Gemeinsame Erklärung zu Palästina

Internationale Trotzkistische Opposition (ITO) und Liga für die Fünfte Internationale (LFI), 4. Januar 2024, Infomail 1241, 4. Januar 2024

Die Internationale Trotzkistische Opposition (ITO), die Liga für die Fünfte Internationale (LFI) und die Revolutionary Workers Party (RRP) of Russia, die sich über revolutionäre Perspektiven für Palästina einig sind, haben diese gemeinsame Erklärung verabschiedet.

Die ständige Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung von Palästinenser:innen in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen haben durch den Gegenangriff der Hamas und anderer Widerstandskämpfer:innen am 7. Oktober und die brutale Antwort Israels auf die gesamte Bevölkerung im Gazastreifen, die größer ist als seine früheren Angriffe dort, erneut die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregt. Dies hat Millionen von Menschen auf der ganzen Welt empört und gegen den zionistischen Staat und die uneingeschränkte Unterstützung, die er von seinen imperialistischen und rassistischen Unterstützer:innen erhält, mobilisiert.

Es ist die dringende Pflicht aller Revolutionär:innen, diese weltweite Bewegung maximal zu unterstützen und gleichzeitig eine klare revolutionäre antikapitalistische Perspektive für ihre Entwicklung aufzuzeigen. Zu diesem Zweck legen wir die folgende Erklärung vor und rufen alle, die die Situation so sehen wie wir, auf, sich uns in diesem Bemühen anzuschließen.

Zionismus und Imperialismus

Der Zionismus ist seit seinen Anfängen ein Siedlungskolonialprojekt. Sein Ziel ist es, die einheimische arabische Bevölkerung Palästinas zu vertreiben, um Platz für jüdische Siedler:innen zu schaffen. Eine zionistische Kolonie in Palästina schien weit hergeholt, bis der Holocaust sechs Millionen europäische Juden und Jüdinnen ermordete und viele der übrigen drei Millionen verzweifelt nach einem Zufluchtsort suchten. Der Antisemitismus hinderte die meisten Juden und Jüdinnen an der Auswanderung in die USA und nach Westeuropa. Zionistische Organisationen brachten viele nach Palästina.

In einer der größten Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts fügte ein schrecklich unterdrücktes Volk, die europäischen Juden/Jüdinnen, einem anderen unterdrückten Volk, den palästinensischen Araber:innen, schreckliche Unterdrückung zu. In der Nakba von 1948 eroberten die Zionist:innen 78 Prozent des Mandatsgebiets Palästina und erklärten es zu Israel. Zionistische Milizen und die israelische Armee vertrieben 750.000 Palästinenser:innen und viele Tausende mehr flohen. Durch die Nakba verringerte sich die arabische Bevölkerung in dem von Israel beanspruchten Gebiet von 1.324.000 im Jahr 1947 auf 156.000 im Jahr 1948.

Der US-amerikanische und europäische Imperialismus, Israels Verbündete, verfolgen zwei Hauptinteressen im Nahen Osten: seine strategische Lage an der Schnittstelle zwischen Asien, Europa und Afrika sowie sein Öl und Gas. Seit mehr als einem Jahrhundert versuchen sie, die Region durch eine Kombination aus Gewalt und dem Ausspielen von Teilen der Bevölkerung gegeneinander zu beherrschen.

Im Laufe der 1950er und 1960er Jahre verdrängten die USA Großbritannien und Frankreich als dominierende imperialistische Mächte in der Region und diese wurden zu Juniorpartnerinnen. Das Trio unterstützte Monarchien und Militärdiktaturen von Marokko bis Iran und fand Wege, nationalistische Regierungen wie die von Algerien, Ägypten, Syrien und Irak in ihre neokoloniale Weltordnung einzubinden.

Israel erwies sich bei der Schaffung der neokolonialen imperialen Ordnung als äußerst nützlich, insbesondere nachdem es Ägypten, Syrien und Jordanien im arabisch-israelischen Krieg von 1967 besiegt hatte. Die USA haben Milliarden von Dollar an Hilfe und Waffen geschickt, um Israel als Gendarm im Zentrum der arabischen Welt aufzubauen. Israel hat auch eine politische Funktion, denn es ermöglicht den USA, ihre militärischen Operationen zu verschleiern, und hilft den reaktionären arabischen Kompradorenregierungen, die Aufmerksamkeit von ihrer eigenen Misswirtschaft auf einen äußeren Feind, Israel, zu lenken.

Intifada

Im Krieg von 1967 eroberte Israel den Gazastreifen, das Westjordanland und die Golanhöhen und schloss damit die Besetzung Palästinas vom Jordan bis zum Mittelmeer ab. Außerdem besetzte es die ägyptische Sinaihalbinsel. Im Krieg von 1973 kämpften Ägypten und Syrien gegen Israel bis zum völligen Stillstand. Ägypten gewann den Sinai zurück und erkannte Israel 1979 an.

Seitdem hat sich ein Muster herausgebildet: Israel, unterstützt von den USA und seinen europäischen Verbündeten, besetzt Palästina; die arabischen Staaten protestieren, tun aber nichts; und die Palästinenser:innen erheben sich in regelmäßigen Abständen, um ihre Marginalisierung anzufechten.

Die erste Intifada von 1987 – 1993 führte zu den Osloer Verträgen, mit denen die Palästinensische Nationalbehörde (PNA) zur Verwaltung des Westjordanlands und des Gazastreifens gegründet wurde. Die Abkommen sahen eine Zwei-Staaten-Lösung für den arabisch-israelischen Konflikt in Palästina vor, aber Israel stimmte weder dieser Lösung noch einer Teilung zu, mit der die Palästinenser:innen leben könnten.

Die Zweite Intifada von 2000 – 2005 zwang Israel zum „Rückzug“ aus dem Gazastreifen, indem es seine Truppen abzog und die israelischen Siedlungen dort auflöste. Bei den palästinensischen Parlamentswahlen 2006 traten die im Westjordanland ansässige Fatah und die im Gazastreifen ansässige Hamas gegeneinander an. Die Hamas gewann eine Mehrheit, was die Fatah zur Spaltung der PNA veranlasste. Nach einem kurzen Bürgerkrieg festigte die Fatah ihre Position im Westjordanland, während die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm.

Israelische Expansion

Israel unterdrückt die Palästinenser:innen in allen drei Sektoren seiner Apartheidbesatzung: im Westjordanland, im Gazastreifen und in Israel selbst.

Seit 2007 hat sich Israel im Westjordanland und auf den Golanhöhen weiter ausgebreitet. 450.000 israelische Siedler:innen sind in das Westjordanland (außer Ostjerusalem), 220.000 in Ostjerusalem und 25.000 in die Golanhöhen gezogen. Die Siedler:innen sind eine bewaffnete paramilitärische Kraft. Unterstützt von der israelischen Armee mit Begünstigung durch die Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde terrorisieren sie ihre palästinensischen Nachbar:innen und rauben ihnen ihr Land.

Im Gazastreifen gibt es keine Siedler:innen, aber Israel kontrolliert den Luftraum, die Küste und sechs der sieben Landübergänge des Gebiets. Es kontrolliert die Wasserversorgung, die Elektrizität und die Telekommunikation in Gaza. Das israelische Militär hält innerhalb des Gazastreifens eine No-go-Zone aufrecht und betritt das Gebiet nach Belieben. Israel führte 2008 – 2009 und 2014 große Kriege gegen den Gazastreifen und griff gewaltlose Demonstrant:innen während des Großen Marsches der Rückkehr 2018 – 2019 an.

Israel behauptet, eine Demokratie zu sein, aber es verweigert nicht nur den 5,5 Millionen Palästinenser:innen, die im Westjordanland und im Gazastreifen leben, und einer ähnlichen Anzahl, die als Flüchtlinge außerhalb Palästinas leben, demokratische Rechte, sondern auch den 2,1 Millionen Palästinenser:innen, die in Israel leben. Juden und Jüdinnen, die irgendwo auf der Welt leben, können nach Israel ziehen und die volle Staatsbürger:innenschaft erlangen. Palästinenser:innen, deren Familien schon lange vor der Existenz Israels in Palästina gelebt haben, können niemals die volle Staatsbürger:innenschaft erlangen. Sie werden systematisch diskriminiert, wirtschaftlich und politisch ausgegrenzt und als Feind:innen behandelt.

7. Oktober

Seit den Camp-David-Vereinbarungen von 1978 haben die USA versucht, die Regierungen der arabischen Staaten dazu zu bewegen, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren, trotz der Behandlung der Palästinenser:innen durch Israel und des Hasses, den dies in der arabischen Bevölkerung hervorruft. Im Jahr 2020 vermittelten die USA Abkommen, die die Beziehungen Israels zu Bahrain, Marokko, Sudan und den Vereinigten Arabischen Emiraten normalisierten. Saudi-Arabien nahm Gespräche auf, um das Gleiche zu tun.

Der Anschlag vom 7. Oktober ließ die israelischen und imperialistischen Pläne platzen. Nach einem Jahr sorgfältiger Planung, die von den israelischen Sicherheitskräften unterschätzt wurde, überrannten palästinensische Kämpfer:innen unter Führung der Hamas die israelische Grenzverteidigung und griffen Dutzende von militärischen sowie einige zivile Ziele an. Sie nahmen Hunderte von Geiseln, bevor sie über die Grenze zurückgedrängt wurden.

Die Misshandlung, Folter und Tötung von unbewaffneten Zivilist:innen, insbesondere jenen, die nicht im wehrfähigen Alter sind, muss ohne Umschweife verurteilt werden, auch wenn wir anerkennen, dass dies zum Teil Ausdruck der Wut der Palästinenser:innen über die israelischen Massaker und die Enteignung ihres Volkes war. Es spielte der zionistischen Propagandamaschinerie in die Hände, die Palästinenser:innen zu entmenschlichen und ihre eigenen Kriegsverbrechen zu „rechtfertigen“, die ein größeres Ausmaß annehmen als die der Hamas oder der anderen Widerstandskräfte. Der größte Teil der Operation war jedoch militärisch legitim.

Der Angriff stoppte den von den USA geförderten Prozess der „Normalisierung“ der Beziehungen Israels zu arabischen und muslimischen Staaten, enthüllte den zugrundeliegenden Siedlerkolonialkrieg Israels gegen das palästinensische Volk und brachte Palästina wieder auf die Tagesordnung der Weltöffentlichkeit.

In den darauffolgenden Wochen hat Israel einen völkermörderischen Krieg gegen den Gazastreifen begonnen. Das israelische Militär hat Häuser, Krankenhäuser, Schulen und Gemeindezentren bombardiert und dabei ein Vielfaches der Zahl der Opfer des Angriffs vom 7. Oktober getötet. Die Hälfte der Opfer waren Kinder, ein weitaus größerer Anteil als bei dem Angriff am 7. Oktober. Das israelische Militär stimmte einem kurzen Waffenstillstand zu, um Gefangene auszutauschen, und hat danach seinen völkermörderischen Angriff wieder aufgenommen, der die 2,3 Millionen Einwohner:innen in einen immer kleiner werdenden Winkel des Gazastreifens drängt und eine neue Nakba androht.

Solidarität

Die Kühnheit des palästinensischen Widerstands und die Grausamkeit des israelischen Gegenangriffs haben die weltweite Palästina-Solidaritätsbewegung wieder in Gang gebracht. Überall in der arabischen Welt, aber auch in Europa, den USA und anderswo kam es zu großen Demonstrationen. Die Solidaritätsbewegung war durch die langsame Strangulierung Palästinas und die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und vier weiteren arabischen Staaten eingeschläfert worden. Der 7. Oktober hat die Bewegung wieder zum Leben erweckt.

Revolutionäre Marxist:innen sollten sich an Solidaritätsaktionen aller Art beteiligen. Ein Waffenstillstand in Gaza und der Rückzug der israelischen Verteidigungskräfte (IDF), um den Völkermord zu stoppen, ist die dringendste Priorität, aber die Solidaritätsbewegung sollte auch humanitäre Hilfe für Gaza, die Eindämmung der israelischen Siedler:innen im Westjordanland, den Schutz der Rechte der israelischen Araber:innen und der antizionistischen Juden und Jüdinnen in Israel, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge und den Abbruch der militärischen Beziehungen zu Israel fordern.

Zu den laufenden Aktionen gehören bereits Demonstrationen, ziviler Ungehorsam, öffentliche Veranstaltungen, Medienpräsenz und Kampagnen für Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel. Gewerkschaften und andere Organisationen nehmen Entschließungen an, in denen sie einen Waffenstillstand und die Einstellung der Militärhilfe fordern. An einigen Orten folgen die Beschäftigten dem Aufruf der Palestinian General Federation of Trade Unions (PGFTU), die Produktion und Lieferung von Waffen an Israel zu unterbrechen.

Perspektive

Revolutionäre Marxist:innen sollten sich zwar an Solidaritätsaktionen beteiligen, wo immer wir können, aber unsere einzigartige Aufgabe besteht darin, das Verständnis der Arbeiter:innenklasse für die Krise und die Lösung zu fördern.

Dies beginnt damit, die Wahrheit auszusprechen. Ein Waffenstillstand in Gaza ist notwendig, aber nicht ausreichend, da die Zionist:innen ihre Kampagne zur Vertreibung der Nicht-Jüd:innen aus Palästina fortsetzen werden. Eine Verhandlungslösung ist unmöglich, da Israel nicht genug Land für einen lebensfähigen palästinensischen Staat abtreten wird, und es wird die zionistische Vorherrschaft nicht für eine säkulare Demokratie in einem binationalen Staat aufgeben. Der US-amerikanische und der europäische Imperialismus werden Israel weder zu einer Zwei-Staaten- noch zu einer Ein-Staaten-Lösung zwingen, da sie es brauchen, um ihre Vorherrschaft in der Region zu sichern.

Der Kapitalismus bietet keine Lösung für Palästina. Die Alternativen sind entweder die Abschlachtung und Enteignung der Palästinenser:innen oder das Eingreifen der Arbeiter:innenklasse in die Geschichte.

Die Arbeiter:innen in Israel könnten die israelische Gesellschaft zum Stillstand bringen, die Armee spalten und die Zionist:innen daran hindern, ihre Atomwaffen einzusetzen. Aber im Moment ist die große Mehrheit der israelischen Arbeiter:innenklasse dem Zionismus ergeben und hält Ausbeutung mit zionistischer Vorherrschaft für besser als Ausbeutung ohne zionistische Vorherrschaft, eine alte Geschichte in Siedlerkolonialstaaten. Nur die Aussicht auf ein demokratisches, säkulares, sozialistisches Palästina könnte ihnen einen Grund geben, mit ihren herrschenden Klasse zu brechen.

Die Lohnabhängigen in den USA und Europa könnten Israel die wirtschaftliche und militärische Unterstützung entziehen, die es braucht, um seine völkermörderische Politik fortzusetzen. Die Sympathie für die Palästinenser:innen wächst, da sie nicht nur leiden, sondern auch Widerstand leisten. Sie könnte das Ausmaß der Opposition gegen den Vietnamkrieg Ende der 1960er Jahre erreichen, die eine Fortsetzung des Krieges unmöglich machte. Revolutionäre Marxist:innen und andere Aktivist:innen der Palästina-Solidarität – einschließlich Zehntausender antizionistischer Juden/Jüdinnen und Zehntausender Gewerkschafter:innen – sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, damit dies geschieht.

Die Arbeiter:innen in den arabischen Ländern könnten ihre kollaborierenden Regierungen stürzen, die US-amerikanischen und europäischen Imperialist:innen zwingen, Israel aufzugeben, und der israelischen Arbeiter:innenklasse die Aussicht auf eine säkulare, demokratische Zukunft frei von kapitalistischer Herrschaft und endlosem Krieg bieten. Der Arabische Frühling hat das Potenzial gezeigt.

Wir können nicht wissen, wie die Ungerechtigkeit der zionistischen Herrschaft über Palästina enden wird, oder ob sie überhaupt endet, bevor der Kapitalismus die Welt in eine ökologische Katastrophe oder einen Atomkrieg stürzt. Was wir tun können, ist, ein Aktionsprogramm vorzuschlagen und dafür zu kämpfen, das von unmittelbaren Forderungen ausgeht und in der einzigen wirklichen Lösung gipfelt: der Arbeiter:innenrevolution in der gesamten Region. Hier ist unser Vorschlag:

  • Beendet den völkermörderischen Angriff auf Gaza. Waffenstillstand jetzt. Abzug der israelischen Truppen. Beendet die Blockade. Öffnet die Grenzübergänge.

  • Wiederaufbau der zerstörten Häuser, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Infrastruktur von Gaza auf Kosten Israels und seiner imperialistischen Unterstützer:innen.

  • Beendigung der zionistischen Besetzung des Westjordanlandes. Abzug des israelischen Militärs und der Siedler:innen.

  • Freilassung aller palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen. Volle Gleichberechtigung für Palästinenser:innen im israelischen Staat.

  • Beendigung der US-amerikanischen und anderen imperialistischen Hilfe und Waffenlieferungen an Israel. Unterstützung von Boykott, Desinvestition und Sanktionen (BDS) gegen Israel.

  • Solidarität mit dem palästinensischen und arabischen Volk. Kein Frieden mit Zionismus und Imperialismus.

  • Für die revolutionäre Überwindung des zionistischen Staates. Für ein säkulares, demokratisches, sozialistisches Palästina.

  • Für das Recht auf Rückkehr aller palästinensischen Flüchtlinge. Gleiche Rechte für die arabische Mehrheit und die jüdische Minderheit in Palästina.

  • Nieder mit den arabischen Kapitalist:innen, Grundbesitzer:innen, Monarchien und Staaten, den Agent:innen des Imperialismus. Für die revolutionäre Einheit des arabischen Volkes.

  • Für die Arbeiter:innenrevolution im Nahen Osten und in Nordafrika. Für eine sozialistische Föderation in der Region.



Die „Feuerpause“ bei der Bombardierung Gazas

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1237, 25. November 2023

Am 24. November trat eine viertägige Waffenruhe für Israels Land-, See- und Luftangriffe auf die Bevölkerung des Gazastreifens in Kraft, die eventuell bis zu zehn Tage verlängert werden kann. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat jedoch darauf bestanden, dass es keine dauerhafte Waffenruhe oder einen Waffenstillstand geben wird, solange die Hamas nicht vernichtet ist, koste es die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen, was es wolle. Die Zahl der Todesopfer hat bereits 14.000 überschritten und ist damit mehr als zehnmal so hoch wie die Zahl der 1.200 Israelis, die bei den Hamas-Angriffen am 7. Oktober getötet wurden.

Beim Austausch von Gefangenen sollen die Hamas und der Islamische Dschihad 50 israelische Geiseln und Israel 150 palästinensische Gefangene freilassen, die meisten davon Jugendliche unter 18 Jahren und Frauen. Im Gegenzug für weitere Geiselfreilassungen könnte es zu weiteren Verlängerungen kommen. Für die Dauer der „Pause“ werden größere Mengen an Lebensmitteln, Wasser, Treibstoff und medizinischen Gütern durch die israelische Blockade gelassen.

Hintergrund

Unmittelbarer Hintergrund sind die schrecklichen Angriffe der israelischen Verteidigungskräfte (IDF) auf Krankenhäuser und UNRWA-Schulen (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), in die sich Familien geflüchtet hatten. Insbesondere der Befehl des Kriegsverbrecherkabinetts Netanjahu an die IDF, in das al-Shifa-Krankenhaus einzumarschieren und alle Patient:innen, Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen sowie viele Hunderte von Menschen zu vertreiben, die hofften, dort vor der Grausamkeit der IDF sicher zu sein. Hinzu kommt das peinliche Versäumnis, die „Hamas-Kommandozentrale“ zu entdecken, von der Netanjahu behauptete, sie befände sich unter dem Gelände.

In den westlichen imperialistischen Ländern Nordamerikas und Europas, deren Regierungen die Augen vor diesen völkermörderischen Aktionen verschlossen haben, haben die Massendemonstrationen jede Woche zugenommen, trotz der Drohungen von Minister:innen und Polizeikräften, diese überwältigend friedlichen Proteste zu verbieten, indem sie sie als Unterstützung für den „Terrorismus“ und wahrscheinlich zu antisemitischen Ausschreitungen führend verleumden.

In Großbritannien haben beide großen Parteien Abgeordnete und Ratsmitglieder suspendiert oder ausgeschlossen, die es gewagt hatten, sich für Palästina einzusetzen, und das US-Repräsentantenhaus hat sein einziges Mitglied mit palästinensischem Wurzeln verurteilt. In Deutschland und Frankreich wurden Demonstrationen verboten und Hunderte festgenommen. Palästinensische Organisationen wurden verboten und Aktivist:innen kriminalisiert. Trotz dieser Verleumdungen, Lügen und Repressionen sind Hunderttausende in London und Washington und Zehntausende in Paris und Berlin auf die Straße gegangen. In den arabischen Ländern und generell in der halbkolonialen Welt hat die große Mehrheit der Bevölkerung die israelischen Angriffe von Anfang an abgelehnt.

Doch die Gräueltaten Israels, die dank des Mutes einfacher Menschen in Gaza, die Videos davon herausbringen konnten, jede Nacht zu sehen sind, haben begonnen, die „öffentliche Meinung“ auch in den meisten westlichen Ländern zu verändern und eine Massenbewegung zu fördern, die ein Ende des Tötens fordert und nicht zum Schweigen gebracht werden kann.

Die Forderung nach einem sofortigen, vollständigen und dauerhaften Waffenstillstand ist zu einer zentralen Forderung der Massendemonstrationen und der weltweiten Solidaritätsbewegung geworden.

Druck der USA

Infolgedessen sahen sich die Regierung Biden und imperialistische Verbündete wie Deutschland und Großbritannien, die alle von Anfang an ihre bedingungslose Unterstützung Israels erklärt hatten, gezwungen, das Land aufzufordern, das Ausmaß der zivilen Opfer in Grenzen zu halten und das Völkerrecht einzuhalten. Obwohl diese schwach geäußerten „Bedenken“ wochenlang auf taube Ohren stießen, verbanden die USA und die EU die Wiederaufbereitung ihrer alten „Zweistaatenlösung“ für ein Nachkriegs-Gaza und ein Westjordanland mit der Forderung nach einer „Pause“ bei den IDF-Angriffen, um die humanitäre Katastrophe zu begrenzen.

Der wahre Grund, warum die USA ihre „Friedenspropaganda“ wieder aufleben lassen, ist der Schaden, den Israels unerbittliche Grausamkeit ihren Plänen für einen von den USA dominierten Nahen Osten zugefügt hat, in dem Israel mit ihren Verbündeten wie Saudi-Arabien und Ägypten befreundet ist, sich aber gegen ihre Gegner:innen Syrien, Iran, Hisbollah, die Huthis und Hamas stellt. Trump hat dies mit den „Abraham-Abkommen“ (Friedensvertrag zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten vom September 2020) begonnen und Biden hat es fortgesetzt. Ende September behauptete sein Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan sogar, „die Region des Nahen Ostens ist heute so ruhig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr“. Die Ereignisse haben nicht nur die Torheit dieser Vorhersage bewiesen, sondern seine Behauptung, dass alles „ruhig“ sei, zeigt, was das für einen imperialistischen Satrapen bedeutet, wenn man es mit dem Bericht von Medical Aid for Palestine vom Juli vergleicht, der besagt, dass „die Zahl der Todesopfer unter den Palästinenser:innen im Westjordanland im Jahr 2023 153 erreicht hat und damit bereits das Jahr 2022 als das tödlichste für die Palästinenser:innen im Westjordanland seit Beginn der Aufzeichnungen durch die UN im Jahr 2005 übertrifft“.

Biden erklärte: „Wenn diese Krise vorbei ist, muss es eine Vision geben, was danach kommt. Und unserer Meinung nach muss es eine Zweistaatenlösung sein“. Ebenso hat Außenminister Antony Blinken erklärt, dass jeder Nachkriegsplan für den Gazastreifen eine palästinensisch geführte Regierung und seine Vereinigung mit dem Westjordanland unter der Palästinensischen Autonomiebehörde beinhalten müsse.

Hindernisse

Diese Lösungen könnten nur über auf dem Rücken einer entwaffneten und zerstückelten palästinensischen Nation und ihres Heimatlandes erreicht werden. Seit der Nakba von 1948 hat das Volk trotz der Fehler und des Verrats seiner Führungen und der korrupten Monarchien und Militärdiktaturen der arabischen Welt immer wieder bewiesen, dass es dies niemals zulassen wird.

Das andere Hindernis für Bidens Pläne – sofern sie überhaupt mehr als eine Täuschung sind – besteht darin, dass Israels Politiker:innen, ob von der zionistischen Rechten oder Linken, deutlich gemacht haben, dass es keine Chance für irgendeine Art von „Land gegen Frieden“ im Sinne von Oslo gibt. Unter Ariel Scharon und Benjamin Netanjahu wurde die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) unter Jassir Arafat um die Jahrhundertwende zunächst gedemütigt (Belagerung seines Hauptquartiers in Ramallah) und dann unter Mahmud Abbas gezwungen, eine Hilfspolizei für Israel zu werden.

In einer Instruktionssitzung nach dem 7. Oktober skizzierten die israelischen Sicherheitsministerien Optionen für eine Nachkriegslösung. Die „bevorzugte“ Lösung wäre der „Transfer“ der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens auf die Sinai-Halbinsel, während die am wenigsten wünschenswerte Lösung die Rückgabe an die PNA wäre. Unerwünscht, weil dies ihrer Meinung nach der palästinensischen Nationalbewegung einen „noch nie dagewesenen Sieg bescheren würde, einen Sieg, der Tausende von israelischen Zivilist:innen und Soldat:innen das Leben kosten und Israels Sicherheit nicht garantieren würde“.

Es liegt auf der Hand, dass die derzeitige Likud-Koalitionsregierung mit ihren rechtsextremen Minister:innen die Vollendung der Nakba, die Vertreibung der Palästinenser:innen, mit anderen Worten einen politischen Völkermord, anstrebt. Aus diesem Grund hat sie bereits vor dem 7. Oktober Dschenin (Stadt und UN-Flüchtlingslager in der Westbank) angegriffen, die Siedler:innen bewaffnet, die ethnische Säuberung im Westjordanland gefördert, palästinensische Häuser zerstört, Provokationen in Jerusalem gestartet und eine Rekordzahl unbewaffneter palästinensischer Demonstrant:innen ermordet.

Kurzum, die von israelischen Politiker:innen, ob rechts oder links, vorgeschlagenen Lösungen sehen nichts vor, was auch nur annähernd an Blinkens oder Bidens Fata Morgana eines palästinensischen Staates heranreicht.

Aber auch die israelischen Lösungen sind nicht praktikabel. Ägypten wäre niemals in der Lage, 2,3 Millionen Menschen aus dem Gazastreifen aufzunehmen, was nur als eine weitere Episode der Nakba angesehen werden könnte. El-Sisi würde nicht die Aufgabe übernehmen, Gaza zu regieren, und Mahmud Abbas (und die glücklose PNA) wären nicht in der Lage, Gaza zu regieren, indem sie als Gefängniswärter:innen im Namen Israels und des Imperialismus agieren. Die PNA wurde bereits von den reichen imperialistischen Ländern um ihr Geld gebracht, sie wird von israelischen Politiker:innen verabscheut und von den palästinensischen Massen gehasst.

Wie geht es jetzt weiter?

Die weltweite Bewegung hat die Forderung nach einem dauerhaften Waffenstillstand laut werden lassen. Natürlich würde dies eine sofortige und willkommene Atempause für die Bevölkerung bringen, aber es würde keine dauerhafte Erleichterung bringen, solange die IDF-Besatzung des nördlichen Gazastreifens anhält. Solange die Land-, See- und Luftblockade in Kraft bleibt, wird das Leiden der Bevölkerung zu einer Waffe in den Händen des Zionismus. Selbst ein formelles Abkommen oder ein Waffenstillstand würde das Leiden nur vorübergehend einfrieren, solange Israel Lebensmittel, Wasser, medizinische Versorgung und Baumaterialien für den Wiederaufbau und die Reparatur der 40 Prozent der Gebäude, die bereits in Schutt und Asche liegen, blockieren kann, während der Winter naht.

Die Bewegung auf der ganzen Welt muss durch fortgesetzte Massendemonstrationen, Boykotte und die Blockade von Militär- und Wirtschaftsexporten aus Europa und den USA den größtmöglichen Druck ausüben. Die Unterstützer:innen Palästinas müssen maximalen Druck auf die prozionistischen Führungen der reformistischen Arbeiter:innenparteien und der Gewerkschaften ausüben, damit gezwungen werden, politisch mit Israel zu brechen und diese Forderungen aufzugreifen. Sie müssen gegen die Kriminalisierung der palästinensischen Organisationen und den antimuslimischen Rassismus kämpfen. Sie müssen die Lüge entlarven, dass Antizionismus Antisemitismus sei, und deutlich machen, dass der Kampf gegen den sehr realen Anstieg des Antisemitismus durch die Rechte Hand in Hand mit der Unterstützung des palästinensischen Volkes gegen seine nationale Unterdrückung gehen muss.

In den arabischen und muslimischen Ländern brauchen wir eine Bewegung in der Größenordnung des Arabischen Frühlings, die sich gegen die Kollaborateure mit den USA richtet, um den Abbruch nicht nur jeglicher Beziehungen zu Israel, sondern auch zu seinen nordamerikanischen und europäischen Unterstützer:innen zu fordern, bis sie Israel zwingen, seine völkermörderischen Angriffe einzustellen und sich aus Gaza und dem Westjordanland zurückzuziehen.

In den Ländern, in denen sich eine Massenprotestbewegung entwickelt hat, müssen wir nicht nur für einen humanitären Waffenstillstand kämpfen, sondern für den vollständigen Rückzug der IDF, ihrer Panzer, Bulldozer und Drohnen aus dem gesamten Gebiet, dem Luftraum und den Anrainergewässern des Gazastreifens sowie für ein sofortiges Ende der brutalen, anhaltenden Unterdrückung im Westjordanland und in Jerusalem. Wir müssen auch das Ende der Blockade und die Einführung des freien Verkehrs auf dem Land-, See- und Luftweg über die Grenzen Gazas und zwischen Gaza und dem Westjordanland und Jerusalem fordern.

Seit dem 7. Oktober hat Israel 4.000 Menschen aus dem Gazastreifen und mehr als 1.000 aus dem besetzten Westjordanland festgenommen, womit sich die Gesamtzahl der Inhaftierten auf 10.000 erhöht. Wir müssen die bedingungslose Freilassung aller palästinensischen „Geiseln“ fordern, sowohl derjenigen, die von israelischen Gerichten verurteilt wurden, als auch ihrer Mehrheit, derjenigen, die ohne Gerichtsverfahren einsitzen.

Außerdem müssen wir uns jedem „Friedensprozess“ widersetzen, der nicht das Recht auf Rückkehr aller Palästinenser:innen einschließt, die seit 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden; jede Regelung muss die freie, ungezwungene und demokratische Zustimmung aller Palästinenser:innen erhalten.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen mit palästinensischer als auch israelischer Nationalität umfassen, vorausgesetzt, es gibt keine Privilegien für irgendeine. Wenn Palästina zu einem sozialistischen Staat wird, in dem das Land und die Arbeitsplätze gemeinsam genutzt werden, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter:innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört der Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben.

  • Vollständiger Waffenstillstand, Abzug aller IDF-Truppen!

  • Vollständige Beendigung der Belagerung!

  • Freiheit für Palästina!



Stoppt den Krieg gegen Gaza! Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand!

Flugblatt der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1235, 4. November 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und in Syrien. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 9.000 Menschen getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen Gazas – befindet sich auf der Flucht.

Israels Kriegsziele

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (wie Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten des Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. 

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Waffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen sie die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts an, weil sie fürchten, dass ein zu rücksichtsloses Vorgehen die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zu brechen.

Gescheiterte Strategie

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Arzach (Bergkarabach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Welche Alternative?

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre sind.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der Unterdrücker:innen anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. Das heißt aber nicht, dass wir allen Aktionen oder ihrer Führung unkritisch gebenüberstehen dürfen oder diese Kritik verschweigen sollen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Aber es greift viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Fatah vertreten letztlich reaktionäre bürgerliche Programme. Die palästinensische Linke vertritt eine Etappentheorie, der zufolge der Kampf um nationale Befreiung und der um eine sozialistische Umwälzung streng voneinander getrennt sind,

Diesem Programm stellen wir jenes der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen unterstützen. Nur auf dieser Basis lässt sich eine wirkliche Einheit palästinensischer und jüdischer Arbeiter:innen herstellen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Auslaufen oder Abflug verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen, und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbunden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder in Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina. Daher müssen wir die Lügen der Herrschenden entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Resolution zum Krieg gegen Gaza

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte International, Infomail 1235, 26. Oktober 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober droht es mit blutiger Rache. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und Syrien. In der Westbank wurden Palästinenser:innen, die sich mit Gaza solidarisieren, umgebracht – bisher über 100. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 6.000 Menschen in Gaza getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen der Gazastreifens – befindet sich auf der Flucht nach Süden. Israel hat tagelang die Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Energie unterbrochen. Die begrenzte Zahl LKWs, die den Grenzübergang Rafah passieren dürfen, ist lt. UNO total unangemessen niedrig. Die Bevölkerung Gazas wird faktisch ausgehungert und Krankenhäusern die Stromlieferung verweigert, die für Operationen an einer zunehmenden Zahl von Opfern benötigt wird. Eine humanitäre Katastrophe findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Dabei stehen wir erst am Beginn dessen, was droht. Eine Bodeninvasion der IDF steht bevor. Die israelische Regierung und der Generalstab verkündeten die größte Mobilisierung der Armee in der Geschichte des Landes. 360.000 Reservist:innen wurden einberufen. Ihre Aufgabe: Hamas vernichten, Gaza von „Terrorist:innen“ und allen, die Widerstand leisten, „säubern“. Ganzen Städten und der Infrastruktur droht Zerstörung. Hunderte Panzer und Artilleriefahrzeuge, Zehntausende Soldat:innen machen sich zum Sturm auf Gaza bereit, dessen Norden schon jetzt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Angesichts dieser nationalistischen Mobilisierung treten die Differenzen zwischen Regierung und Opposition im zionistischen Lager zurück. Der Regierung der nationalen Einheit und einem fünfköpfigen Kriegskabinett aus Vertreter:innen von Regierung und Opposition wurden weitgehend unbeschränkte Vollmachten eingeräumt.

Israels Kriegsziele und deren Widersprüche

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Diese sollen den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – mit anderen Worten der Mord an Tausenden und Abertausenden. Danach sollen die Bodentruppen folgen und der Süden des Landes „gesäubert“ werden.

Ältere Menschen und Schwerkranke werden nicht in der Lage sein zu gehen.  Die Krankenhausbehörden sagen, dass es unmöglich sein wird, ihre Patient:innen und die Opfer der anhaltenden Bombardierung über die verkraterten und durch Ruinen blockierten Straßen zu transportieren, die immer noch unter Luftangriffen stehen. Die Verdoppelung der Bevölkerungsdichte in einem Gebiet, das ohnehin schon am stärksten überbevölkert ist und in dem es weder Ersatzunterkünfte noch Wasser- oder Treibstoffvorräte gibt, ist zumindest eine kollektive Bestrafung. Wenn sie in vollem Umfang durchgeführt wird, wäre es korrekter, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten der Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. Die internationalen Unterstützer:innen Israels, allen voran die USA, Britannien und die führenden EU-Mächte, Deutschland und Frankreich, fürchten zudem, dass eine lange, extrem barbarische Kampagne gegen die Bevölkerung Gazas im gesamten Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen könnte. Sie fürchten, dass die reaktionären Verbündeten in den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfölmonarchien) ihre faktische Tolerierung der israelischen Politik der letzten Jahre nicht mehr aufrechterhalten könnten und der westliche imperialistische Einfluss weiter geschwächt werden würde.

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Extrawaffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen Biden, Scholz und die anderen Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Welt die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts ein, weil sie fürchten, dass eine zu rücksichtslose Misshandlung auch die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der ganzen palästinensischen Nation zu brechen. Nur zu gut wissen die Vertreter:innen des zionistischen Regimes und dessen imperialistischen Verbündete, dass Jahrzehnte der Repression, von Bombardements, Militäroperationen diesen nicht zu brechen vermochten, auch wenn sie die Lage der Palästinenser:innen immer mehr verschlechterten, diese immer mehr marginalisierten und die Vertreibung der Bevölkerung seit Gründung des Staates Israel fortsetzen.

Daher drängt extrem rechte Flügel der israelischen Führung auf die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, auf die „vollständige Säuberung“, auf Massenexodus – und ist dafür bereit, den Tod Tausender und Abertausender, ja ein Pogrom an der gesamten Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Die Notstandsregierung und die Armeeführung haben sich zumindest teilweise diese Rhetorik zu eigen gemacht. Sie entmenschlichen die Palästinenser:innen rassistisch als „menschliche Tiere“, die wie wilde Tiere behandelt werden müssen. Allen, die nicht flüchten, drohen sie mit „verheerenden humanitären Konsequenzen“. Gaza soll lt. Ihren Aussagen nach der Militäroperation nicht mehr wieder entstehen, wie es einmal war.

Unklar ist jedoch, wie das genau geschehen soll. Eine Bodeninvasion und ein unter Umständen langwieriger Guerillakampf gegen die von Hamas geführten Kämpfer:innen werden die kommenden Tage, Wochen, wenn nicht Monate andauern. Die israelische Regierung hat erklärt, dass sie beabsichtigt, den Gazastreifen vollständig vom übrigen Palästina abzuschneiden. Wie dieser Kampf endet, welche Seite politisch siegt und welche „Ordnung“ in Gaza errichtet, hängt natürlich auch von der Entschlossenheit des Widerstandes wie auch von der Rücksichtslosigkeit des zionistischen Angriffs ab. Geht es nach der israelischen Rechten und großen Teilen des Kabinetts, die sich auf sie stützen, so kann es dort bis zur Massenvernichtung an den Palästinenser:innen gehen. Im Moment gehen die Äußerungen der Notstandsregierung in diese Richtung, aber das darf nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine Einheitlichkeit im zionistischen Lager bezüglich der längerfristigen Kriegsziele und der zukünftigen „Neuordnung“ Gazas gibt.

Daher werden der israelischen Rechten auch Grenzen im Inneren gesetzt. Ein Flügel im zionistischen Lager will einen gewissen Restbestand der „demokratischen“ Herrschaftsform in Israel sichern (und zwar nicht nur gegenüber Netanjahu), sondern auch palästinensische Kräfte wie die Fatah und die PNA (Palästinensische Nationalbehörde) in Zukunft als ihren verlängerten Arm integrieren.

Vor allem aber drängen die internationalen Verbündeten Israels darauf, dass es zu keiner dauerhaften Besetzung Gazas kommt, dessen zukünftige Verwaltung formell von palästinensischen Kräften übernommen werden soll. Diese Bedingungen sind zugleich auch wichtig, um Saudi-Arabien, Ägypten und andere arabische Staaten als Verbündete zu halten und auch für eine etwaige Wiederaufnahme von Gesprächen am Ende der Gazaoperation mit zu gewinnen. Das setzt aber zumindest voraus, eine Scheinlösung der „Palästinafrage“ zu verkaufen, obwohl Israels unerbittlicher Ausbau der Siedlungen dies praktisch unmöglich gemacht hat.

Auswirkungen und Ursachen des Angriffs

Der Angriff der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza hat die Palästinafrage wieder ins Zentrum der Politik im Nahen Osten und auch der internationalen Politik gerückt.

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen. Die Proteste des Iran und seiner Verbündeten waren einkalkuliert vorsichtig. Weder das Regime in Teheran noch die Hisbollah hatten ein Interesse an einer wirklichen militärischen Konfrontation.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach (Arzach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Der Angriff der Hamas war sicherlich durch mehrere Faktoren motiviert und auch Resultat einer Entscheidung des militärischen Flügel gegen den politischen, der in Katar sitzt. Dieser fürchtete die absehbare vernichtende Reaktion Israels. Doch die immer größere Marginalisierung der Palästinenser:innen in der Westbank und in Gaza in den letzten Jahren stellte die Hamas wie den gesamten Widerstand auch vor die prekäre Alternative, entweder immer mehr mit dem Rücken an die Wand gedrückt zu werden oder einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu wagen, wohl wissend, dass der Zionismus in jedem Fall mit massiven Angriffen reagieren würde. Der Ausbruch war also wesentlich eine Reaktion auf die immer größere Isolierung und den drohenden Wegfall vorgeblicher Verbündeter der Palästinenser:innen wie Saudi-Arabien.

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung aus Gaza und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und Schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre ist.

Die internationale Reaktion

Die internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Hamas und auf den Krieg gegen Gaza könnten nicht unterschiedlicher ausgefallen sein. Während die USA, Britannien, Japan und die EU-Mächte Israel unterstützen, rufen die imperialistischen Rivalen Russland und China ebenso wie die meisten Staaten des globalen Südens zum Waffenstillstand und zu humanitärer Hilfe auf. Natürlich verurteilen auch sie mehr oder weniger offen Hamas und den palästinensischen Widerstand. Sie wollen zum Vorkriegszustand zurückkehren.

Natürlich hat die Politik Moskaus oder Peking nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun. Sie verfolgen nur eigene, dem Westen entgegengesetzte imperialistische Interessen und hoffen so, ihre geostrategischen Positionen zu stärken. Die verschiedenen Regionalmächte in der Region lehnen den Angriff Israels offener oder verdeckter ab, rufen zu „Mäßigung“ auf, weil sie damit sowohl eigene Interessen verfolgen, aber auch weil sie eine Destabilisierung in ihren eigenen Ländern und damit ihrer eigenen Herrschaft fürchten. Reaktionäre islamistische Regime wie der Iran oder reaktionäre islamistische Bewegungen inszenieren sich außerdem als einzig konsequente Verbündete der Palästinenser:innen. Dass dabei offen Antisemitismus propagieren, muss ebenso entlarvt werden wie ihr Versuch, von ihrer eigenen Diktatur und der Unterstützung konterrevolutionärer Regime z. B. in Syrien demagogisch abzulenken.

Doch diese vorgeblichen reaktionären „Freund:innen“ oder „Unterstützer:innen“ Palästinas dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass die Sympathie der Massen in den meisten Ländern der Welt dem palästinensischen Volk und seinem Befreiungskampf gilt. Die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und der Jugend in den halbkolonialen Ländern durchschaut sehr genau, dass die Darstellung des Krieges als eines zwischen israelischer „Demokratie“ gegen „islamistischen Terror“ seine Ursachen und seinen Charakter verschleiert, dass es sich um einen Krieg eines Unterdrückerstaates gegen die Unterdrückten handelt. Genau das wissen auch die palästinensischen und arabischen Migrant:innen in den westlichen Ländern sowie die große Mehrzahl der rassistisch unterdrückten Bevölkerung.

Daher gehen seit Wochen Massen auf die Straße, folgen dem Aufruf zu Großdemonstrationen und globalen Aktionstagen. Die Straßen im globalen Süden füllen sich – und daraus kann und soll eine internationale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina werden. Selbst in den westlichen Staaten ist die öffentliche Meinung nicht so eindeutig für Israel ausgerichtet, wie die Regierungen uns gern glauben machen möchten.

In London beteiligten sich 150.000 am 14. Oktober an einer Demonstration in Solidarität mit Palästina und 300.000 am 21. Während in Britannien das Demonstrationsrecht noch anerkannt ist, greifen andere europäische Länder wie Deutschland und, in geringerem Maße Frankreich, zu extremen rassistischen und antidemokratischen Maßnahmen, verbieten Kundgebungen in Solidarität mit Gaza regelmäßig, nehmen hunderte Menschen fest, die sich den Verboten nicht beugen wollen und kriminalisieren alle Organisationen des palästinensischen Widerstandes.

Zur Legitimierung diese Maßnahmen greifen sie auf die Lüge zurück, dass Antizionismus, ja fast jede Israelkritik antisemitisch sei. Selbst der Verweis auf die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts gilt schon als „Relativierung“ des „islamistischen Terrors“. Diese Hetze verknüpft sich mit einer dramatischen Zunahme des antimuslimischen Rassismus und soll die Bevölkerung der „demokratischen“ Staaten auf die weitere Aushebelung demokratischer Rechte vorbereiten und darauf einschwören, mit Israel auch dann solidarisch zu bleiben, wenn immer mehr Bilder über die Massaker und Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee öffentlich werden.

Der extreme Kontrast zwischen der Lage in den halbkolonialen und westlichen imperialistischen Ländern zeigt auch, was von der Behauptung zu halten ist, dass die ganze Welt hinter Israel stände. Unter der Welt werden vor allem die Länder Nordamerikas und Europas verstanden, die gerade einmal 12 % der Weltbevölkerung beheimaten – und auch dort ist die öffentliche Meinung vor allem die, die von den auf die imperialistische Staatsräson getrimmten Medien veröffentlicht wird, die sich in der Hand der westlichen Staaten oder der Monopolkonzerne im Medienbereich befinden.

Diese spiegeln vor allem die Interessen der imperialistischen Regierungen und Bourgeoisien wider. Sie können sich aber auch auf die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und der meisten reformistischen Parteien stützen – sei es die SPD in Deutschland, Labour in Britannien oder die schwindsüchtige PS in Frankreich. Auch die Mehrzahl der europäischen Linksparteien solidarisiert sich uneingeschränkt oder verdeckt mit Israel oder nimmt eine „neutrale“ Haltung im Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen ein. Dies verdeutlich einmal mehr den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Charakter dieser Parteien und bürokratisierten Gewerkschaftsapparate.

Während sie sich über den „Terror“ der Hamas empören und die Tötung unschuldiger Zivilist:innen anprangern, versichern sie den israelischen Angriffen auf Gaza ihre Unterstützung, denen Tausende unschuldige palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden. Statt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten in Gaza zu ergreifen, statt die palästinensischen und arabischen Migrant:innen gegen Rassismus und Repression zu verteidigen, unterstützen diese Berufsverräter:innen die Unterdrückung.

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit Palästina ist unmöglich ohne einen entschlossenen Kampf gegen diese chauvinistischen und proimperialistischen Irreführer:innen der Arbeiter:innenklasse. Die notwendige und berechtige Kritik an den Führungen des palästinensischen Befreiungskampfes, an Hamas, Dschihad, aber auch den militanten Kräften der Fatah, der PFLP und der DFLP hat nur dann einen revolutionären und fortschrittlichen Wert, wenn sie auf der Grundlage der Unterstützung des Befreiungskampfes formuliert wird. Ansonsten bleibt sie im gegenwärtigen Krieg bestenfalls nur eine beredte Form der Passivität oder wie bei den reformistischen Führungen eine der Unterstützung der zionistischen und imperialistischen Aggression.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten des/r Unterdrücker:in anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und durch bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei die Hamas nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie Iran, Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labour Zionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Abflug oder Auslaufen verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem Kampf gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbinden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Die Solidarität mit Palästina stellt eine Aufgabe der gesamten globalen Arbeiter:innenklasse dar. Im Krieg gegen Gaza sollten die Lohnabhängigen in allen Ländern auf die Straße gehen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und jede materielle und militärische Unterstützung Israels durch betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen stoppen.

Dabei kommt der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisation und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina, die ihren Ursprung in Nahost fand. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass selbst in den Ländern, wo eine proisraelische Stimmungslage vorherrscht, diese nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Nein zu den reaktionären Angriffen der Türkei – Solidarität mit Rojava!

Leonie Schmidt, ursprünglich veröffentlicht auf www.onesolutionrevolution.de, Infomail 1233, 13. Oktober 2023

Die Welt schaut gerade nach Israel und betrauert dabei fast ausschließlich die getöteten israelischen Zivilist:innen, während das Töten palästinensischer als Kampf gegen Terrorismus bemäntelt und damit unsichtbar wird. Doch ebenso unsichtbar bleibt eine weitere humanitäre Katastrophe: In Nordsyrien, in den Gebieten der kurdischen Selbstverwaltung Rojava (Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien), fliegt die Türkei nun seit über einer Woche Bombenangriffe, die die Infrastruktur zerstören, Menschen töten und die schwersten dieser Art seit langem sind.

Seit dem 5.10.23 wurden 47 Menschen ermordet, darunter auch neun Zivilist:Innen und zwei Kinder (Stand 11.10.23). So wurden bereits mehrere Krankenhäuser durch die Angriffe zerstört sowie ein Kraftwerk getroffen, außerdem die Wasser- und Energieversorgung, Schulen, Ölfelder, Fabriken, Waren- sowie Geflüchtetenlager und Dörfer. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Infrastruktur massiv angegriffen wird, was nach internationalem Recht ein Kriegsverbrechen darstellt. So ist in großen Teilen Rojavas nach den Angriffen die Stromversorgung eingebrochen. In vielen Fällen sollen die Luftschläge auch Menschen in Fahrzeugen und auf Motorrädern gegolten haben.

Erdogan möchte den Menschen die Lebensgrundlage rauben und er legitimiert es wie Netanjahu mit dem Kampf gegen den Terrorismus. Am 2. Oktober kam es zu einem Anschlag der PKK in Ankara und nun wird behauptet, einer der Attentäter würde aus Nordsyrien stammen, wenngleich es dafür keine Beweise gibt. Aber die braucht es für Erdogan schließlich auch nicht, da diese Behauptung seiner Ideologie und seinem rassistischen Kampf gegen die Kurd:innen entspricht. Bereits im November 2022 wurde ein Anschlag in Istanbul als Vorwand genutzt, einen zweiwöchigen Luftangriff auf die Region zu fliegen, wo ebenso Infrastruktur getroffen wurde und unter dessen Auswirkungen die Bevölkerung heute noch zu leiden hat. Seit den Angriffen gibt es nur einige Stunden am Tag Strom, Diesel ist rar und teuer geworden und auf eine neue Gasflasche zum Kochen muss man in der Regel eine Woche warten. Hinzu kommt die enorme psychische Belastung für die Bevölkerung. Drohnenangriffe sind allgegenwärtig. Und damit nicht genug: Innerhalb der Türkei wird das gerade dadurch begleitet, dass Dutzende prokurdische Aktivist:innen inhaftiert und insgesamt ein harter Kampf gegen die fortschrittlichen Bewegungen geführt wird.

Doppelmoral, so weit das Auge reicht

Erdogan sagte in einer gestrigen Ansprache an die Staatengemeinschaft, man solle sich hinsichtlich der Luftschläge gegen Gaza doch zurückhalten, denn es würde nicht den Menschenrechten entsprechen, Infrastruktur zu zerstören. Er prangerte des Weiteren das Schweigen der internationalen Staatengemeinschaft hinsichtlich dieser humanitären Katastrophe in Gaza an. Wenngleich seine Aussagen bezüglich Gazas einen wahren Kern enthalten, so ist das doch am Ende des Tages nichts weiter als dreckige Heuchelei. Scheinbar sind ihm Menschenrechte ziemlich egal, wenn es um den eigenen Dorn im Auge geht: den kurdischen Befreiungskampf.

Auch die USA und Russland nehmen die Angriffe ohne ein Augenzucken hin, denn sie sind es, die den Luftraum in Nordsyrien kontrollieren. Ohne die Zustimmung der Militärs beider wären die türkischen Angriffe nicht möglich. Jedoch gibt es aktuell das unbestätigte Gerücht, die USA hätten eine Drohne des Nato-Bündnispartners Türkei über dem Ort Tell Beydar abgeschossen. Sollten diese Meldungen zutreffen, wäre es das erste Mal, dass US-Militär ein Flugobjekt der Türkei abgeschossen hat.

Ziele der Türkei

Die Türkei verfolgt mit dem Angriff ihr eigenes Ziel, als Regionalmacht an der Neuordnung des Nahen Ostens mitzuwirken, aber auch innenpolitische Ambitionen werden vom Regime in Ankara verfolgt.

Die Türkei steckt seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Besonders die Inflation hat nach wie vor ein sehr hohes Ausmaß und die türkische Währung Lira ist weiterhin schwach. Im August lag die Teuerungsrate bei 58,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, was extrem hoch ist. Diese wird auf Arbeiter:innen und Jugendliche abgewälzt. Der Krieg in Syrien schafft eine äußere Ablenkung von den sozialen Angriffen, aber bedient auch ganz unmittelbar ökonomische Interessen:

Die „TOKI“-Häuser sollen da, wo zerstört wird, von staatlichen Bauunternehmen aufgebaut werden und die Baubranche ankurbeln (TOKI: Toplu Konut İdaresi Başkanlığı; im Jahr 1984 gegründete türkische Wohnungsbaubehörde). Außerdem will Erdogan in diesem Gebiet bis zu 2 Millionen Geflüchtete zwangsweise ansiedeln und das passt wiederum super in den Kram der EU. Siehe die aktuelle GEAS-Gesetzgebung, bei der Menschen aus vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten (z. B. Türkei, Indien oder Tunesien) so schnell wie möglich dorthin abgeschoben werden sollen. Auch für Menschen aus Staaten, auf die diese Kategorie nicht zutrifft, finden die EU-Innenminister:innen einen Weg, der an einem Asyl für diese vorbeiführt. Die Reform besagt, dass nun auch eine Abschiebung in ein „sicheres Drittland“, welches auf dem Fluchtweg passiert worden ist oder auf andere Weise mit der geflüchteten Person assoziiert wird (z. B. über entfernte Verwandtschaft), möglich sei.

Der Kampf um Befreiung ist international

Rojava muss gegen die Angriffe des türkischen Staates verteidigt werden. Der Kampf gegen die Militärmaschinerie der Türkei, gegen das PKK-Verbot in Europa, für uneingeschränkte legale Betätigung aller Befreiungsbewegungen und, wann immer möglich, das Leisten materieller Hilfe für die Verteidigung von Rojava ist aktuell notwendig und könnte den entscheidenden Unterschied ausmachen.

Gleichzeitig müssen wir auf die Doppelmoral und auf die Ähnlichkeiten der Kämpfe in Gaza und in Nordsyrien hinweisen: one struggle, one fight! Für das Recht auf nationale Selbstbestimmung!

  • Schluss mit den Angriffen auf Rojava! Solidarität mit dem kurdischen Volk!

  • Nein zu allen Abschiebungen in die Türkei! Niederschlagung aller Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen!

  • Aufhebung der sog. Antiterrorliste der EU! Weg mit dem Verbot der PKK und anderer kurdischer Vereine!



Nein zur israelischen Unterdrückung – Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand

Dave Stockton, Infomail 1233, 9. Oktober 2023

Am 7. Oktober um 6.30 Uhr Ortszeit feuerte die im Gazastreifen ansässige palästinensische Hamas ein Sperrfeuer von Raketen auf Israel ab, von denen einige das 80 Kilometer entfernte Tel Aviv erreichten. Zur gleichen Zeit überraschten Hamas-Kämpfer:innen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), durchbrachen die befestigten Linien und griffen die Siedlungen Sderot und Aschkelon an.

Israelischen Medien zufolge eröffneten die Hamas-Kräfte das Feuer auf Zivilist:innen, sowohl in den Straßen der Stadt als auch von Jeeps aus, die auf dem Lande unterwegs waren. Die Times of Israel berichtete von Schießereien rund um den Militärstützpunkt Re’im. Bilder in den sozialen Medien zeigen palästinensische Jugendliche, die um einen zerstörten israelischen Panzer herum feiern.

Ungefähr 700 Israelis wurden getötet und mehr als 2.000 verletzt. Die Hamas behauptet außerdem, Dutzende von Israelis, darunter Soldat:innen, gefangengenommen zu haben, die sie als Geiseln für die Freilassung palästinensischer Gefangener halten will. Innerhalb weniger Stunden flogen jedoch Dutzende von israelischen Kampfjets Angriffe auf militärische und zivile Ziele im Gazastreifen und töteten 200 Palästinenser:innen in einer Operation, die die IDF „Eiserne Schwerter“ nennt. Mindestens 410 Palästinenser:innen sind bisher bei israelischen Vergeltungsangriffen getötet worden.

Unmittelbare Auswirkungen

Die unmittelbaren Auswirkungen des „Ausbruchs“ der Hamas-Kräfte und das Ausmaß des Raketenbeschusses sind angesichts der strengen Belagerung des Gazastreifens und der bisherigen Wirksamkeit des israelischen Überwachungssystems bemerkenswert. Es scheint, dass der Angriff die IDF und den Sicherheitsdienst Schin Bet völlig überrumpelt hat. Zweifellos wird es zu einem massiven Angriff auf Gaza kommen, und Siedler:innen und Regierungstruppen werden wahrscheinlich in verschiedenen Teilen des Westjordanlandes brutale Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, während die Weltöffentlichkeit abgelenkt ist.

Innerhalb von fünf Stunden nach dem Ausbruch des Angriffs verkündete Premierminister Benjamin Netanjahu in einer Rundfunkansprache: „Bürger:innen Israels, wir befinden uns im Krieg und wir werden gewinnen.“ Und weiter: „Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln.“ Das Verteidigungsministerium mobilisierte am 9. Oktober 300.000 Reservist:innen, die größte Zahl in der Geschichte Israels. Weite Gebiete vom Gazastreifen bis nach Tel Aviv wurden in den Ausnahmezustand versetzt. Alle Treffen und Versammlungen wurden verboten.

Diese Maßnahmen könnten Netanjahu auch aus einer schwierigen innenpolitischen Lage heraushelfen. Das ganze Jahr über und bis weit in den September hinein protestierten wöchentlich Hunderttausende Israelis, darunter auch IDF-Reservist:innen, gegen seinen Versuch, die Befugnis des Obersten Gerichtshofs, ein Veto gegen Regierungsgesetze einzulegen, zu untergraben. Abgesehen von kleinen Kontingenten von Linken blieben diese Demonstrationen jedoch dem zionistischen Staat gegenüber entschlossen loyal, und die Reservist:innen machten deutlich, dass sie im Falle eines Krieges dienen würden.

Netanjahu war auch von der US-Regierung wegen seiner drohenden Verstöße gegen die Demokratie kritisiert worden (natürlich nur gegen israelische Bürger:innen, nicht die Palästinenser:innen). Jetzt beeilte sich Joe Biden, den „Terrorismus“ der Hamas anzuprangern und Israel zu versichern, dass es alle Hilfe bekommen wird, die es braucht. Und „natürlich“ stimmen die westlichen Verbündeten, darunter auch der deutsche Imperialismus, in den Chor der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel ein. Von der AfD über die CDU/CSU bis zur Ampel-Koalition rufen alle nach Unterstützung für den hochgerüsteten zionistischen Staat.

Freiluftgefängnis Gaza

Tatsächlich ist Israel bereits ein hochgerüsteter Staat, der keine zusätzlichen Waffen aus den USA benötigt. Die „westlichen Demokratien“ sind vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache, dass Israels Demokratie nicht einmal seinen eigenen palästinensischen Bürger:innen gleiche Rechte einräumt, geschweige denn den rechtlosen Bewohner:innen des Westjordanlandes und des Freiluft-Gefangenenlagers Gaza.

Gaza ist gerade 40 Kilometer lang und zwischen sechs und 14 Kilometer breit. Auf engstem Raum beherbergt es eine Bevölkerung von über 2 Millionen Menschen. Seine Hoch- und Krankenhäuser wurden schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt, vor allem bei den Operationen „Gegossenes Blei“ 2008/09 und „Protective Edge“ im Jahr 2014. Die Bedingungen dort sind wirklich unerträglich.

Eine Reihe brutaler Aktionen der rechtsgerichteten Regierung Netanjahu kommt einer Provokation gleich, die die Behauptung, die Israelis seien Opfer des Terrorismus – eine Behauptung, die nicht nur von der Regierung Netanjahu, sondern auch von Washington, Paris, London und Berlin aufgestellt wird –, als verachtenswerte Unwahrheit erscheinen lässt.

Die Hamas hat in den letzten Tagen auf die Übergriffe israelischer Siedler:innen auf die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem hingewiesen, die mit staatlicher Unterstützung auch an der ethnischen Säuberung Ostjerusalems von seinen palästinensischen Bewohner:innen beteiligt sind. Daher haben sie ihre Gaza-Offensive „Operation al-Aqsa-Flut“ genannt. In diesem Jahr kam es auch zu Angriffen der IDF auf das riesige Flüchtlingslager in Dschenin, bei denen Palästinenser:innen getötet, verletzt und ihre Häuser mit Bulldozern zerstört wurden.

Die intensivsten Angriffe fanden im Januar/Februar und erneut im Juni statt, bei denen Hunderte von Zivilist:innen und die Fedajin des Bataillons „Löwengrube“ getötet wurden. Auch in anderen Städten des Westjordanlands, vor allem in Nablus und Huwara, wurden Zivilist:innen und ihre jungen Verteidiger:innen getötet. Gleichzeitig haben rechtsgerichtete Siedler:innen mit Unterstützung von Regierungsstellen Dorfbewohner:innen von ihrem Land vertrieben.

All dies wird von den westlichen Medien zweifellos vergessen, die den zionistischen Staat stets als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten darstellen und Israel praktisch wie einen europäischen oder nordamerikanischen Staat behandeln. Das ist kaum verwunderlich, da es sich um einen Staat handelt, der nur im Rahmen des britischen Mandats entstehen konnte, das die zionistische Besiedlung förderte und der einheimischen palästinensischen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht verweigerte. Im Jahr 1948 unternahmen die britischen Truppen nichts, um Israels Eroberung von 78 % des Mandatsgebiets zu stoppen, indem sie mehr als die Hälfte der damaligen palästinensischen Bevölkerung vertrieben: ein Prozess, der sich nun unter Schirmherrschaft der USA durch die Eroberung des Westjordanlands und des Gazastreifens wiederholt.

Widerstandswille

Doch trotz 75 Jahren Besatzung, ethnischer Säuberung und wiederholtem Verrat durch die umliegenden arabischen Staaten haben die Palästinenser:innen den zionistischen Staat nie anerkannt oder den Kampf für die Wiederherstellung ihres Staates und die Rückkehr ihrer Flüchtlinge aufgegeben. Wie ineffektiv auch immer die von den Führungen des Widerstands verfolgten Strategien sein mögen, revolutionäre Sozialist:innen in aller Welt haben den Kampf gegen die nationale Unterdrückung stets verteidigt.

Als revolutionäre Marxist:innen haben wir immer den politischen Charakter der Hamas angeprangert, das System, mit dem sie den Gazastreifen beherrscht, ihre Unterstützung der Mullah-Diktatur im Iran oder des Erdogan-Regimes in der Türkei. Ebenso lehnen wir den willkürlichen Angriff auf Zivilist:innen ab und kritisieren die Strategie der Hamas. Aber eine Sache ist der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands gegen den Zionismus, eine andere ist die Unterstützung des zionistischen Staates gegen das palästinensische Volk und sein Recht auf Widerstand. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden.

Die vor 30 Jahren in Oslo propagierte „Zweistaatenlösung“ erweist sich immer mehr als bankrott, nicht weil die palästinensische Führung nicht kompromissbereit wäre, sondern weil die zionistische Bewegung niemals ihr Ziel aufgeben würde und wird, ganz Palästina zu erobern und das Volk seiner Heimat zu berauben. Wir weisen den Vorwurf, der Widerstand gegen einen selbsternannten Siedler- und Kolonialstaat sei eine Form des Antisemitismus, mit Verachtung zurück. Die Förderung des Gedankens, dass es einen „neuen Antisemitismus“ der extremen Linken gibt, lenkt von dem tatsächlichen Antisemitismus ab, der heute in der extremen Rechten in Europa und den USA zu beobachten ist, von denen viele Israel bedingungslos unterstützen.

Ein einziger palästinensischer Staat kann sowohl Menschen palästinensischer als auch israelischer Nationalität umfassen, vorausgesetzt, dass es keine Privilegien für beide gibt. Wenn Palästina zudem ein sozialistischer Staat wird, in dem das Land und die Ressourcen gemeinsam genutzt werden, in dem für die Bedürfnisse der Massen und nicht für den Profit der Wenigen produziert wird, kann dieses historische Unrecht überwunden werden. Es ist die Aufgabe der Arbeiter:innenklasse beider Nationen, ja der gesamten Region, dies zu erreichen. Dazu gehört ein Kampf gegen die imperialistischen Mächte, die die Region so lange geteilt und ausgebeutet haben, und für eine sozialistische Föderation in der gesamten Region. Bis dahin haben die gesamte Arbeiter:innenklasse und die fortschrittliche Bewegung der Welt die Pflicht, den Kampf der Palästinenser:innen zu unterstützen und sich mit ihnen zu solidarisieren.




NATO-Erweiterung: Auferstehung des Militarismus

Robert Teller, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Noch Ende 2019 galt die NATO dem französischen Präsidenten Macron als hirntot. Trump drohte mit der Kürzung von US-Mitteln und sogar dem Austritt aus dem Kriegsbündnis. Der Krieg in der Ukraine lässt all das in Vergessenheit geraten und wird als Gelegenheit genutzt, neue Fakten zu schaffen. Binnen kurzer Zeit wurde, wenn auch nicht ohne Friktionen, der NATO-Beitritt von Schweden und Finnland in Angriff genommen.

Bestandsaufnahme der Expansion

Dieser wurde bereits auf dem NATO-Gipfel in Madrid am 29. Juni 2022 eingeleitet. Die Verabschiedung durch die beiden Beitritts- und sämtliche NATO-Mitgliedsländer wurde im Falle Finnlands bis April 2023 abgeschlossen. Im Falle Schwedens wird eine endgültige Einigung im Herbst diesen Jahres erwartet. Die Aufnahmen markieren eine Wende nach einer jahrzehntelangen Politik zumindest formeller Unabhängigkeit von geopolitischen Machtblöcken – der NATO, dem Warschauer Pakt und von Russland und dessen Bündnispartner:innen.

Nicht zuletzt sollte die jüngste Expansion der NATO auch die politische Botschaft aussenden, dass die Zeit des Manövrierens zwischen den imperialistischen Machtblöcken in Ost und West der Vergangenheit angehört, jedes Land sich entscheiden muss, auf welcher Seite es steht. Durchkreuzt wurde dieses Verdikt durch die Türkei, die eine strategische Ambivalenz gegenüber Russland als Druckmittel einsetzen konnte, um von Schweden und Finnland das Versprechen einer verschärften Repression gegenüber der PKK-Bewegung zu erhalten. Nach ihrer Drohung, die Beitritte zu blockieren, erhält die Türkei nun zugleich Rückendeckung für ihre militärischen Ziele in Rojava und im Nordirak.

Zwar fand unter dem Deckmantel ihrer Unabhängigkeit in den beiden skandinavischen Ländern schon lange – und verstärkt nach dem Zusammenbruch der UdSSR – eine Zusammenarbeit mit der NATO statt. Im Falle Schwedens beinhaltete dies auch die Teilnahme an NATO-Manövern und die Ausrichtung von Waffensystemen auf NATO-Standards. Die „Blockfreiheit“ beruhte immer auf der zentralen Prämisse, dass einer NATO-Mitgliedschaft faktisch nichts im Wege steht. Als Nicht-NATO-Mitglied sind Finnland – und Schweden als wichtigste Truppenstellerin – zudem schon seit 2008 Teil der „Nordic Battlegroup“ der EU.

Finnland praktizierte während des Kalten Kriegs eine Art „Schweizer Modell“, das eine Eingliederung in das westliche Militärbündnis vor allem dadurch vermied, dass eine eigenständige Verteidigung gegen eine mögliche Invasion auch ohne Beteiligung verbündeter Streitkräfte als glaubhaftes Abschreckungsszenario vorbereitet wurde, was ebenso ein vergleichsweise großes Heer an Reservist:innen erforderte wie das Primat der „Landesverteidigung“ auf allen Ebenen, also die Durchdringung aller Institutionen und ihre Vorbereitung auf ihre jeweiligen Aufgaben im Kriegsfall. Der wichtige Unterschied zur Schweiz ist jedoch, dass im Falle Finnlands nur die Sowjetunion als Kontrahentin in Frage kam.

Dennoch unterwarfen sich beide Länder bis 2022 nicht der NATO-Beistandspflicht und konnten daher nicht in NATO-Operationspläne, die im Fall einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion bzw. mit Russland aktiviert werden können, eingebunden werden. Aus Sicht der NATO soll der Beitritt genau dies ermöglichen – das Schließen der nördlichen Flanke gegenüber Russland durch Einbeziehung der finnischen und schwedischen Streitkräfte. Laut Berichten wurde diese Integration auf dem jüngsten NATO-Gipfel im Juli 2023 durch Verabschiedung eines detaillierten Verteidigungsplans für Nordeuropa vollzogen, der auch die Einrichtung eines regionalen Hauptquartiers in den USA vorsieht – wie auch die Verabschiedung regionaler Verteidigungspläne und Hauptquartiere für Mittel- und Südeuropa.

Ausdehnung in Osteuropa

Militärisch wird die Neuaufnahme von Schweden und Finnland die Dominanz der NATO über die Ostsee weiter festigen, die im Falle einer größeren Konfrontation mit Russland strategisch bedeutsam wäre. Zur Vorbereitung auf ein solches Szenario dient bereits seit 2004 die „gemeinsame Luftraumüberwachung“ im Baltikum, die durch ein Rotationssystem aller NATO-Mitgliedsstaaten ein jederzeit einsatzbereites Kontingent an Abfangjägern in den baltischen Staaten in Einsatzbereitschaft hält. Insbesondere Deutschland betrachtet die Kontrolle der Seewege vom Nordatlantik über die Nordsee bis zur Ostsee als eine Kernaufgabe und hat zunehmend seine Marinekapazitäten auf dieses Einsatzgebiet ausgerichtet.

Eingeleitet wurde die Osterweiterung der NATO im Grunde schon mit der deutschen Wiedervereinigung. Am 3. Oktober 1990 wurde nicht nur die Bundesrepublik um die ehemalige DDR erweitert, sondern auch das NATO-Gebiet. Zugleich versicherten jedoch damals die westlichen Führungsmächte gegenüber der Sowjetunion, dass eine weitere Ausdehnung der Allianz nicht vorgesehen sei. Von diesen Versprechen wurde, wie vorauszusehen, nichts gehalten. Allerdings dauerte es fast ein Jahrzehnt, bis die NATO-Ausweitung 1999 mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns neuen Schwung erhielt. Dies fällt nicht zufällig mit der Rekonsolidierung des russischen Imperialismus als globalem Konkurrenten unter Putin zusammen und seiner klaren Bestimmung als strategischen Gegner der USA, während die europäischen führenden Mächte damals eine andere Strategie verfolgten.

Unter dem Schlagwort der „Open Door Policy“ wurde die Aufnahme weiterer Staaten ins Auge gefasst. Insgesamt wurden zwischen 1999 und 2020 14 Länder Osteuropas als Neumitglieder aufgenommen, darunter 9 ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts, vier Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Slowenien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien) sowie Albanien. Zu deren Integration in die NATO gehört auch die permanente Stationierung von NATO-Bataillonen in Osteuropa, die seit 2016 umgesetzt wird. Auf dem NATO-Gipfel 2022 wurde deren deutliche Aufstockung beschlossen. Deutschland hat im Juni 2023 zugesagt, für dieses Vorhaben 4.000 Soldat:innen samt Ausrüstung dauerhaft in Litauen zu stationieren. Zur Zeit sind rund 40.000 NATO-Truppen in Osteuropa stationiert.

Aufrüstung im Pazifikraum

Auch wenn die aktuellen Diskussionen sich auf den Ukrainekrieg konzentrieren, ist der geopolitische Einfluss im „Indopazifik“ – kurz gesagt im Umkreis von China – ein strategisches Kernanliegen der USA und zentral im übergeordneten imperialistischen Hauptkonflikt zwischen den ihnen und China. Im NATO-Strategiedokument von 2022 schlägt sich dies auch in der Formulierung nieder, dass „Entwicklungen im Indopazifik die euro-atlantische Sicherheit direkt beeinflussen“ und daher die NATO ein Interesse an dieser Region habe.

Seit 2022 nehmen Japan, Australien und Südkorea mit ihren Delegationen an NATO-Gipfeln teil. Die USA haben Anfang 2023 die Zustimmung der philippinischen Regierung (auf Grundlage eines schon seit 2014 bestehenden Abkommens) zur Einrichtung von vier neuen Militärstützpunkten erreicht, die einen direkten Zugang zu dem Teil des Westpazifiks ermöglichen, der neben China (dort unter der Bezeichnung „South China Sea“) auch von Vietnam („Östliches Meer“), den Philippinen („West Philippine Sea“) und teils von Indonesien („North Natuna Sea“ nach dem zu Indonesien gehörenden Natuna-Archipel) beansprucht wird und letztlich im Zentrum der „Indopazifik“-Debatten steht. Auch Joe Bidens Staatsbesuch in Vietnam Mitte September 2023 unterstreicht das Interesse des US-Imperialismus, sich in der Region zu verankern.

Gemeinsame Manöver von US-Streitkräften mit Australien, Japan und den Philippinen fanden zuletzt im August 2023 im Westpazifik statt. Unabhängig davon laufen seit 2009 jährliche Übungen der US- und indonesischen Streitkräfte, an denen sich in den vergangenen beiden Jahren auch das Vereinigte Königreich, Frankreich, Japan, Singapur und Australien beteiligten. All das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch enge US-Verbündete wie Japan, Südkorea und Singapur enge wirtschaftliche Beziehungen zu China pflegen und nicht bereit sind, sich in eine einseitige Abhängigkeit zu begeben.

Geschichte der NATO

All dies verdeutlicht, wie sehr sich die NATO seit dem Kalten Krieg verändert hat. Allerdings gibt es keinen Grund, dabei ihre Vergangenheit zu verklären. Seit ihrer Gründung 1949 bildet sie eine Allianz der mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt, verpflichtet zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer Hegemonie.

Zur Zeit ihrer Gründung bedeutete dies die konterrevolutionäre Stabilisierung einer Nachkriegsordnung vor allem in Europa – also die Wiedererrichtung der bürgerlichen Nationalstaaten. Diese sollten sowohl über den kapitalistischen Weltmarkt als auch über politische und militärische Allianzen in einen globalen Einflussraum unter Führung der USA eingebunden werden.

Vor allem erforderte dies die Entwaffnung der Arbeiter:innenklasse, die den wichtigsten Beitrag zum Sieg über den Faschismus geleistet hatte. Diese angestrebte Nachkriegsordnung wurde ideologisch verklärt zum Reich der selbstbestimmten demokratischen Nationen. Dies war jedoch immer ein Hohn, wie schon ein Blick auf die Gründungsmitglieder zeigt, zu denen auch solch demokratische Musterschüler wie der „Estado Novo“ – das Portugal unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar – oder Kolonialreiche wie Frankreich gehörten. Die Botschaft an den Rest der Welt war, dass ein Land, sofern es sich für die „richtige“ Seite entschieden hatte, auf die wirtschaftliche und militärische Unterstützung der USA hoffen konnte.

Auch wenn die Sowjetunion der Hauptgegner des imperialistischen Projekts werden musste, konnte die konterrevolutionäre Stabilisierung nicht ohne Mithilfe der stalinistischen Bürokratie erzielt werden. Die Aufteilung Osteuropas – wie unter den Siegermächten vereinbart – setzte voraus, dass die mit der UdSSR verbündeten stalinistischen Parteien ihre Aktivitäten und Programmatik so anpassten, dass sie mit den außenpolitischen Zielen der Kreml-Bürokratie verträglich waren, also der Kampf für proletarische Revolution und gegen die imperialistische Militärmaschinerie in der westlichen Sphäre „nicht länger auf der Tagesordnung“ stand. Die NATO indes machte durch die Aufnahme der BRD, ihre Wiederbewaffnung und die Stationierung von US-Atomwaffen auf ihrem Territorium den Krieg gegen die Sowjetunion in Mitteleuropa zu dem realistischen Bedrohungsszenario, das sie zur „Eindämmung des Kommunismus“ für geboten hielt.

Veränderte Doktrin nach Kaltem Krieg

Das Selbstverständnis der NATO als „Verteidigungsbündnis“ war schon immer eine Lüge, die über ihren eigentlichen Zweck – die Durchsetzung und Absicherung imperialistischer Hegemonie – hinwegtäuscht. Der Wegfall des Hautgegners durch den Zusammenbruch der Sowjetunion war daher zwar Anlass für allerlei chauvinistischen, bürgerlich-demokratischen Siegestaumel, nicht aber für eine Auflösung der NATO. Sie wurde vielmehr neu ausgerichtet für eine Welt, in der kein kohärenter Machtblock mehr der Durchsetzung ihrer Ziele im Weg steht. Vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege und der Bürger:innenkriege in der ehemaligen sowjetischen Peripherie rückte nun die Fähigkeit zu schnellen globalen, auch präventiven Militärinterventionen in den Fokus. Der NATO-Gipfel in Madrid 1997 erklärte solche Einsätze auch ohne UNO-Mandat für legitim und dehnte den möglichen Einsatz von Atomwaffen weit über die Abschreckungsdoktrin des Kalten Kriegs aus. Von der Eindämmung Russlands ist die NATO hingegen nie abgekommen – sie wurde lediglich verkauft als Verwirklichung neu erlangter Souveränität der neu aufgenommenen Staaten.

Vor dem Hintergrund der neuen Doktrin folgte der Angriff auf Afghanistan (2001) und den Irak (2003). Die 2000er Jahre zeigten auch die Spaltungstendenzen innerhalb der Allianz durch Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs, die sich am deutlichsten in einer (wenn auch inkonsequenten) deutschen Opposition zur Irakinvasion ausdrückten, eine eigenständigere europäische Bündnisformation zu etablieren. Kernfrage dieser Spaltungslinie war, ob der deutsche und französische Imperialismus als eigenständiger Block einen gleichberechtigten Platz neben den USA beanspruchen kann.

Eng damit verbunden war die Idee, Russland einen Platz in der zweiten Reihe der imperialistischen Mächte zuzugestehen, es in eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ einzubinden (also sein militärisches Drohpotenzial zu neutralisieren) und zugleich dem deutschen Imperialismus einen verlässlichen Konkurrenzvorteil durch stetig verfügbare fossile Energie zu Preisen unter Weltmarktniveau zu verschaffen. In dieser Frage war auch die deutsche Bourgeoisie bis zuletzt gespalten. Erst die russische Invasion der Ukraine vermochte es, in hier Klarheit zu schaffen und zugleich Schröder und Merkel – unbestritten verdiente Veteran:innen der deutschen Sache – als „bei Lichte betrachtet“ geblendete Naivlinge, weil Putinversteher:innen, zu entlarven. Erwähnt sei noch, dass eines der wichtigsten „Friedensargumente“ der reformistischen Linken – die Kritik, NATO bzw. Regierung seien nicht „ernsthaft“ genug auf die russischen Sicherheitsanliegen eingegangen – im Wesentlichen eine Verteidigung des deutschen Imperialismus von gestern gegen den von heute liefert.

NATO-Doktrin 2022

Die 2022 neu gefasste NATO-Doktrin beschreibt Russland als militärische Hauptbedrohung, die den Aufbau eines neuen, „glaubhaften“ Abschreckungspotentials erfordert. China wird vor allem durch seine Wirtschaftsmacht und seinen Griff nach strategischen Rohstoffvorkommen als Hauptfeind für NATO-Interessen ausgemacht. Dem Land werden aber auch explizit „böswillige“ und „undurchsichtige“ Absichten unterstellt, die die „regelbasierte internationale Ordnung“ untergraben würden. Erklärtes Ziel der NATO-Doktrin ist die Vorbereitung auf einen „High Intensity“-Krieg gegen „nuklear bewaffnete Konkurrent:innen“, also Russland und China.

Schon in den 2000er Jahren hatte die NATO gemäß ihrer globalen Strategie eine sog. „schnelle Eingreiftruppe“ (NRF) geschaffen. Diese umfasste zu Beginn des Ukraine-Krieges rund 40.000 Soldat:innen, die innerhalb kurzer Zeit einsetzbar sein sollten. Dies entsprach der Doktrin, die Interessen der NATO-Mitglieder auch außerhalb des Bündnisgebietes rasch umsetzen zu können, vorzugsweise als Ordungsmacht in halb-kolonialen Ländern.

Mit der zunehmenden Konfrontation mit Russland und seit dem Ukraine-Kriegs veränderte sich die Lage. So schlug NATO-Generalsekretär Stoltenberg im Sommer 2022 auf dem Gipfel von Madrid vor, die NRF massiv auszubauen. Sie soll auf mindestens 300.000 vergrößert werden, also fast verzehnfacht. Außerdem geht es bei den meisten dieser Truppen nicht um den Einsatz irgendwo auf der Welt, sondern vor allem gegen den altem und neuen Hauptfeind Russland. So sollen z. B. Teile der deutschen Kontingente der Eingreiftruppe gemäß dem sog. New Force Modell in Deutschland stationiert bleiben, aber ständig bestimmten Ländern oder Territorien als Einsatzgebiet zugeordnet sein.

Mit der Umstellung geht auch eine massive Ausweitung der Verteidigungsbudgets auf allen Ebenen einher. Die 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr sind hier sicher nur ein erster Teil, die Armee, Verteidigungspolitiker:innen und Expert:innen trommeln längst für mehr.

Ausweitung und Planung

Schließlich umfassten die Ausweitung und das Testfeld Ukraine nicht nur einen massiven Export, sondern auch eine Erneuerung der Waffenbestände der NATO-Armeen weltweit. In Europa werden neue Systeme angeschafft. Die Armeen werden – anders als noch vor einigen Jahren, wo sie auf einen Kernbestand an rasch einsatzfähigen, kleinen Interventionstruppen konzentriert werden sollten – wieder zu großen Streitkräften, die gegen eine imperialistische Macht im Landkrieg siegen können. Daher auch wieder neue Kampfpanzer, schweres Gerät, moderne Luftwaffen usw.

Schließlich bedeutet das auch, dass die Bundeswehr und andere NATO-Armeen nicht nur andere, sondern auch mehr Soldat:innen brauchen. Der Beruf soll daher attraktiver, die Werbung an Schulen verbessert werden. Hilft das alles nichts (was durchaus sein kann), steht früher oder später die Wiedereinführung der Wehrpflicht, der „Schule der Nation“ ins Haus.

Wie bekämpfen?

Eine Haltung zur imperialistischen Kriegsmaschinerie einzunehmen, bedeutet in erster Linie, sich zu deren Zielen, zu den Interessen des eigenen Imperialismus überhaupt zu positionieren, also eine Klassenposition zum imperialistischen Staat einzunehmen. Als Revolutionär:innen lehnen wir nicht nur die gewaltsamen Mittel ab, mit denen imperialistische Staaten ihre Einflussräume erobern und verteidigen – sondern bereits ihren Anspruch, die Welt in Sphären ökonomischer, politischer und militärischer Kontrolle unter sich aufzuteilen, selbst wenn dies am Verhandlungstisch geschieht.

Andererseits erkennen wir das Recht halbkolonialer Länder an, sich gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen. Das entscheidende Moment bilden dabei der Klassencharakter der kämpfenden Kriegsparteien und die Klasseninteressen, die sie wirklich verfolgen. Die entscheidende Aufgabe einer Antikriegsbewegung liegt darin, eine Bewegung aufzubauen und eine soziale Basis zu gewinnen, die die militärischen Pläne der Imperialist:innen tatsächlich durchkreuzen können, statt sie nur moralisch zu kritisieren. Und das heißt vor allem, eine Bewegung der Arbeiter:innenklasse aufzubauen, die auch in den Betrieben gegen die Kriegstreiber:innen vorgehen kann. Das bedeutet auch antimilitaristische Arbeit in der Armee und unter einfachen Soldat:innen.

Der revolutionäre Antimilitarismus unterscheidet sich dabei grundsätzlich vom kleinbürgerlichen Pazifismus der „alten“ Friedensbewegung, die unbestritten auf eine lange Geschichte des Protests gegen Aufrüstung und Kriegseinsätze zurückblickt. Der Krieg, der sich nun vor unseren Augen abspielt, lässt sie jedoch ratlos zurück. Als Beispiel hierfür kann ein Redebeitrag von Gerhard Trabert zum Antikriegstag in Stuttgart genannt werden, der von DIE LINKE anschließend veröffentlich wurde. Er gesteht gleich zu Beginn zu, dass mehr Militärausgaben „eventuell notwendig“ seien, um „sich gegenüber Diktatoren und Despoten wehren zu können und Demokratien zu verteidigen“. Ob dies eine Zustimmung zum 100-Milliarden-Programm und zur Aufrüstung der NATO-Ostflanke ist, bleibt bewusst im Unklaren, denn der Rest des Beitrags ist eine Predigt für die christliche „Feindesliebe“.

In der Rivalität verschiedener imperialistischer Mächte oder Blöcke ergreifen wir keine Seite. Dieser revolutionäre Defätismus entbindet uns jedoch nicht von der Pflicht, die von imperialistischen Mächten angegriffenen Nationen zu verteidigen. Während wir im gegenwärtigen Krieg das Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer:innen gegen den russischen imperialistischen Überfall anerkennen (und somit auch ihr Recht, sich die Mittel zur Verteidigung zu beschaffen), lehnen wir jede Unterstützung der Politik und der Kriegsziele Deutschlands und der NATO kategorisch ab.

Letztere Position wiederum hindert uns nicht daran, innerhalb der Ukraine die Politik der Selenskyj-Regierung zu bekämpfen, die bereit ist, die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine den Kriegszielen der westlichen „Partner:innen“ unterzuordnen. Es hindert uns auch nicht daran, die nationalen und demokratischen Rechte der russischsprachigen Bevölkerung, einschließlich etwa des Rechts auf Lostrennung für die Krim, auf die Tagesordnung zu setzen. Deren Verwirklichung stehen jedoch vor allem die Interventionen beider imperialistischen Machtblöcke im Weg.

Wir bekämpfen jede Aufrüstung von Bundeswehr und NATO, wie wir auch grundsätzlich jedes Militärbudget dieser Staaten und ihrer Bündnisformationen ablehnen. Angesichts der engen Verknüpfung der NATO-Expansions- und Aufrüstungspläne mit der militärischen Unterstützung der Ukraine (etwa in Form von „Ringtausch“-Programmen) lehnen wir auch die Forderung nach Waffenlieferungen des NATO-Lagers an die Ukraine und jede Zustimmung zu diesen in den Parlamenten ab. Aus dem gleichen Grund lehnen wir auch alle Formen von Wirtschafts- und Handelssanktionen der imperialistischen Staaten ab. Jede Unterstützung ihrer „Verteidigungs-“ und iMilitärausgaben würde letztlich einer politischen Unterstützung des deutschen Imperialismus gleichkommen. Denn im Kampf um die Neuaufteilung der Welt stellt dieser für die Arbeiter:innenklasse in Deutschland den Hauptfeind dar.




Bergkarabach: Nein zur Vertreibung der Armenier:innen!

Lina Lorenz, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Vor den Augen der Weltöffentlichkeit eroberte Aserbaidschan innerhalb weniger Wochen die seit Jahren umkämpfte armenische Enklave Bergkarabach im Südkaukasus. Damit endet ein seit Jahrzehnten andauernder Konflikt zwischen den beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan mit einer blutigen Niederlage der Armenier:innen.

Innerhalb von nur zwei Wochen besiegte Aserbaidschan die Truppen der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Arzach, die 1994, nach dem ersten Krieg, von den armenischen Bewohner:innen Bergkarabachs proklamiert worden war.

Angriff und Eroberung

Am 19. September startete Aserbaidschan einen großangelegten Angriff auf die Region und griff die Stellungen der ethnisch-armenischen Kräfte in Bergkarabach an. Innerhalb weniger Tage  wurden die Streitkräfte der Republik Arzach geschlagen, ihre Stellungen vernichtet und die Übergabe ihrer Waffen erzwungen. Weder der Staat Armenien noch die 2.000 Personen starke russische „Friedenstruppe“ kamen ihnen zu Hilfe.

Dem vorausgegangen war eine monatelange Blockade des Latschin-Korridors. Dieser stellt die einzige Landverbindung zwischen Bergkarabach und Armenien dar und ist die einzige Möglichkeit, die in Bergkarabach lebenden Armenier:innen mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Dies war durch die Blockade über Monate nicht mehr möglich. Die Bevölkerung in Bergkarabach wurde quasi ausgehungert.

Bei der militärischen Auseinandersetzung waren die Karabacharmenier:innen nicht nur dramatisch in der Unterzahl, sondern auch durch die vorangegangenen Blockaden unterversorgt und geschwächt. Daher waren sie und ihre international nicht anerkannte Republik Arzach nach nur einem Tag zur Aufgabe gezwungen. Der aserbaidschanische Präsident Alijew verkündete, dass die angeblichen „Antiterrormaßnahmen“ gegen die armenischen Separatist:innen erfolgreich beendet seien und, die Souveränität des Landes wiederhergestellt zu haben. In einer Rede an die Nation ließ er verlauten, Bergkarabach sei komplett unter seiner Kontrolle.

Bei den Angriffen wurden hunderte Menschen umgebracht, darunter auch viele Zivilist:innen. Rund 85.000 Menschen – etwa zwei Drittel der Einwohner:innen Arzachs – sind mittlerweile geflohen, zum größten Teil nach Armenien. Das Regime von Aserbaidschan setzt auf diese ethnische Säuberung, um nicht nur Bergkarabach voll in das Staatsgebiet zu integrieren, sondern auch um durch die Vertreibung der armenischen Bevölkerung jeden zukünftigen Widerstand zu unterbinden.

Das Alijew-Regime lässt keinen Zweifel daran, dass es die Armenier:innen loswerden möchte. Im Staatsfernsehen wird von ihnen als „Ungeziefer“ gesprochen und Politiker:innen erklärten während des zweiten Bergkarabachkonflikts, man müsse Armenier:innen wie Hunde aus Bergkarabach verjagen. Auch die aserbaidschanischen Soldat:innen, die sich nun dort befinden, sind mit antiarmenischem Hass aufgewachsen. Ein brutales Vorgehen der aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach könnte dem Alijew-Regime sogar nutzen, sich innenpolitisch zu festigen.

Unter diesem Druck sahen sich die Behörden Bergkarabachs zur vollständigen Kapitulation gezwungen. Am 28. September 2023 erklärten sie die vollständige Auflösung der Republik Arzach bis zum 1. Januar 2024.

Derweil sieht die „Weltgemeinschaft“ tatenlos zu. Die „Schutzmacht“ Russland wäscht ihre Hände in Unschuld, die Türkei feiert den Sieg der „Brüder“ und legt mit der Forderung nach einem Korridor zwischen Aserbaidschan und der azerischen Enklave Nachitschewan nach.

Das verdeutlicht, dass die Eroberung Bergkarabachs längst nicht das Ende der nationalen Gegensätze bedeutet und weitere Kriege folgen könnten. Der Kaukasus gleich dabei dem Balkan, wo sich Konflikte zwischen den Staaten und ihren nationalistischen Führungen mit dem Kampf zwischen Groß- und Regionalmächten um geostrategischen und ökonomischen Einfluss verbinden. Vor diesem Hintergrund muss auch die Geschichte des Konflikts betrachtet werden.

Hintergrund des Konflikts

Nach Ende der Sowjetunion wurde Bergkarabach Aserbaidschan zugesprochen und wird auch international als dessen Teil anerkannt. Die armenische Bevölkerung war aber schon damals nicht einverstanden damit. In den Jahren 1992 – 1994 spitzte sich der Konflikt zu und es kam zu einem offenen Krieg. Dabei gelang es den militärischen Verbände Bergkarabachs, unterstützt von Armenien, die Enklave zu verteidigen und zusätzliche Gebiete Aserbaidschans zu erobern. Die von Armenier:innen kontrollierten Gebiete vergrößerten sich also, sodass eine Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach entstand. Diese Gebiete wurden damals nicht nur annektiert, sondern auch viele Azeris vertrieben. Die Unabhängigkeitserklärung der Republik Bergkarabach, die später in Republik Arzach umbenannt wurde, erfolgte schon 1991, also vor dem Krieg. Seit dem Ende des ersten Krieges war Arzach dann auch de facto selbstständig. Seither wurde eine eigene Regierung gewählt und die Region über 30 Jahre unabhängig verwaltet.

Als es 2020 zum zweiten Krieg kam, wendete sich das Blatt. Die Republik Arzach erlitt dabei trotz Unterstützung durch Armenien große Gebietsverluste. Aserbaidschan verfügt, anders als Armenien, über große Öl- und Gasvorkommen und konnte die durch den Export eingenommenen Devisen für Rüstungsausgaben verwenden. Diese übertrafen die Armeniens in den letzten Jahren um ein Vielfaches. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Aserbaidschan einen großen Teil Bergkarabachs und angrenzender Gebiete zurückeroberte, die zuvor von armenischen Streitkräften gehalten worden waren. Russland vermittelte damals einen Waffenstillstand und nutzte die Gelegenheit, eine Friedenstruppe von mehreren tausend Soldat:innen in der Gegend zu stationieren. Diese blieben aber sowohl bei der monatelangen Blockade des Latschin-Korridors als auch beim aktuellen militärischen Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach untätig. Dabei hätten die russischen Friedenstruppen dafür sorgen sollen, dass das 2020 ausgehandelte Waffenstillstandsabkommen eingehalten wird. Neben dem armenischen und aserbaidschanischen Staatsoberhaupt hatte es damals auch der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet. Das Abkommen sollte die Existenz der Republik Arzach sichern.

Kräfteverhältnis im Südkaukasus

Für Armeniens Regierung unter Premierminister Nikol Paschinjan könnte die aktuelle Lage zu einer Zerreißprobe werden. Viele Armenier:innen protestieren gegen ihn und werfen ihm vor, dass die Regierung Armeniens Bergkarabach hätte schützen können. Sie sind wütend, dass Paschinjan sich aus den Kämpfen raushielt und erklärte, sich nicht einmischen zu wollen. Der weitere Umgang mit der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach wird zeigen, ob er sich im Amt halten kann. Am 23. September verkündete er, dass 40.000 Plätze für Geflüchtete aus Bergkarabach vorbereitet seien. Eine komplette Evakuierung der Karabacharmenier:innen würde aber sicherlich eine große Herausforderung darstellen.

Die Proteste in der armenischen Hauptstadt Jerewan (Eriwan) richten sich auch gegen Russland, das lange Zeit als Schutzmacht Armeniens galt. Jetzt fühlen sich viele Armenier:innen im Stich gelassen. Russland hat nicht nur die Blockade des Latschin-Korridors zugelassen, sondern auch beim Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach tatenlos zugesehen, obwohl Armenien Teil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und Mitglied der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist – von Russland dominierten wirtschaftliche, politischen und militärischen Bündnissen.

Dass Russland Arzach fallengelassen hat, kann sicherlich zum Teil mit seiner Fokussierung auf den Krieg in der Ukraine erklärt werden. Daneben hängt das Vorgehen aber auch mit veränderten Interessen in der Region zusammen. Russland unterhielt schon lange enge wirtschaftliche Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan. Es verkaufte an beide Seiten Waffen und fungierte als Vermittler zwischen ihnen. Momentan scheint es zu einer Verschiebung in dieser Konstellation zu kommen. Im autoritären Präsidenten Alijew scheint Putin zunehmend einen gewinnbringenden Verbündeten gefunden zu haben, um neue Transportwege zu erschließen und wirtschaftliche Beziehungen zu dem heute wesentlich reicheren Aserbaidschan zu pflegen. Formell ist Russland zwar immer noch Verbündeter Armeniens, de facto scheinen sich aber die Beziehungen zu Aserbaidschan zu vertiefen.

Doch nicht nur Russland, auch die Türkei und zunehmend auch westliche imperialistische Mächte verfolgen wirtschaftliche Interessen im Südkaukasus. Die Türkei ist für Aserbaidschan langjährige Verbündete, liefert ausschließlich an Aserbaidschan Waffen und unterstützte den Einmarsch in Bergkarabach. Der türkische Präsident Erdogan machte in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die armenische Regierung für die Eskalation des Konflikts verantwortlich, da diese die Chance für Verhandlungen nicht genutzt habe.

Die Türkei unterstützt also nach wie vor die von ihr als legitim erachteten Schritte Aserbaidschans gegen Bergkarabach, das als aserbaidschanisches Territorium angesehen wird. Allerdings könnte sie auch versucht sein, die Lücke, die Russland in Armenien hinterlässt, mit ihrem Einfluss zu füllen. Sicherlich wäre die Öffnung der Grenze zu Armenien auch für die Türkei wirtschaftlich gewinnbringend und würde die Möglichkeit für vermehrte Exporte bieten. Doch Armenien und die Türkei verbindet eine Geschichte lange Feindschaft. Bis heute weigert sich Erdogan, die Massaker an der armenischen Bevölkerung durch das Osmanische Reich während des ersten Weltkrieges als Völkermord anzuerkennen. Für die Beziehungen bezeichnend ist das Monument der „Mutter Armenien“, das auf einem Hügel über der armenischen Hauptstadt Jerewan thront. Es zeigt eine heroische Frauenstatue, die von Panzern flankiert ist und mit festem Griff um ihr Schwert und entschlossenem Blick Richtung Türkei, deren Grenze sich in Sichtweite des Monuments befindet, schaut. Zugleich gab es auch immer wieder Versuche, die Beziehung beider Länder zu normalisieren und Schritte in Richtung Öffnung der Grenze zu gehen. So gratulierte Paschinjan auf Twitter zur Wiederwahl Erdogans und betonte seinen Wunsch nach Normalisierung der Beziehungen und weiterer Zusammenarbeit.

Im Vergleich zu Russland und der Türkei hat die EU im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan bislang nur eine recht geringe Rolle gespielt. Anfang diesen Jahres richtete sie eine zivile Mission in Armenien ein. Dann sprachen sich die EU sowie die Bundesregierung für diplomatische Verhandlungen aus. So ließ Bundesaußenministerin Baerbock in einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York zur Lage in Bergkarabach verlauten, dass jetzt die Zeit zur Deeskalation gekommen sei. Andererseits unterzeichnete die EU im vergangenen Jahr ein Gasabkommen mit Aserbaidschan, wobei dieses von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als „entscheidender Partner“ bei der Bewältigung der Energiekrise bezeichnet wurde.

Wie sich die politische Lage in der Südkaukasusregion verändert, wird sich zeigen. Fakt ist aber, dass sowohl Russland, die Europäische Union, die USA, die Türkei und der Iran Interessen in der Region verfolgen. Auch ist gewiss, dass es eine Verschiebung der bisherigen Beziehungen gibt. Armeniens Ministerpräsident Paschinjan bedauert, sich allein auf Russlands Unterstützung verlassen zu haben. „Armeniens Sicherheitsarchitektur war zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden“, äußerte er Anfang September. Er bezeichnete dies als strategischen Fehler und will nun ein gemeinsames Militärmanöver mit den USA abhalten.

Angesichts des erneut eskalierenden Konflikts in Bergkarabach wird deutlich, dass auch der Südkaukasus einen Schauplatz imperialistischer Machtinteressen darstellt. Wie sich diese zukünftig verschieben und ob sich das Eskalationspotenzial auch auf andere Regionen ausdehnt, wird sich zeigen. So gibt es beispielsweise mit Abchasien und Südossetien zwei unabhängige Regionen auf dem Gebiet Georgiens, deren Souveränität zwar von den wenigsten Staaten international anerkannt wird, die sich allerdings mit Hilfe russischer Truppen der Kontrolle von Georgien entziehen und damit de facto unabhängige Republiken darstellen. Der Konflikt um diese Regionen ist somit zwar momentan eingefroren, schwelt aber sicherlich immer noch.

Vor diesem Hintergrund müssen wir uns klar gegen die Einflussnahme imperialistischer Mächte, die bestehende Konflikte für die Durchsetzung ihrer Interessen nutzen, stellen. Das bedeutet, dass wir uns auch gegen geostrategische Interventionen der Türkei und Russlands stellen müssen, aber natürlich auch gegen die der EU und unserer eigenen Regierung, die schon seit Jahren versuchen, in Georgien Einfluss zu nehmen. So ist es seit 2014 Teil der Vertieften und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Area; DCFTA) und plant langfristig einen Beitritt zur EU. Wir müssen hier klar eine Antikriegsperspektive aufzeigen und der Arbeiter:innenklasse verdeutlichen, dass sie in der Zusammenarbeit mit imperialistischen Mächten nichts als Abhängigkeit gewinnen kann. Nur eine unabhängige Arbeiter:innenklasse, die sich international organisiert, kann die Konflikte in der Region langfristig befrieden.

Lage in Armenien und Aserbaidschan

Den Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach müssen wir eindeutig als reaktionär charakterisieren. Die armenische Bevölkerung Bergkarabachs ist eine unterdrückte Nation, deren Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten wird. Und sie hat zweifellos ein Recht auf Selbstbestimmung und -verteidigung und sollte selbst entscheiden können, ob sie einen eigenen Staat gründen oder sich Armenien bzw. Aserbaidschan anschließen möchte.

Wir müssen die Proteste gegen den reaktionären Angriff Aserbaidschans also unterstützen, sollten aber gleichzeitig deren nationalistischen Charakter kritisieren. Die momentanen in der armenischen Hauptstadt Jerewan richten sich hauptsächlich gegen den amtierenden Premierminister Paschinjan und gegen seine regierende Partei „Zivilvertrag“. Die Proteste werden u. a. vom Oppositionsblock „Mutter Armenien“ dominiert, dessen Vorsitzender Andranik Tewanjan am vergangenen Freitag bei den Protesten vorübergehend festgenommen wurde. Dieser fordert den Rücktritt des amtierenden Premierministers. Er stellet aber selbst ebenso wenig eine fortschrittliche Alternative dar und umfasst armenisch-nationalistische bis liberale Kräfte. Teile der Opposition unterstützen auch den ehemaligen Premierminister Robert Kotscharjan, der als Spitze des nationalkonservativen Bündnisses „Armenien“ wieder zu Wahlen antritt.

Wir müssen diesem Nationalismus entschieden entgegentreten. Denn wozu dieser führen kann, zeigte sich während des zweiten Bergkarabachkrieges. In den 1990er Jahren wurden vom armenischen Nationalismus aserbaidschanische Gebiete brutal erobert, was in Massakern ganzer Dörfer gipfelte. Auch hier kam es zu Vertreibung und ethnischen Säuberungen aserbaidschanischer Siedlungsgebiete. Die armenische Arbeiter:innenklasse und die Linke müssen somit das Recht auf Selbstbestimmung verteidigen, sie dürfen sich aber nicht vor den Karren des Nationalismus oder imperialistischer „Freund:innen“ Armeniens spannen lassen.

Doch nicht nur die armenische Arbeiter:innenklasse, vor allem auch jene in Aserbaidschan steht vor großen Aufgaben. Sie muss sich klar gegen die Eroberungspolitik „ihrer“ Regierung und den nationalistischen Siegestaumel im Land stellen. Die Eroberung Azachs und die Vertreibung der Armenier:innen müssen als das angeprangert werden, was sie sind: ein brutaler Eroberungskrieg der herrschenden Klasse, der nur zur Festigung ihres Regimes dienen wird. Nur wenn die Arbeiter:innen klar für das Recht auf Rückkehr und Selbstbestimmung der Armenier:innen eintreten, können sie auch einen eigenen Klassenstandpunkt gegen „ihre“ Bourgeoisie und deren russischen, türkischen und europäischen Verbündeten einnehmen.

Nur wenn dem Nationalismus in Armenien und Aserbaidschan ein Programm, das eine Lösung der drängenden sozialen Fragen bereithält, entgegengestellt wird, kann der Arbeiter:innenklasse aufgezeigt werden, dass der Nationalismus keine zufriedenstellenden Antworten für sie bereithält. Wir müssen also für den Aufbau von Arbeiter:innenparteien eintreten, die für das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen kämpfen, dies aber im Kontext des Internationalismus tun. Dabei muss klar sein, dass die nationale nur im Zusammenhang mit der Klassenfrage gelöst werden kann. Denn im Kapitalismus, der immer wieder zu Krisen, Arbeitslosigkeit und Armut führt, können nur reaktionäre, nationalistische oder rassistische Scheinlösungen gefunden werden. Daher treten wir für die Bildung einer sozialistischen Föderation der Staaten des Kaukasus ein, die offene Grenzen und die Rückkehr aller Vertriebenen ermöglicht. Denn nur sie ist in der Lage, dem Kapitalismus seine Grundlagen zu entreißen, die Produktivkräfte zu enteignen und unter Arbeiter:innenkontrolle demokratisch zu planen.




Freiheit für Boris Kagarlitsky!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1229, 29. Juli 2023

Am 25. Juli wurde der russische Marxist, Soziologe und linke Kritiker des Putin-Regimes, Boris Kagarlitsky, vom russischen Geheimdienst FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation; Inlandsgeheimdienst) festgenommen und inhaftiert. Das Gericht in Syktywkar (Hauptstadt der Republik Komi; Nordwestrussland) ordnete eine Untersuchungshaft bis zum 24. September an. Nach Berichten des linken Internetportals Rabkor (Arbeiter:innen-Korrespondenz) wird ihm die Rechtfertigung des Terrorismus und Propaganda für diesen vorgeworfen, wofür ihm bis zu fünf Jahre Haft drohen.

Die Anklage ist an den Haaren herbeigezogen. Sie wirft auch ein grelles Licht auf die Methoden des russischen Regimes, die an die Fabrikationen des Zarismus und Stalinismus erinnern. Als Vorwand für seine Verhaftung dient ein Telegram-Post, das Kagarlitsky am 8. Oktober 2022 nach dem Anschlag auf die Krimbrücke veröffentlicht hatte und wo er das Objekt als strategisch und symbolisch bezeichnet, das die Größe und Macht des Putin-Regimes manifestieren sollte – ein Prestigeprojekt, das die Fähigkeit des russischen Staates zeigen sollte, trotz Ineffektivität, Korruption und Plünderung der Massen „Großes“ zu leisten.

Der Anschlag auf eines der bestbewachten Bauwerke der Welt war daher, so Kagarlitsky, auch ein Schlag, der die Schwächen und Verwundbarkeit des russischen Despotismus offenbarte.

Das reichte als Vorwand für die Festnahme und Anklageerhebung. Es ist kein Zufall, dass einer der wenigen im Land verbliebenen offenen Kritiker:innen des Putin-Regimes und des reaktionären imperialistischen Angriffskriegs jetzt festgenommen wurde. Seit dem Wagner-Putsch verschärft der Staatsapparat die Verfolgung von Oppositionellen aller Richtungen, darunter rechten, monarchistischen, aber auch linken Kräften.

Zweifellos handelt es sich dabei um einen politischen Akt, der nicht nur Boris Kagarlitsky zum Schweigen bringen, sondern die gesamte linke und sozialistische Opposition weiter einschüchtern soll. Kagarlitsky selbst ist nicht nur ein marxistischer Soziologe und Analyst, sondern war auch einer der wenigen bekannten linken Oppositionellen, der sich von Beginn an eindeutig gegen den russischen Angriff auf die Ukraine aussprach und die sog. Spezialoperation Krieg nannte. Er verwies von Beginn an besonders stark auf die

inneren Widersprüche des russischen Kapitalismus, die zum Krieg geführt hätten. Dabei legte er unserer Meinung nach zu wenig Augenmerk auf andere Kriegsursachen, insbesondere auf den Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen alten und neuen Großmächten, der sich gerade in der Ukraine manifestierte. Doch das war und ist für das Putin-Regime zweifellos nebensächlich. Ihm gelten alle Kriegsgegner:innen als Vaterlandsverräter:innen.

Anders als viele eher liberal eingestellte russische Linke kritisierte Kagarlitsky 2014 das prowestliche, aus dem Maidan hervorgegangene reaktionäre Regime in Kiew, das sich auf rechte und faschistische Kräfte stützte, scharf. Er solidarisierte sich zu Recht mit den Gewerkschafter:innen, die in Odessa ermordet wurden, wie auch mit dem Widerstand in Donezk und Luhansk. Das macht ihn jedoch nicht blind gegenüber dem reaktionären imperialistischen Angriff Russlands, den er von Beginn an scharf verurteilte.

Genau diese Haltung machte ihn zu einem Ziel des Putin-Regimes – und zwar schon lange vor dem Krieg. 2018 wurde das von ihm geleitete Institut für Globalisierung und soziale Bewegungen als ausländische Agentur eingestuft. Im April 2022 wurde er persönlich auch vom russischen Staat als „ausländischer Agent“ kategorisiert – und damit seine Arbeit drastisch eingeschränkt.

Auch wenn sich Kagarlitsky nach anfänglichen Sympathien für den Trotzkismus in den 1980er und 1990er Jahren vom revolutionären Marxismus entfernte und die marxistische Staats- und Revolutionstheorie, insbesondere die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats, ablehnte, so blieb er immer ein lesens- und überdenkenswerter Analytiker und Kämpfer. Schon unter dem Stalinismus betätigte er sich oppositionell, was noch unter Breschnew zu Festnahmen und Haft führte. Ähnlich erging es ihm unter der Jelzin-Ära. 2021 saß er wegen Protesten gegen die Dumawahl 10 Tage im Gefängnis. Offenkundig schloss er auch mit dem Putin-Regime keinen Frieden.

Die Festnahme und Anklage gegen Boris Kagarlitsky hat zu einer breiten internationalen Solidarisierung geführt, der sich alle linken, kommunistischen, sozialistischen und Organisationen der Arbeiter:innenbewegung anschließen sollten. Doch nicht nur Boris, die gesamte russische Antikriegsbewegung und insbesondere alle linken Kräfte, die sich gegen die Diktatur Putins, gegen Terror und Repression im Inneren und den Krieg gegen die Ukraine wenden, brauchen unsere Unterstützung!

  • Freiheit für Boris Kagarlitsky! Solidarität mit der russischen Antikriegsbewegung! Freilassung für alle festgenommen Kriegsgegner:innen!

  • Rücknahme aller sog. Antiterrorgesetze und Einschränkungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts!



Schweden – Teil der Kriegsallianz der NATO

Arbetarmakt, schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, 12. Juli 2023, Infomail 1228, 15. Juli 2023

Mit der Aufnahme Schwedens in die NATO wird formalisiert, was schon lange militärische und sicherheitspolitische Realität ist: Der schwedische Imperialismus verbündet sich mit Washington. Dies war nicht nur in den Jahren als enger Partner der USA und NATO nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Fall. Schon während des Kalten Krieges war

Schweden grundsätzlich loyal zu den USA, auch wenn es sich nach außen hin als bündnisfrei präsentierte. Jetzt ist die Verbindung offen und vollständig statt wie früher versteckt, heuchlerisch und zurückhaltend. Dies ist Teil der Entstehung einer neuen Weltsituation mit einem immer stärkeren Wettbewerb zwischen verschiedenen imperialistischen Mächten. Die USA werden herausgefordert und Schweden zeigt deutlich, zu welchem imperialistischen Block es gehört.

Der NATO-Beitritt wird eine Eskalation der amerikanischen Beteiligung an verschiedenen militärischen Konflikten bedeuten. Er wird auch eine verstärkte Loyalität gegenüber reaktionären Regimen innerhalb des amerikanischen Blocks beinhalten. Insbesondere wird der schwedische Staat nun als Gegner von Gruppen auftreten, die den islamistischen Tyrannen Erdogan in der Türkei bekämpfen.

Die internationalen Kommunist:innen ergreifen im Kampf der imperialistischen Blöcken keine Seite. Wir sind für den Sturz aller imperialistischen Regime, aber wir konzentrieren uns natürlich auf den Feind im eigenen Land, denn gegen ihn können und müssen wir in erster Linie einen Kampf entwickeln. In den kommenden Jahren muss es eine wichtige Aufgabe für uns sein, in Schweden und innerhalb der NATO einen antiimperialistischen Kampf gegen die Kriegsabenteuer der NATO, ihre militaristische Agitation und ihre Unterdrückung fortschrittlicher Befreiungsbewegungen zu entwickeln.

  • Löst die NATO auf!

  • Zerschlagt den US-Imperialismus, zerschlagt den schwedischen Imperialismus!

  • Kämpft gegen alle Kriegstreiberei und den Imperialismus!

  • Keinen Cent, keine Krone für die Armee des bürgerlichen Staates!

  • Für eine antiimperialistische Bewegung, die zum Kampf für den internationalen Sozialismus    beiträgt – der einzige Weg, um den imperialistischen Kriegstreiber:Innen endgültig das Handwerk zu legen!