoring und „angespannte Arbeitsmärkte“ gestärkte Verhandlungsposition für Kämpfe zum Schutz des Lohnniveaus zu nutzen. Insbesondere darf man sich durch das Gerede von der „Lohn-Preis-Spirale“ nicht dazu drängen lassen, auf einen nachhaltigen Inflationsausgleich zu verzichten: Jede kurzfristige Entlastung, die jetzt angeboten wird, führt nur dazu, dass bei einer weiteren Verschärfung die Kampfkraft zur Abwehr weiterer Lohneinbußen noch schlechter ausfällt. Der Verzicht auf einen Inflationsausgleich ist keine „Inflationsbekämpfung“, sondern ein Mittel zur Gewinnsteigerung (so wie bestimmte staatliche Subventionen für die Mineralölindustrie in Deutschland nicht zur Senkung der Benzinpreise, sondern zur „Förderung“ der Gewinne der Unternehmen eingesetzt wurden).

In Zeiten der Inflation müssen die Preissteigerungen durch Klassenkampf gegen die Profite aufgefangen werden, sei es durch gleitende Lohntarife, Preiskontrollen oder Gewinnsteuern – jeweils verbunden mit entsprechenden Kontrollgremien der Arbeiter:innenklasse. Da sich die Preissteigerungen vor allem um die Bereiche Energie, Wohnen und Verkehr drehen, müssen auch hier weitere Kämpfe geführt werden, für die Verstaatlichung der Energieunternehmen, der Wohnungsbaugesellschaften und für den Ausbau des kostenlosen öffentlichen Verkehrs. Wir müssen uns auf die kommende Welle von Betriebsschließungen und Entlassungen vorbereiten, damit nicht jeder einzelne Betrieb auf verlorenem Posten für sich kämpft. Die Krise muss mit einer Welle von Besetzungen, Streiks, letztlich dem Generalstreik, um die Verteilung der immer noch steigenden Arbeit auf alle, verbunden mit einer entsprechenden Anpassung der Wochenarbeitszeit, einhergehen.

Krieg und Kriegswirtschaft

Natürlich wird die derzeitige Krisenphase dadurch verschärft, dass die neue Blockbildung der imperialistischen Mächte zunehmend auf eine militärische Konfrontation drängt. Nachdem das Ende der Coronakrise Anfang 2022 die schlimmsten wirtschaftlichen Einbrüche abzumildern schien, begann Russland im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dies hat zu einer Konfrontation zwischen dem „westlichen“ und russischen Imperialismus geführt, die es seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr gegeben hat. Die EU hat gemeinsam mit der NATO und den USA weitreichende Wirtschaftssanktionen ergriffen, die auch Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft nach sich ziehen. Länder wie China, Indien oder Brasilien, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, sind von den Sekundärsanktionen nicht betroffen, müssen aber eine langfristige Schwächung ihrer Handelsbeziehungen mit „dem Westen“ befürchten, insbesondere was China betrifft. Kurzfristig werden China und Indien jedoch vom billigeren Zugang zu russischem Gas, Öl, Rohstoffen und landwirtschaftlichen Erzeugnissen profitieren.

Die Sanktionen beinhalten zum einen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehrssystem SWIFT und die Sperrung von russischen Devisenkonten in „westlichen“ Währungen. Damit sind Direktinvestitionen in Russland unmöglich bzw. weitgehend eingestellt worden. Ebenso ist der Handel praktisch zum Erliegen gekommen – mit der wichtigen Ausnahme von Gas und Öl, da ein sofortiger Stopp in den meisten EU-Ländern akut zu einer tiefen Rezession geführt hätte. Die Wirtschaftssanktionen betreffen also hauptsächlich die EU-Imperialist:innen selbst. Während Russland große Probleme mit der Einfuhr westlicher Hochtechnologie bekommt, kann es sein Öl weiterhin zu guten Preisen an die nicht sanktionierenden Länder liefern. Hinzu gesellt sich das Problem des Weltagrarmarktes: Vor dem Krieg belegten Russland und die Ukraine einen Anteil von 15,8 % bzw. 9,8 % am weltweiten Getreideexport – beide sind durch die Blockade der Schwarzmeerhäfen und des Bosporus gefährdet bzw. extrem eingeschränkt. Angesichts des oben beschriebenen Wandels in den Subsistenzwirtschaften der Halbkolonien drohen in vielen Ländern des globalen Südens Hungerkrisen. Während der Weltmarktindikator „Food Price Index“ während der Coronakrise von 100 % in den Jahren 2014 – 2016 auf über 150 anstieg, nahm er während des Ukrainekrieges auf 250 zu. Auch die Energiepreisindizes sind durch den Krieg von ihrem bereits hohen Coronaniveau aus so stark angestiegen, dass die EU-Industrie allein in diesem Jahr voraussichtlich 30 % höhere Energiekosten zahlen muss (sofern es nicht noch schlimmer kommt). Damit hat der Krieg die bereits bestehende inflationäre Tendenz weiter beschleunigt. Insbesondere für das EU-Kapital stellen der Energiepreisschock und der Abbruch der Handelsbeziehungen mit Russland einen weiteren Krisen- und Inflationsbeschleuniger dar. Mit dem „Krieg für die Freiheit in Europa“ verfügt man aber auch über einen ideologischen Vorteil, um alle Krisensymptome Russland in die Schuhe zu schieben und die wirtschaftlichen Angriffe auf soziale Errungenschaften als „patriotische“ Notwendigkeiten zu tarnen.

Natürlich bringt der Krieg auch direkte wirtschaftliche Auswirkungen mit sich: Die Ukraine selbst ist natürlich das Hauptopfer der massiven Zerstörung und der extremen menschlichen Verluste. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des ohnehin bitterarmen und hoch verschuldeten Landes (die Ukraine hat das halbe Pro-Kopf-Einkommen Bulgariens, des bisher ärmsten EU-Lands, und war bereits Opfer mehrerer IWF-Umschuldungsprogramme) tragen wird, ist mehr als unklar und wird in einem EU-Beitrittsprozess Milliarden verschlingen, mit entsprechenden Auflagen für einen mehr oder weniger offenen Kolonialstatus des Landes in der EU. Für Russland bedeutet der Krieg jeden Tag Kosten in Milliardenhöhe (von den menschlichen Opfern ganz zu schweigen). Es ist durchaus möglich, dass es nach dem Krieg angesichts der Kosten und der Folgen von Sanktionen in den Staatsbankrott schlittert, je nachdem wie lange er dauert. Ein möglicher Wechsel an der Spitze des Staates macht aber eine weniger nationalistische Ausrichtung Russlands keineswegs wahrscheinlicher. Sicherlich muss es sich finanziell, handelspolitisch und auch bei der militärischen Ausrüstung sehr stark an China anlehnen, um überhaupt als (untergeordnete) imperialistische Macht überleben zu können.

Obwohl die westlichen imperialistischen Mächte noch nicht direkt mit kämpfenden Einheiten in der Ukraine zusammengearbeitet haben (auch wenn freiwillige „Ex-Soldat:innen“ ermutigt werden), haben sie die ukrainischen Streitkräfte bereits vor dem Krieg massiv ausgerüstet und ausgebildet und sie im Krieg mit Waffen, Logistik und Informationsdiensten sowie mit der Ausbildung an den neueren Waffensystemen unterstützt. Darüber hinaus wurde der Krieg genutzt, um die Präsenz der NATO-Truppen und aller Arten von Waffen entlang der Ostfront auszubauen. Mehrere EU-Staaten haben umfangreiche Aufrüstungsprogramme beschlossen (darunter auch Deutschland). Nach Angaben der Washington Post haben allein die USA von 2014 bis 2021, also bereits vor dem Krieg, 2,7 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt. Im ersten Jahr des Ukrainekriegs haben die USA 48 Milliarden US-Dollar an finanzieller und militärischer Hilfe geleistet, während die EU-Staaten (und die Union) 52 Milliarden US-Dollar aufbrachten. Zusammen mit der Hilfe des Vereinigten Königreichs und anderer Länder (Kanada, Australien, … ) hat die Ukraine im ersten Kriegsjahr eine Hilfe erhalten, die dem BIP entspricht, das sie im Jahr vor dem Krieg produziert hat. Allein die USA haben seit Beginn des Krieges bis November 2022 direkte Militärhilfe in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar geleistet (alle diese Daten stammen aus dem „Ukraine Support Monitor“ des „Instituts der deutschen Wirtschaft“, das der deutschen Regierung und dem Deutschen Arbeit„geber“verband nahesteht). Im Vergleich dazu haben die USA in einem durchschnittlichen Jahr vor 2021 280 Millionen US-Dollar in Afghanistan investiert.

Der Großteil der bis Ende 2022 an die Ukraine gelieferten Ausrüstung stammte aus den Beständen westlicher Armeen. Dies ging mit einer langfristigen Erneuerung mit moderneren Waffen in diesen einher. Schon vor dem Krieg gehörte die Rüstungsindustrie im Westen zu den am schnellsten wachsenden Bereichen der imperialistischen Länder. Während der Coronakrise wuchs sie im Jahr 2021 um 2 %. Im ersten Quartal 2022 konnten Panzer- und Artilleriehersteller:innen wie Rheinmetall ihre Gewinnspanne um 10 % steigern. Doch das Beste für diese Unternehmen steht noch bevor. Ende 2022 wird immer deutlicher, dass die Lieferungen aus Lagerbeständen für die ukrainische Armee nicht ausreichen. Sie verbraucht pro Tag Munition, die den Vorrat ganzer NATO-Armeen aufbraucht, so dass Anfang 2023 ein erheblicher Munitionsmangel entsteht, vor allem für die moderneren Waffen (z. B. die Leopardpanzer, die Munition aus Schweizer Produktionsstätten benötigen würden). Dies erfordert nun eine direkte Lieferung aus westlichen Produktionsstätten. Normalerweise dauert es bei komplexeren Waffen 28 Monate von der Bestellung bis zur Lieferung. Einiges davon war zwar bereits vorbereitet, aber die NATO-Regierungen haben nicht mit einem so langen Zermürbungskrieg gerechnet – vor allem nicht mit der Menge an konventionellen Waffensystemen wie Panzern und Artillerie. Die westliche Führung appelliert nun an die Industrie, riesige Rüstungsprojekte auf die Beine zu stellen, um Vorräte anzuhäufen und schnell auf den Kriegsschauplatz liefern zu können. Die Vertreter:innen der Rüstungsindustrie reagierten eifrig, verwiesen aber gleichzeitig auf die gestiegenen Produktionskosten und verlangten strenge Zahlungsverpflichtungen. Während also die militärische Unterstützung bisher nur über die Lieferung aus Vorratsdepots finanziert wurde, wird deren Kalkulation nun direkt zur Staatsverschuldung beitragen.

Da die westlichen Imperialist:innen also auf eine Kriegswirtschaft zusteuern, wird dies spezifische Auswirkungen auf die weltwirtschaftlichen Krisentendenzen mit sich führen. Einerseits hat das Wachstum der Rüstungsindustrien kurzfristige Auswirkungen in Form von Nachfrage- und Beschäftigungswachstum. Da es sich dabei aber um unproduktive Arbeit für den Kapitalkreislauf handelt, löst sie in keiner Weise die langfristigen Probleme der Kapitalverwertung. Dies kommt in der Frage der Finanzierung dieses Wachstums zum Ausdruck. Wie beim Vietnamkrieg in den 1960er/1970er Jahren ist nicht zu erwarten, dass die Kriegsanstrengungen über Steuererhöhungen finanziert werden. Er (wie später auch Afghanistan) wurde vor allem über eine massive Erhöhung der Staatsverschuldung und eine Ausweitung der verfügbaren Geldmenge finanziert. Der Vietnamkrieg verkörperte somit den Beginn der ersten Inflationsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg. Da wir bereits in das zweite Jahr des Ukrainekrieges mit hohen Inflationsraten und einem astronomischen Schuldenstand eintreten, wird der Drang zur Kriegswirtschaft das QT-Projekt des Schulden- und Inflationsabbaus konterkarieren. Hinzu kommen die unmittelbaren Probleme der Rüstungsindustrie selbst: Wie alle Industrien weist sie Versorgungsprobleme (z. B. im wichtigen Bereich der Halbleiter oder Rohstoffe) durch Preissteigerungen bei Vorprodukten und Mangel an qualifizierten Arbeitskräften auf. Letzteres hängt auch mit der Notwendigkeit zusammen, die Produktionsketten der Rüstungsindustrie in den „zuverlässigen“ imperialistischen Kern zu verlagern. Nicht zuletzt gehört sie auch zu den größten Produzentinnen von Treibhausgasen und muss vor allem in den imperialistischen Kernländern zunehmende Restriktionen einhalten. All dies führt zu explodierenden Kosten des neuen Wettrüstens. Wie im Fall des Vietnamkriegs könnten die hohen wirtschaftlichen Risiken, die auf dem Spiel stehen, die USA dazu veranlassen, eine direkte Beteiligung in Betracht zu ziehen, um einen schnellen Sieg sicherzustellen.

Der Faktor China

Nach eher pessimistischen Prognosen für 2023 in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres sind die bürgerlichen Ökonom:innen seit Anfang dieses Jahres wieder erstaunlich optimistisch. Während sie in allen großen imperialistischen Volkswirtschaften rezessive Tendenzen sahen, erwarten sie jetzt nur noch im Vereinigten Königreich einen Einbruch. Während sie einen Trend zu einem globalen Wachstum von unter 2,7 % voraussagten, reden sie nun über einen in Richtung 3 % – eine mögliche „sanfte Landung“ nach der „Überhitzung nach der Pandemie“. Eine Grundlage für den Optimismus sind Daten über sinkende Inflationsraten, insbesondere fallende Preise im Energie- und Wohnungssektor. Hinzu kommen Daten über hohe Beschäftigungsquoten und abnehmende Probleme in den Lieferketten. Sollten wir also eine Rückkehr zu den stetigen Wachstumstrends der Zeit vor der Pandemie erwarten, wie es Weltbank und IWF suggerieren?

Wie wir bereits erwähnt haben, gibt es mehrere Probleme mit dieser Perspektive: Erstens war dieses „vorpandemische Wachstumsniveau“ bereits eines der schlechtesten in der Geschichte des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist Ausdruck eines historisch niedrigen Produktivitäts- und Rentabilitätsniveaus, das keine gute Grundlage für eine Zunahme der für ein nachhaltiges kapitalistisches Wachstum erforderlichen Investitionen darstellt. Zweitens ist die derzeitige Preissenkung Ausdruck des Nachfragerückgangs aufgrund der weltweit sinkenden Wachstumsraten am Ende des letzten Jahres (Wachstum von nur 0 bis 1 % in den meisten imperialistischen Ländern) – und insbesondere des historisch niedrigen Wachstums in China (2 % im letzten Quartal). Gerade letzteres hatte auch einen enormen Einfluss auf den Rückgang der Ölpreise. Drittens hat sich der Anstieg der Zinssätze auf das Investitions- und Ausgabenniveau ausgewirkt, so dass die sinkende Nachfrage auch Auswirkungen auf die Preise hatte. Viertens haben die notwendigen Lohnkämpfe der Arbeiter:innenklasse, um zu verhindern, dass die Krise über die Inflation bezahlt wird, die Löhne in einer Weise erhöht, die sich im Jahr 2023 auf das Preisniveau auswirken wird. Fünftens werden die genannten Auswirkungen der Kriegswirtschaft erst im Jahr 2023 spürbar werden. All diese gegensätzlichen Elemente sowie die Probleme bei der Umstellung der Volkswirtschaften auf Reshoring und die Abkehr von fossilen Brennstoffen machen diese optimistischen Aussichten ziemlich obsolet.

Aber es gibt noch einen viel wichtigeren Faktor: China. Es hat die Coronakrise in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 schneller als erwartet überwunden. Wirtschaftswissenschaftler:innen erwarten, dass es in diesem Jahr auf einen Wachstumspfad von bis zu 4 bis 5 % zurückkehren wird. Dies ist wichtig für exportorientierte Volkswirtschaften, die ansonsten mit Märkten konfrontiert sind, die mit Wachstumsraten von 1 % zu kämpfen haben. Der Druck, die chinesische Expansion wieder als Vehikel für die eigene Erholung zu nutzen, wird groß sein. Dies geht einher mit einer wachsenden politischen Nutzung der wirtschaftlichen Macht durch die chinesische Regierung und die Kapitalist:innen auf der anderen Seite. Zwar könnten westliche Regierungen versuchen, ihre Kapitalist:innen unter Druck zu setzen, einen Teil ihrer Chinainvestitionen zu verlagern, doch wird dies schwierig sein, wenn das Land den Zugang zu Rohstoffen und Produktionsprozessen blockiert, die der Westen dringend benötigt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Solarindustrie in jüngster Zeit gezeigt haben. China zu sanktionieren oder die „Abhängigkeit“ von ihm zu verringern, wird für die Wachstumsperspektiven des Westens äußerst kostspielig sein und kann zu einer schnellen Wende hin zu einem Einbruch der Weltwirtschaft führen.

Dies trägt zu der zunehmenden geopolitischen Konfrontation zwischen China und den USA bei. China ist im Vergleich zu Russland eine wirtschaftliche Supermacht, mit der die USA auf rein wirtschaftlicher Ebene nur schwer zurechtkommen, obwohl sowohl Trump als auch Biden dies durch Handels- und protektionistische Maßnahmen versucht haben. Es liegt auf der Hand, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke zunehmend auch auf die politische und rüstungspolitische Ebene überträgt. Der Ukrainekrieg zeigt, dass es eine vom Westen unabhängige Rolle spielen und eine eigene Einflusssphäre um sich scharen kann. Während der Westen in Bezug auf den Ukrainekrieg vorgibt, dass „die Welt geschlossen hinter uns gegen Russland steht“, gelang es China, einen großen Block von Ländern anzuführen, die nicht bereit sind, Sanktionen gegen Russland zu unterstützen und Waffen an die Ukraine zu liefern. Darüber hinaus wurde Russland in eine untergeordnete Rolle als billiger Energielieferant gedrängt. China ist somit ein Gewinner der neuen Blockkonfrontation. Da es sich nun als möglicher Friedensvermittler (zusammen mit Brasilien und Indien) präsentiert, ist dies eine gewaltige Provokation für die US-Hegemonie. Sicherlich wird dies den Taiwankonflikt anheizen, da es zu neuen Anschuldigungen führen wird, dass China in Wirklichkeit Waffen und Munition an Russland liefert. Der Ukrainekrieg wird also nur ein Vorspiel für die viel größere Konfrontation zwischen den beiden größten Supermächten abgeben – mit unvorhersehbaren Folgen für das weitere Schicksal der Weltwirtschaft, da die Spannungen zunehmen werden.

Eine neue Periode der „Deglobalisierung“?

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass wir weit davon entfernt sind, uns in einer neuen Periode des Aufschwungs der Kapitalakkumulation zu befinden. Die nächsten Jahre werden weiterhin von der Krise des gegenwärtigen Akkumulationsregimes geprägt sein. Anders als zu Beginn der Globalisierungsperiode gibt es keine entscheidenden neuen Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die zu noch höheren Ausbeutungsraten führen könnten. Auch gibt es im Gegensatz zu damals keine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China, die mit wesentlich höheren Profitraten in das Konzert der imperialistischen Akkumulation einsteigen kann. Im Gegenteil, die Profitraten aller imperialistischen Volkswirtschaften haben sich auf einem niedrigen Niveau angeglichen. China ist selbst von einem Motor der globalen Akkumulationsdynamik zu einem Krisenfaktor geworden.

All diese Krisenfaktoren: Energie und Ökologie, Pandemie, Verschuldung, Inflationsgefahr, Zusammenbruch von Zombie-Unternehmen, die aussichtslose Krise fast aller halbkolonialen Regionen, insbesondere der Absturz der Schwellenländer, wachsende Kriegsgefahr und Aufrüstungsspiralen lassen einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Investitionswelle in klimaneutrale und intelligente Technologien (Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Industrie 4.0 etc.) höchst unwahrscheinlich erscheinen. Die Phänomene der „Deglobalisierung“, wie der Rückgang der Direktinvestitionen, das geringere Gewicht globaler Wertschöpfungsketten, die Schwächung des Welthandels, z. B. durch neue Zölle, stellen vor allem ein Zeichen der Krise und nicht das Merkmal einer neuen Blüteperiode dar.

Auch wenn die „Globalisierung“ nicht mehr dynamisch voranschreitet, wird der Kapitalismus kaum vom neuen Grad der Internationalisierung seiner Produktionsweise ablassen. In der gegenwärtigen Zeit bedeutet dies, dass auch die Krise eine viel internationalere und globalere Dynamik annimmt.  Wir werden mit einer Welt der Krisen und Kriege konfrontiert sein, in der die internationale Arbeiter:innenklasse für ihre Grundrechte und einen sozial und ökologisch bewohnbaren Planeten für alle kämpfen muss. Deshalb ist der Kampf um die Führung der Klasse, die Stärkung ihrer grundlegenden Kampforgane, ihre Gewinnung für eine internationalistische und kommunistische Transformation der Gesellschaft sowie die Verteidigung gegen die verschiedenen populistischen Pseudoreaktionen auf die Krise notwendiger denn je!




Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse

Martin Suchanek, Revolutionärer Marxismus 55, Juni 2023

Seit ihrer Entstehung bildete die Arbeiter:innenklasse nie eine „geschlossene“ soziale Gruppe, sondern ihre Existenz wird immer von inneren Schichtungen und Differenzierungen gezeichnet. Im Unterschied zum Nominalismus der bürgerlichen Soziologie, die, sofern sie überhaupt auf „Klasse“ rekurriert, diese als Attribut bestimmter Personen fasst (Einkommenshöhe, Berufsstand usw.), kennzeichnet den marxistischen Klassenbegriff, dass er Klassen als Verhältnis zwischen Gruppen von Menschen begreift. Ohne Kapital keine Lohnarbeit und umgekehrt. Die Wandlung des Kapitals bestimmt dabei wesentlich die Schichtung, Umwälzung, stetige Neuzusammensetzung der Lohnabhängigen.

Im „Kapital“ entwickelt Marx im Kapitel über das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass das Wachstum und der Wandel des Kapitals selbst die Reproduktionsbedingungen der Arbeiter:innenklasse entscheidend bestimmen.

„Wir behandeln in diesem Kapitel den Einfluß, den das Wachstum des Kapitals auf das Geschick der Arbeiterklasse ausübt. Der wichtigste Faktor bei dieser Untersuchung ist die Zusammensetzung des Kapitals und die Veränderungen, die sie im Verlauf des Akkumulationsprozesses durchmacht.“[i]

Dabei zeigt er, dass selbst bei unveränderter technischer Grundlage des Produktionsprozesses die Zusammensetzung der Lohnabhängigen, die Zahl der beschäftigten, unterbeschäftigten und erwerbslosen Arbeiter:innen bedingt wird durch die Kapitalbewegung. Da Kapitalismus aber notwendigerweise mit einer ständigen Umwälzung der Produktion einhergeht, prägt er in einem noch viel größeren Umfang die Zusammensetzung der Klasse, ja, ihre gesamte Existenz.

„Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, in fortwährendem qualitativen Wechsel seiner Zusammensetzung, in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils.“[ii]

Das einzig wirklich Konstante an der Arbeiter:innenklasse ist also ihre ständige Veränderung. In Phasen der Expansion und Prosperität kann dabei die Ausbeutung vergleichsweise dehnbare, „bequeme und liberale“ Formen annehmen. Davon sind wir freilich seit Jahrzehnten weit entfernt. Die gegenwärtige Krisenperiode geht nicht nur mit einer grundlegenden Veränderung der Arbeiter:innenklasse und aller gesellschaftlichen Beziehungen einher, sondern vor allem auch mit einer Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Lage der Klasse insgesamt. Dies vollzieht sich jedoch keineswegs linear, für alle gleich. Im Gegenteil. Die ungleiche und kombinierte Entwicklung des globalen Kapitalismus manifestiert sich auch in einer globalen Veränderung der Zusammensetzung der Klasse. Bestehende grundlegende Ungleichheiten wie jene zwischen den Arbeiter:innen in den imperialistischen Zentren und in den Halbkolonien werden massiv verschärft. Aber auch die innere Differenzierung, z. B. zwischen der Arbeiter:innenaristokratie einerseits und den unteren Schichten der Lohnabhängigen, den Working Poor, andererseits, wird tendenziell größer.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir daher die wichtigsten Veränderungen skizzieren, um deren Rückwirkung auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten. Im letzten Abschnitt werden wir kurz auf die Frage der revolutionären Politik als Antwort auf diese Krise eingehen:

1.) Eine Darstellung wesentlicher Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode;

2.) die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends;

3.) die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats;

4.) die Verbindung zur Krise der Arbeiter:innenbewegung und zur Führungskrise des Proletariats;

5.) Historische Erfahrungen, strategische und taktische Schlussfolgerungen für den Aufbau revolutionärer Parteien.

1. Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der Globalisierungsperiode

Seit Beginn der Globalisierungsperiode, also seit dem Zusammenbruch der ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten, macht auch das Proletariat weltweit einen grundlegenden Wandlungsprozess durch. Dies trifft sowohl auf die Jahre vor der Rezession und Krise 2008 – 2010 zu wie auch auf jene bis zur Coronakrise. In mehrfacher Hinsicht traten dabei die Entwicklungen in den Jahren der Globalisierungsperiode nach 2010 noch deutlicher hervor, die Umwälzungen vollzogen sich im beschleunigten Tempo.

In den ersten Abschnitten des Artikels wollen wir die wichtigsten dieser Veränderungen zusammenfassen, um danach die Rückwirkung dieser Veränderungen auf die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Klasse zu betrachten.

1.1 Die Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse

Bis 2019 ist die Arbeiter:innenklasse weltweit weiter gewachsen. Allerdings haben sich mit veränderter Produktionsstruktur die Zentren der Klasse verlagert, v. a. nach Asien. Das betrifft hauptsächlich das massive Anwachsen des Proletariats in China, aber auch in Indien und anderen Ländern Ost- und Südostasiens. Die gewaltige Umwälzung und das Wachstum der Arbeiter:innenklasse in China bilden letztlich die Basis für die Etablierung einer neuen imperialistischen Macht und deren Expansion. Dabei entstand zugleich eine neue gesellschaftliche, revolutionäre Kraft, die sich allerdings ihrer politischen Möglichkeiten (trotz enormer ökonomischer Kampfaktivität) noch kaum bewusst ist.

Neben China ist die Arbeiter:nnenklasse auch in einer Reihe von Ländern in Ostasien und in Indien gewachsen. Länder wie Brasilien erlebten diesen Proletarisierungsschub schon in den 1980er Jahren, städtische Zentren wie der Großraum Sao Paulo gehören seither zu den konzentriertesten Industriegebieten der Welt mit Millionen Lohnabhängigen. Die Erfahrungen der Tigerstaaten Asiens (Indonesien, Südkorea) infolge der Währungskrise Ende der 1990er Jahre zeigten jedoch schon damals, wie fragil der industrielle Aufschwung und die Kapitalbildung in solchen, letztlich von einer oder mehreren imperialistischen Mächten dominierten, im Weltmarkt untergeordneten Staaten sind.

So bedeutsam das Anwachsen der Arbeiter:innenklasse in Ländern wie Brasilien, Vietnam, Indonesien, Indien oder auch der Türkei ist,  handelt es sich letztlich um die Formierung eines Proletariats in halbkolonialen Ländern, dessen Entwicklung in letzter Instanz vom Fluss des imperialistischen Anlagekapitals abhängt (was keineswegs ausschließt, dass sich in diesen Staaten auch weltmarktfähige einzelne Großkapitale bilden).

An dieser Stelle müssen wir genauer zwischen verschiedenen Ländern und ihrer ökonomischen Entwicklung im XI. Weltmarktzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg (2010 – 2019) differenzieren. China und Indien durchliefen einen lang anhaltenden, expansiven Zyklus. Verglichen mit dem Jahr 2007 verdoppelte sich das preisbereinigte BIP in China bis 2016 und in Indien bis 2017. Diese Entwicklung spiegelt natürlich nicht direkt das Anwachsen der Profitmasse und auch nicht der beschäftigten Lohnarbeit wider, aber es reflektiert kapitalistisches Wachstum in einem gigantischen Ausmaß – inklusive des massiven Wachstums der Arbeiter:innenklasse in beiden Ländern.

Diese Entwicklung kontrastiert extrem mit der anderer BRICS-Staaten, deren Wachstum im Vergleichszeitraum 2007 – 2017 bescheiden ausfällt: Südafrika (plus 19 %), Brasilien (plus 16 %), Russische Föderation (plus 12 %). In bereinigten BIP-Größen ausdrückt, verblieben sie damit entweder auf dem Niveau der G7-Staaten oder, im Falle Russlands, deutlich darunter. Hinzu kommt, dass viele sog. Schwellenländer ab Mitte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts selbst in verstärkte Krisen geraten sind, darunter auch solche wie die Türkei, die unmittelbar nach der großen Rezession als ökonomisch recht dynamisch erschienen. Der Grund dafür liegt wesentlich in den Bewegungen des globalen Finanzkapitals begründet und der Antikrisenpolitik der USA und der EU, die zu einem Abzug von Kapital aus vielen Halbkolonien führten und Währungen sowie ganze Volkswirtschaften unter Druck setzten. Das äußert sich auch in viel instabileren, rasch nach oben und unten ausschlagenden Konjunkturbewegungen dieser Länder.

Auch wenn sich Russland z. B. als imperialistische Macht neu etabliert hat, so entspricht der Anteil der produktiven Arbeit (Arbeit, die Mehrwert für das Kapital schafft) zahlenmäßig nur einem Bruchteil der Arbeiter:innen in der früheren Sowjetunion. Der Anteil an der Industrieproduktion ist historisch gering, während die Sowjetunion noch bis zu ihrem Zusammenbruch die zweitgrößte Industrienation der Welt war.

In den tradierten imperialistischen Zentren (Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien) können wir schon vor dem Zusammenbruch des Stalinismus eine Verringerung des industriellen Proletariats feststellen. Der Anteil der „Dienstleistungen“ ging generell nach oben, auch wenn die bürgerliche Statistik den Trend systematisch übertreibt, weil etliche Dienstleistungen durchaus Formen produktiver Arbeit darstellen und Mehrwert für das Kapital schaffen. Hinzu kommt darüber hinaus eine große Ungleichheit in der Entwicklung unter den verschiedenen lange etablierten, westlichen imperialistischen Mächten. Japan und Deutschland haben sich bis heute eine vergleichsweise stärkere industrielle Basis (und einen industriellen Exportsektor) erhalten. Das industrielle Kapital – und damit auch die industrielle Arbeiter:innenklasse – spielen eine vergleichsweise größere Rolle als in den USA oder Britannien. Frankreich und Italien wiederum kämpfen damit, dass ihr nationales

Kapital in der Konkurrenz dem deutschen strukturell unterlegen ist.

1.2 Vertiefte Unterschiede

Die letzten Jahrzehnte und besonders die Krise 2008 – 2010 haben auch hier die Unterschiede enorm vertieft. In den meisten „alten“ imperialistischen Staaten brach infolge der Krise die Industrieproduktion ein und erreichte über Jahre nicht das Niveau der Phase vor 2007. Wenn wir April 2008 als Bezugspunkt nehmen – also den Beginn der globalen  Krise –, so erreichte die Industrieproduktion in Frankreich bis November 2013 nur 85 Prozent dieses Niveaus, jene Britanniens 87,3 Prozent und jene Japans 85,1 Prozent. Nur die USA hatten zu diesem Zeitpunkt das Niveau des Jahres 2008 übertroffen – um ein Prozent. Deutschland hatte es fast erreicht und lag nur 1,3 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2008.[iii]

Die Entwicklung in den USA, Deutschland und Kanada im XI. Weltmarktzyklus unterscheidet sich signifikant von jener Britanniens, Italiens, Frankreichs und Japans, wenn wir die Jahre 2007 – 2017 vergleichen. Die USA profitieren davon, dass sie mehr als andere Nationen die Kosten der Krise auf den „Rest der Welt“ abwälzen konnten und weiter der größte und wichtigste Binnenmarkt der Welt sind. Deutschland konnte sich einigermaßen schadlos halten, weil sein Exporterfolg auch auf der Dominanz über seine Konkurrent:innen in der Eurozone basiert.

Jedenfalls durchlaufen die USA, Deutschland und Kanada nach der großen Rezession einen zyklischen Aufschwung, was auf andere Konkurrent:innen nicht oder nur eingeschränkt zutrifft.[iv]

Die massive Verlagerung der produktiven Arbeit im Weltmaßstab geht mit einer Entwicklung einher, die wir schon seit Jahren beobachten können: Das Schrumpfen des industriellen Proletariats bis hin zur weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Länder. In Südeuropa hat sich, v. a. in Griechenland, der Prozess rasant fortgesetzt. Bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse sind langfristig arbeitslos oder unterbeschäftigt. Solche Länder folgten damit dem Beispiel Osteuropas, wo nach 1990 ein großer Teil der Industrie vernichtet wurde. Anders als der Süden Europas erlebten jedoch einzelne Länder oder industrielle Branchen dort eine Stärkung als Zulieferer:innen oder Vorproduzent:innen von westlichen, v. a. deutschen Konzernen.

Außerhalb Europas entwickelte sich die Lage noch weitaus dramatischer, besonders in Afrika. Hier sind ganze Länder praktisch seit Jahrzehnten deindustrialisiert oder davon bedroht. Dasselbe gilt für einige Länder der arabischen Welt (also jene, die nicht im Golfkooperationsrat vertreten sind).

Im Extremfall hat sich in diesen Staaten – insgesamt die am härtesten getroffenen Opfer imperialistischer Ausplünderungen oder „Neuordnungsversuche“ (siehe Irak, Afghanistan) – die gesellschaftliche Krise vertieft und verstetigt. Es existiert kaum eine Industriearbeiter:innenschaft, ja, die Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und damit selbst die eines staatlichen Gebildes und gesellschaftlicher Klassen ist in Frage gestellt. Die Gesellschaften und Staaten zerfallen: Sie zeigen in extremis, was immer größeren Teilen der Menschheit bei einem Fortschreiten der Krise droht.

1.3 Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats

Während die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, nahmen die Differenzierungen, die Schichtungen und Unterschiede im Proletariat weiter zu. Natürlich stellt dies keine ungebrochene Tendenz dar. Gerade die zunehmende Verschlechterung der Lebenslage der Mehrheit der Lohnabhängigen hat auch eine nivellierende, vereinheitlichende Wirkung. Eindeutig ist jedoch der Unterschied zwischen der Lebenslage der „oberen“, bessergestellten Schichten der Klasse und dem wachsenden Anteil „prekärer“, überausgebeuteter Teile größer geworden.

In praktisch allen imperialistischen Ländern sind seit den 1980er Jahren immer größere Teile der Klasse von Unterbeschäftigung, von „prekären“ Arbeitsverhältnissen, Teilzeitarbeit usw. betroffen und bilden ein wachsendes Segment der Lohnabhängigen, das von „Niedriglohn“ leben muss. Darunter ist nicht einfach „schlechte Bezahlung“ zu verstehen. Ein immer größerer Teil der Arbeiter:innenklasse wird gezwungen, seine Arbeitskraft unter den Reproduktionskosten zu verkaufen.

In den meisten imperialistischen Ländern (wie auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten und selbst einigen Halbkolonien) hatten sich in der Nachkriegsperiode Verhältnisse etabliert, die ab den 1950er, spätestens jedoch in den 1960er und auch 1970er Jahren (also grob gesagt bei einer ganzen Generation) den Eindruck erwecken konnten, dass die nächste Generation der Lohnabhängigen materiell besser gestellt wäre als ihre Eltern.

Doch dies war an historisch außergewöhnliche Bedingungen geknüpft: die Kapitalvernichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, die Erneuerung des Produktionsapparates in zahlreichen Ländern, die Möglichkeit, „überschüssiges“ US-Kapital zum Aufbau auf der ganzen Welt zu nutzen, bei gleichzeitiger Wiederbelebung und Expansion wichtiger imperialistischer Rival:innen (v. a. Deutschlands und Japans), die enorm gesteigerte Ausbeutungsrate der Arbeiter:innenklasse während des Krieges in den faschistischen und demokratischen Ländern, die Etablierung der USA als klare Führungsmacht unter den imperialistischen Staaten und damit des US-Dollars als Weltgeld und die Öffnung der Kolonialmärkte Britanniens und Frankreichs (was letztlich die Abschaffung des Kapitalismus in Osteuropa und China kompensieren konnte).

So konnten Akkumulationsbedingungen geschaffen werden, die es für mehrere Konjunkturzyklen ermöglichten, die Steigerung der Profitmasse mit einer Erhöhung des Konsums der Arbeiter:innenklasse zu kombinieren – nicht zuletzt, weil die vorherrschende Form der Erhöhung des Mehrwerts die Produktion des relativen Mehrwerts war. Das Proletariat wuchs enorm, und zugleich war die Nachkriegsperiode auch von einer weit größeren Bedeutung der Konsumgüterindustrie geprägt.

Die „neoliberale Wende“ mit historischen Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse unter Reagan und Thatcher und der Umstrukturierung in Lateinamerika änderte das. Der Zusammenbruch der bürokratischen Planwirtschaften der Sowjetunion und Osteuropas verschärfte das noch dramatisch, schuf eine industrielle Reservearmee und eröffnete neue Ausbeutungsgebiete. Die Rekapitalisierung Russlands, Osteuropas und Chinas ging mit einer grundlegenden Veränderung des globalen Kräfteverhältnisses am Beginn der 1990er Jahre einher, was den USA die zeitweilige Festigung einer hegemonialen Vorherrschaft erlaubte, die seit den 1970er Jahren schon mehr und mehr erodiert war.

Alle diese Veränderungen haben bezüglich der Neuzusammensetzung der Klasse zu zwei grundlegenden Erscheinungen geführt: erstens der Entstehung eines permanenten Sockels von Langzeitarbeitslosen, die nicht mehr in den Arbeitsprozess integriert werden können. Selbst in den Perioden des Aufschwungs verschwindet er längst nicht mehr. D. h., ein beachtlicher Teil des Proletariats kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen, droht ins Sub- oder gar Lumpenproletariat abzusinken.

Laut ILO waren Ende 2013 199,8 Millionen Lohnabhängige arbeitslos. Die Zahl der Arbeitslosen ist damit um 30,6 Millionen größer als vor der großen Krise und wurde v. a. in den „Industrieländern“, also, grob gesprochen, den imperialistischen Staaten, kaum abgebaut.[v] Der aktuelle Bericht der ILO vom Januar 2023 spricht von rund einer halben Milliarde Lohnarbeiter:innen, die entweder als statistisch erfasste Arbeitslose oder als „permanent“ aus dem Arbeitsmarkt Ausgeschiedene dem Markt entzogen sind.[vi]

Zweitens hat sich in allen lang etablierten imperialistischen Ländern eine bedeutende Schicht von Arbeiter:innen gebildet, die unter ihren Reproduktionskosten entlohnt werden, „Working Poor“, Billigjobber:innen, „Prekariat“. Diese oft weiblich, jugendlich und migrantisch geprägten Teile der ArbeiterInnenklasse machen z. B. in Deutschland mittlerweile rund ein Viertel der Lohnabhängigen aus, in vielen anderen Ländern sogar mehr.

In den Halbkolonien hat diese Entwicklung noch weit extremere Formen angenommen. In den letzten Jahrzehnten haben sich weltweit „Megastädte“ gebildet – einschließlich erbärmlicher Wohn- und Lebensverhältnisse für Abermillionen Proletarier:innen. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten und nicht mehr auf dem Land lebt.

2013 müssen rund 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als 1,25 US-Dollar/Tag ihr Auskommen fristen; geschätzte 2 Milliarden (also fast ein Viertel der Weltbevölkerung) leben heute von 2 US-Dollar/Tag oder noch weniger. Dazu zählen natürlich große Teile der Landarmut, von Bauern/Bäuerinnen, Landlosen, Flüchtenden usw. –, aber eben auch Abermillionen Einwohner:innen dieser riesigen städtischen Ballungszentren. Von den LohnarbeiterInnen der Welt leben lt. ILO geschätzte 447 Millionen von einem Einkommen unter 1,25 US-Dollar/Tag.[vii]

Dabei speist sich die Verstädterung aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einerseits sind v. a. in Asien (davor aber auch in Brasilien) Städte gewachsen, teilweise regelrecht aus dem Boden gestampft worden, die zu riesigen industriellen Zentren auswuchsen, samt einer überausgebeuteten Industriearbeiter:innenschaft. So hatten die Wanderarbeiter:innen – die weltweit größte Welle der Arbeitsmigration – einen enormen Anteil am chinesischen „Wirtschaftswunder“.

Ähnlich der Entwicklung des Frühkapitalismus wurde „überschüssige“ Landbevölkerung, die ihrerseits keine oder kaum noch Existenzmöglichkeiten auf dem Land hatte, von industriellen Investor:innen angezogen und folgte ihnen. Etliche der chinesischen Städte, die heute Millionenstädte sind, waren noch vor einigen Jahrzehnten Kleinstädte oder gar Dörfer. Manche mögen auch mit dem „Weiterziehen“ des Kapitals im nächsten Zyklus wieder schrumpfen.

Entscheidend ist jedoch, dass sich bei dieser Form der Migration zur Stadt eine neue, produktive Arbeiter:innenklasse samt aller möglichen weiteren Bevölkerungsgruppen, die zu Großstädten gehören, bildet. Auch wenn diese Lohnabhängigen als extrem ausgebeutete, entrechtete, oft auch „illegale“ Arbeitskräfte beginnen, so entwickeln sie mehr oder weniger „spontan“ Formen des ökonomischen Kampfes und beginnen früher oder später, für höhere Einkommen zu kämpfen, um ihre eigene Reproduktion zu sichern.

Das Anwachsen von Megastädten führt aber auch zu einer anderen Tendenz, die für bestimmte Ballungszentren geradezu typisch ist. Millionen werden vom Land vertrieben, weil sie dort kein Auskommen finden, was natürlich oft noch durch Kriege, sozialen Niedergang, klimatische Katastrophen verschärft wird. Doch in den städtischen Zentren werden sie auch als Lohnabhängige nicht gebraucht. In immer mehr Halbkolonien bilden sie eine wachsende Masse von Menschen, die sich abwechselnd als Gelegenheitsarbeiter:innen, kleine „Händler:innen“, Kriminelle, Paupers usw. verdingen muss. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Existenz selbst als extrem ausgebeutete und marginalisierte Schichten kaum sichern können. Der Kapitalismus hat für sie sogar als billigstes Ausbeutungsmaterial keine oder nur gelegentliche Verwendung.

Im „Kommunistischen Manifest“ beschreiben Marx und Engels eindrücklich, dass die Krisen im Kapitalismus einen solchen Zustand hervorrufen, der die Reproduktion des/der Lohnsklav:in als solche/n immer prekärer macht.

„Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch rascher als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“[viii]

Für Milliarden Menschen ist heute das Leben als Pauper oder an der Grenze zum Pauperismus Realität – und nur Phantast:innen können davon träumen, dass der Kapitalismus für diese eine bessere Zukunft bieten kann.

Neben den Wanderungsbewegungen in städtische Zentren ist die Migration von der „Peripherie“ in die Zentren des Weltkapitalismus ein Kennzeichen der gesamten imperialistischen Epoche, v. a. der letzten Jahrzehnte. Die Verheerungen des globalen Kapitalismus haben Millionen in Mexiko und anderen zentralamerikanischen Ländern oder in Osteuropa weiter entwurzelt, „überflüssig“ gemacht. Das gilt ebenso für zahlreiche Länder des arabischen Raums, Afrikas oder Asiens. Nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Arbeitsmigrant:innen versucht dabei, die eine Lebensperspektive versprechenden Zentren Nordamerikas oder Westeuropas zu erreichen. Die meisten scheitern an den rassistisch abgeschotteten Außengrenzen. Zehntausende krepieren beim Versuch, „illegal“ in die Zentren des Weltimperialismus zu gelangen.

Dort drohen ihnen Abschiebung und entwürdigende Behandlung als Bittsteller:innen. Bestenfalls werden sie als passgerechte Arbeitskräfte mit weniger oder gar keinen sozialen Rechten, geringeren Löhnen, als Menschen zweiter Klasse verwendet. „Integration“ ist trotz ihrer permanenten Beschwörung letztlich nicht gewünscht. Daher werden auch Menschen der zweiten und dritten Generation, also die Kinder von Migrant:innen, bis heute als „Ausländer:innen“ behandelt, als „Gastarbeiter:innen“, die nach getaner Arbeit möglichst wieder verschwinden sollen.

Dieses System findet sich in fast noch extremerer Form in manchen Halbkolonien, v. a. in den arabischen Golfstaaten oder Ländern wie Libyen, deren Nationaleinkommen sich im Wesentlichen aus der Grundrente speist und wo ein Großteil der Arbeit von Migrant:innen geleistet wird.

Die Arbeitsmigration ist ein wichtiger Lebensaspekt der weltweiten Arbeiter:innenklasse geworden. Ein immer größerer Teil ist gezwungen, Grenzen zu überschreiten – oft unter erbärmlichsten Bedingungen. Diese mit unendlichem menschlichen Leid verbundenen Wanderungsbewegungen haben aber auch einen enorm revolutionierenden Aspekt. Sie stellen lokale oder nationale „Traditionen“ in Frage, untergraben den oft jahrzehntelang etablierten Konservatismus der „einheimischen“ Arbeiter:innen (einschließlich früherer Generationen von Migrant:innen), schaffen länder- und sprachübergreifende Verbindungen.

Die Integration der Migrant:innen und Flüchtlinge in die Arbeiter:innenbewegung kann dabei letztlich nur über den gemeinsamen Klassenkampf erfolgen – sie ist folglich eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen Periode. Sie kann nur durch einen unversöhnlichen Kampf gegen Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus, aber auch „mildere“ Formen der Bevormundung und des unkritischen Verteidigens der „eigenen“ etablierten „Arbeiter:innen“kultur (in der Regel ohnedies nur als eine unter den Lohnabhängigen etablierte Form der bürgerlichen Kultur) bewältigt werden.

Abschließend wollen wir die globale Expansion der unteren Schichten des Weltproletariats noch an einigen Zahlen aus dem Jahr 2019, also vor der Coronapandemie und der damit verbundenen Rezession, illustrieren.

Lt. Berechungen der ILO[ix] waren 2019 2 Milliarden Arbeiter:innen im informellen Sektor beschäftigt oder rund 60 % aller Beschäftigten. D. h., die Masse der lohnabhängig Beschäftigten betrug rund 3,33 Milliarden, was nicht mit der Gesamtgröße der Arbeiter:innenklasse gleichgesetzt werden darf, da diese auch nicht-erwerbstätige Angehörige (zumeist Frauen), Kinder und nicht-beschäftigte Jugendliche, nicht mehr Arbeitssuchende und Rentner:innen inkludiert. Zweitens verbergen sich hinter dem Verhältnis enorme Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen der Welt.

Dies zeigt ein Vergleich der „informality rate“ (Prozentsatz der informellen Arbeit) in verschiedenen Regionen im Jahr 2021:

Region Gesamt Männer Frauen
Afrika 82,9 80,0 86,6
Nordamerika 19,1 19,1 19,1
Lateinamerika und Karibik 56,4 56,2 56,7
Arabische Staaten (Gesamt, ohne Nordafrika) 60,2 61,1 55,6
Ostasien (inklusive China und Japan) 50,9 52,3 48,8
Südostasien und Pazifik 69,1 69,4 68,5
Südasien (Indien, Pakistan, Bangladesch) 87,6 87,2 89,3
Süd-, Nord- und Westeuropa 17,5 16,1 19,1
Osteuropa (inkl. Russland) 21,7 23,3 19,8
Zentral- und Westasien 45,1 43,3 47,7

Quelle: ILO, World Econmic Outlook 2021, Tabelle selbst erstellt

Obige Tabelle spiegelt natürlich nicht direkt die Verteilung der Arbeiter:innenklasse wider. Informelle Arbeit ist beispielsweise nicht identisch mit Löhnen, die unter den Reproduktionskosten liegen (das kann einerseits auch im „formellen“ Sektor vorkommen, andererseits erstreckt sich die informelle Beschäftigung in manchen Ländern, z. B. in Indien, auch auf höher qualifizierte Berufe und kann in solchen Fällen auch ein Einkommen über den Reproduktionskosten schaffen). Darüber hinaus sind die statistischen Zahlen in einigen Ländern sehr unzuverlässig und auch die Vergleichbarkeit der Erhebungen ist schwierig. Aber diese Zahlen bieten einen Indikator für die globale imperialistische Ausbeutung.

Auch wenn in den imperialistischen Zentren der informelle Sektor in den letzten Jahrzehnten massiv zugelegt hat, so liegt er dort bei 20 % oder darunter. China hat zweifellos einen für eine imperialistische Macht vergleichsweise großen informellen Sektor, und die Zahlen bedürfen sicher einer gesonderten Analyse. Sie verweisen aber auf die große Ungleichzeitigkeit der kapitalistischen Entwicklung in diesem Land, die sich in einem großen informellen Sektor und einem enorm gewachsenen Gegensatz von Stadt und Land äußert.

Auch die geschlechtliche Zusammensetzung verweist zwar auf ein Übergewicht von Frauen, keinesfalls jedoch in allen Regionen. Das hängt sowohl mit der Struktur der Ökonomie zusammen als auch mit dem Arbeitsregime. So ist eine Ursache des relativ hohen Anteils informeller männlicher Arbeit in den arabischen Staaten in der Arbeitsmarktstruktur der Golfstaaten zu finden. Die beschäftigten Staatsbürger:innen arbeiten dort in der Regel nicht im informellen Sektor. Die Masse der produktiven Arbeiter:innenklasse besteht wiederum aus Migrant:innen, wobei bestimmte informelle Sektoren fast ausschließlich männliche Arbeitskräfte umfassen (z. B. Bauwirtschaft).

Grundsätzlich können wir sagen, dass die Zentren der globalen informellen Arbeit in den halbkolonialen Ländern liegen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Osteuropa) beträgt der Anteil des informellen Sektors praktisch überall 50 % oder mehr. Extreme Formen der Ausbeutung der Lohnarbeiter:innenklasse sind für die Mehrheit des Proletariats seit Jahrzehnten die Regel.

Die Zentren der informellen Arbeit finden wir in Afrika (und hier noch einmal besonders südlich der Sahara) und in Südasien. Dort kann der Anteil informeller Arbeit von Lohnabhängigen nur noch durch weitere Proletarisierung nicht-lohnabhängiger Schichten gesteigert werden. Die hohen Anteile an informeller Arbeit in beiden Weltregionen dürfen jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auf sehr unterschiedlichen Quellen beruhen. In Afrika, und vor allem südlich der Sahara, ist der Anteil industrieller Arbeit (mit Ausnahme Südafrikas) sehr gering. Diese Region ist seit einer ganzen Periode für die imperialistischen Staaten im Wesentlichen wegen der Plünderung von Rohstoffen (extraktive Industrie, teilweise Landwirtschaft) interessant. Im Gegensatz dazu wird ein beträchtlicher Teil der informellen Arbeit in Südasien, und hier wiederum v. a. in Indien, auch im produzierenden Gewerbe beschäftigt, also zur Produktion industriellen Mehrwerts genutzt.

Es ist in dem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass der Anteil informeller Arbeit in Ost- und Südoststasien relativ geringer ausfällt. Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, dass sich dort auch wichtige imperialistische Ökonomien befinden, die den Schnitt drücken. Es handelt sich zweitens auch zum Teil um relativ entwickelte Halbkolonien mit einer starken industriellen Basis (Südkorea, Taiwan) sowie auch ärmere Halbkolonien, die zu wichtigen Produktionsstandorten für globale, auch industrielle, Wertschöpfungsketten mitierten.

Die Verbreitung industrieller Produktion im großen Maßstab führt dabei nicht nur zu einem Wachstum der Arbeiter:innenklasse, sie begünstigt früher oder später auch ökonomische Kämpfe zur Einschränkung extremer (informeller) Formen der Ausbeutung.

In diesen Ländern haben wir es in der Globalisierungsperiode, generell betrachtet und im Gegensatz zu den alten imperialistischen Zentren, aber auch in Afrika und Lateinamerika, mit einer extrem rasch wachsenden industriellen Arbeiter:innenklasse zu tun.

Diese agierte generell unter extremen Bedindungen – seien es direkt diktatorische oder despotische Regime oder Demokratien mit extremen bonapartistischen Tendenzen. Dennoch ist in vielen dieser Länder nicht nur eine neue Klasse von Lohnabhängigen, sondern auch eine Arbeiter:innenbewegung entstanden.

Während sie in den Jahren vor der Pandemie vor allem unter den Bedingungen der kapitalistischen Expansion kämpfen musste/konnte, muss sie seit 2020 unter den Bedingungen einer kapitalistischen Krise agieren, die sowohl durch globale Probleme bedingt ist als auch durch die zyklische Bewegung des eigenen Kapitals (Überakkumulation).

1.4 Alte und neue Arbeiter:innenaristokratie

Nicht nur die unteren und mittleren Schichten des Proletariats, sondern auch die bessergestellten Teile haben sich in den letzten Jahrzehnten gewaltig verändert.

Schon im 19. Jahrhundert, beim Übergang zur imperialistischen Epoche, hatte Friedrich Engels bei der Analyse des britischen Imperialismus festgestellt, dass sich im Kerngebiet des Empire eine relativ privilegierte Schicht der ArbeiterInnenklasse – die Arbeiter:innenaristokratie – abzusondern begann und so zu einer erweiterten sozialen Basis der bürgerlichen Gesellschaftsordnung in den Reihen der Klasse der Lohnabhängigen geworden war.[x] Engels leitete die Entstehung einer solchen Schicht von „bessergestellten“ Arbeiter:innen aus der vorherrschenden Stellung des britischen Imperialismus, aus dessen Weltmarktmonopol, ab und aus der starken ökonomischen Stellung dieser Arbeiter:innenschichten in der großen Industrie.

Lenin griff den Gedanken auf und erkannte, dass die imperialistische Epoche die Grundlage für die Entstehung und Reproduktion einer ganzen Schicht der Arbeiter:innenaristokratie in allen dominierenden kapitalistischen Staaten schuf. Britannien bildete nicht länger eine Ausnahme:

„Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische ‚Groß’macht kleinere (als England 1848–1868) Schichten der ‚Arbeiteraristokratie‘ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die ‚bürgerliche Arbeiterpartei‘ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte.“[xi]

Gegen Lenins Theorie der Arbeiter:innenaristokratie sind in den letzten hundert Jahren viele Einwände erhoben worden – insbesondere auch, indem ihm aus einzelnen Zitaten eine recht primitive „Bestechungstheorie“ unterstellt wurde. Unter „Bestechung“ dürfen wir uns keineswegs ein quasi kriminelles „Kaufen“ der oberen Schichten der Klasse vorstellen (wiewohl es das auch gibt).

Die Entstehung der Arbeiter:innenaristokratie vollzieht sich vielmehr wesentlich über den ökonomischen, gewerkschaftlichen Kampf, der für die Lohnabhängigen in zentralen Industrien und strategischen Sektoren ermöglicht, dauerhaft relativ gute Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu erringen (im Gegensatz nicht nur zu den Arbeiter:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Staaten, sondern auch zu den unteren Schichten und zum Durchschnitt der Klasse). Kurzum, diese Schichten sind in der Lage, die Ware Arbeitskraft über eine längere Periode über ihrem Wert zu verkaufen, was nichts daran ändert, dass sie weiter Lohnarbeiter:innen bleiben und ihre Ausbeutungsrate extrem, ja sogar höher als die anderer Lohnabhängiger ausfallen kann.

Darüber hinaus bedeutet die Zugehörigkeit zur Arbeiter:innenaristokratie keineswegs, dass diese Schichten immer weniger Kampfbereitschaft zeigen würden als andere. Im Gegenteil, unter bestimmten historischen Bedingungen können sie sogar Kernschichten der Avantgarde umfassen. So bildeten z. B. die Revolutionären Obleute in der Novemberrevolution eindeutig einen Teil der Arbeiter:innenaristokratie.

Wichtig für uns ist jedoch, dass Lenin erkannte, dass die Bildung einer Arbeiter:innenaristokratie und deren Reproduktion zu einem Kennzeichen aller imperialistischen Staaten wurde. Inmitten des Ersten Weltkriegs konnte er realistisch mit einer objektiven Aushöhlung der Stellung dieser Schicht und damit auch der bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik und der dominierenden Stellung „bürgerlicher Arbeiter:innenparteien“ rechnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte die Arbeiter:innenaristokratie in den imperialistischen Ländern jedoch in einem bis dahin nicht dagewesenen Maße und konnte sich als solche über eine historisch außergewöhnlich lange Periode  reproduzieren. Mehr noch, solche Formen der Bildung einer, wenn auch zahlenmäßig deutlich kleineren, „Aristokratie“ lassen sich auch in den halbkolonialen Ländern, v. a. in den industriell fortgeschritteneren, wie, historisch betrachtet, auch in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten finden.

Mit dem Ende des „langen Booms“ und v. a. mit der Wende zum Neoliberalismus wurden auch Kernschichten der Arbeiter:innenaristokratie (z. B. die Bergarbeiter:innen und Docker:innen unter Thatcher, die Fluglots:innen unter Reagan) zu Angriffszielen, ja, teilweise zu bevorzugten. Deren Niederlagen zogen unmittelbar demoralisierende Auswirkungen auf die große Masse der Lohnabhängigen nach sich, denen so deutlich gemacht wurde, dass ihr Widerstand erst recht zwecklos sei.

In jedem Fall haben wir in den letzten Jahrzehnten eine dramatische Beschleunigung des Wandels der Arbeiter:innenaristokratie beobachten können. Erstens wurden diese Schichten aufgrund von technischem Wandel, Verlagerungen und Niederlagen massiv geschwächt. Die „traditionelle“ Aristokratie ist im Schrumpfen begriffen.

Zweitens sind aber auch neue Schichten der Arbeiter:innenaristokratie infolge der Proletarisierung von lohnabhängigen Mittelschichten, der realen Subsumtion ihrer zuvor oft nur formell dem Kapital unterworfenen Arbeit, entstanden.

Zum Dritten ist in neuen imperialistischen Ländern (v. a. China) und in einigen wirtschaftlich stärkeren Halbkolonien, z. B. den BRICS-Staaten, eine neue Arbeiter:innenaristokratie entstanden oder im Entstehen begriffen.

1.5 Restrukturierung des Produktionsprozesses

Die Jahrzehnte seit Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland, Osteuropa und China haben zu einer massiven Ausdehnung des Weltmarktes geführt. Der Welthandel ist dabei deutlich stärker gewachsen als die Produktion selbst. Dies hat zugleich die Arbeiter:innenklasse selbst zu einer Klasse gemacht, wo wachsende Teile der Lohnabhängigen in den globalen Austausch integriert sind. Ihre Arbeit ist in sehr unmittelbarem Sinn Arbeit, die auf eine globale Vergesellschaftung bezogen ist.

Das betrifft zum einen die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen für globale Märkte. Diese Entwicklung wird jedoch ergänzt und vertieft durch die Etablierung international integrierter Produktionsketten. Die Planung in den großen Monopolen findet heute oft länderübergreifend statt, unmittelbar bezogen auf den Weltmarkt (bzw. dessen zentrale Märkte). Das hat auch dazu geführt, dass z. B. in der Autoindustrie ein globaler industrieller Zyklus etabliert wurde, so dass über den nationalen Rahmen hinaus eine Tendenz zur Bildung einer globalen Durchschnittsprofitrate für einzelne Industrien entsteht.

Heute arbeiten Hunderte Millionen Lohnabhängige in multinationalen Konzernen, deren Produktionsstätten weltweit vernetzt sind, wo praktisch globale Planung – wenn auch für die bornierten Zwecke eines Einzelkapitals – erfolgt.

Kapitalexport, die globalen Geldströme und spekulative Anlagen – kurz, sämtliche Operationen von Kapital in Geldform – haben in den letzten Jahrzehnten gigantische Ausmaße angenommen, was selbst zu einer enormen Veränderung der Struktur des Produktionsprozesses, der Eigentumsstruktur geführt hat. Mehr und mehr Kapital ist in privater Hand und der des imperialistischen Großkapitals konzentriert.

Das ist die andere, im imperialistischen System unvermeidliche, Seite des „kapitalistischen Internationalismus“.

Das Niederreißen von Handelsschranken und Hemmnissen für den „freien Kapitalverkehr“ zwischen den einzelnen Ländern – wobei „Niederreißen“ für die kapitalistischen Zentren höchst selektiv ist – ist ein Moment, das diesen Prozess massiv beschleunigt, zum Teil erst möglich gemacht hat. Das andere waren Niederlagen der Arbeiter:innenklasse, die die Durchsetzung dieser Umstrukturierung erlaubten.

Diese Form der Internationalisierung geht freilich einher mit zunehmender Konkurrenz. Der Nationalstaat gerät letztlich zu einem Hindernis für die weitere Durchdringung der Weltwirtschaft, weil er einerseits zwar Instrument der kapitalistischen Globalisierung, andererseits aber der nationalen Kapitale (und als imperialistischer Staat dementsprechend dominierender Finanzkapitale ist), so dass diese Entwicklung der Internationalisierung im Nationalstaat eben auch ihre Schranke findet – eine Schranke, die auf kapitalistischer Basis nicht überwunden werden kann.

Wir müssen daher damit rechnen, dass die zunehmende Konkurrenz vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation der Weltwirtschaft früher oder später auch zu Rückschlägen, Zusammenbrüchen, Einbrüchen der heute so vernetzten Weltwirtschaft führen wird, dass die „Open Door“-Policy mehr und mehr durch die Bildung von Blöcken abgelöst werden wird.

Für die Arbeiter:innenklasse hat die Internationalisierung der Produktion, die Ausdehnung des Weltmarktes, der immer raschere Transfer des Kapitals von einem Land, einem Anlage- oder Spekulationsobjekt zum anderen enorme Probleme mit sich gebracht, insbesondere, weil ganze Gruppen von Arbeiter:innen, ganze „Standorte“, ja, ganze Klassen gegeneinander direkt in Konkurrenz zueinander gesetzt werden.

Andererseits hat diese Entwicklung auch die Möglichkeit direkter international koordinierter Aktionen geschaffen. Die Verschlankung der Produktion und die Reduktion der Lagerhaltung haben auch die Konzerne anfälliger gemacht für die Aktionen selbst relativ kleiner Gruppen von Lohnabhängigen.

Während die Gewerkschaften und die tradierten Organisationen der Arbeiter:innenklasse noch dabei sind, sich auf die Neuzusammensetzung des Kapitals und der Klasse einzustellen, zeichnet sich für die Zukunft freilich eine neue, katastrophale Entwicklung ab.

Seit 2020, also mit Beginn der synchronisierten Rezession, die durch die Coronapandemie ausgelöst wurde, aufgrund der Erschütterungen globaler Wertschöpfungs- und Lieferketten und infolge der massiven Zunahme der imperialistischen Konkurrenz bis hin zum Ukrainekrieg und den damit einhergehenden Turbulenzen der Weltwirtschaft nähern wir uns jedoch einem Punkt, wo die Internationalisierung des Kapitals in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Zweifellos kann dieser Moment hinausgeschoben werden, können die führenden Mächte dem bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Aber auf dem Boden des Imperialismus und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist ein solcher Umschlag letztlich unvermeidlich. Seit 2020 befinden wir uns in einer Situation, in der diese Tendenz immer stärker wird – z. B. auch in Form der Rückholung bestimmter, vormals ausgelagerter Produktion.

Mit dem Produktionsprozess wurden in den letzten Jahren auch die Reproduktionsbedingungen der Klasse umgekrempelt. „Soziale Absicherung“ gab es für große Teile der Lohnabhängigen dieser Welt ohnedies nie. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden die von der Arbeiter:innenklasse erkämpften oder von der herrschenden Klasse zugestandenen sozialen Sicherungssysteme, Versicherungen, staatliche Vorsorge, Bildungs- und Sozialleistungen, Renten usw. massiv zurückgefahren und oft privatisiert. Dasselbe gilt generell für staatliche Dienstleistungen. Einerseits wurden auf diese Weise Anlage suchenden Kapitalien Investitionsmöglichkeiten geboten zur mehr oder weniger sicheren, raschen Bereicherung. Andererseits geht es v. a. darum, die Reproduktionskosten der Klasse zu senken. Vorher über Steuern finanzierte Leistungen müssen nun zunehmend aus dem Nettolohn bestritten werden. Insgesamt findet so eine Absenkung des Werts der Ware Arbeitskraft statt.

1.6 Reproduktionsprozess

Zugleich hat die Minderung der Reproduktionskosten enorme Auswirkungen auf Frauen, die Jugend, Kranke und Rentner:innen. Die Lage der proletarischen Frauen war im Kapitalismus schon immer durch die Doppellast von Ausbeutung als Lohnabhängige und privater Hausarbeit gekennzeichnet. Die Reorganisation des Reproduktionsbereiches unter dem Neoliberalismus hat diese Doppelbelastung noch erhöht. Die Kürzung bzw. Verteuerung von Sozialleistungen bedeutet für Millionen und Abermillionen proletarischer Frauen, dass sie diese Dienste nun zusätzlich und „kostenlos“ zu verrichten haben – und verstärkt aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Mit dem Ende des langen Booms und der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mitprägen, wird auch die Widersprüchlichkeit der Reproduktion deutlicher, gerät sie in eine Krise.

Für die Arbeiter:innenklasse und vor allem für die proletarischen Frauen bedeutet das:

Reproduktionsarbeit im staatlichen, kommunalen, öffentlichen Bereich, die nach dem Zweiten Weltkrieg massiv ausgedehnt wurde, wird seit vielen Jahrzehnten faktisch zurückgedrängt. Dies führt generell zu einer Kürzung des Soziallohns, also faktisch zur Reduktion des Lohnfonds der gesamten Klasse.

Dieses Rollback geht oft mit einer Privatisierung vormals öffentlicher/staatlicher Reproduktionsarbeit oder zumindest mit der Einführung kapitalistischer Rechnungsführung in formal staatlichen oder genossenschaftlichen Institutionen einher.

Im fürs Kapital günstigsten Fall soll die Reproduktionsarbeit Profit für Eigentümer:in/Investor:in erwirtschaften. Die Dienstleistung (Gesundheit, Pflege, Bildung, Jugendbetreuung) wird durch Privatisierung zum Selbstzweck, unproduktive Arbeit zu produktiver fürs Kapital.

Für die Arbeiter:innenklasse stellt das eine Katastrophe dar, vor allem für Frauen, Jugend, Alte und die unteren Schichten des Proletariats. Die Verschlechterung öffentlich geleisteter Reproduktionsarbeit geht Hand in Hand mit der Ausdehnung von Billiglohn, prekären Verhältnissen, Kürzungen bei Renten, Verteuerung von Gesundheit, Kitas einher. Für die Lohnabhängigen bedeutet das, dass größere Bestandteile ihres Einkommens für diese Reproduktionsarbeiten aufgewendet werden müssen – oder dass sie diese Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können.

Die Folge davon ist eine tendenzielle Ausweitung der privaten Reproduktionsarbeit, v. a. in den Halbkolonien und bei den einkommensschwachen und unterdrückten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Nur rund die Hälfte der globalen Arbeiter:innenklasse von rund 4 Milliarden Menschen verfügt über irgendeine Form sozialer Absicherung.[xii]

Für Millionen, wenn nicht Milliarden Lohnabhängige (und auch große Teil der verbliebenen Kleinbauern und -bäuerinnen) bedeutet dies, dass sie ihre Arbeitskraft nicht voll reproduzieren können.

All dies verstärkt die Ungleichheit und die reaktionären Tendenzen im Proletariat und in der Gesellschaft. Lohnabhängige Frauen werden verstärkt in Familien oder Ehen gezwungen; Kinder länger an diese gebunden, Alte ebenfalls.

Ebenso wie beim tendenziellen Abbau etablierter Formen international vernetzter produktiver Arbeit haben wir es auch hier mit einer offenkundigen Tendenz zur gesellschaftlichen Regression zu tun, mit einem globalen Zurückfallen hinter den zuvor erreichten Stand der Entwicklung.

Doch diese Entwicklungen laufen keineswegs ohne Widersprüche ab. Die Entstehung einer neuen Frauenbewegung (Frauen*streiks) und die Betonung der Frage der Reproduktion reflektiert diese Entwicklung. Zugleich wird sie jedoch von den vorherrschenden Strömungen des linken Feminismus[xiii] (Feminism for the 99 %) falsch ideologisiert, faktisch auf den Kopf gestellt. Die aktuelle Entwicklung der Reproduktionsarbeit im Kapitalismus zeigt schlagend, wie sehr die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion von der Produktion bestimmt wird.

Wie die Frauen sind auch andere sozial Unterdrückte besonders von Kürzungen, der Umstrukturierung des Reproduktionsprozesses betroffen: MigrantInnen, Jugendliche, RentnerInnen sowie alle, die aus dem Produktionsprozess wegen Krankheit ausscheiden müssen.

2. Die Auswirkungen der Pandemie und globale Entwicklungstrends

Nachdem wir oben auf einige zentrale Veränderungen der Arbeiter:innenklasse in der gesamten Globalisierungsperiode eingegangen sind, wollen wir uns näher mit den Auswirkungen der Rezession 2020 und 2021 befassen. Sie sind enorm und, was die Lage der Weltarbeiter:innenklasse betrifft, einschneidender als die jeder anderen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sind in vieler Hinsicht deutlich größer als die Folgen der Krise 2008 – 2010, weil diese (a) weit weniger synchronisiert war, (b) mit keinem zeitweiligen Zusammenbruch globaler Produktions- und Vertriebsketten einherging und (c) die imperialistischen Staaten vergleichsweise einheitlicher, koordinierter agierten.

Im Folgenden wollen wir hier kurz einige der wichtigsten Auswirkungen auf die Arbeiter:innenklasse betrachten.

Die weltweite Wirtschaftskrise ging mit einem massiven Verlust an geleisteten Arbeitsstunden einher. 2020 wurden im Vergleich zu 2019 weltweit 8,8 % weniger geleistet. Das entspricht der Gesamtarbeit von 255 Millionen voll beschäftigten Arbeiter:innen pro Jahr bei einer 48-Stunden-Woche. 2021 waren es immer noch 125 Millionen Vollzeitjobs weniger als 2019. Zum Vergleich dazu: Während der Krise 2008/2009 stieg die Zahl der global geleisteten Arbeitsstunden, wenn auch nur um vernachlässigbare 0,2 %. Dies zeigt den synchronisierten Charakter der Rezession 2020 und die zeitweilige, erzwungene Einstellung bedeutender Teile der weltweiten Produktion. 2008 bis 2010 waren hingegen keineswegs alle Länder in gleichem Maße betroffen, und China konnte schon rasch als Lokomotive der Weltwirtschaft agieren. Die ILO rechnet damit, dass die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zwar 2022 weiter zunimmt, insgesamt aber selbst 2023 das Niveau von 2019 noch nicht erreicht werden wird (selbst unter der Annahme, dass der Krieg und die Sanktionen um die Ukraine beendet, die Inflation erfolgreich bekämpft und eine globale konterzyklische Politik in Gang gesetzt werden).

Der Rückgang der global geleisteten Arbeitsstunden entfällt 2020 zu etwa gleichen Teilen auf, teilweise staatlich finanzierte, Kurzarbeit (Äquivalent von 131 Millionen Vollzeitjobs) oder auf das direkte Anwachsen von Arbeitslosigkeit (124 Millionen). Die globale Rate von Bevölkerung zu Beschäftigung (global employment-population-ratio) fiel 2020 gegenüber 2019 um 2,7 % (im Vergleich dazu lag der Fall 2008 – 2009 bei 0,7 %). Insgesamt stieg die registrierte Arbeitslosigkeit in der Krise 2020 und 2021 auf rund 220 Millionen Menschen. Auch wenn sie 2022 etwas absank, lag sie noch immer deutlich über den 186 Millionen registrierten Arbeitslosen 2019. Darüber hinaus sind diese Zahlen außerdem wahrscheinlich sehr geschönt, weil von einigen Ländern kaum oder nur sehr verspätet Daten eintreffen. Außerdem inkludieren sie nur Menschen, die aktiv nach Arbeit suchen, nicht solche, die aus dem Arbeitsmarkt „dauerhaft ausgeschieden“ sind. Die Verteilung zwischen (keineswegs immer bezahlter) Kurzarbeit und direkter Arbeitslosigkeit von 50 % zu 50 % lässt sich lt. ILO in den meisten Ländern konstatieren, außer in den einkommensstärksten. In diesen bestand die vornehmliche Antwort auf die Krise in der Kurzarbeit, was auch bedeutete, dass diese auf ein Ende der Pandemie oder deren Einschränkungen rascher und besser reagieren konnten. Die Erholung des Arbeitsmarktes fiel in den reicheren Ländern daher auch weit stärker aus.

Die Krise hat zu enormen Einkommensverlusten der Arbeiter:innenklasse geführt. Das globale Lohneinkommen (also die staatlichen Transfers nicht eingerechnet) sank 2020 um 3,7 Billionen US-Dollar (8,3 %) gegenüber 2019. Dieser Trend hielt im ersten Quartal 2021 an (1,3 Billionen US-Dollar). Die ILO schätzt, dass die Anzahl der Arbeiter:innen in extremer (bis zu 1,9 US-Dollar pro Haushalt und Tag) oder „moderater“ Armut (1,9 – 3,2 US-Dollar je Haushalt und Tag) um 100 Million anwuchs. Damit wurden faktisch alle von den Vereinten Nationen im letzten Jahrzehnt proklamierten „Erfolge“ in der Armutsbekämpfung zunichtegemacht.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Verteilung von extremer und „moderater“ Armut von Lohnarbeitenden in den Jahren 2019 und 2020. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Haushalteinkommen mit mindestens einer/m beschäftigen Lohnarbeiter:in.

  Extreme Armut (weniger als 1,90 US-Dollar/Tag in PPP) Moderate Armut (1,90 US-Dollar/Tag – 3,20 US-Dollar/Tag in PPP
Region 2019 2020 2019 2020
Afrika   31,8 % 145 Mil 34 154 24,1 110 26,2 119
Lateinamerika und Karibik 3,0 8,8 3,8 9,9 5,0 14 6,8 18
Arabische Staaten (Nicht-Golfstaaten, ohne Nordafrika) 17,6 4,5 Mil 18,7 4,7 14,9 3,8 17,0 4,2
Ostasien 0,5 5 0,8 7 2,9 29 3,9 34
Südostasien und Pazifik 2,6 9 3,9 13 11 38 14 47
Südasien 6,7 45 9,8 62 26,7 178 35,9 225
Zentral- und Westasien 1,6 1,1 1,9 1,3 6,1 4,3 7,4 5,0

Auch in den imperialistischen Ländern dürfen die Auswirkungen der Reallohnverluste keineswegs unterschätzt werden. Generell hat die Krise jedoch die Arbeiter:innenklasse in den halbkolonialen Staaten weit mehr getroffen.

Das hat mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Arbeitslosigkeit viel größer als in den westlichen, imperialistischen Zentren. Zweitens waren die Kurzarbeitsschemata knapper, weniger dauerhaft und auch weit häufiger nicht oder nur zu sehr geringen Teilen bezahlt. Drittens bedeutete die Dominanz informeller und ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse, dass die Arbeiter:innen in den meisten Halbkolonien über keine Sicherung und Reserven verfügten. Viertens traf die Rezession den informellen Sektor besonders hart, weil in vielen Halbkolonien hunderttausende kleine Unternehmen pleitegingen und, im Gegensatz zu den imperialistischen Ländern, staatlich nicht gestützt werden konnten oder sollten. Fünftens wurden in den Halbkolonien seit der Krise neue Jobs im Wesentlichen in Sektoren mit geringer Arbeitsproduktivität geschaffen. So schätzte die ILO (2021), dass die durchschnittliche globale Arbeitsproduktivität von ohnedies schon mageren +0,9 % in der Periode 2016 – 19 in der 2019 – 2022 um 1,1 % sinken wird. Auch das ist ein untrügliches Zeichen von Stagnation und faktischem Niedergang.

Generell lässt sich sagen, dass die Krise die Arbeiter:innen in den Halbkolonien, die Frauen, Migrant:innen, Jugendlichen weit härter traf als den Durchschnitt. Das trifft auch auf das Verhältnis von gelernten und ungelernten, von unqualifizierten, Arbeiter:innen mit mittlerer Qualifikation und akademisch ausgebildeten Kräften zu. Letztere waren am wenigsten von der Krise betroffen, konnten deutlich schneller und dauerhafter zum Homeoffice wechseln und erlitten deutlich geringere Job- und Einkommensverluste, zumal wenn sie in größeren Unternehmen arbeiteten oder staatlich Beschäftigte waren.

Die Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen der Arbeiter:innenklasse wollen wir nur an einzelnen Zahlen illustrieren. 2020 sank die Beschäftigung von Frauen um 5 %, jene von Männern um 3,9 %. Hinzu kommt, dass geschätzt 90 % (!) dieser Arbeiterinnen, die ihre Jobs verloren, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Dies ist das Resultat (a) geschlechtlicher Diskriminierung und Unterdrückung am Arbeitsplatz und (b) besonders hoher Jobverluste in einigen Berufen mit hohem Frauenanteil oder (c) besonders hoher Gesundheitsrisiken in bestimmten Bereichen (Einzelhandel, Gesundheitswesen). Vor allem aber hängt es damit zusammen, dass Frauen in die private Carearbeit gezwungen wurden und werden, sei es, weil sie staatliche Einrichtungen (Kindergarten, Schule, Gesundheit, Altersvorsorge) nicht mehr bezahlen können oder diese gar nicht existieren. Die massive Verarmung der unteren Schichten der Arbeiter:innenklasse befördert zudem auch die Zunahme von Kinderarbeit in einigen Halbkolonien.

Ebenso sind Jugendliche besonders betroffen in Form von Arbeitslosigkeit, Jobverlusten, überproportional hohem Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen (faktisch die Regel für junge Arbeiter:innen).

Dies betrifft ebenso migrantische Arbeiter:innen und rassistisch Unterdrückte. Im Fall migrantischer Arbeiter:innen hat deren Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit auch massive Auswirkungen auf ihre Angehörigen in ihren Ursprungsländern, sei es, weil sie teilweise in diese mit Zwang zurückgeschickt wurden, sei es, weil sie keine oder deutlich weniger Lohnbestandteile an ihre Angehörigen schicken konnten, was zusätzlich die Verarmung der Arbeiter:innenklasse in den Ursprungsländern vergrößert.

Die Lage in den Halbkolonien wird zusätzlich durch das massive Anwachsen der Schulden verschlimmert. In den Jahren 2020 und 2021 setzten Kreditgeber:innen wie der IWF die Schuldenrückzahlung etlicher Halbkolonien aus, so dass diese die Krise etwas abfedern, zeitweise sogar kurzlebige konjunkturelle Feuerwerke entfachen konnten. Damit ist jetzt Schluss. Seither müssen die Schulden, teilweise mit zusätzlichen Auflagen verknüpft, zurückgezahlt werden.

Hier kommt ein weiteres mit der Rezession und Pandemie einhergehendes Phänomen hinzu. Seit 2020 können wir massive Preissteigerungen auf dem Weltmarkt für agrarische Rohstoffe beobachten. Lt. FAO Food Price Index (FFPI) stiegen sie 2020 im Durchschnitt um 31 Prozent, jene für Ölsaaten wie Raps oder für Mais verdoppelten sich sogar.

Das führte auch weltweit zu einer massiven Steigerung der Lebensmittelpreise, die im Januar 2022 ein Rekordniveau erreichten und seither weiter steigen. Mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine explodierten sie geradezu. So stieg der Weltnahrungsmittelindex um rund 13 %, der für Weizen um 17 % allein im März 2022. Schon 2021 stiegen die Lebensmittelpreise im globalen Durchschnitt lt. Welthungerhilfe um 28 %. Für 2022 wird eine durchschnittliche Steigerung von 35 % erwartet, die vor allem die Länder Afrikas und Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien weit überdurchschnittlich treffen wird.

Die Arbeiter:innenklasse in den Halbkolonien trifft das besonders hart, weil sie einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben muss (50 – 100 %, verglichen mit 12 bis 30 % in den Industrieländern). Kein Wunder also, dass Millionen, auch Arbeitenden, Hunger droht.

250 bis 300 Millionen sind nach Schätzungen des UN-Welternährungsprogramms WFP mit starker oder akuter Hungersnot konfrontiert, 40 – 50 Millionen direkt vom Hungertod bedroht. Tendenz steigend. Je nach Entwicklung des Ukrainekrieges wird in den nächsten Monaten mit einem zusätzlichen Anstieg der Betroffenen um weitere 33 – 47 Millionen gerechnet.

So stammen beispielsweise rund 30 % aller Weizenexporte der Welt aus der Schwarzmeerregion. Der Ausfall der Ukraine als zentraler Getreideexporteurin sowie die Sanktionen gegen russische Exporte verschärfen die Lage auf den Lebensmittelmärkten extrem – gerade für die ärmsten Länder der Welt. Der Krieg fungiert dabei als Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die bereits seit Beginn der Pandemie und der damit verbunden Weltwirtschaftskrise extreme Formen annimmt.

Schon Ende 2021 litten rund 193 Millionen an starker oder akuter Hungernot – 40 Millionen mehr als 2020. Über diese stark oder akut Betroffenen hinaus weisen die Statistiken der UN eine noch weitaus größere Zahl von weltweit 810 Millionen Menschen aus, die von Hunger betroffen sind. Fast 2 Milliarden, also rund ein Viertel der Weltbevölkerung, leiden an Mangelernährung.

Zusammen mit der Inflation der Nahrungsmittelpreise trifft die Erhöhung der Energiepreise, der für Wohnraum und eine generelle Erhöhung der Preise die Massen mit voller Wucht. Der Krieg um die Ukraine und die Sanktionen wirken hier als Katalysatoren. In vielen Halbkolonien tritt außerdem zur Schulden- eine veritable Währungskrise.

Schließlich wird die drohende ökologische Katastrophe auch weitere Millionen in die Flucht zwingen. Diese ist eng verbunden mit einer Krise des gesamten Agrarsektors und seiner Abhängigkeit vom imperialistischen Finanzkapital.

Extremwetterlagen, Dürre, Ausbreitung von Wüsten, Ernteschäden oder –ausfälle suchen zahlreiche von den imperialistischen Mächten beherrschte Länder seit Jahren regelmäßig heim.

Besonders stark davon betroffen ist Afrika. 2021 waren mehrere Länder West- und Ostafrikas von massiven Ernteausfällen und Produktionsrückgängen infolge von Pandemie, schlechten Witterungsbedingungen und kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen. In Ländern wie Äthiopien oder im Südsudan wurden Millionen Menschen vertrieben.

Kriege, Umweltkatastrophen, Dürren, Ernteausfälle treiben also weltweit Menschen in die Flucht.

Alle diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten und Jahren keinesfalls nachlassen. Im Gegenteil: Ihre destruktive, zerstörerische Dynamik wird sich verstärkt entfalten. Allein das weitere Fortschreiten des Klimawandels droht, in den kommenden 10 Jahren rund eine Milliarde Menschen von ihren jetzigen Wohnorten zu vertreiben, weil diese dann nicht mehr bewohnbar sein werden, sofern es keine drastische Veränderung der Umweltpolitik gibt. Diese ist unter kapitalistischen Bedingungen und erst recht angesichts des zunehmenden globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt nicht zu erwarten.

Prognosen

Gegenüber dem Jahr 2020 brachte die Wende des Jahres 2021/22 eine gewisse Entspannung. So wuchs die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Jahr 2022 lt. ILO um 2,3 %. Für das laufende Jahr wird ein Wachstum von einem Prozent vorhergesagt.[xiv]

Die Ursachen dafür sind direkt Resultat der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre. Schon während der Pandemie wurden globale Lieferketten unterbrochen. Das schrumpfende Angebot führte schon damals zu signifikanten Steigerungen der Lebensmittelpreise für die Masse der Weltbevölkerung.

Angesichts der düsteren ökonomischen Aussichten können wir in den kommenden Jahren mit einer Stagnation der Größe der Arbeiter:innenklasse rechnen, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden.

Für die arabischen Staaten (d. h. in erster Linie in den reicheren Ländern) und Teile Afrikas wird eine Ausdehnung der Beschäftigung prognostiziert. Rohstoffreichtum begünstigt dabei vor allem die Rentierökonomien in den arabischen Staaten und einige Länder Afrikas. Bei den Prognosen für Afrika muss außerdem die große Ungleichheit, vor allem aber das schlechte Ausgangsniveau mit in Rechnung gestellt werden. Aufgrund des Wachstums der Bevölkerung und damit der Arbeitssuchenden werden die Arbeitslosenraten deshalb kaum zurückgehen.

In Asien, Lateinamerika und der Karibik wird von einem Beschäftigungswachstum von maximal einem Prozent ausgegangen – ein Wachstum, dem jedoch ein noch größeres der Bevölkerung in vielen Ländern entgegensteht. In den USA und Kanada rechnet die ILO 2023 mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit, für Europa und Zentralasien sagt sie ein Schrumpfen der Anzahl der Beschäftigten voraus. In etlichen Ländern (auch Deutschland) wird das jedoch durch einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter konterkariert, was die Arbeitslosenraten relativ gering hält, ja, in etlichen Sektoren mit einem Mangel an Arbeitskräften einhergeht.

Eine stagnierende Weltwirtschaft wird also begleitet von einem Arbeitskräftemangel in den technologisch fortgeschritteneren Sektoren der Produktion wie auch im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das betrifft auf den ersten Blick vor allem die reicheren, entwickelteren Volkswirtschaften. Obwohl hier das Bildungs- und Ausbildungsniveau weiter über dem globalen Durchschnitt liegt, fehlt es an Fachkräften. Das hängt nicht nur mit einer veränderten Altersstruktur zusammen, sondern auch mit massiven Einsparungen (z. B. im Gesundheitswesen) und einem seit Jahren aufgebauten Mangel.

Global betrachtet, stellt sich das Problem noch viel schärfer. Die Kürzungen im Ausbildungssektor betreffen die Halbkolonien noch weit mehr als die imperialistischen Länder. Generell ist in den letzten Jahren der Anteil junger Menschen, die sich in Arbeit, Ausbildung oder Bildung befinden, nach Jahrzehnten der Zunahme rückläufig. 2022 waren lt. ILO 289 Millionen junge Menschen ohne Arbeit, Ausbildung und Schulbildung.[xv] Davon waren zwei Drittel junge Frauen. Generell liegen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung unter jungen Lohnabhängigen deutlich höher als bei älteren.

Grundsätzlich wurden die Bildungskosten für die nächste Generation von Lohnabhängigen massiv reduziert, weil diese vom kapitalistischen Standpunkt aus Abzüge vom Gesamtprofit, „unnütze“ Kosten für das Einzelkapital bedeuten. Für dieses stellt eine Reduktion der Bildungskosten für die Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar, dem Fall der Profitrate durch Erhöhung der Ausbeutungsrate entgegenzuwirken. Allerdings mit einer fatalen, langfristigen Folge: Es werden nicht mehr ausreichend Arbeitskräfte mit der geforderten Qualifikation ausgebildet. Die imperialistischen Ländern haben dabei noch eher die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, weil sie erstens über größere Reserven für Ausbildungs- und Bildungsinvestitionen verfügen, zweitens auf einen größeren Pool von ausgebildeten verrenteten Arbeiter:innen zurückgreifen können und drittens mittels einer selektiven Migrationspolitik vor allem qualifiziertere Lohnabhängige aus ärmeren Ländern mit geringeren Lohnniveaus anziehen können (ohne einen Cent für deren Bildungskosten auszugeben).

Insgesamt schätzt die ILO, dass 2022 3,6 Milliarden Menschen lohnabhängig beschäftigt waren. Die Beschäftigungsrate (Labour Force Participation Rate) an der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei 60 % und somit unter dem Niveau von 2019. Für die Jahre 2023 und 2024 wird ein weiterer, leichter Rückgang prognostiziert.

Von den 3,6 Milliarden waren 2 Milliarden informell beschäftigt. 2022 gab es zudem weltweit 473 Millionen Jobsuchende (davon 213 Millionen Arbeitslose). Auch nach der Pandemie und in der kurzen „Erholung“ 2021/22 setzten sich die globalen Ungleichheiten weiter fort. Frauen sind nicht nur weiterhin auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Die Krise hat auch insofern zu einer Verschlechterung geführt als 80 % der Frauen, die 2021/22 wieder Arbeit fanden, dies im informellen und in schlechter bezahlten Sektoren der Wirtschaft taten, was ihre abhängige Rolle weiter verstärkt.

Von den 3,6 Milliarden Beschäftigten verfügen 2 Milliarden über keine Form der sozialen Absicherung, sei es durch den Staat oder durch Versicherungsleistungen. Betrachten wir die gesamte Weltbevölkerung, so beläuft sich diese Zahl auf rund 4 Milliarden, also praktisch die Hälfte aller Bewohner:innen dieses Planeten. Wie die Pandemie, Inflation und Klimakatastrophen zeigen, verfügen diese Menschen kaum über Reserven – und die kommenden Jahre werden ihre Lage tendenziell noch prekärer machen.

2022 sanken im globalen Durchschnitt die Arbeitseinkommen und blieben unter den Inflationsraten. Diese Entwicklung betrifft vor allem die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo der Reallohnverlust durchschnittlich 2,2 % betrug.[xvi] Allerdings spiegeln die Inflationsraten nur sehr unzureichend die Veränderung der Lebenshaltungskosten der Lohnabhängigen, so dass es erscheinen mag, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern stärker als jene in den Halbkolonien betroffen wären. Das ist aber falsch. In den Halbkolonien müssen die Arbeitenden einen weitaus größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse aufwenden, da die Preissteigerung für Nahrungsmittel und anderer für die Lohnabhängigen essentieller Güter oft deutlich über der Inflationsrate liegt.

Alle oben beschriebenen Entwicklungen wurden durch den Krieg um die Ukraine verschärft, der seinerseits Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt ist. Er geht mit einem offenen Wirtschaftskrieg zwischen den westlichen Mächten und Russland einher, der aber letztlich nur einen Faktor einer weit größeren Konfrontation mit China darstellt. Diese Konkurrenz drängt zur Bildung von politischen und ökonomischen Einflusssphären der verschiedenen Blöcke, zu einer Fragmentierung des Weltmarktes und damit verbunden auch zu einer Veränderung globaler Produktions- und Lieferketten. Der Krieg um die Ukraine führt außerdem auch zur massiven Forcierung der Rüstungsproduktion. Das wird sich in den kommenden Jahren weiter fortsetzen, selbst wenn es zu einer (zeitweiligen) Befriedung in der Ukraine kommen sollte.

All dies wird damit einhergehen, dass die Nahrungsmittelpreise weiter hoch bleiben. Gerade in den Halbkolonien wird das auch auf die Energiepreise zutreffen, sei es, weil die Streichung staatlicher Preisstützungen für die Massen zu den Grundbedingungen der IWF-Maßnahmen gehören, in die mehr und mehr Länder des globalen Südens aufgrund von Schulden- und Währungskrisen gezwungen werden, sei es aufgrund geringer Versorgungssicherheit und Knappheit. Inflation wird für die Arbeiter:innenklasse dieser Welt also weiter ein zentrales Problem bleiben.

Zu diesen aus der verschärften Konkurrenz und dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt kommenden Faktoren tritt die ökologische Krise. 2022 verdeutlicht die enorme Gefahr, die der Weltbevölkerung droht, vor allem und zuerst im globalen Süden. Die Weltlage verschärft dieses Problem, das der Kapitalismus ohnedies schon unfähig ist zu lösen. Extremwetterlagen und Fluten wie 2022 in Pakistan, als rund ein Drittel der Bevölkerung von der Katastrophe direkt betroffen war, werden sich in den kommenden Jahren wiederholen. Für die Arbeiter:innenklasse bedeutet dies vor allem in den halbkolonialen Ländern eine dauerhafte, ja sich verschärfende Ernährungskrise, eine dramatische Zerstörung von Wohnraum. Die Folgen sind Hungersnöte und Massenflucht von Abermillionen.

Schon die Coronapandemie und die Wirtschaftskrise in den Jahren 2020 und 2021 haben weltweit zu Millionen von Toten, massiven Einkommensverlusten und einer Verschlechterung der Lebensbedingungen für die Arbeiter:innenklasse geführt. Aufgrund von Rezession, Gesundheitskrise und Krieg sind die Rücklagen (sofern sie überhaupt welche hatten) der Masse der Lohnabhängigen im globalen Süden, aber auch der unteren und ärmeren Schichten in den imperialistischen Ländern aufgebraucht. Dabei stehen wir längst nicht am Ende, sondern mitten in einer weiteren Welle von Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse.

3. Die Arbeiter:innenbewegung und die Führungskrise des Proletariats

Nationaler Schulterschluss und Klassenkollaboration

Seitens der Gewerkschaften, sozialdemokratischen, stalinistischen, linkspopulistischen und linksreformistischen Parteien und Organisationen gab es wenig bis gar keinen organisierten Widerstand gegen die Angriffe der Jahre 2020 – 22. Stattdessen suchten die Führungen der Massenorganisationen in den meisten Ländern in den ersten beiden Jahren der Pandemie die nationale Solidarität mit der herrschenden Klasse und verfolgten eine Politik, die die Interessen der Lohnabhängigen effektiv denen des Kapitals unterordnete. Sie unterstützten eine inhärent widersprüchliche und halbherzige Pandemiepolitik der herrschenden Klasse, die, von wenigen Ausnahmen wie in China abgesehen, zwischen einer Strategie der Abflachung der Kurve (d. h. der Begrenzung der Pandemie auf ein Niveau unterhalb des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems) und Durchseuchung schwankte. Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, hat sich in den meisten Ländern letztere Strategie, einschließlich der dauerhaften Inkaufnahme von gesundheitlichen Folgeschäden, durchgesetzt.

Die Politik des nationalen Schulterschlusses trug maßgeblich zu massiven Einkommensverlusten für die Arbeiter:innenklasse, die in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt wurden, bei. In den imperialistischen Staaten und einigen Halbkolonien wurden diese zwar durch staatliche Interventionen und Kurzarbeit abgefedert, an der grundlegenden Entwicklung ändert das aber nichts. Die Gewerkschaften und auch die reformistischen Parteien fungierten in den imperialistischen Kernländern als Co-Managerinnen der Krise. Die meisten von ihnen sicherten den industriellen und gewerkschaftlichen Frieden. In vielen Ländern wurden im Gegenzug für (unzureichende) staatliche Rettungspakete und Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und zur Begrenzung von Einkommensverlusten die gewerkschaftlichen Kämpfe faktisch ausgesetzt und Tarifverhandlungsrunden verschoben.

Das bedeutet nicht, dass wir in dieser Phase gar keine erlebten. Vielmehr wurden diese in Ländern wie Italien und Spanien zu Beginn der Pandemie organisiert, um Gesundheitsschutzmaßnahmen und Fabrikschließungen überhaupt erst durchzusetzen.

In den meisten Ländern suchten die etablierten Führungen der Arbeiter:innenbewegung (Sozialdemokratie, Labour, viele „kommunistische Parteien“, linksreformistische Parteien, Gewerkschaftsführer:innen und Linkspopulismus) in der Regel ein Bündnis mit dem „vernünftigen“ Teil der herrschenden Klasse und versuchten, (informelle) Koalitionen unter dem Banner der nationalen Einheit und Sozialpartnerschaft zu bilden. Dies geschah entweder in Form einer direkten Regierungsbeteiligung oder politischen Unterstützung der „demokratischen“ bürgerlichen Parteien (US-Demokrat:innen, Liberale, Grüne). Diese Politik der offiziellen Führungen der Arbeiter:innenbewegung trug ihrerseits wesentlich zum weiteren Aufstieg der Rechten bei, was wiederum als weitere Legitimation für eine Politik der Klassenkollaboration herhalten sollte.

Diese Politik wird in vielen Ländern im Grunde bis heute fortgesetzt – nur diesmal unter dem Vorzeichen der notwendigen Zurückhaltung zugunsten der Unterstützung der Bourgeoisie im neuen Kalten Krieg und insbesondere in der Sanktionspolitik gegen Russland. Faktisch unterstützen im Krieg um die Ukraine sowohl alle großen sozialdemokratischen Parteien, die Führungen der meisten Gewerkschaftsverbände als auch zahlreiche Linksparteien die Kriegsziele des westlichen Imperialismus. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und die dortigen staatsnahen Gewerkschaften verteidigen derweil den Angriffskrieg und die Eroberungen des russischen Imperialismus.

Gewerkschaften

Insgesamt hat die Politik der Klassenzusammenarbeit seit Jahren den anhaltenden Trend eines sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrades weiter verschärft. Natürlich wird dieser nicht nur durch die falsche bürgerliche Politik der Führung bedingt, sondern ist  selbst eine Folge der Umstrukturierung des Kapitals und der damit verbundenen Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse. Die Gewerkschaften unter Führung der Bürokratie haben aber darauf keine Antwort gefunden. Vielmehr hoffen sie, die verlorene Organisationsmacht durch Korporatismus und Integration in ein System der Klassenkollaboration auszugleichen. Dies wird zum Teil auch mit aktivistischen Kampagnen (z. B. Organizing) verknüpft, die aber die Kontrolle der Bürokratie nicht in Frage stellen sollen (und können). Teilweise gelingt es den Gewerkschaftsapparaten in einigen Staaten noch, Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und Verhandlungsmacht auch in gewerkschaftlich schwach organisierten Bereichen aufrechtzuerhalten. Doch dies stellt nur ein Nebenprodukt ihrer Stellung im nationalen Gefüge von Korporatismus und Sozialpartner:innenschaft dar (und steht und fällt mit der Fähigkeit, diese aufrechtzuerhalten).

Dies wird aber immer schwieriger. Denn grundsätzlich schwächt die Politik der Klassenkollaboration die etablierten Gewerkschaften und betrieblichen Strukturen. Sie werden reduziert auf Schichten der Arbeiter:innenaristokratie oder Beschäftigte im staatlichen Sektor. Auch dort findet diese Politik eine gewisse soziale Basis – allerdings eine, die tendenziell schrumpft, was zu einer Schwächung der Bürokratie, aber auch der Organisationen selbst führen könnte.

Die unmittelbare, sehr kurzlebige, Erholung und der Aufschwung nach der Rezession 2020/21 führten in einigen Ländern zu einer Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Militanz und zu teilweise sehr beeindruckenden Kämpfen um die Organisierung zuvor nicht organisierter Sektoren. Doch diese neue Schicht von Gewerkschaftsaktivist:innen wird sich nun unter veränderten Bedingungen massiver Preissteigerungen bewähren müssen. Die Auseinandersetzungen haben zwar kleinere oder größere Schichten von Aktiven und Kampferfahrungen hervorgebracht, aber die Kontrolle der bürokratischen Apparate nicht wesentlich in Frage gestellt (in einigen Fällen sogar gestärkt). In der Regel sind sie nicht über die Ebene der wirtschaftlichen Klassenkämpfe oder von der Bürokratie kontrollierten Mobilisierungen hinausgegangen.

Dies gilt auch für die massiven Streikbewegungen in Indien, die Hunderte von Millionen mobilisierten – allerdings letztlich für begrenzte eintägige Aktionen ohne weitere Kampfperspektiven.

Auch in Europa erlebten wir trotz Krieges gegen die Ukraine einen Aufschwung von politischen und gewerkschaftlichen Abwehrkämpfen (Britannien, Spanien, Frankreich und sogar in Deutschland). Diese führen zweifellos zur Politisierung neuer Schichten. Die Strategie der Gewerkschaftsführungen stellt aber ein zentrales Hindernis im Kampf dar, so dass sowohl den Millionen, die im Kampf gegen die Rentenreform Macrons mobilisiert wurden, als auch den Tarifkämpfen in Britannien und Deutschland Ausverkauf und Niederlagen drohen.

Insgesamt befindet sich die Gewerkschaftsbewegung in einer tiefen Krise – einer Krise, die allerdings in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen annimmt.

Zugleich ist die Arbeiter:innenklasse in allen Ländern mit gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen und Einschränkungen des Streikrechts konfrontiert. Aber diese fallen sehr unterschiedlich aus. In den meisten europäischen Ländern unterstützt die Bürokratie diese Gesetze nicht nur stillschweigend, sondern nutzt sie auch, um ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu festigen. In den USA hingegen ist die Machtposition der Gewerkschaften in der Gesellschaft wesentlich schwächer, so dass auch der Kampf um ihre Anerkennung eine größere Rolle einnimmt.

In diesen Ländern (aber auch in vielen lateinamerikanischen) stützen sich die Gewerkschaftsbürokratien entweder auf „ihre“ sozialdemokratischen Arbeiter:innenparteien oder auf ihre Verbindungen zu den Demokrat:innen oder populistischen Parteien, um auf nationaler Ebene jene Gesetze durchzusetzen, die ihnen einen branchen- und betriebsübergreifenden Gestaltungsspielraum für das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital ermöglichen. Im Gegenzug sind sie bereit, als soziale Stütze der Regierungen zu fungieren. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaftsführungen betreiben aktiv eine Politik der Klassenkollaboration (die sich mitunter auch auf Arbeit„nehmer“:innenschichten stützen kann, insbesondere in den Großbetrieben).

Insgesamt ist auch eine weitere Zersplitterung der Gewerkschaften zu beobachten, deren Kehrseite die eher willkürliche Verschmelzung verschiedener Branchengewerkschaften darstellt. In den Halbkolonien ist diese Zersplitterung noch viel stärker ausgeprägt.

Wenn sich die Gewerkschaftsapparate und mit ihnen auch die Gewerkschaften selbst dem bürgerlichen Staat annähern (entweder direkt oder vermittelt über reformistische, populistische, nationalistische oder linksbürgerliche Parteien), wird umgekehrt der Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenklasse kleiner. Zwar haben die Pandemiekrise und teilweise die Kosten des Ukrainekrieges dazu geführt, dass staatliche Hilfsmaßnahmen über Schulden finanziert und damit auch als Verhandlungserfolg der Gewerkschaftsbürokratie dargestellt werden konnten, doch droht die Inflation, dies nun aufzufressen, und die herrschende Klasse wird über kurz oder lang ihren finanzpolitischen Kurs ändern, was verstärkte Angriffe nach sich ziehen wird.

In den Halbkolonien hat dies alles längst viel dramatischere Formen angenommen. Dort findet zwar auch Korporatismus statt, aber auf einer viel schmaleren wirtschaftlichen Basis. Daher ist der Organisationsgrad im Allgemeinen niedriger, manchmal sogar extrem niedrig (weniger als 5 % der Klasse), und die Gewerkschaftslandschaft ist gleichzeitig viel stärker zersplittert. Zahlreiche kleine Gewerkschaften, die oft nur auf betrieblicher und regionaler Ebene existieren, verfügen über keine wirkliche Kampfkraft.

In diesen Ländern stellt die Organisierung der Unorganisierten und die Reorganisation der Gewerkschaften in Branchengewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf einer demokratischen, klassenkämpferischen Basis ein zentrales, unmittelbares Kampfziel dar.

In Ländern, in denen die Gewerkschaften unter diktatorischen Bedingungen arbeiten müssen, stehen wir einem weiteren, anders gelagerten Problem gegenüber. Auch dort stellt sich zwar das Problem der Einbindung staatlich anerkannter Gewerkschaften ebenso wie der Versuch des Staates, korporatistische Betriebsstrukturen für die Beschäftigten zu schaffen und damit Konflikte institutionell zu regeln. Verschärft wird dieses Problem jedoch durch die Illegalität bzw. eingeschränkte Legalität der politischen Parteien der Arbeiter:innenklasse, sogar der mit reformistischem Charakter.

Schließlich konfrontiert die aktuelle Situation die Gewerkschaften und betrieblichen Aktivist:innen mit politischen Fragen (Krieg, Pandemiepolitik), der tieferen wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Klasse und dem Verhältnis zum Staat und den bürgerlichen Institutionen.

Politische Organisationen

Dabei verbinden die Gewerkschaftsbürokratien den Ökonomismus mit bürgerlicher Arbeiter:innenpolitik. Dies geschieht entweder in Form eines Bündnisses mit offen bürgerlichen Parteien oder mit dem Linkspopulismus als deren linkester Variante.

Auch wenn der Linkspopulismus oft ähnliche Forderungen wie sozialdemokratische oder stalinistische Parteien vertritt, ist das Verhältnis von reformistischen und populistischen Parteien zur Arbeiter:innenklasse grundlegend verschieden. Reformistische Parteien stützen sich organisch auf die Arbeiter:innenklasse und sind durch einen inneren Widerspruch zwischen der proletarischen sozialen Basis und der bürgerlichen Politik gekennzeichnet. Die populistischen Parteien hingegen, die sich auf ein Bündnis verschiedener Klassen stützen, die zum „Volk“ ideologisiert werden, sind letztlich Volksfronten in Parteiform.

Die Tatsache, dass sich in der gegenwärtigen Periode verschiedene Zwischen- und Übergangsformen, einschließlich linkspopulistischer (oder sogar liberal-bürgerlicher) Flügel, in reformistischen Parteien bilden, dass einige linkspopulistische Formationen noch keinen festen Rückhalt in Teilen der Bourgeoisie haben, bedeutet, dass an der gesellschaftlichen Oberfläche der Unterschied zwischen linkspopulistischen Parteien und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien zu verschwinden scheint. Hinzu kommt, dass sowohl populistische als auch reformistische Parteien klassenübergreifende Blöcke und Bündnisse in Regierungen anstreben und daher auch als Teile einer bürgerlichen Koalitionsregierung oder einer Volksfront auftreten.

Diese direkte Suche nach Koalitionsregierungen mit dem „linken“ oder „demokratischen“ Flügel der Bourgeoisie, die Tendenz zur Volksfrontpolitik entspricht der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften und markiert einen weiteren Rechtsruck der traditionellen reformistischen Parteien. Dies geht oft mit deren Niedergang und manchmal auch mit internen Tendenzen einher, die organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse zu lösen.

All dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hinwendung oder der Wandel zum Populismus eine weitere Entwicklung weg von einer Politik bedeutet, die auf organischen Verbindungen zur Arbeiter:innenklasse beruht. So stellt das Schrumpfen des Reformismus zugunsten des Linkspopulismus eine allgemeine Schwächung der Arbeiter:innenklasse dar, auch wenn dies, wie z. B. das Wachstum der frühen „Grünen“ auf Kosten der Sozialdemokratie (und des Stalinismus), oberflächlich betrachtet, als Linksentwicklung erscheinen mag. Das kleinbürgerliche oder populistische Strohfeuer entpuppt sich regelmäßig als ein Weg nach rechts.

Im Grunde ist der Vormarsch klassenübergreifender Ideologien wie des Populismus Ausdruck der Niederlagen der Arbeiter:innenklasse und eine Folge der verräterischen Politik der Führungen von Gewerkschaften und bürgerlichen Arbeiter:innenparteien.

Gleichzeitig ist der Vormarsch von Populismus, Identitätspolitik und Formen des bürgerlichen Individualismus (Queertheorie) nicht nur in der politischen und ideologischen Krise der Arbeiter:innenklasse begründet, sondern auch in der veränderten Situation der Mittelschichten, des Kleinbürgertums und auch der Kleinunternehmer:innen in der Krise. Unter stabilen Bedingungen fungieren sie eigentlich als Stütze der bürgerlichen Ordnung und Demokratie.

In der Krise allerdings entdecken sie ihre „Unabhängigkeit“. Sie kritisieren die „Elite“, indem sie zwischen „guten“ und „schlechten“ Strömungen des Kapitals unterscheiden; aber sie gerieren sich auch „radikal“ und fordern einen Bruch mit der „traditionellen Klassenpolitik“ oder dem, was Sozialdemokratie und Stalinismus daraus gemacht haben. Im linken Spektrum äußert sich diese kleinbürgerliche Strömung ideologisch auf unterschiedliche Weise: als linker Populismus, Identitätspolitik, Queertheorie, Befreiungsnationalismus, Postkolonialismus und in vielen anderen Schattierungen. Philosophisch-methodologisch stehen sie in engem Zusammenhang mit der Postmoderne und, vermittelt durch diese, mit den reaktionärsten, oft subjektiv-idealistischen und irrationalistischen Strömungen der westlichen Philosophie.

Die gegenwärtige Krise wird auch weiterhin einen Nährboden für diese kleinbürgerlichen Ideologien bieten – natürlich nicht nur in ihren linken, sondern vor allem auch in ihren rechten Spielarten – zumal einige dieser Ideologien bereits tief in die organisierte Arbeiter:innenbewegung und die politische Linke eingedrungen sind.

Kleinbürgerliche Ideologien stellen schon längst eine besonders wichtige und prägende Kraft in der Frauen*streikbewegung und im zeitgenössischen Feminismus dar, aber auch in klassenübergreifenden Massenbewegungen (Ökologie, Antirassismus). Das Beispiel der Gilets Jaunes in Frankreich veranschaulicht die Gefahr, wenn Populismus zur führenden politischen Ideologie einer Massenbewegung wird. Die Gefahr, dass die radikale Rechte diese Bewegung auf elektoraler Ebene wie überhaupt im politischen Raum für sich vereinnahmt oder eine dominante Rolle ausübt, spiegelt einen weiteren Rückgang des sozialen Gewichts der Arbeiter:innenklasse wider.

Der Populismus und andere kleinbürgerliche Ideologien sind jedoch nicht die einzigen, die versuchen, die Krise der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien auf der Linken zu lösen.

In den letzten Jahren ist auch eine neue Strömung des linken Reformismus entstanden – zum Beispiel in Teilen der europäischen Linksparteien, im Corbynismus in der Labour Party oder auch in Teilen der DSA in den USA. Das Scheitern Corbyns zeigt deutlich die Grenzen dieser Strömung, ist aber keineswegs mit ihrem Ende zu verwechseln.

Zeitschriften wie „Jacobin“ oder die Stiftungen der ELP (Luxemburg Foundation) haben in den letzten Jahren begonnen, eine „neue“ reformistische Strategie zu etablieren und versuchen, sie als Alternative zur alten Sozialdemokratie, zu den „Grünen“ und zum Linkspopulismus zu verbreiten. Unter dem Titel „Transformationsstrategie“ berufen sie sich auf Theoretiker wie Kautsky, Gramsci, Poulantzas, um eine antibolschewistische, „sozialistische“ Strategie zu rechtfertigen, die den revolutionären Sturz der herrschenden Klasse und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats durch einen langwierigen Kampf um die „Hegemonie“ und eine „schrittweise Transformation“ von Staat und Gesellschaft ersetzen will. Dieser „neue“ Reformismus ist natürlich nicht neuer als seine historischen Vorbilder im marxistischen Zentrum der II. Internationale, dem Austromarxismus oder dem Eurokommunismus. Aber die Theoretiker:innen und Ideolog:innen dieser Strömung stellen ihn als Versuch dar, einen „neuen Marxismus“ zu begründen, der den Gegensatz von Reform und Revolution versöhnt. In Wirklichkeit entpuppt sich das als wieder aufgewärmter Revisionismus.

Die „radikale“ Linke und der Zentrismus

Im Allgemeinen konnte die „radikale“ Linke wenig oder gar nicht von den politischen Krisen des Reformismus und der Anpassung der Gewerkschaftsführungen an Kapital und Staat profitieren. Im Gegenteil, sie erlebt einen weiteren politischen Niedergang.

Die Linke aus „postmarxistischen“ und (post)autonomen Bewegungen schwankt zwischen einer opportunistischen Anpassung an andere Kräfte (kleinbürgerlich geführte Bewegungen oder auch den linken Apparaten in Gewerkschaften und reformistischen Parteien) einerseits und einer romantisierenden Rückkehr zu ultralinken Formen von „Militanz“ andererseits. Beiden gemeinsam ist eine Fetischisierung von Formen des spontanen Prozesses, die je nach ideologischer Ausrichtung durch Teile der Klimabewegung, Organizing-Kampagnen in den Gewerkschaften, „Nachbarschaftsarbeit“ oder direkte Aktionen verkörpert werden. Diese Fetischisierung der Form ersetzt jede systematische Entwicklung eines Programms, einer Strategie und Taktik.

Auch wenn diese Strömungen theoretisch und programmatisch in einer Sackgasse stecken und vor allem keine Antwort auf die Kriegsfrage und die zunehmende imperialistische Blockkonfrontation geben, können wir keineswegs ausschließen, dass sie – ähnlich wie verschiedene Spielarten des Anarchismus – Anziehungskraft auf sich radikalisierende Teile der Jugend und kämpferische Arbeiter:innen entwickeln können, gerade weil sie eine einfache Antwort auf den Niedergang des Reformismus und die Krise der Arbeiter:innenbewegung zu liefern scheinen.

Diese Formen des kleinbürgerlichen Linksradikalismus müssen von zentristischen Kräften unterschieden werden, also solchen, die zwischen Reform und Revolution, zwischen bürgerlicher und revolutionärer Arbeiter:innenpolitik schwanken. Der Zentrismus ist im Grunde ein kurzlebiges politisches Phänomen, denn ein länger andauerndes Pendeln zwischen diesen Polen im Klassenkampf ist für eine Partei, die bedeutende Teile der Klasse führt, unmöglich.

In den letzten Jahren, ja, sogar Jahrzehnten, hat sich keine zentristische Massenpartei gebildet, die mit der Partido dos Trabalhadores (PT = Arbeiter:innenpartei) bei ihrer Gründung oder der USPD im Ersten Weltkrieg vergleichbar wäre. Einem solchen Phänomen am nächsten kam die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA = Neue antikapitalistische Partei), die es aber aufgrund ihrer inneren Widersprüche nie vermochte, über das Stadium einer großen Propagandaorganisation hinauszuwachsen und wirklich eine Partei zu werden.

Wir haben es heute entweder mit zentristischen Wahlfronten zu tun, wobei die erfolgreichste und größte zweifellos die Frente de Izquierda y de los Trabajadores – Unidad (FIT-U = Vereinigte Front der Linken und der Arbeiter:innen) in Argentinien darstellt, oder mit rechtszentristischen Strömungen innerhalb reformistischer Formationen (z. B. in Teilen der Democratic Socialists of America, DSA).

Es ist jedoch keineswegs auszuschließen, dass solche zentristischen Formationen in der nächsten Zeit eine größere Anhänger:innenschaft gewinnen werden. Solche können natürlich nicht nur aus sozialdemokratischen Formationen oder trotzkistischen Kräften entstehen, sondern auch aus linksstalinistischen oder politischen Differenzierungen innerhalb von Massenbewegungen. Wo diese Kräfte zu einem Phänomen werden, das bedeutende Teile der Avantgarde umfasst, müssen Revolutionär:innen in diesen Prozess eingreifen und für eine wirklich revolutionäre Ausrichtung kämpfen.

Im Allgemeinen befinden sich die trotzkistisch-zentristischen Organisationen jedoch in einer tiefen Krise. Mehrere Strömungen – allen voran das Vereinigte Sekretariat, das sich vor einigen Jahren ironischer Weise in Vierte Internationale umbenannt hat – sind nach rechts gerückt und haben Sektionen und Mitglieder verloren. Andere, wie die International Socialist Tendency (IST = Internationale Sozialistische Tendenz), treten kaum noch als internationale Strömungen in Erscheinung. Das Committee for a Workers International (CWI = Komitee für eine Arbeiter:inneninternationale) hat sich in zwei etwa gleich große Teile gespalten. Das Gleiche gilt für die Partido Obrero (PO = Arbeiter:innenpartei) und ihre internationale Strömung.

Unter den größeren zentristischen Strömungen haben sich die aus dem Morenismus hervorgegangenen (Liga Internacional dos Trabalhadores, LIT; Unidad Internacional de Trabajadoras y Trabajadores, UIT) konsolidiert, wenn auch mit einer abenteuerlichen Politik, die zwischen Opportunismus und Sektierertum schwankt. Nur zwei große internationale Strömungen sind gewachsen oder befinden sich im Wachstum: Die International Marxist Tendency (IMT = Internationale Marxistische Tendenz), die sich als eine eher „orthodoxe“ Form des Marxismus mit einer starken propagandistischen Ausrichtung präsentiert, und die Fraccíon Trotskista (FT) mit der argentinischen Partido de los Trabajadores Socialistas (PTS) als größter Sektion.

IMT und FT/PTS (wie letztlich auch LIT und UIT) versuchen, sich als orthodoxe Kräfte zu präsentieren, die eine marxistische oder klassenunabhängige Alternative zum Reformismus und verschiedenen kleinbürgerlichen Strömungen darstellen. Ihre Stärke liegt zweifellos in einer umfangreichen propagandistischen Tätigkeit und, insbesondere im Fall der FT, in einer sehr systematischen Nutzung der sozialen Medien. Die Frage der Neuformulierung des revolutionären Programms stellt sich bei beiden nicht wirklich (ebenso wie bei UIT und LIT). Beide sind ironischer Weise durch ein Abgleiten in Richtung Ökonomismus und Spontaneität und eine Ablehnung von Lenins Konzeption der Entstehung von Klassenbewusstsein (und damit des Kerns der leninistischen Parteitheorie) gekennzeichnet.

Beide Strömungen könnten in naher Zukunft weiter wachsen. Allerdings sind die inneren Widersprüche, die die jeweiligen Organisationen in eine Krise stürzen können, sehr unterschiedlich. Die IMT lebt von der Isolierung ihrer Mitglieder vom „Rest“ der Linken in einer höchst sektiererischen Weise. Es ist die Konfrontation mit der Realität des Klassenkampfes und verschiedenen anderen Strömungen, die das Weltbild der IMT-Anhänger:innen erschüttern kann und wird, wie bei früheren Abspaltungen dieser Strömung.

Die Widersprüche der PTS/FT-Strömung ergeben sich aus ihrer theoretischen Hinwendung zu Gramsci (und weg von Marx‘ Ideologiebegriff und Lenins Verständnis von Klassenbewusstsein), den methodischen Schwächen ihres Imperialismusverständnisses (und der damit verbundenen Fehlcharakterisierung Chinas und Russlands), ihrem Missverständnis von Reformismus und Einheitsfronttaktik sowie den inneren Widersprüchen der FIT in Argentinien.

Wir müssen die Entwicklung sowohl der krisengeschüttelten als auch der wachsenden zentristischen Strömungen genau verfolgen und unsere Kritik vor allem an ihren inneren Widersprüchen und programmatischen Schwächen ansetzen.

Die Krise des Zentrismus hat auch zur Entwicklung kleinerer linksgerichteter Organisationen und Gruppen geführt, die als Opposition innerhalb bestehender internationaler Tendenzen agieren oder eine revolutionäre Umgruppierung vorantreiben wollen (so die International Trotskyist Opposition, ITO, oder die Internationale Revolutionäre Tendenz, TIR, oder der linke Flügel der NPA). Natürlich gibt es auch mit diesen Gruppen wichtige programmatische und methodologische Unterschiede. Aber ihre Entwicklung verweist darauf, dass sich in der kommenden Periode auch Gruppierungen nach links entwickeln oder in eine Krise geraten können, die eine Möglichkeit für revolutionäre Umgruppierung schafft, für den Aufbau einer größeren revolutionären Tendenz, die viel effektiver in den Klassenkampf weltweit eingreifen und sich auf eine neu entstehende Avantgarde beziehen kann, denn die aktuelle Krise wird alle Strömungen und Ideologien auf die Probe stellen.

Die „radikale“, subjektiv nicht-reformistische Linke war und ist dabei gezwungen, auf die Veränderungen in der Arbeiter:innenklasse und deren Organisationen zu reagieren. Das betrifft insbesondere auch die politische Neuformierung der Klasse. Auch wenn sie zahlenmäßig und politisch schwach sein mögen, so hat auch die Intervention (oder das Unterlassen ebendieser) von linken, antikapitalistischen Strömungen und Gruppierungen einen wichtigen Einfluss auf die Neuformierung der Klasse in den letzten Jahren gehabt. Allerdings hat diese Intervention keineswegs zur Realisierung des Potentials für eine revolutionäre Neuformierung der Klasse auf allen Ebenen geführt, sondern leider oft genug zum Gegenteil. Es macht daher Sinn, sich wichtiger Lehren der revolutionären Arbeiter:innenbewegung zu besinnen, wie aus dem Zustand der Schwäche, ja, Marginalisierung eine Stärke der revolutionären Kräfte möglich ist, ohne in Sektierertum oder Opportunismus abzugleiten.

4. Historische Lehren

Schließlich stellt sich für alle Strömungen der „extremen Linken“ die Frage, wie sie mit ihren geringen Kräften in einen Prozess der historischen Neuformierung der Klasse, der grundlegenden Erschütterung ihrer bestehenden Organisationen, der raschen Bildung „neuer“ politischer Kräfte und ihres oft ebenso raschen Niedergangs intervenieren sollten.

Wir müssen unsere Taktik dabei nicht mit Blick auf die mehr oder weniger radikale Linke, sondern vor allem in Hinblick darauf bestimmen, wie wir die reale Avantgarde in ihrer gewerkschaftlichen, sozialen und vor allem politischen Neuformierung beeinflussen, an ihrer Seite arbeiten und sie für ein revolutionäres Programm und den Aufbau einer revolutionären Partei gewinnen können.

Wir tun dies als sehr kleine Propagandagesellschaft. Anders als revolutionäre Parteien, die wenigstens einige tausend, wenn nicht zehntausende Kader zählen und signifikante Teile der Arbeiter:innenklasse anführen können, müssen kleine revolutionäre Gruppierungen v. a. auch versuchen, Wege und Taktiken zu entwickeln, wie sie überhaupt in größere Veränderungen der Klasse eingreifen können.

In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen des Trotzkismus von 1933 bis zum Zweiten Weltkrieg für unsere heutige Situation von enormer Bedeutung. Bis zur Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse gegen den Faschismus hatten die Trotzkist:innen als „externe Fraktion“  für eine Reform der Kommunistischen Internationale gekämpft. Die Losung einer neuen Internationale wurde bis dahin von den Gruppierungen der „Internationalen Linksopposition“, also den „Trotzkist:innen“, vehement abgelehnt, da es ihrer Meinung nach v. a. darum ging, den Kampf um eine politische Kursänderung der Kommunistischen Internationale zu führen, die sich noch auf Millionen revolutionäre Arbeiter:innen stützen konnte. Die Avantgarde der Klasse war damals im Großen und Ganzen in diesen Parteien zu finden.

Die Niederlage der deutschen Arbeiter:innenklasse offenbarte aber auch das komplette Scheitern der Komintern-Strategie und der ultralinken Politik der „Dritten Periode“. Die KPD hatte ganz in diesem Sinne jahrelang die Anwendung der Einheitsfrontpolitik gegenüber der Sozialdemokratie abgelehnt und so den reformistischen Führer:innen die Ablehnung der Einheitsfront mit den Kommnist:innen erleichtert und somit die Einheit der Klasse gegen die Faschist:innen und die Gewinnung der sozialdemokratischen Arbeiter:innen massiv erschwert. All das führte dazu, dass die Arbeiter:innenklasse den Faschismus nicht stoppen konnte und für den offenen Verrat der Sozialdemokratie und die fatale, ultralinke Politik der KPD (garniert mit reichlich Nationalismus) mit der schwersten Niederlage des 20. Jahrhunderts zahlen musste.

Die Komintern und die KPD wurden zu diesem Zeitpunkt von Trotzki und der Linken Opposition nicht als reformistisch, sondern als zentristisch, genauer als „bürokratischer Zentrismus“, charakterisiert. Trotzdem drängte Trotzki nach der Niederlage darauf, dass die Linke Opposition nunmehr ihren Kurs auf eine „Reform“ der Komintern aufgeben müsse, weil sich die KPD wie die Komintern als unfähig erwiesen, selbst nach dieser historischen Niederlage, ihre Fehler zu analysieren. Im Gegenteil, die KPD und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale bestätigten nach der Machtergreifung Hitlers, dass der Kurs grundsätzlich richtig gewesen wäre, ja man ging noch davon aus, dass Hitler rasch „abwirtschaften“ würde und dann die KPD die Macht ergreifen könne. Gegen diesen Kurs regte sich in der Komintern nicht nur an der Spitze, sondern auch in den Sektionen kein offener Widerstand – auch wenn sich Arbeiter:innen mehr oder weniger demoralisiert von ihr abwandten.

Daraus zog Trotzki den Schluss (zuerst hinsichtlich der KPD, dann gegenüber der gesamten Komintern), dass eine „Reform“ der stalinistischen Parteien für die Zukunft auszuschließen  und daher auch eine Neuausrichtung der Linken Opposition notwendig geworden sei, die sich fortan „Internationale Kommunistische Liga“ nannte. Das Ziel war nunmehr der Aufbau einer neuen revolutionären Internationale. Die Entwicklung einer recht kleinen Propagandagruppe hin zu einer Kaderpartei kann freilich nicht ohne entschlossene taktische Manöver im Parteiaufbau bewerkstelligt werden – Manöver, die auch in den 1930er Jahren zu vielen sektiererischen Einwänden wie zu opportunistischen Fehlern führten. Hinzu kommt, dass die Fragmente der Vierten Internationale diese Taktiken nach dem Zweiten Weltkrieg pervertierten und ihres revolutionären Gehalts beraubten. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Entrismustaktik, die nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich einen opportunistischen Charakter erhielt.

Wir haben uns an anderer Stelle ausführlich mit den verschiedenen Taktiken auseinandergesetzt. Für uns geht es hier darum, die grundlegenden Methoden, die Trotzki in den 1930er Jahren angewandt und entwickelt hat, zu skizzieren, da wir sie für unsere heutigen Aufgaben für besonders interessant halten. Wir können dabei drei zentrale politische Taktiken/Methoden unterscheiden, die wir im Folgenden darstellen wollen: a) Die „Blocktaktik”, b) Entrismus und c) die ArbeiterInnenparteitaktik.

Die Blocktaktik

Vor allem nach der Niederlage gegen den Faschismus orientierte sich Trotzki auf die Einheit mit nach links gehenden zentristischen Organisationen, die sich von Sozialdemokratie oder Stalinismus abgespalten hatten. Entscheidend für Trotzki war dabei, diese Organisationen für einen klaren organisatorisch-politischen Bruch mit den bestehenden Zweiten und Dritten Internationalen zu gewinnen und für einen Aufbau einer gemeinsamen neuen Internationale.

Das brachte ihn einerseits in scharfen politischen Gegensatz zur Mehrheit der „Zwischengruppen“ zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie, die sich einerseits formierten (Pariser Konferenz 1933, Gründung des „Londoner Büros“), andererseits das Hintertürchen zu einer zukünftigen Einheit mit den Reformist:innen oder Stalinist:innen offen halten wollten.

So unterzeichneten schließlich vier Organisationen im August 1933 die „Erklärung der Vier“. Diese beinhaltet auf einigen Seiten eine gemeinsame Einschätzung des Scheiterns von Stalinismus und Sozialdemokratie, die grundsätzliche Notwendigkeit, deren politische Abweichungen zu bekämpfen und eine eigene revolutionäre Alternative auf Grundlage der Anwendung der politischen Grundsätze und Prinzipien von Marx und Lenin aufzubauen.

Die beteiligten Organisationen waren die IKL sowie drei zentristische Gruppierungen: die SAP aus Deutschland, RSP und OSP aus den Niederlanden. Sie einigten sich außerdem auf die Einsetzung einer Kommission: „a) mi der Ausarbeitung eines programmatischen Manifests als der Geburtsurkunde der neuen Internationale; b) mit der Vorbereitung einer kritischen Übersicht über die gegenwärtigen Organisationen und Strömungen der Arbeiterbewegung (Kommentar zum Manifest); c) mit der Ausarbeitung von Thesen zu allen Grundfragen der revolutionären Strategie und Taktik des Proletariats; …“[xvii]

Auch wenn der Block letztlich auseinanderbrach, weil sich die SAP rasch wieder nach rechts hin zum „Londoner Büro“ entwickelte, so brachte er sehr wohl einige Erfolge. OSP und RSP fusionierten rasch und bildeten eine gemeinsame Organisation und spätere Sektion der IKL in den Niederlanden.

Vor allem aber bestimmten die IKL und der Trotzkismus ihre grundlegende Herangehensweise an den Zentrismus, an „Vereinigungsprojekte“. Programmatische Einheit war dabei von entscheidender Bedeutung, insbesondere die Konkretisierung der Programmatik, auf die jeweiligen aktuellen Ereignisse bezogen. Trotzki weist darauf hin, dass es überhaupt keinen Wert habe, die Notwendigkeit der „Diktatur des Proletariats“ anzuerkennen, wenn es kein gemeinsames Verständnis der Notwendigkeit der Arbeiter:inneneinheitsfront gegen die faschistische Gefahr gebe. Das trifft auch auf entscheidende Taktiken zu. So reicht es offenkundig nicht aus, dass die Einheitsfronttaktik „allgemein“ anerkannt wird, wenn zugleich nicht konkretisiert wird, an wen sie sich zu richten hat, ob an die Basis und Führung der Massenorganisationen oder, ob sie praktisch nur eine Spielart der Einheitsfront von unten darstellt.

Hinsichtlich der konkreten Hinwendung zu einer bestimmten Gruppierung ist nicht die formelle Ähnlichkeit des Programms entscheidend, sondern die Bewegungsrichtung der vorgeblich revolutionären Organisation. Trotzki verdeutlicht das mit dem Verweis darauf, dass sich der stalinistische Zentrismus der „Dritten Periode“ aus dem Bolschewismus entwickelte und zu einer dogmatischen, ultralinken Doktrin (einschließlich etlicher rechter Schwankungen) degenerierte. Das bedeutete auch, dass die „offizielle“ Kommunistische Internationale als dem Marxismus näherstehend erscheinen konnte, da sie sich selbst militanter oder kämpferischer inszenierte und für einen ganz und gar nicht bolschewistischen Inhalt noch immer die Terminologie des Bolschewismus verwandte. Die aus der Sozialdemokratie kommenden zentristischen Strömungen erschienen demgegenüber oft weicher, tendierten zur Fetischisierung der „Einheit“ und waren auch stärker durch deren Mentalität geprägt. Entscheidend war daher für Trotzki die Bewegungsrichtung – nicht die formelle Nähe.

Das bedeutete auch, dass Blöcke die Möglichkeiten zu größerer revolutionärer Einheit boten und nur für begrenzte Zeit notwendig waren. Die politischen und wirtschaftlichen Erschütterungen, die zentristische Organisationen und ihre Führer:innen nach links stießen, sind in einer Krisenperiode oft nur von kurzer Dauer. Eine neue Wendung der Ereignisse kann leicht zu einem Kurswechsel der Zentrist:innen führen. So waren der Zulauf des Faschismus in Frankreich und die Niederlage des österreichischen Proletariats 1934 Faktoren, die zu einer Linksentwicklung der Sozialdemokratie insgesamt führten, bis hin zu „zentristischen Anwandlungen“ ganzer Parteien. Viele linke Zentrist:innen der 1930er Jahre verleitete das jedoch zu einem Rechtsschwenk, gewissermaßen, um den nach links gehenden Sozialdemokrat:innen auf halbem Wege entgegenzukommen.

Falsch war daran nicht, sich auf die politischen Erschütterungen dieser Parteien zu orientieren, wohl aber, sich an sie programmatisch anzupassen.

Bei der taktischen Zusammenarbeit und der Bildung von Blöcken mit ihrem Wesen nach zwischen Reform und Revolution schwankenden Organisationen und deren Führer:innen muss deren Schwanken also in Rechnung gestellt werden. Das heißt, es darf keine politischen Zugeständnisse geben und ist notwendig, die unvermeidlichen Zickzacks der Partner:innen zu kritisieren. Zugleich ist es aber auch notwendig, sich auf organisatorischer Ebene überaus flexibel zu verhalten. In „Der Zentrismus und die Vierte Internationale“ fasst Trotzki die Lehren aus dem Block der Vier zusammen:

„Wir können unsere Erfolge in relativ kurzer Frist ausbauen und vertiefen, wenn wir:

a) den historischen Prozess ernstnehmen, nicht Versteck spielen, sondern aussprechen, was ist;

b) uns theoretisch Rechenschaft ablegen von allen Veränderungen der allgemeinen Situation, die in der gegenwärtigen Epoche nicht selten den Charakter von schroffen Wendungen annehmen;

c) aufmerksam auf die Stimmung der Massen achten, ohne Voreingenommenheit, ohne Illusionen, ohne Selbsttäuschung, um, aufgrund einer richtigen Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb des Proletariats, weder dem Opportunismus noch dem Abenteurertum zu verfallen, die Massen vorwärts zu führen und nicht zurückzuwerfen;

d) uns jeden Tag und jede Stunde fragen, welches der nächste praktische Schritt sein soll; wenn wir diesen sorgfältig planen und den Arbeitern auf der Grundlage lebendiger Erfahrung den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Bolschewismus und all den anderen Parteien und Strömungen klar machen;

e) die taktischen Aufgaben der Einheitsfront nicht mit der grundlegenden historischen Aufgabe – der Schaffung neuer Parteien und einer neuen Internationale – verwechseln;

f) für das praktische Handeln auch den schwächsten Bündnispartner nicht geringschätzen;

g) die am weitesten ‚links‘ stehenden Bündnispartner als mögliche Gegner kritisch beobachten;

h) jenen Gruppierungen größte Aufmerksamkeit widmen, die tatsächlich zu uns tendieren; mit Geduld und Feingefühl auf ihre Kritik, ihre Zweifel und Schwankungen reagieren; ihre Entwicklung in Richtung auf den Marxismus unterstützen; keine Angst vor ihren Launen, Drohungen und Ultimaten haben (Zentristen sind immer launisch und mimosenhaft); ihnen keinerlei prinzipielle Zugeständnisse machen;

i) und, noch einmal sei es gesagt, nicht scheuen auszusprechen, was ist.“[xviii]

Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorischer Anschluss

Die Frage revolutionärer Taktik, der Schwerpunkte für den Aufbau, ist notwendigerweise immer mit einer Einschätzung verbunden, wo sich zu einem bestimmten konkreten Zeitpunkt die wichtigsten politischen Veränderungen in der Avantgarde der Klasse bemerkbar machen.

Unter bestimmten Umständen kann sich eine solche Krise sowohl innerhalb bestehender politischer Parteien der Klasse ausdrücken als auch in Neuformierungen. Die Voraussetzung dafür ist in der Regel eine politische Erschütterung (Krise, Entwicklung der Reaktion, historischer Angriff, Revolten, …), die den tradierten Führungen und Organisationen nicht mehr erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Oft sind Niederlagen oder drohende Niederlagen Katalysatoren für solche Entwicklungen. So waren sicher der Sieg des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Österreich 1934 neben der innenpolitischen Lage in Frankreich maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Bedingungen für den Entrismus in die dortige Sozialdemokratie, die SFIO, entstanden, das „klassische Modell“ für diese Taktik.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass der Entrismus, also der Eintritt einer gesamten Organisation in eine bestehende Partei, keine „Neuerfindung“ des Trotzkismus ist.

Schon Marx und Engels hatten erkannt, dass Kommunist:innen unter Umständen auch in nicht-revolutionären oder sogar in nicht-proletarischen Parteien arbeiten können, um so überhaupt erst die Grundlagen zur organisatorischen Formierung des Kommunismus, zur Gewinnung erster Mitstreiter:innen zu legen.

In etlichen asiatischen Ländern entstanden die Kommunistischen Parteien aus ideologischen und organisatorischen Absetz- und Abspaltungsbewegungen aus bürgerlich-nationalistischen Parteien (China) oder gar aus islamistischen Parteien (Indonesien).

Lenin hatte der britischen KP in seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ nachdrücklich die Unterstützung von Labourkandidat:innen bei Wahlen empfohlen. Im Jahr 1920 und auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Internationale spricht er sich darüber hinaus ausdrücklich für den organisatorischen Anschluss an die Labour Party aus. Labour hatte damals noch einen relativ föderalen Charakter, der auch den Beitritt von Organisationen ermöglichte (nicht ganz unähnlich wie Syriza bis 2013).

Er trat dafür ein, dass sich die KP als Organisation anschließen solle, also nicht „nur“ die Mitglieder individuell beitreten sollten. So sollte die kleine Kommunistische Partei nicht nur näher an die damals wachsende Labour Party und deren Arbeiter:innenbasis herankommen, es sollte so auch vor den Augen der Massen der Anspruch der Labour Party einem Test unterzogen werden, die gesamte Arbeiter:innenklasse zu repräsentieren: „Diese Partei erlaubt angegliederten Organisationen gegenwärtig die Freiheit der Kritik und die Freiheit von propagandistischen, agitatorischen und organisatorischen Aktivitäten für die Diktatur des Proletariats, solange die Partei ihren Charakter als Bund aller Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiter:innenklasse bewahrt.”[xix]

Solche Kompromisse oder Zugeständnisse, hauptsächlich in Wahlangelegenheiten, sollten die Kommunist:innen eingehen wegen „der Möglichkeit des Einflusses auf breiteste Arbeitermassen, der Entlarvung der opportunistischen Führer von einer höheren und für die Massen besser sichtbaren Plattform aus und wegen der Möglichkeit, den Übergang der politischen Macht von den direkten Repräsentanten der Bourgeoisie auf die ‚Labour-Leutnants‘ der Kapitalistenklasse zu beschleunigen, damit die Massen schneller von ihren gröbsten Illusionen im Bezug auf die Führung befreit werden.“[xx]

Diese Zitate zeigen die Ähnlichkeit in der methodischen Herangehensweise zur Entrismustaktik, wie sie von Trotzki in den 1930er Jahren entwickelt und in etlichen Ländern zu verschiedenen Perioden angewandt wurde.

Von 1934 an entwickelte Trotzki eine Taktik, die den völligen Eintritt der französischen Bolschewiki-Leninist:innen (wie die Trotzkist:innen sich damals nannten) in sozialdemokratische und zentristische Parteien zum Inhalt hatte. Trotzki verstand diese nicht als langfristig, geschweige denn als einen strategischen Versuch zur Umwandlung der Sozialdemokratien in für die soziale Revolution geeignete Instrumente. Aber er erkannte, dass die fortgeschrittensten Arbeiter:innen angesichts der drohenden faschistischen Gefahr nicht nur die Einheitsfront mit der KPF forderten, sondern die SFIO nach dem Bruch mit ihrem rechten Flügel und unter dem Druck der Ereignisse auch zum Attraktionspol für die Klasse und deren Avantgarde wurde. Hinzu kam, dass sich auch die KPF nicht mehr länger der Einheitsfront entziehen konnte, einen Schwenk weg von der „Dritten Periode“ machte (allerdings auch den Übergang zur Volksfront vorbereitete). Trotzki machte nicht nur auf die Möglichkeiten dieser Lage aufmerksam, er erkannte auch die Gefahr für die französische Sektion, nämlich praktisch von der Bildung einer Einheitsfront gegen die Rechte und den politischen Debatten in der Klasse ausgeschlossen zu werden.

„Die innere Situation (der SFIO) schafft die Möglichkeit eines Eintritts mit unserem eigenen Banner. Die Modalitäten entsprechen unseren selbstgesteckten Zielen. Wir müssen nun so handeln, dass unsere Erklärung keinesfalls den führenden bürgerlichen Flügel stärkt, sondern stattdessen den fortschrittlichen proletarischen Flügel, und dass Text und Verbreitung unserer Erklärung es uns erlauben, erhobenen Hauptes im Falle ihrer Annahme wie auch im Falle von Hinhaltemanövern oder der Ablehnung zu bleiben. Eine Auflösung unserer Organisation kommt nicht in Frage. Wir treten als bolschewistisch-leninistische Fraktion ein; unsere organisatorischen Bindungen bleiben wie bisher, unsere Presse besteht weiter neben ‚Bataille Socialiste‘ und anderen.“[xxi]

Die Taktik brachte etliche Probleme mit sich. Ein Teil der Sektion verweigerte zu Beginn den Eintritt, um dann, als er mehr und mehr in die Selbstisolation geriet, nachzufolgen. Das änderte nichts an den großen Gewinnen, die die Bolschewiki-Leninist:innen erzielten, v. a. unter der Jugend. Aber der Erfolg führte auch dazu, dass ein Teil der Sektion die Prinzipien über Bord warf und den Entrismus als langfristige Taktik aufzufassen begann, die Kritik an der Parteiführung und v. a. an der versöhnlerischen Haltung der Zentrist:innen in der SFIO abschwächte. Es kam daher um die Frage des Austritts zur Spaltung der Sektion und einer längeren Krise. All das führte Trotzki dazu, die „Lehren des Entrismus“ folgendermaßen zusammenzufassen:

„1.) Der Entrismus in eine reformistische oder zentristische Partei ist an sich keine langfristige Perspektive. Es ist nur ein Stadium, das unter Umständen sogar auf eine Episode verkürzt sein kann.

2.) Die Krise und die Kriegsgefahr haben eine doppelte Wirkung. Zunächst schaffen sie Bedingungen, unter denen der Entrismus allgemein möglich wird. Aber andererseits zwingen sie den herrschenden Apparat auch, zum Mittel des Ausschlusses von revolutionären Elementen zu greifen.

3.) Man muss den entscheidenden Angriff der Bürokratie frühzeitig erkennen und sich dagegen verteidigen, nicht durch Zugeständnisse, Anpassung oder Versteckspiel, sondern durch eine revolutionäre Offensive.

4.) Das oben Gesagte schließt nicht die Aufgabe der „Anpassung“ an die Arbeiter in den reformistischen Parteien aus, indem man ihnen neue Ideen in einer für sie verständlichen Sprache vermittelt. Im Gegenteil, diese Kunst muss so schnell wie möglich erlernt werden. Aber man darf nicht unter dem Vorwand, die Basis erreichen zu wollen, den führenden Zentristen bzw. Linkszentristen Zugeständnisse machen.

5.) Die größte Aufmerksamkeit ist der Jugend zu widmen.

6.) (…) fester ideologischer Zusammenhalt und Klarsicht im Hinblick auf unsere ganze internationale Erfahrung sind notwendig.“[xxii]

Die Entrismustaktik war keineswegs nur auf Frankreich beschränkt, sondern wurde in etlichen Ländern ausgeführt: In Britannien in die „Independent Labour Party“ (1933 – 1936) und später in die Labour Party, in die Socialist Party in den USA (1936/37) unter sehr schwierigen Bedingungen des Fraktionsverbotes, in die belgische Arbeiter:innenpartei oder in die POUM in Spanien.

Neben dem Eintritt in zentristische oder reformistische Parteien sprach sich Trotzki außerdem auch für die Fraktionsarbeit in den linken Flügeln von bürgerlichen Parteien aus. So forderte er in „India faced with imperialist war“ die Arbeit in der Congress Socialist Party, dem linken Flügel der Kongresspartei, der damals von Jawaharlal Nehru und Chandra Bose geführt wurde.

„Anders als selbstgefällige Sektierer müssen die revolutionären Marxisten aktiv an der Arbeit der Gewerkschaften, der Bildungsvereinigungen, der Congress Socialist Party und grundsätzlich in allen Massenorganisationen teilnehmen.“[xxiii]

Propagandagesellschaft und Avantgarde

Trotzki schlägt hier die Arbeit in einer Fraktion einer bürgerlich-nationalistischen Partei vor. Auf den ersten Blick scheint das – so argumentierten Sektierer:innen damals wie heute – „prinzipienlos“. Revolutionär:innen würden, so argumentierten z. B. viele gegen den Entrismus in die SFIO, ihre organisatorische Unabhängigkeit aufgeben. Trotzki antwortete damals folgendermaßen:

„Für formalistische Köpfe schien es in absolutem Widerspruch zu stehen. für eine neue Internationale und neue nationale revolutionäre Parteien aufzurufen und in Verletzung des Prinzips, dass eine revolutionäre Partei ihre Unabhängigkeit aufrecht erhalten müsse; manche betrachteten es als einen Verrat an den Prinzipien, andere argumentierten taktisch dagegen. […] Unabhängigkeit war ein Prinzip für revolutionäre Parteien, aber dieses Prinzip konnte nicht für kleine Gruppen gelten. […] Es bedurfte taktischer Flexibilität, um Gebrauch von den hervorragenden Bedingungen zu machen und aus der Isolation herauszubrechen.“[xxiv]

Vor ähnlichen Bedingungen stehen wir auch heute und werden wir in der kommenden Periode immer wieder stehen. Die Notwendigkeit von Taktiken wie Entrismus, Fraktionsarbeit, organisatorische Angliederung folgt im Grunde immer daraus, dass die kommunistische Organisation noch keine Partei ist, sie nur als ideologische Strömung oder als kämpfende Propagandagruppe existiert. Einer solchen Gruppierung ist es unmöglich, sich direkt an die Masse des Proletariats zu wenden, ja die meisten von ihnen, die nur Hunderte Mitglieder zählen, können auch nur kleine Teile der Avantgarde der Klasse erreichen.

Die Avantgarde der Klasse ist dabei, solange es keine Kommunistische Partei gibt, selbst nur bedingt Avantgarde, sprich, sie ist nicht zu einer Partei formiert, die die politisch bewusstesten Teile der Klasse auf Basis eines wissenschaftlichen, kommunistischen Programms organisiert. Es gibt keine kommunistische Avantgarde im Sinne des Marxismus, wie sie im Kommunistischen Manifest bestimmt ist, also jene proletarische Partei, die sich durch ihr Bewusstsein der allgemeinen Interessen, Aufgaben, Ziele und des Werdegangs der proletarischen Bewegung auszeichnet, die als Strategin der Klasse handeln und diese führen kann.

In diesem Sinn gibt es heute auf der ganzen Welt keine oder nur eine auf kleine Gruppen reduzierte proletarische Avantgarde. Aber im weiteren Sinne gibt es natürlich eine Avantgarde der Klasse, so wie sich in jedem Kampf, in jeder Auseinandersetzung fortgeschrittenere und rückständigere Teile formieren.

Über Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Avantgarde der Klasse in Teilen der Gewerkschaften, oft in starken Industriegewerkschaften wie den Autoarbeiter:innen in Deutschland oder bis in die 1980er Jahre die Bergarbeiter in Britannien, formiert. Diese „ökonomische Avantgarde“ hat sich in den letzten Jahren natürlich auch verändert. So führten z. B. die Kämpfe der Krankenhausbewegung in den letzten Jahren auch zur Bildung neuer Avantgardeelemente.

Entscheidend für uns ist dabei, dass die bloße Führung und größere Militanz in einzelnen Kämpfen diese noch nicht zur Avantgarde für eine ganze Klasse macht. Ein solches Verhältnis wird über längere politische Entwicklungen etabliert und wirkt dann nicht nur im Sinne einer kämpferischen Vorhut, sondern kann auch in die gegenteilige Richtung ausschlagen. So kann z. B. die geringe Aktivität der etablierten Avantgarde den Effekt haben, dass auch die anderen Sektoren der Klasse für eine ganze Periode relativ wenige Kämpfe führen. Eine solche negative Rolle spielte z. B. die IG Metall mit dem „Bündnis für Arbeit“ und v. a. seit dem Ausverkauf des Streiks für die 35-Stunden-Woche im Osten.

Die „wirtschaftliche“ Avantgarde ist oft eng verbunden mit einer bestimmten politischen Strömung in der Klasse. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben diese Rollen sozialdemokratische und stalinistische Parteien für sich monopolisiert. In manchen Ländern gab es nicht einmal solche reformistischen Parteien. Hier bildete sich über die ökonomische Sphäre hinaus gar keine Avantgarde. Allenfalls fand sich diese in Strömungen des kämpferischen Syndikalismus oder in kleinen reformistischen (einschließlich solcher, die auch in populistischen Parteien anzutreffen sein können).

Die Krise des Reformismus hat dazu geführt, dass die Bindung der kämpferischeren Schichten an die Gewerkschaften schwächer wurde, dass es oft v. a. die politische Tradition und der Apparat sind, die diese Bindung noch herstellen und reproduzieren. Ganz offenkundig hat diese Entwicklung auch die Form angenommen, dass linksreformistische Parteien Teile der Avantgarde der Klasse organisieren oder anziehen. In Ländern wie Griechenland repräsentiert Syriza einen wichtigen Teil deren (neben der KKE).

Diese Entwicklung macht Trotzkis Bemerkungen zum Verhältnis von Klassenbewegung, Parteikeim und „Unabhängigkeit“ heute brandaktuell. Revolutionär:innen, die diesen Veränderungen in der Klasse keine Aufmerksamkeit schenken und die Notwendigkeit einer Intervention negieren oder kleinreden, sind keine. Sie sind letztlich eine Mischung aus Sektierer:innen und Ökonomist:innen.

Arbeiter:innenparteitaktik

Das trifft auch auf die Frage der Arbeiter:innenparteitaktik zu. Ursprünglich wurde diese von Trotzki für die USA mit einigem Zögern entwickelt, da er eine opportunistische Anwendung dieser fürchtete. Trotzki befürchtete, dass diese als Forderung nach einer reformistischen, nicht-revolutionären Partei interpretiert werden könne oder gar nach einer klassenübergreifenden Partei wie der politisch falschen Losung der „Arbeiter:innen- und Bäuerinnenpartei“.

Die Entwicklung in den 1930er Jahren zeigt andererseits nicht nur verschiedene Initiativen zur Schaffung einer Arbeiter:innenpartei in den USA im Gefolge des Wachsens der Arbeiter:innenbewegung. Die Losung hat auch einen enormen Wert, um die Klasse und die Gewerkschaften aus der Bindung an eine offen bürgerliche Partei (sei sie nun demokratisch, liberal, populistisch oder nationalistisch) zu lösen.

1938 kam er schließlich zu den entscheidenden, methodischen Schlussfolgerungen:

„a) Revolutionäre müssen es ablehnen, die Forderung nach einer unabhängigen, auf die Gewerkschaften gestützten Partei und die begleitende Forderung an die Bürokratie, mit der Bourgeoisie zu brechen, mit der Forderung nach einer reformistischen Labor Party zu identifizieren.

b) Das Übergangsprogramm als Programm für die Labor Party ist das Kampfmittel zur Gewährleistung einer revolutionären Entwicklung.

c) Für den unvermeidlichen Kampf mit der Bürokratie muss eine revolutionäre Organisation auch innerhalb der Bewegung für eine Labor Party aufrechterhalten werden.

d) Perioden der Wirtschaftskrise und des sich verschärfenden Klassenkampfes sind am günstigsten für die Aufstellung der Losung einer Labor Party. Aber selbst in ‚ruhigen‘ Zeiten behält die Losung einen propagandistischen Wert und kann in lokalen Situationen oder bei Wahlen auch agitatorisch gehandhabt werden. Revolutionäre würden z. B. von den Gewerkschaften statt der Wahlunterstützung für einen demokratischen Kandidaten die Aufstellung eines unabhängigen Kandidaten der Arbeiter:innenklasse fordern.

e) Keineswegs ist eine Labor Party, die natürlich weniger darstellt als eine revolutionäre Partei, eine notwendige Entwicklungsstufe für die Arbeiter:innenklasse in Ländern ohne Arbeiterparteien.

f) Noch einmal sei daran erinnert: Das Programm hat Vorrang.”[xxv]

In der gegenwärtigen Periode besitzt die Losung der Arbeiter:innenpartei in einer Reihe von Ländern auch eine enorme Bedeutung. Wo sie angemessen ist, sollten Revolutionär:innen diese aktiv propagieren und von Beginn an dafür kämpfen, dass diese Partei eine revolutionäre wird, und ein Aktionsprogramm als deren Basis vorschlagen. Sie dürfen das aber keinesfalls zur Bedingung ihrer Teilnahme am Kampf für eine solche Partei machen. Dies wäre ein sektiererischer Fehler, der im Grunde die ganze Taktik, also eine Form der Einheitsfront gegenüber anderen, nicht-revolutionären Teilen der Klasse, v. a. gegenüber den Gewerkschaften, zunichtemachen würde.

Schlussfolgerungen

Dieser kurze Überblick über Taktiken der kommunistischen Bewegung zeigt, wie fruchtbringend sie heute auch für die Intervention in die Neuformierung der Arbeiter:innenklasse sind.

Natürlich erschöpft sich die Frage der Neuformierung nicht in der der politischen Organisation, in Taktiken zum Parteiaufbau. Aber zweifellos muss jede kommunistische Organisation, jede Organisation, die eine neue antikapitalistische Kraft in der Klasse werden will, darauf grundlegende Antworten und Vorschläge liefern.

In den Gewerkschaften und auf betrieblicher Ebene steht heute unbedingt der Kampf gegen jede Einschränkung der Organisationsfreiheit und des Streikrechts, für demokratische, klassenkämpferische Gewerkschaften, strukturiert nach Branchen und Wertschöpfungsketten, im Zentrum.

Für eine solche Politik braucht es nicht nur die organisierte revolutionäre Tätigkeit (revolutionärer Gewerkschaftsfraktionen und Betriebsgruppen), sondern auch die Sammlung aller antibürokratischen, klassenkämpferischen Kräfte, die Schaffung einer Basisbewegung, die für eine klassenkämpferische Führung kämpft.

Auf der Ebene des Abwehrkampfes treten wir für die Bildung von Aktionskomitees in Betrieben, an Schulen, Unis, in den Stadtteilen und Kommunen ein, die nach den Grundsätzen der Arbeiter:innendemokratie organisiert sein sollen. Sie sollen auf Massenversammlungen von ihrer Basis gewählt, dieser gegenüber rechenschaftspflichtig und von ihr abwählbar sein.

Der Klassenkampf erfordert heute intensive internationale Zusammenarbeit, d. h., es geht darum, dass wir auch internationale Koordinierungen schaffen, die real Aktionen verabreden und gemeinsam durchführen, sei es gegen imperialistische Interventionen, gegen soziale Angriffe oder rassistische Abschottung.

So wie wir in den Gewerkschaften und Betrieben die existierenden Organisationsformen umkrempeln müssen, so wirft die Krise neben der Frage von Einheitsfronten gegen Rassismus, Faschismus und Angriffe auf demokratische Rechte auch die nach Massenbewegungen der gesellschaftlich Unterdrückten auf. Das betrifft v. a. den Kampf für eine revolutionäre Jugend- und eine proletarische Frauenbewegung.

All diese Kampfbereiche, alle politischen und organisatorischen Antworten zur Reorganisation und Revolutionierung der Arbeiter:innenklasse bilden einen unverzichtbaren Bestandteil kommunistischer Aktivität.

Aber es gibt einen Grund, warum wir die Frage der politischen Neuformierung der Klasse ins Zentrum unserer Überlegungen rücken. Das größte Problem der Menschheit ist die Krise der proletarischen Führung, das Fehlen einer genuin kommunistischen Partei und erst recht einer solchen Internationale – und das in einer Periode, die objektiv die Alternative „Sozialismus oder imperialistische Barbarei“ aufwirft.

Natürlich gibt es auch ohne revolutionäre Partei revolutionäre Krisen, Situationen, ja auch Revolutionen – aber keine siegreichen. Ohne revolutionäre Führung bleiben sie auf halbem Wege stecken und enden, wie die Arabische Revolution gerade zeigte, früher oder später unvermeidlich mit dem Sieg der Konterrevolution.

Natürlich werden in den aktuellen Kämpfen und erst recht in vorrevolutionären oder revolutionären Krisen neue Schichten aktiviert und politisiert. Das trifft sicher auch auf die Arabischen Revolutionen, auf den kurdischen Kampf, auf den Iran, auf China oder Lateinamerika zu. Aber allein aus diesen Kämpfen entwickelt sich keinesfalls spontan eine politische Alternative oder gar eine bewusste revolutionäre Kraft.

Das Hauptfeld der Auseinandersetzung um die Lösung der Führungskrise der Klasse bilden die politischen Neuformierungsprozesse. Aus den ökonomischen und sozialen Kämpfen, aus Bewegungen können nur Impulse zur Suche nach einer politischen Alternative entstehen, kann die Notwendigkeit einer solchen bewusst werden, und zwar nicht als direkte „Verlängerung“ dieser Kämpfe, sondern aufgrund der Schranken, auf die sie in ihrer eigenen Entwicklung gestoßen werden.

Bei all ihren Mängeln, bei aller notwendigen Kritik an den (neo)reformistischen, kleinbürgerlichen oder zentristischen Fehlern findet dort die Auseinandersetzung um die politische Neuformierung der Klasse statt. Hier werden die Kämpfe um die zukünftige politische Ausrichtung, Strategie und Taktik, um die Programmatik der Klasse ausgefochten. Die Reformist:innen versuchen natürlich, dem Ganzen einen bürgerlichen Charakter zu verleihen bzw. die bestehende politische Dominanz bürgerlicher Ideen und Programme, wenn auch vielleicht in neuer Form, zu verteidigen.

Ob es sich nun um eine „Neuformierung“ der antikapitalistischen Linken, einen Kampf in  einer nach links gehenden reformistischen Partei oder den Bruch mit einer bestehenden handelt – auf jeden Fall bilden diese Formationen den Rahmen für einen politischen und ideologischen Klassenkampf, dessen Ausgang entscheidend für die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiter:innenklasse werden wird.

So wie sich von Land zu Land die Form dieser Entwicklung unterschiedlich gestaltet, so werden unterschiedliche Taktiken oder auch eine Kombination dieser notwendig sein, um möglichst effektiv in diese Auseinandersetzung eingreifen zu können. Mögen die Taktiken auch unterschieden sein – das aktive, offensive Eingreifen ist eine strategische Notwendigkeit zur Überwindung der Führungskrise des Proletariats.

Die Fetischisierung einzelner Formen oder gar das Fernbleiben vom politischen Kampf in Massenparteien oder „Umgruppierungsprojekten“ mit der Begründung, dass diese ja reformistisch wären, hat nichts mit dem „Kampf gegen den Reformismus und Zentrismus“ zu tun, sondern bedeutet nur, ihnen das Feld zu überlassen. Natürlich werden angesichts des aktuellen Kräfteverhältnisses die meisten dieser „Neuformierungen“ und auch der Projekte zur „revolutionären Einheit“ mit dem Sieg der Reformist:innen oder Zentrist:innen oder gar Populist:innen wie bei Podemos enden. Ihr Potential mag dann rasch erschöpft sein.

Doch den Kampf um eine revolutionäre Ausrichtung mit dem Argument abzulehnen, dass er wahrscheinlich ohnedies nicht gewonnen werde, ist der „Realismus“ von Passivität und vorweggenommener Kapitulation.

Als Liga für die Fünfte Internationale haben wir uns dazu entschieden, dass unsere Sektionen aktiv an den Umgruppierungen der Klasse teilnehmen, weil, unabhängig vom konkreten Ausgang dieses oder jenes Projekts, sich in diesen politischen und ideologischen Kämpfen die Kader einer zukünftigen kommunistischen Bewegung bewähren, lernen können und müssen, ihre Politik und ihr Programm auf der Höhe der Zeit zu vertreten.


Endnoten

[i] Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, MEW 23, Berlin/DDR 1971, S. 640

[ii] A. a. O., S. 657

[iii] OECD, World Economic Report 2014, http://dx.doi.org/10.1787/persp_glob_dev-2014-en

[iv] Vergleiche Krüger, Stephan: Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft, Hamburg 2019, S. 218/219

[v] ILO, World Work Report 2014, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/world-of-work/2014/lang—en/index.htm, S. 2

[vi] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, https://www.ilo.org/global/research/global-reports/weso/WCMS_865387/lang—en/index.htm, S. 12

[vii] ILO, World Work Report 2014, a. a. O., S. 6

[viii] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, Berlin/DDR 1959, S. 473

[ix] World Economic and Social Outlook, 2021, https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issues/2021/10/12/world-economic-outlook-october-2021

[x] Siehe Engels, Friedrich: England 1845 und 1885, MEW 21, Berlin/DDR 1975, S. 191 – 198

[xi] Lenin, W. I.: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in LW 23, Berlin/DDR 1972, S. 113

[xii] Siehe ILO Bericht 2023, a. a. O.

[xiii] Z. B. in Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy: Feminismus für die 99 % Berlin 2019. Zur Kritik siehe: https://arbeiterinnenmacht.de/2020/03/04/feminismus-fuer-die-99-prozent/

[xiv] ILO, World Employment and Social Outlook, Trends 2023, a. a. O., S. 13

[xv]  Ebenda, S. 30

[xvi] Ebenda, S. 42

[xvii] Trotzki, Leo: Die Erklärung der Vier, in: Ders., Schriften Band 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, Köln 2001, S. 460

[xviii] Ders.: Der Zentrismus und die IV. Internationale, in: Schriften 3.3., Linke Opposition und IV. Internationale 1928-1934, a. a. O., S. 530

[xix]  Lenin, V. I.: Collected Works, Bd. 31, S. 199

[xx] Ebenda

[xxi] Trotsky, Leon: Writings, Supplement 1934-40, New York 2004,  S. 565/566

[xxii] Ders.: The Crisis of the French Section, (Die Krise der französischen Sektion), New York 1996, S. 125/126

[xxiii] Ders.: Writings 1939-40, New York 1973, S. 36

[xxiv] Ders: „The Crisis of the French Section“ (Die Krise der französischen Sektion), a. a. O., S. 20 (Vorwort)

[xxv] Bewegung für eine revolutionär-kommunistische Internationale (Vorläuferorganisation der Liga für die Fünfte Internationale), Thesen zum Reformismus, in: Revolutionärer Marxismus 44, Berlin 2012, S. 156