Schweden – Teil der Kriegsallianz der NATO

Arbetarmakt, schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, 12. Juli 2023, Infomail 1228, 15. Juli 2023

Mit der Aufnahme Schwedens in die NATO wird formalisiert, was schon lange militärische und sicherheitspolitische Realität ist: Der schwedische Imperialismus verbündet sich mit Washington. Dies war nicht nur in den Jahren als enger Partner der USA und NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Fall. Schon während des Kalten Krieges war

Schweden grundsätzlich loyal zu den USA, auch wenn es sich nach außen hin als bündnisfrei präsentierte. Jetzt ist die Verbindung offen und vollständig statt wie früher versteckt, heuchlerisch und zurückhaltend. Dies ist Teil der Entstehung einer neuen Weltsituation mit einem immer stärkeren Wettbewerb zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten. Die USA werden herausgefordert und Schweden zeigt deutlich, zu welchem imperialistischen Block es gehört.

Der NATO-Beitritt wird eine Eskalation der amerikanischen Beteiligung an verschiedenen militärischen Konflikten bedeuten. Er wird auch eine verstärkte Loyalität gegenüber reaktionären Regimen innerhalb des amerikanischen Blocks beinhalten. Insbesondere wird der schwedische Staat nun als Gegner von Gruppen auftreten, die den islamistischen Tyrannen Erdogan in der Türkei bekämpfen.

Die internationalen Kommunist:innen ergreifen im Kampf der imperialistischen Blöcken keine Seite. Wir sind für den Sturz aller imperialistischen Regime, aber wir konzentrieren uns natürlich auf den Feind im eigenen Land, denn gegen ihn können und müssen wir in erster Linie einen Kampf entwickeln. In den kommenden Jahren muss es eine wichtige Aufgabe für uns sein, in Schweden und innerhalb der NATO einen antiimperialistischen Kampf gegen die Kriegsabenteuer der NATO, ihre militaristische Agitation und ihre Unterdrückung fortschrittlicher Befreiungsbewegungen zu entwickeln.

  • Löst die NATO auf!

  • Zerschlagt den US-Imperialismus, zerschlagt den schwedischen Imperialismus!

  • Kämpft gegen alle Kriegstreiberei und den Imperialismus!

  • Keinen Cent, keine Krone für die Armee des bürgerlichen Staates!

  • Für eine antiimperialistische Bewegung, die zum Kampf für den internationalen Sozialismus    beiträgt – der einzige Weg, um den imperialistischen Kriegstreiber:Innen endgültig das Handwerk zu legen!



Der Krieg in der Ukraine

Resolution des LFI-Kongresses, 24. Juni 2023, Neue Internationale 275, Juli/August 2023

1. Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine markiert eine entscheidende Veränderung der Weltlage. Der Antagonismus, der sich seit Jahren zwischen den „alten“ westlichen imperialistischen Mächten, allen voran den USA und ihren Verbündeten, und China und Russland als neuen imperialistischen Mächten und globalen Konkurrenten entwickelt, eröffnet eine neue Etappe im Kampf um die Neuaufteilung der Welt.

2. Dieser wird derzeit vor allem auf dem Boden der Ukraine und in Form eines Wirtschaftskrieges durch das von den G7-Staaten initiierte Sanktionsregime ausgetragen. Der reaktionäre Einmarsch Russlands, die offene Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen Volkes, ja sogar die Leugnung seiner Existenz durch Putin sowie dessen barbarische Kriegsführung stellen zweifellos einen Akt imperialistischer Aggression dar, der das ukrainische Nationalbewusstsein gestärkt hat.

Der Charakter des Krieges

3. Isoliert betrachtet ist der Kampf gegen die russische Invasion also ein gerechtfertigter Krieg der nationalen Verteidigung – ungeachtet des reaktionären politischen Charakters des Kiewer Regimes, der sich in seiner Pro-NATO- und Pro-EU-Position ausdrückt. Aber für Marxist:innen ist der Charakter des politischen Regimes einer Halbkolonie, wenn sie angegriffen wird, nicht der entscheidende Faktor für die Charakterisierung eines Krieges. So war beispielsweise die Verteidigung des Irak oder Afghanistans gegen eine imperialistische Invasion trotz des extrem reaktionären Charakters der Regime in Bagdad und Kabul gerechtfertigt und unterstützenswert.

4. Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde jedoch ebenfalls zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form von beispielloser wirtschaftlicher und militärischer Hilfe daher gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

5. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass das Eingreifen der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als seinen imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons sind darin zu finden, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und seiner anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

6. Die Entwicklungen, die zum reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern dass auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Warum die Ukraine?

7. Dass sich der Kampf zwischen dem Westen und Russland um die Ukraine zugespitzt hat, ist kein Zufall. Vielmehr ist er selbst das Ergebnis der Entwicklungen seit dem Zusammenbruch des Stalinismus, des Versuchs, eine neue Weltordnung zu etablieren, und des sich verschärfenden Konflikts mit Russland seit dessen Wiedererstarken als imperialistischer Macht unter Putin.

8. Die Eskalation um die Ukraine seit den 1990er Jahren ist nur in diesem Kontext zu verstehen. Wie der Balkan vor 1914 entwickelt sich dieser Konflikt seit langem zu einem Pulverfass für einen möglichen zwischenimperialistischen Krieg. Sowohl als Vielvölkerstaat mit einer großen russischsprachigen Minderheit im Süden und Osten als auch durch die fortbestehenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland befand sich die Ukraine nach 1991 zunächst in einer Abhängigkeit vom neu etablierten russischen Imperialismus, die sich auch in einem fragilen System west- und ostukrainischer politischer Kräfte und Oligarch:innen widerspiegelte.

9. Die Ukraine war wirtschaftlich und militärisch zu schwach, um selbst eine imperialistische Macht zu werden (insbesondere nachdem sie die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen der Sowjetunion aufgegeben hatte). Sie hatte die „Wahl“, entweder eine Halbkolonie Russlands oder der Europäischen Union und der USA zu werden. Unter dem Gesichtspunkt des Widerstands gegen die russische Vorherrschaft lag im Wunsch, der NATO ähnlich wie die anderen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten beizutreten, die sicherheitspolitische Seite dieser westlichen Orientierung. Zwei Jahrzehnte lang schwankte die Ukraine zwischen Regierungen, die die eine oder andere dieser Orientierungen verfolgten, was in der Maidan-Bewegung 2014 gipfelte.

10. Zu diesem Zeitpunkt war vor allem in der Westukraine eine starke nationalistische Bewegung entstanden, die eine „prowestliche“ Ausrichtung und einen Bruch mit der russischen Dominanz anstrebte. Sie hatte einen rechtsextremen und faschistischen Flügel, Swoboda/Rechter Sektor (Prawyj Sektor) usw. Dies führte schließlich zu einem Bürger:innenkrieg, als das Regime von Janukowytsch, das den früheren prorussischen Kompromiss vertrat, die Verhandlungen über ein EU-Assoziierungsabkommen abbrach. Dies führte zunächst zur Euromaidan-Bewegung, die das Regime mit Gewalt niederzuschlagen versuchte. Doch als auf die Demonstrant:innen geschossen wurde, führten die rechten und faschistischen Kräfte auf dem Maidan einen Putsch an, durch den Janukowytsch gestürzt wurde. Die nationale Unterdrückung der russischsprachigen Minderheiten in der Ostukraine führte nach dem Umsturz auf dem Maidan 2014 faktisch zu einem Bürger:innenkrieg in der Ukraine. Auch diese Minderheiten haben ein legitimes Recht auf nationale Selbstbestimmung, was die nationale Frage in der heutigen Ukraine weiter verkompliziert. Die nationalen Gefühle der Menschen in diesen Regionen waren Teil der Rechtfertigung des russischen Imperialismus für diese reaktionäre Invasion.

11. Die russische Antwort darauf war die Annexion der Krim durch Putin. Dann vertrieben die Separatist:innen in Luhansk und Donezk die Kiewer Regierungstruppen und riefen autonome „Volksrepubliken“ aus. Während die EU-Führung um Deutschland und Frankreich versuchte, den Konflikt durch die Abkommen von Minsk 1 und 2 (2014 und 2015) zu entschärfen, wurde dies sowohl von Moskau als auch von Washington mit Hilfe der ukrainischen Nationalist:innen in der Rada sabotiert, die sich gegen jegliche Zugeständnisse (Autonomie, Sprachrechte) an die russischsprachige Minderheit wehrten. Putins Übernahme der „Republiken“ bedeutet, dass der Krieg seither mit mehr oder weniger Intensität weiterging.

Interessen der Westmächte

12. Warum entstand ein so offensichtlicher Unterschied zwischen den USA und Großbritannien auf der einen und Deutschland und Frankreich an der Spitze der EU auf der anderen Seite? Für Letztere war die Einbindung Russlands, seines enormen Rohstoffpotenzials und seiner militärischen Kapazitäten, immer eine strategische Option, um eine gewisse unabhängigere Rolle gegenüber dem schwächer werdenden US-Hegemon zu erlangen. Die Politik der EU zielte darauf ab, den Ukrainekonflikt, ähnlich wie in Jugoslawien, auf der Ebene von Abkommen und Handelsbeziehungen einzufrieren, um die Spannungen mit Russland letztlich in Schach zu halten. Für die USA hingegen war die Ukraine ein strategischer Angriffspunkt auf das russisch-chinesische Bündnis, das sie schon lange als gefährlichen Hauptkonkurrenten in der Weltordnung identifiziert hatten. Die USA sehen in der Ukraine auch eine Möglichkeit, Russland von den europäischen Märkten zu isolieren und damit Russland zu schwächen, während sie die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit Europas von ihnen selbst fördern.

13. Aufgrund des schlechten Abschneidens der ukrainischen Armee im Jahr 2014 begannen die USA und Großbritannien 2016 mit dem systematischen Aufbau einer schlagkräftigen ukrainischen Streitmacht. Die Ukraine, ein Land, das seit 2015 praktisch bankrott ist, hoch verschuldet und unter einem Schuldenregime von IWF-Paketen schmachtet, gibt einen großen Teil ihrer Einnahmen für Militärausgaben aus und erhielt zudem jährlich milliardenschwere Militärhilfe aus dem Westen (allein von Anfang 2022 bis zum Beginn des Krieges Rüstungsgüter im Wert von 5 Milliarden US-Dollar). Dies hat nicht nur die Verbreitung wichtiger Waffensysteme (Drohnen, Raketen, panzerbrechende Waffen, Luftabwehr usw.) mit entsprechender Ausbildung ermöglicht, sondern auch eine unterstützende Infrastruktur geschaffen, von der Kommunikation über die Aufklärung (Satellitensysteme) bis hin zur strategisch-taktischen Führung.

Auswirkungen der NATO-Beteiligung

14. Damit wird auch deutlich, dass sich der Krieg in der Ukraine wesentlich von den Kriegen imperialistischer Armeen gegen Halbkolonien, wie etwa der USA gegen den Irak oder des Vereinigten Königreichs gegen Argentinien, unterscheidet. Es handelt sich nicht um eine hilflose, waffentechnisch hoffnungslos unterlegene Armee, die einem militärisch tausendfach überlegenen Imperialismus gegenübersteht. Vielmehr handelt es sich um eine vom westlichen Imperialismus systematisch für diesen Krieg vorbereitete und ausgerüstete Armee, die für die Interessen ihrer Geldgeber:innen zu kämpfen hat. Mit Ausbruch des Krieges hat sich deren Unterstützung noch einmal vervielfacht. Und zwar nicht nur in Form von Waffenlieferungen, sondern auch in Form von Aufklärung, Ausbildung, strategischer Beratung und Wirtschaftshilfe.

15. Auch wenn die meisten NATO-Länder nicht offen Truppen entsenden, um sich an den Kämpfen zu beteiligen, sind sie doch seit langem als Waffenlieferanten, Ausbilder und Finanziers beteiligt. Eine große Einschränkung, die die NATO darauf beschränkt, die Ukraine als „Stellvertreterin“ einzusetzen, bereitet natürlich die Gefahr, dass sich der Krieg zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland ausweitet, die auch den Einsatz von Atomwaffen beinhalten könnte. Russland wiederum hat mehrfach mit dem Einsatz von taktischen Atomwaffen gedroht, um die NATO zu einer Begrenzung ihres Engagements zu bewegen. Aus diesem Grund wurde der Krieg hauptsächlich auf ukrainischem Gebiet ausgetragen. In den letzten Wochen scheint sich dies jedoch zu ändern (Grenzüberfälle durch ukrainisch ausgerüstete russische Milizen, mysteriöse Drohnenangriffe in Moskau usw.). Die Reaktion der westlichen Regierungen fiel gemischt aus: Während der globale Hegemon (die USA) zur Vorsicht mahnte, erklärte zumindest eine unbedeutendere, aber wichtige Macht (das Vereinigte Königreich), die Ukraine habe „das Recht, ihre Kräfte über ihre Grenzen hinaus einzusetzen“.

16. Die Art und Weise, wie das vorherrschende „demokratische“ Kriegsnarrativ der NATO nun die Gefahr einer Ausweitung des Krieges und der Konfrontation der Blöcke herunterspielt, dient dazu, eine zunehmend offensive und direkte Intervention in der Ukraine zu rechtfertigen – letztlich mit dem Ziel, Russland militärisch und politisch zu besiegen. Allerdings ist auch der Übergang zu einem begrenzten zwischenimperialistischen Krieg nicht auszuschließen. Denn die Logik der Ausweitung der Kriegsführung ist dem aktuellen Konflikt unmittelbar inhärent. Auch in diesem Sinne kann dieser Krieg nicht einfach als isolierter Konflikt betrachtet werden.

Beiwerk oder wesentliches Moment?

17. Neben der militärischen Eskalation des zwischenimperialistischen Konflikts enthält die Situation auch einen direkten wirtschaftlichen Aspekt. Die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen (Ausschluss von SWIFT, Einfrieren der internationalen Devisenreserven der russischen Zentralbank, Aussetzung der Aktivitäten westlicher Unternehmen in Russland, weitreichende Handelsbeschränkungen usw.) sind in der Tat von einem in der Geschichte noch nie dagewesenen Ausmaß (auch nicht in den vorangegangenen Weltkriegen). Das Ausmaß der westlichen Unterstützung bildet also nicht nur eine Begleiterscheinung des Krieges, sondern ein wesentliches „Moment“, das für seinen Charakter entscheidend ist. Natürlich kommt es in zahlreichen Kriegen einer Halbkolonie gegen eine imperialistische Macht oder ein imperialistisches Staatenbündnis immer wieder zu einer Intervention einer konkurrierenden Macht auf der Seite der unterdrückten Nation. Aber dies trägt meist nur einen episodischen, untergeordneten Charakter, der den des Krieges nicht verändert.

18. Dies ist jedoch keineswegs ein untergeordneter Aspekt eines jeden Krieges zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie. Am deutlichsten wird dies, wenn ein direkter zwischenimperialistischer Krieg ausbricht. Im Fall der Balkanländer im Ersten Weltkrieg beispielsweise bestand kein Zweifel daran, dass die ansonsten gerechtfertigte Landesverteidigung Serbiens gegen den Angriff Österreichs nach Ausbruch des Krieges ein untergeordnetes Moment wurde. Es wäre reaktionär gewesen, eine Position der Unterstützung für Serbiens Beschützer und Verbündete, die Entente-Mächte (Frankreich, Russland und Großbritannien), einzunehmen. Solange der imperialistische Krieg andauerte, war es nicht möglich, eine eigene Position der Unterstützung für Serbien einzunehmen.

19. Im Krieg um die Ukraine handelt es sich zwar nicht um einen offen erklärten Krieg zwischen Russland und den NATO-Staaten, aber die Westmächte, allen voran die USA, haben einen großen Einfluss auf die Führung und die Ziele des Krieges in der Ukraine. Es wäre mechanisch, aus der Tatsache, dass die NATO-Truppen nicht direkt und offen im Land aktiv sind, zu schließen, dass ihr Eingreifen von untergeordneter Bedeutung ist. Für die Ukraine und ihre Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen ist der Krieg jedoch in erster Linie einer der Selbstverteidigung gegen einen eindringenden Unterdrückerstaat. Außerhalb der Ukraine trägt der Konflikt zwischen Russland und der NATO einen reaktionären Charakter, dem sich Sozialist:innen entgegenstellen müssen.

20. So haben der Krieg und die massive „westliche“ Unterstützung für die Ukraine dem Konflikt einen multiplen Charakter verliehen – ein Angriffskrieg, der auf dem Territorium der Ukraine geführt wird, zu dem der Aspekt eines Stellvertreterkrieges zwischen den imperialistischen Mächten durch das Material und die strategischen Informationen der NATO sowie ein Kalter Krieg durch die Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland hinzugekommen sind. Der Verlauf des Krieges hat diese Einschätzung und politische Schlussfolgerung bestätigt. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die revolutionäre Politik in diesem Krieg unterschiedliche Formen in Russland, in den westlichen NATO-Ländern und in der Ukraine selbst annimmt.

Für die Niederlage des russischen Imperialismus

21. Russland ist eine imperialistische Macht, die direkt in den Versuch verwickelt ist, die Ukraine ganz oder teilweise zu besetzen. Daher gilt die Politik des revolutionären Defätismus hier in Russland am deutlichsten. Russlands Niederlage und Rückschläge können die Revolution beflügeln und Putins Herrschaft erschüttern. Das entscheidende Ziel stellt die Umwandlung des reaktionären Krieges in einen Klassenkampf für seinen Sturz und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung dar. Das steht in Russland unmittelbar auf dem Spiel:

  • Entlarvung des imperialistischen Charakters des Krieges und der Kriegsziele Russlands.
  • Aktionen gegen den Krieg. Antimilitaristische Arbeit und Agitation in der Armee sind unerlässlich, um eine Revolution gegen Putin oder ein anderes diktatorisches Regime vorzubereiten.
  • Gegen die Abwälzung der Kriegskosten auf die Massen (Kontrolle über die Warenverteilung, Enteignung von Unternehmen).
  • Rückzug der russischen Armee aus der Ukraine, der Wagner-Söldner:innen und ähnlicher Verbände.
  • Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine.
  • Auflösung der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit).
  • Aufbau einer Bewegung auf der Grundlage von Streiks und Aktionskomitees in Fabriken und Wohngebieten mit dem Ziel des Sturzes des Putin-Regimes und der Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung zur Durchsetzung von Arbeiter:innen- und demokratischen Rechten, des Kampfes für Arbeiter:innenkontrolle und eine Arbeiter:innenregierung auf der Grundlage von Arbeiter:innenräten.
  • Unterstützung der Kriegsgegner:innen, insbesondere der Rolle der Frauen, einschließlich der Angehörigen der in die Ukraine entsandten Soldat:innen, und des Feministischen Antikriegs-Widerstands (FAS).
  • Ablehnung der Ablösung Putins entweder durch einen Palastputsch ultrareaktionärer Kräfte oder die Einsetzung einer „prowestlichen“ Regierung.

22. Putins Entscheidung, die Bezirke Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson mit Pseudoreferenden zu annektieren, zusammen mit der teilweisen Mobilisierung von 300.000 Reservist:innen in Russland, ist ein reaktionärer Akt der Verzweiflung, der gleichzeitig seine Schwäche zum Ausdruck bringt.

23. Aufgrund der militärischen Niederlagen, der drohenden Einberufung von Hunderttausenden, die in der Ukraine als Kanonenfutter eingesetzt werden sollen, und der prekären wirtschaftlichen Lage wird sich die Situation in Russland zuspitzen. Das hängt aber auch vom Ausmaß und Stärke der nationalistischen Propaganda ab bzw., ob sie durch politische, militärische und wirtschaftliche Umwälzungen in Frage gestellt wird. Die Unterstützung antiimperialistischer, internationalistischer Kräfte in Russland ist unerlässlich, um den Aufbau einer revolutionären Organisation im Lande voranzutreiben.

24. Während unser übergreifendes Ziel in Russland der Sturz der russischen Regierung durch eine demokratische Antikriegsbewegung und der Aufbau einer breiteren sozialistischen Bewegung ist, die sich auf die Macht vorbereitet, sehen wir den Sturz Putins nicht als Vorbedingung für eine russische Niederlage. Vielmehr sind die Aussichten auf seinen Sturz umso größer, je schneller die russischen Streitkräfte militärisch besiegt werden. Im Zusammenhang mit dem Widerstand der Ukraine gegen die imperialistische Aggression sind wir für die militärische Niederlage der russischen Streitkräfte und ihren Rückzug aus dem ukrainischen Gebiet.

Revolutionäre Politik in der Ukraine

25. Hier ist die Situation wahrscheinlich am schwierigsten – sowohl für die Massen, die Opfer der Invasion, als auch bezüglich der Taktik, weil einerseits der zwischenimperialistische Konflikt eine prägende Rolle spielt und andererseits auch das wichtige Element der realen nationalen Unterdrückung vorhanden ist. Das bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen auf Widerstand gegen die russische Besatzung verteidigen sollten, aber ohne die Selenskyj-Regierung in irgendeiner Form zu unterstützen und ohne Illusionen in die Motive der imperialistischen NATO-Mächte zu wecken. Tatsächlich besteht der Kern der „nationalen Selbstbestimmung“ der ukrainischen Bourgeoisie in der Unterordnung des Landes unter den politisch-wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Apparat der EU und der USA. Es ist kein Zufall, dass ihre Kriegsziele im Wesentlichen mit denen des Westens und vor allem der USA übereinstimmen – einschließlich der Tatsache, dass sie die Gefahr einer Entwicklung zu einem vollständigen imperialistischen Krieg in Kauf nimmt und sogar fordert.

26. In der Ukraine schließt diese Politik des Regimes jedoch keineswegs die Unterstützung des Kampfes gegen die Besatzung aus. Es wäre absurd, zu erklären, dass die Frage der russischen Panzer und Flugzeuge, die ganze Städte plattmachen, keine Bedeutung hat. Wir erkennen an, dass die Ukraine trotz ihrer bürgerlichen Führung und des westlichen Einflusses ein Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Besatzung besitzt. Dazu gehört auch, dass wir das Recht der Ukraine anerkennen, die dafür notwendigen Waffen zu erwerben.

27. Aber diese Unterstützung durch die westlichen Imperialist:innen erfolgt nicht gratis. Da die Ukraine bereits vor dem Krieg praktisch bankrott war, erhielt sie im ersten Kriegsjahr einen Betrag an militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung, der in etwa dem jährlichen BIP der Vorkriegszeit entsprach. Die Wirtschaftshilfe wurde in Form von Krediten gewährt, die mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Für März 2023 hat der IWF ein neues Programm in Höhe von 15,6 Milliarden US-Dollar angekündigt (eines der größten in seiner Geschichte), das mit weitreichenden Forderungen für die Zukunft der Nachkriegsukraine verbunden ist. Westliche Kommentator:innen haben betont, dass die Beteiligung des IWF an der Ukrainehilfe unerlässlich ist, da er über „Erfahrung beim Wiederaufbau“ eines bankrotten Staates verfüge. Es ist ganz klar, dass diese Form der westlichen „Unterstützung“ die Vorbereitung einer halbkolonialen Zukunft der Ukraine mit schrecklichen Folgen für die Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verkörpert. Präsident Selenskyj hielt bereits Reden vor Bänker:innen von JP Morgan, Goldman-Sachs und anderen, in denen er unbegrenzte Renditen für deren „großzügige Investitionen“ versprach. Gegen diesen zunehmenden Einfluss des westlichen Finanzkapitals auf die Ukraine muss unbedingt Widerstand geleistet werden, indem der Erlass der Schulden, die Ablehnung jeglicher „Wirtschaftsberater:innen“, die mit der westlichen Hilfe einhergehen, und die Entwicklung einer demokratischen Kontrolle über die bisher geleistete Hilfe gefordert werden. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, selbst Waffen zu erwerben und produzieren, ohne von westlichen Lieferungen abhängig zu sein – und der daraus folgenden Umwandlung in eine Halbkolonie des westlichen Imperialismus!

28. Andererseits dürfen fortschrittliche Kräfte in der Ukraine Selenskyjs Ziel der militärischen und wirtschaftlichen Integration der Ukraine in den „Westen“ (NATO-Mitgliedschaft oder „Neutralität“ mit westlichen Sicherheitsgarantien) sowie die gewaltsame Integration der sogenannten Volksrepubliken und der Krim in eine „eine und unteilbare“ Ukraine um den Preis eines langwierigen Krieges nicht unterstützen. Diese Regionen müssen das Recht haben, ihre eigene Selbstbestimmung frei zum Ausdruck zu bringen, ohne die Anwesenheit von Besatzungstruppen aus Moskau oder Kiew.

29. In den Fabriken und an den Arbeitsplätzen bleibt es unerlässlich, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die gewerkschaftlichen und demokratischen Rechte der Lohnabhängigen zu verteidigen. Dies steht nicht im Gegensatz zur Verteidigung gegen die russischen Angreifer:innen. Vielmehr stärkt es die Widerstandskraft und die Moral der einfachen Menschen. Wir verteidigen ihre Rechte gegen die gewerkschaftsfeindlichen Maßnahmen Selenskyjs. Diese Verteidigung muss die Wahrung der Rechte der Freiwilligen in den Verteidigungseinheiten und den regulären Streitkräften gegen rechtsnationalistische und faschistische Kommandant:innen und Kräfte einschließen. Die letzten Monate haben die arbeiter:innenfeindliche und proimperialistische Natur des ukrainischen Regimes noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung des Landes ihre Bedeutung verloren hat. Solange der nationale Kampf gegen die russische Invasion einen gerechten Charakter beibehält, wäre es für Revolutionär:innen selbstschädigend, diesen aufzugeben. Es würde bedeuten, eine mächtige Waffe zur Sammlung der Massen in den Händen der Bourgeoisie zu lassen. Revolutionär:innen müssen vielmehr die Unterstützung der nationalen Selbstverteidigung mit dem Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse und der Aufdeckung der reaktionären Ausprägung des ukrainischen Regimes und seiner imperialistischen Hintermänner verbinden.

30. Die Liga für die Fünfte Internationale betonte von Anfang an zu Recht die Schlüsselrolle des zwischenimperialistischen Konflikts. Gleichzeitig erkannte sie an, dass die „berechtigte Antwort gegen die nationale Unterdrückung, die ein Haupthindernis für den Vormarsch der russischen Truppen darstellt, die Unterstützung der Revolutionär:innen verdient. Die ukrainischen Massen haben das Recht, sich und ihr Land gegen die russische Besatzung zu verteidigen“. Aber wir taten dies auf inkonsequente Weise, als wir das Recht der Ukrainer:innen, die Mittel für dieses Ziel zu erhalten, nicht anerkannten. Wir korrigieren diesen Fehler, der nicht nur die Selbstverteidigung der Volksmassen, sondern auch den Kampf um die Führung der und durch die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine geschwächt hätte.

31. Die Revolutionär:innen in der Ukraine müssen den Klassenkampf führen, auch wenn dieser heute vor allem einen politisch vorbereitenden Charakter innehat. Zentrale Elemente der revolutionären Politik müssen folgende sein:

  • Unterstützung für das ukrainische Recht auf Selbstverteidigung.
  • Agitation, revolutionäre Propaganda, Aufdeckung des Charakters des Krieges, die nicht nur Russland und die NATO/USA/EU angreifen, sondern auch die Kriegsziele der ukrainischen Regierung verdeutlichen.
  • Forderung nach wirksamem Schutz und Verteidigung der Zivilbevölkerung durch Regierung und Armee.
  • Kampf um die Kontrolle über Waffen und knappe Gütern in Fabriken, Städten und Dörfern, wenn möglich auch Aufbau von Milizen.
  • Streichen der Schulden! Die Lohnabhängigen sollten sich für die Einrichtung einer Arbeiter:innenkontrolle über den Erhalt und die Produktion von Rüstungsgütern einsetzen.
  • Antimilitaristische und antiimperialistische Agitation, die sich gegen die russischen Besatzungssoldat:innen richtet; Widerstand gegen die Konsolidierung der russischen Besatzung.
  • Kampf gegen die Einschränkung der demokratischen Rechte und die Angriffe auf die Arbeiter:innenrechte durch das Kiewer Regime. Anerkennung der Rechte aller nicht-ukrainischsprachigen Minderheiten, gegen ihre kulturelle oder politische Unterdrückung.

32. Zu diesem letzten Punkt müssen wir ganz klar sagen, dass die Zukunft der sogenannten Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein. Gleichzeitig verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht der Krim und der „Volksrepubliken“ (einschließlich ihres Rechts, sich Russland anzuschließen oder ein unabhängiger Staat zu werden). Allerdings kann nur eine sozialistische Föderation von Arbeiter:innenstaaten die verschiedenen nationalistischen herrschenden Klassen daran hindern, die Feindseligkeiten in ihrem eigenen Interesse zu schüren.

Keinen Fußbreit der NATO!

33. In den westlichen imperialistischen Staaten und ihren Unterstützer:innen gilt es, die weitere Eskalation des Konflikts zu einem offen erklärten zwischenimperialistischen Flächenbrand, eine Vertiefung des neuen Kalten Krieges zu verhindern und auch gegen die Verhängung eines globalen Sanktionsregimes zu kämpfen. Unser Ziel ist es, nicht nur die Frage der Kosten, der Angriffe auf demokratische Rechte usw. aufzuwerfen, sondern auch zu erklären, warum die westlichen Staaten nicht die „Demokratie“ und die Menschenrechte verteidigen, sondern ihre eigenen imperialistischen Interessen verfolgen.

34. Sanktionen, Aufrüstung, NATO-Mobilisierung an den Ostgrenzen, massive Waffenlieferungen oder „begrenzte“ Flugverbotszonen sind unbedingt abzulehnen. Der Hinweis darauf, dass NATO-Politik, Aufrüstung und Sanktionen teuer sind, hinterlässt einen schlechten Beigeschmack, wenn die behaupteten Kriegsziele der NATO-Länder – Verteidigung der Unterdrückten – gerecht erscheinen. Deshalb müssen auch die Kriegsziele und der Klassencharakter der imperialistischen Politik offengelegt werden. Während die Existenz der NATO (bzw. ihre Expansion) auf dem Schlachtfeld in der Ukraine nicht in Frage gestellt werden, ist der Ausgang des Krieges von größter Bedeutung für das globale Kräfteverhältnis zwischen dem Westen und Russland (und China). In den Parlamenten müssen die Mitglieder der Arbeiter:innenparteien gegen alle Waffenlieferungen und militärische Unterstützung stimmen, weil diese – ob gewollt oder nicht – einer politischen Legitimation der Kriegsziele der NATO-Staaten und ihrer Verbündeten gleichkämen.

35. Während wir eine Sabotage der ukrainischen Kriegsanstrengungen ablehnen, wozu auch gehört, dass wir uns Waffenlieferungen in die Ukraine nicht widersetzen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was die Mobilisierung der NATO an ihren Ostgrenzen sowie die Militarisierung (die in Osteuropa am stärksten ausgeprägt ist) und die sog. Ringtausche bedeuten. Angesichts der engen Verflechtung von Waffenlieferungen an die Ukraine mit der NATO-Aufrüstung, z B. über das System der Ringgeschäfte und den Ersatz alter Waffenbestände durch die Modernisierung der Armeebestände, müssen die Lohnabhängigen und Gewerkschaften die Offenlegung aller Lieferungen fordern. Wir kämpfen für die Arbeiter:innenkontrolle über den Transportsektor, damit unsere Klasse zwischen Waffentransporten in die Ukraine und solchen für die Truppenaufstellung, die Militarisierung und den Ringtausch unterscheiden und so beschließen kann, welche Transporte durchgelassen und welche gestoppt werden sollen.

36. Die West- und NATO-Mächte unterstützen die Ukraine nicht nur politisch, finanziell und militärisch, um ihre eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Sie haben auch einen Wirtschaftskrieg begonnen, um den russischen Imperialismus in die Schranken zu weisen. Wirtschaftssanktionen sind zu einem wichtigen Instrument der USA und anderer Mächte geworden, um ihre Ziele gegenüber anderen Ländern durchzusetzen. Dafür sind sie bereit, nicht nur die Arbeiter:innen ihres eigenen Landes für die dadurch ausgelöste Wirtschaftskrise und Inflation zahlen zu lassen, sondern auch die Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Armen im globalen Süden.

37. Die westlichen Imperialist:innen führen nicht nur umfangreiche Aufrüstungs- und Waffenlieferungsprogramme sowie einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch eine große ideologische Kampagne. Nach dem „Krieg gegen den Terror“ befinden sich die westlichen Imperialist:innen nun in einem universellen „Krieg für die Demokratie“. Die NATO wird als eine neue Art von „Anti-Hitler“-Koalition präsentiert – und jede/r, die/der sich kritisch zu einer NATO-Erweiterung, Superaufrüstung oder einer weiteren Eskalation des Konflikts mit Russland oder gar China äußert, wird entweder zur „Putin-Marionette“ oder bestenfalls zum/r naiven Beschwichtigungsidiot:in erklärt. Dies ist nicht nur eine mächtige ideologische Kampagne in den westlichen imperialistischen Ländern, sondern erstreckt sich auch auf den politischen Druck auf halbkoloniale Regierungen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie stehen wollen (und das wird dann auch mit wirtschaftlichem Druck kombiniert). Wie heuchlerisch diese demokratische Pose ist, zeigt die jüngste Aufhebung des Vetos des (nicht besonders demokratischen) NATO-Mitglieds Türkei gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens zum Militärbündnis im Gegenzug für eine formelle Zusammenarbeit mit der Erdogan-Regierung im Kampf gegen die kurdischen Oppositionellen der PKK und der YPG, die sie als terroristische Organisationen bezeichnet. Die gesamte Geschichte der NATO zeigt, dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Unterdrückung jeder demokratischen Bewegung ist, die sich gegen die Interessen der USA und ihrer wichtigsten Verbündeten richten könnte (siehe Spanien, Portugal, Griechenland usw.). Wir stehen fest in der Ablehnung der NATO und ähnlicher Institutionen des „demokratischen Imperialismus“, da die „Demokratie“, die sie verteidigen, die einer privilegierten Minderheit auf dem Globus ist, die letztendlich nur die Demokratie der 1 % der reichsten Personen in den „westlichen Demokratien“ verteidigt.

38. Zentrale Slogans in den westlichen imperialistischen Staaten sind:

  • Gegen alle Sanktionen! Bekämpft die wirtschaftliche Kriegsführung! Bekämpft jeglichen politischen und wirtschaftlichen Druck auf jedes Land, den von den USA und der EU verhängten Sanktionen zu folgen!
  • Nein zu den massiven Aufrüstungsprogrammen der NATO-Staaten und Truppenverlegungen. In den Parlamenten müssen die Parteien und Abgeordneten der Arbeiter:innenbewegung gegen Waffenlieferungen und -genehmigungen stimmen! Gegen die Ausweitung der NATO, für den Austritt aus ihr! Für die Auflösung der NATO!
  • Für die Auflösung der NATO und jeder anderen imperialistischen Allianz, die vorgibt, die „Demokratie“ zu verteidigen, in Wirklichkeit aber die bewaffnete Macht der bestehenden imperialistischen Weltordnung ist!
  • Keinen Mensch und keinen Cent für die imperialistische Politik! Überwälzung der Kosten, Preiserhöhungen usw. auf die Herrschenden! Enteignung des Energiesektors und anderer Preistreiber:innen unter Arbeiter:innenkontrolle! Notprogramm für Arbeitslose, Rentner:innen, Geringverdiener:innen, Übernahme der gestiegenen Wohnkosten durch Besteuerung des Kapitals! Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und Konversion unter Arbeiter:innenkontrolle!
  • Aufnahme aller Flüchtlinge, Bleiberecht und Staatsbürger:innenschaft für alle an dem Ort, an dem sie leben wollen – finanziert durch den Staat! Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt, Zulassung zu Gewerkschaften!
  • Unterstützung für die gerechten Kriegsziele des ukrainischen Widerstands: Abzug der russischen Truppen und Anerkennung der ukrainischen Souveränität!
  • Nein zu den westlichen Kriegszielen: Keine Ausplünderung der ukrainischen Wirtschaft durch das imperialistische Kapital! Streicht die Schulden der Ukraine!
  • Solidarität mit den Sozialist:innen und Gewerkschafter:innen in der Ukraine, die wegen der Verteidigung der Rechte der Lohnabhängigen und ihrer internationalistischen Ansichten von der Regierung oder rechten Banden angegriffen werden!
  • Im Falle einer direkten Intervention (z B. Einrichtung von Flugverbotszonen, Entstehung neuer Krisenherde im Baltikum): politischer Massenstreik gegen den Krieg!
  • Ablehnung jeglicher Politik des Klassenfriedens!
  • Für eine massenhafte proletarische Antikriegsbewegung, die sich dem NATO-Aufbau in Osteuropa und international entgegenstellt, die Kriegsziele der imperialistischen Bourgeoisie entlarvt und vor der Gefahr einer Eskalation hin zu einem zwischenimperialistischen Konflikt warnt!

39. Dies ist nicht nur für den Klassenkampf in den imperialistischen Ländern und anderen NATO-Ländern entscheidend. Gleichzeitig müssen die fortschrittlichen Bewegungen und Organisationen in Russland wie auch in der Ukraine gestärkt werden, indem deutlich gemacht wird, dass die Arbeiter:innenklasse eine unabhängige Politik verfolgt, die die Hauptfeindin in der eigenen Bourgeoisie erkennt.

Weitere Entwicklungen

40. Die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird ein entscheidender Faktor für die Weltpolitik in den kommenden Monaten, wenn nicht Jahren sein.

41. Dass die internationale wirtschaftliche Isolierung Russlands durch die NATO und die G7 auf massive Schwierigkeiten stößt und sich nicht nur China, sondern auch große halbkoloniale Volkswirtschaften weigern, die Embargos in vollem Umfang mitzutragen, hat mehrere Ursachen. Erstens ist die Unterstützung für Sanktionen und einen Stellvertreter:innenkrieg gegen Russland in den Halbkolonien viel schwächer, wenn sie überhaupt vorhanden ist. Die demokratisch-imperialistische Ideologie des Westens ist dort viel weniger wirksam. Zweitens ist das aber auch Ausdruck einer Erschütterung der US-Hegemonie und einer Verschiebung des globalen Kräfteverhältnisses. Deshalb könnten sich die Sanktionen gegen Russland vor allem für die EU-Staaten zu einem wirtschaftlichen Bumerang entwickeln. Angesichts der Bedeutung des Krieges um die Ukraine und des Wirtschaftskrieges gegen Russland ist es jedoch trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeiten alles andere als sicher, dass eine der beiden Seiten einlenken und Kompromisse eingehen wird.

42. Andererseits machen der Krieg, die Sanktionen und die Tendenzen zur Zersplitterung des Weltmarktes eine tiefe Wirtschaftskrise in den kommenden Monaten sehr wahrscheinlich, die sich in Form von Preissteigerungen, Verarmung und in den halbkolonialen Ländern sogar in einer drohenden Hungersnot äußern wird. Der Krieg und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt werden diese Krisentendenzen massiv verschärfen und Wellen von Klassenkämpfen, vorrevolutionären und revolutionären Situationen hervorrufen. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

43. Es gibt mehrere Optionen für die weitere Entwicklung des Krieges:

  • Eine unmittelbar wahrscheinliche Entwicklung ist, dass beide Seiten ihre Kriegsanstrengungen weiter verstärken werden. Für die Ukraine würde dies mehr Rüstung und wirtschaftliche Unterstützung durch den Westen bedeuten. Dies würde Hand in Hand gehen mit einem massiven Ausbau der NATO und der Einführung von Elementen einer Kriegswirtschaft. Russland hat seine Wirtschaft bereits in diese Richtung umstrukturiert. Die Sanktionen des Westens und der Krieg haben die Schwäche des russischen Imperialismus offenbart, aber auch seine Abhängigkeit von China als dem wirtschaftlich und mit der Zeit auch militärisch stärkeren Imperialismus deutlich erhöht. China wiederum kann sich eine offene russische Niederlage nicht leisten.

  • Da es aber unwahrscheinlich ist, dass eine der beiden Seiten einen umfassenden militärischen Sieg erringt, würde dies entweder zu einem länger andauernden Stellungskrieg führen, der weiteren Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden das Leben kosten würde. Oder, sollte eine Seite hingegen verlieren, könnte dies zu weiteren verzweifelten Aktionen und einer Eskalation des Krieges über die Ukraine hinaus führen.

  • Er könnte aber auch zu einem anderen Szenario führen, in dem der imperialistische Krieg einem imperialistischen Frieden weicht. Der Krieg und seine wirtschaftlichen Auswirkungen haben nicht nur Russland betroffen, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Er hat die halbkoloniale Welt, aber auch die Westmächte getroffen. Während sie Russland eindämmen und isolieren wollen, ist ein Zusammenbruch und Zerfall des russischen Imperialismus nicht in ihrem Sinne, da dies die Welt instabil geraten lassen würde. Zweitens entstehen dem Westen auch massive wirtschaftliche und soziale Kosten, die in einer Zeit der globalen Krise und der zunehmenden Rivalität mit China statt mit Russland schwer zu verkraften sind.

  • Daher könnte es irgendwann im kommenden Jahr zu einem Einfrieren des Krieges kommen. Es würde wahrscheinlich die Form von imperialistisch aufgezwungenen Friedensgesprächen annehmen (möglicherweise unter dem Deckmantel der UNO oder unter Einbeziehung einiger der mächtigeren Halbkolonien wie Indien, Türkei oder Brasilien als „unabhängiger“ Kräfte). Ein solcher „Frieden“ würde in erster Linie auf Kosten der ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen gehen. Er würde wahrscheinlich zu einer Spaltung des Landes führen, und er würde dazu führen, dass der Klassenkampf neue Formen annimmt.

Während die Arbeiter:innenklasse eindeutig kein Interesse an einem jahrelangen Zermürbungskrieg hegt, muss sie auch einen von den imperialistischen Mächten aufgezwungenen „Frieden“ aus mehreren Gründen ablehnen. Erstens könnte er einige Zugeständnisse in Bezug auf die territorialen Eroberungen Russlands beinhalten und nicht nur den Konflikt mit neuen erweiterten Grenzen einfrieren, sondern auch die tiefgreifende nationale Unterdrückung der Ukrainer:innen, ukrainisch und russischsprachig, die jetzt unter einer offenen, chauvinistischen Diktatur leben, die ihnen ihre Identität, ihre nationalen Rechte (Bildung, kulturelle Freiheit usw.) verweigert und Hunderttausende zur Flucht vor der Besatzung getrieben hat. Zweitens wird er, auch wenn er vielleicht von der ukrainischen Regierung und den Oligarch:innen unterstützt wird, für die Massen eine Katastrophe mit sich bringen – die Ukraine zu einer verarmten Halbkolonie der westlichen imperialistischen Mächte machen, die ihrerseits um ihren Anteil am Reichtum (sowohl an den natürlichen Ressourcen als auch an der Arbeitskraft) des Landes ringen werden.

Eine solche Entwicklung wird die Formen und Prioritäten des Klassenkampfes in allen Ländern verändern und den Kampf gegen einen aufgezwungenen, ungerechten Frieden zugunsten der Imperialist:innen und der ukrainischen herrschenden Klasse auf die Tagesordnung setzen. Es würde auch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes gegen die Ausbeutung des Landes durch das globale Kapital und für eine vereinigte europäische Bewegung zum Widerstand dagegen auf die Tagesordnung setzen – eine Bewegung, die den Kampf für Selbstbestimmung und gegen kapitalistische Ausbeutung mit dem für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa verbinden müsste. Damit steht die Notwendigkeit des Aufbaus revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale fest auf der Tagesordnung.

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum zwischenimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbass-Republiken. Dies in der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.




Tragödie und Farce – der „Wagner“-Putsch

Martin Suchanek, Infomail 1226, 26. Juni 2023

Fast so schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch vorbei. Am 23. Juni verkündete der Chef und Eigentümer der paramilitärischen russischen Gruppe Wagner, Prigoschin, einen „Marsch für Gerechtigkeit“ auf Moskau an. Auch wenn es hieß, dass sich nicht direkt gegen Putin, sondern „nur“ gegen Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow richte, stand ein Putsch im Raum.

Bis zu 25.000 Soldaten mobilisierte die Wagner-Gruppe. Innerhalb weniger Stunden besetzte sie die militärischen Kommandostellen in Rostow/Don, dem Kommandozentrum der Armee im Ukrainekrieg, und rückte auf Moskau vor.

Putin erklärte die Wagner-Truppe zu „Verrätern“ und drohte mit allen erdenklichen Mitteln, um sie zu stoppen und bestrafen. Prigoschin seinerseits kündigte an, alle zu vernichten, die sich einen Söldern in den Weg stellten.

Rund 200 Kilometer vor der Hauptstadt endete der Vormarsch so überraschend, wie er begonnen hatte – mit dem Rückzug der Wagner-Truppen. Vermittelt hatte dieses Ende der Präsident von Belarus, Aljaksandr Lukaschenka. Eine große bewaffnete Konfrontation blieb aus. Die Anklage gegen Prigoschin wurde fallengelassen, die „Aufständischen“ pardoniert. Schließlich hätten sie ja in der Ukraine, in Syrien, Mali und bei sonstigen Schlächtereien „Großes“ für Russland geleistet.

Konflikt im Regime

Der ebenso überraschende wie überraschend abgeblasene Putsch erwischte nicht nur Putin auf dem falschen Fuß. Die gesamte Weltöffentlichkeit spekulierte, immer neue „Nachrichten“, Verlautbarungen, Insider(des)informationen und widerstreitende „Expert:innen“ warten mit ihren Einschätzungen auf. Der amerikanische Geheimdienst sollte schon vorab informiert gewesen sein, heißt es. Andere meinen, auch der russische hätte etwas gewusst. Die einen sprachen von einem Putschversuch, andere meinten, es wäre eher eine inszenierte Auseinandersetzung gewesen. Und wie der Beginn, so gab und gibt auch das Ende des „Marsches für Gerechtigkeit“ Raum zur Spekulation.

Fakt ist, dass die Episode den bisherigen Zenit eines Konfliktes zwischen zwei Flügeln des russischen imperialistischen Militärapparates und Regimes darstellt. Schon seit Monaten hatte Prigoschin den Spitzen der Armee vorgeworfen, in der Ukraine zu versagen, die Lage zu beschönigen, nicht brutal genug vorzugehen und seinen Kämpfern Nachschub vorzuenthalten. Außerdem hätte die Armee die Abzugsrouten von Wagner-Soldaten aus Bachmut vermint. Am 23. Juni beschuldigte Prigoschin das Verteidigungsministerium, einen Angriff auf seine Truppen gestartet zu haben.

Zweifellos zeigt der gesamte Konflikt eine innere Schwäche des russischen Regimes. Der Aufmarsch, die Passivität von Teilen der Armee, der, wenn auch nur zeitweilige, Kontrollverlust über Teile des Landes sind natürlich ein Zeichen der Schwäche für jedes Regime, zumal für ein bonapartistisches, das so sehr auf die „Allmacht“ eines Mannes zugeschnitten ist.

Dazu bedarf es keiner sonderlichen Kenntnisse. Verschärft wird das Problem dadurch, dass der Konflikt nicht gelöst, sondern nur befriedet wurde. Er dürfte zwischen der Armeeführung und der Wagner-Gruppe also weitergehen.

Und auch wenn Putin angeblich schon vor Monaten versucht hatte, ihn durch Vermittlung beizulegen, so darf man nicht vergessen, dass er in mehrfacher Hinsicht selbst eine Ausgeburt des Systems Putin darstellt.

Ursprung und Veränderung der Gruppe Wagner

Der russische Imperialismus hat über Jahre private, paramilitärische, eng mit dem Regime verbundene „Sicherheitskräfte“ aufgebaut. Die Wagner-Gruppe ist sicherlich die bekannteste, aber keineswegs die einzige. Für die Außerpolitik Russlands erfüllten sie über Jahre wichtige Funktionen, erledigten die besonders barbarische Drecksarbeit „privat“, so dass Putin und die Armee für diese „Exzesse“ keine Verantwortung übernehmen, ja sich zur Not sogar davon distanzieren konnten.

Über Jahre agierte u. a. die Wagner-Gruppe am Rande der russischen Legalität. Ironischer Weise war ihr heutiger Intimfeind Gerassimow einer der Inspiratoren ihrer Gründung. Prigoschin selbst bestritt noch bis 2019 irgendwelche Verbindungen zu dieser Organisation.

Die Gruppe Wagner selbst rekrutierte und rekrutiert sich bis heute vornehmlich aus ehemaligen Soldaten und Offizieren der russischen Armee. Auch wenn sie keine offizielle Ideologie hat, so war sie von Beginn an von völkisch-nationalistischen Kräften bis hin zu offenen Faschisten geprägt. Der Name Gruppe Wagner geht auf den ehemaligen Oberstleutnant Dmitri Uktin zurück, der selbst eine Teileinheit der privaten Söldnergruppe Slawisches Korps befehligte und dort den Kampfnamen Wagner führte. Uktin selbst war nicht nur ein Bewunderer des deutschen Komponisten, sondern auch von Adolf Hitler und des Dritten Reiches. Auch wenn die Wagner-Gruppe in ihre Gesamtheit keine faschistische Organisation darstellt, so tummeln sich seit ihrer Gründung russische Rechte darin.

Im Zuge des Ukrainekrieges veränderte sich aber die Größe und Rolle der Söldnertruppe. Es wurden zunehmend auch schlechter ausgebildete Soldaten wie auch Kriminelle in großer Zahl aufgenommen, die oft selbst als Kanonenfutter in der „Truppe“ fungieren. Insgesamt wir die Zahl der Kämpfer im Ukrainekrieg nach unterschiedlichen Quellen auf 30.000 bis 50.000 Mann geschätzt.

Putin als Geburtshelfer

Mit dem rasanten Wachstum veränderte sich zugleich auch die Stellung im System Putin und es steigerte sich auch die Konkurrenz mit dem Militärapparat, der ursprünglich deren Gründung angeregt hatte. Die Verluste im Ukrainekrieg verschärften diese Gegensätze.

Es wäre jedoch verkürzt, diese inneren Widersprüche unter den bewaffneten Kräften des russischen Imperialismus nur als Konflikte zwischen einzelnen Personen oder Institutionen zu betrachten. Das bonapartische Herrschaftssystem Putin hat lange selbst Konflikte und  Konkurrenz unter seinen Gefolgsleuten befeuert. Das funktioniert auch solange, als diese über ein gewisses Maß nicht hinausgehen. Putin kann dann als der „neutrale“, „vernünftige“ Schlichter auftreten und sich so als unersetzlicher Garant für Stabilität nicht nur für seine Gefolgsleute, sondern auch für die Bevölkerung beweisen.

Doch diese Konflikte haben im Ukrainekrieg eine gefährliche Eigendynamik entwickelt, die am 23. Juni für einige aus dem Ruder gelaufen ist und – letztlich entgegen der Intention aller Beteiligten – auch das Herrschaftssystem des russischen Imperialismus als schwach erscheinen ließ.

Dass der Putschversuch unblutig endete, gibt ihm nicht nur einen unfreiwillig komödiantischen Touch. Der Ausgang verdeutlicht auch, dass letztlich alle Beteiligten das System Putin nicht ersetzen, sondern nur ihre Position darin behaupten wollen. Beschädigt wurde es jedoch.

Die Unternehmung der Gruppe Wagner verdeutlicht, dass Teile des bewaffneten Apparates wie auch der wirtschaftlichen Elite auch über Alternativen zu Putin nachzudenken beginnen – inklusive solcher, die einen womöglich noch barbarischeren Kurs verfolgen. Zweitens verweist sie auf eine tief sitzende Unzufriedenheit unter Soldaten an der Front, was für jedes Regime eine Gefahr darstellt. Für den Krieg in der Ukraine bedeutet das keineswegs eine Entspannung von russischer Seite. Kurzfristig ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Kriegsanstrengungen des russischen Imperialismus eher noch verstärkt werden, um die eigenen Eroberungen gegen die ukrainischen Gegenangriffe zu halten. Davon hängt heute das Regime Putin noch mehr ab als vor dem „Wagner“-Putsch.




Debatte: Warum Russland eine imperialistische Macht ist

Markus Lehner, Neue Internationale 274, Juni 2023

In der linken Auseinandersetzung um die Positionierung im Ukrainekrieg spielt die Frage des imperialistischen Charakters der Russischen Föderation eine wichtige Rolle. Schon lange vor diesem Krieg hatten wir im Unterschied zu solch unterschiedlichen Strömungen wie der „Fracción Trotskista“ (RIO) bis hin zu den meisten poststalinistischen Gruppierungen Russland als sich neu etablierende imperialistische Großmacht analysiert(1).

Die verschiedenen linken Kritiker:innen unserer Charakterisierung stützen sich dabei meist auf eine behauptet „orthodoxe“ Bezugnahme auf Lenins „Imperialismusdefinition“. Beliebt ist dabei insbesondere das Heranziehen der berühmten „5 Kriterien“ aus Lenins Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriß“(2). Dabei wird dann z. B. gern als „Beweis“ herangezogen, dass Russland eine negative Bilanz in Bezug auf Direktinvestitionen aufweise und sehr viel mehr vom Rohstoffexport als von der Stärke seiner finanzkapitalistischen Monopole abhänge.

Lenins Imperialismusbegriff

Zunächst einmal ist hier wichtig, den Verkürzungen von Lenins Imperialismusbegriff entgegenzutreten. Die immer wieder angeführten „5 Kriterien“ werden tatsächlich auf der Ebene einer allgemeinen Analyse des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus eingeführt – also hinsichtlich der Bestimmung des imperialistischen Systems als Ganzem, nicht des imperialistischen Charakters eines besonderen Teiles oder einzelnen Staates.

Darüber hinaus spricht Lenin von „Merkmalen“, die eine korrekte Definition des Imperialismus enthalten müsse, nicht von einer Art endgültiger, mechanisch anwendbarer, unveränderlicher Definition. An anderer Stelle betont er auch, dass die kürzeste Bestimmung sei, dass der Imperialismus das monopolitische Stadium des Kapitalismus als Weltsystem darstelle.

 Dies beinhaltet, dass in dieser Epoche der Kapitalismus zur Totalität der Weltökonomie geworden ist, also keine vor- und nicht-kapitalistischen Nischen mehr bestehen, die nicht letztlich von den übergeordneten Kapitalverwertungsgesetzen bestimmt sind, und das Ausmaß von Konzentration/Zentralisation des Kapitals eine modifizierende Wirkung auf die Tendenzen zur Ausgleichung der Profitraten zur Durchschnittsprofitrate zeitigt.

Dies bedeutet auch, dass eine bestimmte Verbindung von Finanz- und Industriekapital und staatlichen Akteur:innen in der Lage ist, die eigene Profitabilität bzw. (ökonomische und politische) Stabilität auf Kosten anderer Kapitale und Staaten, trotz aller Krisentendenzen, abzusichern (zumindest zeitweise, da es kein absolutes Monopol gibt und die Monopolprofitraten letztlich nicht von den allgemeinen Verwertungsproblemen des Kapitals abgekoppelt werden können). Diese ökonomische Basis führt dann zu den Lenin’schen Merkmalen: Auch die Wichtigkeit des Kapitalexportes begründet sich letztlich aus der Verschärfung des Problems der Überakkumulation in den imperialistischen Zentren, die diese durch Investition von überschüssigem Kapital in andere Länder überwinden, in denen der mangelnde Ausgleich der internationalen Profitrate günstigere Anlagemöglichkeiten schafft (z. B. durch billigeren Zugang zu Arbeitskräften und Rohstoffen). Kapitalexport ist also nicht „an sich“ ein definierendes Element, sondern ist für diejenigen imperialistischen Kapitale unausweichlich, bei denen fallende Profitraten bereits in verstärkte Überakkumulation umgeschlagen sind (also eigenes Wachstum und Warenexport für das Anlagekapital nicht mehr ausreichende Profitaussichten bieten).

Entscheidend für die Lenin’sche Begriffsbildung ist aber nun vor allem, dass diese monopolistische Totalität des Imperialismus zu einer Aufteilung der Weltwirtschaft unter große Kapitalverbände geführt hat, die Neuaufteilungen bzw. neue Player nur in sehr engen Grenzen zulässt – oder wenn doch in größerem Ausmaß, dann notwendigerweise mit heftigen Erschütterungen, analog einem tektonischen Beben. Dieses System der Aufteilung der Weltökonomie findet auf politischer Ebene kein Pendant in Gestalt ähnlich einem bürgerlichen Nationalstaat wie in den Einzelökonomien, sondern kann auf Weltebene aufgrund dieser monopolistischen Basis nur stabilisiert werden durch ein System von imperialistischen Großmächten.

Russland damals und heute

Der Aufteilung der Welt unter Kapitalverbände geht somit einher – allerdings nicht eins zu eins – mit ihrer politischen Aufteilung in Einflusssphären von Großmächten. Hier finden wir auch den Grund, warum Lenin das zaristische Russland als imperialistische Macht analysierte, obwohl es zu seiner Zeit den „5 Kriterien“ nicht entsprach, denn es war in Bezug auf Kapitalkonzentration, die Bedeutung seines Industrie- und Finanzkapitals, das Übergewicht an Zufluss von Kapital gegenüber eigenen Direktinvestitionen etc. weit von den anderen imperialistischen Mächten entfernt. Dies wurde zwar ausgeglichen durch eine dynamische Entwicklung bestimmter industrieller Sektoren und einer beginnenden Expansion russischen Kapitals auch nach außen. Entscheidend war aber die starke Stellung Russlands seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als expansive Großmacht, die mit dieser noch untergeordneten ökonomischen Dynamik verbunden war. Dies führte in Zentralasien und Teilen Europas zu einer dem Kolonialismus der anderen europäischen Großmächte vergleichbaren Rolle im imperialistischen Gesamtsystem vor dem Ersten Weltkrieg.

Auch das gegenwärtige Russland ist von solchen widersprüchlichen Tendenzen geprägt. In den Turbulenzen der Restauration des Kapitalismus nach dem Zusammenbruch des Stalinismus wurden in der „wilden Privatisierungsperiode“ der 1990er-Jahre zum Teil viele Produktionskapazitäten zerstört, andere rasch aufgebaut – jedenfalls unter enormer Bereicherung einer kleinen Schicht von Manager:innen und Finanzkapitalist:innen. In dieser Phase hätte durchaus ein Ausverkauf Russlands an westliches Kapital geschehen können, was aber aufgrund der hohen Risiken insbesondere nach dem ökonomischen Zusammenbruch 1998 („Russlandkrise“) vereitelt werden konnte.

Rohstoffe und industrielles Kapital

Unter Putin wurden in den 2000er-Jahren teilweise eine Renationalisierung und Wiederverstaatlichung (zumindest Absicherung staatlicher Sperrminoritäten) durchgeführt – ohne das System der Oligarch:innen grundlegend zu überwinden. Dadurch geriet insbesondere der Rohstoff- und Energiesektor zu einem stabilisierenden Faktor des russischen Kapitalismus, jenseits der Einflussnahme von westlichem Kapital. Seitdem weist die russische Handelsbilanz kontinuierlich nicht einfach nur positive Überschüsse auf, sondern die Exporte übersteigen die Importe im Durchschnitt systematisch um ein Drittel. Dies betrifft nicht nur Öl, Kohle und Gas oder Getreide, sondern Russland wurde inzwischen zu einem der größten Exporteure bei strategisch wichtigen Rohstoffen. Dazu gehören Kupfer, Nickel, Uran (mit dem von Russland abhängigen Kasachstan), Palladium, Aluminium, Gold, Diamanten, Holz, …(3). Russland konnte durch diesen Rohstoffreichtum unter eigener Kontrolle (d.h. unabhängig von jeglichen ausländischen Monopolen) nicht nur beträchtliche Reichtümer ansammeln, sondern auch ein starkes Maß an wirtschaftlicher Autarkie gewinnen.

Angesichts des Staatsschatzes und der Beteiligungen ist auch nicht verwunderlich, dass der russische Staat zu den am wenigsten verschuldeten der Welt zählt. So lag der Anteil der Staatschuld am BIP 2020 bei 19 %, im Vergleich dazu jener der USA bei 133 %.

Im Windschatten dieser Stabilisierung konnten sich auch strategische Industrien im IT-Sektor, Maschinenbau und Hochtechnik mit starker Dynamik aufbauen. Dies hat auch mit der großen Bedeutung des militärisch-industriellen Komplexes in Russland zu tun. Nicht nur, dass auch vor dem Ukrainekonflikt schon regelmäßig über 4 % des BIP für Rüstungsausgaben verausgabt wurden – Russland zählt zu den größten Waffenexporteuren der Welt, was sich auch insgesamt auf die Wachstumsraten der russischen Wirtschaft ausgewirkt hat. Die größten Waffenexporteure der Welt sind in dieser Reichenfolge: USA, Russland, Frankreich, China, Deutschland. Nach den USA ist die Russische Föderation die zweitgrößte Militärmacht auf der Welt. Auch wenn ihr Abschneiden im Ukrainekrieg Zweifel aufkommen lässt, so muss auch bedacht werden, dass die dabei von ukrainischer Seite zum Einsatz kommenden westlichen Waffen- und Informationstechniksysteme eben auch eine weiterhin bestehende qualitative Überlegenheit insbesondere von US-Rüstungstechnik zum Ausdruck bringen.

Finanzkapital

Auch das Finanzkapital in der Russischen Föderation weist eine beachtliche Größe auf. Banken wie die Sberbank oder VTB sind ausreichend groß für die Bedürfnisse des russischen Kapitals für In- und Auslandsgeschäfte. Dazu kommen Fondsgesellschaften, die ursprünglich aus dem Energie- und Rohstoffbereich stammten und inzwischen mit gewaltigen Summen operieren können wie der „National Wealth Fund“ oder der „Russian Direct Investment Fund“. Inzwischen gibt es mit China, Saudi-Arabien, Katar, Kuwait und einigen anderen Ländern gemeinsame Investitionsfonds, die dem russischen Finanzkapital (auch nach den westlichen Sanktionen) immer größere Spielräume schaffen.

Hinzuzurechnen ist auch, dass sich die Russische Föderation ein breites Band an Weltregionen geschaffen hat, in die ihre Direktinvestitionen fließen können. Wie schon dargestellt, ist der Druck auf die russische Ökonomie in Bezug auf nötige Auslandsinvestitionen nicht so groß wie bei anderen imperialistischen Ländern, da sie einerseits über einen eigenen billigen Arbeitskräftemarkt für eine weiterhin wachsende Wirtschaft verfügt, andererseits durch Energie-/Rohstoff-/Rüstungsexporte genügend Ausgleich findet. Andererseits verkörpern die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien ein großes Areal für abgesicherte Investitionen als auch für leicht ausbeutbares „Arbeitskräftematerial“. Russland ist weiterhin eine postkoloniale Macht, in der eine riesige rassistisch und national unterdrückte „nicht-russische“ Bevölkerung (aus Migrant:innen oder kolonialisierten Ethnien) einen großen Teil der unteren Ränge der Beschäftigung ausführt. So war der brutale Krieg in Tschetschenien ein wesentlicher Faktor für die autoritäre Befestigung der inneren Kolonien in der Russischen „Föderation“ – und spielte durch die Herausbildung entsprechender Sicherheitsstrukturen im Zusammenhang mit dieser russischen Variante des „Kampfes gegen den Terror“ die Vorbereitungsrolle bei der allgemeinen Wende zum Autoritarismus in Russland.

Neben den Direktinvestitionen in Zentralasien und dem Nahen Osten sind in den letzten Jahren auch die Direktinvestitionen in Afrika und Lateinamerika aus Russland (oft in Verbindung mit der Rüstungsindustrie) stark gestiegen. Seit 2016 (und den schon seit damals stark sinkenden Kapitalflüssen aus „dem Westen“) weist Russland demnach auch eine positive Bilanz in Bezug auf Direktinvestitionen aus. Exemplarisch für diese Tendenz war 2018, als die ausländischen (neuen) Direktinvestitionen auf 8,9 Mrd. US-Dollar sanken, gegenüber einer Steigerung der russischen Direktinvestitionen im Umfang von 28 Mrd. im Ausland. Dabei muss auch noch Folgendes festgehalten werden: Der größte westliche Direktinvestor in der Russischen Föderation war bis vor wenigen Jahren die Republik Zypern (2020: 147 Milliarden US-Dollar Bestandsinvestitionen). Genauere Untersuchungen darüber, wie aus einem Pleitestaat plötzlich seit 2008 ein Milliardeninvestor in Russland werden konnte, zeigen jedoch, dass der Ursprung dieses Kapitals zumeist bis nach Russland selbst verfolgt werden kann (2020: FDIs in Höhe von 193 Milliarden US-Dollar aus Russland). Dies hängt wohl damit zusammen, dass viele russische Kapitalist:innen ihrem eigenen Staat nur bedingt vertrauen und so von den Steuervorteilen und der Bankenpolitik in Zypern mehr überzeugt waren – und von dort aus die eher riskanteren Investitionen in Russland getätigt haben. Zypern hat zugleich großzügige Regelungen für Doppelstaatsbürgerschaften bei entsprechenden Investitionen gewährt. Rechnet man die zyprischen Milliarden ab, war Russland bereits in den 2010er Jahren eher Nettokapitalexporteur als -importeur. Die Fähigkeit des russischen Kapitals, den massiven Stopp von Kapitalzufluss aufgrund der westlichen Sanktionen nach dem Angriff auf die Ukraine zu kompensieren, zeigt, wie wenig Russland mit einer Halbkolonie zu tun hat, die nach solchen Sanktionen nicht mal einen Monat ökonomisch überleben würde.

Klassenstruktur

Russland als größtes Land mit der zweitgrößten Armee der Welt, als einer der größten globalen Rohstoff- und Energielieferanten, mit sehr großen darauf aufbauenden Monopolen und Finanzkapitalen ist sicherlich niemandes „Halbkolonie“, obwohl die relativ große Rolle des Staates im Finanz- und Monopolkapital sowie die im Vergleich höhere kriminelle Ader des einheimischen Großkapitals sicherlich ein Zeichen seiner Schwäche darstellen.

Im Rahmen der nachholenden Entwicklung und aufgrund seines Ursprungs aus einem ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaat weist der russische Kapitalismus noch in vielen Bereichen Merkmale der „ursprünglichen Akkumulation“, in der Staat und mafiaartige Ausbeutungsverhältnisse eine relativ große Bedeutung einnehmen, auf. Dies führt auch dazu, dass eine unabhängige Mittelschicht in größerem Ausmaß bis jetzt nicht entstanden ist und eine relativ große Kluft zwischen Superreichen und der Masse der Bevölkerung besteht.

Für ein stabiles parlamentarisches Regime fehlt dem russischen Imperialismus daher die soziale Basis mit einer entsprechend großen Arbeiter:innenaristokratie und lohnabhängigen Mittelschichten (wie im Westen). Er ist daher auf das bonapartistische Putinregime angewiesen, das jegliche Form einer konsequenten Interessenvertretung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen unterdrückt oder durch nationalistischen Populismus einfängt. Anders als der westliche Imperialismus kann er sich nicht als „Hort der Demokratie und Menschenrechte“ verkaufen, sondern muss in seinem weltweiten Agieren statt auf „Softpower“ und „Scheckkarten“ immer wieder auch auf unmittelbare militärische Drohung oder Gewalt zurückgreifen. Der russische Imperialismus ist daher ein noch um seine Anerkennung und globale Rolle ringender Kapitalismus, der in vielen Feldern gegenüber den etablierten imperialistischen Mächten in einer schwächeren Position verbleibt – die er umso stärker durch seine militärisch-politischen Mittel überspielen muss.

Rolle als Großmacht

Die entscheidende Frage für den imperialistischen Charakter Russlands ist also die Rolle, die es im Konzert der Großmächte und im Kampf um die gegenwärtige Neuaufteilung der Welt spielt. In der Konsolidierung des russischen Kapitalismus in den 2000er-Jahren hat es sich vor allem durch eine Art Deal mit den europäischen Führungsmächten eine Rückkehr auf die globale Bühne ermöglicht: Als wesentlicher Energie- und Rohstofflieferant für die europäischen Produktionsketten (insbesondere für Deutschland und Frankreich) wurde auch seine besondere Rolle als militärisch-politische Großmacht in Konkurrenz zu den USA akzeptiert. Letztere betraf zunächst vor allem Zentralasien, später aber auch Afrika und insbesondere den Nahen Osten (z. B. Syrien).

In der EU gab es Tendenzen, mit Russland zusammen ein Gegengewicht in der sich abzeichnenden Konfrontation USA versus China zu bilden. Die Stabilisierung der europäischen Kernwirtschaften in der Globalisierungsperiode ist bis etwa 2014 eng mit dem ökonomischen und politischen Wiederaufstieg Russlands verbunden. Doch zeichnete sich schon relativ bald ab, dass diese „Partnerschaft“ mit wachsenden Interessenkonflikten verbunden war.

Während einige osteuropäische EU-Länder sowieso eine „atlantische Partnerschaft“ vehement bevorzugten bzw. die „NATO-Osterweiterung“ propagierten, stießen in Georgien, Moldawien, Belarus und vor allem in der Ukraine die jeweiligen Einflussnahmen und Interessenvertretungen auf immer mehr gegenseitigen Widerspruch. Letztlich setzten auch die USA alles daran, in ihrer Hauptkonfrontation mit China die EU-Imperialismen eindeutig auf ihre Seite zu ziehen und eine lavierende EU aus ihren Verbindungen mit Russland zu lösen. Während Russland in Georgien und Syrien noch militärisch-politische Erfolge erzielen konnte und sich durch kleinere Interventionen in zentralasiatischen Krisen (im Rahmen des OVKS-„Sicherheitsbündnisses“)  dort als „Gendarm“ etablierte, konnte die EU in Belarus, Moldawien und vor allem der Ukraine Russland und seine örtlichen Verbündeten nicht einfach gewähren lassen, ohne ihre Glaubwürdigkeit in Osteuropa zu verspielen.

Bedeutung der Ukraine

Der Ukrainekrieg zeigt wieder einmal den grundlegend verrotteten Charakter des Imperialismus auf: Anders als hierzulande dargestellt, geht es auch bei diesem nicht um „Demokratie“ gegen „unrechtmäßigen Annexionsüberfall“, sondern um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte. Auch wenn das westliche Narrativ „Einflusssphären“ für ein Konzept aus dem letzten Jahrhundert erklärt wird, stellt natürlich auch für die USA und der EU eine langfristige Schwächung eines imperialistischen Rivalen in Osteuropa und eine Absicherung ihrer Einflusssphären bis an seine Grenzen ein Herzensanliegen dar.

Der russische Imperialismus versucht, seine „traditionelle Einflusssphäre“ zu sichern, da die Ukraine sowohl industriell, agrarisch als auch von den Rohstoffen her ein wichtiger Bestandteil des russischen Monopolkapitals war und wieder sein könnte. Russischsprachige Minderheiten bzw. historische Verbindungen wurden bzw. werden ausgenutzt, um entsprechenden Druck aufzubauen und Vorwände zu finden. Nachdem Russland nicht über die ökonomischen und ideologischen („Demokratie!“) Mittel des Westens verfügt, bleibt ihm nur seine militärische Stärke, um im Konzert der Großmächte mitzuspielen und seine Einflusssphäre zu sichern.

Die Herrschenden in der Ukraine versuchten seit der Unabhängigkeit zwischen den beiden imperialistischen Lagern zu lavieren, einmal mehr in Richtung EU/NATO, einmal mehr Richtung Moskau. Mit dem Maidan-Umsturz 2014 war diese Phase vorbei. Während eine Mehrheit der Ukrainer:innen sicherlich tatsächlich Illusionen in eine demokratische und unabhängige Ukraine hat, haben sich in der ukrainischen Politik diejenigen Kräfte durchgesetzt, die das Land letztlich objektiv zu einer Halbkolonie des westlichen Imperialismus machen. Das wird ökonomisch, ganz simpel, durch die IWF-Programme seither und die daraus folgenden „Liberalisierungen“, Ausverkaufspläne und „Reformvorhaben“ (insbesondere im Arbeitsrechtsbereich) überaus deutlich. Aber auch die völlige Abhängigkeit der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine von westlichen Waffen- und Munitionslieferungen, sowie von Ausbildung-, Aufklärungs- und IT-Infrastrukturleistungen (insbesondere durch die USA) zeigen den sich herausbildenden Charakter einer militärisch hochgerüsteten Halbkolonie. Die Ukrainer:innen wurden so also zum Spielball des Kampfes um Einflusssphären der imperialistischen Mächte. Auch wenn ihr Kampf um Selbstbestimmung und die Verteidigung gegen die russische Aggression mehr als berechtigt ist, kann ihr Kampf um eine wirklich unabhängige Ukraine nicht mit der Zurückschlagung der russischen Invasion zu Ende sein – für die Masse der Ukrainer:innen wird die folgende, als „Aufbauhilfe“ verkleidete, Invasion der westlichen „Freiheitsfreunde“ die nächste Etappe in ihrem Überlebenskampf (dann auf der ökonomischen Ebene) sein.

Eine neue russische Revolution ist notwendig! 

Mit dem Eingriff in den Ukrainekonflikt, der Annexion der Krim und letztlich der Invasion 2022 hat Russland seinen Charakter als schwächstes Glied im Chor der imperialistischen Großmächte offengelegt – alles andere würde nur das westliche Narrativ von der Invasion als Werk des „wahnsinnig gewordenen Putins“ bestärken. Auch die Entwicklung des Krieges seither bestätigt diesen: Einerseits war die russische Armee schwach genug, um gegen eine vom Westen hochgerüstete und in ihrem berechtigten Selbstverteidigungswillen hochmotivierte ukrainische Armee keinen entscheidenden Sieg zu erringen. Andererseits war Russland trotz massiver Wirtschaftssanktionen in der Lage, auf Kriegswirtschaft umzustellen, und ist wahrscheinlich fähig, auf längere Dauer einen Abnutzungskrieg durchzuhalten, der letztlich auch den westlichen Ökonomien als Lieferantinnen der Ukraine zu kostspielig werden wird.

Der weitere Verlauf des Ukrainekrieges wird natürlich entscheidend auch für die weitere Entwicklung in Russland werden. Die ökonomischen und menschlichen Folgen des Krieges sind auch dort immer schwerer zu ertragen. Auch wenn die russische Ökonomie bisher den Zusammenbruch verhindern konnte, wird sie immer mehr abhängig von der Unterstützung durch „befreundete“ Mächte. Bisher setzt insbesondere China weiterhin auf ein Ende, das Russland gewisse Gewinne gewährleistet und jedenfalls nicht zum Zusammenbruch des jetzigen Regimes führt. Ein Zusammenbruch könnte nämlich zu einer Radikalisierung der herrschenden nationalistischen Politik zur Rettung der Interessen des russischen Monopolkapitalismus führen. Angesichts der Schwäche der liberalen, aber vor allem auch der linken Opposition und des Mangels an kämpferischen Organisationen der Arbeiter:innenklasse ist dies durchaus wahrscheinlich. Während jetzt viele in Verkennung des tatsächlichen Wesens des Faschismus das gegenwärtige Regime bereits als faschistisch bezeichnen, könnte die Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf tatsächlich zu einer grausamen Form eines revanchistischen russischen Faschismus führen, der zu einer neuen Stufe von Militarismus und militärischer Aggression dieser Atommacht führt!

Insofern ist es für Linke in Russland und ihre Unterstützer:innen im Westen unbedingt notwendig, sowohl den imperialistischen Charakter der russischen Politik und Ökonomie klar aufzuzeigen als auch dieses Übel an seiner Wurzel zu packen, nämlich mittels der Zerschlagung des russischen Kapitalismus und seines Staatsapparates – durch eine „neue Oktoberrevolution“!

Endnoten

(1) Siehe z.B.: schon in den FT-Resolutionen zum Ukraine-Konflikt seit 2014 (https://www.leftvoice.org/ukraine-political-crisis-and-disputes-between-the-imperialist-powers-and-russia/) war zu lesen, dass Russland nur eine „regionale Macht“ ist, die eine Herausforderung für „den Imperialismus“ ist. Während damals noch die Rede davon ist, dass es dem US-Imperialismus nicht gelungen sei, Russland in eine Halbkolonie zu degradieren, wird in einer im Februar 2022 veröffentlichten Resolution immer noch von der Konfrontation zwischen „dem Imperialismus“ und der autoritären Regionalmacht Russland geredet, aber zusätzlich noch behauptet, das Zweck des Krieges für den Imperialismus sei eben die „Halbkolonialisierung Russlands“ (https://www.leftvoice.org/crisis-in-ukraine-between-the-threat-of-war-and-negotiations-under-fire/)

(2) LW 22, Berlin/DDR 1972, S. 270 f. Die fünf Kriterien sind kurzgefasst: (1) Herausbildung bedeutender Monopolkapitale (Großkonzerne), (2) Dominanz des Finanzkapitals in Verflechtung mit den Monopolen, (3) gestiegene Bedeutung der Kapitalströme gegenüber dem Welthandel (Dominanz des Kapitalexports), (4) Beherrschung der Welt durch konkurrierende internationale Kapitalverbände, (5) Aufteilung der Welt durch mit den Monopolen verbundene Großmächte.

(3) Beispielhafte Zahlen zum Weltmarktanteil Russlands in den Warenmärkten: Öl (12 %), Getreide (17 %), Kupfer (4 %), Nickel (7 %), Uran (48 % mit Kasachstan), Palladium (38 %), Aluminium (6 %).




Krieg in Kampf um soziale Befreiung umwandeln!

Katjuscha Seelig, Infomail 1222, 10. Mai 2023

Am Dienstag, dem 9. Mai 2023, sind wir mit Genoss:innen von REVOLUTION und rund 250 weiteren Menschen in Berlin lautstark gegen Kriegs- und Krisenprofiteur:innen auf die Straße gegangen. Das Bündnis „Rheinmetall entwaffnen“ rief auf zu einer Demonstration unter dem Titel „Rheinmetall entwaffnen — Kriegstreiberei von Grünen & Co stoppen!“ Die Demonstration zog von der Parteizentrale der Grünen über die der FDP zum Brandenburger Tor.

Anlass war die Aktionär:innenversammlung vom deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall, auf welcher die durch den Krieg eingefahrenen Profite ausgeschüttet wurden. Auch wenn die Versammlung seit Beginn der Pandemie rein digital stattfindet, dass sie am Tag des Sieges über den deutschen Faschismus einberufen wurde, ist allein schon zynisch. Dies erfolgt in Ergänzung zu den Einschränkungen des demokratischen Rechts am 8. und 9. Mai, die Fahnen der Siegermächte zu tragen, wie durch das Verbot der russischen Flagge, aber auch der der Sowjetunion deutlich wird. Während also die deutsche Waffenindustrie Rekordgewinne ausschüttet, verbietet sie die Würdigung aller Sieger:innen gegen den deutschen Faschismus. Währenddessen mahnte ein Auszug des Schwurs von Buchenwald am Lautsprecherwagen hängend an: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

In unserer Rede haben wir aufgezeigt, dass der Kampf gegen den Krieg zugleich einer gegen den interimperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt sein muss, mitsamt des Eintretens gegen den neuen Militarismus und seine Profiteur:innen als auch für die Freiheit der Ukraine von jeder imperialistischen Einflussnahme. Das bedeutet sowohl den sofortigen Abzug aller ausländischen Soldat:innen aus der Ukraine als auch die Öffnung sämtlicher Geheimverträge für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes und die sofortige Streichung seiner sämtlichen Schulden.

Lasst uns gemeinsam für eine Bewegung kämpfen, die dem System der Krieg den Krieg erklärt: No War but Class War!

Arbeiter:innenmacht-Rede auf der Demonstration von „Rheinmetall entwaffnen“

Genossinnen und Genossen,

der Krieg in der Ukraine nimmt immer mehr Merkmale eines Abnutzungs- und Stellungskriegs an. Die Masse an eingesetzter Artillerie, Panzern, Drohnen und Munition frisst ganze Industrieproduktionen auf. Ganz zu schweigen von den Menschen, die zu zehntausenden getötet und verwundet werden.

Was für den russischen Imperialismus bereits durch das westliche Sanktionsregime zunahm, kommt jetzt auch für die Nato-Staaten auf die Tagesordnung: Umstellung auf Kriegswirtschaft und goldene Jahre für die Rüstungsindustrie. So haben deutsche und US-amerikanische Rüstungskonzerne bereits neue Standorte ins Leben gerufen. Rheinmetall selbst plant den Bau einer Panzerfabrik auf ukrainischem Boden.

Wir erleben nicht nur einen reaktionären Angriffskrieg des russischen Imperialismus, sondern zugleich auch einen Stellvertreterkrieg zwischen zwei imperialistischen Blöcken. Unsere Aufgabe als Revolutionär:innen muss es sein, diese reaktionäre innerimperialistische Konfrontation zu bekämpfen – und das heißt für uns in Deutschland, dass wir uns klar und deutlich gegen die Kriegsziele der NATO und des deutschen Imperialismus wenden.

Denn es geht es darum, wer der Welt den Stempel aufdrücken kann. Phrasen wie Kampf für Demokratie und Menschenrechte sind nur Maskerade dessen, schauen wir nur auf andere Kriegsgebiete der Nato-Schlächter:innen.

Der Ringtausch, das 100-Mrd.-Euro-Rüstungspaket, die Nato-Stärkung durch den Beitritt Finnlands und die Beitragserhöhungen: Das sind im Hier und Jetzt Schritte, um für den eigenen Platz an der Sonne ein drittes Mal kämpfen zu können.

Die Schulden für die Ukraine sowie die Angriffe auf soziale und Arbeitsrechte: Das sind schon jetzt Mittel, mit denen dieses Land noch mehr den westlichen Staaten und Konzernen unterworfen werden soll. Es ist das Selenskyj-Regime, das bereits jetzt für eine Ukraine kämpft, die zur Handlangerin anderer Imperialist:innen wird. Daher sagen wir: Offenlegung der Geheimverträge für die sogenannte wirtschaftliche Neugestaltung!

Ein echter, dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn wir alle imperialistischen Interessen in der Ukraine bekämpfen. Dazu muss der russische Imperialismus raus aus dem Land, muss das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer:innen, aber auch der Bevölkerung der sog. Volksrepubliken und der Krim anerkannt werden. Dazu müssen wir aber auch der westlichen Sanktions- und Kriegspolitik, der NATO-Osterweiterung und permanenten Aufrüstung den Kampf ansagen.

Unsere Antwort bedeutet, dem System der Kriege den Krieg zu erklären, unsere Antwort heißt Klassenkampf. Ob in Russland oder Deutschland: Der Hauptfeind ist die eigene herrschende Klasse. Lasst uns den Krieg in einen Kampf um soziale Befreiung umwandeln!




Sowjetische Fahne in Berlin verboten – Justiz schlägt zu

Martin Suchanek, Infomail 1222, 9. Mai 2023

Vorweg: Wir verurteilen den reaktionären russischen Angriff auf die Ukraine – und zwar von Beginn an. Wir stehen auf der Seite der russischen Antikriegsbewegung und der ukrainischen Bevölkerung, die die Hauptlast dieses Kriegs trägt.

Wir schicken das vorweg, wohl wissend, dass uns in einem Land der demokratischen Kriegstreiberei und des deutschen NATO-Patriotismus schon allein deshalb der Vorwurf der „Putin-Versteherei“ entgegengehalten wird, weil wir auch die Kriegspolitik und Ziele des Westens bekämpfen.

Und dieser Kampf findet statt – nicht nur mit einem Sanktionsregime und Wirtschaftskrieg gegen Russland, sondern auch mittels Aufrüstung, Umstellung auf Kriegsproduktion, NATO-Erweiterung. Und er findet natürlich auch auf dem Feld von Ideologie und vor Gerichten statt.

Verbote durch Oberverwaltungsgericht

Die Berliner Justiz setzte am 8. Mai ihrerseits ein Zeichen, dass sie bei dieser Konfrontation nicht abseitsstehen will. Auf Antrag der Berliner Polizei erklärte das Oberverwaltungsgericht das Verbot russischer Fahnen, von St.-Georgs-Bändern und -Fahnen sowie das von Flaggen der Sowjetunion (!) am 8./9. Mai für rechtens.

Zuvor hatte das Verwaltungsgericht das Fahnenverbot noch für rechtswidrig erklärt. Doch die höchste Instanz hob diesen Entscheid auf Antrag der Polizei Berlin auf, weil die Flaggen als „Sympathiebekundung für die Kriegsführung (Russlands; Anm. d. Red.) verstanden werden“ könnten und „Gewaltbereitschaft“ vermitteln würden.

Dass russische Fahnen für einige Träger:innen auch eine Sympathie für Putin zum Ausdruck bringen, mag ja sein. Dass diese Sympathie politisch kritisiert werden darf und soll, ist sicher zutreffend.

Aber ebenso gut gilt die russische Fahne für andere als Symbol der Befreiung vom Faschismus, ganz so wie die US-amerikanische, britische oder französische – und bislang hat noch niemand deren Verbot anlässlich reaktionärer imperialistischer Interventionen gefordert.

Dass es sich bei dem Urteil um einen leicht durchschaubaren, aber nicht minder symbolträchtigen Akt politischer Justiz handelt, zeigt das Verbot der sowjetischen Fahnen. Russland ist anerkanntermaßen Kriegspartei in der Ukraine, das aus dem Zarismus stammende Georgs-Symbol ein imperiales Zeichen. Doch die Sowjetunion? Führt die etwa auch Krieg in der Ukraine? Allenfalls in der Einbildung von Reaktionär:innen, für die der Kalte Krieg nie zu Ende ging, für die es weder einen Bruch zwischen der frühen Sowjetunion Lenins und Trotzkis mit der bürokratischen Diktatur Stalins als auch der neuen imperialistischen Diktatur Putins gibt.

Es ist aber bezeichnend für das Geschichtsbild von Polizei und Justiz, dass sie diese Verknüpfung mit Verbotsantrag und -begründung ebenfalls vorgenommen haben. Russland sei gleich der Sowjetunion – damit entsorgt oder relativiert man symbolisch auch die für den deutschen Imperialismus lästige Tatsache, dass die Rote Armee maßgeblich die Niederlage der Wehrmacht und des Naziregimes herbeigeführt, die Sowjetunion die Hauptlast bei der Befreiung vom Faschismus getragen hat.

Das Verbot der sowjetischen Fahnen stellt nicht nur einen Akt politischer Justiz, sondern einen politischen Skandal, eine nachträgliche Verhöhnung der Opfer des Faschismus dar.

Nein zu reaktionären Fahnenverboten!

Das aktuelle Verbot stellt leider keinen Einzelfall dar. Schon 2022 hatte die Berliner Polizei ein skandalöses Verbot russischer und ukrainischer Nationalsymbole für Demonstrationen und Kundgebungen am 8. und 9. Mai, zum Tag der Befreiung, durchgesetzt. In diesem Jahr hoben die Gerichte jedoch die Verbote in der ersten Instanz auf – und gegen jene von ukrainischen Fahnen wurde zum Glück nicht geklagt. Es stellte natürlich auch einen Skandal dar, dass ukrainische Geflüchtete 2022 ihre Fahnen ebenfalls nicht tragen durften – trotz aller medial zur Schau gestellten „Solidarität“ der Regierenden.

Doch wir kennen reaktionäre solche Verbote auch zur Genüge gegen Kräfte des antiimperialistischen Widerstandes, seien es PKK-Fahnen und -Symbole, seien es solche von palästinensischen Organisationen.

Es handelt sich dabei um gesetzliche, polizeiliche und gerichtliche Maßnahmen zur Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Und jeder weitere Fall führt zur „Normalisierung“ dieser repressiven Praxis. Jedes weitere Verbot liefert der Polizei einen Vorwand zur Kontrolle und Schikane von Demonstrierenden. Die Angriffe auf das Demonstrations- und Versammlungsrecht sind natürlich kein Zufall, sondern eine Ergänzung zur verschärften imperialistischen Konfrontation, zur Militarisierung, zum Rassismus, zu Preiserhöhungen und zunehmender Verarmung. Und es gehört zur ideologischen Begleitmusik der „demokratischen“ Öffentlichkeit, alle, die die Politik ihres Staates, ihres Imperialismus kritisieren, als „Agent:innen“ der Gegenseite, in diesem Fall als Putin-Versteher:innen zu diffamieren. Davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen! Daher müssen die Fahnenverbote wie jeder Angriff auf demokratische Rechte kritisiert und bekämpft werden.




Ukraine: Auf dem Weg zum endlosen Stellungskrieg?

Markus Lehner, Neue Internationale 273, Mai 2023

Der Krieg in der Ukraine nimmt immer mehr der fürchterlichen Merkmale des Ersten Weltkriegs an. Die Masse an eingesetzter Artillerie, Panzern, Drohnen, Munition und sonstiger militärischer Ausrüstung frisst ganze Industrieproduktionen auf. Ganz zu schweigen von den Soldat:innen, die zu zehntausenden im Stellungskrieg zermürbt, verwundet, getötet oder in der Schlacht um Bachmut wie einst in Verdun für kleinste Geländegewinne zu tausenden geopfert werden. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Zivilist:innen, die ums Leben kamen.

Kriegsindustrie

Auch die „Munitionskrise“ erinnert an eine ähnliche Entwicklung 1915, als die Produktion nicht mehr mit dem Bedarf der „industriellen Kriegsführung“ Schritt halten konnte. An die 6.000 Artilleriegeschosse, die alleine die Ukraine am Tag verbraucht, führten im Februar zu Berechnungen, dass dem Land im Mai die Munition ausgehen könnte – und zwar, obwohl ihre westlichen Verbündeten schon liefern, was sie haben, sondern weil der Bedarf am Rande der Produktionskapazität selbst der USA liegt.

Dies führte dazu, dass für bestimmte Munitionsarten nicht nur eine Vervielfachung der Produktion stattfindet, sondern dass ganze neue Werke errichtet werden. Während dies für die USA oder Deutschland bekannt ist, gilt dies für die Art und Weise, wie Russland seine Munitions- und Waffenproduktionsengpässe löst, weniger. Jedenfalls hat das Land schon aufgrund des westlichen Sanktionsregimes längst auf Kriegsökonomie umgestellt bzw. dürfte, auf welchen Wegen auch immer, aus Zentralasien, China, Nordkorea oder dem Iran Nachschub erhalten.

Diese Art der „konventionellen“ Kriegsführung, die auf einer sich ständig steigernden industriellen Nachschubproduktion und gleichzeitig immer mehr modernster Waffentechnologie beruht (z. B. was Informations- und elektronische Steuerungstechnologie betrifft), macht diesen Krieg zu etwas anderem als die meisten militärischen Auseinandersetzungen, die wir seit 1945 kennen. Die Art der industriellen Kriegsführung gleicht tatsächlich mehr der globalen Konfrontation von imperialistischen Armeen und unterscheidet sich deutlich von anderen Kriegen zwischen einer imperialistischen Macht und einer Halbkolonie (z. B. USA – Irak).

Dies deutet auf den schon vielfach besprochenen vielschichtigen Charakter des Ukrainekrieges hin. Ohne Zweifel begann er mit dem imperialistischen Überfall Russlands, gegen den sich die Ukraine zu Recht verteidigt, gegen den sich auch die Masse der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen mit Recht zur Wehr setzt.

Vorgeschichte

Andererseits hatte der Krieg eine lange Vorgeschichte, die sich im Kontext einer immer mehr zuspitzenden Konfrontation neu sich bildender Blöcke imperialistischer Großmächte abspielte – ähnlich wie der Balkan am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die schwächer werdende Hegemonie der USA über die imperialistische Weltordnung wird spätestens seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 vom Aufstieg Chinas herausgefordert. Russland und die EU-Großmächte versuchten, sich zunächst dazwischen aufzustellen, wurden aber immer mehr in Richtung USA bzw. China gedrängt – nicht zuletzt durch die Frage der Blockbindung der Ukraine.

Diese schwankte nach dem Ende der Sowjetunion zwischen Aufrechterhaltung der ökonomischen, kulturellen und politischen Verbindungen zu Russland und einer Orientierung Richtung EU und NATO. Mit der „Euro-Maidan-Bewegung“ und dem Sturz des eher prorussischen Präsidenten Janukowytsch war dies jedoch innenpolitisch gegen Russland entschieden. Andererseits ist die Ukraine in ihren bestehenden Grenzen ein relativ junges Gebilde, ein Vielvölkerstaat mit vielen Minderheiten und umstrittenen Grenzen – aber mit einer nationalistischen Elite an der Macht, die von einer eindeutigen nationalen Identität gerade in diesen Grenzen träumt.

Der Konflikt mit den Minderheiten war vorprogrammiert und ließ sich von Russland, gerade was die ethnischen oder sprachlichen russischen Minderheiten auf der Krim und im (Süd-)Osten der Ukraine betrifft, leicht ausnützen. Auf die Annexion der Krim und die Assimilierung der 2015 gebildeten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk muss hier nicht weiter eingegangen werden. Andererseits begannen vor allem die USA und Britannien mit einem massiven Aufrüstungs- und Ausbildungsprogramm in der Ukraine, das aus der maroden ukrainischen Armee, die zunächst gegen die zusammengeschusterten Verbände der „Volksrepubliken“ nur mit Hilfe von extrem nationalistischen Freiwilligenverbänden bestehen konnte, eine tatsächlich starke und moderne Streitmacht formte.

Die Versuche der EU, insbesondere von Frankreich und Deutschland, mit den Minsker Abkommen einen Ausgleich zustande zu bringen, indem etwa Autonomie und Minderheitenrechte zu einer Lösung der Grenzkonflikte hätten führen können, wurden von den USA, der Ukraine und den nationalistischen Hardliner:innen sowohl in Russland als auch in den Volksrepubliken von vornherein torpediert. Seit 2015 schwelte so ein mehr oder weniger lauwarmer Krieg entlang der Demarkationslinien. Mit der Erstarkung der ukrainischen Armee und der aufgrund der wirtschaftlichen Probleme immer stärker werdenden Abhängigkeit der Ukraine vom Westen war für den russischen Imperialismus klar, dass es nur noch ein geringes Zeitfenster gab, um die Ukraine nicht gänzlich aus ihrem Einflussgebiet zu verlieren.

USA und China

Gleichzeitig führte die wachsende ökonomische „Eindämmungspolitik“ der USA gegenüber China (Zölle, Investitionsbeschränkungen, Technologie-Exportverbote, Maßnahmen gegen bestimmte chinesische Großkonzerne etc.) dazu, dass auch dieses in eine wachsende Konfrontation mit „dem Westen“ gerät, der es und Russland vermehrt in die Ecke der „antidemokratischen Revisionist:innen“ stellt. Das führte nicht nur zu einer weiteren Annäherung dieser beiden Staaten, sondern auch zu einer Art neuer Blockbildung, die sich seit dem Ukrainekrieg auch mehr und mehr verdeutlicht.

Sowohl die Rückendeckung aus Peking (Staatsbesuch während der Olympischen Spiele) als auch die vermeintliche Schwäche der USA im Zusammenhang mit dem Rückzug aus Afghanistan führten die russische Führung wohl zum Fehlschluss, dass ein Blitzkrieg gegen die Ukraine eine machbare Sache wäre, die dann bald zu einer Hinnahme der „Macht des Faktischen“ auch im Westen führen würde. Bekanntlich ging das gründlich schief. Die ukrainische Armee erwies sich als sehr viel stärker, die russische Kampfkraft als sehr viel schwächer, als viele vorher vermutet hatten. Dies führte nicht nur zu einem schnellen Scheitern der „Blitzkriegs“strategie, sondern auch zu einer stärkeren Einigkeit im „westlichen Lager“, insbesondere was das Ausmaß der ökonomischen Sanktionen auch in Bezug auf Energielieferungen betraf, als dies wohl Russland und China erwartet hatten. Inzwischen wurde die Ukraine mit einem beständigen Strom an militärischen Lieferungen und Krediten aus dem Westen bedacht, die im ersten Kriegsjahr in etwa die Höhe eines Vorkriegsbruttosozialprodukts des Landes ausmachen. Obwohl die Ukraine mit ihren an sich schwachen Finanz- und Waffenproduktionskapazitäten dem russischen Militärkomplex um ein Vielfaches unterlegen wäre, kann sie so standhalten und sogar von Zeit zu Zeit effektive Gegenoffensiven starten.

Verschiedene Charaktere

Mit der wachsenden Abhängigkeit von westlichen Waffen- und Munitionslieferungen wie auch ökonomischer „Hilfe“ wird der Charakter des berechtigten nationalen Verteidigungskrieges von Seiten der Ukraine immer deutlicher von dem eines Stellvertreterkrieges zwischen den Blöcken der Großmächte überlagert. Wir haben es mit einer Verquickung zweier Kriege zu tun.

Der Aspekt der innerimperialistischen Konkurrenz drückt sich dabei nicht nur in dem immer furchtbarer werdenden Ausmaß an Vernichtung von Menschen und Material aus, sondern auch darin, dass die Perspektive der Ukraine in jedem Fall immer prekärer wird. Auch im Fall eines militärischen Erfolges wäre nicht nur das Ausmaß der Zerstörungen für eine tatsächlich unabhängige, sich selbständig entwickelnde Ukraine eine kaum zu meisternde Bürde, sondern kommen die westlichen „Hilfen“ mit einem Preis. Rund um den letzten Megakredit (17 Milliarden US-Dollar) des Internationalen Währungsfonds (IWF) im März wurde sehr offen davon gesprochen, dass dieser die zentrale Institution der wirtschaftlichen Neugestaltung der Ukraine sein wird – mit allen bekannten Folgen vor allem für die Arbeiter:innen und die arme Landbevölkerung (so wie sich dies schon in den extrem neoliberalen Arbeitsrechtsänderungen der Regierung Selenskyj erkennen lässt). Eine „siegreiche“ Ukraine wird unter diesen Bedingungen ihre Rohstoffe und ihren wertvollen Agrarsektor an ausländische Investor:innen verscherbeln, vor allem aber ihre Arbeiter:innenklasse noch mehr als bisher schon als billiges Ausbeutungsmaterial für westliche Konzerne bereitstellen müssen.

Die ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen müssen daher vor jeglichen Illusionen in ihre „westlichen Wohltäter:innen“ und ihr Stellvertreterregime in Kiew gewarnt werden. Natürlich bildet für sie derzeit die Bedrohung durch die russische Mordmaschinerie und die mögliche nationale Unterjochung die unmittelbare Gefahr. Doch sollten sie sich schon jetzt so weit wie möglich unabhängig organisieren und für eine Auseinandersetzung mit den westlichen Ausbeuter:innen und den prowestlichen Oligarch:innen und der Regierung wappnen.

Getreu der Lenin’schen Position zum Kampf in Halbkolonien gegen imperialistische Aggression erkennen wir daher die Legitimität des Kampfes der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen gegen die Invasion an – trotz des Charakters seiner Führung. Ob dies in Verbänden der ukrainischen Armee, der territorialen Selbstverteidigung oder eigenen Milizen geschieht, ist eine Frage der konkreten Umstände (mit Ausnahme natürlich von faschistischen oder extrem nationalistischen Einheiten). Natürlich sind wir auch dafür, jegliche Waffen anzunehmen und einzusetzen, die man erhalten kann.

Gleichzeitig müssen immer die eigentlichen reaktionären Ziele der eigenen Führung und ihrer Hinterleute in den westlichen Regierungen offengelegt und kritisiert werden. Insbesondere fordern wir mit den ukrainischen Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen die Streichung aller Schulden, die aus den westlichen „Hilfen“ entstanden sind, die Offenlegung aller Pläne für die Nachkriegsordnung von IWF & Co und die Kontrolle Ersterer über Waffen und die knappen wirtschaftlichen Ressourcen. Dies kann ohne Konflikt mit den Herrschenden nicht abgehen. Daher treten wir für die Bildung demokratisch gewählter Komitees der Arbeiter:innen, Soldat:innen und Bauern/Bäuerinnen ein. Dies kann auch den Beginn markieren, dass aus der nationalen Selbstverteidigung gegen den russischen Imperialismus ein Kampf um ein auch von westlicher Ausbeutung befreites Land unter der wirklichen Demokratie der arbeitenden Bevölkerung wird.

Ausverkauf

Dies ist umso wichtiger, als ein Ausverkauf des Kampfes der Ukrainer:innen immer wahrscheinlicher wird. Abgesehen von den menschlichen Kosten des fortgesetzten Abnutzungskrieges sind es für die westlichen Imperialist:innen vielmehr die ökonomischen Folgen, die auf ein Ende des Krieges drängen. Die Belastungen einer sich ständig steigernden Kriegsökonomie, die auch Tendenzen zur weltweiten Verstetigung der Inflation verstärkt, aber auch die Folgen für die Weltwirtschaft durch die Belastungen der Blockbildung z. B. für Lieferketten und den Energiemarkt gemahnen zu einer Lösung.

Dass der Generalstabschef der USA für „realistische Kriegsziele“ plädiert, hängt wohl damit zusammen, dass das Pentagon auch noch für andere Konfliktherde Ressourcen braucht, nicht zuletzt mit China – und auch die notwendige Haushaltseinigung mit der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus nicht unbegrenzte Mittel für den Ukrainekrieg verheißt. Nicht erst seit den US-Geheimdienstleaks ist klar, dass die Vereinigten Staaten nicht nur sporadische Hilfe in der elektronischen und informationstechnischen Kriegsführung liefern, sondern dabei auch beträchtliche operationelle Kräfte aus dem „Tagesgeschäft“ im Einsatz sind.

Zugleich hegen sie kein Interesse, in eine direkte Konfrontation mit Russland über den NATO-Artikel zu geraten bzw. gar den Einsatz nuklearer Waffen zu riskieren. Angesichts der logistischen Probleme, z. B. im Munitionsbereich, ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Ukraine in den nächsten Monaten zu einer Form der Beendigung des Krieges gedrängt wird. Insofern ist zu erklären, welche Bedeutung der wohl kommenden „Frühjahrsoffensive“ beigemessen wird, sowohl von ukrainischer Seite wie von den westlichen Verbündeten. Es geht wohl darum, vor einem möglichen Waffenstillstand und kommenden Verhandlungen noch so viel Boden wie möglich gutzumachen (wahrscheinlich im Südosten) und Russland sowenig wie möglich an „Erfolg“ zu lassen. Klar ist, dass dabei letztlich ein „Frieden“ herauskommt, der weit davon entfernt sein wird, die Frage der Selbstbestimmung im Südosten und auf der Krim demokratisch zu lösen – und eine weitere Ausdehnung der NATO bedeuten wird. Eine freie und unabhängige Ukraine sieht so jedenfalls nicht aus.

Daher müssen wir hier im Westen die Kriegsziele unserer Herrschenden hinter der Fassade des „Kampfes um die Demokratie“ und für eine „freie Ukraine“ kritisieren und bekämpfen. Das Ziel  ist die Stärkung der eigenen Großmachtinteressen in Washington, London, Berlin oder Paris. Und das schließt den Ausverkauf der ukrainischen Reichtümer und die unbeschränkte Ausbeutbarkeit der ukrainischen Arbeiter:innen, die jetzt schon Billigarbeitskräfte im Pflegebereich in Masse stellen bzw. in osteuropäischen Niederlassungen des deutschen Kapitals für Hungerlöhne schuften dürfen, ein. Insofern müssen wir auch die Hilfeleistungen der Regierungen an die Ukraine kritisieren, die letztlich zu einer langfristigen Abhängigkeit und Unterordnung dieses Landes dienen. Daher fordern wir auch z. B. DIE LINKE und SPD im Bundestag dazu auf, gegen die Sanktionen und Waffenprogramme (ob für die eigene Aufrüstung oder für „Hilfslieferungen“) zu stimmen. Alles andere würde unwillkürlich einer Zustimmung zu den Kriegszielen des deutschen Imperialismus gleichkommen.

Gleichwohl erkennen wir das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung an – und darauf, sich dafür auch die nötigen Mittel zu beschaffen. Der legitime Widerstand gegen den russischen Imperialismus  schließt allerdings nicht die Eroberung der Krim und der Donbasrepubliken ein.

Revolutionäre Marxist:innen sollten dafür eintreten, den Ukrainekrieg auf einer gerechten und demokratischen Grundlage zu beenden. Dies müsste folgende Eckpunkte inkludieren: Russland raus aus der Ukraine, Nein zum innerimperialistischen Kalten Krieg und Selbstbestimmung für die Krim und die Donbasrepubliken. Dies muss verbunden werden mit der längerfristigen Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine, denn nichts anderes würde einen gerechten und dauerhaften Frieden bringen.

  • Für die Niederlage der russischen Aggression! Russische Truppen raus aus der Ukraine!

  • Für eine wirklich unabhängige Ukraine – auch frei von westlicher Ausbeutung und politisch-militärischer Bevormundung!

  • Nein zur Intervention der NATO und des Westens! Nein zu einem imperialistischen Frieden!

  • Für die Umwandlung des Krieges in den Kampf um soziale Befreiung in der Ukraine und Russland unter Führung einer unabhängigen Arbeiter:innenbewegung!



Der Ukrainekrieg und seine Auswirkungen auf Frauen

Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Seit mehr als einem Jahr bestimmt der Ukrainekrieg die Schlagzeilen. Im Folgenden wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Situation anfertigen und uns damit auseinandersetzen, wie sich die aktuelle Situation auf Frauen auswirkt, um schließlich allgemein Kriegsfolgen für Frauen zu betrachten. Bevor wir dazu kommen, wollen wir kurz Stellung zum Konflikt beziehen.

Vom Angriffskrieg zum Stellungskampf

Klar ist, dass der Angriff seitens des russischen Imperialismus auf die Ukraine zu verurteilen und der Wille zur Selbstverteidigung seitens der ukrainischen Bevölkerung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig muss das Geschehen auch im internationalen Kontext betrachtet werden. Es spielt sich nicht im luftleeren kraRaum ab, sondern vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und eines Kampfs um die Neuaufteilung der Welt unter den Großmächten.

Somit ist es auch nicht irgendeine Auseinandersetzung, die zufällig mehr Aufmerksamkeit bekommt als der Bürger:innenkrieg im Jemen, weil der bewaffnete Konflikt im Westen stattfindet. Er ist auch Ausdruck einer zugespitzten globalen Weltlage und trägt in sich das Potenzial, mehr Kräfte in kriegerische Auseinandersetzungen zu ziehen. Darüber hinaus findet die Auseinandersetzung zwar augenscheinlich nur zwischen der Ukraine und Russland statt. Doch das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und prorussischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine und der Ausgleich zwischen ihren Nationalitäten wurde mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwandte zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und ihren Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war letztlich auch der bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedroht fühlenden Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine vorprogrammiert und Russland nahm den inneren Bürger:innenkrieg zum Vorwand für die Inkorporation der Krim, wo jedoch schon länger eine prorussische Mehrheit lebte.

Weder Putin noch NATO!

Somit geriet das Gebiet der Ukraine zum Zankapfel zwischen russischem Imperialismus und der NATO. Wirkliche Verbesserung für alle Teile der Bevölkerung kann es nicht geben, wenn man sich einer dieser Kräfte politisch unterordnet. Dabei sind die von Putin angegebenen Gründe für seine „Militäroperation“ mehr als scheinheilig. Ihm geht es nicht um eine Denazifizierung, sondern darum, den seit 2014 stärker gewordenen Einfluss des westlichen Imperialismus zurückzudrängen. Dieses Interesse ist vor allem durch die Zunahme der internationalen Konkurrenz seit der Wirtschaftskrise um die Pandemie stärker geworden und auch durch die wirtschaftliche Schwäche Russlands bedingt.

Auf der anderen Seite muss gesagt werden, dass sowohl die massive finanzielle Unterstützung sowie die Waffenlieferungen seitens der NATO-Verbündeten nicht aus reiner Selbstlosigkeit erfolgen, weil man die ukrainische Bevölkerung nicht leiden sehen kann, sondern das Ziel anpeilen, die Ukraine als geostrategische Einflusssphäre zu festigen sowie den russischen Imperialismus zu schwächen und seine Fähigkeit, als Weltmacht zu agieren, massiv zu reduzieren, wenn nicht zu verunmöglichen. Natürlich agiert der Westen dabei nicht als geschlossener, einheitlicher Block. Vielmehr erweisen sich die USA als eindeutige Führungsmacht auch über ihre europäischen Verbündeten, für die jede stärkere ökonomische Durchdringung Russlands in weite Ferne gerückt ist.

Auswirkungen weltweit

Bevor wir zur Situationen in der Ukraine kommen, wollen wir uns den internationalen Folgen des Krieges widmen. Neben einer verstärkten Militarisierung haben der Krieg und vor allem die massiven Sanktionen nicht nur den Wirtschaftskonflikt mit Russland zugespitzt, sondern auch die Inflation befeuert und Energiepreise in die Höhe schnellen lassen. Die steigenden Kosten für Öl und Gas haben erhebliche Auswirkungen auf die Energiearmut von Frauen und Mädchen und den ohnehin schon ungleichen Zugang dazu. Dieser wurde vor allem durch die Pandemie drastisch verschlechtert, da so jene, die erst vor kurzem Zugang zu Energie erhalten hatten, diesen aufgrund von Zahlungsunfähigkeit verloren, darunter 15 Millionen Afrikaner:innen südlich der Sahara. Der Krieg verschärft dies nun, da der sprunghafte Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren der stärkste ist seit der Ölkrise von 1973. Darüber hinaus verursacht der Krieg eine Lebensmittelkrise. Der Anstieg der Lebensmittelpreise war der höchste seit 2008, was daran liegt, dass sowohl Russland als auch die Ukraine zentrale Getreideproduzent:innen sind. So importieren Länder wie Armenien, Aserbaidschan, Eritrea oder Somalia über 90 % des Getreides aus diesen beiden Ländern. Darüber hinaus stellt die Ukraine eine wichtige Weizenlieferantin des Welternährungsprogramms (WFP) dar, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt.

Situation vor dem Krieg

Auch wenn es nicht möglich ist, hier ein komplettes Bild der Situation von Frauen zu zeichnen, wollen wir einen kurzen, allgemeinen Überblick geben. Vor dem Krieg machten Frauen 54 % der Gesamtbevölkerung aus und etwa 48 % aller Erwerbstätigen. Eine genaue Aufschlüsselung, wie hoch die Arbeitsbeteiligung von Frauen in unterschiedlichen Industrien ausfällt, ist nicht verfügbar. Jedoch lieferte die ILO 2008 einen groben Überblick, aus dem hervorgeht, dass Frauen vorwiegend im Caresektor sowie in der industriellen Produktion tätig waren (https://www.ituc-csi.org/IMG/pdf/Country_Report_No8-Ukraine_EN.pdf, S. 31).

Rechtliche Gleichstellung existierte zwar formal auch in Bezug auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch gab es ein recht hohes Gender Pay Gap von 27 – 33 % im Zeitraum 2003 – 2012. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Frauen oftmals in den schlechter bezahlten Berufen arbeiten. Doch auch innerhalb von Berufsgruppen gab es Unterschiede. So wurden die größten geschlechtsspezifischen bei den Gehältern im Finanzsektor festgestellt, während die geringsten in der Landwirtschaft bestehen, wo die Löhne jedoch im Allgemeinen viel niedriger ausfallen als in allen anderen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft.

Flucht

Im Krieg sind Frauen besonders Gewalt ausgesetzt, neben Bomben, ausländischen Armeen direkt vor der Haustür, Angst und Engpässen bei der Strom- oder Nahrungsmittelversorgung. Kein Wunder also, dass mehrere Millionen Menschen, darunter vor allem Frauen und Kinder, seit Beginn des Krieges geflohen sind. Laut Angaben der UN sind davon 5,3 Millionen Binnenvertriebene, also innerhalb des Landes geflohen. Dies verschärft die Situation, da bereits seit 2014 aufgrund des Konflikts in der Ostukraine mehr als 1,5 Millionen Menschen gezwungen wurden umzusiedeln. Zwei Drittel von ihnen waren Frauen und Kinder, die seitdem unter dem erschwerten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Wohnraum sowie Beschäftigung leiden.

Darüber hinaus sind im Februar 2022 rund 8 Millionen Menschen über die ukrainischen Landesgrenzen geflohen. Davon sind über 80 % Frauen und Kinder, was unter anderem daran liegt, dass die Ausreise von Männern zwischen 18 und 60 Jahren seitens der ukrainischen Regierung verboten wurde. Frauen sind dabei auf der Flucht besonders sexueller Gewalt ausgesetzt. So stiegen die Suchanfragen nach Schlüsselwörtern wie „Escort“, „Porno“ oder „Vergewaltigung“ in Verbindung mit dem Wort „ukrainisch“ um 600 %, während sich „Ukraine refugee porn“ laut OSZE-Büro der Sonderbeauftragten und Koordinatorin für die Bekämpfung des Menschenhandels in Wien als Trendsuche herauskristallisierte. (https://www.euronews.com/2023/01/17/ukraine-refugee-porn-raises-risks-for-women-fleeing-the-war).

Zwar ist noch unklar, inwiefern ukrainische Frauen stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere Gruppen weiblicher Geflüchteter. Klar ist jedoch, dass rassistische Stereotype, die innerhalb der EU existieren und osteuropäische Frauen sexualisieren, dies mitverursachen. Die Gefahr, sexuellen Missbrauch zu erleben oder Opfer von Menschenhandel zu werden, wird durch unsichere Fluchtrouten oder die Praxis z. B. in Großbritannien, wo 350 Pfund für die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten gezahlt werden, begünstigt.

Um die Situation für Geflüchtete zu verbessern, müssen wir für Folgendes eintreten:

  • Offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

  • Statt Behausung in Lagern: Dezentrale Unterbringung durch die Enteignung von leerstehendem Wohnraum, Hotels sowie Spekulationsobjekten!

  • Nein zur Spaltung: Anerkennung der Bildungsabschlüsse sowie das Recht, die Muttersprache bei Ämtern zu benutzen, für alle Geflüchteten!

Auch wenn die letzte Forderung für ukrainische Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, größtenteils Realität ist, muss sie aufgestellt werden, um eine weitere Spaltung zwischen ukrainischen und anderen Geflüchteten zu verhindern. Dass die Ausstellung von Arbeitserlaubnissen etc. für Ukrainer:innen so rasch passierte, zeigt nur, was eigentlich möglich ist, wenn die eigene Regierung ein unmittelbares Interesse dabei verfolgt. Deswegen sollte dies genutzt werden, um die Rechte anderer Geflüchteter anzugleichen.

Situation der Daheimgebliebenen

Jedoch konnten nicht alle fliehen. Alter, persönliche Fitness, Kontakte in anliegenden oder anderen europäischen Ländern sind weitere Faktoren, die es realistischer erscheinen lassen, sich mittel- oder langfristig ein „neues Leben“ aufzubauen. Wer hingegen pflegebedürftig ist oder selber jemanden pflegt, gehört zu den Gruppen, die es besonders schwer haben, das Land zu verlassen. Zwar gibt es Erfolgsgeschichten von Gruppen wie bspw. von etwa 180 Gehörlosen, die es nach Berlin geschafft haben. Doch wer ans Bett gefesselt oder auf fremde Hilfe angewiesen ist, hat schlechte Chancen.

Hier tragen auch vor allem Frauen die Hauptlast. Bereits vor der Eskalation der Feindseligkeiten im Februar 2022 führte die unbezahlte Hausarbeit in der Ukraine zu einer massiven Mehrbelastung. Frauen brachten im Schnitt 24,6 Stunden pro Woche für reproduktive Tätigkeiten auf, während es bei Männern 14,5 waren. Laut UN-Bericht „Rapid Gender Analyses in Ukraine“ geben die Befragten durchweg an, dass seit dem Beginn des Krieges der Umfang der unbezahlten Arbeit sowohl für Männer als auch für Frauen zugenommen hat. Dies liegt vor allem daran, dass Sozialdienste, medizinische und Bildungseinrichtungen sowie Kinderbetreuung durch den Krieg eingestellt oder reduziert wurden.

Das Wegbrechen dieser Infrastrukturen führt dementsprechend auch zu Verschlechterungen in allen diesen Bereichen. So sind beispielsweise Schwangere durch den Wegfall medizinischer Versorgung einer Lage ausgesetzt, die auch den Kindstod begünstigt. Um die Situation vor Ort einigermaßen erträglich zu machen, treten wir ein für:

Kontrolle und Verteilung der gelieferten Hilfsgüter durch demokratisch gewählte Komitees der Bevölkerung! Die Vertreter:innen müssen rechenschaftspflichtig und jederzeit wähl- und abwählbar sein!

So kann flächendeckend verhindert werden, dass Lebensmittel unterschlagen werden, wie beispielsweise durch zwei führende Ministeriumsbeamte, die Ende Januar dafür entlassen wurden. Das ist keine Kleinigkeit, denn über ein 1/3 der ukrainischen Bevölkerung ist von starken Nahrungsmittelengpässen betroffen. Viele Teile der Bevölkerung sind bereits in Hilfsstrukturen integriert – und sie sollten diese auch selber kontrollieren.

Denn zum einen kann durch die Verteilungskomitees überprüft werden, in welchen Regionen nicht nur mehr Hilfsgüter benötigt werden, sondern auch, wo es noch anderer Strukturen wie beispielsweise Kantinen oder anderer Hilfe bedarf. Diese sollten zum anderen als Momente kollektiver Reproduktionsarbeit nach dem Krieg erhalten bleiben und flächendeckend ausgeweitet werden. Denn nur durch die Vergesellschaftung der Hausarbeit – also der Aufteilung der Sorge- und Carearbeit auf alle Hände – kann die Doppelbelastung von Frauen sowie die geschlechtliche Arbeitsteilung beendet werden. Es gilt, hier eine Grundlage zu legen, um künftigen Verschlechterungen entgegenzuwirken.

Arbeitsrechte

Diese Situation wird dadurch verstärkt, dass unter der Regierung von Selenskyj seit Beginn des Krieges massive Angriffe auf die Arbeitsrechte vorgenommen wurden. Am 24. März 2022 trat das Gesetz Nr.-2136-IX Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Kriegsrecht in Kraft, was unter anderem die Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche auf 60 hochsetzt, Arbeit an Wochenenden, Feiertagen und arbeitsfreien Tagen nicht mehr verbietet und Betrieben ermöglicht, die Auszahlung des Gehalts zu verzögern, wenn nachgewiesen werden kann, dass Krieg oder „höhere Gewalt“ eine solche Verzögerung verursacht haben. Das Ganze wird begleitet vom Verbot von Oppositionsparteien, die Verbindungen nach Russland haben, sowie einer Degradierung von Gewerkschaften zu Organen der „Bürgerkontrolle“, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen.

Diese Verschärfungen sind dabei nur eine zugespitzte Fortführung Selenskyjs neoliberaler Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse. Bereits 2020 gab es den Versuch eines reformierten Arbeitsgesetzes, welches eine massive Aufweichung der Arbeits- und Tarifrechte enthielt. Durch Proteste seitens der Gewerkschaften konnte damals verhindert werden, was nun Praxis ist.

Was das für praktische Auswirkungen hat, skizziert Bettina Musiolek (Clean Clothes Campaign; Kampagne für Saubere Kleidung) in einem Interview mit der GEW. Zwar ist der Anteil der Textilindustrie innerhalb der Ukraine am BIP gering. Laut Angaben von Ukraine Invest existieren jedoch rund 2.500 Textilbetriebe mit mehr als 200.000 Mitarbeiter:innen innerhalb des Landes, von denen zwischen 80 und 90 % der gesamten Erzeugnisse für den Export bestimmt sind. Die überwiegende Mehrheit ihrer Beschäftigten ist weiblich. Produziert wird unter anderem für Marken wie Adidas, Benetton, Boss, S.Oliver, Tommy Hilfiger, Zara oder Handelskonzerne wie Picard oder Aldi. Diese nutzen die Not brutal aus, wie Musiolek erklärt:

 „Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. [ … ] Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.“ (https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/hungerloehne-unter-dem-deckmantel-des-kriegsrechts)

Das bedeutet praktisch, dass wir uns gegen diese Angriffe wehren müssen, was leichter geschrieben als getan ist. Es verdeutlicht, dass die herrschende Klasse der Ukraine nicht nur eine enge Verbündete der NATO ist, sondern – wie jede andere – auch im Krieg ihre Klasseninteressen vertritt.

Das Kriegsrecht richtet sich hier ganz konkret gegen die Lohnabhängigen und muss bekämpft werden. Die Aufgabe von Revolutionär:innen und fortschrittlichen Kräften muss darin bestehen aufzuzeigen, dass der Krieg alleine nicht den Klassencharakter aufhebt, nicht alle Ukrainer:innen vor ihm gleich werden und dieselben Interessen verfolgen dürfen. Deswegen muss gesagt werden:

  • Nein zu den Angriffen des Arbeitsrecht! Für die sofortige Rücknahme der Verschärfungen wie des einseitigen Kündigungsrechts oder der Ausweitung der Arbeitszeit!

  • Statt Arbeitslosigkeit und mehr Stunden braucht es Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich!

  • Für ein Mindesteinkommen für alle, angepasst an die Inflation!

  • Entschädigungslose Enteignung aller Kriegsgewinnler:innen, ukrainischer wie imperialistischer Unternehmen, die sich auf Kosten der Massen bereichern, unter Arbeiter:innenkontrolle!

Gewalt

Dass Gewalt gegen Frauen in Zeiten von Krisen zunimmt, ist spätestens seit der Coronapandemie kein Geheimnis mehr. Aktuelle offizielle Zahlen sind nicht verfügbar, jedoch gaben laut einer vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) im Jahr 2019 veröffentlichten Studie etwa 75 Prozent der ukrainischen Frauen an, seit ihrem 15. Lebensjahr irgendeine Form von Gewalt erlebt zu haben. Eine von drei Frauen berichtete, dass sie körperliche Formen von sexueller Gewalt erleiden musste.

Durch die verschlechterte ökonomische Situation kann sich dies verschlimmern, und da darüber hinaus in Konflikten sexuelle Gewalt und Vergewaltigung häufig als Kriegswaffe eingesetzt werden, um Macht über den Feind zu demonstrieren, sind die ukrainischen Frauen – inmitten der militärischen Invasion Russlands in ihrem Land – einem erhöhten Risiko sexueller und körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung und Folter ausgesetzt. Um sich gegen die zunehmende Gewalt zu wehren, treten wir ein:

  • Für demokratisch organisierte Selbstverteidigungskomitees der Bevölkerung, die auch Zugang zu Waffen haben!

  • Für Entschädigungszahlungen an Betroffene von Gewalt sowie kostenlosen Zugang zu therapeutischen Angeboten auch nach dem Krieg!

Militär

Doch es wäre falsch, die Rolle von ukrainischen Frauen derzeit auf Care- und Hilfsarbeit zu reduzieren. In der ukrainischen Armee dienen schätzungsweise zwischen 15 – 22 % Frauen. Manche kehren sogar aus den sicheren Ländern, in die sie geflohen waren, zurück, um an der Front zu kämpfen. Dies ist jedoch eine neuere Entwicklung. Seit 2014 sind Frauen Teil der ukrainischen Armee. Seit 2016 ist auch erlaubt, dass sie nicht nur klassische Hilfskraftjobs wie medizinische Versorgung oder Kochen ausüben. Dass sie nun auch an der Front kämpfen dürfen, heißt jedoch nicht, dass das Militär sich in einen Ort der Gleichberechtigung verwandelt. So hat die Zahl der Soldatinnen zwar zugenommen, aber ihre Mobilisierung erfolgte eher unregelmäßig. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die klassische Arbeitsteilung in Armeen (Fokus der Frauen auf Hilfsjobs) trotz ihrer höheren Beteiligung erhalten bleibt, was begleitet wird durch Berichte über sexistische Kommentare oder die Tatsache, dass Frauen Uniformen wesentlich schlechter angepasst werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Männer mittels Kriegsrecht hat darüber hinaus verfestigt, dass es Frauen sind, die außerhalb der Armee die Last der Betreuung von Kindern und älteren Menschen tragen müssen. Um die tatsächliche Gleichstellung in der Armee zu gewährleisten, treten wir ein:

  • Für die Wähl- und Abwählbarkeit von Offizier:innen durch Soldat:innenräte sowie deren Kontrolle über Ausbildung und Waffen!

  • Für eine Kampagne innerhalb der Armee für Gleichstellung, aber auch gegen Nationalismus und Chauvinismus! Recht der Frauen auf gesonderte Treffen!

Zentral ist es darüber hinaus, dass Soldat:innen auch dafür argumentieren, den Krieg nur solange zu führen, wie er zur Selbstverteidigung dient, und beispielsweise gegen die Rückeroberung der Krim oder der Volksrepubliken auftreten. Vielmehr sollte die dort lebende Bevölkerung entscheiden, wo sie zukünftig leben und welchem Staat sie angehören möchte. Alles, was darüber hinausgeht, führt zu einer weiteren Verlängerung des Krieges, ohne seine tatsächliche Ursache zu bekämpfen.

Perspektiven

Die reaktionäre Invasion des russischen Imperialismus stellt bekanntlich nicht den einzigen Faktor im Krieg dar. Es wäre vielmehr verkürzt, den Charakter eines Kriegs unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen. Die Entwicklung, die zur Invasion führte, und vor allem jene seit dem reaktionären Überfall Russlands bestätigt in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht bloß um einen nationalen Verteidigungskrieg handelt, sondern die politische, wirtschaftliche und militärische Einflussnahme der NATO auf internationaler Ebene selbst einen entscheidenden Faktor darstellt.

Das bedeutet, dass die Arbeiter:innenklassen in Russland wie auch in den NATO-Staaten vor allem für den Kampf gegen die Kriegsziele ihrer eigenen Bourgeoisien gewonnen und mobilisiert werden müssen. Dort steht der Hauptfeind eindeutig im eigenen Land.

In der Ukraine ist die Lage differenzierter zu betrachten. Hier sind die Massen Opfer der russischen imperialistischen Invasion. Einerseits spielt der innerimperialistische Konflikt eine prägende Rolle, andererseits existiert auch ein wichtiges Element der realen nationalen Unterdrückung. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukraine, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, verteidigen müssen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

In der Ukraine bildet daher das Recht auf Selbstverteidigung gegen die russische Invasion ein Element revolutionärer Politik, doch für den Fall des Rückzugs von russischen Truppen sollte klar sein, dass der Kampf danach weitergeht. Jedoch nicht mit dem Ziel, Vergeltung gegen Russland als Aggressor auszuüben, sondern in dem Wissen, dass NATO & Co. ihre Unterstützung nicht zugesagt haben, damit sie dann ebenfalls die Ukraine in Ruhe lassen, sondern sie als ausgebeutete Halbkolonie in ihren Machtbereich integrieren werden.

Neben stärkerer militärischer Präsenz ist es wahrscheinlich, dass westliche Firmen sich freuen, die ukrainische Infrastruktur wieder aufzubauen – auf dem Rücken der Bevölkerung vor Ort, die als billige Arbeitskräfte überausgebeutet werden kann. Die rechtlichen Grundlagen wurden ja bereits geschaffen. So ein Kampf kann nur erfolgreich sein, wenn bereits im Hier und Jetzt Strukturen aufgebaut werden, die sich der prowestlichen und neoliberalen Politik Selenkyjs nicht unterordnen wollen, aber auch kein Interesse hegen, sich an Putins Regime zu verkaufen. In Regionen wie der Krim, Donezk oder Luhansk sollten Referenden durch die Bevölkerung organisiert werden – nicht durch irgendeine Großmacht.

Im Westen, in der EU und den USA muss die Arbeiter:innenbewegung vor allem aber gegen die imperialistischen Ziele des „eigenen“ Imperialismus mobilmachen. Das bedeutet ein Nein zur jeder Aufrüstung, zu Waffenlieferungen und vor allem zu Sanktionen und Wirtschaftskrieg gegen Russland. Die US-amerikanische, deutsche und andere westliche Regierungen verfolgen damit keine demokratischen und humanitären Interessen. Das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und erst recht deren Demokratie sind ihnen völlig egal, wie das jahrelange Paktieren mit Ultrarechten beweist. Für sie ist die Ukraine vor allem eine Frontlinie auf dem geostrategischen Schlachtfeld und außerdem ein Reservoir für billige Arbeitskräfte und Rohstoffe. Hier gilt es, Solidarität und Widerstand aufzubauen, die die objektiven Interessen der ukrainischen und russischen Arbeiter:innenklasse unterstützen, und nicht mit den Machtinteressen der jeweils eigenen Regierung zu paktieren.




Guten Fragen, gute Antworten: 5 Fragen zu Frauen, Patriarchat und Krieg

Aventina Holzer / Jaqueline Katherina Singh, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

1. Patriarchat schafft Krieg?

„Kriege werden von Männern ausgelöst“, „Mächtige Männer setzen ihre Interessen über die Köpfe der anderen durch“ und „Krieg ist männlich“ sind Aussagen, die einem häufig über den Weg laufen. Wenn man sich die Realität anschaut, könnte man dem auf den ersten Blick zustimmen. Die überwiegende Mehrheit der Regierungschef:innen sind Männer und auch fernab von Amtsträger:innen hat Gewalt überwiegend ein männliches Gesicht.

Das Problem an diesen Sätzen ist jedoch, dass man eine falsche Systematik oder gesellschaftliche Problematik herausarbeitet. Es scheint so, dass Kriege entstehen, da oftmals Männer Entscheidungsträger sind. Dies ist ein Ergebnis des Patriarchats, welches sich durchgesetzt und reproduziert hat durch männliche Gewalt. Damit wird einem unterschwellig suggeriert, dass es „in der Natur“ von Männern liege, gewalttätig zu sein.

Doch Kriege entstehen nicht einfach durch individuelle Willkür. Sie sind selbst ein Produkt von Klassengesellschaften. Im Kapitalismus sind sie oft Ergebnis ökonomischer Konkurrenz mit dem Ziel jeweiliger Nationen bzw. Kapitalfraktionen, sich eigene Einflusssphären zu sichern – auf Kosten anderer. Krieg scheint männlich, da eben viele Männer für die Kriegsführung und -erklärung verantwortlich sind. Das suggeriert sehr stark, dass es anders wäre, wenn Frauen in diesen Positionen sind. Annalena Baerbock oder Hillary Clinton und ihre „feministische Außenpolitik“ lassen grüßen. In der Realität schicken diese aber ebenso Waffen, um die Interessen ihrer jeweiligen herrschenden Klasse zu vertreten. Sie sind nicht freundlicher oder rationaler, nur weil sie Frauen sind. Davon auszugehen, verschleiert die tatsächlichen Verhältnisse und den realen patriarchalen Aspekt von Kriegen enorm, während man gleichzeitig tradierte Rollenbilder reproduziert.

Ähnliches gilt für männliche Gewalt an sich. Gewalt ist nicht nur eine Frage von individueller Mentalität, Erziehung oder Tendenz. Es ist nichts, was „natürlich“ in Männern existiert, sondern Ergebnis historischer Unterdrückung – von Frauen, aber auch und vor allem von Klassen oder im Kapitalismus von Kolonialvölkern und Nationen.

Somit ist die Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ nicht nur eine sehr, sehr vereinfachte Analyse von Patriarchat als „männlicher Dominanz“ und ein Abschieben der Schuld auf „die“ Männer. Darüber hinaus vermittelt es zwei weitere problematische Ideen. Zum einen entsteht eine Diskussionsverschiebung. Es wird sich darauf konzentriert, welches Geschlecht  den Krieg führt und verwaltet. Doch eigentlich geht es dabei um die Durchsetzung von Klasseninteressen, um geopolitische und strategische Machtverschiebungen. Diese haben zwar massive negative Auswirkungen auf FLINTA-Personen, aber auch auf die männliche Arbeiter:innenklasse, die als Kanonenfutter für die herrschende Klasse eingesetzt wird.

Das zweite Problem mit der Aussage „Patriarchat schafft Krieg“ besteht darin, dass alle Kriege als reaktionär erscheinen. Das ist grundfalsch. Antikoloniale und antiimperialisische Befreiungskriege, Bürger:innenkriege oder Kriege zur Verteidigung einer sozialen Revolution tragen einen fortschrittlichen Charakter. Die Abschaffung des Kapitalismus und der Frauenunterdrückung sind letztlich ohne sozialistische Revolution, d. h. ohne gewaltsame Erhebung der Unterdrückten unmöglich. Abstrakte, ahistorische Phrasen, die den Unterdrückten einen allgemeinen Gewaltverzicht nahelegen, entwaffnen sie letztlich nur. Sie tragen ungewollt dazu bei, jene Verhältnisse – kapitalistische Ausbeutung und Frauenunterdrückung – zu verewigen, die sie zu bekämpfen vorgeben.

2. Warum gibt es Krieg im Kapitalismus?

Wer effektiv gegen Krieg kämpfen will, muss auch verstehen, was dessen Wurzel ist. Spoiler: es sind nicht einzelne, verwirrte Staatsoberhäupter oder die grundlegende „Natur“ des Menschen. Die Erklärung ist eine andere. Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass das grundsätzliche Verhältnis zwischen den Akteur:innen im Kapitalismus die Konkurrenz ist. Jede/r muss für sich selber schauen, wo er/sie bleibt, und darum kämpfen, dass er/sie nicht von anderen Kapitalist:innen abgehängt wird oder am besten sogar schneller als Elon Musk zum Mars fliegt. Dieser Konkurrenzkampf durchzieht die gesamte Gesellschaft. Somit stehen auch die Besitzer:innen der Fabriken und des Kapitals, also die Kapitalist:innen, miteinander in stetigem Kampf darum, wer die meisten Profite bekommt, um mit diesen neue Investitionen zu tätigen und somit zu wachsen und immer größere Teile der Wirtschaft in der eigenen Hand zu vereinen. Doch Profite zu machen, ist nicht so einfach in der heutigen Welt.

Unsere aktuelle Epoche zeichnet sich dadurch aus, dass jeder Winkel der Welt unter die konkurrierenden Kapitale aufgeteilt ist. Beispielsweise in Deutschland wird beinahe alles bewirtschaftet und der Bedarf an den meisten Sachen ist befriedigt. Also muss man raus aus Deutschland und in anderen Teilen der Welt investieren, wo noch was zu holen ist. Und da sich alle Imperialist:innen unter Konkurrenzdruck befinden, hat man unter Umständen auch gar keine andere Wahl, als diese Kriege um Wirtschaftswege (westafrikanische Küste), Wirtschaftsräume (Mali) oder geostrategische Einflusssphären (Ukraine, Syrien, Afghanistan) zu führen, da man ansonsten von den Kapitalist:innen in anderen Ländern bedroht wird oder vielleicht sogar abgehängt. Im Prinzip ist also Politik die zugespitzte Form der ökonomischen Konkurrenz (wie beispielsweise durch Handelsabkommen oder Troikapolitik gezeigt) und Krieg die Fortführung dieser mit anderen Mitteln.

Als revolutionäre Marxist:innen erkennen wir auch an, dass Kriege einen unterschiedlichen Charakter tragen, je nach dem der Kriegsziele der beteiligten Kräfte und Klassen. So besitzen beispielsweise solche zwischen imperialistischen Mächten einen reaktionären Charakter, während wir die unterdrückter Nationen und halbkolonialer Länder gegen imperialistische Staaten als berechtigt und unterstützenswert betrachten.

So weit eine knappe Antwort auf eine komplexe Frage.

3. Treffen Kriege Frauen stärker?

Die Antwort ist: jein. Kriege versetzen die gesamte Bevölkerung in einen Ausnahmezustand. Die Zunahme von Nationalismus, Zerstörung der Infrastruktur oder Mobilmachung haben Auswirkungen auf alle. Frauen sind dabei teilweise stärker oder spezifisch betroffen. Dies liegt darin begründet, dass der Krieg bereits vorhandene Frauenunterdrückung massiv verstärkt oder jedenfalls es tun kann. Er muss es aber nicht, wenn Frauen selbst eine aktive, ja führende Rolle in Befreiungs- oder Bürger:innenkrieg für die fortschrittliche Seite spielen.

Die Auswirkungen lassen sich dabei grob in direkte sowie indirekte einteilen. Beispielsweise fördert der Zusammenbruch der medizinischen Infrastruktur eine höhere Sterblichkeit von Geburten und die kriegsbedingte Zunahme an Frühwitwen führt meist zu schlimmerer Altersarmut von Frauen, die noch jahrelang anhält. Ein spezifisches Merkmal von Kriegen ist der Anstieg von Gewalt gegen Frauen. Herauszustellen hierbei ist, dass diese nur teilweise zunehmen, weil die Lebensbedingungen schlechter werden.

Vielmehr muss Gewalt gegen Frauen – hierbei vor allem Vergewaltigung – auch als gezielte Waffe verstanden werden zur ethnischen Säuberung und Demoralisierung. Beispielsweise wurde im Jahr 1994 Ruanda von einem Völkermord heimgesucht. Man schätzt, dass in etwas mehr als hundert Tagen fast eine Million Menschen getötet wurden. Im gleichen Zeitraum wurden schätzungsweise 250.000 bis 500.000 Tutsifrauen vergewaltigt. Insbesondere in diesem Jahrhundert gibt es zahlreiche Belege für massive Vergewaltigungen als Kriegsphänomen. Ein weiteres Beispiel finden wir 1937, wo in einem Monat 20.000 Frauen von Japanern in Nanjing (früher: Nanking; China) vergewaltigt wurden.

Auffällig ist, dass die Täter nur selten strafrechtlich verfolgt werden. In der Machel-Studie wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise nur 8 Täter angeklagt wurden, obwohl die Zahl der Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien auf 20.000 geschätzt wird. Ziel der systematisch betriebenen Übergriffe ist es, der Gesamtbevölkerung der Gegenseite zu schaden – auch langfristig, weil die Reproduktionsfähigkeit beschädigt wird, etwa wenn in bestimmten Kulturen die Frau als Heiratspartnerin nach einer Vergewaltigung nicht mehr infrage kommt. Es wird also nicht nur der einzelnen Frau mit diesem Kriegsverbrechen geschadet, sondern der ganzen Gruppe.

4. Was ist mit der Carearbeit?

Dadurch, dass größtenteils Männer eingezogen werden sowie Haushaltseinkommen schrumpfen, gibt es starke Veränderungen in der Verteilung der Hausarbeit sowie auf dem Arbeitsmarkt. Kurzum: Frauen agieren hierbei als flexible Reservearmee von Arbeitskräften, die je nach Situation aktiv einbezogen oder isoliert werden. Der Grund dafür ist vor allem die Organisierung der Reproduktionsarbeit. Diese ändert sich ebenfalls im Rahmen des Krieges. Denn in einem Land, was angegriffen wird, wird massiv Infrastruktur zerstört. Alle Bereiche der Pflege und Kindererziehung fallen somit meist auf Frauen zurück – und das findet unter schlechteren Verhältnissen statt. Nach dem Krieg ändert sich das nicht unmittelbar, da die Zahl von Verletzten auch gestiegen ist.

Kurzum: die Doppelbelastung von Frauen, die ohnedies existiert, wird massiv verstärkt. Doch nicht nur in angegriffenen Ländern verändert sich die Situation. So hatten bspw. die USA im Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, um die Waffenproduktion am Laufen zu halten, Teile der Carearbeit zeitweise zu „sozialisieren“. Dies fand beispielsweise 1942  im Rahmen des Community Facilities Act (auch Lanham Act genannt) statt. Im Rahmen dieses Gesetzes hatten alle Familien (unabhängig vom Einkommen) Anspruch auf Kinderbetreuung, teilweise bis zu sechs Tage in der Woche, einschließlich der Sommermonate und der Ferien. So wurden die ersten Kinderbetreuungseinrichtungen der US-Regierung und sieben Einrichtungen für 105.000 Kinder gebaut. Dies scheint nach heutigen Maßstäben recht wenig zu sein, ist aber ein Ausdruck, was möglich ist: Statt die Reproduktionsarbeit ins Private zu verlagern, wurden Teilbereiche öffentlich organisiert – also verstaatlicht („vergesellschaftet“), da Frauen als Arbeitskräfte benötigt wurden. Dieses Angebot blieb natürlich nicht ewig bestehen. Nach Ende des Krieges und der Rückkehr der Männer von der Front wurden die Angebote wieder gestrichen, um Kosten zu sparen.

5. Trifft Krieg  alle gleich?

Insgesamt ist es wichtig anzuerkennen, dass wie bei Gewalt die Auswirkungen von Krieg alle Frauen treffen. Aber eben nicht gleich. Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, alle mit niedrigen Einkommen, sind den Folgen wesentlich stärker ausgesetzt, da sie keinen finanziellen Spielraum haben, Preissteigerungen auszugleichen oder zu fliehen. Dementsprechend kann auch nicht in der „Einheit“ aller Frauen die Antwort auf den Kampf gegen den Krieg bestehen. Vor allem nicht mit der Argumentation, dass Frauen friedliebender als Männer sind. Dies ist nur eine Fortführung von tradierten Rollenbildern, die auf die Müllhalde der Geschichte gehören. Wie am Anfang schon gesagt: Krieg wird nicht durch toxische Männlichkeit oder „verrückte Diktatoren“ vom Zaun gebrochen und geführt. Um Krieg effektiv zu bekämpfen, ist es aber zentral, ihn als Ergebnis von Klassengegensätzen und der internationalen Konkurrenz unterschiedlicher, nationaler Kapitalfraktionen zu verstehen. Wenn Frauen dann einfach nur dieses System mit verwalten oder glauben, dass Krieg vermeidbar sei, wenn man mehr miteinander redet, dann bietet das keine Lösung für irgendein Problem – weder zur Bekämpfung von Krieg noch dessen Auswirkungen auf die Frauenunterdrückung. Effektiver Widerstand muss aktuelle Probleme aufgreifen und deren Bekämpfung mit der Beseitigung ihrer Ursache – des Kapitalismus – verbinden, um erfolgreich zu sein.




Ukraine: Nationale Frage und die Frauen

Susanne Kühn / Oda Lux, Fight!, Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig: in den Medien und im Alltag. Man sieht vor allem Bilder von kämpfenden Männern, geflüchteten Frauen oder von Daheimgebliebenen in zerstörten Häusern. Das erfasst die Lebensrealität und die Lage der Frauen in der Ukraine nur zum Teil. Denn obwohl unter anderem aufgrund des Kriegsrechtes, welches ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise verbietet, ein sehr großer Teil der Menschen, die Westeuropa erreichen, Frauen sind, wird die Frage, wie es eigentlich um ihre Situation in diesem Konflikt und der Ukraine generell steht, verhältnismäßig wenig gestellt.

Um deren Lage – wie die Situation in der Ukraine – selbst zu verstehen, ist es jedoch auch erforderlich, kurz auf die nationale Unterdrückung seit dem Zarismus einzugehen.

Wir halten dies allerdings für dringend notwendig, weil bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am ukrainischen Nationalismus Ingoranz gegenüber der nationalen Frage in der Ukraine vorherrscht – nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit oder bei unverbesserlichen Putinist:innen, sondern auch in weiten Teilen der „radikalen“ Linken.

Dies ist umso wichtiger, weil der reaktionäre und barbarisch geführte Krieg Russlands nicht nur abertausenden ukrainischen Zivilist:innen das Leben gekostet, hunderttausende obdachlos gemacht und verarmt, sondern Millionen – vor allem Frauen – zur Flucht gezwungen hat. Er hat auch einem reaktionären und historisch eher schwachbrüstigen bürgerlichen Nationalismus massiven Zulauf verschafft. Und es ist klar, dass dieser ohne Lösung der ukrainischen nationalen Frage nicht entkräftet werden kann.

Genau darin, in der Anerkennung der Bedeutung der nationalen Unterdrückung als einer Schlüsselfrage in der Ukraine bestand die historische Errungenschaft Lenins – eine Errungenschaft, die allerdings auch schon zu seinen Lebzeiten in der Bolschewistischen Partei umstritten war. Unter dem Stalinismus wurde letztlich die nationale Unterdrückung nur in anderer Form reproduziert.

Ukraine und ihre nationale Unterdrückung

Im 19. Jahrhundert, in der Phase der Herausbildung der Nation, waren die Ukrainer:innen in ihrer großen Mehrheit Bewohner:innen des zaristischen Russland, Gefangene eines Völkergefängnisses (ein bedeutender Teil der Westukraine gehörte zur Habsburger Monarchie).

Die Existenz der ukrainischen Nation wurde vom Zarismus bestritten, ja bekämpft. Sie wurden ganz im Sinne des großrussischen Chauvinismus als „Kleinruss:innen“ bezeichnet. Im Zuge der Russifizierungspolitik wurden ukrainische Literatur und Zeitungen ab 1870 verboten, um so diese Kultur zwangsweise zu assimilieren. Die Revolution von 1905 erzwang zwar die Aufhebung dieser Gesetze bis 1914, aber im Ersten Weltkrieg wurde das Verbot der ukrainischen Sprache wieder eingeführt. Erst die Revolution 1917 hob diese wieder auf.

Die entstehende ukrainische Nation setzte sich in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern/Bäuerinnen zusammen, die eine gemeinsame Sprache und auch ein Nationalbewusstsein pflegten. Die herrschenden Klasse und die kleinbürgerlichen städtischen Schichten setzten sich aber vorwiegend aus Nichtukrainer:innen zusammen – westlich des Dnepr waren es vor allem polnische Grundbesitzer:innen, östlich des Dnepr russische. Die städtischen Händler:innen waren vor allem Juden/Jüdinnen.

Die Industrialisierung der Ukraine setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Donbass (Donezbeckens) ein. Die Arbeiter:innen in den Bergwerken wie auch die Kapitalist:innen waren zum größten Teil großrussische Migrant:innen.

Ende des 19. Jahrhunderts sah die nationale Zusammensetzung der ukrainischen Gouvernements im zaristischen Reich wie folgt aus: 76,4 % Ukrainer:innen, 10,5 % Großruss:innen, 7,5 % Juden/Jüdinnen, 2,2 % Deutsche, 1,3 % Pol:innen und 2,1 % andere. Auf dem Land bildeten die Ukrainer:innen mit 82,9 % die überwältigende Mehrheit, in den Städten machten sie aber lediglich 32,2 % der Bevölkerung aus.

Die nationale Frage in der Ukraine war also eng mit der Agrarfrage verbunden und nahm auch die Form eines Stadt-Land-Gegensatzes an. Zweitens war und wurde die Ukraine im Krieg auch Kampfplatz zwischen Großmächten, die ihre wirtschaftliche und geostrategische Konkurrenz auf ihrem Gebiet austrugen.

Ukrainischer Nationalismus

Der ukrainische bürgerliche Nationalismus entwickelte sich erst spät, in der zweiten Hälfte in den Städten des zaristischen Russland oder im Habsburger Reich, wo die ukrainische Kultur und Sprache weniger extrem unterdrückt wurden. Von Beginn an stützte er sich auf eine relativ schwache ukrainische Bourgeoisie und Intelligenz. Im zaristischen Russland war er außerdem von Beginn an – auch aufgrund der Rolle der orthodoxen Kirche und einer Teile-und-herrsche-Politik des Zarismus – stark antipolnisch und auch antisemitisch geprägt. Zugleich offenbarte er schon früh eine Bereitschaft, sich politisch verschiedenen Mächten unterordnen, was sich im Ersten Weltkrieg, im Bürger:innenkrieg und in extremster Form in der Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen (insb. von Banderas OUN; Organisation Ukrainischer Nationalist:innen) mit den Nazis ausdrückte.

Es wäre aber falsch, ihn als rein reaktionäre Strömung zu betrachten. Neben einem von Beginn an überaus zweifelhaften bürgerlichen Nationalismus bildeten sich auch linkere, oft sozialrevolutionäre, populistische Strömungen heraus, die eine reale Basis unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft besaßen (darunter auch Sozialrevolutionär:innen, später auch halbanarchistische Strömungen, deren bekannteste die Machnobewegung war). Die fortschrittlichste Kraft stellten sicher die Borot’bist:innen dar (linke Nationalist:innen, die sich dem Kommunismus zuwandten und schließlich mit der KP der Ukraine verschmolzen; Borot’ba = dt.: Kampf).

Arbeiter:innenbewegung und Bolschewismus

Die Arbeiter:innenbewegung konnte vor der Oktoberrevolution in der ukrainischen Bevölkerung – das heißt unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft – faktisch keinen Fuß fassen (und sie hat das auch kaum versucht). Nach der Revolution trat Lenin – auch gegen massive Widerstände unter den Bolschewiki – entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein (einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit). Zweifellos stellte dies einen Schlüssel für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft zu Beginn der 1920er Jahre dar. Die bolschewistische Politik in der Ukraine und im Bürgerkrieg war jedoch schon in dieser Periode keineswegs frei von großrussisch-chauvinistischen Zügen, die jedoch innerparteilich vor allem von Lenin bekämpft wurden.

Dass die Bolschewiki schließlich die Ukraine gegen verschiedene konterrevolutionäre und imperialistische Kräfte gewinnen konnten, lag, wie E. H. Carr in „The Bolshevik Revolution“ treffend zusammenfasst, daran, dass sie den Bauern/Bäuerinnen als das „kleinste Übel“ verglichen mit den Regimen aller anderen Kräfte erschienen, die ihr Land ausgeblutet hatten.

In jedem Fall versuchten die Bolschewiki teilweise schon während, vor allem aber nach dem Bürger:innenkrieg, das Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung zu verbessern und sie so praktisch  davon zu überzeugen, dass sie deren nationale Selbstbestimmung anerkannten und den großrussischen Chauvinismus nicht in einer „roten“ Spielart reproduzieren wollten.

Dazu sollten vor allem zwei Mittel dienen:

a) Die Korenisazija (dt.: Einwurzelung), eine Politik, die darauf abzielte, die Kultur und Sprache der unterdrückten Nationen, ihren Zusammenschluss in eigenen Republiken oder autonomen Gebieten zu fördern und Angehörige der unterdrückten Nationen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Staatsapparat und die Partei zu integrieren. Außerdem sollte so auch die Herausbildung oder Vergrößerung des Proletariats unter den unterdrückten Nationen gefördert werden.

b) Die Neue Ökonomische Politik (NEP). Dieser zeitweilige Rückzug auf dem Gebiet der ökonomischen Transformation auf dem Land sollte einerseits die Versorgung der Städte bessern und die Produktivität der Landwirtschaft steigern, andererseits aber auch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stabilisieren, das im Bürger:innenkrieg durch das System der Zwangsrequirierung landwirtschaftlicher Produkte und Not im Dorf extrem angespannt war.

Zwangskollektivierung und großrussischer Nationalismus der Bürokratie

Der entstehenden und schließlich siegreichen Bürokratie Stalins waren jede reale Autonomie und Selbstbestimmung der Nationen in der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Die Politik der Zwangskollektivierung, selbst eine bürokratisch-administrative Reaktion auf ihre vorhergegangenen Fehler, kostete Millionen Bauern/Bäuerinnen in der Sowjetunion das Leben. In der Ukraine nahm diese Politik besonders brutale Formen an. Hilfslieferungen an die hungernden und verhungernden Landbewohner:innen wurden verweigert, Flüchtenden wurde das Verlassen der Ukraine verwehrt.

Damit sollten auch die Reste ukrainischen Widerstandes gebrochen werden. Die Politik der Zwangskollektivierung wird von einer im Kern großrussisch-chauvinistischen Kampagne gegen den „ukrainischen Nationalismus“ und mit der Abschaffung der Korenisazija verbunden.

Der barbarische Hungertod von Millionen Ukrainer:innen erklärt auch die Entfremdung der Massen vom Sowjetregime und warum ein extrem reaktionärer Nationalismus unter diesen in den 1930er Jahren Fuß fassen konnte. Ohne eine schonungslose revolutionären Kritik, ohne einen klaren politischen und programmatischen Bruch mit dem Stalinismus und ohne ein Anknüpfen am revolutionären Erbe der Lenin’schen Politik wird es unmöglich sein, die ukrainischen Massen vom ukrainischen Nationalismus zu brechen.

Frauenpolitik und Stalinismus

Der reaktionäre Charakter der Politik des Stalinismus zeigte sich in den 1930er Jahren auf allen Ebenen, insbesondere auch bei der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Sieg der Bürokratie wird die „sozialistische Familie“ zum Leitbild ihrer Frauenpolitik. In der Sowjetunion (und auch in der Ukraine) wird eine Hausfrauenbewegung gefördert. Auch die werktätige Frau ist zugleich und vor allem glückliche Hausfrau und Mutter.

Mit der Industrialisierung, aber auch im Zweiten Weltkrieg werden Frauen zu Millionen in die Produktion eingezogen, zu Arbeiterinnen. Zugleich werden während des Krieges reaktionäre Geschlechterrollen zementiert und verstärkt. So wird die Koedukation von Jungen und Mädchen in der Sowjetunion 1943 abgeschafft, Scheidungen werden fast unmöglich und unehelich Geborene werden rechtlich schlechter gestellt.

Obwohl Frauen einen relativ hohen Anteil in einzelnen Abteilungen der Roten Armee stellten, tauchen sie in der offiziellen Darstellung kaum auf. Der Faschismus wird, offiziellen Darstellungen zufolge, von den männlichen Helden vertrieben und geschlagen, denen die Frauen in der Heimat, im Betrieb und in der Hausarbeit den Rücken frei halten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wird das reaktionäre Frauenbild weiter ideologisch aufrechterhalten. Trotz einer weitgehenden Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt wurde die Mutterschaft als Hauptaufgabe der Frau betont, gesellschaftlich gefördert und belohnt. So wurden Prämien und Orden für Mütter, die 5 oder mehr Kinder zur Welt brachten, eingeführt. Alleinlebende oder auch kleinere Familien wurden zur Zahlung eine Spezialsteuer verdonnert.

Nach Stalins Tod tritt unter Chruschtschow eine gewisse Liberalisierung ein. So wird die Abtreibung wieder legalisiert. Darüber hinaus gibt es einige Verbesserungen für die Frauen.

Diese zeigen sich vor allem auf dem Gebiet der Bildung. So steigt der Anteil der Absolventinnen von Fachhochschulen bis in die 1970er Jahre auf rund 50 % – ein Anteil, der zu diesem Zeitpunkt von keinem westlichen Staat erreicht wurde. Außerdem wurden eine Reihe von staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderbetreuung oder auch ein flächendeckendes System leicht zugänglicher (wenn auch oft nicht besonders guter) Kantinen oder Speisehallen geschaffen.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Unterdrückung der Frau bleiben jedoch bestehen. Frauen leisten weiter den größten Teil der privaten Hausarbeit. Im Berufsleben waren sie bis auf weniger Ausnahmen weiter auf typische „Frauenberufe“ oder schlechter bezahlte Tätigkeiten (Bildungswesen, Gesundheit, Ärzt:innen, Putz- und Hilfspersonal, Handel, Nahrungsmittelindustrie, Textil, auch generell Fließbandarbeiter:innen) konzentriert. Der Zutritt zu vielen von insgesamt über 450 „Männerberufen“ wurde ihnen verwehrt (darunter z. B. Lokführerin oder Fahrerin von großen LKWs). Der Durchschnittslohn lag in den 1970er und 1980er Jahren immer noch bei nur 65 – 75 % der Männer.

Restauration des Kapitalismus

Die Krise der Sowjetwirtschaft in den 1980er Jahren und die schockartige Restauration des Kapitalismus trafen die Arbeiter:innenklasse, vor allem aber die proletarischen Frauen mit extremer Härte auf mehreren Ebenen:

a) Massive Entlassungen und Schließungen treffen vor allem Frauen in den schlechter bezahlten Tätigkeiten, insbesondere wenn ganze Industrien bankrott gehen.

b) Die Verschuldung und Währungskrisen führen zu massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor (Privatisierungen und Schließungen) und daher auch Massenentlassungen in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.

c) Zugleich werden soziale Leistungen massiv gekürzt, Kitas und Kantinen geschlossen (insbes. die betrieblichen). Die Preise steigen massiv für Wohnungen und Lebensmittel.

d) Zugleich werden ein reaktionäres Frauenbild und reaktionäre Geschlechterrollen ideologisch verfestigt und „neu“ eingekleidet. Sexismus, reaktionäre Familienideologie und Homophobie müssen nicht erfunden werden, sondern greifen Elemente des Stalinismus auf und kombinieren sie mit tradierten bürgerlichen Vorstellungen.

e) Der Anteil an Frauen unter den Beschäftigten sinkt in der Ukraine (wie überhaupt die Beschäftigung sinkt). Zugleich werden mehr Frauen in die Prostitution gezwungen oder verschleppt – sei es aus ökonomischer Not, sei es direkt gewaltsam in illegalen Frauenhandel.

Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetstaaten und der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat veränderte sich also auch das gesellschaftliche Gefüge. Eine Spaltung der Gesellschaft verlief zwischen der prorussischer und proeuropäischer Seite. Die alten KP-Strukturen wurden durch neue ersetzt. Ebenso wie in anderen ehemaligen sowjetischen Staaten setzten sich Oligarch:innen, vor allem Männer, an die Macht und blieben an ihr kleben. Bezeichnend ist, dass es bis heute keine Präsidentin gab und auch nur eine weibliche Premierministerin, Julija Tymoschenko (2005; 2007 – 2010). Die sog. orangene Revolution von 2004 – 2005, die auch mit Generalstreiks einherging, verhalf ihr an die Macht. Allerdings kann sie nicht als eine progressive Führungsfigur eingeschätzt werden, die sich an die Spitze einer Bewegung für mehr weibliche Partizipation hätte setzen können. Auch die Maidanbewegung 2013/14 vermochte es nicht, den Einfluss von Frauen großartig zu steigern.

Was sie allerdings geschafft hat, ist, die Annäherung an den Westen weiter voranzutreiben. Dies umfasst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Einerseits wäre da die Annäherung an die EU, welche zwar Privatisierungen, massive Militärausgaben, Sozialkürzungen und viele weitere Angriffe, welche auch Frauen treffen, zur Folge hatte, aber eben als Nebeneffekt auch politische Reformen voranbrachte, welche aufgrund ihrer Stoßrichtung zur „liberalen“ bürgerlichen Demokratie bessere Bedingungen für einen Kampf zur Frauenbefreiung schaffen. So wurde beispielsweise eine Frauenquote von 30 % bei lokalen Wahlen beschlossen, welche nicht umgesetzt wird, aber trotzdem eine Verbesserung darstellt. Auch die Reformen im Bereich von Justiz und Strafverfolgung sowie Korruptionsbekämpfung kommen vor allem Frauen zugute, da diese am wenigsten von den „Vorteilen“ profitieren und am meisten unter den Nachteilen leiden. Parallel dazu begann 2014 auch ein faktischer Bürger:innenkrieg in der Ukraine, der zur Gründung der Donbassrepubliken und zur Annexion der Krim durch Russland führte.

In der Zwischenzeit ist die starke Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushaltes vom Westen noch gestiegen. Zusammen mit den bereits vorher stattgefundenen Maßnahmen an Sozialkürzungen und Privatisierungen führte dies dazu, dass noch mehr Menschen in Armut stürzen (rund 50 % der Bevölkerung). Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei knapp einem Drittel und es ist über den weiteren Winter mit vielen Stromausfällen und Heizungsengpässen zu rechnen, da knapp zwei Drittel der Energieinfrastruktur zerstört sind. All das trifft Frauen, die in der Ukraine knapp 10 % weniger Beschäftigungsanteil haben als Männer, stärker. Die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie fällt besonders schwer ins Gewicht, wenn der Alleinverdiener stirbt und die nun Alleinerziehende weniger Aussichten hat, einen Job zu bekommen, in dem sie dann auch noch geringer bezahlt wird.

Die Ukraine: nicht nur blau und gelb, sondern auch „rein weiß“?

Die heutige Ukraine ist auch ein Vielvölkerstaat mit diversen Ethnien, Sprachen und Religionen. Neben Ukrainer:innen und Russ:innen umfasst sie mehr als 130 ethnische Gruppen und viele Minderheitensprachgruppen, von denen die größte Gruppe Roma/Romnja sind. Etwa 400.000 leben im Land. Dies ist wichtig zu wissen, da sie nur selten erwähnt werden und historisch überall, wo sie sich aufhielten, diskriminiert und schlimmstenfalls systematisch verfolgt wurden. In den letzten 10 Jahren gab es in der Ukraine mehrere Pogrome gegen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja bei denen Menschen getötet und vertrieben wurden. Besonders rechtsextreme Gruppen hatten es auf sie abgesehen, aber vom Staat gestützt wurden sie dennoch nicht. Auch auf der Flucht sind sie dem Antiziganismus in Osteuropa sowie in Ländern wie Deutschland ausgesetzt. Zum Teil wurden sie an der Ausreise gehindert und es gab sogar Bilder von massakrierten sowie zur Schau gestellten Personen. Schafften sie es doch bis nach Deutschland, so war es für sie schwierig, staatliche Hilfe zu erlangen. Einerseits weil es ein generelles rassistisch motiviertes Misstrauen gegenüber Sinti/Sintizze und Roma/Romnja gibt, andererseits besitzen viele keine Pässe und konnten daher ihre Ansprüche nicht beweisen.

Eine weitere Gruppe, die zeigt, dass die Ukraine nicht so weiß ist, wie auch in den deutschen Medien gerne suggeriert, ist die Gruppe der Migrant:innen aus aller Herren Länder, die zum Arbeiten oder Studieren ins Land gekommen waren. Auch die Ukraine ist und war eine heterogene Gesellschaft. Dies wirkt sich auch auf die Lage der Frau sehr unterschiedlich aus – ein starkes Stadt-Land- wie auch Ost-Westgefälle sind hier zu sehen. Zu oft vergessen wird allerdings, dass auch die Gesellschaft ethnisch und sprachlich vielfältiger ist, als es häufig dargestellt wird, weswegen neben sexistischer Diskriminierung und auf Geschlecht basierender Vulnerabilität noch rassistische Diskriminierung hinzukommt. Egal ob noch im Land selbst oder auf der Flucht, befinden sich diese Personen noch mal in einer besonders prekären Situation.

Der Einmarsch des russischen Imperialismus hat die Lage der Frauen und der Minderheiten noch einmal dramatisch verschlechtert. In der Ukraine überzieht der russische Imperialismus das Land mit einem reaktionären Eroberungskrieg. Zugleich findet der Kampf zwischen dem russischen Imperialismus und den westlichen Mächten statt, nimmt der Krieg wichtige Aspekte eines Stellervertreter:innenkrieges an.

Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer:innen natürlich das Recht, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, sich selbst zu verteidigen. Die historische Entwicklung und der Krieg zeigen jedoch auch, wie untrennbar der Kampf um Selbstbestimmung, gegen die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten mit dem gegen westliches Großkapital, russische Oligarchie und die „eigene“ herrschende Klasse verbunden ist.