Der Handlungsspielraum ist nicht besonders groß

Interview mit Freddy von [’solid] Berlin-Nord, Neue Internationale 266, Juli/August 2022

GAM: Hey, cool, dass du dir Zeit für das Interview nimmst. Vielleicht stellst du dich erstmal kurz vor?

Hey, danke für die Einladung. Ich bin Freddy, 24 Jahre alt, und eine der Sprecher:innen der Linksjugend [’solid] Berlin-Nord. Beruflich bin ich Erzieherin. Seit 5,5 Jahren bin ich in der Linksjugend [’solid] Berlin aktiv, in drei verschiedenen Basisgruppen nacheinander. Ich bin erst vor ungefähr einem Jahr in die Linkspartei eingetreten, aber mache dort nichts und denke auch, dass ich  bald wieder austreten werde.

GAM: [’solid] Berlin-Nord hat im letzten halben Jahr immer wieder auf sich aufmerksam gemacht. Warum ist das so? Welche Rolle habt ihr in [’solid] Berlin?

Am Anfang hatten wir gar nicht den Plan, eine revolutionäre Opposition innerhalb der Linksjugend aufzubauen, das hat sich aber dann irgendwie so entwickelt dadurch, dass sich unsere Mitglieder auch weitergebildet haben und uns viele Positionen innerhalb des Verbandes auffielen, denen wir nicht zugestimmt haben. Die Linksjugend [’solid] ist ja sehr pluralistisch ausgelegt, d. h. aus jeder linken oder linksliberalen Strömung, die man sich vorstellen kann, gibt es dort Leute. Wir haben auch nicht als Basisgruppe immer die gleiche Meinung, aber die meisten Leute verstehen sich schon explizit als Kommunist:innen, das macht auch noch mal einen Unterschied. Durch Anträge bei Landesvollversammlungen oder allgemein Diskussionsbeiträge haben wir in letzter Zeit versucht, auf unsere Positionen aufmerksam zu machen. Wir wollen aber auch nicht nur bei Papierbeschlüssen stehenbleiben, sondern versuchen, unsere Positionen auch auf die Straße zu tragen. Ich habe den Eindruck, dass auch einige andere Berliner Basisgruppen wie z. B. die Linksjugend Friedrichshain einen „Linksrutsch“ hingelegt haben.

GAM: [’solid] Berlin hat sich seit der letzten Landesvollversammlung (LVV) als Gesamtorganisation weiter nach links bewegt. Woran liegt das? Und was sind deine Perspektiven, Wie man das fortführen kann?

Auf jeden Fall gibt es in der Basis eine große Offenheit für linke Positionen, wie die Beschlüsse der letzten LVV gezeigt haben. Ich denke, dass es jetzt wichtig ist, sich nicht auf den Beschlüssen auszuruhen, sondern diese offensiv zu vertreten und zu verteidigen und sie auch zu nutzen, um z. B. die Linkspartei herauszufordern.

GAM: Auf der letzten LVV wurden auch Teile des Landessprecher:innenrats (LSPR) neu gewählt. Wie stehst du zum gegenwärtigen LSPR? Was sollte man an der Struktur des LSPR verändern, wenn überhaupt?

Meiner Meinung nach muss man da stark zwischen den einzelnen Mitgliedern des Gremiums und dem Gremium an sich und seiner Funktion unterscheiden. Ich war auch zwei Jahre lang im LSPR und es ist ein enormer Druck, der da auf einem lastet, auch von der Seite der Linkspartei. Das ist politisch so gewollt. So wurden während des Wahlkampfs zur Abgeordnetenhauswahl einmal mehrere Mitglieder, zum Glück nicht ich, abends von jemandem aus der Partei angerufen und angeschrien, weil der Person etwas, ich glaube es war ein Post, nicht gepasst hatte. Es wurde, sowohl von der Partei als auch von anderen Mitgliedern des Jugendverbandes, die schon lange dabei waren und denen man vertraut hat, suggeriert, dass wir als LSPR-Mitglieder die Vernünftigen seien und die Basismitglieder versuchen sollten, im Zaum zu halten, also darauf achten, dass kein schlechtes Licht auf die Linkspartei geworfen wird. Zusätzlich wird betont, dass man seine eigene Position zurückstellen soll. Der sogenannte Pluralismus in Partei und Jugendverband wird oft als etwas sehr Positives dargestellt. Die Beschlüsse, die der LSPR trifft, sollen möglichst so sein, dass niemand etwas gegen sie hat. Man steht da, wie gesagt, unter einem sehr großen Druck. Ich habe auch opportunistisch gehandelt, als ich im LSPR war, und ich glaube, das ist gerade das Gefährliche. Egal mit welchen Plänen und welchen Werten man sich in das Gremium wählen lässt, am Ende macht es eigentlich gar keinen so großen Unterschied, wer genau da drin sitzt.

Die LSPR-Mitglieder werden dazu benutzt, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ich glaube, vielen ist das auch nicht bewusst. Trotz meiner zwei Amtszeiten habe ich lange gebraucht, um das zu merken.

Und dazu arbeiten die Linksjugend [’solid] und damit auch ihre Gremien sehr bürokratisch. Es werden umständliche und intransparente Wege gewählt, Entscheidungen zu treffen, und gleichzeitig wird oft suggeriert, dass im Grunde alles basisdemokratisch sei.

GAM: Wie stellt du dir revolutionäre Praxis innerhalb eines reformistischen Jugendverbandes vor?

Ich denke, dass es sehr schwer ist, eine revolutionäre Praxis innerhalb von reformistischen Strukturen zu haben und diese konsequent durchzusetzen. Wichtig ist es, das Gespräch mit verschiedenen Leuten zu suchen und zu versuchen, ihnen aufzuzeigen, was die Probleme sowohl mit den Standpunkten der Linkspartei als auch dem Organisationsprinzip sind. Zu der Struktur des Verbandes und des LSPR habe ich ja schon etwas gesagt. Ich glaube, ein zusätzliches Problem ist die Kommunikationskultur. Vor ein paar Jahren war die damalige Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, als Rednerin bei unserer Landesvollversammlung eingeladen. Damals war ich total geschockt, dass einige Leute ihr kritische Nachfragen gestellt haben. Ich fand das total gemein und dachte: „Sie ist doch auch nur ein Mensch und niemand kann seinen Job perfekt machen“. Ich glaube, dass viele so denken und das auch genau so gewollt ist. Es wird oft als anstößig angesehen, politische Diskussionen öffentlich auszutragen. Man soll alles mit sich selber ausmachen oder im Hinterzimmer klären.

Das ist aber ein strukturelles Problem einer reformistischen Partei und kein Problem, das sich ändern kann, wenn die Leute lernen, besser miteinander zu kommunizieren. Zudem sind wir finanziell von der Linkspartei abhängig, was auch eine gewisse politische Abhängigkeit bedeutet.

Nachdem der Landesvorstand der LINKEN Berlin erst gedroht hatte, uns die Gelder zu streichen, müssen nun Summen ab 500 Euro einzeln beantragt werden. Davor hatten wir ein jährliches Budget, über das wir frei verfügen konnten. Das ist natürlich immer noch sehr viel Geld, aber eben nicht gemessen an dem, was die Linkspartei für den Jugendverband aufwenden könnte und würde, wenn er politisch gefügsamer wäre.

Zusätzlich zu den Konflikten und den Maßregelungen durch die Linkspartei kommen noch die Konflikte mit dem überwiegend sozialdemokratischen Bundesverband der Linksjugend [’solid] hinzu. Viele Gliederungen dort hegen eine starke Abneigung, z. T. schon leidenschaftlichen Hass, gegen die Berliner Sektion, da die Beschlüsse ihnen zu links sind und sie z. B. auch ein Problem damit haben, dass wir uns für Solidarität mit Palästina aussprechen.

Das sind also viele Widrigkeiten, mit denen wir als kleine revolutionäre Opposition zu kämpfen haben.

Wir können versuchen, Leute zu bilden, wir können Gespräche mit Menschen führen, wir können auch coole Aktionen machen. Dennoch sind wir dadurch eingeschränkt, dass wir Teil einer reformistischen Organisation sind.

GAM: Treptow-Köpenick ist aus dem Berliner Landesverband von [’solid] ausgetreten. Was ist deine Meinung dazu?

Die Spannungen zwischen Treptow-Köpenick und dem Rest des Landesverbandes haben sich schon lange abgezeichnet. Diese Gruppe vertrat aus meiner Sicht viele Positionen, die nicht mal als linksliberal zu bezeichnen sind. So baten sie den Landesverband der Linkspartei öffentlich, der Linksjugend [’solid] die Gelder zu kürzen, da ihnen die auf der Landesvollversammlung demokratisch gefällten Beschlüsse nicht gefielen. Auch setzten sie eine Ablehnung der NATO mit „Putinsolidarität“ gleich und distanzierten sich von palästinensischen Demonstrationen. Ich finde es gut, dass die Linksjugend Treptow-Köpenick aus der Linksjugend [’solid] rausgegangen ist. Einige der Mitglieder, die nicht auf der Linie der Gruppe waren, sind nun in andere [’solid]-Basisgruppen gegangen.

GAM: Seit der Bundestagswahl geht es ziemlich steil abwärts mit der Linkspartei. Im Saarland wurden 10 % verloren. Ramelow argumentiert für die Wehrpflicht. In Bremen fordert man Waffenlieferungen. Was ist da los und welche Perspektive siehst du für die Partei?

Eines der großen Probleme der Linkspartei sehe ich darin, dass sie letzten Endes leider doch eine bürgerliche Partei ohne ein einheitliches politisches Programm ist. Zudem ist der Parteiapparat sehr bürokratisch. Das sieht man z. B. auch gut an #linkemetoo. Sexualisierte Gewalt gibt es wahrscheinlich in den meisten Organisationen und Gruppen, aber dass sich eine Klasse von Berufspolitiker:innen ausbildet, die sich über Seilschaften an der Spitze halten möchte, da sie finanziell von ihren Mandaten abhängig ist, ist ein krasses Problem. Das steht Aufarbeitung von z. B. sexualisierter Gewalt im Wege, aber führt auch dazu, dass kein echter Austausch möglich ist und viele Debatten nichts bringen, da sowieso immer die gleichen Leute in den führenden Positionen bleiben werden. Aber auch zu versuchen, Marxist:innen in führende Positionen in Linkspartei oder der Linksjugend [’solid] zu bekommen, kann kein Ausweg sein. Selbst wenn die bürokratischen Prozesse nicht verhindern würden, dass sich wirklich Dinge ändern und zudem revolutionäre Mehrheiten in Gremien erreicht würden, wäre das in meinen Augen kein wirklicher Sieg. Dadurch, dass Partei und Jugendverband sehr viele verschiedene linke Strömungen beinhalten, würden dann getroffene Entscheidungen nicht konsequent vertreten und wahrscheinlich in der nächsten Wahlperiode gleich wieder revidiert werden. Die Linkspartei ist natürlich keine marxistische Partei. Aktuell würde ich auch in Frage stellen, ob sie eine Arbeiter:innenpartei ist. Dafür fehlt meiner Meinung nach eine Abgrenzung zu anderen bürgerlichen Parteien. Die Linkspartei schiebt mit ab, die Linkspartei positioniert sich nicht konsequent antimilitaristisch, die Linkspartei ist in Berlin an der Verschleppung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ beteiligt. Ich glaube, dass die Linkspartei in den nächsten Jahren nach und nach immer mehr an Wähler:innen verlieren wird, und ich finde es absolut nachvollziehbar, wenn Leute sie nicht wählen.

GAM: Abschließend: Was sollten Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] jetzt tun? Wie könnt ihr unterstützt werden?

Ich glaube, das Wichtigste ist, die Widersprüche in der Linkspartei und ihrer Bürokratie aufzuzeigen, was ja die meisten revolutionären Gruppen bereits machen. Zudem freuen wir uns über Solidaritätsbekundungen, z. B. in Form von Unterstützung bei Aufrufen wie zuletzt dem offenen Brief unserer Basisgruppe gegen die geplanten Geldkürzungen von Seiten des Landesvorstandes der Berliner Linkspartei. Wie ich schon dargelegt habe, glaube ich nicht, dass der Handlungsspielraum von Revolutionär:innen in der Linkspartei und [’solid] besonders groß ist. Man kann die Linkspartei und die Öffentlichkeit mit den Fehlern der Strukturen konfrontieren, was wir ja auch bereits tun. Es ist aber meiner Ansicht nach verschwendete Energie, wenn man sich über Jahre hauptsächlich auf den Fraktionskampf innerhalb der eigenen Organisation konzentriert bzw. eher konzentrieren muss. Dieser ergibt nur Sinn, solange man Mitglieder vom Apparat loslösen und für ein revolutionäres Programm gewinnen kann.

Mittelfristig wären Revolutionär:innen in der Linkspartei und der Linksjugend, denke ich, besser beraten, sich revolutionären Organisationen anzuschließen.

GAM: Vielen Dank für das Interview und alles Gute für Euren Kampf!




Sozialistische Positionen gegen bürokratische Angriffe verteidigen!

Solidaritätserklärung linker, sozialistischer und gewerkschaftlicher Gruppen und Einzelpersonen mit Solid Berlin, Infomail 1185, 26. April 2022

Der Berliner LINKE-Vorstand plant, die Finanzierung der Jugendorganisation Solid Berlin zu streichen. Solidaritätserklärung linker, sozialistischer und gewerkschaftlicher Gruppen und Einzelpersonen mit Solid Berlin.

Seit Längerem schon kritisiert die Linksjugend Solid Berlin, der Jugendverband der Berliner Linkspartei, den Regierungskurs der Mutterpartei. Am Sonntag, den 10. April, bekräftigte die Landesvollversammlung von Solid Berlin die Gegnerschaft zur Regierungsbeteiligung und forderte den Austritt der LINKEn aus dem Berliner Senat. Ebenso positionierte sich der Verband gegen Krieg und Aufrüstung ohne Unterordnung unter Russland oder unter die NATO, sowie für die entschädigungslose Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. Mit diesen Positionen wirbt die Linksjugend Solid Berlin für eine sozialistische Oppositionspolitik im Gegensatz zum Regierungskurs der Parteispitze in Berlin und bundesweit.

Kritik an der Parteispitze zu üben, ist gerade das grundsätzliche Recht des Jugendverbandes und seine Existenzberechtigung. Laut Zeitungsberichten unter anderem des Tagesspiegel vom 14. April sowie des neuen deutschland vom 19. April plant die Berliner LINKE-Landesvorsitzende Katina Schubert jedoch, die Finanzierung des Jugendverbandes zu streichen, weil sie mit den inhaltlichen Beschlüssen der Landesvollversammlung von Solid Berlin nicht einverstanden ist. Mit dieser bürokratischen Methode will die Spitze der Landespartei die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Beschlüssen der Landesvollversammlung von Solid Berlin vom 10. April verhindern, die die Positionen der Linkspartei in Berlin und bundesweit kritisieren.

Insbesondere kritisiert Schubert die beschlossene Positionierung “zur Situation in Israel und Palästina”, die unter anderem ein bedingungsloses Rückkehrrecht für alle Palästinenser:innen, die Benennung Israels als Apartheidsstaat sowie die Unterstützung einer binationalen sozialistischen Ein-Staaten-Lösung auf dem Gebiet des historischen Palästinas beinhaltet. Wie der Neuköllner LINKE-Bezirksverband schreibt, bewegen sich diese Positionen “im Rahmen des Parteiprogramms der LINKEN”.

Unter dem Vorwand des Antisemitismus, befeuert von einer Hetzkampagne des Springer-Blattes DIE WELT, sollen jedoch nicht nur diese Positionen unsagbar gemacht, sondern die gesamte kritische Haltung von Solid Berlin zum Regierungskurs der Mutterpartei mundtot gemacht werden. Dabei schreckten sie auch nicht davor zurück, einen Genossen als jüdische Stimme mundtot zu machen und ihn in der Springerpresse als antisemitisch zu diffamieren . Zum Jahresanfang fielen Teile des Bundessprecher:innenrats durch Hasstiraden gegen Palästinenser:innen auf. Unter anderem bezeichnete ein Mitglied des höchsten Solidgremiums Palästina als ein “Phantasialand”. Der Vorfall bleibt bis dato von der Partei unkommentiert und offensichtlich „im Rahmen des linken Parteiprogramms“.

Wir Unterzeichner:innen erklären uns solidarisch mit Solid Berlin, auch wenn wir hinsichtlich der Positionen des Verbands unterschiedlicher Meinung sein können. Wir lehnen entschieden die bürokratische Methode der Meinungsunterdrückung gegenüber dem Jugendverband ab, die eine antidemokratische Zwangsdisziplinierung darstellen und die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen der Linksjugend Solid Berlin verhindern sollen. In diesem Sinne schließen wir uns den Äußerungen von Ulas Tekin sowie von Ferat Koçak im nd an, die sich klar gegen diese Methode ausgesprochen haben. Wir machen uns auch den Beschluss der LINKE-Basisorganisation Wedding vom 14. April zu eigen: Solid Berlin hat als “eigenständiger Verband, der auch das Recht über einen eigenständigen Willensbildungsprozess hat”, das Recht, die Positionen der LINKEn in Berlin und bundesweit zu kritisieren und eigene Positionen zu vertreten. “Wenn Katina Schubert und andere andere im geschäftsführenden Landesvorstand andere Meinungen vertreten, dann sollte dieser Dissens über Argumente und nicht über Repressionen geklärt werden. Wir fordern daher, dass die Autonomie der Linksjugend [’solid] Berlin vollständig erhalten bleibt und die Parteispitze Ihre Pläne zur Einschränkung der Verfügungsgewalt über die eigenen Mittel beendet.“

Erstunterzeichner:innen

Gruppen:

Migrantifa Berlin

Jewish Bund

Palästina Spricht Bewegung (Koalition für palästinensische Rechte und gegen Rassismus)

Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost

Jüdisch-israelischer Dissens

„Bundestag 3 für Palästina“ BT3P

RIO / Klasse gegen Klasse

Gruppe Artbeiter:innenmacht

Revolution

Ko-Kreis LINKE BO Wedding

LINKE Kreisverband Siegen-Wittgenstein

AKL Bünde

linksjugend [`solid] ROSA

linksjugend [`solid] Neuglienicke

linksjugend [`solid] Moabit / Tiergarten

linksjugend [`solid] Stuttgart

linksjugend [`solid] Heidelberg

linksjugend [`solid] Rems-Murr

linksjugend [`solid] Ortenau

linksjugend [`solid] Pforzheim

LAK Klassenkampf Niedersachsen/Bremen

linksjugend [`solid] Links der Weser

linksjugend [`solid] Salzgitter

linksjugend [`solid] Wolfenbüttel

linksjugend [`solid] Braunschweig

Jugendkommune Sara Dorşîn

Berlin for India

Wedding United

Berlin Migrant Strikers

India Justice project

Einzelpersonen:

Ferat Ali Kocak, Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin

Bettina Gutperl, Ko-Kreis BO Wedding und Bundesvorstand DIE LINKE

Ulas Tekin, Mitglied im Landesvorstand von die LINKE Berlin

Leonard Diederich, Mitglied im Bezirksvorstand die LINKE Mitte und Sprecher BO Moabit

Franziska Lindner, Mitglied im Bezirksvorstand die LINKE Mitte

Marius Weichler, Vorsitzender des LinksTreff Wedding e.V.

Thierry Kruber Ko-Kreis BO Wedding

Niklas Schrader, Ko-Kreis BO Wedding

Fabian Nehring, Ko-Kreis BO Wedding

Ava Matheis, Delegierte für den Bezirk Mitte des 8. Landesparteitags die LINKE Berlin

Sungsoo Park, Mitglied in der BO Rixdorf

Robin Bitter, Kreisvorstand LINKE Düsseldorf

Michael Sappir, Mitglied bei SDS Leipzig

Yuval Gal cohen, Aktivstin bei Jüdisch-israelischer Dissens

Shira Bitan, Aktivistin bei Jüdisch-israelischer Dissens

Yossi Bartal, Die LINKE Neukölln

Judith Bernstein, BT3P

Amir Ali, BT3P

Christoph Glanz, BT3P

Yasemin Cetinkaya, Schauspielerin

Soulmade Dam, Produzent

Unterschreibt den Brief sehr gerne mit eurer Gruppe, Linksjugend- oder DIE LINKE Gliederung oder einfach als Einzelperson. Schreibt dafür eine kurze Mail an nord-berlin@solid-berlin.org.




SDAJ-Konferenz: Kein Schritt zur Antikriegsbewegung

Jonathan Frühling, REVOLUTION, ursprünglich veröffentlicht auf http://onesolutionrevolution.de/,Infomail 1185, 25. April 2022

Am Samstag, den 23. April 2022, lud ein von der SDAJ geführtes Bündnis, bestehend aus u. a. DIDF, [‚solid], ver.di Jugend, GEW Jugend und Naturfreundejugend zu einer Antikriegskonferenz von Jugendlichen ein. Revolution beteiligte sich mit Genoss_Innen aus verschiedenen Städte daran, auch wenn wir – wie eine Reihe anderer linker Gruppen – nicht in die Vorbereitung involviert worden waren.

Da die SDAJ ihre gesamte Mitgliedschaft mobilisierte, waren ca. 250 Leute anwesend, was sehr beachtlich war. Insgesamt begrüßen wir diesen Vorstoß und haben uns deshalb gerne daran beteiligt. Allerdings hat die Konferenz am Ende mehr den desaströsen Opportunismus der SDAJ zur Schau gestellt, als dass sie die Antikriegsbewegung praktisch oder theoretisch vorangebracht hätte.

Expert:innenvorträge und Workshops

Zu Beginn gab es sogenannte „Expert:innenvorträge“ z. B. von der LINKEN und einem ehemaligen IG Metall-Vorstandsmitglied. Das war zwar zum Teil interessant, allerdings konnten uns diese Leute mit ihrem lauwarmen Reformismus keine Antworten auf Krieg, Aufrüstung und imperialistische Unterdrückung liefern. Es schloss sich eine Workshopphase an, in der relativ frei diskutiert werden konnte. Allerdings war auch hier der Fokus vor allem auf Deutschland gerichtet. Dort brachten unsere Genoss_Innen ein, dass wir uns unbedingt zur NATO und zum Krieg in der Ukraine positionieren müssen, was von der SDAJ kategorisch zurückgewiesen wurde. Am Ende kam eine Frau aus dem Vorstand der SDAJ sogar auf uns zu und hat gesagt, es wäre unsolidarisch, wenn wir das vor dem großen Podium ansprechen würden, weil sich ja die Organisator_Innen im Vorfeld schon geeinigt hatten, dazu zu schweigen!

Die Resolution

Zum Schluss wurde eine Resolution verabschiedet. Sie war allerdings politisch extrem schwach. Es gab KEINE (!) Einschätzung der aktuellen (Welt-)Lage, sondern nur ein paar antimilitaristische Forderungen. Diese sind zwar unterstützenswert, aber fokussieren sich nur auf Deutschland. Zudem reichen sie nicht dazu aus, einer Antikriegsbewegung der Jugend Handlungsorientierung zu geben, zumal sie sich um alle internationalen Fragen drücken. Folgende Worte fanden überhaupt keine Erwähnung: Arbeiter_Innenklasse, Gewerkschaft, Streik, NATO, Russland, (Anti-)Kapitalismus, Imperialismus. Das alleine sollte Beweis genug dafür sein, wie unzureichend die Resolution ist.

Aufgrund unserer Intervention in der Workshopphase fühlte sich der Vorstand der SDAJ dazu genötigt, vor der Diskussion zur Resolution anzukündigen, dass man bitte nichts zu dem Ukrainekrieg sagen soll! Es gebe dazu keine Einigung unter den Gruppen und deshalb hätten die Organisator:innen im Vorfeld beschlossen, die Frage auszuklammern! Als von uns und der MLPD-Jugendorganisation Rebell Anträge zu den Themen imperialistische Aggression, NATO und einem Bezug zur Arbeiter:innenklasse eingebracht wurden, wurde einem unserer Genoss:innen sogar kurzzeitig das Mikrophon aus der Hand gerissen! Die Anträge wurden dann von der Protokollantin zum Teil gar nicht notiert oder mit der Begründung „Es hat ja jemand dagegen gesprochen“ einfach nicht in die Resolution aufgenommen. Eine demokratische Abstimmung zu den gestellten Anträgen fand einfach nicht statt! Diese bürokratische Vorgehensweise war wirklich eine Schande. Da das beschämende Verhalten der SDAJ-Führung offen vor dem gesamten Plenum passiert ist, bleibt zu hoffen, dass das nicht nur uns übel aufgestoßen ist.

Auch praktisch sah es nicht rosiger aus. Die beachtliche Größe dieser Konferenz wurde nicht dazu genutzt, Aktionen wie z. B. dezentrale Aktionen an dem Tag, an dem im Bundestag über den 100-Mrd.-Sonderetat der Bundeswehr abgestimmt wird, zu planen. Stattdessen blieb es bei einem folgenlosen „Beteiligt euch an Aktionen zum 8. Mai (Tag der Befreiung) und zum 1. September (Antikriegstag)!“

Die Tatsache, dass für dieses zentrale Papier nur 20 Minuten für Diskussion, Anträge und Abstimmung geplant waren, zeigt, dass ein demokratischer Prozess zur Erstellung einer Resolution von Anfang an nicht gewünscht war.

Fazit

Die Konferenz hätte dazu genutzt werden können, um die drängenden Fragen zum Thema Krieg und Frieden unserer Zeit zu diskutieren. Es ist so wichtig, dass wir unsere Analysen und Forderungen austauschen und diskutieren. Nur wenn wir verstehen, was gerade passiert und wieso, können wir programmatische Antworten finden und um dieses Programm eine schlagkräftige Bewegung formieren.

Das Argument, dass man alle strittigen Punkte ausklammert und z. B. nicht die NATO kritisiert, damit ver.di die Resolution unterstützt, ist feiger Opportunismus und blockiert den Aufbau einer kämpferischen Antikriegsbewegung. Wie sollen wir die Millionen Gewerkschaftsmitglieder und Jugendlichen von unseren Positionen überzeugen, wenn wir sie ihnen nicht mitteilen und einladen, darüber zu diskutieren?

Leider bleibt zu sagen, dass die Konferenz keinen Schritt in Richtung einer Jugendbewegung gegen Krieg setzte. Am Ende sind wir alle nach Hause gefahren und konnten uns nicht einmal denken: „Schön, dass wir mal drüber geredet haben.“ Denn selbst das war von den Organisator_Innen nicht gewünscht.




Linksjugend [‘solid] Berlin: Liebknecht oder Lederer

Gastbeitrag von Dan Kedem (Mitglied der Linksjugend [‘solid] Berlin) und Tim Jonat, ursprünglich erschienen auf Klasse gegen Klasse, Infomail 1184, 12. April 2022

Am Sonntag tagte die 31. Landesvollversammlung der linksjugend [‘solid] Berlin. Eine rechte Wende im Verband wurde zwar abgewandt, aber jetzt gilt es den Linkskurs jenseits von Beschlüssen umzusetzen.

Nach einem letzten Mobilisierungsversuch der Parteibürokratie vor Tagungsbeginn startete die 31. Landesvollversammlung der linksjugend [‘solid] Berlin mit unklaren Mehrheitsverhältnissen. Unter anderem wurden Nachwuchskarrierist:innen aus den sogenannten Jugend-Basisorganisationen (Einheiten der Parteibürokratie) mit dem Ziel mobilisiert, rechte Mehrheiten zu sichern und einen reformistischen, an die Parteibürokratie angepassten Kurs innerhalb des Jugendverbandes wiederherzustellen. Die Parteibürokratie hat sich mehrmals über den Kurs des Jugendverbands unzufrieden gezeigt und hat den Wunsch auch öffentlich geäußert (neben zahlreichen Distanzierungen), den Jugendverband wieder auf Kurs bringen zu wollen. Paul Schlüter zum Beispiel, seinerseits Mitglied des Parteivorstands der LINKE Berlin, war als „aktives“ Mitglied bei der Mitgliederversammlung dabei. Formell ist seine Mitgliedschaft durch Zahlung des Mitgliedsbeitrags zwar aktiv, gesehen hat man ihn auf solid Veranstaltungen aber noch nie. Spekulieren kann man nur, ob er von Klaus Lederer persönlich mobilisiert wurde.

Zur Einleitung der Tagung startete diese mit Grußworten der Abgeordneten Katalin Gennburg und Ferat Ali Kocak, welche beide für eine starke Linke und eine „widerständige“ Jugendorganisation appellierten. Gennburg forderte allerdings auch, dass Deutsche Wohnen und Co. enteignen (DWE) unbedingt in die Expert:innenkommission des Senats gehen sollten, nachdem dieser die Forderungen der Initiative von ⅔ der Sitze in der Kommission ignorierte und alles dafür tat, den Volksentscheid zu zermürben. Sie hat den Eindruck gemacht, der Parteijugend einreden zu wollen, dass wirklich an eine Umsetzung mit SPD und Grünen gearbeitet wird, und biederte sich insoweit an die Parteiführung an, dass sie das Gesagte von Katina Schubert am vergangenen Wochenende zu einem möglichen Austritt aus der Koalition, falls DWE nicht umgesetzt wird, wiederholte. Zum Krieg in der Ukraine hatte sie im Gegensatz zu den anderen Grußworten gar nichts zu sagen, obwohl sie alleine fast so lang gesprochen hat wie die anderen beiden zusammen.

Schlussendlich folgte ein Grußwort der Jugendorganisation REVOLUTION, die die starke Zusammenarbeit mit der Solid gegen Rassismus, die Immobilienwirtschaft und für einen starken Antimilitarismus begrüßten. Es folgten starke Appelle an den Jugendverband, welcher sich von seinem reformistischen Kurs abwenden und endlich revolutionäre Positionen vertreten müsse. Dafür sei es auch notwendig, sich der Mutterpartei zu stellen, denn DIE LINKE steht dem revolutionären Anspruch des linken Solid-Flügels diametral entgegen und praktiziert eine bürgerliche Politik, die der Sozialdemokratie identisch ist. Die Solid müsse einen Trennstrich zwischen der eigenen und der bürgerlichen Politik machen und einsehen, dass selbst Reformen immer von Arbeiter:innenkämpfen und eben nicht von Parlamenten ausgingen. Wir hoffen, dass REVOLUTION bereit ist, den Kampf gegen die verräterische Politik der LINKEn mit der Solid aufzunehmen und sie dabei zu unterstützen.

Nach diesem starken Schlusswort ging es in die allgemeine Tagesordnung über.

Wie üblich wurde mit einer rechten Mehrheit im Landesverband das Stimmrecht und dieses Mal auch das Wahlrecht für Sympathisant:innen (passive Mitglieder sowie nicht-Mitglieder des Verbandes) beschlossen, nachdem durch administrative Vorgänge einige Anmeldungen schief gingen und nicht genau klar war, wer aktives Mitglied und wer Sympathisant:in ist. Aufgrund dessen war es noch undurchsichtiger, wie die einzelnen politischen Lager verteilt waren.

Nach einer beschlossenen Generalüberholung der Satzung wurde von Seiten des rechten Flügels des Landessprecher:innenrats versucht, ein weiteres bürokratisches Mittel innerhalb des Landesverbandes durchzusetzen: ein sogenannter Basisgruppenrat, der einzelnen Delegierten weitreichende Befugnisse geben und die rechte Mehrheit unter den Basisgruppen gegen die nach links orientierte Mehrheit im Landesvorstand ausspielen sollte. Dieser Antrag wurde abgelehnt – ein weiterer guter Schritt für das linke Lager im Landesverband, denn so kann bisher zumindest garantiert werden, dass die rechte Mehrheit im Landesverband keine Beschlüsse eines linken Landesvorstands aufheben kann.

Die eigentlich wichtigen Punkte dieser Landesvollversammlung waren allerdings die Nachwahl der freigewordenen Stellen im Landesvorstand der Solid sowie die inhaltliche Antragsphase.

Linke Anträge für Enteignung, gegen Krieg und Aufrüstung

Begonnen wurde mit einem Antrag, der einen Kernteil einer jeden revolutionären Übergangsprogrammatik ausmacht: nämlich die Ablehnung von Entschädigungszahlungen und die Expropriation (Enteignung) der Expropriateur:innen. Im Antrag wird folgendes festgehalten:

  • Ablehnung der Entschädigung
  • Stellung des nationalisierten Eigentums unter Arbeiter:innenkontrolle
  • Verbindung der Frage der Enteignung mit der Frage nach der politischen Macht
  • Ablehnung des bürgerlichen Formalismus, das heißt: der Kampf um die Vergesellschaftung kann sich nicht auf Instrumente einer bürgerlichen Verfassung berufen und deren Umsetzung durch eine bürgerliche Regierung

Zur Überraschung des linken Lagers wurde dieser Antrag, nach starkem Einwand von Rechten, welche sich auf das Grundgesetz beriefen und für eine Entschädigung plädierten, mit einer ⅔-Mehrheit angenommen.

Der nächste Antrag aus dem linken Flügel, welcher den Rausschmiss von Agent:innen des Kapitals aus der Partei DIE LINKE forderte, wurde mit 45 Prozent Ja- zu 45 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Dieser forderte auch den Aufbau einer Partei nach den folgenden Organisationsprinzipien:

  • Funktionär:innen und Mandatsträger:innen für die Partei DIE LINKE verdienen nur einen Arbeiter:innenlohn und sind verpflichtet, den Rest ihres Gehalts an Streikkassen und andere vom Staat unabhängigen Organisationen der Klasse weiterzugeben
  • Die jederzeitige Abwählbarkeit aller Funktionsträger:innen und Mandatsträger:innen
  • Rechenschaftspflichtigkeit gegenüber den unteren Ebenen der Partei
  • Maximale Amtszeitbegrenzung auf zwei Legislaturen

An dieser Abstimmung wurde ersichtlich, dass die Lager auf der Versammlung ungefähr gleichmäßig verteilt waren. Wären allerdings ein Paul Schlüter aus dem Landesvorstand oder Nachwuchskarrierist:innen aus den Jugend-BOs nicht geschickt worden, hätte der eigentliche Jugendverband – zumindest auf Landesebene – sehr wohl ein Interesse an einer antibürokratischen Arbeiter:innenpartei. Die Mutterpartei ist sich jedoch für nichts zu schade und versucht zu sabotieren, wo es nur geht.

Wofür die Stimmen des rechten Lagers nicht genügten, war der nächste Antrag, welcher den sofortigen Austritt der LINKEn Berlin aus der Regierung fordert. Die Bedingungen, welche an eine Fortsetzung der Regierungsbeteiligung geknüpft waren, sind nicht umsetzbar und werden tagtäglich von der Linksfraktion verraten. Deshalb war für die Mehrheit des Jugendverbandes klar, dass die Partei aus der Regierung heraus muss. Ein weiterer Erfolg für das revolutionäre Lager.

Die Forderungen waren:

  •  Sofortige Umsetzung von Deutsche Wohnen und co. enteignen
  •  Sofortiger Abschiebestopp in der rassistischen Migrationspolitik
  •  Sofortiger Abbruch des Autobahnausbaus der A100
  •  Sofortiger Stopp der Ausschreibungen für die S-Bahn-Privatisierung
  •  Einführung des kostenlosen ÖPNVs in Berlin

Zum Anfang der Versammlung wurde klar, dass im Landessprecher:innenrat die Priorisierung der Anträge kontrovers diskutiert wurde. Dies wurde spätestens deutlich, als mehrere mehr oder weniger unkontroverse Anträge zu Verbandsinterna wie dem öffentlichen Auftreten, eine Logoänderung und die Streichung des Sonderzeichen im Namen aneinandergereiht wurden. Nach einer erfolgreichen Änderung der Geschäftsordnung wurde der Antrag zur Neupositionierung des Berliner Landesverbandes zur Situation in Israel und Palästina vorgezogen. Die Debatte schien zunächst sehr heikel zu werden, schließlich umfasste dieser Antrag mehrere Forderungen, die vom Bundesverband und Partei als inakzeptabel angesehen werden und Positionen, die in der Vergangenheit zu Ausschlussforderungen führten. Folgende Forderungen waren im Antrag enthalten:

  • Unterstützung einer sozialistischen Ein-Staaten-Lösung auf dem Gebiet des historischen Palästinas
  •  Anerkennung Israels als Apartheidstaat
  •  Rückkehrrecht für alle Palästinenser:innen
  •  Benennung des Zionismus als reaktionäre und nationalistische Ideologie
  •  Teilnahme des Berliner Landesverbandes an Nakba-Woche

Widerstand kam wieder von der Linken Aktion Lichtenberg, welche den Antragstellenden „Inkompetenz“ unterstellte, da der Zionismus als nationalistische Ideologie gewertet wurde. Das israelische Apartheidregime wurde ebenfalls in der Debatte verneint. Ebenso kam Gegenwind von einer Bundessprecherin, welche darauf hinwies, dass dieser Antrag laut Bundesverbandsbeschluss als antisemitisch einzustufen sei. Die Spaltungslinie zum Bundesverband wurde an diesem Antrag besonders deutlich. Die traditionellen Argumentationsmuster der proimperialistischen Bundesführung, welche sich zur Rechtfertigung ihrer Positionen auf die sogenannte Kollektivschuldthese beruft, zogen bei der Berliner Basis jedoch am Ende gar nicht. Mit großer Überraschung wurde der Antrag nämlich mit absoluter Mehrheit angenommen. Ein großer Erfolg für den revolutionären Flügel von Solid Berlin, da sie nach heftigstem Widerstand innerhalb eines Solid-Verbands eine Mehrheit hinter ihrer Position zur Situation in Israel und Palästina versammeln konnten. Diese Position wird in Deutschland nur von einer handvoll Organisationen vertreten, entspricht jedoch der anerkannten Mehrheitspositionierung von sozialistischen Gruppen weltweit.

Der letzte zu behandelnde Antrag des Tages sollte ebenfalls einer aus dem linken Lager, gegen Krieg und Aufrüstung, sein. Nach einer relativ unkontroversen Debatte – nur die kernrechte Fraktion hatte wieder einmal etwas dagegen – wurde auch dieser Antrag mit absoluter Mehrheit angenommen. Somit positioniert sich die Solid Berlin klar gegen Putins Angriffskrieg, stellt sich aber auch klar gegen Sanktionen und Waffenlieferungen. Ebenso wird die Zerschlagung der NATO und die Umstellung der Rüstungs- auf zivile Produktion gefordert. Der Antrag richtete sich vor allem an die Linkspartei, die sich immer mehr dem deutschen Kriegstaumel anschließt. Am Wochenende waren vor allem Genoss:innen aus Nord-Berlin sowie der Basisgruppe „ROSA“ aus Steglitz-Zehlendorf bei der Antikriegsdemo in Berlin zahlenmäßig gut vertreten, was auf ein breites Mobilisierungspotential für diesen Beschluss schließen lässt. Vor allem hier wird es darauf ankommen, den Druck auf den Landesvorstand aufrechtzuerhalten, beziehungsweise notfalls auch durch öffentliche Kritik größere Mobilisierung durch den gesamten Landesverband zu erwirken.

Weitere Anträge, welche vom linken Flügel kamen – wie zum Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, zur Nichtanerkennung des Bundessprecher:innenrats, zur Abschaffung der Polizei oder zum Rauswurf der Gewerkschaft der Polizei aus dem deutschen Gewerkschaftsbund -, wurden gar nicht erst behandelt, da diese durch reformistische Kräfte im Landessprecher:innenrat nach ganz hinten geschoben wurden. Dies stellt ein weiteres beliebtes Mittel von rechten Strömungen dar, um unbeliebte Themen gar nicht erst behandeln zu müssen.

Nachwahlen zum Landessprecher:innenrat

Bei den Wahlen wurde es nicht minder spannend, doch mit relativ deutlichen Mehrheiten wurden drei neue Genoss:innen in den Landessprecher:innenrat gewählt. Die Bilanz: Eine rechte Wende wurde zwar abgewendet, jedoch behält der Landesvorstand insgesamt einen linksreformistischen Charakter, obwohl zwei dem revolutionären Flügel nahestehende Genoss:innen gewählt wurden. Ein relativer Erfolg war es, dass Nachwuchsbürokrat:innen der Basisgruppe „Linke Aktion Lichtenberg“ (LiA) verhindert wurden, die unter anderem Sanktionen gegen Russland befürworten und die Position vertreten, es sei egal, wenn an diesen die Zivilbevölkerung leidet. Diese Basisgruppe, die im Übrigen eine der größten Fraktionen zur Landesvollversammlung stellte, vertritt ebenfalls die Positionen, dass es in der Ukraine und vor allem in der ukrainischen Armee keine Faschist:innen gäbe und dass die Linksjugend Berlin sich zum Grundgesetz bekennen solle.

Die Wahlergebnisse lassen vorerst darauf schließen, dass in der restlichen Legislaturperiode des Landessprecher:innenrats kein großer Rechtsdrift ansteht, sodass getroffene Beschlüsse, wie das Kooperationsverbot mit bürgerlichen Parteijugenden oder eine Kampagne gegen das Tesla-Werk, mit der Forderung, das dieses entschädigungslos enteignet und unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt gehört, in Teilen des Gremiums Gehör finden. An dieser Stelle soll der Appell an alle linken Mitglieder des Rats gehen, dass wir darauf zählen, die Beschlüsse ernst zu nehmen und den Kampf um diese in die Partei, den Bundesverband und den Landessprecher:innenrat selber hineinzutragen und diese Übergangsforderungen auch öffentlich zu vertreten. Die revolutionären Genoss:innen sollten sich im Klaren darüber sein, dass der LSp:R als bürokratisches Gremium ein Bremsklotz ist, sodass ein gewisser Anpassungsdruck besteht, sich in die bürokratischen Strukturen des Verbandes sowie der Partei hinein zu integrieren. Der Anspruch revolutionärer Genoss:innen innerhalb der linksjugend [‘solid] Berlin ist es, dafür zu kämpfen, in der Perspektive eine leninistische Organisation aufzubauen. Dies schaffen wir nur mit Klarheit des Programms, welches zusammen in Opposition mit revolutionär-sozialistischen Verbündeten umgesetzt werden soll. Die Bildung einer solchen Fraktion innerhalb des Verbandes sowie der Partei sollte oberste Priorität haben und die linken Mitglieder des LSp:Rs dürfen sich dabei nicht vom reformistischen Alltag der Partei zermürben lassen. Im Zweifelsfall kann dies auch nur mit dem Bruch der reformistischen Parteiführung geschehen.

Wie weiter?

Doch was genau bedeutet das alles für die Solid Berlin und für die Linksjugend im Allgemeinen?

Zunächst wurde neben den Genoss:innen aus Nord-Berlin eine Basis für Grundzüge eines revolutionären Programms gefunden. Diese Basis stützt sich eben nicht nur auf eine Basisgruppe, sondern auf die Unterstützung durch andere Genoss:innen des Landesverbandes, die den zum rechten Bundesverband entgegengesetzten Kurs befürworten und sich vom offenen Kampf nicht abschrecken lassen. Das ist erstmal begrüßenswert, doch jetzt kommt es darauf an, als revolutionäre Minderheit diese programmatische Grundlage in eine Oppositionsplattform umzuwandeln, damit der neugewählte, mehrheitlich linksreformistische Landessprecher:innen bei der Umsetzung eben dieser Beschlüsse zu Genüge unter Druck gesetzt wird.

Revolutionär:innen bei der Linksjugend müssen alles dafür tun, dass diese Übergangsforderungen, welche von der Basis beschlossen und legitimiert worden sind, nach außen in der Öffentlichkeit vertreten werden. Der revolutionäre Flügel mag zahlenmäßig eine Minderheit darstellen, jedoch wurde sein Programm mehrheitlich von anderen Genoss:innen befürwortet. Es gilt jetzt, diese Basis für ein anderes Organisationsprinzip zu gewinnen und einen unversöhnlichen Kampf gegen Bundesverband und Partei aufzunehmen, welcher nicht davor zurückschreckt, sich auf die eigene Legitimation zu berufen. Ebenso darf sich dieser Kampf nicht hinter bürokratisch-administrativen Formalien verstecken, Konflikte in der Öffentlichkeit nicht austragen zu wollen. Die Partei ist nach wie vor auf den Jugendverband als Karriereschmiede angewiesen und hat ohne diesen zwar noch die Jugend-BOs, allerdings sind diese für linke Kräfte noch unattraktiver als die Solid an sich. Zu einem gewissen Grad toleriert sogar eine rechte Führung, wie die der Berliner Linkspartei, linke Beschlüsse des eigenen Jugendverbandes, da diese radikale Kräfte in gewohnte und eng gesetzte Bahnen lenkt und mit dem Verweis auf die formelle Unabhängigkeit zur Partei als linke „Spinnereien“ einer Handvoll Jugendlichen abgetan werden können. Die Partei behält sich auch immer vor, dem Jugendverband den Geldhahn zuzudrehen, falls durch bürgerliche Medien ein unerträgliches Ausmaß an Druck erwirkt wird.

Die revolutionäre Minderheit darf sich nicht mit einer formell linken Beschlusslage zufrieden geben. Es muss jeden Tag in der Partei, im Verband und in der Öffentlichkeit um dieses Programm gekämpft und dieses schonungslos nach Außen vertreten werden. Zentristischen Kräften in anderen Verbänden muss gezeigt werden, dass es weder um Posten oder Mehrheiten im Bundesverband geht, sondern um eine alternative Plattform bzw. Opposition, die die bürokratischen Strukturen der Linksjugend und rechte Hegemonie tagein tagaus demaskiert.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Klasse gegen Klasse (https://www.klassegegenklasse.org/) veröffentlicht.




Bericht vom Wiener Schulstreik am 18. Januar

Revolution Austria, Infomail 1176, 19. Januar 2022

Es ist ein sonniger Vormittag und vor dem BRG (Bundesrealgymnasium) Schuhmeierplatz (Wien, 16. Bezirk, Ottakring) sammeln sich junge Leute. Mit Masken und Abstand wird heute gestreikt, um klar ein Zeichen gegen die Pandemiepolitik der Regierung zu setzen und für eine Erleichterung der Matura (in Deutschland: Abitur) zu kämpfen. Speziell die Forderung nach einer freiwilligen mündlichen Matura steht im Mittelpunkt. Viele tragen Schilder mit der Aufschrift #wirstreiken.

Der Warnstreik heute wurde von der Aks, der sozialdemokratischen SchülerInnenorganisation, organisiert. Es stehen aber auch viele andere SchulsprecherInnen dahinter, die sich in einem offenen Brief an die Regierung und den Stadtschulrat gewandt haben. Eine Durchseuchung der Schulen, wie sie gerade stattfindet, wird dabei klar abgelehnt.

Die Stimmung ist gut, auch wenn es etwas kalt ist. Es sind nicht nur MaturantInnen da, sondern viele aus niedrigeren Schulstufen, die sich für ihre KollegInnen einsetzen, aber auch wissen, dass es sie in den nächsten Jahren genauso treffen kann.

„Mir fehlt einfach die Motivation zu lernen. Seit Pandemiebeginn muss ich die ganze Zeit mit Unsicherheiten kämpfen. Wie soll man sich da aufs Lernen konzentrieren?“ fragt eine Schülerin. Eine andere meint, dass die Regierungspolitik, was Bildung angeht, mit dem Wort „unorganisiert“ beschrieben werden kann. „Das Pandemiemanagement der Regierung und die Art, wie unterrichtet wird, scheint planlos. Es wirkt nicht so, als würde sich irgendwer um unsere Meinung scheren“, meint sie.

Ganz oft wird auch ein bisschen scherzhaft die Notwendigkeit der Matura selbst in Frage gestellt. Warum soll eine punktuelle Leistung den Rest des Lebens weiter bestimmen, fragen viele. Durch die Pandemiesituation fallen immer mehr Widersprüche im österreichischen Schul- und Bildungssystem auf.

Der Anlass des Schulstreiks ist die Corona-Politik an Schulen. Wir unterstützen die Forderungen der streikenden SchülerInnen und finden die im offenen Brief der SchulsprecherInnen angesprochenen Probleme und Lösungen richtig. Der Streik wirft jedoch eine Reihe an Schwierigkeiten auf, die tiefer sitzen und langfristigere Lösungen brauchen als den zentralen Slogan einer freiwilligen mündlichen Matura und eines besseren Umgangs mit den Corona-Fällen an Schulen. Vor allem die mangelnde Berücksichtigung der Perspektive von SchülerInnen wird momentan umso deutlicher sichtbar. Es gibt kaum Mitspracherecht für sie und es wird seit Pandemiebeginn über ihre Köpfe hinweg entschieden. Der Streik ist folglich eine gute Möglichkeit, sich endlich Gehör zu verschaffen. Die Forderung nach einer freiwilligen mündlichen Matura ist ein guter Startpunkt. Das reicht aber bei weitem noch nicht aus. Prüfungsmodi müssen nicht nur angepasst, sondern auch neu erdacht werden. Die Schülerunion, die SchülerInnenorganisation der ÖVP, und die Aks sammeln sich beide hinter der Forderung nach einer freiwilligen mündlichen Matura, aber es wird nicht darüber gesprochen, wie es mit den nächsten Klassen weitergehen wird. Jedes Jahr wird es schwieriger werden, den verpassten Stoff aufzuholen. Aber nicht nur das Lernen leidet, sondern auch die Psyche. Nach 2 Jahren Pandemie sind die Auswirkungen klar zu sehen. Viele Jugendliche weisen depressive Symptome auf und das liegt nicht nur an Social Distancing. Der Leistungsdruck in den Schulen, die Unsicherheiten, wie es in Zukunft weitergeht, die Angst, dass man selbst oder nahestehende Leute krank werden, das alles belastet junge Menschen. Es zeigt sich, wie diese Art der Ausbildung Menschen in diesem System schadet, und mit den Streiks auch, dass sich SchülerInnen das nicht mehr so einfach gefallen lassen! Diese Situation sollte genutzt werden, um nicht einem veralteten Bildungssystem hinterherzulaufen, sondern neue Vorschläge mit den SchülerInnen gemeinsam zu entwickeln.

Neben den Problemen beim Lernen und Abprüfen des Stoffes gibt es auch immer noch keine Lösung, wie man SchülerInnen vor Ansteckung schützen kann. Eine Durchseuchung der Schulen ist die momentane Strategie. Das ist einfach ein Schlag ins Gesicht für alle, die jetzt zwei Jahre auf viel verzichtet haben, um die Pandemie einzudämmen. Die Regierung schert sich nicht um die Gesundheit junger Menschen. Deshalb müssen wir uns selbst darum kümmern! SchülerInnen, LehrerInnen und Personal sollten gemeinsam entscheiden können, welche Maßnahmen zusätzlich für ihren Standort gesetzt werden und welche Umstellung im Lehrbetrieb notwendig und sinnvoll ist. Natürlich braucht es auch eine zentrale Planung und richtiges Pandemiemanagement, aber von dieser Regierung können wir das momentan nicht erwarten. Deshalb müssen wir weiterhin Druck aufbauen, bis sie endlich die richtigen Maßnahmen setzt.

Um diesen Druck organisiert aufzubauen, braucht es mehr als nur Schulstreiks. Wir fordern, dass sich SchülerInnen an ihren Schulen zu Komitees zusammenschließen, die gemeinsam Forderungen erarbeiten und damit auch ihre Schule zu Aktionen mobilisieren. Die SchülerInnenorganisationen der Parteien (SU, Aks, Verde, … ) bleiben leider oft hinter der Ziellinie zurück, einfach weil sie doch oft abhängig sind von der Politik, die ihre Mutterparteien machen. Deshalb braucht es unabhängige SchülerInnenpolitik und Selbstorganisierung. Zeitgleich sollten auch gemeinsam mit den beteiligten Organisationen Schulstreiks organisiert werden. Dafür braucht es ein Bündnis und nicht nur einzelne Gruppen, die isoliert oder in losen Zusammenschlüssen arbeiten.

Wir fordern:

* Abschaffung der Matura und Ersetzen durch demokratisch mit SchülerInnen erarbeitete Schulabschlusskriterien!

* Bessere psychische Unterstützung, speziell für durch die Pandemie entstandene Belastungen, am Schulstandort!

* Mehr Fachpersonal, um besser mit Distance Learning umgehen zu können und medizinische Betreuung zu gewährleisten!

* SchülerInnenkomitees, die gemeinsam die Streiks organisieren und Forderungen demokratisch entscheiden!

* Für ein linkes Schulstreikbündnis, um gemeinsam schlagkräftig handeln zu können!

Am 26. Januar geht es weiter mit dem nächsten Schulstreik!

Streiken wir diese Maturabedingungen und dieses Pandemiemissmanagement weg!




[’solid] Berlin: Was tun mit dem ersten Schritt nach Links?

Lukas Resch, REVOLUTION, Infomail 1174, 21. Dezember 2021

Ein Beschluss gegen den RGR-Koalitionsvertrag, ein Antizionist im LandessprecherInnenrat (LSPR) und ein „Nein zur EU der Banken und Konzerne“, ein klares Bekenntnis zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“: Diese und weitere Entwicklungen in [’solid] Berlin sorgen seit der letzten Wahl für Aufsehen, bis in die bürgerlichsten Teile der Presse hinein. Einige Reaktionen aus der eigenen Organisation und der Mutterpartei lassen es scheinen, als hätte man das rote Berlin ausgerufen. Von ewig gestrigen StalinistInnen ist die Rede, öffentliche Hetzkampagnen gegen eigene Mitglieder lassen nicht lang auf sich warten. Was ist los in [’solid] Berlin?

The way so far …

Spricht man mit Mitgliedern, zeigt sich ein positiv gestimmtes Bild: Bei der Wahl zum LSPR schafften es die linkeren Basisorganisationen, diesen gemeinsam mit einigen neuen und vielversprechenden Gesichtern zu besetzen. Auch auf der letzten Landesvollversammlung zeichnete sich ein deutlich linkeres Bild ab als in der Vergangenheit. Unter anderem wurde beschlossen:

Eine Aufforderung an die Linkspartei Berlin, die Koalitionsverhandlungen abzubrechen, und an die Mitglieder, gegen den Vertrag und die Koalition mit den Grünen und der SPD zu stimmen; ein Beschluss gegen die alleinige Zusammenarbeit mit Jusos und grüner Jugend, um nicht als RGR-Jugend zu erscheinen. Eine Zusammenarbeit in größeren Bündnissen wird damit nicht ausgeschlossen.

Dies stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, auch wenn es weiter notwendig sein wird, die Jusos als die Massenjugendorganisation einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei (1) zu gemeinsamen Mobilisierungen aufzufordern. Diese Notwendigkeit stellt sich auch bezüglich der Grünen Jugend, die trotz ihrer ökobürgerlichen Mutterpartei über eine Verankerung in der Umweltbewegung verfügt.

Eine Einschätzung der „EU der Banken und Konzerne“, die ersetzt werden soll durch „die Vereinigung europäischer Staaten“ (auch wenn unklar ist, wie diese  erreicht werden und wie sie aussehen soll), suggeriert immerhin einen „Bruch mit der EU“ (wobei aufgepasst werden muss, dass nicht einfach für einen „linken“ Austritt Deutschlands aus der EU eingetreten wird, sondern für eine sozialistische Vereinigung Europas).

Trotz allem: eine willkommene Entwicklung, die einige Mitglieder von [’solid] bereits von einem Linksrutsch sprechen lässt. Diese Entwicklungen sind, immerhin, ein frischer Wind, erst recht nach der zerschmetternden Wahlniederlage der Linkspartei bei der Bundestagswahl.

Grenzen

Deswegen wollen wir die Situation nutzen, um uns zu positionieren und zur Diskussion über das weitere Vorgehen etwas beizutragen.

Die neue Zusammenstellung des LSPR ist sicher ein Schritt nach vorne, auch wenn dieser noch in der kommenden Zeit beweisen muss, ob der radikale Ruf der ihm vorauseilt, auch entsprechende Taten mit sich bringt.

Die Ergebnisse der Landesvollversammlung sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Man stellt sich entschieden gegen die Ausrichtung der Berliner Linkspartei und erhebt den Anspruch, eine eigene, sozialistische Perspektive dagegenzuhalten.

Der erste Dämpfer ist da natürlich, die Abstimmung gegen die RGR-Koalition verloren zu haben. Von den 50 % der teilnehmenden Linksparteimitglieder haben 75 % für diese gestimmt.

Wie geht es jetzt also weiter für alle, die sich eine linkere, antikapitalistische Politik und Linkspartei wünschen und dafür im Jugendverband kämpfen?

Wir wollen uns auf zwei Punkte konzentrieren: die Grenzen, an die revolutionäre Jugendliche in der Linkspartei und [’solid] stoßen, und die Taktik, mit der sie kämpfen können.

Zunächst das Ernüchternde: Das, was in [’solid] Berlin passiert – ebenso die gewisse Bewegung in der Basis der Linkspartei –, stehen einer bundesweit gegenläufigen Tendenz gegenüber. Real sind die Linkspartei und ihr Jugendverband in den letzten Jahren nach rechts gegangen. Auch wenn sich in den letzten Wochen eine linke Opposition in Berlin gebildet hat und im Landesverband Nordrhein-Westfalen nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahlen ein linker Landesvorsitzender gewählt wurde, so ändert das noch nicht das Gesamtbild. Ramelows Regierungspolitik stellt keine Ausnahme dar. Für alle Landesregierungen mit LINKE-Beteiligung gilt: Mitgehangen, mitgefangen – mit kapitalistischer Realpolitik. Und das gilt auch für Berlin.

Das ist auch kein Zufall oder einfach eine Schwäche gegenüber der größeren SPD, sondern das Interesse der Linksparteiführung . Sie betreibt reformistische Politik, die immer nur den Kompromiss mit dem Kapitalismus sucht, mit dem Leute wie Klaus Lederer an sich ganz gut leben können. Daher ist es für ihn auch kein Problem gewesen, DWe fallen zu lassen.

An die Grenzen dieses Führungsapparates werden alle RevolutionärInnen, die gern eine andere Linkspartei und ein antikapitalistisches [’solid] hätten, irgendwann stoßen, solange dieser Apparat die Partei und ihre Strukturen kontrolliert – so, dass der Apparat die Kontrolle gut behalten kann. Das muss sich auch in [’solid] niederschlagen, und wenn es der Geldhahn ist, an dem die Mutter vielleicht mal dreht.

 … and the way ahead

Ohne über diese Grenzen Gedanken anzustellen, wird jeder Versuch, [’solid] revolutionär umzugestalten, in blindem Aktivismus und Selbstverbrauch oder aber Anpassung an den erwähnten Apparat enden. Unserer Meinung nach sollte sich daher jede//r klar machen, dass es bei der Konfrontation mit der reformistischen Mehrheit und dem Apparat um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht. Letztlich vertritt der Reformismus nicht den Klassenstandpunkt der Lohnabhängigen, sondern ordnet vielmehr deren Interessen jenen der herrschenden Klasse unter.

Trotzdem kann sich das Ringen mit dem Apparat lohnen und unzufriedene Jugendliche in (und außerhalb von) [‚solid] um revolutionäre oder wenigstens eine alternative Politik zu RGR sammeln. Dazu sollten die vorhandenen Ansätze der letzten Wochen vertieft werden. Konkret sollten sich alle Jugendlichen zu einer Opposition organisieren – einer Fraktion.

Die angepeilte Taktik, um die eigene Mutterorganisation mittels einer digitalen Kampagne wieder auf die eigenen Werte zu besinnen, begleitet von Veranstaltungen, kann das nur begrenzt leisten, ist sie doch dazu verurteilt, vor allem einen Nachhall im eigenen Kreis hervorzurufen.

Darüber hinaus braucht es ein Sammeln um Aktionen wie Demonstrationen bis hin zu Streiks in Schule und Betrieb und mehr – wenigstens braucht es jetzt die Debatte darum. Und für sich alleine bringen solche Aktionen auch noch nichts. Es sollte sich auf einige Forderungen verständigt werden, die für Jugendliche gerade akut sind, um die mobilisiert werden kann und mit denen auch andere – Jusos, Grüne Jugend, Gewerkschaftsjugendliche, DWe usw. angesprochen werden können. Beispiele?

  • Sofortige Umsetzung des DWe-Volksentscheids! Gerade Jugendliche können sich das Wohnen ohne (reiche) Eltern nicht leisten! Dazu braucht es eine Massenbewegung und die Unterstützung der Gewerkschaften und MieterInnenverbände, um die Vergesellschaftung durch politische Streiks und Mietboykotts durchzusetzen!
  • Für eine echte Verkehrswende in Berlin – keine S-Bahn-Zerschlagung, dafür massive Einschränkung des Straßenverkehrs, Ausbau von S-Bahn und Tram, kostenloser ÖPNV!
  • Für die Kontrolle über coronabedingte Schulöffnungen und -schließungen durch demokratische Komitees der SchülerInnen und LehrerInnen selbst!

Das sind nur mal drei Beispiele. Der Kampf um solche Forderungen ist einer gegen die RGR-Regierung, und damit gegen Lederer und Co! Völlig richtig ist deshalb, dass [’solid] am kommenden Dienstag zu Protesten gegen RGR aufruft.

Aber es sind die nächsten Monate, die durchscheinen lassen werden, ob die gewisse Dynamik in [’solid] (und Linkspartei) nach links weitergetrieben werden kann oder im Treibsand reformistischer Realpolitik ausgebremst wird. Denn trotz aller positiven Berliner Entwicklungen der letzten Monate im Windschatten der Wahlen – DWe, Krankenhausstreik oder eben auch ein gewisser Linksdrall in DIE LINKE – gegen die Regierung zu kämpfen wird eine andere Nummer, in der das Überwinden der defensiven Position mit davon abhängen wird, ob sich revolutionäre, antikapitalistische Kräfte sammeln können und in [’solid], Jusos usw. reinwirken können.

Daher sollten sich AntikapitalistInnen ernsthaft überlegen, inwieweit sie in ihrem Kampf auf die LINKE setzen wollen, die die nächsten fünf Jahre Verrat schon ab Tag 1 beginnt, oder ob ein revolutionärer Bruch mit der Partei sinnvoller ist. Früher oder später wird dieser unserer Meinung nach unausweichlich. So oder so sind wir für die Debatte mit Euch offen.

Übrigens: Vor sieben Jahren hat die Jugendorganisation REVOLUTION eine umfassende Broschüre rausgebracht, die [’solid] kritisch beleuchtete und RevolutionärInnen im Jugendverband einen Handlungsvorschlag zur Sammlung ihrer Kräfte machte … immer noch aktuell: http://onesolutionrevolution.de/wp-content/uploads/2011/04/Solid-Polemik_Lukas_Müller_2014.pdf

Endnote

(1) Unter einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verstehen wir eine bürgerliche Partei, die sich jedoch über historische Verbindungen, über Gewerkschaften, proletarische Mitgliedschaft und WählerInnen auf die Klasse der Lohnabhängigen stützt, mit dieser organisch verbunden ist.




Schulen und Corona: Jugend plant Aktionstag

Lukas Resch, Neue Internationale 254, April 2021

Monate des Online-Unterrichts verdeutlichen, wie weit Deutschland in Sachen Digitalisierung zurückhängt. Das Homeschooling schwankte zwischen Extremen: Entweder wurden SchülerInnen mit Aufgaben überschüttet oder sie fehlten. Gleichzeitig wurden die Unterrichtsstunden oft nur genutzt, um neue Aufgaben zu stellen, oder sie fielen gleich ganz aus. Nie gab es eine einheitlich durchdachte Strategie zur Gestaltung des Unterrichts während der Pandemie. Was wie umgesetzt wird, müssen LehrerInnen im Alleingang und zusätzlich zum schon bestehenden Aufgabenberg entscheiden. Nun heißt die neue Hoffnung: In die Schule und testen, testen, testen (und was, wenn die Corona-Tests nicht da sind?).

SchülerInnen leiden unter diesen Zuständen. Monatelang zu Hause bei der Familie eingesperrt mit miserablen Unterrichtsmodellen. Dann zurück in die Schule mit vollkommen unzureichenden Hygienemaßnahmen und obendrein Leistungsabfragen und unter diesen Umständen kaum zu schaffende Prüfungen. Währenddessen bleibt zuhause die Stimmung oft angespannt, da auch für die Eltern die Krise noch lange nicht überwunden ist.

Schon früh regte sich Widerstand gegen das Vorgehen der Bundes- und Landesregierungen. Immer wieder kam es online zu Petitionen und Initiativen. Eine generelle Änderung der Politik wurde dabei jedoch nicht erwirkt. Das lag vor allem an drei Punkten:

  • Es wurde verpasst, die Forderungen nach Öffnungen oder Schließungen der Schulen mit der dahinter liegenden sozialen Frage zu verbinden, statt nur die jeweils akutesten Probleme anzusprechen. Das ist durchaus wichtig, aber leider nicht genug, denn die Lage von Pandemie und Politik ändert sich fast täglich.
  • Eine bundesweite Vernetzung unterblieb. Zwar ist Bildung Ländersache, aber eine der größten Schwächen ist eben das unkoordinierte Vorgehen der Länder. Der Bund greift, bis eine Obergrenze für „die Notbremse“ überschritten ist, nicht ein.
  • Die Initiativen verblieben im virtuellen Raum. Nur vereinzelt konnte lokal mediale Aufmerksamkeit erreicht werden, die in keinster Weise die eigentliche Anzahl derer repräsentiert, die sich nicht einverstanden mit der Schulpolitik erklären.

Für gerechte Bildung

Den Missständen in den Schulen hat das Bündnis „Für gerechte Bildung“ (gerechtebildung.org) den Kampf angesagt. Frei nach dem Motto „Wer 7 Mrd. für die Lufthansa hat, hat auch genug Geld für gute Bildung!“ geht es unter anderem um die Finanzierung von kostenloser Nachhilfe und digitaler Lernausstattung. Weitere Forderungen sind bessere Hygienekonzepte, Durchschnittsabschlüsse und sichere Lernräume für SchülerInnen, die diese nicht zuhause haben.

Am 23. April plant es einen zweiten bundesweiten Aktionstag gegen die menschenverachtende Corona-Politik. Es geht also endlich raus aus dem virtuellen Raum! Allerdings sind für einen erfolgreichen Kampf noch Hindernisse zu überwinden. Zwar gibt es eine bestehende bundesweite Vernetzung und Zuspruch von vielen Gruppen – darunter Internationale Jugend, Young Struggle, SDAJ, Solidaritätsnetzwerk, DIDF, Sozialistische SchülerInnengewerkschaft Deutschland und REVOLUTION.

Allerdings unterschätzen einige im Bündnis die Notwendigkeit, „Für gerechte Bildung“ zu mehr als einem Zusammenschluss kleiner, sich sozialistisch nennender Gruppen auszuweiten. Dazu muss es auch Massenorganisationen und Vertretungsstrukturen der SchülerInnen offensiv ansprechen und in die Aktion zu ziehen versuchen: Organisationen wie die Jusos, Linksjugend [’solid] zählen tausende Jugendliche in ihren Reihen. Sie sollten aufgefordert werden, für den Aktionstag zu mobilisieren und die Forderungen zu unterstützen. Selbiges gilt für die SchülerInnenvertretungen (SV). Nur wenn wir diese Kräfte gewinnen, kann eine Bewegung mit Massenanhang entstehen, die das Kräfteverhältnis wirklich verändern kann.

Im nächsten Schritt kommt es außerdem darauf an, dass alle Gruppen einen praktischen Beitrag leisten, was vor allem heißt: Mobi, Mobi und noch mal Mobi! Wenn am 24. April Tausende SchülerInnen auf die Straße gebracht sein sollen, haben alle Gruppen reichlich Möglichkeiten zur Verbreitung ihrer Politik und wir können zugleich den Druck auf größere Organisationen erhöhen, sich anzuschließen.

Schlussendlich fehlt es dem Bündnis auch an einer Perspektive für die Zusammenarbeit mit ArbeiterInnen, insbesondere jenen in Bildungs- und Erziehungssektor. Eine Chance dafür wäre die Zusammenarbeit mit der Basisinitiative der GEW. Diese erfolgte bereits in Berlin in Kooperation mit der Jungen GEW, um so die Gewerkschaft insgesamt in die Aktion zu ziehen.

„Für gerechte Bildung“ will ein Schulsystem, indem SchülerInnen mitentscheiden können. Doch wenn die Forderungen nach gerechten Lern- und besseren Hygienebedingungen Wirklichkeit werden sollen, braucht es mehr: eine demokratische Kontrolle des Bildungssystems! Maßnahmen an jeder einzelnen Schule wie auch bundesweit müssen durch Komitees aus SchülerInnen, Lehrkräften und Eltern beschlossen werden. Genau deshalb sollte das Bündnis auf die GEW, aber auch auf kämpferische ArbeiterInnen überhaupt zugehen und den gemeinsamen Kampf suchen. Immerhin sind es die Kinder und Jugendlichen aus ArbeiterInnenfamilien, die am meisten unter dem bisherigen Corona-Schulchaos leiden!

Bundesweiter Aktionstag




#wirsinddiezukunft – Bildung für uns, nicht fürs System!

Jan Hektik, Infomail 1138, 6. Februar 2021

Am 5. Februar fand auf dem Berliner Alexanderplatz unter dem Motto „Bildung für uns, nicht fürs System!“ eine Auftaktdemonstration gegen die überhastete Öffnung von Schulen und Kitas inmitten der Pandemie statt. Vor Ort versammelten sich etwa 100 SchülerInnen und UnterstützerInnen, darunter unter anderem AktivistInnen von REVOLUTION, der SDAJ, [‘solid!] Kreuzkölln, der DIDF-Jugend, Sol, der Gruppe ArbeiterInnenmacht und der im Aufbau befindlichen Berliner Ortsgruppe der #ZeroCovid-Initiative.

Die Stimmung war positiv und kämpferisch, trotz des Versuchs einer Schikane der Polizei gegenüber TeilnehmerInnen. So hielt sie zu Beginn der Aktion Menschen mit Schildern zur Sichtbarmachung des gestrigen #ZeroCovidDays fest. Ihr Vorwurf bestand darin, dass diese angeblich im Vorfeld an einer Fotoaktion vor dem Sitz des Bundesverbandes der Deutschen Industrie teilgenommen hätten. In der #ZeroCovid-Berlin-Gruppe hieß es dazu korrekterweise: „Wären die AktivistInnen in einer Polonaise durch Geschäfte gestürmt oder hätten den Reichstag gestürmt, so wären sie glimpflicher davongekommen.“

Wir verurteilen diese Schikane. Sie zeigt uns, dass die Initiative gegen übereilte Öffnungen richtig und wichtig ist. Egal ob in der Frage der Schul- oder Werksöffnungen, Ziel des Kapitals ist der Profit, dafür gehen Konzerne notfalls über Leichen. Die gestrigen Aktionen stellen sich diesem Programm offen in den Weg.

Aufgerufen zur SchülerInnendemonstration wurde von der Antikapitalistischen SchülerInnen Truppe (AkST). Hervorheben wollen wir auch die Kampagne für ein Durchschnittsabitur, die vor Ort eine Rede hielt. Die Aktion war ein guter erster Schritt für den Auftakt eines Protestes gegen die Gesundheits- und Krisenpolitik der Regierung von links. Sowohl die Beteiligung von #ZeroCovid und die Diskussionen um einen dortigen Aufbau als auch das Engagement der anderen linken Gruppen und die Breite der Aktion bieten hierfür eine gute Chance.

Jetzt ist es wichtig, den Kampf gegen die Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft und nicht unserer Gesundheit zu vertiefen! Wir rufen alle Beteiligten und alle anderen linken Organisationen, welche sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen, sowie die Gewerkschaften dazu auf, sich am Aufbau einer Bewegung um #ZeroCovid gegen die Krise zu beteiligen.

Lasst uns gemeinsam eine Bewegung gegen Pandemie und Krise aufbauen!

Am 07.02.2021 um 15 Uhr findet ebenso ein Bündnistreffen für weitere Aktionen statt.




Nigeria: Jugend erhebt sich im #END SARS-Aufstand

Bernie McAdam, Infomail 1126, 14. November 2020

Am 7. Oktober löste ein in Umlauf gebrachtes Video eine Massenrevolte der nigerianischen Jugend aus, auf dem zu sehen ist, wie PolizeibeamtInnen der „Special Anti-Robbery Squad“ (SARS; Sondereinheit zur Bekämpfung von Raubüberfällen) einen Teenager töten. Der Mann, der das Video aufgenommen hatte, wurde festgenommen und es kam unter dem Hashtag #END SARS zu Massenmobilisierungen auf den Straßen. Die Polizei setzte Tränengas ein, um die Proteste aufzulösen. Stattdessen weiteten diese sich jedoch auf alle Ballungsräume Nigerias aus, insbesondere auf die größte Stadt Lagos sowie die Hauptstadt Abuja.

Ein solcher Aufstand zeichnete sich schon lange ab. Die Ermordung des Teenagers in Ughelli war kein einmaliger Akt der Brutalität, sondern der Wendepunkt für Jugendliche, die seit vielen Jahren unter den Schikanen und dem Terror der SARS gelitten hatten. Ihre BeamtInnen hatten sich für Morde, Erpressungen, Entführungen und Vergewaltigungen einen berüchtigten Ruf erworben, wobei die Jugend am häufigsten in der Schusslinie stand. Amnesty International hat in den letzten drei Jahren über mindestens 82 Fälle von Folter, Misshandlung und Mord durch SARS berichtet. Diese Zahl dürfte eine gewaltige Untertreibung sein.

Am 11. Oktober löste Präsident Muhammadu Buhari die SARS-Einheit auf und gründete eine neue namens „Special Weapons and Tactics“ (SWAT; Spezialwaffen und -taktiken). Im Grunde war es dieselbe Einheit unter einem anderen Namen. Doch niemand ließ sich von diesem Trick täuschen, war es doch bereits das fünfte Mal in fünf Jahren, dass sie „reformiert“ wurde. Es folgten mehr und größere Proteste und #END SARS wurde zu #END SWAT. Buhari reagierte mit noch mehr Repression und versuchte am 20. Oktober, eine 24-stündige Ausgangssperre in Lagos durchzusetzen. Lagos ist mit 14,5 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Afrikas, einige Schätzungen gehen sogar von 23 Millionen in der gesamten Metropolregion aus.

In der Nacht setzten sich die DemonstrantInnen über die Ausgangssperre hinweg. An der Mautstation Lekki in Lagos eröffnete das Militär das Feuer, wobei mindestens zwölf Menschen getötet und viele weitere verwundet wurden. Ursprünglich leugneten sie es, aber Reuters berichtete, dass an diesem Tag in ganz Nigeria 46 Menschen getötet wurden. Die Revolte weitete sich aus und verstärkte sich durch Straßensperren und Angriffe auf Polizeistationen und Mautstellen. Es kam auch zu Plünderungen, was angesichts der weit verbreiteten extremen Armut nicht überrascht. Bewaffnete Schlägertrupps griffen in mehreren Gebieten friedliche DemonstrantInnen an, zweifellos orchestriert von der Polizei.

Die internationale Solidarität war groß und kam einerseits von prominenten MusikerInnen wie Rihanna, Beyoncé (Knowles-Carter), Noname (Fatimah Nyeema Warner), Drake (Graham), Diddy (Sean Combs), Trey Songz und Jack (Patrick) Dorsey (Mitgründer von Twitter), die die Jugend unterstützen, sowie durch Demonstrationen in den USA und in London. Auch in Nigeria hat der Sohn des verstorbenen Afrobeatpioniers Fela Kuti, Seun Kuti, der selbst Musiker ist, die Regierung und die Polizei verurteilt. Felas Familie ist seit langem Ziel des Militärs. Seun steht in dieser Tradition und war versessen, darauf hinzudeuten: „Wenn die Reichen plündern können, dann können es die Armen auch“, ein Hinweis auf den Diebstahl nigerianischer Ressourcen durch den Imperialismus und seine AuftraggeberInnen.

Auf der Kippe

Die Jugendrevolte findet vor dem Hintergrund einer großen Krise der nigerianischen Wirtschaft statt. Tatsächlich machen Jugendliche unter 18 Jahren die Hälfte der Bevölkerung aus und Arbeitslosigkeit hat sie besonders hart getroffen. Die nigerianische Arbeitslosenquote für das zweite Quartal 2020 liegt bei 27,1 Prozent, was 21,7 Millionen Menschen ohne Arbeit bedeutet. Weitere 28,6 Prozent sind unterbeschäftigt. Bei den 15- bis 34-Jährigen sind 13,9 Millionen Menschen arbeitslos.

Zwischen 2000 und 2014 wuchs Nigerias BIP um durchschnittlich 7 Prozent pro Jahr. Nach dem Verfall des Ölpreises in den Jahren 2014 – 2016 sank das BIP-Wachstum auf 2,7 Prozent im Jahr 2015. Das Land ist der größte Ölexporteur Afrikas. Im Jahr 2016 erlebte die Wirtschaft die erste Rezession seit 25 Jahren. Seither lebt die Hälfte der Bevölkerung weiter in Armut.

Die Auswirkungen der Pandemie werden sich als katastrophal erweisen. Die Weltbank berichtet, dass der Einbruch des Ölpreises die Wirtschaft voraussichtlich in eine schwere Rezession stürzen wird, die schlimmste seit den 1980er Jahren. Öl macht mehr als 80 Prozent der nigerianischen Exporte, 30 Prozent der Kredite des nigerianischen Bankensektors und 50 Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus. Mit dem Rückgang des Ölpreises werden die Einnahmen voraussichtlich von bereits niedrigen 8 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf voraussichtlich 5 Prozent im Jahr 2020 sinken.

In der Zwischenzeit frisst die Pandemie private Investitionen auf und verringert die Geldüberweisungen aus der Diaspora an nigerianische Haushalte. Dies ist von besonderer Wichtigkeit für die Wirtschaft, so machten die Überweisungen im Jahr 2012 beispielsweise 5 Prozent des BIP aus. Die nigerianische Gemeinschaft in den USA trägt wesentlich dazu bei, da sie die am besten ausgebildete und professionellste aller MigrantInnengemeinschaften dort verkörpert. Trump konnte seinen Dank dafür, dass er dem Land seine Talente entzogen hat, nur durch ein Reiseverbot für NigerianerInnen (aus vermeintlichen Sicherheitsgründen!) zum Ausdruck bringen.

Es gibt natürlich noch andere Probleme, mit denen Nigeria konfrontiert ist, nicht zuletzt der islamistische Boko-Haram-Aufstand im Nordosten, der über 20.000 Tote und 2 Millionen Vertriebene gefordert und 6 Millionen Menschen durch die Verschärfung der Armut in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Weltbank hat die fürstliche Summe von 200 Millionen US-Dollar Kredit zur Unterstützung dieser Krise im Nordosten zur Verfügung gestellt, ein Tropfen auf den heißen Stein, der jedoch zu den zahlreichen Darlehen und Krediten hinzukommt, die das Land seit 1958 angehäuft hat.

Nigeria ist durch seine Schulden sehr stark an den Weltimperialismus gebunden, der in Gestalt der multinationalen Öl- und Gaskonzerne seine Ressourcen erbarmungslos ausbeutet und im Nigerdelta eine Umweltverschmutzung epischen Ausmaßes verursacht. Hinzu kommen Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF), die die Zinsen für Kredite einstreichen und die Sparagenda für die Regierungen festlegen. Der IWF hat vor kurzem einen Notfallkredit in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar bewilligt, um den Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft entgegenzuwirken.

Schon vor diesem Darlehen gab es unter Buhari eine Steigerung der Staatsverschuldung um 73 Milliarden US-Dollar. Seine Reaktion darauf war, selbst mitten in der Pandemie zu kürzen. In diesem Jahr wurde eine ganze Reihe von Sparmaßnahmen umgesetzt, darunter Erhöhungen der Preise, der Mehrwertsteuer, der Brennstoff- und Strompreise usw. Die beiden Gewerkschaftsverbände, National Labour Congress (NLC) und Trades Union Congress (TUC), riefen im September zu einem unbefristeten Generalstreik auf, um die Benzin- und Strompreiserhöhungen zu stoppen.

Am Vorabend des Streiks gaben die GewerkschaftsführerInnen jedoch nach und brachen ihn ab, ohne irgendwelche Zugeständnisse von der Regierung zu erhalten. Es hatte großen Druck von der Basis gegeben, die unbedingt Aktionen durchführen wollte, weshalb es in der Folge einen Sturm von Denunziationen aus Gewerkschaftsgrundeinheiten und Straßenproteste gegen diesen Ausverkauf gab. Dies veranschaulicht die Notwendigkeit einer alternativen kämpfenden Führung in den Gewerkschaften und einer, die in der Lage ist, sich zu organisieren und eine breite Basisopposition in der gesamten Bewegung aufzubauen, die sich auf die Perspektive stützt, auch ohne die Führung zu handeln, wo nötig.

Von der Rebellion zur Revolution

Das Ausmaß des #END SARS-Aufstands zeigt, dass es hier nicht nur um SARS ging, sondern vielmehr um eine tief sitzende Entfremdung der Jugend von der endemischen Korruption und Armut, die Nigeria befallen hat. Die Bewegung war spontan und führerlos. Frühe Mobilisierungen beanspruchten keine politische Führung und verteilten keine Flugblätter. Die Militanz verstärkte sich parallel zum Ausmaß der Angriffe der Polizei und des Militärs, als die DemonstrantInnen begannen, den Sturz der Regierung zu fordern.

Diese fünf Forderungen sind aus der Bewegung hervorgegangen:

  • Die sofortige Freilassung aller verhafteten DemonstrantInnen.
  • Gerechtigkeit für alle verstorbenen Opfer von Polizeibrutalität und angemessene Entschädigung für ihre Familien.
  • Die Einrichtung eines unabhängigen Gremiums, das die Untersuchung und Strafverfolgung aller Berichte über polizeiliches Fehlverhalten beaufsichtigt (innerhalb von 10 Tagen).
  • Psychologische Beurteilung und Umschulung (die von einem unabhängigen Gremium bestätigt werden muss) aller entlassenen SARS-BeamtInnen, bevor sie wieder eingesetzt werden können, im Einklang mit dem neuen Polizeigesetz.
  • Ein erhöhtes Polizeigehalt, damit sie für den Schutz von Leben und Eigentum der BürgerInnen angemessen entlohnt werden.

Die Forderungen fassen den berechtigten Ruf nach einem Ende der Repression perfekt zusammen, aber der „Mangel an Politik“ oder, genauer gesagt, die Illusionen in den Staat, kommen in den letzten beiden Forderungen klar zum Ausdruck. Die Polizei ist, ebenso wie die Streitkräfte und die Justiz, ein integraler Bestandteil der Kontrolle des kapitalistischen Staates über die Ausgebeuteten und Unterdrückten. Ihre repressive Rolle wird sich nicht dadurch ändern, dass man ihnen mehr Geld gibt! Revolutionäre SozialistInnen müssen klar benennen, dass es keine friedliche Reformierung dieser Organe gibt, solange der Kapitalismus bestehen bleibt.

Es ist jedoch noch verblüffender, dass einige SozialistInnen inmitten eines Massenkampfes gegen die Polizei fordern, eine korrupte und brutale Polizeieinheit mit einer Gehaltserhöhung zu belohnen. Diese Forderung wurde von zwei der sogenannten revolutionären Gruppen in Nigeria aufgegriffen. Die dem kürzlich gespaltenen Committee for a Workers‘ International (CWI) angehörige Democratic Socialist Movement (DSM) und seiner ehemaligen Mehrheit und Abspaltung (International Socialist Alternative) zugehörige Movement for a Socialist Alternative (MSA) plädieren beide dafür, dass Polizeigewerkschaften neben Gemeindekomitees die Polizei kontrollieren sollten.

Es ist sicherlich notwendig, Forderungen zur Polizei in Bezug auf ihre Entwaffnung und Schwächung ihrer repressiven Rolle zu stellen, aber dies kann nicht außerhalb eines Kampfes zur Zerschlagung des kapitalistischen Staates und zum Aufbau neuer Selbstverteidigungsorgane für ArbeiterInnen und die Jugend stattfinden. Die Polizei beschäftigt keine „ArbeiterInnen in Uniform“, sondern die AgentInnen an vorderster Front des Staates, deren Existenzgrund hauptsächlich auf der Niederschlagung des Kampfes der ArbeiterInnenklasse beruht. Wir sollten die Polizeigewerkschaften aus den Gewerkschaftsverbänden hinauswerfen, so wie wir alle StreikbrecherInnen ausschließen würden.

Dieselben Gruppen haben zu Recht dafür plädiert, dass sich die organisierte ArbeiterInnenklasse solidarisch zeigt, aber sie haben kein zielgerichtetes Aktionsprogramm skizziert, das den derzeit begrenzten in einen allgemeinen Kampf um die Macht der ArbeiterInnen verwandeln könnte. Die Liga für die Fünfte Internationale ist der Ansicht, dass ein solches Programm die Hauptwaffe einer revolutionären Partei zur Bereitstellung einer Übergangsstrategie zum Sozialismus sein sollte. Die Hauptachsen eines solchen Programms wären: Bildung von Aktionsräten und einer ArbeiterInnenmiliz mit dem Ziel einer ArbeiterInnenregierung, die diesen Organen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Das Versäumnis dieser Gruppen, diese Schlüsselforderungen für eine revolutionäre Organisation aufzustellen, steht im Einklang mit ihrem Nachtraben hinter der Bewegung und ihrem Unverständnis der marxistischen Staatstheorie.

Wie weiter?

Die #END SARS-Bewegung befindet sich derzeit an einem Scheideweg. Die „Koalition der Protestgruppen“ sagt: „Wir werden die physischen Proteste depriorisieren“, „aufräumen“ und online gehen und, noch bedenklicher: „Wir haben eine vielfältige Gruppe vorgeschlagen, die die verschiedenen Koalitionen repräsentieren soll; von Prominenten bis AktivistInnen, von JuristInnen bis StrategInnen, von JournalistInnen bis UnternehmerInnen.“ Wohl kaum eine Ansprache an die ArbeiterInnen und Armen! Wer trifft eigentlich diese Entscheidungen, wenn immer behauptet wird, es gäbe keine AnführerInnen?

Die anfängliche Spontaneität und Dynamik der Rebellion dürfen nicht zerstreut, sondern müssen in einer Bewegung gebündelte werden, die sich demokratisch treffen, vorwärtsweisende Forderungen formulieren und über eine politische Richtung entscheiden kann. Demokratie ist von wesentlicher Bedeutung. „Führungslose“ Bewegungen haben nämlich durchaus AnführerInnen, die jedoch niemandem Rechenschaft schuldig sind. Ohne klares Ziel riskieren sie, dass die Bewegung sich ohne klaren Weg nach vorn zerstreuen, wenn nicht gar auflösen könnte und Präsident Buhari auf diese Weise seinen Kopf aus der Schlinge zöge.

Aus diesem Grund sollten demokratische Massenversammlungen der Jugend organisiert werden, um die Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen. Diese Gremien könnten zu embryonalen Aktionsräten mutieren, organisiert in allen Regionen. Sie sollten sich vernetzen und auf nationaler Ebene koordiniert werden. Sie sollten versuchen, ArbeiterInnenorganisationen, StudentInnen, Frauen, Arbeitslose und natürlich die Jugend einzubeziehen. Die Räte sollten die standhaftesten Verteidiger demokratischer Rechte sein, aber es ist entscheidend, dass auch ein Kampf gegen die Sparpolitik und Korruption Buharis und des Imperialismus aufgenommen wird. Sie sollten einen Generalstreik organisieren, um die Regierung Buhari zu stürzen.

Der Kampf gegen SARS hat Hunderttausende von Jugendlichen gegen den Staat zusammengebracht, einen Staat, der für Korruption, endemische Armut, Umweltverschmutzung und Kollaboration mit dem Imperialismus steht. Die radikalisierte Jugend muss politische Antworten und Lösungen für die sich entfaltende Wirtschaftskrise in Nigeria fordern und die Einheit mit der organisierten ArbeiterInnenklasse anstreben. Es ist unerlässlich, dass die nigerianische ArbeiterInnenklasse ihre Solidarität mit der Jugend zeigt. NLC und TUC haben die Jugend verbal unterstützt, zeigen aber keine Anzeichen für Aktion. Anstatt also auf diese BürokratInnen des Ausverkaufs der Gewerkschaftsverbände zu warten, muss die Basis in den Betrieben und in den Gewerkschaftsgruppen unabhängig innerhalb der Gewerkschaften mobilisieren und zur Unterstützung der Jugend und zur Verteidigung ihres Lebensstandards streiken.

Wie wir bereits gesehen haben, wird jede gegen den Staat gerichtete Bewegung physisch angegriffen werden. Das gilt für Demonstrationen ebenso wie für Streiks. Die Frage der Selbstverteidigung gegen die Streitkräfte und staatlich geförderte Schlägertrupps ist von entscheidender Bedeutung. Sie kann nicht durch Aufrufe zur Reform der Polizei weggewischt werden. Demokratische Versammlungen, die auf Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend basieren, sollten nicht nur Ordnerdienste für Demos leisten, sondern disziplinierte und bewaffnete Einheiten organisieren, die eine wirksame Form der Verteidigung am Arbeitsplatz wie auch in der Wohngemeinde darstellen.

Die Entwicklung von Aktionsräten und ihre Verteidigung wird auf konkrete Weise die Frage aufwerfen, wer in der Gesellschaft regiert. Wir fordern alle FührerInnen der ArbeiterInnenklasse auf, mit dem Kapitalismus zu brechen und eine ArbeiterInnenregierung auf der Grundlage demokratischer ArbeiterInnenräte zu bilden, um die Krise im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu lösen. Das bedeutet, die Schulden bei IWF/Weltbank zu streichen, die Industrie und die Banken zu enteignen und die Kontrolle der ArbeiterInnen über sie anzuerkennen. Es bedeutet auch, die ernsten Landprobleme in Nigeria wie im Konflikt zwischen Bauern/Bäuerinnen und HirtInnen anzugehen und die Unterstützung der armen Landbevölkerung zu gewinnen.

Schließlich wird diese Perspektive ohne eine revolutionäre Partei nicht verwirklicht werden können. Seit dem Ende der Militärherrschaft 1999 wurde Nigeria durch einen doppelten Fluch in Gestalt zweier korrupter offen bürgerlicher Parteien, dem „All Progressives Congress“ und der „People‘s Democratic Party“ gebeutelt. Die NLC-BürokratInnen haben halbherzige Versuche unternommen, eine kleine nigerianische ArbeiterInnenpartei zu gründen. Die Notwendigkeit einer neuen ArbeiterInnenmassenpartei wird von Tag zu Tag offensichtlicher, und RevolutionärInnen würden in ihr für einen vollständigen politischen Bruch mit den Bossen und dem Kapitalismus und für ein revolutionäres sozialistisches Programm eintreten.

Die Linke in Nigeria wie die DSM und die MSA, die beide anscheinend die „Sozialistische Partei Nigerias“ aufbauen, sowie die „Campaign for a Workers‘ and Youth Alternative“ (CWA; Kampagne für eine ArbeiterInnen- und Jugendalternative) der Internationalen Marxistischen Tendenz und die „Joint Action Front“ (Gemeinsame Aktionsfront, Koalition von ArbeiterInnen- und BürgerInnengruppen) sollten eine neue MassenarbeiterInnenpartei fordern. Parallel dazu sollten sie für ein revolutionäres Programm kämpfen, das unmissverständlich zur Zerschlagung des kapitalistischen Staates durch ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen in Nigeria aufruft. Ein ArbeiterInnenstaat, der sich auf Delegiertenräte von Arbeitsplätzen, Schulen, Universitäten, Gemeinden usw. stützt und von einer ArbeiterInnenmiliz verteidigt wird, muss sich an die Aufgabe machen, einheimisches und ausländisches Kapital zu enteignen und die nigerianische herrschende Klasse auf den Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen.




GEW-Bundesjugendkonferenz, Teil 2: Junge Basismitbestimmung digital?

Richard Vries, Infomail 1120, 9. Oktober 2020

Im ersten Teil unseres Berichts von der Bundesjugendkonferenz haben wir uns mit Veranstaltungen zur Digitalisierung und zum Systemwandel beschäftigt. Nun werden wir auf den 2. Teil der Tagung eingehen.

Das dritte Panel am folgenden Sonntag sollte das Thema „Gewerkschaften und politischer Streik – ein No-Go ?!“ behandeln. Der Text im Programmbuch versprach: „Nach einem Input ‚ABC des Streikrechts’ erörtern wir gemeinsam, was die langfristigen Ziele der GEW bzw. der DGB-Gewerkschaften sind und wie die Schritte auf diesem Weg aussehen können“. Die gemeinsame Erörterung entpuppte sich freilich als ausführlicher, männlich dominierter Doppelmonolog.

Die Gewerkschaften hierzulande seien ohne politische Streiks in einer ständigen Verteidigungsposition, betonte der Referent zum Start. Bereits eine einzige rechtswidrige Forderung könne dort den gesamten Streik illegal werden lassen. Selbst die EU prangere dieses deutsche Streikrecht an, das den Gewerkschaften das Streikmonopol überließe und gleichzeitig lediglich Tarifstreiks erlaube. In anderen Teilen der europäischen Union seien politische Streiks entsprechend deutlicher ausgeprägt. Auch die GEW bekenne sich generell zum politischen Streik, weise aber auf die damit verbundene, schwierige Rechtslage in der BRD hin.

Genau an diesem Punkt wäre aus unserer Sicht wieder dringend den Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft zu nennen, angebracht gewesen. Doch dazu kam es erneut nicht mehr. Unser Beitrag konnte wegen technischer Probleme und eines sehr geringen Zeitrahmens für Diskussionen, also für inhaltliche Beiträge, eben nicht nur für Fragen, nicht mehr behandelt werden. Auch, dass für die im Vortrag angesprochene Urabstimmung ganze drei Viertel der Mitglieder den Streik vorab bejahen müssen, bei der anschließenden über das Verhandlungsergebnis aber nur noch ein Viertel der Beteiligten diesen durchzuwinken habe, blieb undiskutiert. Demokratisches Vorgehen sieht anders aus.

Dabei hätte sich die Diskussion um den politischen Streik nicht bloß auf die rechtliche Lage un in Deutschland und der EU beschränken dürfen. Wenn dieser erkämpft werden soll, müssen wir auch auf die politischen Hindernisse eingehen, auf die wir in der ArbeiterInnenbewegung und in den Gewerkschaften selbst stoßen. Festgehalten werden müssen in diesem Zusammenhang zunächst einmal die vorherrschende Politik der Klassenzusammenarbeit und die SozialpartnerInnenschaft, die die Gewerkschaftspolitik und die der meisten Betriebsräte prägen. Sie gefährden darüber hinaus, wie aus den Vorträgen selbst hervorging, auch die Verteidigung des eigenen Streikrechts. Die DGB-Gewerkschaften stellen damit, ob bewusst oder unbewusst, eine soziale Hauptstütze der Großen Koalition dar – und beißen sich somit ins eigene Fleisch. Wie in den Landesregierungen ordnen sich sogar die Mitglieder der Linkspartei in den Gewerkschaften nicht selten den kapitalistischen „Sachzwängen“ unter. Womit dieses System der SozialpartnerInnenschaft angesichts des derzeitigen Großangriffs des Kapitals die ArbeiterInnenklasse an die bestehenden Verhältnisse fesselt und darüber hinaus auch noch nie erlaubt hat, eine wirkliche Wende durchzusetzen.

Denn diese PartnerInnenschaft geht immer wieder damit einher, es dem Kapital zu erlauben, seine Profitinteressen auf Kosten der Konkurrenz, der (prekär) Beschäftigten sowie der Umwelt durchzusetzen. Die politische Zurückhaltung der Gewerkschaften hat ihre Ursache also auch in der direkten Anbindung an das kapitalistische System mitsamt seinen Krisen – und sie setzt sich auch darin fort, dass kein ernsthafter Kampf gegen die zahlreichen Einschränkungen des Streikrechts geführt wird, ja dass die Bürokratie einen solchen selbst überhaupt nicht will. Dabei erfordert die aktuelle Krisenperiode eigentlich eine politische, also nicht bloß eine tariflich-gewerkschaftliche Strategie.

Es wird sich im Gegensatz dazu leider immer noch viel zu oft erhofft, wie etwa am 1. Mai 2020 beim DGB-Livestream, diese kapitalistische Krise durch noch mehr Zusammenarbeit mit dem Kapital, noch mehr PartnerInnenschaft bei der Sicherung der Interessen des deutschen Exports und des Großkapitals insgesamt zu überstehen. Es ist deshalb wirklich kein Wunder, dass immer größere Teile der ArbeiterInnenklasse von diesen Interessenvertretungen entfremdet oder gar nicht organisiert sind und diese wiederum ihre Aussagekräftigkeit verlieren. Stattdessen sollten unabdingbare politische Forderungen, wie sie auch mehrfach von den Vortragenden angesprochen wurden, in den Gewerkschaften immer wieder flächendeckend diskutiert und in die Forderungen bzw. Mobilisierungen mit einbezogen werden – wie heute also etwa die Abschaffung aller Einschränkungen des Streikrechts, insbesondere politischer Streiks, und das Recht auf eine Bildung politischer Fraktionen in den Gewerkschaften und Betrieben.

Kampf gegen Rassismus

Unabdingbare politische Forderung ist dann auch das passende Stichwort für unser viertes und letztes Panel des Sonntagnachmittags. Wieder mal ein Doppelvortrag, diesmal indes über die „Zivile Seenotrettung und politische Perspektiven“ von zwei aktiven Seenothelfenden. Ankündigt wurde dieser mit: „…MISSION LIFELINE e. V. ist ein gemeinnütziger Verein aus Dresden, der Schiffbrüchige im zentralen Mittelmeer rettet. Seit 2016 leisten wir in der anhaltenden humanitären Krise erste Hilfe und konnten mehr als 1.000 Menschen in Seenot retten…“. Nach der Gründung des MISSION LIFELINE e. V., so erfahren wir zu Beginn, wären zunächst ein Jahr Spenden eingesammelt sowie im September 2017 anschließend das erste Schiff gekauft worden. Seither, so die Referentin und der Referent, seien etwa die Einfahrt in Valetta und Sizilien unterbunden und die beteiligten KapitänInnen vor Gericht gestellt worden. Auch schon 12 Tage auf dem Meer habe die Besatzung ausharren müssen, bevor anschließend der sichere Hafen erreicht werden konnte, nur um im Anschluss das Schiff vor Ort beschlagnahmt zu sehen. All das, obwohl die Menschenrechte, unter anderem Art. 1 und 5, weltweit 70 Mio. Menschen auf der Flucht und 20.000 seit 2014 auf dem Weg Verstorbene (jede/r 7.) eine andere Sprache sprechen. Die Vortragenden forderten daher ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettung, ihre europaweite staatliche Unterstützung sowie die Abschaffung von Dublin 3. Mittlerweile würden gleichwohl die Auflagen für die Seenotrettungsinitiativen und ihre Schiffe weiter verschärft.

Wir beteiligten uns daraufhin auch wieder intensiv an der anknüpfenden Diskussionsrunde:

„…Auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos leben bis zu 42.000 AsylbewerberInnen. Dabei ist jedes Camp überfüllt und beherbergt mehr Menschen, als für die es vorhergesehen war. (…) Und das sogar während der Pandemie. Diese Menschen müssen gleichzeitig auch als Sündenbock für den Niedergang der griechischen Wirtschaft herhalten und werden regelmäßig Opfer rechter Gruppen. (…) Die Öffnung aller Grenzen, die Anfechtung von Frontex (…) sowie die Entkriminalisierung der Seenotrettung müssen zu unseren wichtigsten Zielen im Zusammenhang mit der Evakuierung der Flüchtlingslager gehören. (…) Um dann zu verhindern, dass die Geflüchteten etwa hierzulande gegen Lohnabhängige – z. B. Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Menschen in Altersarmut – ausgespielt werden, geht es weiterhin darum, ein Mindesteinkommen sowie soziale Leistungen wie Alterssicherung für ALLE zu erkämpfen – bezahlt aus der Besteuerung von Unternehmensgewinnen und großen Vermögen. Um dies zu erreichen, müssen sich antirassistische Bewegungen zusammenschließen mit Gewerkschaften, der Seenotrettung, Geflüchteten und migrantischen Strukturen!“

Leider kam die gesamte Diskussion, wohl auch wegen ihres späten Zeitpunkts innerhalb der GEWolution, nur sehr dürftig in Gang. Gerade weil die Vortragenden vergleichsweise offen antworteten, war das leider sehr, sehr schade.

Marlis Tepe, die Bundesvorsitzende der GEW, fasste in letzter Instanz von ihrem häuslichen Büro aus schließlich zusammen: „Wir werden viel zu kämpfen haben, wenn wir wollen, dass gute Arbeit und gute Bildung unsere Zukunft besser gestalten. (…) Ihr treibt uns voran und motiviert uns, auch über die gewerkschaftlichen Grenzen hinaus!“ Es bleibt fraglich, wie viele GEWolution-Teilnehmende ihr da noch via Facebook und YouTube zugehört hatten.

Grundsätzliche Charakterisierung des Kongresses

Doch auch die allgemeine Beteiligung an den Diskussionen hielt sich insgesamt in Grenzen. Insbesondere bei den offenen Vorträgen fühlte sich der Ablauf dadurch sehr von „oben herab“ bestimmt an. Bei einem dieser, nämlich dem zum besonders brisanten Thema des politischen Streiks, fehlte bekannterweise komplett die Zeit für Diskussionen. Innerhalb der Workshops beschränkte sich der Austausch, zumindest bei unserer Teilnahme, weitestgehend auf Pinnwandeinträge auf dem Padlet und Vorstellungsrunden im Mattermost-Chat, die anschließend ausschließlich vom/von der Vortragenden vorgelesen und monologisiert wurden. Es gab außerdem durchweg kaum Bezug bzw. Kritik an der zu der Zeit in den Bildungseinrichtungen vorzufindenden Corona-Situation sowie an den sich damals schon abzeichnenden unkontrollierten Schul- bzw. Kitaöffnungsprozessen.

Vertiefte politische Diskussionen schienen somit generell, trotz technischer Möglichkeiten, gezielt umgangen zu werden. Eine pro-aktive Moderation sowie klare Vorgaben zur Beteiligung hätten hier viel Abhilfe schaffen können. Es blieb im Großen und Ganzen also, wie eingangs vorausgesehen, bei thematischen Anrissen, die die Grenzen des Systems höchstens ausreizten, anstatt uns bewusst in die Lage zu versetzen, es zu sprengen. Nach diesem Schema wurde letzten Endes auch mit unseren Beiträgen umgegangen, indem bei den anschließenden Entgegnungen die Ernüchterungen mit dem vorhandenen System hervorgehoben wurden, ohne aber den zur Überwindung notwendigen Schritt hinlänglich zu hinterfragen bzw. fortsetzend auszuführen.

Mithilfe der sogenannten Unkonferenz, dem offenen GEWolution-Chat der Veranstaltung, sollte einstweilen zumindest ein Raum für selbstständig bestimmbare Themen und Diskussionen der Teilnehmenden in Form von eigens initiierten Arbeitsgruppen geschaffen werden. Auch Vernetzungsprozesse waren hierbei angedacht. Alle diese Abläufe wurden weiterhin von einem Projektgruppenmitglied begleitet. Als paralleles Angebot zu den doch recht üppigen Panels wucherte diese oft als belebend verstandene Arbeitsform allerdings aus und blieb hinter ihren Möglichkeiten zurück. Es verharrt somit kontinuierlich dabei als eine bezeichnende Strategie des linken Gewerkschaftsapparates, scheinbar Opposition und Basisaktivitäten zuzulassen. Tatsächlich aber werden Gedanken und Vorschläge nicht aus dem engen Korsett eines vereinzelten, kontrollierten Raumes herausgelassen.

Zusammenfassend gab es über das gesamte Wochenende verteilt insofern zwar viel Abwechslung, wogegen diese aber zu Lasten der Diskussions- bzw. vor allem der lösungs- und umsetzungsorientierten Vertiefung verlief. Sicherlich hing das auch ein wenig mit der digitalen Form des Komplexes zusammen, die von allen Beteiligten sowie unter Berücksichtigung ihrer heimischen Lokalitäten große individuelle Initiative erforderte, womit man gerade an diesen sonnigen Feiertagen nicht durchweg rechnen konnte. Aber gerade das offenbart doch auch nochmals die exemplarische Bedeutung permanenter, zwischenmenschlicher linker Organisation und Lehre.

Absichten und Perspektiven

Zur konkreten Umsetzung und Verknüpfung der hier thematisierten Inhalte der GEW-Jugendkonferenz braucht es zum Abschluss ergo eben doch mehr als nur die große Gewerkschaft als Sammlungspunkt, Infrastruktur und Gegenstimme ihrer (jungen) Basis. Von letzterer haben wir derweil einige Impressionen bezüglich ihrer Debatten sammeln können. Unser Ziel war es dabei, speziell ihre klassenkämpferischen Entwicklungsfähigkeiten mit einzubeziehen.

Da Gewerkschaften und im Besonderen ihre Jugendverbände als Sammelstellen des Widerstands gegen die strukturellen Gewaltakte des Kapitals dienen können, sofern sie nicht einfach beim schnöden Geplänkel mit dem Status quo verharren, sondern benutzt werden, um sich geschlossen aus diesem als ArbeiterInnenklasse zu erheben und damit endgültig das ausbeuterische, kapitalistische Lohnsystem hinter sich zu lassen, sind sie und ihre Initiativen auf eben diesen Aspekt hin genauestens zu beleuchten.

Soziale und politische Regungen müssen innerhalb des Gewerkschaftskontextes dementsprechend nicht nur vermehrt Beachtung finden, sondern mittel – und langfristig unbedingt auch zu einem wissentlichen Aufbau dieser Institution als agierender Knotenpunkt zur Befreiung der ArbeiterInnenklasse verwendet werden.

Gerade deswegen wäre es bei der GEWolution 2020 nur hilfreich (gewesen), die betriebenen Diskussionen auch wahrhaftig gesamtgewerkschaftlich zu behandeln. Wie dementsprechende, praktische Kampagnen auszusehen hätten, müsste gleichsam ebenso auf die Agenda wie von der gewerkschaftlichen Basis demokratisch erarbeitete Umsetzungspläne, deren Einlösung letztlich die FunktionärInnen zu gewährleisten hätten. Aktuell würden sich hiernach die ausstehende TVöD-Tarifrunde, deren Verknüpfung mit den Tarifkämpfen des TV-N sowie Fridays For Future und eine gemeinsame, bundesweite Antikrisenbewegung anbieten. Die passenden Fragen dazu hätten zudem die danach sein können, wer die Krise eigentlich zahlt, wieso das überhaupt so ist und was wir schließlich dagegen tun könnten und sollten. Doch statt Aktionspläne für die gegenseitige Praxis zu erörtern, verblieb diese Online-Veranstaltung bei der basisdemokratischen Mitbestimmungsvorgaukelei, wie auch sonst so oft, ohne Konkretes an die Spitze weiterzugeben oder gar von ihr einzufordern.

Eine gezielte Konfrontation sowie schließlich die notwendige Neuausrichtung der Gewerkschaft erfordert indes zwingend das Ende der von den Spitzen und ihrer Bürokratie in die Basis getragene und mit dem Kapital praktizierte SozialpartnerInnenschaft. Hierfür bedarf es wiederum einer Radikalisierung der Kräfte am Sockel der Gewerkschaft, also der ArbeiterInnenbewegung. Ohne externe Einflussnahme einer zusätzlich hinzuzufügenden Option der Organisation wird sich diesbezüglich aber sehr schnell Frustration und Stagnation bei den Gewerkschaftsmitgliedern sowie den ebenfalls dort zu verortenden RevolutionärInnen einstellen. Deshalb ist die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und die Beteiligung an ihr zur Schaffung einer klassenkämpferischen Basisopposition als Gegnerin des schwerfälligen Apparats auch so alternativlos. Andererseits werden miteinander zu kombinierende und zu organisierende politische Erfordernisse und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse sowie politische Massenstreiks weiterhin im Verborgenen ausharren müssen. Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht planen dementsprechend unser Engagement in GEW und VKG fortlaufend zu intensivieren und untereinander fester zu verknoten.