Frühlingsbeginn in Jordanien?

Jona Everdeen, Infomail 1250, 6. April 2024

Die meisten von uns freuen sich vermutlich gerade sehr, dass der Frühling wieder kommt und Sonnenschein und wärmere Temperaturen mit sich bringt. Doch kann es sein, dass die Freude bald noch viel größer ausfällt, wenn auch der Arabische Frühling zurückkehrt und revolutionäre Erhebungen und internationale Solidarität mit sich bringt? Die Massenproteste, die gerade in Jordanien gegen die de facto Unterstützung Israels durch die Haschimitenmonarchie stattfinden, könnten zumindest zum Auslöser eines solches Prozesses werden.

Die Lage in Jordanien

Während die Lage im Land zwischen Jordan und Mittelmeer, in Palästina, noch immer in vielen Medien Thema ist und sich auch in den westlichen Metropolen zahlreiche Menschen mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die noch immer unter Israels genozidalem Krieg leiden, erfährt man kaum etwas über das Land östlich des Jordans. Dabei könnten die aktuellen Ereignisse in Jordanien für die Lage in Palästina und der ganzen Region eine große Bedeutung gewinnen.

Seit etwas mehr als einer Woche demonstrieren in unmittelbarer Nähe zur israelischen Botschaft, einer von wenigen überhaupt in einem arabischen Land, täglich zigtausende Jordanier:innen in Amman, der Hauptstadt des Landes. Ihre Forderungen: die Schließung der Botschaft und das Ende der Kooperation der herrschenden Regierung um den Haschimitenkönig Abdullah II. bin al-Hussein mit Israel. Konkret fordern sie auch die Aufhebung des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien, der 1994 geschlossen wurde und die Beziehungen normalisierte.

Diese Proteste sind nicht die ersten im von König Abdullah II. bonapartistisch regierten Jordanien, so war dieses bereits ein Nebenschauplatz des (ersten) Arabischen Frühlings. Massive Proteste zwangen den König, einige Reformen zuzugestehen, was damals die Lage beruhigen konnte. Im vergangenen Jahr gab es jedoch erneut große Proteste in Jordanien, die sich, wie bereits die des Arabischen Frühlings, gegen die Folgen der Krise richteten, die die Jordanier:innen hart trafen.

Wie in fast allen arabischen Ländern gab es auch hier in den ersten Wochen des Krieges riesige Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in Gaza. Allerdings litten auch diese unter demselben Problem wie in anderen Ländern, indem sie sich zu großen Teilen nicht gegen die eigenen Regierungen richteten, die, mal mehr, mal weniger versteckt, mit Israel und dessen Verbündeten kooperieren.

Heute sieht das anders aus. Doch nicht nur richten sich die Demonstrationen jetzt in Amman gegen die Politik der Regierung, auch scheinen sie gut organisiert zu sein. So bilden gezielt Ärzt:innen und Anwält:innen die ersten Reihen in der Hoffnung, die Demos so vor Gewalt durch Repressionskräfte zu schützen. Diese antworten nämlich mit Härte. In den letzten Tagen kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Demonstrierenden. Doch gelang es auch immer wieder, die Polizei zurückzudrängen. Auch sieht es nicht so aus, als würden sich die Proteste schnell beruhigen, sondern eher, als hätte die Bewegung gerade erst begonnen. Doch wer sind überhaupt die Haschimiten, die in Jordanien die Politik bestimmen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu Israel und der Besetzung und Unterdrückung Palästinas?

Die Haschimiten, Palästina und Israel

Jordanien und Palästina teilen sich nicht nur einen Fluss, sondern auch eine lange, gemeinsame Geschichte. Die Haschimiten spielten in dieser jedoch nie eine rühmliche Rolle. So erlangten sie die Macht über das Gebiet Transjordanien, nachdem sie eine zentrale Rolle in der arabischen Revolte gegen das Osmanische Reich gespielt hatten, welche Britannien nutzen konnte, um die mit Deutschland verbündete Regionalmacht im Ersten Weltkrieg zu besiegen. Anders jedoch als versprochen, wurde das „befreite“ arabische Gebiet nicht unabhängig, sondern in ein französisches und ein britisches Mandatsgebiet aufgeteilt, letztendlich nur ein anderes Wort für Kolonie. So wurde auch Jordanien nicht unabhängig, sondern lediglich zu einem Emirat der Haschimiten, die die Oberhoheit Britanniens anerkannten. Nach der Unabhängigkeit 1946 als Königreich intervenierte Jordanien zwar in den Krieg gegen das neu gegründete Israel, das gerade die Nakba begonnen hatte, allerdings eher aus Machtinteresse denn aus internationaler Solidarität. So verleibten sich die Haschimiten nach dem Krieg, unter Verurteilung anderer arabischer Staaten, die Westbank als eigenes Territorium ein. Im Angriffskrieg Israels gegen seine Nachbarn (Sechstagekrieg) im Jahr 1967 verlor Jordanien zwar die Westbank, seine verräterische Rolle jedoch nicht. In das Land waren nach Beginn der Nakba und im Zuge des Sechstagekriegs hunderttausende Palästinenser:innen geflohen, die einen signifikanten Teil der Bevölkerung stellten. So wurde Jordanien zum Schwerpunkt der PLO, die von hier aus den palästinensischen Befreiungskampf zu organisieren versuchte. Der Haschimitenkönig Hussein I. sah in der nationalistischen PLO eine Gefahr für seine Macht und führte einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Palästinenser:innen (Schwarzer September 1970). 1994 dann unterzeichnete Jordanien mit Israel einen Friedensvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder normalisierte und die israelische Herrschaft über Palästina anerkannte. Jordanien wurde zum engsten Verbündeten Israels in der Region. Das Haschimitenkönigshaus pflegt ebenfalls enge Beziehungen mit den USA. So unterhält der US- Imperialismus wichtige Militärbasen in Jordanien, die für seine Kontrolle über den Nahen Osten zentral sind.

Doch während das bonapartistische Haschimitenregime, aus Gründen seines Machterhalts, mit den Feind:innen der arabischen Völker klüngelt, sind die jordanischen Menschen mit Palästina solidarisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil so viele wie in keinem anderen Land selber ihre Wurzeln in Palästina haben, ihre Großeltern während der Nakba vertrieben wurden und ihre Familienangehörigen heute in Gaza bombardiert oder in der Westbank von Siedler:innen angegriffen werden.

Die Haschimiten haben bisher alles getan zu verhindern, dass die Menschen östlich des Jordans ihre Geschwister westlich des Flusses in ihrem Befreiungskampf unterstützen, haben sich aktiv mit deren Unterdrücker:innen zusammengetan, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Jetzt ist es an der Zeit, die Macht dieses korrupten Clans endlich zu brechen!

Nur der Frühling kann den Winter beenden

Wenn die Proteste in Jordanien siegen, die mit westlichem Imperialismus und Zionismus kooperierende Bourgeoisie absetzen wollen, muss die Bewegung Organisationen der Gegenmacht aufbauen, sich anders als die Massenproteste des Arabischen Frühlings in den Betrieben und Stadtteilen, an den Schulen, Universitäten organisieren. Die in Jordanien durchaus relevante Gewerkschaftsbewegung kann hier die entscheidende Rolle spielen, denn nur eine massive Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, einen dauerhaften Sieg des Volkes gegen seine Unterdrücker:innen zu erringen! Dabei könnte diese Bewegung zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: endlich zu einer Politik der internationalen Solidarität und Unterstützung der Palästinenser:innen aus Jordanien führen und auch die Folgen der kapitalistischen Krise für die Bevölkerung reduzieren und deren Lebensbedingungen mittels einer gezielten Planung der wirtschaftlichen Produktion verbessern. Dabei spielen die Gewerkschaften zwar ein wichtige Rolle, aber im Kampf ist es vor allem Zentral, eine politische Kraft, eine Revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen, die den Kampf gegen die Dynastie mit dem Kampf für eine sozialistische Revolution verbindet.

Doch kann dies nicht isoliert geschehen, eine kleine jordanische Arbeiter:innenrepublik wäre kaum lebensfähig, sondern nur als Teil einer erneuten revolutionären Massenbewegung im Nahen Osten und darüber hinaus – letztlich in einer Föderation sozialistischer Staaten des Nahen Ostens.

Während Jordanien vielleicht das extremste Beispiel für Kooperation eines arabischen Landes mit Israel verkörpert, ist es nicht das einzige. Auch Ägypten hat seine Beziehungen mit Israel im späten 20. Jahrhundert normalisiert und trägt die Unterdrückung der Palästinenser:innen faktisch mit. Doch auch Regierungen, die Solidarität mit Palästina vorgeben, tun dies in der Regel nur, um ihre Bevölkerung ruhigzustellen. Von praktischer Solidarität sieht man wenig. De facto haben sich alle Staaten des Nahen Ostens mit der Existenz des israelischen Staates in seiner derzeitigen Form abgefunden, das heißt mit Apartheid und Besatzung, und akzeptieren auch den genozidalen Krieg in Gaza größtenteils, bei lediglich symbolischer Verurteilung. Schließlich will man es sich ja auch nicht mit Israels westlichen Verbündeten verderben. Denn die bonapartistischen Regierungen der Region sind vom Wohlvollen imperialistischer Mächte abhängig, deren Vormachtstellung sie stützen, und von denen sie, im Gegenzug für die Durchsetzung der Ausbeutung der eigenen proletarischen Massen und die Plünderung ihrer Ressourcen durch internationale Konzerne, eine Teil der Beute erhalten.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens!

Diese Unterdrückung beenden können die Ausgebeuteten und Unterdrückten im Nahen Osten, auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika sowie in jeder Region der Welt nur, indem sie ihre eigenen Regierungen stürzen und Regierungen der Arbeiter:innen und Kleinbäuer:innen errichten, die in Räten die Kontrolle über Politik und Wirtschaft übernehmen. Um gegen Imperialismus und von diesem unterstützte Konterrevolution gewappnet zu sein, müssen sich diese zu einer sozialistischen Förderation zusammenschließen und gemeinsame Wirtschaftsplanung und Verteidigung in Form von Arbeiter:innen- und Bäuer:innenmilizen etablieren. So kann ein zweiter Arabischer Frühling die Macht des Imperialismus in der Region brechen und zur Inspiration für Unterdrückte auf der ganzen Welt werden. Die derzeitigen Massenproteste in Jordanien haben zumindest das Potential, eine solche Dynamik anzustoßen.




Kommunalwahlen  in der Türkei – Erdoğan wird abgestraft

Dilara Lorin, Infomail 1250, 5. April 2024

Die Kommunalwahlen in der Türkei vom 31. März endeten mit einem Sieg der CHP als stärkste Kraft, während die AKP eine Niederlage hinnehmen musste. Von insgesamt 81 Bürgermeisterämtern errangen die CHP 31 und die AKP 24. Die CHP gewann auch in den fünf größten Städten des Landes, darunter Istanbul, Ankara und Izmir. Nach Wahlerfolgen in diesen Städten äußerte Erdoğan einst: „Wer Istanbul und Ankara gewinnt, hat das Land in der Hand.“ Heute, einige Kommunalwahlperioden später, hat sich die Situation jedoch geändert und der „Große Mann am Bosporus“ hat an Macht verloren. Dabei kommt der Erfolg der CHP für viele Menschen unerwartet.

Nur wenige Monate, nachdem Erdoğan am 28. Mai zum Präsidenten des Landes gewählt wurde, scheint seine Popularität zu schwanken und das Volk scheint ihn und die aktuelle Politik abzustrafen. Insbesondere der wiederholte Erfolg von Ekrem İmamoğlu (CHP) in Istanbul, mit einem größeren prozentualen Abstand als davor, hat die Unbesiegbarkeit der AKP erschüttert.

Unmut in der Bevölkerung

Die wirtschaftliche Lage hat sich in den letzten Jahren kaum erholt. Die Coronapandemie, das Erdbeben vom 6. Februar im letzten Jahr, die globale Wirtschaftskrise und der Einbruch der Baubranche in der Türkei sowie die fatale Wirtschaftspolitik und Instabilität Erdoğans haben dazu beigetragen. Im Februar belief sich die Inflationsrate auf 67 %. Grundnahrungsmittel sind für einen Großteil der Arbeiter:innen kaum noch erschwinglich.

Die anhaltend schlechte Wirtschaftslage in der Türkei trifft insbesondere die Mittelschicht und führt zu einer verstärkten Prekarisierung von Arbeiter:innen und Arbeitslosen. Während des Wahlkampfes spricht Erdoğan in seinen Reden von einer starken Wirtschaft und einer positiven Zukunftsaussicht. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung der Zahlen eine Tendenz immer deutlicher: Die Armut nimmt mit jedem Monat zu. Der aktuelle Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) liegt bereits unter der Armutsgrenze von 20.098 TL für eine vierköpfige Familie. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein/e Alleinverdiener:in aufgrund der seit fünf Jahren steigenden Kosten für Nahrungsmittel nicht mehr in der Lage ist, eine Familie zu ernähren.

Der Anteil der Menschen, die unter der Hungers- und Armutsschwelle leben müssen, ist im März, im Monat der Kommunalwahlen, um 5,9 % bzw. 11 % angestiegen. Dabei stellt die Hungerschwelle die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie dar, wenn diese sich ausgewogen ernähren soll; die Armutsschwelle ist eine Kennzahl, welche die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie beschreibt. Diese alarmierende Nachricht wurde im März von der Konföderation der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Birlesik Kamu-is Konfederasyonu veröffentlicht. Eine wichtige Wählerbasis für Erdoğan und die AKP waren unter anderem auch Rentner:innen, deren Lage sich ebenfalls verschlechtert hat. Laut der Gewerkschaft DISK liegt die Durchschnittsrente bei einem Sechstel im Vergleich zu den Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Im Vergleich zum Mindestlohn war die Rente in der Türkei im Jahr 2002 noch um 22 % höher. Im Jahr 2023 lag sie jedoch etwa 26 % darunter.

Aber auch die Konkurrenz von rechtskonservativer Seite führte zur Niederlage der AKP. Die Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei), die in der Vergangenheit vor allem den religiösen Teil der Bevölkerung, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Misere zunehmend von der AKP abwandte, für sich gewinnen konnte, erhielt 6 % der Stimmen und gewann die Wahlen in den Städten Yozgat und Sanliurfa. Dabei war die Yeniden Refah Partisi bei den Präsidentschaftswahlen noch Teil von Erdoğans „Volksallianz“, entschied sich bei diesen Wahlen jedoch, eigene Kandidat:innen aufzustellen, nachdem in Gesprächen mit der AKP anscheinend keine Kompromisse gefunden wurden. Auch Kandidat:innen, die aus der AKP ausgetreten sind oder auf deren Listen keinen Platz erhalten haben, lassen sich auf denen der YRP wiederfinden. Somit ist es nicht verwunderlich, dass enttäuschte Wähler:innen der AKP zur YRP übergehen, wenn sie nicht die CHP wählen. Dabei ist es auch die YRP gewesen, die unter anderem im Parlament die AKP und ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel anprangerte und dadurch auch viele Stimmen gewann, die sich aus islamischer Hinsicht mit dem palästinensischen Volk solidarisieren.

DEM – ein Jubelschrei der Kurd:innen wird laut

Die DEM-Partei (Die Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie), welche vor Dezember 2023 noch HEDEP (Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker), davor HDP (Demokratische Partei der Völker) hieß, gewann vor allem in den kurdischen Provinzen. Dabei konnten in 10 Bezirken Bürgermeisterämter geholt werden, wobei sie dadurch zur viertstärksten Kraft des Landes wurde. In über 65 Landkreisen, Bezirken und Gemeinden konnte sich DEM als die stärkste Kraft etablieren. Eine große Freude breitete sich vor allem in den kurdischen Gebieten über den Sieg aus, der trotz erzwungener Umbenennung der Partei, starker Repressionen, Haftstrafen, Einschüchterungen und Verbotsverfahren zu einer Stärkung und Ausweitung der Stimmen für sie geführt hat.

In Manisa, Mersin und Izmir sowie in vielen Bezirken Istanbuls und anderen Orten hat die DEM-Partei keine Kandidat:innen aufgestellt, nachdem Gespräche mit der CHP bezüglich der Wahl geführt wurden. Diese Orte sind vor allem diejenigen, in denen die CHP stärker vertreten ist. Die Politik der „kleinen Helferin“ ist für die DEM-Partei fatal, da sie der CHP in diesen Gebieten ihre Wähler:innenschaft überlässt. Es war schließlich auch die CHP, die die AKP bei der Aufhebung der Immunität der HDP-Abgeordneten unterstützte, um viele von ihnen, einschließlich des Co-Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas, ins Gefängnis zu brachte.

Ein Wolf im Schafspelz: CHP

Die Liste der Unterstützung der Unterdrückung des kurdischen Volkes seitens der CHP ist lang und geht weit in die Geschichte der Türkei zurück. Aufgrund ihrer nationalistischen und bürgerlichen Ausrichtung kann diese Partei keineswegs als progressiv eingestuft werden.

Obwohl es verständlich ist, dass viele Menschen und Arbeiter:innen in der Nacht vom 31.03. auf den 01.04.2024 auf den Straßen waren und die Niederlage der AKP gefeiert haben, so sollte der Sieg der CHP für linke und revolutionäre Kräfte kein Grund zur Freude sein. Die CHP ist bereits bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 durch rassistische und hetzerische Kommentare und Forderungen gegenüber geflüchteten Menschen und Asylbewerber:innen aufgefallen, wobei sie Erdoğan mit der Forderung nach sofortiger Ausweisung von drei Millionen Menschen sogar rechts zu überholen versucht hat.

Im Wahlprogramm für die Kommunalwahlen 2024 wird unter anderem festgehalten, dass Maßnahmen zur Förderung der Rückkehr von Geflüchteten und Asylbewerber:innen in enger Zusammenarbeit mit „zuverlässigen“ NGOs vorangetrieben werden sollen. Die Stimmungsmache zeigt Folgen: Täglich werden Geflüchtete auf der Straße angegriffen, und diese Taten enden tragischerweise oft in Mord. Die indirekte Wahlunterstützung in einigen Orten, welche die DEM-Partei als linke Opposition der CHP geleistet hat, indem sie keine eigenen Kandidat:innen aufstellen ließ, ist zu kritisieren und zeigt selbst den kleinbürgerlichen Charakter der Politik der DEM.

Aktuelle Erhebungen in Wan und anderen Städten – ein erster Erfolg

Im Vergleich zu den Kommunalwahlen 2019, bei denen die HDP 65 Kommunen gewinnen konnte, konnte sich die DEM behaupten. Nach den Erfolgen vor 5 Jahren wurden jedoch in 48 Kommunen die Bürgermeister:innen von der Regierung abgesetzt und durch AKP-nahe Verwalter:innen ersetzt und dadurch staatlich zwangsverwaltet.

Auch in diesem Jahr wurde der Erfolg der DEM-Partei in den kurdischen Provinzen schon am 2. April seitens der Regierung in Frage gestellt. Schon während der Wahl wurden Wahlbetrug und Wahlfälschung angewandt. Dabei berichtete die DEM noch am selben Tag, dass bis zu 46.000 Staatbedienstete – darunter vor allem Polizist:innen und Soldat:innen – in den kurdischen Gebieten ihre Stimme abgegeben hatten, obwohl diese nicht aus diesen Orten stammen, sondern dahin transferiert wurden, um die Stimmabgabe zu Gunsten der Regierung zu beeinflussen.

Am Morgen des 2. April folgte dann der erste Schlag der Regierung gegen die DEM. In Wan (türkisch: Van) wurde nicht dem gewählten DEM-Politiker Abdullah Zeydan (55 %), sondern dem AKP-Kandidaten Abdulahat Arvas, welcher lediglich 25 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, die Ernennungsurkunde überreicht. Zeydan wurden auf Anordnung der türkischen Regierung die Bürgerrechte entzogen, die er erst im vergangenen Jahr wiedererlangt hatte, nachdem er 2016 als HDP-Abgeordneter verhaftet worden war und fünf Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wan ist die Provinz, in der die DEM in allen Bezirken die Mehrheit errungen hat, was noch deutlicher macht, dass seit diesem bürokratischen und undemokratischen Akt der AKP die Menschen auf die Straße gehen, um dagegen zu protestieren.

Die DEM-Partei rief richtigerweise kurzerhand zu Protesten auf und erklärte in ihrer Pressemitteilung, dass Respekt vor den Wähler:innen eingefordert werden soll. Der Co-Vorsitzende der DEM-Partei erklärte in einer Ansprache in Wan: „Wan ist das Herz Kurdistans und die Menschen in Wan haben zu Newroz, bei den Wahlen und heute hier auf diesem Platz deutlich gemacht, dass die Forderung der Kurdinnen und Kurden nach Freiheit und Demokratie nicht mit Gewalt und Zwangsverwaltung unterdrückt werden kann. Seit zwei Wahlperioden werden unsere Rathäuser von Treuhänder:innen zwangsverwaltet und jetzt soll ein weiteres Mal der Willen der Bevölkerung mit einem politischen und juristischen Komplott ausgeschaltet werden. Das werden wir nicht zulassen. Dieser Putsch wird keinen Erfolg haben, wenn wir trotz Repression, Knüppeln und Tränengas weiter zusammenhalten. Wir werden die von uns gewonnenen 14 Rathäuser in der Provinz Wan verteidigen.“ Am selben Tag fand eine Sondersitzung des Vorstands der Partei statt, welcher auch der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu beiwohnte. Straßenbarrikaden wurden errichtet und Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Die Geschäfte in Wan blieben größtenteils geschlossen. Der Staat reagiert mit massiver Gewalt und Repression und stürmt das Parteigebäude der DEM. Doch der Protest weitete sich rasch aus: Weitere Städte, darunter Colemêrg (türkisch: Hakkari), Gever (Yüksekova) und Amed (Diyarbakir) schlossen sich dem Ausstand an.

Die Ausweitung der Proteste und der Druck, den sie auf die Regierung ausübten, hatten Erfolg: Noch am Mittwoch, dem 3. April, entschied der Hohe Wahlausschuss, welche zuvor den Kandidaten der AKP zugelassen hatte, über den Einspruch der Partei DEM und beschloss, den Wahlsieger Zeydan anzuerkennen.

Ein Funke ist entfacht

Die Proteste zeigen, dass sich das kurdische Volk seiner Stärke in diesem Land bewusst ist. Sie zeigen aber auch die Schwäche der AKP und ihren mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung. Denn als die Regierung 2016 nach den Kommunalwahlen in den mehrheitlich kurdischen Kommunen die Bürgermeister:innen absetzte und durch eigene Kandidat:innen zwangsverwalten ließ, brachen ebenfalls starke Proteste aus, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden. Über die Städte des stärksten Widerstandes wurden Ausgangssperren verhängt, Journalist:innen der Zutritt verweigert und mehr als 200 Menschen ermordet. Der Versuch, den gewählten Bürgermeister der DEM in Wan abzusetzen, ist daher ein Versuch der Demonstration der Unterdrückung und Repressionsmaschinerie. Dass dies innerhalb eines Tages wieder zurückgenommen wurde, zeigt aber auch die Angst vor einer Ausweitung der Proteste und davor, dass der Funke des Aufbegehrens weitere Gebiete erfassen und sich auch über ganz Kurdistan ausbreiten könnte. Dabei sollten die Proteste nicht stehenbleiben, denn die nächsten Wahlen sind erst in 4 Jahren. In der Zwischenzeit kann der Staat trotzdem seine repressiven und unterdrückerischen Handlungen ausüben. Denn eines muss klar sein: kein Vertrauen in staatliche Strukturen!

Die DEM-Partei kann dabei eine tragende Rolle einnehmen und hat als Massenpartei auch die Aufgabe, die aktuellen Proteste auszuweiten. Aufgabe von reformistischen, aber auch radikalen kleinbürgerlichen Parteien ist es dabei nicht, lediglich in Parlamenten und anderen Gremien Sitzplätze zu gewinnen, sondern den Raum der Wahl zu nutzen, um Bewegungen und Forderungen publik zu machen. Sie muss Vorreiterin der aktuellen Proteste sein und diese weiter über das ganze Land ausweiten.

Dabei muss sie aber vor allem versuchen, die Unterstützung der türkischen, progressiven Teile der Arbeiter:innenklasse wieder für sich zu gewinnen, denn die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung hat in den letzten Wahlen stagniert. Gegen die Krisen, die Armut und Unterdrückung müssen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um landesweit für ein Sofortprogramm gegen die Preissteigerungen, für einen Mindestlohn und Mindestrenten, die die Lebenshaltung decken, und für eine automatische Anpassung dieser an die Inflation zu kämpfen. Dies muss von Ausschüssen der Gewerkschaften und Lohnabhängigen kontrolliert werden.

Um dieses Ziel umzusetzen, sind politische Massenstreiks (bis hin zum Generalstreik) sowie massive Demonstrationen notwendig, die von lokalen Aktionskomitees organisiert und kontrolliert werden. Gegen die Repression und Provokationen durch Staat und Rechte müssen Selbstverteidigungsorgane gebildet werden.

Es kann letztendlich nur eine starke Bewegung der Unterdrückten und Arbeiter:innen gegen die zukünftigen  Komplotte der Regierung, die Wirtschaftskrise, Unterdrückung und Armut vorgehen. Um solch eine Bewegung aufzubauen, welche auch in den wirtschaftlich stärkeren Städten im Westen des Landes die Arbeiter:innen und Unterdrückten für sich gewinnt, müssen die DEM und andere linke Parteien und Organisationen anfangen, vermehrt Basisstrukturen in den Städten, an Unis und in Betrieben aufzubauen. Auch die Basis der CHP muss angesprochen werden, um die Politik der Partei zu entlarven, welche mittels Rassismus versucht, die Bevölkerung zu spalten, und deren nationalistische Ausrichtung keine Lösungen bieten kann. Vor allem aber müssen die Gewerkschaften in den Kampf gezogen werden – ihnen kommt eine Schlüsselrolle bei einer wirklichen Konfrontation mit der Regierung zu.

Es braucht außerdem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten- und Arbeiter:innen, die die Parteigebäude, Rathäuser etc., die von der DEM gewonnen wurden, gegen Repression verteidigen. Die Türkei sitzt schon lange auf einem absteigenden Ast und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung den Druck von Armut, Hunger und Rassismus nicht mehr aushalten kann. Aufflammende Bewegungen gegen die Regierung dürfen aber keine Hoffnung in die CHP vorheucheln und müssen die Unterdrückten des Landes mit den Arbeiter:innen vereinen. Dies kann letztlich nur eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei auf Grundlage eines revolutionären Programms vorantreiben.




Portugal: Rechtsruck bei Wahlen

Dara O’Cogaidhin, Infomail 1250, 4. April 2024

Die nicht eindeutigen Ergebnisse der portugiesischen Parlamentswahlen vom 10. März führten zu einem knappen Sieg der Mitte-Rechts-Koalition Demokratische Allianz (AD) über die Mitte-Links-Partei Sozialistische Partei (PS). Zum ersten Mal seit 40 Jahren erreichte der prozentuale Stimmenanteil des so genannten „centrão“ einen Tiefstand von 60 %. Da es keinen eindeutigen Sieger gab, war die rechtsextreme Chega („Genug“) die eigentliche Nutznießerin der Wahl, denn sie vervierfachte ihre Sitze von 12 Sitzen im 230 Sitze zählenden Parlament im Jahr 2022 auf heute 48. Sie ist nun die drittstärkste Partei im Parlament und hält faktisch das Gleichgewicht der Macht.

Der AD-Vorsitzende Luis Montenegro sagte, er werde an seinem Wahlversprechen festhalten, keine Regierungskoalition mit Chega zu bilden, obwohl deren Chef André Ventura erklärte, er sei bereit, einige seiner umstritteneren Maßnahmen wie die chemische Kastration von Sexualstraftätern und die Einführung lebenslanger Haftstrafen fallen zu lassen, wenn dies die Einbeziehung in ein mögliches Regierungsbündnis ermögliche. Die Aussicht auf eine große Koalition zwischen der AD und der PS wurde ausgeschlossen, obwohl die PS angedeutet hat, dass sie die Bildung einer Minderheitsregierung der AD ermöglichen würde, indem sie sich bei wichtigen Abstimmungen im Parlament der Stimme enthält, um Chega in Schach zu halten.

Bedeutende Gewinne für Chega

Das Ergebnis unterstreicht den politischen Rechtsruck in ganz Europa. Portugal, das erst nach der Nelkenrevolution vor 50 Jahren zur Demokratie zurückkehrte, galt als immun gegen den Aufstieg des Rechtspopulismus auf dem gesamten Kontinent. Die Chega, die vor fünf Jahren gegründet wurde, trat mit einem Antiestablishmentprogramm an und versprach, mit der Korruption aufzuräumen. Ihre Kampagne enthielt auch einwanderungsfeindliche und Anti-LGBTQ+-Rhetorik, wobei Ventura eine Wehmut für die als Estado Novo bekannte Diktatur und deren Verteidigung traditioneller katholischer Werte zum Ausdruck brachte. Ventura ist ein ehemaliger Priesteranwärter, der sich als Fußballkommentator im Fernsehen einen Namen gemacht hat.

Die Korruption wird von vielen als typisch für die beiden großen Parteien in Westeuropas ärmstem Land angesehen. Die Chega, deren wichtigster Wahlkampfslogan „Portugal säubern“ lautete, konnte aus einer öffentlichkeitswirksamen Korruptionsuntersuchung im Zusammenhang mit staatlich beauftragten Energieprojekten Kapital schlagen, die im vergangenen Jahr zum Rücktritt des PS-Ministerpräsidenten Antonio führte.

Trotz eines Haushaltsüberschusses und jährlicher Wachstumsraten von über 2 % hat die PS-Regierung eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter:innen zugelassen. Aufgrund der hohen Mietpreise herrscht eine Wohnungskrise, und Lissabon ist eine der teuersten Städte Europas, was die Miete angeht. Der durchschnittliche Monatslohn vor Steuern liegt bei etwa 1.500 Euro, was kaum ausreicht, um eine Einzimmerwohnung in der Hauptstadt zu mieten. Die PS-Regierung sah sich im vergangenen Jahr auch mit einer Streikwelle für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen konfrontiert.

Rückschläge für die Linke

Neben der PS waren die größten Verlierer:innen der Wahlnacht der Linksblock (Bloco Ezquierda, BE) und die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP). Der BE konnte die 5 Parlamentssitze, die er 2022 gewonnen hatte, halten, vermochte jedoch nicht von der Desillusionierung der Arbeiter:innenklasse in die PS zu profitieren und erhielt den schlechtesten Stimmenanteil seit 20 Jahren. Im Jahr 2015 gewann der BE 18 Parlamentssitze und unterstützte zusammen mit der PCP, die 17 Sitze gewann, eine Minderheitsregierung der PS in einem Pakt, der als geringonça („improvisierte Lösung“) bekannt wurde.

Die Unterstützung der PS-Regierung war sowohl für den BE als auch für die PCP eine Katastrophe. Statt  sich von den Intrigen der Regierung, die ihre Aktivist:innenkapazitäten absorbierten, zu befreien, weigerten sich sowohl der BE als auch die PCP, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kämpfe zu verallgemeinern, als es im Herbst 2021 zu einer Streikwelle kam. Sie unterstützten auch weiterhin die Regierung, als diese das Militär mobilisierte, um einen landesweiten LKW-Fahrer:innenstreik im Jahr 2019 zu brechen.

Indem sie einer wirtschaftsfreundlichen PS-Regierung eine linke Deckung boten, schufen sie den Raum für Chega, sich als „antisystemische“ Protestpartei zu präsentieren. Anstatt die PS für die akute Lebenshaltungskostenkrise verantwortlich zu machen, kritisierte die BE-Vorsitzende Mariana Mortágua stattdessen deren absolute Mehrheit und forderte die Parteien der Linken (einschließlich der PS) auf, vor den Wahlen im März „eine Mehrheitsvereinbarung für ein linkes Regierungsprogramm auszuhandeln“. Anstatt eine sozialistische Alternative zu präsentieren, nährte der BE die Illusion, dass eine fortschrittliche Linksregierung durch die PS möglich sei.

Der BE hat auch eine neuen politische Konkurrentin namens LIVRE („Frei“), eine Pro-EU-Partei mit grün-linker Ausrichtung. Ihr Vorsitzender Rui Tavares spaltete sich 2014 vom BE ab. Sie hat ihre Vertretung im Parlament von einem Sitz im Jahr 2022 auf heute vier Sitze erhöht. Anders als der BE und die PCP war sie nicht damit belastet, eine PS-Regierung zu stützen, und profitierte am meisten vom Zusammenbruch deren absoluter Mehrheit. LIVRE gewann auch ihre Sitze in den traditionellen Bastionen des BE, darunter Lissabon und Setúbal.

Der langsame Niedergang der PCP bei den Wahlen setzt sich fort. Die Zahl ihrer Sitze ging von 6 auf 4 zurück, was zum Teil auf die Überalterung ihrer Wähler:innenschaft zurückzuführen ist, die tief in den Kämpfen gegen die Diktatur verwurzelt ist. Ihr 76-jähriger langjähriger Vorsitzender, Jerónimo de Sousa, wurde wiederholt kritisiert, weil er sich weigerte, die imperialistische Invasion Russlands in der Ukraine zu verurteilen. Die PCP behält immer noch die Kontrolle über den größten portugiesischen Gewerkschaftsbund CGTP, der im vergangenen Jahr Teilstreiks organisierte, um gegen Sparmaßnahmen und die steigende Inflation zu protestieren, es aber versäumte, einen Generalstreik als nächsten Schritt in einem nachhaltigen Aktionsplan gegen die PS-Regierung zu organisieren.

Instabile Regierung: Widerstand aufbauen!

Im vergangenen Jahr kam es zu einer Eskalation des Klassenkampfes gegen die PS-Regierung. Das Fehlen einer koordinierten industriellen Offensive bedeutete jedoch, dass die PS-Regierung mit ihrer absoluten Mehrheit die Schläge auffangen konnte. Niedrige Löhne und hohe Lebenshaltungskosten, die im letzten Jahr durch einen Anstieg der Inflation und der Zinssätze noch verschlimmert wurden, bedeuten, dass eine konservative Minderheitsregierung der AD von Anfang an verwundbar sein wird. Sie muss nicht nur mit anderen Parteien verhandeln, um Gesetze von Fall zu Fall zu verabschieden, sondern es ist auch mit Neuwahlen zu rechnen, wenn die AD ihren Haushalt für 2025 nicht verabschieden kann.

Die Demonstrationen zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution sollten die Gelegenheit bieten, in jedem Betrieb Arbeiter:innenversammlungen zu organisieren, um den Kampf zu planen, die verschiedenen Sektoren zu vereinen und die rechte AD-Regierung zu stürzen. Auf der Grundlage ihrer reichen revolutionären Traditionen müssen die Arbeiter:innen und Jugendlichen eine kämpferische Partei aufbauen, die mit einem sozialistischen Programm ausgestattet ist, um dem neoliberalen Angriff der AD zu widerstehen, bevor sie in der Lage sind, die Aufgaben zu erfüllen, die von der Revolution von 1974 – 1975 übrig geblieben sind.




Argentinien nach 100 Tagen ultra-neoliberaler Regierung

Jonathan Frühling, Infomail 1249, 23. März 2024

Seit ca. 100 Tagen ist Javier Milei nun in Argentinien an der Macht. Er war am 10. Dezember als Präsident Argentiniens vereidigt worden, um die Wirtschaftskrise zu lösen. Seine Mittel dafür sind neoliberale Maßnahmen, die weltweit ihresgleichen suchen.

Angriff mit der Kettensäge

Nur wenige Tage nach Amtsantritt am 10. Dezember trat die neue Regierung mit einem Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit (DNU) hervor, welches ca. 350 Gesetze sofort abgeschafft oder verändert hat. Milei hat, durchaus treffend, die Motorsäge als Symbol seiner Angriffe gewählt, indem er ankündigte, alle Errungenschaften der Arbeiter:innenbewegung abzusägen.

Die Inflation explodiert unter Milei

Die Inflation ist in den drei Monaten seiner Amtszeit schon massiv gestiegen – genau um ungefähr 100 % auf 250 % pro Jahr. Grund dafür war u. a. eine 50%ige Abwertung der Währung gegenüber dem US-Dollar. Außerdem wurden Subventionen für den öffentlichen Verkehr, Gas, Strom und Wasser gekürzt. Noch dazu kam, dass eine Preisbindung für Medikamente und Produkte des täglichen Bedarfs aufgehoben wurde. Die Konzerne haben das genutzt, diese sofort extrem zu verteuern. Die Inflation trifft zwar auch die großen Unternehmen, aber natürlich weitaus weniger als die große Masse der Bevölkerung. Ihre Preise sind es ja, die steigen, so dass sie die erhöhten Kosten zu einem beträchtlichen Teil an die Käufer:innen weitergeben, besonders bei lebensnotwendigen Gütern. Dasselbe passiert, wenn Subventionen wegfallen.

Durch die Abwertung der Währung wird außerdem der Warenexport begünstigt. Die Großgrundbesitzer:innen, deren Erzeugnisse 60 % des Exports ausmachen, freut’s. Importe hingegen – vor allem Fahrzeuge, Erdölerzeugnisse, Maschinen und elektronische Geräte – werden jedoch teurer und heizen die Inflation so weiter an.

Angriff auf demokratische Rechte: das Protokoll Bullrich

Die Ministerin für Innere Sicherheit, Bullrich, hat bereits einen heftigen Angriff aufs Demonstrationsrecht gestartet. Demonstrationen dürfen nicht mehr den Verkehr stören, was dem Staat faktisch die Möglichkeit gibt, kleine Demos zu schikanieren und große aufzulösen. Wie sollen Tausende oder sogar Hunderttausende Demonstrant:innen auf den Bürgersteigen durch die Stadt marschieren!? Bei kleinen Demos wurde das Gesetz bereits angewendet. Auch werden massenhafte anlasslose Kontrollen in öffentlichen Verkehrsmitteln autorisiert.

Abbau staatlicher Leistungen

Direkt nach seiner Amtsübernahme wurden das Kultur- und das Frauen- und Geschlechterministerium aufgelöst. Durch Streichung von Infrastrukturprojekten fallen zehntausende Arbeitsplätze im Bausektor weg. Auch viele andere Ministerien wurden zusammengelegt und umstrukturiert, wobei tausende Staatsbedienstete entlassen wurden. Die Regierung prüft laufend tausende von Verträgen und wird so in Zukunft weitere Menschen entlassen. Besonders trifft es auch die sozialen Bereiche. Z. B. wurden bereits unzählige Sozialarbeiter:innen, die sich für Jugendliche engagieren, gefeuert. Mitte März hat es die staatliche Medienorganisation getroffen.

Zusammen genommen wurden so bis Januar die größten Haushaltskürzungen der Geschichte des Landes beschlossen, wie die Regierung stolz verkündete. Im Vergleich zum Januar 2023 wurden die öffentlichen Investitionen um 75 % gekürzt, die Sozialausgaben um 59 %, die Transferleistungen an die Provinzen um 53 %, die Renten um 32 %, die Personalausgaben um 18 %, die Familienzulagen um 17 % und die Ausgaben für Universitäten um 16 %! Das Land schreibt im Februar erstmal wieder schwarze Zahlen. Es wird also der Bevölkerung das weggenommen, um es den internationalen Gläubiger:innen in den Rachen zu stecken.

Die Rückkehr des Hungers

Die Anzahl der Menschen, die auf Suppenküchen und Tafeln angewiesen sind, hat sich in den letzten Monaten drastisch erhöht. Laut Aljazeera nehmen 10 Millionen die Angebote der ca. 38.000 lokalen Tafeln an. Das ist fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung! Grund dafür ist, dass sich die Armutsquote seit der Amtsübernahme von Milei von 40 % auf 57 % erhöht hat. Es herrschen also bereits Zustände wie während der Krise 2001 – 2003. Das hinderte die Regierung nicht, die Staatshilfen für Suppenküchen kurzerhand zu streichen. Argentinien steuert damit direkt auf eine Hungerkrise zu.

Die Hilfeleistenden bemühen sich weiterzumachen, aber zum Teil erodiert die Solidarität angesichts der Krise: Privatpersonen und vor allem Geschäfte, die vorher an die Tafeln gespendet haben, können sich das einfach nicht mehr leisten. Tatsächlich hat es auch schon die ersten Hungerproteste vor dem neugeschaffenen Humankapitalministerium gegeben. Die Situation wird sich bereits in den nächsten Monaten extrem verschärfen. Ausgewachsene Hungerrevolten sind damit schon sehr bald eine Möglichkeit.

Die Regierung schwächelt

Glücklicherweise wurde zumindest das sogenannte Omnibusgesetz vom Parlament abgelehnt. Es enthielt alle Gesetze, die nicht durch ein DNU durchgedrückt werden konnten. Um die Schwere der Angriffe klarzumachen, sollen hier einige Punkte genannt werden: Finanzierung der Unis nach Anzahl der Absolvent:innen, Schließung der meisten staatlichen Kulturorganisationen, faktisch der meisten öffentlichen Bibliotheken, Freigebung indigener Waldschutzgebiete für Bergbauaktivitäten, Privatisierung aller restlichen 41 staatlichen Unternehmen (u. a.  Transportunternehmen, Wasser-, Strom- und Gasversorger), die Festlegung der Renten durch die Regierung am Parlament vorbei. Die Regierung versucht nun aber natürlich, die Gesetze einzeln und/oder in veränderter Form durch das Parlament zu schleusen.

Eine weitere Schwächung ist der ewige Streit mit Mileis Vizepräsidentin Victoria Villarruel. Sie hat sich von Beginn an vom kompromisslosen Kurs Mileis abgegrenzt und auf Verhandlungen mit dem Parlament gesetzt. Das war vielleicht auch ein Grund, warum dieser sie nicht mit einem hohen Posten (z. B. dem Innenministerium) ausgestattet hat. Zuletzt ist der Streit wieder eskaliert, als öffentlich wurde, dass sie sich mit dem Expräsidenten Macri getroffen hatte, um an Milei vorbei politische Alternativen zu seinem Vorgehen zu besprechen. Außerdem hat sie die Abstimmung des DNU im Senat angesetzt, was Milei hinauszögern wollte. Das führte prompt zu einer Abstimmungsniederlage für Milei, da das DNU im Senat abgelehnt wurde. Jetzt steht bald die Abstimmung im Unterhaus an, wo die Mehrheitsverhältnisse für ihn jedoch günstiger sind.

Zudem hat Milei weiter Unterstützung verloren, als er Zahlungen des Staates an die Provinzen strich. Diese haben sich deshalb gegen ihn aufgelehnt und gedroht, Gas- und Öllieferungen in den Norden einzustellen. Am 1. März verkündete die Regierung, dass die Provinzen ihr Geld erhalten würden, wenn sie ihre Gesetzesvorhaben im Kongress unterstützen. Details sollen bis Ende Mai unterschriftsreif sein. Der Ausgang dieses Schachzuges ist jedoch keineswegs gewiss. Umgekehrt zeigt sich daran jedoch auch, dass von den „oppositionellen“ Eliten und unzufriedenen Anhänger:innen Mileis allenfalls ein Schacher um einzelne Maßnahmen seiner Regierungspolitik zu erwarten ist, so dass sie ihre Sonderinteressen absichern. Letztlich steht die herrschende Klasse Argentiniens jedoch noch immer hinter dem Generalangriff auf die Arbeiter:innenklasse. Sie will jedoch dabei eigene Pfründe gesichert wissen und ein „Mitspracherecht“ bei den Maßnahmen.

Und die Arbeiter:innenbewegung?

Am 24. Januar Januar fand ein Generalstreik in Argentinien statt, welcher 1,5 – 2 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Es war der erste seit 2019 und eine erste Machtdemonstration der Gewerkschaften. Danach hieß es jedoch: nach Hause! An den Protesten vor dem Parlament zur Abstimmung des Omnibusgesetzes beteiligte sich nur die radikale Linke. Besonders tat sich dabei das Bündnis aus vier trotzkistischen Gruppen mit dem Namen FIT-U hervor. Doch die maximal 10.000 – 20.000 Menschen, die sich während der zwei Tage an den Kundgebungen beteiligt haben, sind einfach zu wenig. Das ermutigte die Polizei wohl auch am Ende des zweiten Tages, als nur noch ca. 1.500 Menschen vor dem Parlament waren, mit Motorrädern in die Menge zu fahren und die friedlichen Demonstrant:innen wahllos mit Gummischrot zu beschießen, wobei viele verletzt wurden. Das ist aber wohl nur ein Vorgeschmack auf die Repression, die die Regierung entfesseln wird, wenn sich die unterdrückten Klassen weiter wehren werden.

Die peronistischen Organisationen glänzten gleich ganz mit Abwesenheit. Und das bei einer solchen Schärfe der Angriffe! Die Ablehnung des Omnibusgesetzes im Senat gibt ihnen jetzt noch einen Vorwand, nicht auf die Straße zu gehen. Bis Ende März 2024 sind keine weiteren Streiktage geplant, gibt es von Seiten der Gewerkschaften keinen Aktionsplan gegen die Hungerkrise, Inflation, Entlassungen und die weiteren gesetzlichen Verschärfungen.

Anscheinend hoffen die Führer:innen der peronistischen Partei, dass sie nach Milei sowieso wieder an die Regierung kommen (mit dem Vorteil, dass die bis dahin betriebene Austeritätspolitik nicht auf ihre Kappe geht). Und sie hoffen, mit der Rücknahme einiger Gesetze ggf. sogar wieder das Vertrauen der Massen gewinnen. Doch das Leben hat sich bereits jetzt für die Menschen drastisch verändert. Ein „irgendwie weiter so“ kann es für die in Armut und Elend Getriebenen nicht geben!

Klar ist, dass es keine Hoffnung auf Populismus in Gestalt der Peronist:Innen geben darf. Der Peronismus hat das Land erst in die Krise geführt, in der es sich heute befindet. Auch der peronistische Präsidentschaftskandidat Massa hat eine straffe Austeritätspolitik im Wahlkampf angekündigt und die peronistische Vorgängerregierung hat unter Präsident Fernández und Massa als Wirtschaftsminister die Sparpolitik Macris einfach fortgesetzt. Letztlich dienen sie genauso den herrschenden Klassen, nur eben auf eine etwas andere Art und Weise als Milei. Sie haben lange Zeit die korporatistische Einbeziehung und Ruhigstellung der Lohnabhängigen über die Gewerkschaften und der Arbeitslosen über die Einbindung der Arbeitslosenorganisationen in die Verteilung von Hilfsgeldern bewerkstelligt.

Das Pulver des Populismus ist jedoch angesichts der historischen ökonomischen Krise verschossen. Das Konzept des Ausgleichs zwischen den Klassen hat abgewirtschaftet. Dennoch hegen viele noch Illusionen in die peronistische Partei Partido Justicialista oder sehen diese zumindest als das kleinere Übel an. Diese Illusionen können jedoch nicht nur durch Propaganda, Enthüllung und Denunziation enthüllt werden, es braucht auch eine aktive Politik gegenüber den peronistisch dominierten Gewerkschaften und der Partei- und Wähler:innenbasis, zum Aufbau einer Einheitsfront gegen die Angriffe.

Es beginnt zu brodeln …

Bereits jetzt sind die Auswirkungen der von Milei verordneten Schocktherapie enorm. In den nächsten Monaten werden sie sich weiter zuspitzen, besonders wenn die Regierung ihre Angriffe fortsetzt. Sicherlich wird das die Möglichkeit zu größeren Protesten eröffnen, wenn es Organisationen gibt, die den Weg dafür weisen. Es regt sich nämlich schon jetzt Widerstand über den Generalstreik am 24. Januar hinaus. Lehrer:innen in sieben Provinzen sind am 26. Februar in dem Streik getreten. Am 4. März gab es einen weiteren Streiktag. Grund dafür sind Gehaltskürzungen für Schullehrer:innen und eine faktische Kürzung des Universitätsbudgets um 50 %. Auch Eisenbahn- sowie Krankenhausarbeiter:innen im öffentlichen wie in privaten Krankenhäusern sind in den Ausstand getreten. Es beginnt offensichtlich in der Arbeiter:innenklasse zu brodeln. Das hat den Gewerkschaftsdachverband endlich bewogen, über einen neuen Generalstreik „nachzudenken“, bislang ohne jeden konkreten Termin oder Mobilisierungsplan. Auch die Beliebtheitswerte Mileis waren schon 2 Monate nach seiner Amtsübernahme um 15 % auf mittlerweile unter 50 % gefallen.

In Buenos Aires haben sich in einigen Vierteln Stadtteilversammlungen gebildet, die Nachbarschaftshilfe leisten, zusammen diskutieren und zu Demos mobilisieren. Das sind Keimzellen richtiger Stadtteilkomitees, die neben der, aus der Not geborenen Übernahme von Hilfeleistungen, die Bevölkerung in basisdemokratischen Strukturen fest organisieren könnten.

Kampf um die Gewerkschaften

Die Gewerkschaftsführung organisiert momentan nur begrenzte Aktionen einzelner Sektoren oder halbtägige Generalstreiks. Das hat zwar im Januar eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit gezeigt und war insofern ein Fortschritt. Aber die Streiks dürfen nicht zu einem Ritual verkommen, welches dazu dient, dass die Menschen ihrem Ärger Luft machen können, damit sie danach brav an die Werkbank oder ins Büro zurückkehren. Das ist nämlich momentan die Taktik der bürokratischen Gewerkschaftsführung.

In Wirklichkeit können und sollen die begrenzten und Teilstreiks zwar genutzt werden, um Erfahrungen zu machen und die Bewegung auszuweiten. Aber das allein wird nicht reichen, um die Angriffe der Regierung zurückzuschlagen. Dafür braucht es aber die Macht der großen Gewerkschaften. Ohne deren Kampfkraft wird es keinen Erfolg geben. Es stellt sich also vor allem die Frage, wie sie wieder in Instrumente der Arbeiter:innenklasse verwandelt werden können.

Dazu ist es unerlässlich, die Forderung nach einem unbefristeten Generalstreik, Aktionskonferenzen zu dessen Vorbereitung und einem Kampfplan nicht nur an die Gewerkschaftsbasis, sondern auch ihre Führung zu stellen. Denn der Druck der Ereignisse und der Basis kann die Spitzen zwingen, weiter zu gehen, als sie selbst wollen, und zugleich dazu genutzt werden, um diese Forderungen herum in den Betrieben und Gewerkschaften die Basis zu mobilisieren und Kampfstrukturen aufzubauen, die auch ohne die Bürokratie aktions- und handlungsfähig sind.

Wenn die Arbeiter:innen so das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen, können sie die reformistische Führung oder Teile davon zum Handeln zwingen und zugleich eine organisierte, klassenkämpferische Opposition aufbauen, die der reformistischen Führung der Gewerkschaften die Stirn bietet und diese zu ersetzen vermag.

Wichtig ist dabei, sich an den existierenden Kämpfen aktiv zu beteiligen und andere selbst anzustoßen. Und wie könnte das besser gehen als mit dem Aufbau betrieblicher Aktionskomitees und lokaler Bündnisse, an denen sich linken Organisationen und Parteien, Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften usw. beteiligen können, die den Kampf ernsthaft aufnehmen wollen? Das Ziel muss eine Kampfeinheit aller Organisationen der Klasse sein, die eine konstante Bewegung gegen die Regierung aufbaut. Dabei ist es essentiell, dass solche Strukturen nicht nur in den Betrieben und auf lokaler Ebene bestehen, sondern sie landesweit zentralisiert werden und so auch die Führung eines Generalstreiks übernehmen können. Das Gebot der Stunde ist eine Arbeiter:inneneinheitsfront!

Sozialismus und Generalstreik

Um siegreich zu sein, braucht es auch eine sozialistische Perspektive, die eine Politik über die Abwehr der Angriffe hinaus bieten kann. Das würde den Menschen wieder Hoffnung geben und sie zum Kampf motivieren. Glücklicherweise gibt es in Argentinien in Form der trotzkistischen Wahlplattform FIT-U eine radikale Linke, die stärker ist als in fast jedem anderen Land. Sie erhält bei den Wahlen rund 3 Prozent und zwischen einer halben und einer Million Stimmen. Sie repräsentiert damit eine wichtige Minderheit der Arbeiter:innenklasse.

Doch die FIT-U ist selbst bislang nur ein Wahlbündnis von vier trotzkistischen Organisationen, keine Partei. Als effektive Einheit existiert sie nur im Wahlkampf und bei gemeinsamen Demonstrationen (was jedoch auch ohne die FIT-U organisiert werden könnte). Militante Arbeiter:innen und Jugendliche, die die FIT-U wählen, können ihr nicht beitreten. Die FIT-U selbst verfügt über keine Basisstrukturen. Eine Beteiligung ist für bislang Unorganisierte, die nach einem revolutionären Ausweg suchen, nur möglich durch den Eintritt in eine ihrer vier Mitgliederorganisationen, was letztlich zu einer Stagnation der FIT-U bei den Wahlen der letzten Jahre führte.

Vor allem aber versagt die FIT-U zur Zeit darin, ihre Möglichkeiten zu nutzen, um das Kernproblem der argentinischen Arbeiter:innenklasse aufzugreifen – das Fehlen einer revolutionären Partei der Arbeiter:innenklasse.

Eine solche könnte und müsste ideologisch und organisatorisch die Führung in den Kämpfen übernehmen, damit die Regierung gestürzt werden kann. Dafür muss sie jedoch ihre eigene Zersplitterung überwinden und die organisatorische Einheit suchen. Zweifellos trennen die verschiedene Teile der FIT-U wichtige programmatische Differenzen, doch diese müssen im Hier und Jetzt angegangen werden. Der beste Weg, das zu tun, wäre eine breite und öffentliche Diskussion über ein Aktionsprogramm gegen die Angriffe, für den Generalstreik und die Errichtung einer Arbeiter:innenregierung, die sich auf Räte und Arbeiter:innenmilizen stützt. Ein solches Programm ist unerlässlich, denn ein wirklicher Generalstreik wird in Argentinien unwillkürlich die Machtfrage aufwerfen – und auf diese muss eine revolutionäre Partei eine klare Antwort geben können.




Entstehung und Charakter des Staates Israel

Teil 4 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 7, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1249, 23. März 2024

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis. Heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: „Wie ist der israelische Staat entstanden und wie lässt er sich charakterisieren?“

Schon in unserer vergangenen Folge haben wir uns mit dem Zionismus und somit auch mit Israel befasst. Bevor wir uns in der kommenden Folge unserem Aktionsprogramm für den palästinensischen Befreiungskampf zuwenden, möchten wir heute noch mal genauer auf die Entstehungsgeschichte und den Charakter des Staates Israel eingehen.

Die Entstehung Israels lässt sich einordnen in die Periode der sogenannten „Dekolonialisierung“ nach dem Zweiten Weltkrieg – also der Ablösung der direkten Kolonialherrschaft durch indirekte postkoloniale Systeme, in welchen imperialistische Mächte noch immer durch politische und wirtschaftliche Mittel die halbkoloniale Welt in ihrer Knechtschaft halten. In unserer Folge zur Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus haben wir dabei eine historische Skizze zu den Auseinandersetzungen zwischen dem Assimilationsansatz, der marxistischen und der zionistischen Perspektive zum Kampf gegen die Unterdrückung von Jüdinnen und Juden präsentiert, die vor allem das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert prägten.

Existenzrecht des jüdischen Volkes

Ohne selbst eine imperialistische Macht darzustellen, fungiert Israel seit seiner Gründung im Mai 1948 als kapitalistisch organisierter Staat in dieser Entwicklung als willkommener „engster Verbündeter“ für westliche Imperialismen, um durch ihn Kontrolle über den Nahen Osten auszuüben und sich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen zu sichern.  In diesem Sinne lässt sich Israel in seiner Entstehung als „letzte Siedler:innenkolonie des Westens“ bezeichnen, welche ohne die massive militärische und wirtschaftliche Unterstützung, insbesondere der USA, nicht überlebensfähig wäre. Der enorme Kapitalimport erlaubte in den 1950er und 1960er Jahren satte Gewinne, ohne zugleich wesentliche Teile der israelischen Arbeiter:innenklasse in die Überausbeutung zu drängen oder in besonderem Maße besteuern zu müssen, wie es in Halbkolonien meist der Fall ist. Viel eher stieg der Lebensstandard der jüdischen Bevölkerung parallel zur Akkumulation. Nichtsdestoweniger ist Israel kein imperialistischer Staat. Dafür ist er nicht einerseits ökonomisch zu schwach und andererseits kein unabhängiger Akteur, der der Welt seinen Stempel aufdrücken kann. Außerhalb des arabischen Raums spielt er im Weltgeschehen allenfalls eine Nebenrolle. Er ist vielmehr selbst eine besondere Halbkolonie insbesondere der USA und in gewissem Maß der EU geworden, der aus sich heraus einen fortgesetzten Neokolonialismus betreibt, ein besonderer imperialistischer Statthalter oder auch Brückenkopf. Über die vergangenen Jahrzehnte gibt es kein Land auf dieser Welt, das so umfassende Militärhilfe von den USA erhalten hat. Auch Deutschland hat beispielsweise seit dem 7. Oktober seine Waffenlieferungen an Israel verzehnfacht.

Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina sowie immer wiederkehrende Unruhen in der Region, die selbst ein Ergebnis der neokolonialen Abhängigkeit, Unterdrückung und imperialistischer Kriege sind, liefern der ständigen Präsenz der USA in der Region dabei den Vorwand.

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung des israelischen Staates war, wie wir bereits in unserer vergangenen Folge thematisiert haben, der Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung welcher in die Schoa mündete. Ohne diesen tragischen Massenmord hätte der zionistische Ansatz, als scheinbare Alternativlosigkeit, niemals einen so großen Zuspruch unter Juden und Jüdinnen erreichen können. Jedoch, und das stellten wir in unserer ersten Folge heraus, eine Perspektive, die den Antisemitismus als überhistorisch gegeben akzeptiert und damit die Unterdrückung anderer rechtfertigt. Seit mehr als 70 Jahren hat sich auf dem Gebiet Palästinas eine israelische Nation herausgebildet, die ein uneingeschränktes Existenzrecht auf eben dieses beansprucht. Dieses Existenzrecht muss der dort lebenden jüdischen Bevölkerung uneingeschränkt zugestanden werden. Alles andere wäre äußerst reaktionär und entspräche auch nicht der Vorstellung, die wir von einer sozialistischen und säkularen Ein-Staaten-Lösung haben. Die Anerkennung der Existenz einer jüdischen Nation auf dem Territorium des historischen Palästina darf aber nicht verwechselt werden mit der Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel, welchen wir als rassistisches Projekt ablehnen. Dafür führen wir die kurze Definition des Verhältnisses von Nation und Staat aus der ersten Folge unserer Podcastreihe zum Antisemitismus an:

Eine Nation ist das Ergebnis der bürgerlichen Epoche, also verbunden mit dem Aufstieg und Niedergang des Kapitalismus. Sie ist eine Gemeinschaft von Klassen, dominiert durch eine privilegierte oder ausbeutende Klasse. Diese Gemeinschaft hat eine vereinheitlichende territoriale und wirtschaftliche Grundlage, zumeist eine gemeinsame Sprache und Kultur sowie eine gemeinsame Geschichte, ob nun wirklich oder mythisch. Auf diesem Fundament hat sich ein gemeinsames Selbstbewusstsein oder ein Nationalcharakter herausgebildet mit der politischen Konsequenz, dass die Nation eine eigene Staatsform anstrebt oder schon errichtet hat: den Nationalstaat.

Nakba und Besatzungsregime

Nach wie vor sind es aber wesentliche Elemente, die Israel als zionistisches Projekt und unterdrückerisches Kolonialregime ausmachen und starke Tendenzen bis hin zum Völkermord an den Palästinenser:innen in sich tragen. Eines dieser Elemente ist das israelische Besatzungsregime, welches auf Grundlage der ethnischen Säuberung und der Vertreibung von 750.000 Palästinenser:innen errichtet wurde. Dies geschah entgegen der ursprünglich im UNO-Teilungsplan vorgesehenen gemeinsamen Verwaltung. Die arabische Bevölkerung hatte lediglich die Wahl, sich zu unterwerfen oder zu fliehen. Von ihr wird diese historische Tragödie als Nakba bezeichnet, was das arabische Wort für Katastrophe ist – ein Krieg von 1947 bis 1949. In der Nakba wurden 1948 78 % Palästinas erobert. Durch zionistische Milizen und die Armee wurden mindestens 750.000 Palästinenser:innen vertrieben, viele weitere flohen. Die Anzahl der arabischen Bevölkerung im von Israel beanspruchten Gebiet verringerte sich von etwa 1.324.000 1947 auf etwa 156.000 ein Jahr später. Der größte Teil der Menschen mit palästinensischer Herkunft lebt heute außerhalb der Gebiete Palästinas. So wird beispielsweise vermutet, dass etwa 60 bis 70 % der Jordanier:innen (insgesamt 4,5 Millionen) aus Palästina kommen oder palästinensische Vorfahren haben. Das UNRWA geht heute von etwa 5 Millionen palästinensischen Geflüchteten aus. Rund 1,5 Millionen von ihnen leben in den 58 Camps im Westjordanland, Gaza, aber auch Jordanien, Syrien und dem Libanon.

Bis heute ist es den palästinensischen Bürger:innen Israels verboten, der Nakba zu gedenken. Der Schrecken endete damals jedoch noch lange nicht: Im 6-Tage-Krieg 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, indem die IDF das gesamte Westjordanland und Gaza einnahm und weitere 300.000 Menschen vertrieben wurden. Seitdem sind die Palästinensischen Autonomiegebiete unter eine de facto Kolonialverwaltung gesetzt worden. Dies widerspricht eindeutig der UNO-Resolution 242, welche seit 1967 das Ende der israelischen Kontrolle über die besetzten Gebiete verlangt.

Wie wir in unserer Folge zur historisch-materialistischen Perspektive über die Entstehung und den Charakter von Antisemitismus und Antijudaismus deutlich machten, beginnt die Geschichte nicht mit der Nakba, sondern bereits mit einem ungleichen Verständnis des Nationalstaatsbegriffs und seines Charakters zwischen der religiösen Aufladung und der bürgerlichen Epoche.

Ein weiteres Element, was Israel als Kolonialregime ausmacht, ist, dass es den Vertriebenen vehement das Recht auf Rückkehr verweigert. Alle in der Westbank, einschließlich Ostjerusalem, verbliebenen Araber:innen wurden unter besonderes Militärrecht gestellt, während für die dort lebenden Siedler:innen das israelische Zivilrecht gilt. Es ist auch der Siedler:innenkolonialismus, der zu einer anhaltenden Annexion in den besetzten Gebieten führt. Unterdessen ist die Zahl der jüdischen Siedler:innen, welche in der Westbank und in Ostjerusalem in festungsartigen Siedlungen leben, seit 2007 um 700.000 Menschen angestiegen. Als Siedler:innenkolonialismus wird die Kontrolle über ein Territorium bezeichnet, die nach Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung und ihrer Ersetzung durch eine andere trachtet. Historische Beispiele sind neben Palästina beispielsweise auch Australien und die USA.

Die Spaltung der palästinensischen Bevölkerung, welche ein typisches Merkmal kolonialistischer Beherrschungspolitik ist, erinnert unweigerlich an das Apartheidssystem Südafrikas: Mehr als 50 Gesetze diskriminieren palästinensisch-israelische Bürger:innen in Bezug auf Landbesitz, Wohnen, Familienleben, Bildung und viele weitere Lebensbereiche. Den Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten werden jedoch schon die elementarsten Rechte verwehrt, auch wenn versucht wird, über diesen Umstand durch die Farce einer angeblichen Eigenstaatlichkeit hinwegzutäuschen. Anders als im südafrikanischen Apartheidssystem ist das zionistische Regime jedoch nicht in dem Maße auf arabische Arbeitskraft angewiesen – ein qualitativer Unterschied zwischen klassischem Kolonialismus und Siedler:innenkolonialismus. Insbesondere, als seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die sich bis dato größte Einwanderungsbewegung vollzog, ist Israel mit ausreichend, überwiegend russischer und ukrainischer, Arbeitskraft versorgt worden, welche hervorragend zur Ausbeutung dient.

Als 1996 die Osloer Friedensprozesse scheiterten, auch, da die zionistische Rechte den Siedler:innenkolonialismus als identitätsstiftendes Moment nicht aufgeben wollte, kam es zum Niedergang des säkularen zionistischen Lagers und es vollzog sich der Ausbau eines rein jüdischen Israel. Das sogenannte Palästinenser:innenproblem ließ sich aber nicht, wie von den Zionist:innen erhofft, einfach beseitigen. Spätestens seit dem 7. Oktober ist die Vision einer ethnischen Säuberung im Zionismus eine für viele akzeptable geworden. Bezeichnend dafür ist, dass der rechtsextreme Finanzminister der Regierung Netanjahu, Bezalel Smotrich, ganz offen formulierte, dass die verbleibende palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten sich entweder zu assimilieren oder das Land zu verlassen habe. Was er nicht sagt, ist, dass diese, wenn sie weder das eine noch das andere mit sich machen lässt, weiterhin mit fortgesetztem Krieg gegen sie zu rechnen hat.

Zionismus und Spaltungen

Landesweite Proteste und massiver Widerstand gegen die Justizreform der israelischen Regierung im vergangenen Juni zeigten, dass sich auch in der jüdischen Bevölkerung Ansätze zum Aufbegehren gegen den herrschenden Rechtszionismus regen. Leider war der Widerstand in Israel nicht bereit, seinen Kampf mit dem ihrer unterdrückten arabischen Klassengeschwister zu verbinden. Hier werden die Fehler deutlich, die auch der Linkszionismus begeht, indem er sich bisher nicht willens zeigte, eine wirkliche Konfrontation mit dem zionistischen Chauvinismus einzugehen. Seitens der israelischen Gewerkschaften hat es zwar darüber Auseinandersetzungen gegeben, in welchem Maß nicht-jüdische Arbeiter:innen ausgrenzt werden, aber die Histadrut als Dachorganisation der israelischen Gewerkschaften hat für das zionistische Projekt immer als gelbe Gewerkschaft durch ihren staatstragenden Charakter gewirkt. Die Histadrut wurde bereits 1920 von Linkszionist:innen gegründet, auch Labourzionist:innen genannt. Der Dachverband nahm damals eine entscheidende militärische, wirtschaftliche und politische Rolle im Kolonialisierungsprozess und in der Vertreibung der Palästinenser:innen ein. Statt die Klasseneinheit und Solidarität mit den palästinensischen Arbeiter:innen zu fördern, setzte er sich stattdessen für den Ausschluss und die Entrechtung derselben ein. Er kann demnach weniger als einfache Gewerkschaft eingeordnet, sondern muss vielmehr als ein Grundpfeiler des Kapitalismus in Israel verstanden werden. Die Klassendifferenzierung und Polarisierung in Israel zu unterdrücken und hinauszuzögern, ist ihr Vermächtnis. Somit ist aus einer proletarischen Klassenkampfperspektive klar, dass die Histadrut von der israelischen Arbeiter:innenklasse durch eine Gewerkschaft ersetzt werden muss, die allen Arbeiter:innen, unabhängig von ihrer Ethnie, Zugang zu ihren Strukturen gewährt. Letztlich ist es die Arbeiter:innenklasse, als einzige multi-ethnische Kraft in der Lage, die nationalistischen Spaltungslinien zu überwinden, oder wäre zumindest potentiell dazu imstande. Aber sie kann nur dann eigenständig als Kraft auftreten, wenn sich jüdische, palästinensische und migrantische Arbeiter:innen in gemeinsamen Kampforganisationen für ihre Interessen verbinden. Hierfür braucht es sowohl den Bruch mit dem Zionismus wie mit dem korrupten palästinensischen Nationalismus und reaktionären Islamismus. 

Im Laufe der vergangenen 75 Jahre haben die Jüdinnen/Juden Israels ihre ursprüngliche ethnische Verschiedenheit teilweise durch eine gemeinsame nationale Kultur ersetzen können. Ein wesentliches Element ihres Nationalbewusstseins ist jedoch durch ihre chauvinistische Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung geprägt. Dies bildet die Grundlage dafür, der zionistischen Erzählung, das Volk Israel sei das für Palästina bestimmte, Taten folgen zu lassen – also die Vertreibung der Palästinenser:innen aus der Region und ihre rein jüdische Besiedelung. Um überhaupt ein Nationalbewusstsein zu entwickeln, wurde einer anderen Ethnie ein solches Recht auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen. Hinsichtlich der israelischen Nationalidentität gibt es jedoch auch ethnische und klassenspezifische Aspekte, die diese umfassende Identität spalten. Diese Spaltung vollzieht sich nicht nur zwischen israelischen Araber:innen und Juden/Jüdinnen, sondern auch innerhalb der israelisch-jüdischen Gemeinschaft:

So sind es die Aschkenasim, die das Land 1948 kolonialisiert haben, und daher auch in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die privilegierten Positionen beziehen. Sie stellen die ansehnliche Arbeiter:innenaristokratie aber auch -bürokratie dar, die mittleren und leitenden Positionen der Staatsbürokratie und ihre Kultur wird als die vorherrschende betrachtet. Zudem werden über sie wichtige Verbindungen zu der in den USA und Europa lebenden, ökonomisch bedeutsamen jüdischen Gemeinschaft gehalten.

Seit der Staatsgründung war jedoch klar, dass es orientalische Jüdinnen und Juden braucht, welche als Arbeitskräfte für halbqualifizierte Berufe und niedere Arbeiten eingesetzt werden konnten. So holte man ebendiese gezielt ins Land, welche sich nicht wegen antisemitischer Verfolgung, sondern in der Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard in die unteren Reihen der israelisch-jüdischen Arbeitsgemeinschaft eingliederten. Durch die Besetzung des Westjordanlands 1967 wurden jedoch massenhaft arabische Arbeiter:innen in die israelische Wirtschaft integriert. Dies ermöglichte einer Vielzahl von Juden/Jüdinnen von der Position der Arbeiter:innnen in die der Kleinunternehmer:innen aufzusteigen und als solche arabische Beschäftigte unter sich zu vereinen. Alle Parteien sowie die jüdische Bourgeoisie sehen die Notwendigkeit, sich konjunkturell auch fortwährend mit arabischen Arbeiter:innen versorgen zu müssen, auch wenn dies tendenziell abnimmt. Letztlich ist nicht nur die israelisch-jüdische Gemeinschaft in sich gespalten, sondern auch die Gruppe der orientalischen Jüdinnen/Juden unterteilt sich ihrerseits in vier weitere Untergruppen, zwischen welchen tief verwurzelte Feindschaften herrschen. Auch hier gibt es eine ökonomische Schichtung.  
All diese Spaltungen, die von den weißen Aschkenasim maßgeblich gefördert werden, zeigen deutlich, dass die israelische Arbeiter:innenklasse, auch wenn sie von der Unterdrückung und Überausbeutung der arabischen Israelis profitiert, letztlich eine Verliererin in ihrem kapitalistisch organisierten Staat ist.

Daher legen wir euch auch unsere nächste Folge ans Herz, welche sich damit beschäftigen wird, was es braucht, um eine freie, säkulare und sozialistische Ein-Staaten-Lösung zu erkämpfen. Aber das ist eine andere Frage zur Lage der Klasse.




Nahost: Israel und der Westen missachten Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs

Rose Tedeschi und Alex Rutherford, Infomail 1248, 19. März 2024

Am 26. Januar erließ der Internationale Gerichtshof (IGH) ein Zwischenurteil in einem von Südafrika gegen Israel angestrengten Verfahren. Der IGH wurde ersucht zu entscheiden, ob Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht. In diesem Urteil wird festgestellt, dass sich Israel einer „plausiblen“ Anklage wegen Völkermordes zu stellen habe, und der IGH hat eine einstweilige Verfügung erlassen, in der dem Land Auflagen gemacht werden.

Die Anordnung verpflichtet Israel, alle Handlungen zu unterlassen, die unter die Völkermordkonvention fallen könnten, und sicherzustellen, dass seine Truppen im Gazastreifen keine völkermörderischen Handlungen begehen. Außerdem wird es aufgefordert, öffentliche Aufforderungen zu Völkermord zu verhindern und zu bestrafen und Beweise für den Vorwurf des Völkermords zu sichern. Darüber hinaus wurde Israel angewiesen, Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage der palästinensischen Einwohner:innen in der Enklave zu ergreifen, Beweise dafür aufzubewahren und dem Gericht innerhalb eines Monats einen Bericht vorzulegen.

Israel Bericht ist fällig. Es wird jedoch erwartet, dass er kurz und voller Beschimpfungen sein wird, die die Welt von der Regierung um den Premierminister Benjamin Netanjahu zu erwarten gewohnt ist. Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara machte dies Ende Februar deutlich, als sie die Anschuldigungen Südafrikas als „skandalös“ und die Behauptungen als „absurd“ bezeichnete. Sie fuhr fort:

„Das entschlossene Handeln der israelischen Verteidigungskräfte beruht auf der Reinheit der Waffen und der allgemeinen Einhaltung des nationalen und internationalen Rechts, die Ausdruck der Stärke unseres Landes sind.“

Israel weiß, dass es sich hier auf zweifelhaftem Boden befindet und wird sich wahrscheinlich auf die Lieferung humanitärer Hilfe konzentrieren und behaupten, dass nicht es den Fluss der Hilfsgüter behindert, sondern die Palästinenser:innen, die den freien Durchgang blockieren. Die israelische Belagerung zwingt die hungernden Bewohner:innen des Gazastreifens, die wenigen Konvois, die durchkommen, zu plündern.

Natürlich gibt es einen Berg von Beweisen dafür, dass Israel die Hilfe durch zahlreiche Kontrollpunkte und Verzögerungen blockiert, wie die Aufnahmen von an der Grenze gestauten Lastwagen zeigen, ganz zu schweigen von der Belagerung von Rafah, dem Hauptzugangsort für die Hilfe. Der Norden soll frei von Hamas-Kämpfer:innen sein, doch wurden dort keine Grenzen geöffnet.

In Bezug auf die beiden anderen Forderungen muss Israel einige ernste Fragen beantworten. Genau zwei Tage nach dem IGH-Urteil nahmen neun Mitglieder des israelischen Parlaments (Knesset), darunter zwei Minister, an einer rechtsextremen Siedler:innenkundgebung teil, bei der die Vertreibung der Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen und der Zuzug von Siedler:innen gefordert wurde. Die Minister selbst riefen dazu auf, das nördliche Westjordanland zu besiedeln. Die Regierung hat es versäumt, irgendwelche Abgeordneten dafür zu „bestrafen“, geschweige denn, dies zu „verhindern“.

Seine Militäraktionen im Februar bestätigen ebenfalls Israels Bereitschaft, mit einer Invasion in Rafah zu drohen und gleichzeitig Schulen und Krankenhäuser zu bombardieren. Tausende von Menschenleben stehen auf dem Spiel; wenn Panzer und Kanonen es nicht erreichen, könnten Krankheiten diese Aufgabe für die Israelis übernehmen. Die Bedrohung durch einen Völkermord ist näher gerückt, nicht weiter weg.

Israel und das Gesetz

Entscheidend ist jedoch, dass das Gericht keinen sofortigen Waffenstillstand anordnete. Die Hauptbegründung hierfür ist das von Israel vorgebrachte rechtliche Argument, dass es an einer „völkermörderischen Absicht“ fehle. Da die Hamas beschuldigt wird, die Gewalt durch ihren Angriff am 7. Oktober angezettelt zu haben, ist das Gericht der Ansicht, dass Israel argumentieren kann, dass seine Handlungen in Selbstverteidigung erfolgten, was eine Rechtfertigung für den Krieg und somit keine Anordnung einer sofortigen Waffenruhe darstellt.

Dies ignoriert die 75 Jahre der Unterdrückung, Enteignung und Apartheid, die Israel den Palästinenser:innen angetan hat. Für revolutionäre Kommunist:innen kann jedoch die Gewalt eines unterdrückten Volkes niemals mit der Gewalt des Unterdrückers gleichgesetzt werden. Das palästinensische Volk ist seit der Gründung des zionistischen Staates im Jahr 1948 Opfer einer schrecklichen nationalen Unterdrückung. Der Gazastreifen ist praktisch ein Freiluftgefangenenlager für eine der am meisten benachteiligten und überfüllten Bevölkerungen der Welt.

Diese Entscheidung ist nur vorläufig; bis zur endgültigen Entscheidung in diesem Fall werden Monate oder sogar Jahre vergehen. Die Entscheidungen des IGH sind endgültig und unanfechtbar, aber das Gericht hat keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Der Nachweis eines Vorsatzes ist jedoch bekanntermaßen schwer zu erbringen, da die rechtliche Messlatte für Beweise sehr hoch angesetzt ist.

Netanjahu bekräftigt Israels „unerschütterliches Engagement“ für das Völkerrecht und bezeichnet den Vorwurf des Völkermords als „empörend“. Der israelische Verteidigungsminister Yo’aw Galant zeigte sich „bestürzt“ darüber, dass die Klage nicht rundheraus abgelehnt wurde, und der Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir twitterte spöttisch „Haag-Schmach“. Es wurde berichtet, dass andere hochrangige israelische Minister das Urteil als „antisemitisch“ bezeichnet haben.

Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa sagte, er erwarte, dass Israel sich an das Urteil hält und Maßnahmen zur Verhinderung eines Völkermords ergreift. Bislang sieht es nicht danach aus. Südafrikas Außenministerin Naledi Pandor war näher an der Wahrheit und warf Israel vor, das Urteil zu ignorieren. In der Woche nach dem Urteil des IGH wurden fast 1.000 weitere Palästinenser:innen getötet. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich nun auf mehr als 30.000.

Israel hat seine Militäroperationen auf Rafah ausgeweitet, obwohl es die Stadt zu einer „sicheren Zone“ erklärt hat. Die UNO hat Rafah als „Druckkochtopf der Verzweiflung“ bezeichnet. Krankenhäuser sind weiterhin Ziel israelischer Angriffe; Berichten zufolge wurden Panzer in der Nähe des Nasser-Krankenhauses – dem größten funktionierenden Krankenhaus in Gaza – gesehen.

Kluft zwischen imperialisiertem Süden und imperialistischem Westen

War es das wert, den Fall vor den Weltgerichtshof zu bringen? Ja! Dieser Fall steht eindeutig für ein Massengefühl der Rebellion in der halbkolonialen Welt gegen den westlichen Imperialismus. Ramaphosa, der berüchtigte Mörder der südafrikanischen Bergarbeiter:innen von Marikana, ist sicher kein antiimperialistischer Kämpfer – und seine Gründe mögen in einem Wahljahr zynisch sein.

Aber es war der Druck der internationalen Bewegung für die Befreiung der Palästinenser:innen, auf den die Machthaber:innen reagierten. Südafrikaner:innen sind seit langem Verbündete des palästinensischen Volkes, und die internationale Rechtsexpertin Heidi Matthews sagte, dass ihr historischer Kampf für die Beendigung der Apartheid dem Fall gegen Israel „Glaubwürdigkeit und moralisches Gewicht“ verleiht.

Das Gefühl des Hasses gegenüber dem Westen, den ehemaligen Kolonialherr:innen Afrikas und Asiens, wird durch die Reaktion auf das Urteil des IGH noch geschürt. Innerhalb weniger Stunden nach der Entscheidung stellten die USA ihre Finanzierung des UN-Hilfswerks UNRWA ein, und Kanada folgte diesem Beispiel rasch. Es überrascht nicht, dass auch das Vereinigte Königreich und sechs weitere europäische Länder, darunter auch Deutschland,  sowie Japan ihre Mittel für das UNRWA aussetzten.

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen ist die einzige Organisation, die derzeit in der Lage ist, die humanitären Mittel bereitzustellen, zu deren Gewährung sich US-Präsident Joe Biden und der britische Außenminister David Cameron „verpflichtet“ haben. Die EU schätzt, dass sich die insgesamt ausgesetzten Mittel auf mehr als 440 Millionen US-Dollar belaufen – die Hälfte des Haushalts der Organisation für 2024. In einer Zeit, in der die Menschen im Gazastreifen gezwungen sind, Gras zu essen und verschmutztes Wasser zu trinken, um zu überleben, ist dies absolut verachtenswert.

Glücklicherweise haben nicht alle Länder ihre Finanzierung zurückgezogen; Spanien hat ein dringendes Hilfspaket in Höhe von 3,8 Millionen Dollar angekündigt, und Australien und Belgien werden ihre Finanzierung des UNRWA fortsetzen. Aber der Sonderpreis für Heuchelei geht sicherlich an Deutschland, das einerseits die Legitimität des IGH anerkannt, andererseits aber sämtliche Vorwürfe gegen Israel vor jeder Untersuchung zurückweise – und gleichzeitig Israel mit den Waffen versorgt, die es benutzt, um das „Völkerrecht“ mit Füßen zu treten.

Schlussfolgerung

Trotz der vielen Unzulänglichkeiten dieses vorläufigen Urteils und des IGH selbst stellt die Entscheidung einen Schlag sowohl für Israel als auch für die westlichen Mächte dar. Sie hat zu dem Schauspiel geführt, dass diese Mächte genau die Institutionen untergraben, die sie zuvor geschaffen hatten, um ihre imperialistische Herrschaft über die Welt zu verschleiern. Ihre Ansprüche auf Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Selbstbestimmung, die sie im Falle der Ukraine und Taiwans, d. h. bei der Verurteilung ihrer Rivalen Russland und China, so hochgehalten haben, haben in den Augen des globalen Südens erheblichen Schaden genommen.

Die Bewegung für die Befreiung Palästinas muss diese Orientierungslosigkeit der Regierenden ausnutzen und sich keinen Illusionen in Typen wie Ramaphosa hingeben und ihre Anstrengungen international koordinieren, wenn sie ihr Ziel, ein freies Palästina, erreichen will. Das Urteil des IGH kann eine Plattform bieten, um auf diesen Kampf hinzuweisen, aber es kann keine Gerechtigkeit schaffen. Das können nur die Palästinenser:innen selber und ihre Unterstützer:innen tun, indem sie für die revolutionäre Zerstörung des zionistischen Staates und seine Ersetzung durch ein einheitliches, säkulares und sozialistisches Palästina kämpfen, einschließlich des Rechts auf Rückkehr.




Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande – صوت المرأة ثورة وليس عارًا

Dilara Lorin, Fight 12! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2024

Tunesien, 17. Dezember 2010: Mohamed Bouazizi, ein Gemüsehändler, zündet das Feuer über seinen abgemagerten und ausgebeuteten Körper an, gegen die Perspektivlosigkeit und Polizeigewalt, die er und andere erfuhren. Die Flammen verbrennen ihn, er stirbt. Doch dieses Feuer war der Funken, der in der arabischen Welt die Flammen der Revolutionen entfachte.

Der Arabische Frühling

Der Arabische Frühling, die Revolutionen von Tunesien über Ägypten bis nach Syrien und in den Jemen haben Generationen von Arbeiter:innen, Jugendlichen und Frauen geprägt. Für eine gewisse Zeit schien das revolutionäre Aufbegehren unaufhaltbar zu sein. Massendemonstrationen, die sich gegen autoritäre Regime richteten und ein würdevolles Leben, Menschenrechte und demokratische Mitbestimmung forderten, sowie Streiks einer sich erhebenden Arbeiter:innenklasse ließen die Ben Alis, Assads, al-Gaddafis und Mubaraks erzittern.

In Tunesien führten örtliche Gewerkschaften, Angestellte und insbesondere die oppositionellen Kräfte im Dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) die Proteste an, die auch stark von Jugendlichen und Arbeitslosen getragen wurden. Am 10. Januar 2011 riefen Branchengewerkschaften der UGTT, darunter die Lehrer:innen, zu einem zweitägigen Generalstreik und Massendemonstrationen im ganzen Land auf, wobei die Führung der Gewerkschaften massiv von ihrer Basis und den Protesten unter Druck gesetzt wurde.

Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus dem Land. Sein Sturz befeuerte in der gesamten Region einen revolutionärer Prozess. Dabei verliefen die Proteste anfangs ähnlich. Ägypten sollte als nächstes dran sein. Dabei spielten Facebook und Social-Media-Kanäle zur Mobilisierung und Dokumentierung eine essenzielle Rolle. Obwohl die Protestierenden am 25. Januar und an den Tagen danach massiv und brutal angegriffen und zahlreiche Menschen von Regierungseinheiten ermordet wurden, konnten die Barrikaden und Einsatzkräfte von Polizei oder Armee die Massen nicht stoppen.

Atemberaubend muss der Moment gewesen sein, als von Hunderttausenden der Slogan der Revolution aus Tunesien in den Straßen Ägyptens wiederhallte: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Vor allem der Tahrir-Platz in Kairo wird zum großen Symbolbild der Revolution in diesem Land und Monate lang besetzt gehalten und von Aktivist:innen selbstverwaltet. Auch Streiks erschüttern die Herrschenden dieses Landes. Soziale Forderungen wurden nach der Ansprache Mubaraks am 10. Februar, als er die schrittweise Übergabe seiner Amtsgeschäfte ankündigte, mit der anwachsenden Streikwelle immer stärker: Lohnerhöhung, Arbeitsplatzsicherheit und Gewerkschaftsrechte. Der halbe Rücktritt kommt zu spät, die Revolution weitet sich noch mehr aus und Mubarak muss am 11. Januar endgültig gehen.

In Syrien beginnt die Welle der Revolution ebenfalls blutig: Jugendliche aus Dar’a schreiben im März an ihre Schulwand, inspiriert vom Sturz der Regime in Tunesien und Ägypten: „It’s your turn doctor“. (Baschar al-Assad ist Augenarzt). Sie werden inhaftiert und gefoltert, einer stirbt. Aber Massen gehen auf die Straßen. Die Massenproteste mit mehreren 100.000 Teilnehmer:innen in ihrer Höchstphase fanden schnell Unterstützung von Soldat:innen, welche dem Regime und dessen bewaffnetem Arm den Rücken kehrten und zurück in ihre Stadtteile gingen. Dort beschützten diese anfänglich die Demonstrationen gegen Angriffe des Staates. Im gleichen Zeitraum entstehen Stadtkomitees und eine Organisierung von Arbeiter:innen mit basisdemokratischen Strukturen. Die noch zum Teil unkoordinierte Organisierung der bewaffneten Teile verteidigt bald schon ganze Stadtteile und drängt Armee und regimetreue Milizen zurück. Dies sind nur einige kurze Ausführungen über die Massenproteste und ihre allgemeinen Auswirkungen.

Außerdem sind dies Teile der „1. Welle“ des Arabischen Frühlings, als sich die Regime in der Defensive befanden, Diktatoren wie Ben Ali und Mubarak gestürzt wurden. In dieser Phase spielten Frauen eine wichtige Rolle, da auch sie an vorderster Front gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpften. Sie übernahmen wichtige und notwendige Rollen während der Proteste, welche von Sanitätsaufgaben, über journalistische Arbeit bis hin zur Mobilisierung und Organisierung reichten. Dabei muss angemerkt werden, dass vor allem in dieser Phase geschlechtsspezifische Forderungen keine essenzielle Rolle spielten. Denn egal ob männlich oder weiblich, alt oder jung, der Schrei gegen Unterdrückung, nach sozialen Forderungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnten, und für den Sturz der Regime und Demokratie betraf alle.

Doch die weitere Entwicklung des Arabischen Frühlings – sowohl seine Ausweitung in andere Länder wie auch die Reaktionen der Staatsapparate, die weiter bestanden, und der herrschenden Klassen, die sich auf sie stützen – veränderte auch die Forderungen. Darin wurden auch mehr geschlechtsspezifische Fragen laut. In einigen Ländern übernahmen auch weibliche Personen wichtigere Rollen. Dabei konnten z. B. im Libanon Frauenorganisationen an Masse gewinnen und im Sudan wurden Videos von protestierenden jungen Frauen in weißen Hidschabs immer verbreiteter. Doch die Konterrevolution – egal in welcher Welle des Arabischen Frühlings und in welcher Form, ob durch offene brutale Repression und Bürger:innenkrieg oder durch eine Mischung aus Repression und Inkorporation – rief überall nach der Einschränkung von Frauenrechten und der Rolle der Frauen, die in den Revolutionen sichtbar wurde. Wir wollen diese exemplarisch in einigen Ländern genauer betrachten.

Wir kämpfen – wir sind nicht Opfer

Sehen wir in den westlichen Medien etwas über den Arabischen Frühling, scheinen fast ausschließlich nur männliche Personen vor die Linse der Kamera zu treten. Beim Lesen von vor allem liberalen Berichten und Analysen zum Arabischen Frühling werden weibliche Personen oft als Opfer von Gewalt und Vergewaltigungen dargestellt. Und auch wenn dies leider tragische Wahrheit ist, so ist dies nicht das Einzige, welches die Rolle der Frauen in den Revolutionen widerspiegelt.

So spielten Frauen als Aktivist:innen und Medienschaffende eine große Rolle: Asmaa Mahfuz in Ägypten, Arwa Othman im Jemen, Lina Ben Mhenni in Tunesien, um nur einige Namen zu nennen. Durch die gewerkschaftliche Organisierung von Frauen in Tunesien konnte hier eine starke Präsenz von weiblichen Personen verzeichnet werden. Dabei waren sie nicht nur Journalistinnen, sie waren Teil von Volkskomitees, welche tunesische Wohnviertel schützten, vor allem in Phasen, als der Staat kollabierte.

Nach dem Sturz von Bin Ali wählte Tunesien 2011 die verfassunggebende Versammlung, in welcher mehr als 20 % der Abgeordneten aus Frauen bestanden. Dies zeigt die allgemeine Tendenz, welche von den Aufständen verursacht und errungen wurde, dass sich Frauen vermehrt an öffentlichen Debatten und Entscheidungen beteiligten. Es entstehen viele neue NGOs, Organisationen, und viele Frauen lassen sich in unterschiedlichen Ländern zur Wahl aufstellen.

Es wurden zum Teil Räume und Möglichkeiten geschaffen, in welchen das Bild der Frau, ihre Rolle und die Frage der Sexualität immer mehr Gegenstand der Debatten wurden.

Dabei mussten Frauen für diese kleinen Errungenschaften viel leisten: In praktisch allen Ländern wandten die Kräfte des alten, erschütterten, aber letztlich nicht gestürzten Regimes systematisch sexuelle Gewalt gegen protestierende Frauen an. Dadurch sollte ihre Moral gebrochen werden, um ihre Präsenz und die Bewegung insgesamt zu schwächen. So gibt es Berichte darüber, dass in den Truppen in Libyen, welche loyal zum Diktator al-Gaddafi standen, Viagra verteilt wurde.

In Ägypten versammeln sich am 8. März 2011 Frauen auf dem Tahrir-Platz, um den Frauenkampftag zu feiern. Sie werden von Gegendemonstrant:innen eingekreist und brutal angegriffen. Am darauffolgenden Tag erfolgt die systematische Schikane seitens der Armee. Diese stürmt zusammen mit Polizei und bezahlten Schlägertrupps den Platz. Von den Protestierenden werden 18 Frauen inhaftiert und bei 7 von ihnen wurden im Gefängnis „Jungfräulichkeitstest“ durchgeführt. Die Gewalt gegenüber Frauen nahm am 17.12.2011 eine neues Höchstmaß an, beim „Vorfall mit dem blauen BH“, bei welchem das ägyptische Militär eine protestierende Frau verprügelte. Videos wurden veröffentlicht, in welchem man die ohnmächtige Frau erkennt, wie sie an ihren Armen durch die Straße gezerrt wird, ihre Abaya (Überkleid) zerrissen und ihr nackter Körper mit einem blauen BH wird deutlich. Daraufhin versammelten sich am 20.12.2011 Tausende Frauen und Männer auf dem Tahrir-Platz. Dies wird als einer der größten Frauenproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen.

Die systematische sexualisierte Gewalt durch staatliche und reaktionäre Kräfte führte dazu, dass Frauen einheitlicher auftraten, Frauenorganisationen gegründet wurden und diese eine Koalition aufbauten. Frauen waren notwendige Akteur:innen der Proteste, welches ihnen Legitimität und Aufmerksamkeit verlieh. Dies versuchten Diktatoren wie Salih im Jemen zu unterbinden. In einer Ansprache am 15.04.2011 versuchte er durch den Satz „Der Islam verbietet die Vermischung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit“, die großen Sit-ins und Platzbesetzungen zu diskreditieren.

Oftmals kämpften Aktivistinnen auch gegen ihre eigenen Familien und Verwandtschaftskreise, da diese sich gegen ihren Aktivismus stellten. Ein Beispiel hierfür ist die bekannte syrische Schauspielerin Fadwa Soliman. Trotz Gefahr von Tod oder Gefängnis wollte sie an den Protesten teilnehme, um die ihrer Meinung nach in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung zu widerlegen, dass alle Mitglieder der alawitischen Gemeinschaft, die etwa 10 % der syrischen Bevölkerung ausmachen, die Regierung ihres alawitischen Landsmanns Baschar al-Assad unterstützen. Sie wollte auch die Darstellung der Regierung widerlegen, dass diejenigen, die an den Protesten teilnahmen, entweder Islamist:innen oder bewaffnete Terrorist:innen seien. Dabei wurde sie jedoch von ihrer Familie ausgeschlossen und exkommuniziert.

Es ist nicht unüblich, dass in solchen spontan auftretenden Protesten Forderungen nach Würde, Regimewechsel, Freiheit vordersten Rang einnehmen. Dabei kämpften überall Frauen und Männer Seite an Seite für den Sturz „ihrer“ Regime. Auch wenn sich die patriarchale Unterordnung von Frauen in der Region allein durch den Arabischen Frühling nicht auflösen konnte, ermöglichte er ein Aufsprengen und Hinterfragen vieler traditionelle patriarchaler Gedanken, Ideologien und Geschlechterrollen. Dabei sitzen diese tief und lassen sich nicht durch einen Regimewechsel und einige demokratische Gesetze überwinden.

Mit dem Eintreten der Welt in die imperialistische Epoche kämpften die Massen in den Kolonien gegen ihre Unterordnung, Ausbeutung und Fremdherrschaft. Antikoloniale Kämpfe führten jedoch nicht zu einer kompletten Unabhängigkeit dieser Länder. Es entstanden Halbkolonien, Staaten, die zwar formal politisch unabhängig sind, aber wirtschaftlich und letztlich auch politisch abhängig von imperialistischen Staaten und ihrer Weltordnung. Diese Abhängigkeit führte dazu, dass halbkoloniale Länder systematisch unterentwickelt gehalten wurden, sich Ungleichheit im Rahmen der globalen Arbeitsteilung verfestigte, wenn nicht sogar verstärkte. Vorkapitalistische Herrschaftsformen und patriarchale Strukturen wurden nicht zerschlagen, sondern vielmehr in den halbkolonialen Kapitalismus und den Weltmarkt integriert. Wir erinnern daran, dass die USA unter anderem an Stammesführer in Afghanistan, Irak oder Syrien Waffen lieferten und diese als Partner eher akzeptierte als andere, wodurch sie auch den Fortbestand dieser Strukturen unterstützten. Während des Arabischen Frühlings konnte beobachtet werden, dass für viele Frauen der Aktivismus von ihren Familien und Freund:innen ungern gesehen war und ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden.

Forderungen, die vermehrt genderspezifisch aufgeworfen wurden, wurden vor allem in den Nachwehen des Arabischen Frühlings populär. So spielten Aktivistinnen 2019 in den Oktoberprotesten im Irak eine wesentliche Rolle. Aktivistin Amira Al-Jaber erzählt in einem Interview mit Al Jazeera (Al Dschasira), dass die Präsenz von Frauen in den Protesten dazu beigetragen hat, die von der Gesellschaft auferlegten Beschränkungen, unsere Stimme nicht zu zeigen, zu brechen. Wir haben den Slogan: „Die Stimme der Frauen ist eine Revolution, keine Schande“ erhoben.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die objektive Lage von Frauen sich nicht verbessert hat, sondern konterrevolutionäre Parteien und Regime, Bürgerkrieg und, im Extremfall, der Aufmarsch von Daesch (Islamischer Staat) immer mehr ihre Rechte einschränkten. Aber der Arabische Frühling verlieh zugleich vor allem Frauen Erfahrungen, Kampfgeist und Sichtbarkeit in öffentlichen Räumen.

Wie kämpfen wir für einen neuen Arabischen Frühling? Wie tragen wir den Kampf gegen Frauenunterdrückung in die Massen?

Der Arabische Frühling, egal ob in Tunesien, Bahrain, Irak oder Sudan war eine fortschrittliche Erhebung der Massen, welche sich gegen Verarmung und repressive Regime richtete. Dabei darf die Rolle von imperialistischen Mächten, die die Region systematisch in Abhängigkeit halten, um die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen und Natur zu garantieren, und die deshalb blutige Regime unterstützen, nicht vergessen werden. In vielen Raps, die in Phasen der Massenproteste aus dem Untergrund als Ausdruck der Wut der Jugend bekannter wurden, tritt eine Imperialismuskritik immer mehr in den Vordergrund.

Die Forderung nach grundlegenden demokratischen Rechten ist eine wichtige, kann jedoch nur durch Revolutionen umgesetzt werden, welche die Diktatoren und ihre Milizen und Armeen zerschlagen. Auch wenn die Revolutionen in vielen dieser Länder als „demokratische“ beginnen, so können sie ihre Ziele nur erreichen, wenn sie auch die Grundstrukturen der Gesellschaft, Kapitalismus und Imperialismus, infrage stellen, mit einer sozialistischen Umwälzung verbunden werden. Die Revolution muss permanent werden – oder sie wird nicht fähig sein, die alten Regime und ihre Grundstrukturen vollständig zu beseitigen.

Der Arbeiter:innenklasse kommt dabei eine Schlüsselrolle hinzu. Die aufkommenden Streiks bis hin zu Generalstreiks waren wichtige und notwendige Mittel, um die aufgeworfenen Forderungen umsetzen zu können. Jedoch können uns demokratische Systeme keine Sicherheit geben, und ein Rückfall in autoritäre Regime mit ihren Diktator:innen kann immer wieder erfolgen und hat immer wieder mit Unterstützung der Imperialistischen Mächte stattgefunden. Wir müssen die Revolution in eine soziale umwandeln, welche die Machtverhältnisse umstürzt und die Klassenverhältnisse, welche zur Ausbeutung und Anhäufung des Reichtums einiger weniger beitragen, zerschlägt. Dabei war es einer der großen Fehler im Arabischen Frühling, dass die Massen und Streikenden keine Organe der Doppelmacht errichteten.

Damit die Revolution siegreich sein kann, muss sie in den Streiks, Massenaufständen und Erhebungen eigene demokratische Kampfstrukturen – Streik- und Aktionskomitees – aufbauen, die sich zur Räten entwickeln können und landesweit zentralisiert werden. Nur so können sie dem zentralisierten Staats- und Machtapparat die gebündelte Kraft der Revolution entgegenstellen und damit auch Organe einer neuen, revolutionären Ordnung schaffen, die den alten Staatsapparat zerschlägt und an seine Stelle tritt.

Um diese Streiks, Demonstrationen, Versammlungen, Räte, Gewerkschaften und Parteien der Unterdrückten zu verteidigen, braucht es auch eine eigene, von Komitees der Arbeiter:innen und Unterdrückten kontrollierte Miliz. Um die einfachen Soldat:innen, die sich nicht in den Dienst der Reaktion stellen wollen, zu gewinnen, braucht es den Aufbau von Soldat:innenräten, die sich mit jenen der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern verbinden.

Damit eine solche Perspektive Fuß fassen und erfolgreich umgesetzt werden kann, braucht die Revolution eine politische Kraft, die sie anführen kann, eine revolutionäre Partei. Diese muss die kämpfenden und fortschrittlichsten Teile der Unterdrückten und Arbeiter:innen sowie Frauen und Jugendlichen organisieren. Es braucht dabei das Recht von geschlechtlich Unterdrückten, Caucusse zu bilden, welches ihnen ermöglicht, sich in den eigenen Reihen unabhängig vom anderen Geschlecht zu treffen. Dabei soll einerseits ein Ort geschaffen werden, an welchem über den Sexismus in den eigenen Reihen geredet werden kann und Forderungen und Analysen in die Partei zurückgetragen werden können. Die revolutionäre Partei muss dabei Taktiken für den Kampf diskutieren und entwickeln, ein Programm erarbeiten, welches den Kampf für eine Revolution bündelt. Essentiell ist für das Überleben dieser revolutionären Partei die Verbindung mit Revolutionär:innen in den anderen halbkolonialen Ländern sowie den imperialistischen Staaten.

Die Unterdrückung der Frau kann zwar letztlich nur aufgehoben werden, wenn der Kapitalismus zerschlagen ist. Dies bedeutet aber nicht, dass in Revolutionen und Aufständen weibliche Aktivist:innen keine wesentliche Rolle spielen. Sie sind Speerspitzen kommender Proteste, welches die Frauenrevolution in Iran aufgezeigt hat. Der Kampf um demokratische Rechte und für soziale Forderungen muss immer zusammen mit dem gegen die Unterdrückung von Frauen gedacht werden. Die aktuelle Situation in den beschriebenen Ländern schreit nach einem 2. Aufflammen des Arabischen Frühlings. Die Zeit ist reif. Lasst uns dabei nicht nur lose Bewegungen aufbauen, sondern organisiere dich schon jetzt für den Aufbau revolutionärer Parteien und einer neuen revolutionären Internationale!




Seekorridor nach Gaza: Humanitäre Flankendeckung für den Krieg

Martin Suchanek, Infomail 1248, 16. März 2024

Die Hungersnot in Gaza ist mittlerweile auch bei den imperialistischen Staats- und Regierungschef:innen angekommen. Ob Joe Biden, Ursula von der Leyen oder Olaf Scholz: Alle beklagen die humanitäre Katastrophe, die in Palästina droht.

Seit Monaten spitzt sich die humanitäre Lage dramatisch zu. Über 30.000 Menschen wurden seit Oktober von der israelischen Armee getötet, der größte Teil der Bevölkerung wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Seit Monaten warnen internationale Hilfsorganisationen vor einer Hungersnot, die lt. UNO aktuell mehr als einer halben Million Menschen direkt droht. Am schlimmsten ist die Lage im Norden des Gazastreifens, der von der IDF abgeriegelt ist und in den praktisch keine Hilfslieferungen gelangen. Besonders akut gefährdet sind Kinder. So berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland unter Berufung auf die Nachrichtenagentur AP: „Im Emirati-Krankenhaus in Rafah starben in den vergangenen fünf Wochen 16 Frühgeborene an den Folgen von Unterernährung.“ Neben Hunger drohen aufgrund von Unterernährung, Wassermangel und katastrophalen hygienischen Zuständen Krankheiten oder gar die Ausbreitung von Seuchen.

Überraschend kommt diese barbarische Entwicklung nicht. Schon vor dem Krieg waren 1,2 der 2,3 Millionen Einwohner:innen Gazas auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Der größte Teil davon entfällt seit Monaten. Rund 500 LKW bräuchte es pro Tag, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, doch Israel lässt nur einen Bruchteil davon durch, im Februar durchschnittlich gerade 83 LKWs pro Tag. Dabei könnten jederzeit mehr Lastwagen die Grenze passieren, doch diese werden aufgehalten, während sich der Hunger ausbreitet.

Die Katastrophe wie auch der Tod Zehntausender wären vermeidbar gewesen; vermeidbar ist auch der drohende Hungertod weiterer Zehntausender. Notwendig wären dazu aber ein sofortiger Waffenstillstand und die Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Kleidung, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung.

Israel blockiert

Doch von einer Öffnung der Grenzen, von mehr Hilfslieferungen und erst recht von einer Feuerpause, geschweige denn einem Waffenstillstand will das Kriegskabinett Netanjahu nichts wissen. Selbst die Forderungen der US-Administration nach einem befristeten Waffenstillstand werden bislang mehr oder weniger undiplomatisch zurückgewiesen, zumal die israelische Regierung weiß, dass die USA, Britannien, Deutschland und die anderen EU-Mächte weiter Waffen liefern, weiter finanzielle und diplomatische Unterstützung gewähren.

Die Scharfmacher:innen in der israelischen Regierung setzen ganz offen auf Krieg und Vertreibung. Ihr extremer rechtsradikaler Flügel sieht sich seinem Kriegsziel näher, eine weitere ethnische Säuberung Palästinas, also die Vertreibung von Millionen aus Gaza, umzusetzen. Hunger wird dabei als Waffe eingesetzt.

Andere Falken wollen durch das Aushungern der Bevölkerung die Freigabe der israelischen Geiseln erzwingen. So erklärt der ehemalige Chef des Nationalen Sicherheitsrats Israels Giora Eiland in einem Interview unverhohlen: „Wenn die Palästinenser wirklich dringend humanitäre Hilfe benötigen, dann muss ihnen gesagt werden: Wenn sie essen wollen, müssen sie auf ihre Regierung Druck ausüben, damit diese einen Geiseldeal eingeht.“

Humanitäre Heuchelei

Das vom Westen ansonsten so gepriesene Völkerrecht, das die Verpflichtung von Besatzungsmächten zur Versorgung der Bevölkerung vorsieht, wird wieder einmal mit Füßen getreten. Diese barbarische Logik wollen selbst die Führungen der imperialistischen Mächte nicht einfach absegnen, wissen sie doch, dass die offene Weigerung, die Bevölkerung in Gaza auch nur mit dem Nötigsten zu versorgen, die ohnedies löchrige demokratische Fassade des Krieges vollständig zum Einbruch bringen könnte.

Sie geben sich daher besorgt und von ihrer humanitären Seite. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist „zutiefst beunruhigt über die Bilder aus Gaza“. Selbst angesichts der Hungersnot wird der genozidale Angriffe jedoch noch schöngeredet, wenn sie kritisiert, dass Israel seiner Pflicht gegenüber der Bevölkerung nur „begrenzt“ nachkomme. Selbst der deutschen Außenministerin Baerbock entgeht nicht, dass Frauen und Kinder am meisten leiden würden, und so verlangt sie, wenn auch seit Wochen vergeblich, eine „humanitäre Kampfpause“. Verbal noch deutlicher gibt sich die US-Adminstration. So fordert US-Vizepräsidentin Kamala Harris von Netanjahus Regierung: „Keine Ausreden, sie müssen neue Grenzübergänge öffnen und unnötige Beschränkungen aufheben“.

Diese humanitären Anwandlungen der Größen westlicher Politik entpuppen sich regelmäßig als leere Phrasen. Niemand ist bereit, die israelische Regierung so sehr unter Druck zu setzen, dass sie sich zu einer Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen oder gar zu einem Waffenstillstand genötig sieht. Dabei hätten die Staats- und Regierungschef:innen von USA und EU jederzeit die Hebel in der Hand, das zionistische Regime zum Einlenken zu zwingen, indem sie ihm den Stopp von Waffenlieferungen, Hilfsgeldern und diplomatischem Schutz androhen. Dass das nicht passieren wird, solange sie nicht durch eine Massenbewegung in ihren eigenen Ländern dazu gezwungen werden, weiß natürlich auch Netanjahu.

Mehr noch, die westlichen Staaten sind nicht einmal bereit, die Anträge Südafrikas und anderer Staaten beim Internationalen Gerichtshof (IGH) zu unterstützen, die Israel zur Versorgung der Bevölkerung zwingen sollen. Selbst eine solche Maßnahme, die letztlich mehr symbolisch als real wäre, weil es dem IGH an den Mitteln zur Durchsetzung solcher Beschlüsse fehlt, lehnen sie entschieden ab.

Israel ist schließlich seit Jahrzehnten ein zentraler geostrategischer Verbündeter der USA und der EU-Länder im Nahen Osten, ein Vorposten ihrer eigenen imperialistischen Ordnung. Daher lassen sie einen regionalen Gendarm nicht fallen, zumal wenn sich die reaktionären arabischen Regime letztlich auch nur auf symbolischen Protest gegen das zionistische Regime beschränken.

Zynisches Manöver

Vor diesem Hintergrund werden Hilfslieferungen auch weiterhin nicht in ausreichendem Maße über die Grenzen gelangen. Den Vorwurf, beim Sterben von Zehntausenden oder Hunderttausenden nur zuzusehen, will sich der Westen jedoch auch nicht aussetzen.

Daher zaubern die Staats- und Regierungschef:innen der USA und Westeuropas eine angebliche Alternative zu Hilfslieferungen auf dem Landweg aus dem Hut. Zur Notversorgung Gazas soll unmittelbar eine Art „Luftbrücke“ eingerichtet werden, langfristig sollen Lieferungen auf dem Seeweg folgen. Ganz nebenbei werden dabei Israels „Sicherheitsinteressen“ in Rechnung gestellt, da jede Lieferung, jede Luftfracht ausschließlich von verbündeten Militärs abgeworfen wird.

Seit Anfang März begannen die USA, Frankreich und Jordanien, Nahrungsmittel über dem Kriegsgebiet abzuwerfen. Seither schlossen sich mehrere Länder, darunter auch Deutschland, dieser Luftbrücke an. Übernommen werden die Einsätze in der Regel vom Militär – im Falle Deutschlands von der Bundeswehr –, was deren Präsenz im Nahen Osten erhöht.

Zusätzlich wollen die westlichen Verbündeten Israels die humanitäre Lage in Gaza durch die Errichtung einer Seebrücke erleichtern. Erste Schiffe sind schon unterwegs, erste Ladungen, wurden schon gelöscht. Doch diese sind nicht mehr als eine Tropfen auf den heißen Stein, denn es fehlt ein Hafen. Ein solcher soll in den nächsten ein bis zwei Monaten als schwimmende Schiffsanlegestelle erbaut und vor Gaza errichtet werden. Bis dahin müssen die Hungernden warten, erhalten weiter viel zu wenige Hilfslieferungen – und selbst wenn  improvisierte Häfen gebaut sein sollten, ist es mehr als fraglich, ob die Hilfslieferungen über den Seeweg ausreichen.

Der Zynismus des Westens lässt sich kaum überbieten. Die „Hilfe“ entpuppt sich als humanitäres Placebo, während eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung auf dem Landweg jetzt unmittelbar notwendig und rein logistisch auch machbar wäre.

Doch darum geht es Washington, Brüssel, Paris oder Berlin nicht. Die Placebohilfe soll vielmehr Israel vor der internationalen Kritik abschirmen, indem die westlichen Staaten die härtesten Auswirkungen der humanitären Katastrophe lindern sollen. Sie übernehmen so einen Teil der Verpflichtungen Israels zum Schutz der Zivilbevölkerung, während die zionistische Kriegsmaschinerie weitermachen kann.

Die Pseudoalternative zur Lieferung von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und anderen Gütern auf dem Landweg stellt nicht „nur“ eine zynische Verschleppung wirklicher Hilfe dar, sondern soll dem Krieg Israels auch eine humanitäre Flankendeckung verschaffen und die westliche Öffentlichkeit zumindest ein Stück weit beruhigen. Ein weiteres Placebo also.

Hungerkatastrophe wirklich stoppen!

Wir brauchen keine solchen Pseudohilfen. Vielmehr muss die drohende Hungerkatastrophe, muss der genozidale Angriff Israels jetzt gestoppt werden. Dazu müssen jetzt die Grenzen geöffnet werden. Zusätzlich müssen jetzt sämtliche Mittel für das UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA freigeben werden.

Die Durchsetzung dieser unmittelbaren Forderungen, die selbst noch weit davon entfernt sind, einen dauerhaften gerechten Frieden zu bringen, wäre wenigstens ein Schritt zum Stoppen des Mordes an unschuldigen Zivilist:innen, ein Schritt, den Hungertod Tausender und die Vertreibung von Hunderdtausenden zu verhindern.

Doch dazu braucht es jetzt eine Massenmobilisierung in den westlichen wie arabischen Ländern – auf der Straße, in den Betrieben und Wohnvierteln. In den arabischen Staaten müssen die Massen, allen voran die Arbeiter:innenklasse, den Abbruch aller Beziehungen zu Israel einfordern. Die ägyptische Arbeiter:innenklasse verfügt über das Potential, strategische Handelswege wie den Suezkanal zu blockieren, um die westlichen Großmächte und die gesamte kapitalistische Weltwirtschaft zu treffen.

Im Westen müssen jene Gewerkschaften, die sich zu Streiks und Blockaden von Waffenlieferungen und Hilfslieferungen für Israel und dessen völkermörderischen Angriff verpflichtet haben, jetzt in Aktion treten, ihren Beschlüssen auch Taten folgen lassen. Die internationalen Beschlüsse von Gewerkschaften, die Aktionen gegen das Apartheidregime vorsehen, müssen mit Leben gefüllt werden. In den Gewerkschaften, die bis heute die westliche imperialistische Politik der „bedingungslosen Solidarität“ mit Israel unterstützen, müssen alle internationalistischen, klassenkämpferischen Kräfte gemeinsam und organisiert für einen Bruch mit der sozialchauvinistischen Politik kämpfen.

Am 16. Oktober 2023 hat die palästinensische Gewerkschaftsbewegung einen solchen Aufruf an die weltweite Arbeiter:innenbewegung gerichtet. Es ist ein beschämendes Armutszeugnis für die reformistischen Gewerkschaftsführungen, dass sie, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, keinen Finger krummgemacht haben. Viele haben sich sogar schwergetan, den Krieg unmissverständlich zu verurteilen. Damit muss Schluss sein, um wenigstens den Tod Tausender und Abertausender zu verhindern:

  • Stoppt den genozidalen Angriff! Waffenstillstand jetzt!

  • Öffnung der Grenzen zu Gaza! Hilfslieferungen sofort! Freigabe aller Mittel an das UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA!

Die Arbeiter:innenklasse in den Ländern, die Israel mit Waffen und diplomatischem Schutz versorgen, hat eine besondere Pflicht zu handeln. Dies ist nicht nur der Krieg Israels. Es ist ein kolonialer Krieg, der auch unter Beteiligung mehrerer westlicher imperialistischer Mächte geführt wird. Ein Sieg Israels stärkt auch die Position des westlichen Imperialismus und damit dessen herrschende Klassen. Deshalb liegt der Kampf der Palästinenser:innen auch im Interesse der gesamten internationalen Arbeiter:innenklasse.

Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um für internationalistische Aktionen der Arbeiter:innenklasse zu kämpfen, um den Krieg zu beenden und den Sturz der gesamten vom Imperialismus unterstützten Ordnung im Nahen Osten zu beschleunigen, mit dem Ziel der Zerschlagung des zionistischen Staates, der Errichtung eines binationalen demokratischen, säkularen und sozialistischen Staates in ganz Palästina und einer sozialistischen Revolution im Nahen Osten.




Gefangen im Schatten der Unterdrückung: Patriarchale Gewalt an Dalit-Frauen in Indien

Night Ophelia, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2023

Die Situation von Frauen in Indien ist alles andere als homogen. Ihre Realität wird von Faktoren wie gesellschaftlicher Herkunft, Klassen- und Kastenzugehörigkeit, Nationalität und Religion geprägt. Ein kritischer Blick offenbart, dass insbesondere Dalit-Frauen, Angehörige der untersten Kaste, einer besonders unsicheren Lage ausgesetzt sind.

Allgemeines zum Kastenwesen

Das indische Kastensystem ist ein soziales Hierarchiesystem, das die Gesellschaft in verschiedene Gruppen oder Kasten einteilt, basierend auf Beruf und sozialer Stellung. Der Begriffe Kaste selbst stammt ursprünglich aus dem Portugiesischen und überlappt sich nur teilweise mit den indischen Begriffen jati (Gattung, Wurzel) und varna (Farbe), was der Einteilung in vier große Kasten am nächsten kommt: Brahmanen (traditionell intellektuelle Elite, Priester:innen), Kshatriyas (traditionell Krieger:innen, höhere Beamt:innen), Vaishyas (traditionell Händler:innen, Kaufleute, Grundbesitzer:innen, Landwirt:innen) und Shudras (traditionell Handwerker:innen, Pachtbauern/-bäuerinnen, Tagelöhner:innen).

Darunter stehen die Dalits und Adivasi (Indigene). Dazu ist zu sagen, dass die jeweiligen Kasten sich auch noch mal in Subkasten teilen können und das Kastensystem bereits jahrtausende vor der Kolonialisierung zurückreicht. Die Einteilung der Gesellschaft in Kasten entspricht historisch einer Produktionsweise, die selbst auf Gemeineigentum an Produktionsmitteln, einer relativ statischen Arbeitsteilung unter den Gemeindemitgliedern, die Agrikultur und Manufaktur verbindet, sowie einem zentralisierten Staatsapparat, der Beamte, Heer und allgemeine Infrastruktur zur Verfügung stellt, fußt.

Durch die Kolonisierung seitens der Brit:innen wird das Kastensystem keineswegs abgeschafft, sondern vielmehr für die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse umgewandelt, in gewisser Weise noch prägender. Während der Kastenwesen in der vorkapitalistischen Gesellschaft, die von Marx an mehreren Stellen als „asiatische Produktionsweise“ charakterisiert wurde, Ausdruck eine Gesellschaftsformation war, die auf dem Gemeineigentum an Grund und Boden basierte, so wurde das Kastensystem mit der Kolonisierung, mit der ökonomischen und gewaltsamen Zerstörung der traditionellen Dorfgemeinschaften zu einem Mittel, die privilegierte Rolle der nun mit der kolonialen Herrschaft verbundenen Eliten und das Privateigentum an Grund und Boden (wie an allen andere wichtigen Produktionsmitteln) zu legitimieren.

Vereinfacht gesagt sichert das Kastenwesen die Klassenverhältnisse, erschwert bis verunmöglicht sozialen Aufstieg und verfestigt somit die Spaltung der Gesellschaft wie auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen. Klasse und Kaste sind miteinander verwoben, jedoch nicht als Synonym zu verwenden, da  die kapitalistische Produktionsweise selbst Druck auf das Kastenwesen ausübt und es formt.

Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass in Indien Diskriminierung aufgrund der Kastenherkunft zwar formal verboten ist (Artikel 15 der indischen Verfassung oder bswp. Scheduled Castes and Scheduled Tribes [Prevention of Atrocities] Act). In Wirklichkeit verhindert aber ungleiche Kastenherkunft oft Heiraten und bestimmt generell Bildungschancen, Gesundheitsversorgung sowie rechtlichen Schutz.  Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Situation von Dalit-Frauen, auch als „Unberührbare“ bekannt, näher anschaut. Sie stehen am untersten Ende dieser Hierarchie und wurden historisch marginalisiert und diskriminiert.

Wer sind Dalit-Frauen?

Laut Zensus (Volkszählung) des indischen Staates von 2011 machen Dalits 16,6 % der indischen Bevölkerung aus, also rund 240 Millionen. Diese sind vor allem in den Bundesstaaten Uttar Pradesh (21 %), Westbengalen (11 %), Bihar (8 %) und Tamil Nadu (früher: Madras; 7 %) konzentriert und machen dort zusammen fast die Hälfte der Dalit-Bevölkerung des Landes aus. Gleichzeitig leben sie auch häufig in ländlichen Regionen und sind deswegen infrastrukturell schlechter angebunden.

Rund die Hälfte der Dalitbevölkerung sind Frauen und auch wenn sich die Diskriminierung auf beide Geschlechter erstreckt, sind diese doppelter Benachteiligung ausgesetzt. Die Verbindung zwischen dem Kastensystem und Patriarchat zeigt sich durch die Kontrolle über die weibliche Sexualität. Das Kastensystem wird durch die Einschränkung der sexuellen Autonomie von Frauen aufrechterhalten. Dies führt zu einem Klima, in dem sexuelle Gewalt und Vergewaltigung als Mittel der Unterdrückung und Machtausübung eingesetzt werden. Diese Gewaltakte dienen nicht nur der physischen, sondern auch der symbolischen Kontrolle, um die soziale Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Widerstand gegen diese Unterdrückung nimmt zu, da Dalit-Frauen und ihre Gemeinschaften für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen. Doch bevor wir dazu kommen, ein paar Fakten.

Ökonomische Lage

Das Kastenwesen im Kapitalismus hat eine gesellschaftliche Arbeitsteilung manifestiert, die die unterste Kaste als landlos zurücklässt. So arbeitet der Großteil im informellen Sektor und Dalits sowie Adivasi stellen landesweit den größten Anteil an temporären Arbeitsmigrant:innen dar. Obwohl sie nur 25 % der Bevölkerung ausmachen, stellen sie offiziellen Schätzungen zufolge mehr als 40 % der saisonalen Migrant:innen. Praktisch arbeiten sie in der Landwirtschaft sowie im Baugewerbe und werden häufig in den gefährlichsten, anstrengendsten und umweltschädlichsten Bereichen der Wirtschaft eingesetzt. Auch Anstellung in Bereichen wie der Abwasserreinigung sind nicht untypisch,  die vor allem für den Status der „Unreinheit“ gesorgt haben, da diese von den oberen Kaste als entwürdigend angesehen wurden. Insbesondere diese Arbeit, die zwar gesetzlich verboten wurde, wird heute mehrheitlich von Frauen verrichtet und sorgt dafür, dass sie weniger verdienen als Männer.

Durch die strukturelle Einstellung in schlechter bezahlte, prekäre Jobs kommt es zu größeren Einkommensunterschieden zwischen den Kasten. Zwar hat sich das in den vergangenen Jahren geringfügig verbessert – an der generellen Ungleichheit ändert das jedoch wenig. Für Frauen kommt noch der Gender Pay Gap hinzu, der dafür sorgt, dass sie im gleichen Beruf weniger verdienen.

Ebenso problematisch ist Schuldknechtschaft, die nicht anderes ist als Zwangsarbeit oder moderne  Sklaverei. So können jüngere Mädchen beispielsweise – um Kosten für die Mitgift zu bezahlen – in Spinnereien angeworben werden. Die Eltern warten oft mehrere Jahre, bevor sie das Geld erhalten, das in der Regel niedriger ist als ursprünglich vereinbart. Aber auch die Vererbung von Schulden über Generationen  ist möglich.

Grundsätzlich dient das Kastenwesen dazu, einen segregierten Arbeitsmarkt zu verfestigen und reproduzieren, auf dem die Dalits einen Kern einer permanent überausgebeuteten Arbeiter:innenschaft darstellen, die strukturell gezwungen ist, in ihrer großen Mehrheit unter den Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu leben. Allein schon deshalb bildet das Kastensystem keineswegs einen „Überrest“ der Vergangenheit, sondern vielmehr einen integralen Bestandteil des indischen Kapitalismus.

Bildung

Eine Analyse der ILO auf Basis der Daten der Nationalen Stichprobenerhebung (NSS) deutet darauf hin, dass der Bildungsstand unter Dalits zugenommen hat, jedoch nicht in demselben Tempo wie bei den oberen Kasten. Während in den zwei Jahrzehnten nach 1983 Dalit-Männer eine Verbesserung von 39 Prozentpunkten (56 Prozentpunkte bei anderer Kastenzugehörigkeit) des Bildungsniveaus nach der Grundschule erreichten, sind es bei Dalit-Frauen nur 21 (38 Prozentpunkte bei Angehörigen der oberen Kaste). Ebenso ist die Abbruchquote innerhalb des Grundschulzeitraums hoch. Laut einer Analyse des IndiaGoverns Research Institute machten Dalits im Zeitraum 2012 – 2014 fast die Hälfte der Grundschulabbrecher:innen in Karnataka (früher: Mysore) aus. Das liegt jedoch nicht nur an der Diskriminierung, die während des Schulalltags passiert. Eine 2014 von ActionAid finanzierte Stichprobenerhebung ergab, dass von den staatlichen Schulen in Madhya Pradesh 88 Prozent Dalit-Kinder diskriminieren: So war es in 79 % der untersuchten Schulen Dalit-Kindern verboten, das Mittagessen anzurühren, und in 35 % befohlen, beim Mittagessen getrennt sitzen.

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Einkommen der Familien nicht ausreichen, um diese zu ernähren und Kinder somit gezwungen werden, zu arbeiten, was wiederum schlechtere Anstellungsverhältnisse begünstigt.

Gewalt

Während Gewalt gegenüber Frauen ein Klassen (und Kasten) übergreifendes Problem und kastenbasierte Gewalt ebenfalls Alltag sind, wird hier das Ausmaß der gesellschaftlichen Stellung von Dalit Frauen sichtbar. Eine dreijährige Studie über die Erfahrungen von 500 Dalit-Frauen mit Gewalt in vier indischen Bundesstaaten zeigt, dass die Mehrheit mindestens eine der folgenden Erfahrungen gemeldet hat:

  • verbale Gewalt (62,4 %),

  • körperliche Übergriffe (54,8 %),

  • sexuelle Belästigung und Übergriffe (46,8 %),

  • häusliche Gewalt (43,0 %),

Ebenso werden nach Angaben des National Crime Records Bureau jeden Tag mehr als vier Dalit-Frauen vergewaltigt. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher, da viele solcher Verbrechen nicht gemeldet werden aufgrund Angst vor Gewalt und Einschüchterung sowie Tatenlosigkeit der Polizei und Gerichte. Die mangelnde Erfassung solcher Daten ist dabei ein großes Problem. Zwar gibt es lokale Statistiken, die aufzeigen, dass Sexualstraftaten mehr geahndet und verurteilt werden, wenn die Betroffenen höheren Kasten angehören, das Ausmaß lässt sich aber nur vermuten. Gleiches gilt für Zwangsheiraten sowie verbindliche Aussagen, wie viele Frauen als Devadasis (Prostituierte; ursprünglich bezeichnete der Begriff Tempeltänzerinnen; d. Red.) arbeiten müssen. Ein Bericht von Sampark (niederländische Stiftung für Bildungsfragen; d. Red.) aus dem Jahr 2015 an die ILO stellt fest, dass 85 % der befragten Devadasis aus Dalit-Gemeinschaften stammen. Wie viele es jedoch an sich gibt, ist unklar aufgrund der Weigerung mancher Bundesstaaten, zuverlässige Daten zu erfassen.

Widerstand

Der Widerstand gegen das Kastensystem an sich existiert schon lange. So engagierten sich in den 1920er Jahren beispielsweise Dalit-Frauen in Bewegungen gegen Kasten und Unberührbarkeit, in den 1930er Jahren in der Non-Brahman-Bewegung und haben dafür gekämpft, dass die eigenen Forderungen auch in der Frauenbewegung Indiens aufgenommen werden, was seit den 1970er Jahren auch Wirkung zeigt. Während der Widerstand gegen die gesellschaftliche Unterdrückung von Dalits in Indien zunehmend an Bedeutung gewinnt, steigt jedoch auch die Gewalt gegen diese, vor allem durch Unterstützer:innen der BJP und faschistische Kräfte. Nach besonders schockierenden Vorfällen von Gewalt, Femiziden oder Sexualstraftaten finden dabei regelmäßig Protestbewegungen statt wie im Fall von Manisha. Sie wurde am 14. September 2020 von vier Männern vergewaltigt, ihre Zunge durchgeschnitten und Wirbelsäule gebrochen, sodass sie nach 15 Tagen ihren Verletzungen erlag. Solche Taten sind keine Einzelfälle und führen regelmäßig zu Mobilisierungen und Aufschrei, gegen die anhaltende Gewalt und Unterdrückung vorzugehen. Auch am 4. Dezember 2023 gab es in Jantar Mantar einen größeren Protest, bei dem verschiedene Organisation für die Rechte von Dalits auf die Straße gingen. Ihre Forderungen waren mitunter: Schutz der bestehenden Wohlfahrtsprogramme für Dalits, Anerkennung von Dalit-Siedlungen, indem Eigentumsrechte eingeräumt werden. Landlose sollten für Wohngrundstücke identifiziert und der Besitz sollte für ihre Erben gesichert werden. Ferner wurde die sofortige Umsetzung des Gesetzes zur Abschaffung der Schuldknechtschaft (Bonded Labor Abolition System Act, 1976).

Was tun?

Die Realität zeigt: Formale Gleichheit auf dem Papier ist zwar ein wichtiger Schritt, reicht aber lange nicht aus, um diese auch in der Praxis umzusetzen. Dabei muss auch klar sein, dass der Kampf gegen den Chauvinismus, den das Kastensystem mit sich bringt, notwendig ist. Schulungen und Aufklärungskampagnen alleine werden jedoch nichts verändern.

Aufgabe muss sein, das Kastenwesen zu zerschlagen und mit ihm die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die es aufrechterhält. Große Worte, die in der Praxis bedeuten, für ein Sozialversicherungssystem, kollektive Organisation der Reproduktionsarbeit sowie ein Mindesteinkommen, gekoppelt an die Inflation, für alle zu kämpfen. Verbunden werden müssen diese Forderungen mit dem Kampf um ein Programm gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle, finanziert aus den Profiten der Unternehmen, um für alle freie, kostenlos zugängliche Bildungs-, Gesundheits- und Altenvorsorge zu gewährleisten.

Denn nur wenn die grundlegende Lebensabsicherung für alle gegeben ist, kann die Ungleichheit anfangen zu verschwinden. Dies umzusetzen, ist jedoch einfacher geschrieben als getan. Zum einen kann das Vertrauen, wenn es darum geht, solche Maßnahmen umzusetzen, nicht bei Regierung und Staat liegen. Vielmehr braucht es Komitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die die Umsetzung kontrollieren. Dabei muss durch eine Quotierung sichergestellt werden, dass auch aus den untersten Schichten Repräsentant:innen sicher vertreten sind.

Zum anderen sorgt Indiens Stellung auf dem Weltmarkt für die massive Überausbeutung großer Teile der Bevölkerung. Um die Kosten der Ausweitung der Sozialversicherung und die Abschaffung des informellen Sektors zu tragen, muss man mit der Politik, die die Überausbeutung schützt, brechen. Das heißt: Schluss mit der Politik für die Interessen von Weltbank, Währungsfonds, USA, Japan und EU! Schuss aber auch mit einer Politik, die die indischen Großkapitale und Monopole fördert! Ansonsten wird es nie möglich sein, fundamentale Verbesserung für die Mehrheit der Bevölkerung einzuführen.

Kurzum: Der Kampf für konkrete Reformen muss mit dem gegen Kapitalismus und Imperialismus verbunden werden. Um die Umsetzung sicherzustellen, braucht es Selbstverteidigungskomitees von Arbeiter:innen und Unterdrückten, die sich gegen die Angriffe von jenen wehren, die das System der Unterdrückung aufrechterhalten wollen.

Der Kampf für die Verbesserung der Situation von Dalit-Frauen ist darin unmittelbar eingebunden. Er bedeutet, für jene Forderungen zu mobilisieren, aktiv zu kämpfen und den Protest zu nutzen, um seitens der Gewerkschaften für organisierte Kampagnen in Stadtvierteln und Dörfern einzutreten, die über den Chauvinismus, der mit dem Kastensystem einhergeht, sowie Sexismus aufklären.

  • Für regelmäßige statistische Erhebungen über die Auswirkungen des Kastenwesens, Geschlecht, sowie Religion auf Beschäftigung und Lebensqualität – kontrolliert durch Gewerkschaften und Ausschüsse der Dalit!

  • Weg mit dem informellen Sektor! Für die flächendeckende Schaffung von sozialversicherungspflichtigen Berufen!

  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit: Weg mit dem Gender Pay Gap, Einführung eines Mindestlohns sowie Mindesteinkommen, das automatisch an die Preissteigerung angepasst wird!

  • Schluss mit Chauvinismus: Zerschlagung des Kastensystems, Kampf dem Hinduchauvisismus und Sexismus, für Aufklärungskampagnen seitens der Gewerkschaften in den Wohnvierteln und Dörfern!

  • Kampf gegen die Reproduktion des Kastensystems in der Linken und den Gewerkschaften, Recht auf gesonderte Treffen von Dalit und Frauen!

  • Kein Vertrauen in die Polizei: Für demokratisch gewählte sowie organisierte  Selbstverteidigungskomitees sowie Meldestellen für Diskriminierung von Organisationen der Arbeiter:innenbewegung!

  • Nein zur Doppelbelastung: Für die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle!

Ein solches Programm, das wir hier nur knapp skizzieren können, ist unvereinbar nicht nur mit der Herrschaft der hinduchauvinistischen BJP, sondern mit dem indischen Kapitalismus selbst. Es muss daher im Rahmen eines Programms der permanenten Revolution mit dem Kampf um die Enteignung des indischen und imperialistischen Großkapitals und die Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden werden. Dazu braucht es den revolutionären Sturz der bürgerlichen Herrschaft in Indien und die Errichtung einer Arbeiter:innen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung, die sich auf Räte stützt.




Der Kampf der Belutsch:innen gegen staatliche Morde und Ausbeutung

Minerwa Tahir, Gruppe Arbeiter:innemacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Ihr Land ist besetzt und Militärkontrollpunkte kontrollieren ihre Bewegungsfreiheit. Das Land ist reich an Gas, Mineralien und Öl, aber ihre Ressourcen werden ohne Entschädigung geplündert. Ihnen werden die grundlegenden sozialen und demokratischen Rechte vorenthalten. Sie werden häufig als „Terrorist:innen“ gebrandmarkt und entmenschlicht. Ähnlich wie die Palästinenser:innen sind die Belutsch:innen nicht länger bereit, ihr gewaltvolles Schicksal hinzunehmen.

Das Volk der Belutsch:innen lebt in der Region Belutschistan, die zwischen Pakistan und Iran aufgeteilt ist. Dies ist die Provinz mit der größten Fläche und der kleinsten Bevölkerung. Sie grenzt an den Iran und Afghanistan. In der Region gibt es seit Langem eine Aufstandsbewegung, die von Separatist:innen angeführt wird, die die Unabhängigkeit von Pakistan fordern. Andere Teile der nationalen Bewegung fordern eine größere Autonomie und/oder mehr Rechte innerhalb des pakistanischen Staatsgefüges.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Belutsch:innen und pakistanischem Staat wurde durch die Ermordung des 24-jährigen Balach Mola Bakhsh und dreier weiterer Personen am 23. Oktober 2023 in der Stadt Turbat im Distrikt Kech in Belutschistan ausgelöst. Es kam zu einer Welle von Protesten, da die Belutsch:innen den Staat dafür anklagen, dass Bakhsh ein weiteres Opfer außergerichtlicher Tötungen sei. Die Proteste gipfelten in dem „Langen Marsch der Belutsch:innen“, eines über 1.000 Meilen durchgeführten Protestmarsches, der von Familienangehörigen, Freund:innen und anderen Aktivist:innen zu Fuß unternommen wurde. Während dessen gesamter Dauer führten die pakistanischen Behörden eine Desinformationskampagne gegen die Demonstrant:innen und setzten sie wiederholt Einschüchterungen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen aus.

Hintergrund

Am 23. November 2023 meldete die pakistanische Abteilung für Terrorismusbekämpfung (CTD), dass sie in einer geheimdienstlichen Operation vier „Terrorist:innen“ getötet habe. Einer von ihnen wurde als Bakhsh identifiziert, nachdem die Leichen der örtlichen Polizei übergeben worden waren. Unterdessen begann die Familie von Bakhsh mit dem Leichnam eine Sitzdemonstration. Sie berichteten, dass Bakhsh vor einem Monat von der CTD verhaftet und dem örtlichen Gericht vorgeführt worden war, das ihn für 10 Tage in Polizeigewahrsam nahm.

Die Demonstrant:innen forderten die Verhaftung der CTD-Beamt:innen und die Einsetzung einer gerichtlichen Kommission zur Untersuchung der Morde. Nach Angaben der Familie wurden alle vier Opfer in Gewahrsam getötet. Ein Richter am Gericht von Turbat hatte die örtliche Polizei daraufhin sogar angewiesen, eine Anzeige gegen den für die Morde verantwortlichen Beamten zu erstatten. Doch das verläuft seither im Sand.

BLM: Langer Marsch der Belutsch:innen

Der Lange Marsch der Belutsch:innen (BLM) begann am 6. Dezember 2023, wird vom Baloch Yakjehti Committee (Baloch-Solidaritätskomitee) organisiert und von unbewaffneten Frauen und Kindern aus Belutschistan angeführt, die auf ihrem Weg von dort nach Islamabad schweren Repressionen und Kriminalisierung ausgesetzt waren. Diese Frauen haben jahrzehntelang unter Schmerzen und Ängsten gelitten, denn ihre Väter, Ehemänner, Brüder und Söhne sind „gewaltsam verschwunden“. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist eine jahrzehntelange Praxis, gegen die die Belutsch:innen immer wieder protestieren. Männer werden Berichten zufolge von staatlichen Behörden wegen Terrorismusverdachts festgenommen und „verschwinden“ dann. Am 16. Januar 2024 berichtete die Untersuchungskommission für gewaltsames Verschwindenlassen, dass sie seit 2011 insgesamt 10.078 Fälle registriert hat, davon 3.485 in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa und 2.752 in Belutschistan.

Zu den Forderungen der BLM gehörten nicht nur Gerechtigkeit für die vier Opfer der Morde vom Oktober, sondern auch ein Ende der barbarischen und undemokratischen Praktiken des Verschwindenlassens und Tötens.

Am 17. Dezember wurden 20 belutschische Demonstrant:innen verhaftet, als der lange Marsch über Dera Ghazi Khan in die Provinz Punjab (Pandschab) zu gelangen versuchte.

Als die unbewaffneten Demonstrant:innen in der Nähe von Islamabad ankamen, ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen sie vor, unter anderem mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern. Um ihnen den Weg nach Islamabad zu versperren, errichtete die Polizei Barrikaden rund um die Hauptstadt, schlug und verhaftete eine Reihe von Teilnehmer:innen. Gegen ältere Menschen und Minderjährige wurde brutale Gewalt angewandt, während Frauen von Männern in Uniform weggezerrt wurden.

Belutschische Frauen führen internationale Solidarität an

Der von Frauen angeführte Protest der Belutsch:innen musste aufgrund verschiedener Faktoren, die von extremer Kälte bis hin zu schweren staatlichen Repressionen reichten, abgebrochen werden. Dennoch bedeutet das nicht auf ein Ende der Bewegung hin. Es scheint vielmehr der Beginn der nächsten Phase der Bewegung zu sein, d. h. einer, die die Unterdrückten der Region zusammenführt. Am 21. Januar 2024 organisierte das Baloch Yakjehti Committee trotz aller staatlichen Hindernisse die erste Internationale Konferenz der Unterdrückten in Islamabad. Diese wurde mit dem Ziel organisiert, die Unterdrückten der Region zu vereinen und den „Völkermord an den Belutsch:innen“ aufzuklären. Dies ist natürlich eine positive Entwicklung, die der Bewegung gegen nationale Unterdrückung helfen wird, aus ihrer Isolation auszubrechen und Teil einer internationalen Solidaritätsbewegung zu werden.

Der pakistanische Staat behauptet, die Vorwürfe über einen Völkermord an den Belutsch:innen seien übertrieben. Die Menschenrechtsaktivistin Mahrang Baloch verwies jedoch auf die Einrichtung eines Friedhofs mit unbekannten verstümmelten Leichen, auf Kinder, die auf der Straße nach ihren Vätern suchen, auf kollektive Tötungen und Massengräber als Beweis für den Ernst der Lage und forderte die internationale Gemeinschaft auf, diese Gräueltaten als eine Form des Völkermords anzuerkennen. Im Jahr 2014 wurden beispielsweise im Bezirk Khuzdar Massengräber gefunden.

Frauen wie Mahrang sind sich bewusst, dass sie nicht allein leiden. Auf der Internationalen Konferenz für unterdrückte Völker in Islamabad erhob sie ihre Stimme nicht nur gegen den  „Völkermord an den Belutsch:innen“, sondern auch gegen die Herausforderungen, mit denen Hazara, Sindhi, Muhajir, Paschtun:innen, Schiit:innen, Hindi, Christ:innen und andere unterdrückte Nationalitäten, aber auch religiöse Minderheiten in Pakistan zu kämpfen haben.

Das anhaltende Massaker an den Palästinenser:innen und die darauffolgende internationale Solidaritätsbewegung haben auch dazu geführt, dass es zumindest in einigen Staaten schwerer wird, die eigenen Gräueltaten zu vertuschen.

Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, ob es gelingt, die Ignoranz vieler Pakistaner:innen gegenüber dem Leiden der Belutsch:innen zu brechen. Das scheint jedenfalls ein Stück weit gelungen zu sein, was sich daran zeigt, dass die Mainstreammedien über den von Frauen geführten BLM berichtet haben wie nie zuvor.

Wir sehen, dass die Lehren, die die Bewegung der Belutsch:innen gegen die nationale Unterdrückung aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen politischen Strömungen gezogen hat, ihnen mehr und mehr bewusst gemacht haben, dass ihre Befreiung mit der anderer unterdrückter Nationen zusammenhängt, einschließlich derer, die unter der indischen Besatzung in Dschammu und Kaschmir unter ähnlicher Unterdrückung leiden.

Wir solidarisieren uns klar mit dem Volk von Belutschistan in seinem Kampf gegen die nationale Unterdrückung. Das Volk der Belutsch:innen hat ebenso wie die Palästinenser:innen und die Kaschmiris das Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an ihrer Seite, so wie wir an der Seite der Palästinenser:innen, der Kurd:innen, der Iraner:innen, der Afghan:innen, der Armenier:innen, der Kaschmiris, der Dalits und der Rom:nja und Sinti:zze stehen. Wir rufen die Arbeiter:innen und Unterdrückten der Welt auf, sich die Sache der Belutsch:innen zu eigen zu machen. Schließlich ist niemand von uns frei, solange wir nicht alle frei sind.

Letztendlich besteht die Bedeutung des BLM und der oft von Frauen geführten neu entstehenden Massenbewegung auch darin, dass der Kampf gegen nationale Unterdrückung selbst einer politischen und strategischen Neuausrichtung bedarf. Historisch ist er stark vom Gueriallismus und von einer Etappentheorie der Befreiung geprägt, derzufolge das strategische Ziel des Kampfes die Errichtung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse – entweder in Form eines eigenen Staates oder von mehr demokratischen Rechten für die Provinz im Rahmen des pakistanischen Staates – sein solle. In beiden Fällen wären jedoch die kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse davon nicht berührt.

Genau darin liegt eine entscheidende Schwäche der bisherigen Bewegung. In Wirklichkeit ist die Unterdrückung der Belutsch:innen eng mit Kapitalismus und Imperialismus verbunden. Belutschistan ist reich an Rohstoffen, die von der pakistanischen und imperialistischen Bourgeoisie ausgebeutet werden. Es hat eine wichtige geostrategische und wirtschaftliche Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ Chinas (CPEC). Dies sind nur einige Beispiele dafür. Nur die Arbeiter:innenklasse ist in der Lage, eine Perspektive zu weisen, wie der Kampf gegen nationale Unterdrückung mit dem gegen die Ausbeutung der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen verbunden werden kann – in Belutschistan und ganz Pakistan. Nur eine Einheitsfront aller Organisationen unterdrückter Ethnien und Arbeiter:innen kann den pakistanischen Staat effektiv unter Druck setzen und ihn zwingen, das Morden zu stoppen. Die Nation der Belutsch:innen muss mithilfe demokratischer Rechte in der Lage sein, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden. Die führende Rolle von Frauen bei der Organisierung, Durchführung und öffentlichen Vertretung des BLM verweist darüber hinaus darauf, dass diese nicht nur eine führenden Rolle im Kampf für nationale Befreiung und sozialistische Umwälzung, sondern auch für den Kampf gegen das Patriarchat spielen können und werden.